lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2022-0019
925
2023
47186-187
Ost-West-Städtepartnerschaften als Motor europäischer Integration - ihre Entwicklungen, Errungenschaften und aktuellen Herausforderungen
925
2023
Anne Pirwitz
ldm47186-1870057
DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 57 Dossier Anne Pirwitz Ost-West-Städtepartnerschaften als Motor europäischer Integration - ihre Entwicklungen, Errungenschaften und aktuellen Herausforderungen 1. Städtepartnerschaften - zwischen Politik und Zivilgesellschaft Weltweit existieren heute rund 20 000 Städtepartnerschaften, wobei Deutschland und Frankreich mit circa 2 200 Partnerschaften die höchste Verschwisterungsquote aufweisen. Städtepartnerschaften wurden in der Nachkriegszeit geschaffen, um die Aussöhnung zwischen den Völkern voranzutreiben und Austausch auf bürgerschaftlicher Ebene zu ermöglichen. Sie stellen ein politisch geschaffenes Phänomen dar, das erst durch das Engagement der Zivilgesellschaft mit Leben gefüllt werden kann. Städtepartnerschaften werden in der Regel von den Bürgermeister*innen unterschrieben und gegründet, aber es liegt meist am Engagement der Bürger*innen, wie aktiv die Partnerschaft gestaltet wird. In den meisten Fällen liegt diese Arbeit bei Städtepartnerschaftsvereinen. Die ersten deutsch-französischen Städtepartnerschaften entstanden in den 1950er Jahren nach der Gründung des Rates der Gemeinden Europas, den Initiativen der Internationalen Bürgermeisterunion und der Erkenntnis, dass eine Aussöhnungsmöglichkeit nicht nur für einen kleinen Kreis Intellektueller, sondern für die breite Bevölkerung geschaffen werden muss, um langfristig wirksam zu sein. Nach der ersten offiziellen deutsch-französischen Verschwisterung 1950 zwischen Ludwigsburg und Montbéliard stieg die Anzahl der Städtepartnerschaften von Jahr zu Jahr an. Bis in die 1970er Jahre waren sie ein fast ausschließlich deutsch-französisches Phänomen und wurden zu einem Symbol der Aussöhnung zwischen den beiden Ländern (Defrance 2012: 11). Insbesondere die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar 1963 und die daraus resultierende Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) führte zu einem starken Anstieg neuer Partnerschaften. Heute nimmt der Anteil der deutsch-französischen Verbindungen im europäischen Maßstab ab. Dies ist vor allem durch die Globalisierung und die damit verbundenen Möglichkeiten, Kooperationen mit Ländern der ganzen Welt einzugehen, aber auch durch eine Sättigung zu erklären, da bereits ein großer Teil der deutschen und französischen Kommunen durch eine Partnerschaft verbunden sind (ibid.: 11). 2. Ost-West-Städtepartnerschaften im Kalten Krieg als „Haarrisse in der Mauer“ 1 Städtepartnerschaften wurden zwar in Westeuropa initiiert, aber auch schnell in sozialistischen Staaten übernommen. Ende der 1950er Jahre entstanden die ersten 58 DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 Dossier Beziehungen zwischen Städten in der DDR und Frankreich. In Frankreich waren es vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, kommunistisch verwaltete Städte, die an einer Partnerschaft mit einer Stadt in der DDR interessiert waren. 1959 wurde zwischen Cottbus und Montreuil die erste ostdeutsch-französische Städtepartnerschaft geschlossen - zwar erst neun Jahre nach der ersten westdeutsch-französischen, aber ganze 27 Jahre vor der ersten deutsch-deutschen Städtepartnerschaft. Eine wichtige Rolle kam dabei dem 1957 gegründeten Deutschen Städte- und Gemeindetag der DDR zu, dessen Hauptaufgabe darin lag, Kommunalkontakte ins Ausland zu entwickeln und zu fördern (Knitter 2020). In Frankreich setzten sich insbesondere die Fédération mondiale des villes jumelées und die 1958 gegründete Freundschaftsgesellschaft EFA , Échanges Franco- Allemands für Städtepartnerschaften über den Eisernen Vorhang hinweg ein. Das Engagement der EFA umfasste verschiedene Bereiche. In ihrer Chronik anlässlich des 50-jährigen Bestehens heißt es: „Refusant la logique de la guerre froide, notre Association s’est donné pour tâche de faire connaître les structures politiques, la culture et la vie quotidienne de ces autres Allemands tant ignorés de ce côté du Mur“ (Renault et al. 2008: 5). Ziel der EFA war es, auf das ‚andere‘ Deutschland aufmerksam zu machen und die Beziehung zu diesem zu stärken. Sie versuchten, auch nicht kommunistisch verwaltete Städte von einer Partnerschaft mit einer Stadt in der DDR zu überzeugen, und unterzeichneten manchmal anstelle der Bürgermeister*in eine Partnerschaftsvereinbarung (Defrance/ Herrmann 2020: 27). Wie Constanze Knitter darlegt, ist eine genaue Bezifferung der ostdeutsch-französischen Partnerschaften schwierig, da die französische Regierung nur offizielle Partnerschaften in ihre Statistiken aufnahm, während die DDR -Akteure und die EFA auch inoffizielle Partnerschaften verbuchten (Knitter 2020). Den Akten des Bundesarchivs für Staatssicherheit zufolge bestanden 1978 zwischen 173 Städten und Gemeinden der DDR Partnerschafts-Beziehungen mit französischen Städten und Gemeinden. 2 In Westdeutschland wurden Bürger*innen schon frühzeitig in die städtepartnerschaftlichen Aktivitäten mit einbezogen und die Gestaltung der Beziehungen häufig in die Hände der zivilgesellschaftlichen Akteure gelegt. Doch eine Zivilgesellschaft, wie wir sie heute kennen, existierte in der DDR und den Staaten des Ostblocks nicht. Wenngleich die ostdeutsch-französischen Partnerschaften nicht mit den westdeutsch-französischen zu vergleichen sind, was die aktive Einbeziehung der Bürger*innen angeht, so sei doch betont, dass auch die ostdeutsch-französischen Kommunalbeziehungen durchaus nicht nur rein politische Dimensionen hatten. Zwar waren sie politisch gewollt und dienten den Anerkennungsbestrebungen der DDR , doch kamen sie gleichwohl einem Teil der Bevölkerung zugute. Auf französischer Seite bestanden die Delegationen, die im Rahmen von Städtepartnerschaften in die DDR reisten, nicht nur aus Politiker*innen, sondern auch aus Vertreter*innen unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen. Beispielsweise gab es Delegationen aus Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Sportler*innen und Personen, die im Bereich der DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 59 Dossier Landwirtschaft oder Industrie aktiv waren. Besonders beliebt waren die Ferienlager der DDR , an denen mehrere tausend französische Kinder und Jugendliche teilnahmen. Oft waren es keine politischen Gründe, die die Eltern veranlassten, ihre Kinder in die DDR und nicht in die BRD zu schicken. Häufig lag es auch daran, dass die Ferienlager oder Sprachkurse in der DDR kostengünstiger waren als in der BRD . Die Kinder- und Jugendreisen wurden häufig von den EFA unterstützt. Bis 1963 hatten sie bereits 3 082 Kindern, 880 Jugendlichen und 3 391 Delegationsteilnehmer*innen Reisen in die DDR ermöglicht. Hinzu kamen 400 touristische Reisen (Castellan/ Lenoir 1978: 85). Zwischen 1958 und 1989 nahmen 120 000 bis 150 000 Personen, mehrheitlich Kinder und Jugendliche, an den von den EFA organisierten Reisen in die DDR teil (Wenkel 2014: 80). Einige davon fanden im Rahmen von Städtepartnerschaften statt. Nicht immer jedoch waren die EFA in die Organisation und Durchführung von Reisen in die DDR beteiligt. Viele Partnerstädte führten auch eigenständig Projekte durch. Potsdam beispielsweise pflegte zu DDR -Zeiten gleich zu zwei Städten in Frankreich enge Beziehungen. Seit 1965 bestanden freundschaftliche Verbindungen nach Rouen, die nie offizialisiert wurden. Jedoch wurde eine Vereinbarung der Zusammenarbeit und Freundschaft geschlossen. In den 1970er Jahren entstanden Beziehungen zum kommunistisch verwalteten Pariser Vorort Bobigny, der seit 1964 bereits mit Glashütte verpartnert war. Die Partnerschaft mit Potsdam wurde 1974 offiziell unterzeichnet. Pro Jahr kamen zwei bis drei Delegationen aus Bobigny nach Potsdam und Betriebe wie die DEFA öffneten ihre Ferienlager für Kinder aus den beiden befreundeten französischen Städten. Auf ostdeutscher Seite war die Wirkung der Städtepartnerschaften auf die Bevölkerung sehr viel geringer als in Frankreich. Viele Bürger*innen wussten nichts von diesen Partnerschaften. Eine kleine Gruppe jedoch konnte deutlich von ihnen profitieren. Für Französischstudierende oder Französischlehrer*innen waren die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften meist der einzige Weg, überhaupt persönliche Kontakte zu Französinnen und Franzosen zu knüpfen, aus denen sich über den Eisernen Vorhang hinweg teilweise langjährige Freundschaften entwickelten. Oft wurden die Studierenden und Lehrer*innen bei Delegationsbesuchen als Dolmetscher*innen oder in den Ferienlagern als Betreuer*innen eingesetzt. Ihnen kam dabei eine besondere Rolle bei der Sprach- und Kulturvermittlung zu. Aus diesem Grund können sie als wichtige Akteur*innen der ostdeutsch-französischen Beziehungen gesehen werden. 3 3. Transformationsprozesse in den 1980er und 1990er Jahren Während sich die ostdeutsch-französischen Partnerschaften im Rahmen ihrer Möglichkeiten entwickelten, kam es erst ab 1986 auch zu Städtepartnerschaften zwischen der DDR und BRD . Bereits 1990/ 91 hatte sich ein fast flächendeckendes Netz an Partnerschaften zwischen Ost- und Westdeutschland herausgebildet (Klaus 60 DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 Dossier 1994: 9). Diese Partnerschaften wurden zu einem wichtigen Baustein für die Einheit Deutschlands, da sie das Zusammenwachsen erleichterten. 1988 wurde zwischen Potsdam und Bonn ein Partnerschaftsvertrag unterzeichnet. Bonns Oberbürgermeister Hans Daniels betonte im März 1989 die besondere Bedeutung der deutsch-deutschen Partnerschaft: Gerade diese Begegnungen der Menschen aus Potsdam und Bonn sollen ja dazu beitragen, daß wir einander besser kennenlernen, daß wir voneinander lernen. All das soll uns zusammenführen. Und all das soll beitragen zum Frieden von Mensch zu Mensch, der dann auch ein Beitrag zum Frieden zwischen allen Völkern in der Welt ist (Hans Daniels, zitiert nach Klaus 1994: 8). Die westdeutschen Partnerstädte unterstützen die ostdeutschen Städte bei der Neustrukturierung ihrer Verwaltung, boten Seminare an oder führten Beratungen durch. Manfred Klaus geht sogar davon aus, dass die „konkrete Gestalt der Verwaltungsorganisation [der ostdeutschen Städte, A. P.] mehr durch die Verwaltungshilfe ihres Städtepartners in den westdeutschen Bundesländern geprägt [wurde] als durch Bundesprogramme […]“ (Klaus 1994: 12-13). Für viele ostdeutsch-französische Partnerschaften wurde nach 1989 ein wirklicher Austausch möglich. Viele Städtepartnerschaften konnten das Potenzial nutzen und ihre bereits bestehenden Beziehungen vertiefen und Begegnungen auf breiter zivilgesellschaftlicher Ebene durchführen. Zudem entstand nach der deutschen Einheit eine Vielzahl neuer Partnerschaften. Städtepartnerschaften trugen auf diese Weise entscheidend zur Integration der neuen Bundesländer in die zivilgesellschaftlichen und lokalpolitischen europäischen Strukturen bei. Während Partnerschaften wie jene zwischen Cottbus und Montreuil ihren Austausch intensivierten, führte der politische Umbruch in den 1990er Jahren in anderen Fällen aber auch zum Erliegen von Städtepartnerschaften. Die Beziehungen zwischen Bobigny und seinen ostdeutschen und sowjetischen Partnerstädten Potsdam, Glashütte und Serpoukhov nahmen nach 1990 stetig ab. Im Jumelage-Dossier des Stadtarchivs Bobigny heißt es hierzu, dass die geopolitischen Umwälzungen dazu führten, dass der Austausch mit Serpoukhov und Glashütte komplett einschlief, sich die Kontakte zu Potsdam auf ein Minimum an protokollarischen Kontakten reduzierte und der Städtepartnerschaftsverein 2000 seine Aktivitäten einstellte (Khalfaoui 2011: 6). Auch aus den Unterlagen des Potsdamer Stadtarchivs geht hervor, dass es Ende der 1990er Jahre nicht mehr ausreichend Gemeinsamkeiten zwischen den Städten gab, die die Beziehungen hätten aufrechterhalten können: Angesichts der Tatsache, daß Bobigny und Potsdam in ihrer Struktur sehr unterschiedlich sind, gibt es kaum andere Ansatzpunkte für über den Jugendbereich hinausgehende Zusammenarbeit. Bobigny ist eine der Satellitenstädte im Großraum von Paris und ist auch unter touristischen Gesichtspunkten wenig attraktiv für die Bevölkerung von Potsdam. 4 DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 61 Dossier Bobigny als Pariser Vorort mit seinen alltäglichen Problemen war nicht mehr interessant für Potsdam. Die Stadt suchte sich eine neue französische Partnerstadt und unterzeichnete 2016 den Städtepartnerschaftsvertrag mit Versailles. Diese Beziehung wird heute aktiv mit Leben gefüllt, während die Partnerschaft mit Bobigny nur noch auf dem Papier existiert. 4. Au-delà du franco-allemand - Ost-West-Partnerschaften als Motor europäischer Integration jenseits der deutsch-französischen Beziehungen Städtepartnerschaften und ihre Akteur*innen ermöglichen Bürger-Begegnungen und transnationalen und intergenerationellen Austausch, machen Europa vor Ort erfahrbar und greifbar und setzten sich bereits für Friedenssicherung und Verständigung ein, noch bevor der erste politische Vertrag, der der europapolitischen Einigung dienen sollte, die Montanunion beschlossen wurde. Dadurch wurden sie zu einem wesentlichen Motor europäischer Integration an der Schnittstelle zwischen der zivilgesellschaftlichen und lokalpolitischen Ebene. Dies gilt nicht nur für den deutschfranzösischen Kontext. Auch andere Ost-West-Partnerschaften spielten eine wichtige Rolle im Hinblick auf Aussöhnung, Kulturkontakt und zivilgesellschaftlichen europäischen Austausch. So war insbesondere Jugoslawien in den 1980er Jahren aufgrund der Fortschrittlichkeit des Landes und seiner Blockfreiheit ein beliebter Partner für Städtepartnerschaften in westlichen und östlichen Ländern. Jugoslawien war das einzige sozialistische Land, das organisierte Arbeitsmigration ins westliche Ausland ermöglichte, wodurch einige Städtepartnerschaften entstanden. Unter Tito entwickelten sich auch einige Partnerschaften zwischen den verschiedenen jugoslawischen Teilrepubliken. Mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens und den kriegerischen Auseinandersetzungen in den 1990er Jahren wurden viele interkommunale und internationale Städtepartnerschaften allerdings abgebrochen und bis heute nicht wieder aufgenommen (Fotiadis 2020: 264-267). Waren es im Kontext der ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften häufig politische Aspekte, die zu deren Entstehung beitrugen, so entwickelten sich beispielsweise die meisten westeuropäisch-rumänischen Kommunal-Beziehungen aus gänzlich anderen Gründen. Im Rahmen des von Ceauşescu initiierten Programms zur Systematisierung rumänischer Dörfer sollte die rumänische Gesellschaft homogenisiert werden. Ceauşescus Ziel war die Zerstörung von 8 000 Dörfern, um industrielle Ballungszentren zu schaffen. Insbesondere im westeuropäischen Ausland löste die geplante Zerstörung des Lebensraumes von Millionen Rumän*innen sowie bedeutsamer kultureller Stätten Widerstand aus. 1988 gründete eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Brüssel die Opération Villages Roumains ( OVR ). Diese Nichtregierungsorganisation sah vor, dass westeuropäische Dörfer und Städte die von Ceauşescus Plänen betroffenen Dörfer ‚adoptieren‘. 2 000 französische Kommunen sowie weitere 2 000 Städte und Dörfer in der Schweiz, in Belgien, den Niederlanden und Großbritannien unterstützten die OVR (Emsellem 1995: 118). Die 62 DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 Dossier westeuropäischen Kommunen machten öffentlichkeitswirksam auf den Skandal aufmerksam und schickten zudem Briefe an Ceauşescu und den rumänischen Botschafter im entsprechenden Land, um gegen die Maßnahmen zu protestieren. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 1989 entwickelten sich die Patenschaften zu Hilfskampagnen. LKW voller Kleidung, Medikamente oder Schulmaterial wurden von den westeuropäischen Kommunen in ihre Adoptiv-Dörfer geschickt. Zahlreiche Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität im postkommunistischen Rumänien konnten dank der OVR umgesetzt werden (Pirwitz 2022: 60- 61). Aus vielen dieser Beziehungen entwickelten sich im Laufe der Jahre Städtepartnerschaften und eine kulturelle Ebene des Austausches entstand. Heute existieren rund 200 Städtepartnerschaften zwischen Frankreich und Rumänien. Diese führten zum einen zum Abbau von Stereotypen in Frankreich über Rumän*innen und trugen andererseits bedeutsam zur zivilgesellschaftlichen Integration Rumäniens bei. 5 Francisc Giurgiu, der Vorsitzende der OVR in Rumänien, betonte anlässlich des 20. Jahrestages des Bestehens dieser Beziehungen deren besondere Bedeutung für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft in den rumänischen Dörfern und für die europäische Integration des Landes: L’OVR a été le premier promoteur de la formation de la société civile dans le village et dans la commune […]. Si jusqu’à l’an 2000, il n’y avait pas eu de discussion sur les conditions et les données concrètes relatives à l’entrée de la Roumanie dans l’Union européenne, OVR a permis à plus de 100 000 personnes des villages et des communes de Roumanie de se connaître et d’être en contact avec les réalités et les démocraties occidentales. Concrètement, elle a été le facteur mobilisateur de la construction de l’Europe de bas en haut (Giurgiu 2009: 3). Im Jahr 2022 stehen viele französisch-rumänische Städtepartnerschaften jedoch vor ähnlichen Herausforderungen wie auch die meisten deutsch-französischen Partnerschaften. Während viele der ostdeutsch-französischen Beziehungen nach der deutschen Einheit einschliefen, zeigen sich ähnliche Tendenzen für die französischrumänischen Partnerschaften nach dem EU-Beitritt Rumäniens (Pirwitz 2022: 66- 67). Dieser ging mit zahlreichen anderen Möglichkeiten, Europa zu entdecken und von EU-Programmen zu profitieren einher, was dazu führte, dass die Städtepartnerschaftsarbeit ihr Alleinstellungsmerkmal und damit auch an Attraktivität verlor. 5. Aktuelle Herausforderungen der Städtepartnerschaften im 21. Jahrhundert Historische, politische und soziokulturelle Veränderungen prägen die Arbeit der Kommunen und Vereine, die sich um den Austausch mit der Partnergemeinde bemühen. Die Herausforderungen, vor denen heute viele Akteure der Städtepartnerschaften stehen, haben nicht mehr viel mit denen der Nachkriegszeit gemeinsam. Die wohl größte Herausforderungen vieler Städtepartnerschaften ist heute der Mangel an jungen engagierten Akteur*innen. Dazu befragte die Autorin 2015 217 deutsch-französische Städtepartnerschaftsvereine 6 und 76 junge Menschen, die ein DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 63 Dossier Grundinteresse an den deutsch-französischen Beziehungen mitbringen. Es wurde untersucht, wie die Situation in den Vereinen ist, warum es zu Nachwuchsmangel kam und was dagegen getan werden kann. Die Hälfte der befragten Vereinsvertreter*innen gab an, dass der Altersdurchschnitt im Verein bei 50 bis 60 Jahren liegt. Insgesamt erklärten 51,7 % der Befragten, dass der Anteil der Mitglieder unter 30 Jahren bei unter 5 % liegt. In 23,3 % der Fälle lag der Anteil bei 5 bis 10 % (Abb. 1). Zudem verfügen nur 16 % der Vereine über ein Jugendgremium. Abb. 1: Anteil der Mitglieder unter 30 Jahren in deutsch-französischen Städtepartnerschaftsvereinen Die meisten befragten jungen Menschen gaben an, dass sie selbst nicht im Städtepartnerschaftsverein Mitglied seien, weil sie nicht genügend Zeit haben oder schon in anderen Vereinen aktiv sind (33,3 %). 31 % sind vor allem deshalb nicht Mitglied, weil sie nichts von einem Städtepartnerschaftsverein und dessen Aktivitäten wussten. Es liegt also ein deutlicher Mangel an Informationen vor. 11,8 % gaben an, dass sie nie lange an einem Ort sind und dies ein Engagement verhindert oder stark einschränkt. 16,7 % haben den Eindruck, dass der Verein zu veraltet ist. Einige erklärten auch, dass sie für Reisen ins Nachbarland keinen Verein bräuchten, die deutsch-französischen Beziehungen zu alltäglich geworden seien, die Vereinsarbeit zu politisch oder zu historisch sei oder es zu viel Geld koste. 43,8 % der Jugendlichen erklären, dass die Städtepartnerschaftsvereine vor allem jugendfreundliche und interessante Projekte anbieten müssten, um attraktiver für junge Menschen zu sein. 52,6 % der befragten Jugendlichen denken, dass die Vereine in erster Linie mehr über ihre Aktivitäten informieren und kommunizieren müssten und dazu auch neue soziale Medien nutzen müssten. 64 DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 Dossier Jugendarbeit im 21. Jahrhundert steht vor neuen Herausforderungen, denn viele äußere Faktoren haben sich verändert. 7 Dennoch ist die Arbeit in Vereinen so beliebt wie nie zuvor, auch wenn es strukturelle Veränderungen und eine stärkere Projektorientiertheit gibt. In Deutschland stieg die Anzahl Engagierter zwischen 14 und 29 Jahren laut Freiwilligensurvey von 33 % im Jahr 1999 auf 42 % im Jahr 2019 an (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2019: 16). Dies zeigt, dass Vereinsarbeit weiterhin sehr beliebt ist. Städtepartnerschaften müssen versuchen, dies zu nutzen, ihren Fokus neu ausrichten und ihre Arbeit an die veränderten Bedingungen im 21. Jahrhundert anpassen. 6. Fazit Städtepartnerschaften stellen eine der wichtigsten Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements in den deutsch-französischen Beziehungen dar. Sowohl im deutsch-französischen als auch im französisch-rumänischen Städtepartnerschaftsbereich zeichnet sich ab, dass Städtepartnerschaften insbesondere in gesellschaftlichen und politischen Transformationszeiten zu starken positiven Veränderungen auf lokaler Ebene führen konnten und so vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zu einer zivilgesellschaftlichen und lokalpolitischen europäischen Integration Ostdeutschlands und Rumäniens beitrugen. Waren die Transformationsprozesse jedoch größtenteils abgeschlossen, führte dies häufig zu einem Einschlafen der Partnerschaften. Nun liegt es an den einzelnen Akteur*innen, neue Wege zu finden, um städtepartnerschaftliche Arbeit für die Zukunft interessant und insbesondere für die junge Generation attraktiv zu gestalten, denn wie Michel Cullin einmal sagte: „Ohne das Engagement von jungen Leuten im politischen, im sozialen, im kulturellen Bereich können wir uns keine Zukunft für die deutsch-französischen Beziehungen vorstellen“ (El Maziani 2003). Bundesarchiv für Staatssicherheit, Akte MfS+HA_27347_A Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (ed.), Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys (FWS 2019), Berlin, 2019. Castellan, Georges / Lenoir, Roland, France. République Démocratique Allemande. 30 ans de relations, Paris, PUF, 1978. Defrance, Corine, „Les jumelages franco-allemands“, in: Infobrief des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, 38, 2012: Les jumelages - Städtepartnerschaften, 10-12. Defrance, Corine / Herrmann, Tanja, „Städtepartnerschaften als Spiegel der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung“, in: Corine Defrance et al. (ed.), Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen, Wallstein, 2020, 11-44. El Maziani, Mohamed, „C’est La Vie“, www.dw.com/ de/ cest-la-vie/ a-759832 (publiziert im Januar 2003, letzter Aufruf am 25.02.2022). Fotiadis, Ruža, „Von Waffenbrüdern und Bruderstädten - griechisch-serbische Städtepartnerschaften am Beispiel von Korfu“, in: Corine Defrance et al. (ed.), Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen, Wallstein, 2020, 258-272. DOI 10.24053/ ldm-2022-0019 65 Dossier Giurgiu, Francisc, „Un elan de solidaritate care rezistă timpului - Un élan de solidarité qui résiste au temps“, in: Le Réseau, Hors-série N° 1, 2009, 2-3. Khalfaoui, Mourad, Le Jumelage et la coopération decentralisée à Bobigny, Archives communales de Bobigny, 2011. Klaus, Manfred, Städtepartnerschaften zwischen ost- und westdeutschen Kommunen. Ein Medium des Bürgerdialogs, interkommunaler Solidarität und verwaltungspolitischer Integration, Berlin, KSPW, 1994. Knitter, Constanze, „Kommunalpartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR“, www.bpb. de/ themen/ deutschlandarchiv/ 306492/ kommunalpartnerschaften-zwischen-frankreich-undder-ddr (publiziert im März 2020, letzter Aufruf am 25.02.2022). Pirwitz, Anne, „Von Patenschaft zu Partnerschaft. Entwicklungen und aktueller Stand rumänischfranzösischer Städtepartnerschaften“, in: Südosteuropamitteilungen, 62, 2/ 22, 2022, 55-68. Pirwitz, Anne / Röseberg, Dorothee (ed.), Frankreich-DDR: zwischen Ideologie, Bücherwissen und persönlichen Begegnungen, in: Leibniz Online, 47, 2022, https: / / leibnizsozietaet.de/ wp-content/ uploads/ 2022/ 12/ LO47.pdf. Renault, Gérard et al., Chronique d’un demi-siècle d’échanges. Cinquantenaire des Échanges Franco-Allemands, in: Rencontres Franco-Allemandes, mars 2008. Stadtarchiv Potsdam, Akte BR3777, 1989/ 90. Wenkel, Christian, Auf der Suche nach einem „anderen Deutschland“. Das Verhältnis Frankreichs zur DDR im Spannungsfeld von Perzeption und Diplomatie, München, Oldenbourg, 2014. 1 Richard Nospers, damaliger Oberbürgermeister von Saarlouis, entnommen aus Klaus 1994: 41. 2 MfS+HA_27347_A, BStU 000029: 4. 3 Zur Bedeutung persönlicher Begegnungen zwischen Bürger*innen aus der DDR und Frankreich siehe auch Pirwitz/ Röseberg (ed.) 2022. 4 Stadtarchiv Potsdam, Akte BR3777, 1989/ 90: 29. 5 Dies ergab eine 2022 durchgeführte Umfrage der Autorin unter 59 französisch-rumänischen Städtepartnerschaften (Pirwitz 2022: 64-67). 6 Da die Adressen, an die die Umfrage geschickt wurde, dem Verteiler des DFJW entstammen, bedeutet dies, dass es sich um Vereine handeln muss, die zumindest schon einmal Kontakt zum DFJW hatten und auch regelmäßig über wichtige Neuigkeiten informiert werden. Es wurden also nur Vereine angeschrieben, die zumindest Interesse an der Jugendarbeit haben. 7 Bspw. haben Veränderungen im Bildungssystem und damit verbundene Entwicklungen (G8, Ganztagsschulen, Schulschließungen, lange Anfahrtswege etc.) dazu geführt, dass junge Menschen weniger Freizeit haben. Auch die höhere Mobilität führt zu geringerem Engagement junger Menschen v. a. in ländlichen Regionen.
