eJournals lendemains 47/186-187

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2022-0038
925
2023
47186-187

Bodo Pieroth: Recht und französische Literatur. Von Jean de la Fontaine bis Albert Camus, München, C. H. Beck, 2021, 303 S.

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Dagmar Stöferle
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220 DOI 10.24053/ ldm-2022-0037 Comptes rendus die visuelle Ebene kommt, also zur Sprache die bildliche Darstellung von Prosodie, Mimik und Gestik sowie der kommunikative und kulturelle Kontext: „Or, dans la bande dessinée, ces différents outils de la communication des émotions sont représentés. Elle permet d’aborder l’expression des sentiments à travers plusieurs biais et donc à plusieurs niveaux de l’apprentissage“ (445). Der Comic weist unter diesem Blickwinkel über das eigene Genre hinaus, weil sich ähnliche Darstellungsstrategien beispielsweise auch in sozialen Medien finden. Von den Emojis bis hin zu unterschiedlichen sprachlichen Mitteln (Reduplikation von Buchstaben und Satzzeichen, Sprachregister etc.) wird in sozialen Medien ähnlich wie im Comic Mündlichkeit inszeniert, aber unter ganz anderen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen. Der unterrichtliche Umgang mit Emotionen im Comic könnte insofern auch eine wertvolle Schulung des Blicks im doppelten Sinne sein: sowohl für Bilder im eigentlichen Sinn als auch für die Materialität und somit Visualität von Schrift und ihre semantischen Effekte im Spannungsfeld von konzeptueller und medialer Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit. Dies ist nur ein Beispiel dafür, was im Prinzip auch für die meisten anderen Beiträge des Bandes gilt: dass sie aufgrund der linguistisch-sprachdidaktischen Ausrichtung die detaillierte Arbeit am Sprach- und Bildmaterial für unterrichtliche Kontexte nachvollziehbar machen und zugleich in vielfältiger Weise über den Comic hinausweisen, etwa auf Themen, die in den Leitperspektiven der Bildungspläne verankert sind oder als Querschnittsthemen fächerübergreifend bearbeitet werden. Es ist daher diese Verschränkung von Mikro- und Makroebene, welche die Qualität des Bandes ausmacht, neben der Wahl des sprachwissenschaftlich-didaktischen Schwerpunktes der Inszenierung von Mündlichkeit. Denn diese zweite Verschränkung von Linguistik und romanistischer Fachdidaktik ist sicherlich auch gewinnbringend im Kontext aktueller Bemühungen um Kohärenz im Lehramtstudium und um das spezifische Professionswissen von Lehrkräften, in deren Zentrum ebenfalls das Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik steht, wie es im vorliegenden Band exemplarisch und an einem konkreten Genre vorgeführt wird. La bande dessinée. Perspectives linguistiques et didactiques kann daher nicht nur Impulse für den Fremdsprachenunterricht in der Schule geben, sondern auch für das universitäre Lehramtstudium und generell für das Wechselverhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik. Markus Raith (Freiburg) ------------------ BODO PIEROTH: RECHT UND FRANZÖSISCHE LITERATUR. VON JEAN DE LA FONTAINE BIS ALBERT CAMUS, MÜNCHEN, C. H. BECK, 2021, 303 S. Der 2021 erschienene Band Recht und französische Literatur des Staats- und Verfassungsrechtlers Bodo Pieroth stellt kein Debüt des literaturaffinen emeritierten Professors dar, sondern reiht sich in eine Serie ein, die bereits 2015 mit dem Band über DOI 10.24053/ ldm-2022-0038 221 Comptes rendus das Recht und die deutsche Literatur begonnen hat. Es folgten, im Zweijahresrhythmus, 2017 Recht und amerikanische Literatur, 2019 Recht und britische Literatur, 2021 dann der vorliegende Band zur französischen Literatur. Der Aufbau der Bücher ist immer gleich: Sie bestehen aus zwei Teilen, wobei sich der erste dem Verhältnis von Recht und Staat widmet, während der zweite die Justiz thematisiert. Die Kapitel beider Teile sind weitestgehend chronologisch geordnet und behandeln jeweils einen Autor; der Band zur französischen Literatur besteht aus je sieben Kapiteln und stellt damit insgesamt 14 Autoren vor. Jedes Kapitel ist gleich aufgebaut: Auf einen auf deutsch wiedergegebenen Textauszug (I.) folgt eine Einordnung des Autors und sein Werk (II.) sowie ein analytischer Abschnitt zur Rolle des Rechts (III.). Dem Buch ist ein bibliographischer Anhang beigegeben, der kapitelweise die benutzten Textausgaben und die verwendete (überwiegend romanistische) Forschung zu den einzelnen Autoren nachweist. Pieroth interessiert sich „genussvoll“ (V) für das Recht in der Literatur, also nicht für die literarische Dimension des Rechts (um die gängige Unterscheidung von Law in Literature und Law as Literature aufzugreifen). Bereits im Vorwort stellt er klar, dass in dieser Perspektive „die literarischen Dimensionen und die künstlerische Bedeutung der Werke […] keinesfalls ausgeschöpft“ (ibid.) würden. Die Grundfrage in den quasi anwendungsbezogenen Lektüren lautet, was sich jeweils aus den literarischen Fallbeispielen für das Verhältnis von Recht und Staat bzw. für die Rechtspflege lernen lässt. Im ersten, staats- und verfassungsrechtlichen Teil zeichnet Pieroth anhand der ausgewählten Texte mit gleichsam rechtshistorischem Fokus Frankreichs politische Geschichte vom Absolutismus bis zur Pariser Kommune (1870/ 71) nach. Besprochen werden hier: Jean de Lafontaines Fables (ab 1668), Montesquieus Lettres persanes (1721), Voltaires Candide (1759), Prosper Mérimées Mateo Falcone (1829), Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), Hugos Les Misérables (1862) sowie Jean Vallès’ L’Insurgé (1886). So werden wir mit einem Fabelerzähler Jean de La Fontaine vertraut gemacht, der nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrungen liberal, antiklerikal und gegenüber dem absolutistischen Machtanspruch der Monarchie äußerst skeptisch eingestellt war. Am Beispiel einiger Fabeln, darunter „Der Wolf und das Lamm“, illustriert Pieroth La Fontaines grundlegende, anti-hobbesianische Einwände gegen ein vermeintliches Recht des Stärkeren und gegen die unbeschränkte Staatsgewalt. Es überrascht ein bisschen, dass dieser Auftakt einer mahnenden und machtkritischen Funktion der Literatur ausgerechnet mit La Fontaines Fabeln gemacht wird; naheliegender wäre hier eigentlich das 16. Jahrhundert gewesen, für das sich mit Montaignes Essais, mit Calvin, La Boétie und den monarchomachischen Schriften, die um die Frage des Tyrannenmords kreisen, ebenso ein eindrückliches Textkorpus geboten hätte. Für das 18. Jahrhundert, das Siècle des Lumières, stehen Montesquieu und Voltaire. Pieroth zitiert die Troglodyten-Briefe aus den Lettres persanes, um Montesquieus Überlegungen zur Realisierung einer gerechten Regierungsform darzulegen. 222 DOI 10.24053/ ldm-2022-0038 Comptes rendus Anhand der Briefe 11 bis 14 zeigt er die Grundgedanken einer liberalen Staatstheorie, die moralische Verpflichtung des Einzelnen in der Gemeinschaft sowie die Idee der Zwischeninstanzen wie die Parlamente, die im Hauptwerk De l’esprit des lois (1748) dann zum Konzept der Gewaltenteilung führen sollte. Für die Hoch-Zeit der Aufklärung steht dann nicht der revolutionäre Rousseau, wie man erwarten könnte, mit dem Contrat social (1762) und den diesen flankierenden Romanen Émile und La Nouvelle Héloïse. Stattdessen bespricht Pieroth Voltaires Candide ou de l’optimisme (1759). Die philosophische Erzählung liest er als implizite Rechtskritik und literarische Rechtssatire. Für das zwischen Republik und Monarchie hin- und hergerissene Frankreich des 19. Jahrhunderts stehen die letzten vier Texte des ersten Teils: Prosper Mérimées Novelle Mateo Falcone, das auf jenem Korsika spielt, auf dem Rousseau am ehesten die Bedingungen für die Verwirklichung einer idealen Republik gesehen hatte. Bei Mérimée wird es - im Gegenteil - zum Hintergrund eines vorstaatlichen, archaischen Normensystems, innerhalb dessen nicht Recht und Gesetz als Handlungsmaßstab gelten, sondern die Ehre. Mateo Falcone erschießt seinen eigenen Sohn, weil dieser den Banditen, dem er zuvor Unterschlupf im Haus geboten hatte, schließlich doch an die Staatsgewalt ausliefert. Falcone übt Blutrache, er wäscht seine Familie vom Verrat seines Sohnes rein. Die Gegenüberstellung von Recht und Gesetz vs. Familie und Ehre nimmt Pieroth zum Anlass, einen vergleichenden Blick auf die gegenwärtige deutsche und internationale Rechtslage zu werfen: Zwar gibt es den Begriff der Ehre im Grundgesetz noch als Freiheits- und Persönlichkeitsrecht, aber dieser viel engere Ehrbegriff berechtigt in keiner Weise mehr dazu, „sich über die Rechte anderer Menschen hinwegzusetzen“ (74). Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch das rechtstaatliche Gewaltmonopol des Staates aus. Die französische Gesellschaft der Restauration, die den Hintergrund von Stendhals bekanntestem Roman, Le Rouge et le Noir (1830), bildet, ist zwar schon eine moderne, insofern als die Verfassung von 1814 die Menschen- und Bürgerrechte der Deklaration von 1789 übernahm und dadurch Gleichheit vor dem Gesetz voraussetzte. Gleichzeitig - und genau dies veranschaulicht der von Stendhal geschilderte Aufstieg und Fall des Julien Sorel - zerfällt die Gesellschaft eben doch noch in unüberwindbare Klassen. Die Macht gehört nach wie vor dem Adel und dem Klerus, und der bürgerlichen Klasse gelingt es nur bedingt, an Geld und Grundbesitz zu gelangen. Auch am idealistisch-romantischen Hugo, der sich vom Royalisten zum gemäßigten Republikaner und bis zu den Misérables (1862) zu einem sozialistischen Demokraten entwickelte, spielt Pieroth das Problem der Legitimität von Aufstand, Revolte und Revolution in der noch nicht verwirklichten Demokratie durch. Jules Vallès’ L’Insurgé (1886), der letzte Roman der Trilogie Jacques Vingtras, der den ersten Teil des Buches abrundet, ist eine glückliche Wahl: Vallès’ Roman über die Pariser Kommune mischt Autobiographie und Journalismus und zeichnet sich damit durch eine moderne, autofiktionale Schreibweise aus. Die Schilderungen über die blutigen Ausschreitungen der Kommune dokumentieren, „wie schwer es das Recht im Bürgerkrieg hat“ (142). Das sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelnde Völkerrecht verbot DOI 10.24053/ ldm-2022-0038 223 Comptes rendus zwar die Involvierung von unbeteiligten Dritten in Kriegen, galt aber nur für Kriege zwischen den Staaten und nicht für innerstaatliche Konflikte. Dies änderte sich erst mit den Genfer Abkommen von 1949, die u. a. den Opferschutz nicht-internationaler Konflikte einführten. Im zweiten Teil werden verschiedene Justizfälle präsentiert, wobei literarisch der Realismus des 19. Jahrhunderts überwiegt. Racines einzige Komödie, Les Plaideurs (1669), dient nur zum Auftakt dazu, die Justizsatire gattungstypologisch und funktional zu veranschaulichen: Justizsatiren gab es schon immer in der Gesellschaft (und auch in der Literatur), nach Pieroth sind sie „ein Indikator für den Zustand des Rechtssystems“ (159); wenn sie - wie in unserer Zeit - florierten, dann sei das ein gutes Zeichen, weil sie einen weitgehend unzensierten und geschützen, wenn auch kritisierten, so doch funktionierenden Rechtsstaat verbürgten. Bei den dann kommentierten Fällen von Balzacs Colonel Chabert, Zolas Jacques Lantier aus La Bête humaine (1889/ 1890), Maupassants Kindsmörderin Rosalie Prudent aus der gleichnamigen Novelle von 1886, Anatole Frances Crinquebille (1900/ 1902), Edmond de Goncourts La Fille Élisa (1877) und Camus’ L’Étranger (1942) handelt es sich - bis auf den letzteren - um realistisch-naturalistische Gerichtsromane bzw. Gerichtsnovellen des 19. Jahrhunderts. Pieroth lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte der Justiz. So wird anhand der literarischen Texte anschaulich erklärt, dass im Zweifel ein funktionierendes Rechtssystem allein nicht ausreicht und dass das Mittun, der aktive Kampf des Individuums um sein Recht, hinzukommen muss (Balzacs Colonel Chabert). Zolas Bête humaine analysiert nicht nur eine prototypische Verbrecher-Psyche, sondern führt am Beispiel der vertuschenden Bestechungen des Untersuchungsrichters Camy-Lamotte auch die Gefahr der politischen Einflussnahme auf die Justiz vor. Anatole Frances erfolgreiche Geschichte des einfachen Gemüseverkäufers Crinquebille, der quasi aus Versehen in die Fänge einer unmenschlichen und autoritären Justiz gerät und dabei ruiniert wird, warnt ebenso vor einer ‚Klassenjustiz‘ (K. Liebknecht), wie sie eine Dreyfus-Affäre im Kleinen darstellt - auch hier rundet ein vergleichender Blick auf die Justiz im heutigen Deutschland den Kommentar ab. Überraschend wirken die beiden Fälle, die sich am Ende zwei Verbrecherinnen widmen: Maupassants Kindsmörderin Rosalie Prudent und Edmond de Goncourts Prostituierte Élisa, die ihren Vergewaltiger mit einem Messer erstach. In beiden Geschichten liegt die Sympathie der Leser bei den Verbrecherinnen, die als Opfer einer scheinheiligen bürgerlich-humanistischen Moral präsentiert werden. Wobei in Goncourts Novelle nicht einmal die Straftat selbst problematisiert wird, sondern vielmehr ein unmenschlicher Strafvollzug: Élisa wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, während derer sie langsam abstumpft und als Individuum zerfällt. Doch die beiden novellistischen ‚Frauen-Fälle‘ bringen der Leserin doch vor allem abrupt ins Bewusstsein, wie ‚frauenfrei‘ die Zone Recht und Literatur (nicht nur) in der französischen Literatur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war. Die meisten der von Pieroth ausgewählten Literaturbeispiele stammen von Schriftstellern, die auch Jura studiert haben, also von ‚Dichterjuristen‘ (Eugen Wohlhaupter). Frauen durften bis 224 DOI 10.24053/ ldm-2022-0038 Comptes rendus zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht studieren; sie konnten also auch keine Juristinnen, geschweige denn ‚Dichterjuristinnen‘ werden. Es ist die Realität, die sich in der Auswahl von Pieroths Textkorpus spiegelt. Nur im Band Recht und amerikanische Literatur findet sich ein Text einer Autorin: Bernhard Schlink schreibt dort in einem abschließenden Essay über die Novelle Ein Gericht aus Ihresgleichen (1917) von Susan Glaspell, in der es um die Unterschiede von männlichem und weiblichem Blick auf das Recht geht. Im vorliegenden Band spielt dieser unterschiedliche Blick im Prinzip nur im Kommentar zu Maupassants Novelle Rosalie Prudent eine Rolle, wenn am Ende der Nexus von Kindestötung, bürgerlicher Ordnung und Sexualmoral beobachtet wird (209). Im letzten Kapitel über Camus’ L’Étranger wird noch einmal deutlich, dass Pieroth die literarischen Texte rein faktual liest. Die Leitfrage ist auch hier: Wie wahrscheinlich, wie realistisch, wie glaubwürdig ist der Fall Meursault, gemessen am Maßstab des 1942 im kolonialen Französisch-Nordafrika geltenden (Un-)Rechts? Im Fall des vielkommentierten Textes sind die Antworten allerdings nicht neu. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Europäer vor einem algerischen Kolonialgericht für die Erschießung eines sog. Arabers zum Tod verurteilt worden wäre. So wie der ganze Strafprozess von der Befragung des Untersuchungsrichters bis zum Plädoyer des Staatsanwalts unwahrscheinlich ist. Zusammenfasssend kann festgestellt werden: Der Band liefert wie nebenbei eine Geschichte des französischen Staates und der Gesellschaft, welche die höchst aktuelle Frage nach dem Recht des Individuums auf Auflehnung gegen die Staatsgewalt ins Zentrum rückt. Er stellt darüber hinaus ein individuelles Korpus der französischen Literatur zusammen, das einmal mehr die strukturelle Nähe von Literatur und Recht, insbesondere jener von Novelle und juristischem Fall, illustriert. Wenn sich auch die Lektüreaufmerksamkeit unter dem immergleichen Verfahren von I. Text, II. Der Autor und sein Werk, III. Die Rolle des Rechts, etwas erschöpft, wartet der Band mit wertvollen Entdeckungen sowohl für die fachkundigen als auch die als Laien interessierten Leserinnen und Leser auf. Pieroths Serie Recht und Literatur lässt sich übrigens nicht nur (nach-)lesen, sondern seit März 2021 auch anhören - als Podcast Jura literarisch, der aktuell schon bei Folge 61 angelangt ist. Dagmar Stöferle (München)