eJournals lendemains 48/189

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0004
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ldm48189/ldm48189.pdf0923
2024
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Die literarische Tradition der transfuges de classe in Frankreich

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2024
Joseph Jurt
ldm481890027
DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 27 Dossier Joseph Jurt Die literarische Tradition der transfuges de classe in Frankreich Die (auto-)biographische Dimension in den Geschichts- und Sozialwissenschaften Seit den 1970er Jahren spielt die biographische Dimension auch eine Rolle in der Geschichtswissenschaft, namentlich in Frankreich. Die Biographie könne, so führte man aus, den Zusammenhang zwischen persönlichen Erfahrungen und dem Kontext belegen. Ein Einzelfall illustriere dann die Entwicklung einer Gruppe besser als bloß Häufigkeitsstatistiken. Verwiesen wird etwa auf Michel Vovelles Studie über Joseph Sec aus Aix-en-Provence (1975), der für den sozialen Aufstieg des Provinzbürgertums steht. Daniel Roche untersuchte den Glaser Jacques-Louis Ménétra, um die Situation der Handwerksgesellen am Ende des 18. Jahrhunderts zu beleuchten (Ménétra 1986). Die italienische microstoria um Carlo Ginzburg trug ihrerseits zu einer Aufwertung der Biographie als soziale Biographie innerhalb der Geschichtswissenschaft bei. Aber auch innerhalb der Soziologie konnte man eine Aufwertung der Biographie seit den 1970er Jahren konstatieren, so etwa im Selbstporträt einer mexikanischen Familie, das der amerikanische Ethnologe Oscar Lewis unter dem Titel Die Kinder von Sánchez (1965) herausgab. In Frankreich propagierte der Soziologe Daniel Bertaux in einem Bericht im Jahre 1976 (deutsch 2018) diesen Ansatz. Vor allem Jacques Peneff (1990; 1994) stützte sich bei seinen Arbeiten über das Gewerkschaftsmilieu oder über algerische Unternehmer auf ethnologische Lebensberichte und legte auch theoretische Arbeiten über die biographische Methode in der Soziologie vor (cf. auch Pudal: 1994). Die biographische Illusion 1986 veröffentlichte dann Pierre Bourdieu in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales einen viel beachteten Aufsatz über die illusion biographique. Das, was Bourdieu an der Gattung ‚Lebensgeschichte‘ kritisierte, die in die Soziologie eingeführt worden war, war die exklusive Orientierung an der zeitlichen Linearität, die sich auch in den entsprechenden Metaphern wie „un chemin“, „un trajet“, „une course“, „un cursus“, „un passage“, „un voyage“ (Bourdieu 1986: 69) widerspiegele. Das Leben werde als ein „ensemble cohérent et orienté“ (ibid.) gesehen, das einer chronologischen Ordnung, die als eine logische betrachtet werde, folge und so als Vollendung eines Zieles erscheine. An die Stelle der teleologischen ‚Lebensgeschichte‘ setzt Bourdieu den Verlauf, die „trajectoire“ (ibid.), als eine Abfolge von 28 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier Positionen, die ein Akteur einnimmt. Die biographischen Ereignisse sind so im sozialen Raum, im spezifischen Feld, zu situieren als Platzierungen oder Platzwechsel. Die biographischen Elemente sind für Bourdieu nicht irrelevant; es ist aber nicht adäquat, sie nur auf der Basis einer chronologischen Kontinuität zu interpretieren und nicht in Bezug auf die Position der anderen Akteure im jeweiligen Feld: Essayer de comprendre une vie comme une série unique et à soi suffisante d’événements successifs sans autre lien que l’association à un ,sujet‘ dont la constante n’est sans doute que celle d’un nom propre, est à peu près aussi absurde que d’essayer de rendre raison d’un trajet dans le métro sans prendre en compte la structure du réseau, c’est-à-dire la matrice des relations objectives entre les différentes stations (ibid.: 71). 1 Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse (2004) Erst in seiner Abschiedsvorlesung, die Pierre Bourdieu am 28. April 2001 am Collège de France hielt (cf. Weill 2001), an der ich teilnehmen konnte, entschloss er sich, auch von sich selbst zu sprechen. Es ging ihm dabei um einen Objektivierungsvorgang; es ging darum, seine soziologischen Analysekategorien auch auf sich selbst anzuwenden. Er sprach deswegen von sich selbst in der dritten Person: „P. B.“ teilte diese oder jene Eigenschaft mit dieser oder jener sozialen Gruppe. Bourdieu veröffentlichte diese Ausführungen am Schluss seines letzten Vorlesungsbandes (Bourdieu 2001: 184-220), überarbeitete diesen Text im Herbst 2001 und starb dann schon Ende Januar 2002, nachdem Ärzte kurz zuvor eine Krebserkrankung festgestellt hatten. Seine Selbstanalyse erschien postum zunächst auf Deutsch noch im Jahr 2002 unter dem Titel Ein soziologischer Selbstversuch. Der französische Originaltext wurde erst im Februar 2004 publiziert. Dieser Fassung wird eine Bemerkung vorangestellt, die sich auf dem Manuskript fand: „Ceci n’est pas une autobiographie“ (Bourdieu 2004: 5). Bourdieu schrieb auch explizit: „Je n’ai pas l’intention de sacrifier au genre, dont j’ai assez dit combien il était à la fois convenu et illusoire, de l’autobiographie“ (Bourdieu 2004: 11). Es geht ihm in der Tat nicht darum, alle Etappen seines Lebensweges nachzuzeichnen, sondern nur die Aspekte zu berücksichtigen, die aus soziologischer Sicht relevant und für ein soziologisches Verständnis notwendig sind (cf. ibid.). Die Darstellung folgt darum nicht einer chronologischen Anordnung. Zuerst beschreibt der Soziologe das intellektuelle Feld der 1950er Jahre, dann seine Algerienerfahrung, um ganz zum Schluss auf sein Herkunftsmilieu zu sprechen zu kommen (cf. ibid.: 109-139). Er ist sich dabei der Spanne seines Weges im sozialen Raum bewusst, aber auch der „incompatibilité pratique des mondes que [ce parcours] relie sans les réconcilier“ (ibid.: 11). Gemäß seinem Verständnis ist es immer zentral, eine Situation im ko-existierenden sozialen Raum zu verorten. „Comprendre, c’est comprendre d’abord le champ avec lequel et contre lequel on s’est fait“ (ibid.: 15). Wenn er zuerst das intellektuellphilosophische Feld rekonstruiert, in das er als Student in den 1950er Jahren eintritt, DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 29 Dossier dann auch, um das Entstehen seines Denkens zu verfolgen. Er bestimmt dieses Feld durch die Dominanz der existentialistischen Subjektphilosophie und den entstehenden Strukturalismus, der die Vorherrschaft der objektiven Strukturen postuliert. Gegen beide Positionen bringt er den Akteur wieder ins Spiel, der aber nicht durch einen absoluten Freiheitsgrad bestimmt ist, sondern durch einen spezifischen Habitus, der durch die familiäre und schulische Sozialisation geprägt wird. 2 Darum kam der Soziologe nicht umhin, der Prägung jener Einstellungen einen Platz einzuräumen „de faire une place à la formation des dispositions associées à la position d’origine […] en relation avec les espaces sociaux à l’intérieur desquels elles s’actualisent [et] contribuent à déterminer les pratiques“ (Bourdieu 2004: 109; cf. Jurt 2009: 1-9; Jurt 2017: 96-110). Bourdieu schildert so im letzten Abschnitt seines Selbstversuchs seine Herkunft aus einem kleinen Pyrenäendorf südlich von Pau. Innerhalb dieses gegenüber der Stadt benachteiligten sozialen Raumes nahm seine Familie keine dominierte Position ein. Der Vater, der aus einer einfachen Pächterfamilie stammte, wurde, als er um die dreißig Jahre alt war, Briefträger und später Leiter des Postamtes. Als Sohn eines nunmehr kleinen Beamten spürte Bourdieu eine Grenze, die ihn von den Mitschülern, den Söhnen kleiner Bauern und Handwerker trennte, eine Grenze, die auch seinen Vater nun von seinem Bruder und dem Großvater trennte, die auf dem Pachthof geblieben waren. Er hatte so schon früh die Erfahrung sozialer Grenzen gemacht. Die Ungleichheit war aber nicht bloß eine individuelle, sondern eine kollektive Erfahrung, die er mit den aus der ‚Provinz‘ Stammenden teilte. Diese regionale Herkunft bedeutete ein Stigma in der damals noch zentralistischer als heute ausgerichteten französischen Gesellschaft. Eine Laufbahn, die notwendigerweise über die Metropole laufen musste, erheischte kulturelle Anpassung, gerade auch die Aufgabe etwa des regionalen Akzentes. In Paris sei man so ständig auf seine eigene Fremdheit zurückgeworfen worden. Eine neue soziale Grenze lernte Bourdieu dann als Schüler des Gymnasiums von Pau (1941-1947) kennen. Die Erfahrung des Internats habe seine Einstellung entscheidend geprägt. Denn hier habe er, anders als in einer wohlbehüteten bürgerlichen Familie, die soziale Welt als eine Auseinandersetzung erfahren: eine Grenze trennte auch hier wieder die Internen, die vom Land kamen, von den Externen, den bürgerlichen Städtern. Das Leben in der Schule war geprägt durch die Diskrepanz zwischen dem unerbittlichen Internatsalltag und der ‚verzauberten‘ Welt des Schulunterrichts. Diese Erfahrung der Doppelnatur der Schule „ne pouvait que concourir à l’effet durable d’un très fort décalage entre une haute consécration scolaire et une basse extraction sociale, c’est-à-dire l’habitus clivé, habité par les tensions et les contradictions“ (Bourdieu 2004: 127). Wenn Bourdieu sich dann dank der Intervention eines Lehrers für die Aufnahmeprüfung in die Eliteschule der École Normale Supérieure in Paris meldet und die Prüfung ohne Probleme besteht, das Studium der Philosophie mit einer glänzenden 30 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier Philosophie-Agrégation abschließt, Dozent an der Universität von Algier, dann Hochschullehrer in Lille und an der EHESS in Paris, später Leiter des Centre de sociologie européenne wird, um schließlich den höchsten Grad innerhalb des französischen Bildungssystem zu erreichen, eine Professur am Collège de France, dann bewegt er sich nun in einer ganz anderen Welt als in seinem Herkunftsmilieu. Eine ganz andere Welt war aber schon Algerien, wo er zunächst 1955 als einfacher Soldat aufgeboten worden war. In dieser Gesellschaft, die durch den Konflikt zwischen vor-kapitalistischen Strukturen der algerischen einheimischen Gesellschaft und der dominanten kapitalistischen Kolonialstruktur geprägt war, stellt er fest, dass die erworbenen philosophischen Kategorien ihm nicht erlaubten, diese komplexe Struktur zu erfassen. Als Autodidakt erwarb er sich das ethno-soziologische Rüstzeug (Lévi-Strauss, Max Weber), um diese komplexe Situation zu verstehen. Bei seinen Feldforschungen in Algerien hatte Bourdieu oft Parallelen zur agrarischen Gesellschaft des heimatlichen Béarn gezogen, was dem Exotischen das Exotische nahm. Wieder in Frankreich untersuchte er nun die bäuerliche Welt im Béarn vor dem Hintergrund seiner Algerienerfahrung. Wie zuvor das Heran-Zoomen in den Bereich des Vertrauten, eröffnete hier die bewusst gewählte Distanz die Möglichkeit zur Objektivierung. Er konnte nun denselben ethnologischen Blick, den er auf Algerien gerichtet hatte, auf seine Heimat, seine Eltern werfen und so die Distanz überwinden, die sein Ausbildungsweg geschaffen hatte. Terminologische Fragen: ‚transfuges de classe‘ oder ‚transclasses‘? Mit diesem Weg vom Pyrenäen-Bauerdorf zur prominentesten Bildungseinrichtung zählt Pierre Bourdieu zu den ‚transfuges de classe‘ („transfuge fils de transfuge“, Bourdieu 2004: 109), wie der gängige Begriff im Französischen lautet. Das deutsche Pendant ‚Klassenflüchtling‘ scheint sich noch nicht so richtig eingebürgert zu haben. Das Wort ‚transfuge‘ bezeichnete zunächst Überläufer, Soldaten, die ihre Armee verließen, um zum Feind ‚überzulaufen‘. Es war ein Synonym für Deserteur oder Verräter. Der Begriff wurde dann ausgeweitet auf Personen, die eine Partei verlassen, um zur gegnerischen Partei zu wechseln; dann auch für alle, die eine Gruppe oder eine Sache verraten. Es handelt sich so immer um einen wertenden, pejorativen Begriff. Der Begriff ‚transfuge de classe‘ ist indes neutraler (cf. den diesbezüglichen Artikel im Trésor de la langue française, zit. von Naselli 2021: 29). Wegen der etwas dramatischen Konnotation des Begriffes ‚transfuge de classe‘, der doch noch an Fahnenflucht und Verrat erinnere, schlug Chantal Jaquet, die selbst einen „außergewöhnlichen Weg zwischen den Klassen“ (Jaquet 2018: 4) zurückgelegt hat, 3 den Begriff „transclasse“ (cf. Jaquet 2014) vor. Sie betont so mehr das Klassenübergreifende, den Prozess und weniger die Perspektive der erreichten, aber problematisierten Ankunftsklasse (cf. Jaquet/ Durand 2021: 91). 4 Der Untertitel ihrer Transclasses-Studie (2014; deutsch 2018) - „…ou la non-reproduction“ - ist wohl auch eine Auseinandersetzung mit der Soziologie Bourdieus. Im Zentrum seines Ansatzes steht in der Tat nicht der soziale Wandel, sondern das Problem, warum DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 31 Dossier sich so wenig ändert. Er untersucht die Strategien, die die Permanenz sozialer Machtstrukturen erklären. Das Beispiel des sozialen ‚Aufstiegs‘ belegt in den Augen von Chantal Jaquet, dass sich die Machtstrukturen nicht immer reproduzieren. Ihr geht es darum, die zahlreichen Determinanten zu erfassen, die den ‚Aufstieg‘ ermöglichen können. Über ihre Theorie der Komplexion versucht sie allen monokausalen Erklärungen zu entgehen und die Vielfalt der Ursachen des Klassenwechsels zu erfassen. Wird dadurch das Fazit Bourdieus, dass der ‚Aufstieg‘ die große Ausnahme und nicht die Regel ist, entkräftet? Chantal Jaquet stellt zu Recht fest, dass die terminologischen Fragen wichtig sind. In der sozialen Imagination wird der soziale Raum in der Tat über eine vertikale Dimension beschrieben, die immer wertend ist (‚oben‘ ist positiv konnotiert, ‚unten‘ negativ). ‚Unterschicht‘ und ‚Oberschicht‘ bringen klar diese zugeschriebenen Wertungen zum Ausdruck. Der Begriff sozialer ‚Aufstieg‘ ist dann auch wertend für eine Laufbahn nach ‚oben‘. 5 In Frankreich verwendet man für den ‚Aufstieg‘ auch häufig die (vertikale) Metapher des ‚sozialen Lifts‘ (cf. Cédelle 2023). Bourdieu versucht diese wertenden Begriffe zu umgehen, indem er sich auf den Herrschaftsbegriff von Max Weber beruft. Er spricht dann von ‚Herrschenden‘ und ‚Beherrschten‘. Die Intellektuellen - auch die, die den Bildungs-‚Aufstieg‘ geschafft haben - gehören zu ,Beherrschten‘ der herrschenden Schicht. Sie sind ‚herrschend‘ auf der Basis ihres kulturellen Kapitals, aber ‚Beherrschte‘ wegen ihres geringen ökonomischen und politischen Kapitals. 6 Sozialer ,Aufstieg‘ - ein Verrat? ,Verrat‘ oder ,Desertion‘ sind, von außen betrachtet, wertende Begriffe. Sie beschreiben aber zweifellos subjektive Erfahrungen, von denen ‚transfuges de classe‘ berichten. So schildert Pierre Bourdieu in seiner Auto-analyse den Moment, als er, 1982, am höchsten Punkt seiner Bildungskarriere angekommen, seine Antrittsvorlesung am Collège de France vorbereitete und alle seine Widersprüche intensiv empfand: „le sentiment d’être parfaitement indigne, de n’avoir rien à dire qui mérite d’être dit devant ce tribunal [et] d’entrer dans un rôle que j’avais peine à englober dans l’idée que je me faisais de moi“ (Bourdieu 2004: 137). Dieser Eindruck wurde noch gesteigert durch ein Schuldgefühl gegenüber seinem Vater, „un sentiment de culpabilité à l’égard de mon père qui vient de mourir d’une mort particulièrement tragique, comme un pauvre diable […]. Bien que je sache qu’il aurait été très fier et très heureux, je fais un lien magique entre sa mort et ce succès ainsi constitué en transgression-trahison“ (ibid.: 138). Paul Nizan Die von Pierre Bourdieu angesprochene ‚transgression-trahison‘ wurde und wird auch immer wieder in literarischen Werken von ‚transfuges de classe‘ beschrieben. 32 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier So schon bei Paul Nizan in den 1930er Jahren, in seinem Roman Antoine Bloyé (1933). Die Titelfigur wird vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs zwischen 1869 und 1929 betrachtet. Als Sohn eines einfachen Eisenbahnangestellten in der Bretagne geboren, erreicht er durch gute Schulleistungen ein Stipendium und eine Ausbildung an der École Nationale des Arts et des Métiers in Angers. Er beginnt seine berufliche Laufbahn als Arbeiter bei der Eisenbahn, steigt dann zum Ingenieur mit 1500 Untergebenen auf. Nach einem Sabotageakt wird er 1914 schuldlos versetzt. Physisch und psychisch geht er langsam zugrunde und stirbt mit dem Gedanken, sein Leben verfehlt zu haben, weil er seiner Herkunftsklasse gegenüber untreu wurde. Die Eisenbahn steht dabei gleichzeitig als Metapher sowohl für den rasanten Aufstieg des Landes als auch für das sich scheinbar in festgelegten Bahnen bewegende Leben Antoine Bloyés, dessen sozialer Aufstieg fortschreitende moralische und soziale Entfremdung bedeutet. Er entfernt sich von der Arbeiterklasse, ohne dass es ihm gelingt, sich in das kleinbürgerliche Milieu einzubürgern, aus dem seine Frau stammt. Nizan ist ein eindringliches, nicht bloß schematisches Bild der Tragik des sozialen ‚Aufsteigers‘ gelungen, weil das Bild auf einem autobiographischen Substrat beruht: Es ist das Bild seines eigenen Vaters, Pierre-Marie Nizan. Ein Aspekt wurde allerdings verändert. Um den Abstieg des Protagonisten als unaufhaltsamen Prozess darzustellen, gesteht Nizan der Romanfigur die berufliche Rehabilitierung, die seinem Vater zuteilwurde, nicht zu (cf. Husung 1992: 77sq.). Der Sohn, der Autor, ist präsent über den auktorialen Erzähler, der über das sozioanalytische Wissen des aufgeklärten Intellektuellen verfügt und schließlich auch darin, dass er seine eigenen Probleme (sozialer Aufstieg und Verrat) auf die Figur des Vaters projiziert. Das Leben Antoine Bloyés wird indes nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt. Der Roman setzt mit dem Tod des Vaters ein; so steht die ganze Entwicklung des Protagonisten im Zeichen des Todes, den der soziale Aufstieg bedeutet. Vor allem Sartre schrieb die Todes- und Verratsproblematik sowohl Antoine als auch dem Autor Paul Nizan zu (cf. Sartre 1973: 28). Nizans Todesangst, zusammen mit seiner sozialen Statusunsicherheit, die in ihm ein Gefühl der Entfremdung hervorrief, war in den Augen von Sartre das auslösende Motiv seines Kameraden Nizan, in die Kommunistische Partei einzutreten. In der zeitgenössischen Rezeption wurde die Verratsthematik mit Nizan selbst in Verbindung gebracht. Für Aragon fungierte nicht bloß die Hauptfigur, sondern ex negativo der Autor selbst als ‚Verräter‘, allerdings in einem positiven Sinn, indem er seine Aufstiegsklasse, die Bourgeoisie verrate, um sich auf die Seite der Ausgebeuteten zu stellen (cf. Aragon 1934: 825). 7 Annie Ernaux Annie Ernaux’ 1983 veröffentlichtes Buch La place erinnert unmittelbar an Nizan. 8 Auch hier geht es um die Geschichte des Vaters. Auch hier spielt die Todes- und Verratsproblematik eine zentrale Rolle. Nur hat sich die Autorin völlig von der Fiktion DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 33 Dossier verabschiedet. Es handelt sich um eine Ich-Erzählung, die ein Segment aus der eigenen Erfahrung auswählt: das Leben des Vaters. Hinsichtlich der Erzählform ist es eine Autobiographie (Ich-Perspektive), inhaltlich eine Biographie. Das Problem des Vaters ist auch das der Tochter, das des sozialen Aufstiegs und der damit einhergehenden Erfahrung der Entfremdung. Wie bei Nizan setzt das Buch mit dem Tod des Vaters ein, dem dann die Rückblende folgt. In beiden Werken findet man so auch nicht die traditionelle chronologische Ordnung der Autobiographie. Der Tod des Vaters ist Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses, der notwendigerweise in das Schreiben mündet: „Plus tard, au cours de l’été, en attendant mon premier poste, ‚il faudra que j’explique tout cela‘. Je voulais dire, écrire au sujet de mon père, sa vie […]“ (Ernaux 1983: 23). La place teilt mit Antoine Bloyé auch die Thematik des Verrats: „écrire c’est le dernier recours quand on a trahi“ (ibid.: 9), dieses Wort Genets stellt die Autorin bezeichnenderweise ihrem Buch voran. 9 Der Verrat ist nicht derjenige des Vaters, sondern der der Tochter, die aus dem ‚einfachen‘ Milieu der Eltern aufgestiegen ist, studiert hat, um dann gutbürgerlich zu heiraten und eine Stelle als Gymnasiallehrerin anzunehmen. Die Thematik des Verrats scheint dann auch auf, wenn sie durch das Schreiben die Distanz sichtbar machen will, die sie nun von ihrem Vater trennte: „Je voulais dire, écrire au sujet de mon père, sa vie et cette distance venue à l’adolescence entre lui et moi. Une distance de classe, mais particulière, qui n’a pas de nom. Comme de l’amour séparé“ (ibid.: 23). 10 Ernaux widmete danach ihrer Mutter ein Buch unter dem Titel Une femme (1987). Hier schreibt sie explizit, es handle sich weder um eine Biographie, noch weniger um einen Roman, sondern vielleicht um etwas zwischen der Literatur, der Soziologie und der Geschichte. In der Tat steht sie mit ihren Werken dem soziologischen Ansatz von Bourdieu nahe; sie geht viel weniger von einer zeitlichen Linie aus, sondern sie beschreibt - schon der Titel La Place verdeutlicht das - den Platz und die Deplatzierungen ihres Vaters (aber auch ihre eigenen) im sozialen Raum. Annie Ernaux fühlte sich in der Tat durch Bourdieu ermutigt, das sozial Verdrängte in ihrem literarischen Werk zu übersetzen. Sie hatte schon in den 1970er Jahren Les héritiers (1964), La reproduction (1970) und später La distinction (1979) gelesen. 11 Das habe bei ihr einen heftigen ontologischen Schock ausgelöst. Sie habe nun gespürt, dass der Platz in der Gesellschaft, aber auch der eigene Lebensstil keineswegs selbstverständlich, keineswegs etwas ‚Natürliches‘ seien. Das bedeutete auch, aus dem Gefangensein in der partikulären Existenz, aus dem Gefühl der Schuld und einer persönlichen Malaise auszubrechen. Die Kenntnis der Strategien der sozialen Gewalt ermöglichte es ihr, eine fatalistische Haltung zu überwinden (cf. Ernaux 2005: 343). Wenn Annie Ernaux von der Erfahrung der symbolischen Gewalt ausgeht, so unterscheidet sich ihr Vorhaben von dem der Soziologie. Sie spricht von einem parallelen Weg. Sie teilt mit der Soziologie wohl den kognitiven Ansatz, den Willen, die soziale Welt zu erfassen, dies jedoch mit literarischen Mitteln. Wenn sie ihrem Schreiben autobiographisches Substrat zugrunde legt, so handelt es sich niemals 34 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier um ein rein partikuläres, sondern um ein soziales Ich, in dem sich auch die Leser wiederfinden können. Im Buch Les années (2008) spricht sie von sich sogar in der dritten Person oder verwendet das unbestimmte Pronomen ‚on‘, zu Deutsch ‚man‘, was an das kollektive Bewusstsein von Maurice Halbwachs erinnert. Selbst wenn die Schriftstellerin soziologische Begriffe wie ‚dominante Welt‘ oder ,dominiertes Milieu‘ verwendet, geht sie doch nicht von diesen Begriffen aus, sondern von konkreten Erfahrungen, Wahrnehmungen und von in ihrer Welt üblichen Sprachwendungen. Das Literarische besteht nicht in der Fiktion, sondern in der Reflexivität und in der Suche nach einer einfachen Schreibweise, die der Einfachheit der elterlichen Welt entspricht, ähnlich wie Céline mit seinem oralen Stil oder Camus, der eine Schreibweise suchte, die dem Schweigen seiner Mutter entsprach (cf. Jurt 1978: 33-37; Jurt 1993: 347-359). Didier Eribon Didier Eribon, geboren 1953, gehört zu einer anderen Generation als Annie Ernaux (geboren 1940) und Pierre Bourdieu (geboren 1930). Als ‚transfuge de classe‘ war er aber sehr beeindruckt von Annie Ernaux’ Werk. 12 Er kannte nicht nur Michel Foucault gut, sondern auch Pierre Bourdieu, dessen Werke er regelmäßig im Nouvel Observateur besprach. Er hatte wichtige Monographien über Foucault, Lévi-Strauss und Dumézil veröffentlicht, wurde zu Gastprofessuren nach Berkeley und Princeton eingeladen, lancierte in Frankreich die études gays et lesbiennes und wurde mit 56 Jahren auf eine Professur an der Universität Amiens berufen. 13 In diesem Jahr, 2009, sieben Jahre nach dem Tod von Pierre Bourdieu, kam Didier Eribon auf seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie in seinem Buch Retour à Reims (2009) zurück. Wie bei Annie Ernaux oder im Roman Antoine Bloyé von Nizan weckte der Tod des Vaters die autosoziobiographische Reflexion. Nachdem er schon früher die Scham ob seiner Homosexualität geäußert und überwunden hatte, thematisiert Didier Eribon hier die soziale Scham. Das Buch setzt ein mit dem Anruf der Mutter: „,Ton père est mort il y a une heure.‘ Je ne l’aimais pas. Je ne l’avais jamais aimé […]. Je n’ai pas assisté aux obsèques de mon père“ (Eribon 2009: 12, 19). Die Autosoziobiographie von Eribon steht aufgrund ihrer analytischen Dimension 14 Bourdieus Selbstversuch näher als den literarischen Werken von Annie Ernaux, die ihrem Herkunftsmilieu gelten. In den drei Evozierungen des Lebensweges von ‚transfuges de classe‘ gibt es indes auch Unterschiede. Wenn Eribon aus einem Arbeitermilieu stammt, so hatten die Väter von Pierre Bourdieu und Annie Ernaux schon einen gewissen ,Aufstieg‘ vollzogen; der Vater von Bourdieu war zunächst Pächter und wurde dann Posthalter, derjenige von Annie Ernaux war Landarbeiter und wurde zum Inhaber eines kleinen Geschäfts mit einem Bistro. 15 Das Bild der Ursprungsfamilie ist bei Ernaux und Bourdieu keineswegs negativ; man spürt bloß den Graben, der sich zwischen dem Herkunftsmilieu und dem neuen intellektuellen Milieu der Autoren aufgetan hatte, ein DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 35 Dossier Graben, den beide durch eine bestimmte Schreibweise (Ernaux) oder durch den ethno-soziographischen Blick (Bourdieu) zu überwinden suchten. Wenn man bei Eribon eine Zuneigung zu seiner Mutter spürt, so ist doch seine Beziehung zum Vater (und zu den Brüdern) deutlich negativ: Le fossé qui s’était creusé entre nous quand j’étais encore adolescent s’était élargi au fil des années, et nous étions devenus des étrangers […]. Rien ne nous attachait l’un à l’autre. […] Il ne m’inspirait aucun sentiment, pas même de compassion. […] Il m’avait engendré, je portais son nom, et pour le reste, il ne comptait pas pour moi (Eribon 2009: 15sqq.). Dieser Bruch beruhte zunächst darauf, dass der Vater die Option des Sohnes für das Studium und namentlich für die Philosophie völlig verkannte, dann auf der Homophobie des Vaters und schließlich auf einer abgrundtiefen politischen Differenz. Der Vater und die übrigen Mitglieder der Familie, die sich früher als Linke deklarierten, stimmten nun für die Rechte und die extreme Rechte. „[Mes frères] revendiquaient leur appartenance à la droite - après avoir longtemps voté à l’extrême droite - ne comprenant même pas qu’on puisse s’en étonner: dès qu’ils eurent l’âge de voter, leurs suffrages s’opposèrent à la gauche“ (ibid.: 155). Eribon generalisiert diesen Befund hinsichtlich seiner Familie, wenn er schreibt, dass Regionen, die früher Bastionen der Linken, insbesondere der Kommunisten waren, nunmehr den Rechtsextremen solide Wahlergebnisse garantierten (ibid.). Er spielt hier zweifellos auf eine historische Entwicklung an. Während Bourdieus Vater, der aus einem ruralen Milieu stammte, „weit links“ wählte und Mitglied einer Gewerkschaft war (cf. Bourdieu 2004: 111), entwickelte sich die Familie von Eribon in gegensätzlicher Richtung. Das lag sicher auch daran, dass infolge der Deindustrialisierung eine Arbeiterkultur zerbröckelte, die oft auch von den lokalen Vereinigungen der KPF in den Vorstädten in Frankreich organisiert worden war (cf. Jandi 2006). 16 Wenn sich der junge Didier Eribon bei einer gauchistischen Gruppe engagierte, dann hätte er sich eigentlich mit dem Arbeitermilieu seiner Familie identifizieren müssen. J’étais politiquement du côté des ouvriers, mais je détestais mon ancrage dans leur monde. Me situer dans le camp du ,peuple‘ eût sans doute suscité en moi moins de tourments intérieurs et de crises morales si le peuple n’avait pas été ma famille, c’est-à-dire mon passé et donc, malgré tout, mon présent (Eribon 2009: 73). Nachdem er seine Familie verlassen hatte, fand Eribon in Paris Zugang zur Schwulenszene und gleichzeitig zur intellektuellen Welt, wo er, wie er schreibt, in Kontakt mit den größten Denkern dieser Zeit kam (ibid.: 234). Durch diese Anerkennung hatte er seine sexuelle Scham überwinden und auch durch die theoretische Reflexion verarbeiten können. Er spricht in diesem Zusammenhang von „deux trajectoires interdépendantes de réinvention de [s]oi-même: l’une en regard de l’ordre sexuel, l’autre en regard de l’ordre social“ (ibid.: 28). Er fragt sich dabei, warum er nicht dieselbe Strategie gefunden hatte, um die soziale Scham zu überwinden: 36 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier Pourquoi moi, qui ai tant éprouvé la honte sociale, la honte du milieu dont je venais quand, une fois installé Paris, j’ai connu des gens qui venaient de milieux sociaux si différents du mien, à qui souvent je mentais plus ou moins sur mes origines de classe, ou devant lesquels je me sentais profondément gêné d’avoir ces origines, pourquoi n’ai-je jamais eu l’idée d’aborder ce problème dans un livre ou un article? (ibid.: 21) 17 Eribon setzte sich mit der Erfahrung relativ spät auseinander, mit 56 Jahren. Auslöser waren, wie gesagt, der Tod des Vaters sowie der persönliche Selbstversuch von Pierre Bourdieu: „J’ai retrouvé dans [...] Esquisse pour une auto-analyse une image grossie de ce que j’avais vécu“ (ibid.: 164). Eribon wirft Bourdieu indes vor, vieles aus seinem Leben offen gelassen zu haben: Il tait plus de choses qu’il n’en confesse […] il n’explique pas comment il parvint à gérer cette tension ou cette contradiction entre l’inaptitude sociale à se conformer aux exigences de la situation scolaire et l’envie d’apprendre et de réussir […]. Il ne mentionne aucun des livres qu’il lisait, ne donne aucun renseignement sur ceux qui comptèrent pour lui ou lui donnèrent le goût de la culture, de la pensée quand il aurait pu sombrer dans un rejet complet de cellesci, comme semblaient l’y destiner les valeurs populaires sportives et masculinistes auxquelles il ne cache pas qu’il adhère pleinement […]. Quid de la sexualité? L’hétérosexualité va-t-elle de soi au point qu’il serait inutile de la nommer […]? (ibid.: 164sq.) Man kann hier einwenden, dass Bourdieu gar nicht die Intention eines Rousseau teilte, ‚alles zu sagen‘. Er war ja gerade gegenüber der Gattung der Autobiographie sehr skeptisch. In La société comme verdict (2013) kommt Eribon noch ausführlicher auf Bourdieus Selbstversuch zurück und wirft dem Soziologen vor, zu sehr im Psychologischen zu verharren. Er gehe wohl von den sozialen Determinismen aus, um dann auf sich selbst als Autor zu sprechen zu kommen (cf. Eribon 2013: 164-167). Eribon stellt aber keineswegs die zentrale Rolle, die ein Werk wie La distinction für seine Emanzipation gespielt habe, analog zur Rolle von Foucaults Histoire de la folie (1961), in Frage: Mes liens avec Bourdieu, et avec son œuvre, m’aidèrent à surmonter, en me permettant de la penser, la honte sociale comme mes liens avec Foucault, et avec son œuvre m’aidèrent à dépasser, en la thématisant, la honte sexuelle (Eribon 2013: 108). Nicht nur Bourdieus Selbstversuch, sondern auch Annie Ernaux’ Werk hatte Eribon ermuntert, sein soziales coming out zu wagen. Er erwähnt die Autorin explizit in Retour à Reims: J’ai reconnu très précisément ce que j’ai vécu à ce moment-là en lisant les livres qu’Annie Ernaux a consacrés à ses parents et la ‚distance de classe‘ qui la séparait d’eux. Elle y évoque à merveille ce malaise que l’on ressent lorsqu’on revient chez ses parents après avoir quitté non seulement le domicile familial mais aussi la famille et le monde auxquels, malgré tout, on continue d’appartenir, et ce sentiment déroutant d’être à la fois chez soi et dans un univers étranger (Eribon 2009: 28). 18 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 37 Dossier Eribon fügt aber gleich hinzu, dass ihm dieser Spagat mit den Jahren so gut wie unmöglich geworden sei. Nach dem Erscheinen von Retour à Reims schrieb Annie Ernaux im Nouvel Observateur eine begeisterte Rezension des Buches (cf. Ernaux 2009). Im intellektuellen und journalistischen Milieu, so schrieb sie, in das der Autor eingetreten sei, sei es leichter gewesen sich als gay zu outen als als Arbeitersohn. So sagte mir auch Pierre Bourdieu persönlich, die sexuelle Orientierung stelle heute kein Tabu mehr dar, wohl aber die ‚niedrige‘ soziale Herkunft. Bourdieu suchte über seine Studien das Arbiträre der sozialen Hierarchie aufzudecken, um so die Individuen von ihren unberechtigten Schuldkomplexen (‚selber schuld‘) zu befreien. Viele hätten ihm dafür persönlich ihren Dank ausgesprochen. Annie Ernaux schrieb in ihrer Rezension, Eribon sei im Hin und Her zwischen Narration und Analyse eine einzigartige sozio-historische Interpretation seiner Familiengeschichte gelungen, durch die genaue Wiedergabe der Realität des Arbeitermilieus. Sie unterstreicht dabei die Bedeutung der analytischen Dimension des Buches (cf. ibid.). Édouard Louis Retour à Reims fand überdies bei der jungen Generation in Frankreich große Resonanz, so auch bei Édouard Louis (geboren 1992), der Eribon an der Universität Amiens begegnet war. Durch sein Beispiel wurde er angeregt, seine eigene Herkunft aus einem Arbeitermilieu in einem Roman zu verarbeiten: En finir avec Eddy Bellegueule (2014), den er dem Autor von Retour à Reims widmete. Édouard Louis sandte sein Manuskript an mehrere Verlage. Die meisten Editionshäuser antworteten, das Geschehene könne nicht ‚wahr‘ sein. Dann aber schrieb ihm ein Mitarbeiter vom Verlag Seuil („René“), sein Zeugnis habe ihn ‚erschüttert‘. Er werde sich im Verlag dafür einsetzen, dass das Buch dort herausgegeben werde (cf. Louis 2021: 318sq.). Édouard Louis fand so Eingang in ein ‚großes‘ literarisches Haus (zählt doch Seuil neben Gallimard und Grasset zu den ‚Großen Drei‘ der französischen Verlagslandschaft). Fayard, Eribons Verleger, hat eher einen Schwerpunkt im Bereich historischer Werke und Essays. Weitere Werke von Édouard Louis folgten, die schnell ins Deutsche übersetzt wurden: Histoire de la violence, 2016 (deutsch: Im Herzen der Gewalt, 2017), Qui a tué mon père, 2018 (deutsch: Wer hat meinen Vater umgebracht, 2019), Combats et métamorphoses d’une femme, 2021 (deutsch: Die Freiheit einer Frau, 2021) und Changer: méthode, 2021 (deutsch: Anleitung ein anderer zu werden, 2022). 19 Schon 2012 hatte Édouard Louis als Student im Théâtre de l’Odéon ein Kolloquium zu Ehren von Pierre Bourdieu organisiert, das im Jahr danach als Sammelband erschien: Pierre Bourdieu. L’insoumission en héritage (2013b). Annie Ernaux ist darin mit einem Text vertreten, aber auch Didier Eribon. In seinem Artikel knüpft Louis (2013a) an eine Bemerkung von Pierre Bourdieu an, der schrieb, der Soziologe lebe wie der Schriftsteller viele Leben. Er glaube, so fährt Louis fort, auch der 38 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier Klassenflüchtling habe im Lauf der verschiedenen Etappen seines Lebensweges den Eindruck alles, ja zu viel erlebt zu haben. Auf jeden Fall habe er selbst diesen Eindruck gehabt, denn der Fluchtweg sei lange (cf. ibid.: 6sq.). 20 Epilog: Retour à Reims in Deutschland Retour à Reims wurde im Unterschied zu Louis’ Werken erst nach einer Frist von sieben Jahren in Deutschland veröffentlicht. Wer aber war für die Einführung von Eribons Text im deutschen Sprachraum verantwortlich? Wer war der Türöffner? Es war nicht eine Initiative des Verlages, sondern ein Vorschlag des Übersetzers, Tobias Haberkorn, wie er mir schrieb: Den Vorschlag, Rückkehr nach Reims zu übersetzen, machte ich 2014 ganz aus freien Stücken. Entdeckt hatte ich das Buch kurioserweise durch eine Rezension der englischen Übersetzung in dem online-Magazine The New Inquiry. 21 Es dauerte ein halbes Jahr und ein Stipendienprogramm, bis Suhrkamp mein Exposé wirklich las und die Rechte kaufte. Zu Pass kam mir damals, dass Édouard Louis’ erstes Buch soeben im Fischer Verlag auf Deutsch erschienen war und dass man auf ihn, einen damals gerade aufsteigenden Star, verweisen konnte. Rückkehr nach Reims wurde bei Suhrkamp von Heinrich Geiselberger betreut, der die edition suhrkamp leitet. Geiselberger sagte mir einmal, er habe das Buch bereits 2009 gesehen, sich damals aber gegen eine Übersetzung entschieden. Wolfgang Matz (Hanser) wollte es 2015 nicht nochmal prüfen, nachdem er es bereits 2009 abgelehnt hatte. Und Andreas Rötzer von Matthes & Seitz hätte es 2015 auch gerne gekauft, Suhrkamp war aber schneller. 22 Rückkehr nach Reims wurde dann in Deutschland zu einem großen Erfolg; innerhalb eines Jahres wurden 80 000 Exemplare abgesetzt (bis heute insgesamt 150 000). Das Buch rief zahlreiche Reaktionen hervor, regte aber auch zu analogen Autosoziobiographien an. Wie aber ist die große Resonanz von Eribon in Deutschland zu erklären? Eribon gab darauf schon 2017 in einem Gespräch mit Pascal Jurt eine erste Antwort: Ich glaube, es gibt zwei Gründe für das Echo, das mein Buch in Deutschland gefunden hat. Zunächst einmal beschreibe ich, wie ein großer Teil der französischen Arbeiterklasse, der früher für die Linke gestimmt hat, nach und nach anfing, rechts oder rechtsextrem zu wählen. Dies ist ein Phänomen, das sich schon in den 80er und 90er Jahren abzeichnete. Ich konnte das in meiner eigenen Familie feststellen und wollte es mit einer generellen Entwicklung in Verbindung setzen, die sich von einem Wahltermin zum anderen immer mehr erweiterte. So konnte ich eine Analyse vorlegen, und zwar mehrere Jahre, bevor sich ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern, darunter Deutschland, abzeichneten (Eribon/ Jurt 2017: 21sq.). 23 Eribon führte als zweiten Grund, der mit dem ersten zusammenhängt, an, dass die Frage nach den ‚sozialen Klassen‘ aus der politischen und intellektuellen Debatte weitgehend verschwunden war. Viele Leser spürten, dass der Begriff der sozialen Klasse DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 39 Dossier eine notwendige Dimension darstellt - nicht nur für das Verständnis der sozialen Welt generell, sondern auch für die Ausbildung einer individuellen Subjektivität sowie für die Ausbildung kollektiver und politischer Einstellungen. Ich habe viele Zuschriften aus Deutschland oder Österreich bekommen - wie schon vorher in Frankreich -, die mir sagten: ,Ich habe mich in dem wiedererkannt, was Sie beschreiben‘. Oder: ,Sie haben mit ihrem Buch auch ein Portrait meiner Familie und meiner Geschichte entworfen‘. Mein Buch wurde in Deutschland und in Österreich in erster Linie als ein politisches Buch gelesen. Ich möchte auf keinen Fall diese Lesart in Frage stellen. Aber ‚politisch‘ meint einen Blick auf die soziale Welt, auf Formen der Herrschaft und Formen der Unterdrückung (ibid.). Pascal Jurt stellte dann fest, dass man im deutschen literarischen Feld wenige Autoren fände, die wie Annie Ernaux, François Bon oder Pierre Bergounioux die soziale Scham thematisierten. Er fragte darum Eribon nach möglichen Gründen dieser Lücke. Eribon darauf: Ich würde eher sagen, es wurde eine Evidenz von den Lesern wiederentdeckt, die lange von den konservativen Debattenbeiträgen von rechts und links unterdrückt oder gar geleugnet wurde. Wenn wir das Offensichtliche, das negiert wurde, wiederentdecken, dann löst das eine Art Erleuchtung aus. Man versteht Sachen, die man vage geahnt hat, aber nicht so richtig einschätzen konnte. Ich habe dieses Buch als eine Selbstanalyse begonnen, um ausgehend von meiner Geschichte und der meiner Familie, einen Denkrahmen zu entwickeln, der eine theoretische und politische Relevanz hat. Hinter meinem ganzen Buch steht der Versuch zu verstehen, was jeder von uns ist, wie wir durch soziale Systeme und das Herkunftsmilieu seit den ersten Erfahrungen geprägt werden. In meinem letzten Buch Prinzipien eines kritischen Denkens widme ich mich der Frage, was es bedeutet, in der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ‚Bastardin‘, ein uneheliches Kind, zu sein: dieses Schimpfwort auf der Straße zu hören und das ganze Leben diese soziale Verurteilung zu ertragen. Meine Mutter war eine ‚Bastardin‘ und leidet seit ihrer Kindheit darunter. Auch heute noch erinnert sie sich an die Demütigungen, die sie wegen der Norm erleiden musste, die eine unverheiratete Mutter und ihr Kind an den Pranger stellt (ibid.). Aragon, Louis, „Paul Nizan, Antoine Bloyé“, in: Commune, 1934, 824-826. Bertaux, Daniel, Die Lebenserzählung. Ein ethnosoziologischer Ansatz zur Analyse sozialer Welten, sozialer Situationen und sozialer Abläufe, Opaden/ Berlin/ Toronto, Barbara Budrich, 2018. Bourdieu, Pierre, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris, Minuit, 1979. —, „L’illusion biographique“, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 62/ 63, 1986, 69-72. —, Science de la science et réflexivité. 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Die Reaktion von Lutz Niethammer (1990: 93) ist indes kritischer: „Zu sagen, dass die soziologische und historische Biographieforschung im Wesentlichen nur darauf abhebe, den subjektiven Sinn der Quellen zum objektiven Sinn der Gesellschaft zu verdichten“, sei „eine Illusion über die Biographieforschung“. 2 Zu dieser Positionsbestimmung gegen die Subjektphilosophie Sartres und den dominanten ‚Strukturalismus‘ cf. Jurt 2008: 10-19. 3 Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen in den Savoyer Bergen ist sie heute Professorin für Philosophie an der Sorbonne (cf. Jaquet 2018: 4). 4 Schon in ihrem ersten Buch Les transclasses schreibt sie, der Begriff ‚transfuges de classe‘ sei nicht von jedem moralischen Werturteil frei, bleibe er doch eng mit dem Gedanken der Flucht, der Desertion, ja des Verrates verbunden (cf. Jaquet 2018: 19). Jens Kastner stellt fest, dass die beredten Ausführungen von Chantal Jaquet zur sozialen Scham, die „Klassenübergänger“ ein Leben lang begleite, letztlich ihren Ausgangsthesen widersprächen (Kastner 2018). Der Soziologe Gérald Bronner lancierte im Januar 2023 eine Breitseite gegen die Berichte der ‚transclasses‘, denen er eine gewisse Wehleidigkeit („dolorisme“) und sozialen Determinismus vorwarf. Jaquet stellte sich ihm in einer Debatte in der Zeitschrift Philosophie magazine, die dem Thema ‚transclasses‘ in der Aprilnummer 2023 einen Schwerpunkt widmete (Jaquet/ Bronner 2023: 60-64). Siehe dazu die zentrale Replik von Jaquet: „Le déterminisme n’empêche pas la liberté! Il ne faut pas le confondre avec la fatalité. C’est d’ailleurs la grande leçon de Spinoza: on devient libre non pas en échappant aux déterminismes mais en sachant ce qui nous détermine“ (ibid.: 64). Zu Bronners Buch siehe auch die Rezension von Adrien Naselli (2023). 5 Didier Eribon (2011: 26) unterstreicht seinerseits, dass die Begriffe, die die soziale Position einer Person oder einer Gruppe angeben, auf einer vertikalen Skala verortet sind und so immer auch ein Werturteil implizieren: „Quand quelqu’un dit ,la France d’en bas‘ ou ,les DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 43 Dossier gens d’en bas‘ - ça veut dire qu’on les regarde d’en haut. C’est un mépris de classe comme quand on dit ,les gens modestes‘…“. Er betont dann auch, dass die zur Verfügung stehenden Begriffe immer eine Falle darstellen. Wie aber kann man den gängigen Werturteilen entgehen? Er fügt hinzu: „On n’est pas obligé de mépriser les gens qui sont ,en bas‘ de l’échelle ni de valoriser les gens qui sont ,en haut‘“ (ibid.). 6 Nach Bourdieu bestimmt ein double bind den Weg des ,Aufsteigers‘ / der ,Aufsteigerin‘: „Ne pas réaliser les rêves de ses parents, c’est trahir leurs rêves; les réaliser, c’est les trahir eux“, zit. nach Sapiro 2022b: 246. 7 Bourdieu schreibt, dass er seine Kindheitserfahrung, ein „transfuge fils de transfuge“, „dans le Nizan qu’évoque Sartre dans sa préface à Aden Arabie“ (Bourdieu 2004: 109) wiedererkannt habe zu glauben. Nachdem Nizan wegen der Unterstützung des Hitler-Stalin- Paktes durch die KPF mit der Kommunistischen Partei brach, denunzierten ihn Thorez und auch Aragon als einen Verräter, was man schon in seinem Werk habe feststellen können! Aragon erstellte in seinem Roman Les Communistes (1949) ein sehr negatives Porträt von Nizan (cf. Daix 1994: 366sq.). 8 Cf. dazu auch den Artikel, den Annie Ernaux Paul Nizan gewidmet hat (Ernaux 1994: 18- 24). Auch Eribon bezieht sich auf Nizans Antoine Bloyé: „Les propos péjoratifs sur la classe ouvrière tenus par les gens qu’il côtoie dans sa vie d’adulte et qui constituent désormais le milieu auquel il [le protagoniste du roman] appartient l’atteignent encore comme si c’était lui qui était visé en même temps que son milieu d’autrefois“ (Eribon 2009: 26). Eribon spricht später noch ausführlicher von Nizan (cf. Eribon 2013: 183-202). 9 Annie Ernaux (2022: 265) spricht in Bezug auf das Buch über ihren Vater von einer „double structure opposant et analysant l’écart entre la culture que je contribuais à reproduire et la réalité du monde dont j’étais issue. Suggérant, sans que le mot soit jamais écrit, ma trahison“. 10 Den sozialen ‚Aufstieg‘ als Verrat zu empfinden, ist keineswegs selbstverständlich. Eine andere häufigere Reaktion ist die Identifizierung mit dem herrschenden System, das einen solchen Aufstieg ermögliche. Weil Annie Ernaux diese Haltung nicht teile, werde sie auch immer wieder angegriffen, schreibt Gisèle Sapiro (2022a: 1-20): „Femme d’origine modeste, devant son ascension sociale à l’école (ou plutôt à son investissement scolaire et à celui de ses parents), Annie Ernaux refuse le rôle de l’oblat contraint à l’allégeance à l’institution à laquelle il doit tout, elle s’autorise à retourner le pouvoir symbolique qu’elle a acquis et les armes de la culture légitime dont elle est désormais la dépositaire en tant que professeure de français et écrivaine reconnue, pour comprendre et défaire la violence symbolique de classe, ce qui requiert de se départir de ce que Bourdieu appelait le ,racisme de l’intelligence‘. Elle y est parvenue mieux que quiconque. C’est ce qui est impardonnable“. Bezeichnend sei in diesem Zusammenhang der Vorwurf, den Finkielkraut formulierte, eines Mangels an ‚Dankbarkeit‘. Sapiro kommt dann auch auf die Vorwürfe eines Antisemitismus der Autorin zurück, die bezeichnenderweise von deutschen Magazinen wie Der Spiegel und Bild im Gefolge der sehr rechts stehenden Jerusalem Post formuliert wurden. Auf der Basis der Analyse der Texte von Annie Ernaux erwiesen sich diese Vorwürfe als schlichtes Amalgam (ibid.). 11 Zu den Beziehungen von Annie Ernaux zu Pierre Bourdieu cf. Kohlhauer 2005; Jurt 2010. 12 „C’est vrai que Annie Ernaux m’a beaucoup aidé à écrire mon livre [Retour à Reims] (Je veux dire: ses livres car je ne la connaissais pas jusqu’à présent et je viens de la rencontrer après le compte rendu qu’elle a publié sur Retour à Reims). (Persönlicher Brief Didier Eribons an Joseph Jurt, 20. Januar 2010). 44 DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 Dossier 13 Ich nehme hier Elemente meines auf Französisch verfassten Aufsatzes auf: Jurt 2020b [2021]: 11-21. 14 Eribon (2016: 20) definiert sein Vorhaben in der Tat als „eine zur historischen und theoretischen Analyse geformte Autobiographie“. 15 Fabrice Thumerel (2011: 88) unterscheidet darum zwischen ‚transfuges‘ der ersten Generation (Eribon, Louis) und ‚transfuges‘ der zweiten Generation (Bourdieu, Ernaux). 16 Gérard Mauger bemerkt dazu, dass bei den Wahlen in Frankreich die meisten Arbeiter für den Front national stimmten. Die allermeisten Arbeiter gingen indes nicht wählen oder schrieben sich gar nicht in die Wahllisten ein. Wenn man das Gesamt der Arbeiterklasse betrachtet, stimmte nur einer von sieben aus der Arbeiterschaft für den Front national (cf. Mauger/ Pelletier 2016: 37). Zu den generationellen Unterschieden des Wahlverhaltens der Arbeiterschaft (vor allem jüngere Arbeiter votierten für den FN) siehe Fourquet 2020: 35- 38. 17 Zum Thema der Scham siehe auch die sehr gute Arbeit von Komorowska (2017) und die Studie von Martin (2017). 18 Eribon erwähnt in seinem Buch Werke von Annie Ernaux noch an vier anderen Stellen. In La société comme verdict (2013: 103-180) widmet er ihr ein ganzes Kapitel: „En lisant Ernaux“. 19 Cf. zu Louis auch den Beitrag von Christina Ernst in diesem Band. 20 Rose-Marie Lagrave publizierte ebenfalls 2021 ihre Autosoziobiographie. Die Autorin spricht nie nur von sich. Sie bat alle ihre Geschwister, ihre Erfahrungen in der Großfamilie aufzuzeichnen und sie lässt deren Aussagen in ihr Buch einfließen. Zudem erwähnt sie auch statistische Untersuchungen. So belegen diese etwa, dass die Herkunft aus einer Großfamilie wohl soziale Kompetenzen vermittelt, aber nicht unbedingt für den sozialen Aufstieg förderlich ist. Der Vater erkrankte anfangs der 1940er Jahre an Tuberkulose und musste seinen Beruf aufgeben. Die Familie zog aufs Land, in die Normandie, erwarb ein großes Haus mit Umschwung und war dank dem großen Pflanzgarten und Kleinvieh mehr oder weniger Selbstversorger und lebte von der Invalidenrente und den Kinderzulagen. Die Krankheit des Vaters bedeutete so zunächst sozialen Abstieg. Der Vater, der das Gymnasium besucht hatte und auch einige Bücher besaß, wollte indes, dass seine Kinder, trotz der engen materiellen Situation, sehr gute schulische Leistungen erzielten. Die Lehrer der kleinen Primarschule hatten den Ehrgeiz, die begabten Schüler ins Gymnasium zu bringen, was ihnen bei den Inspektoren Punkte verschaffte. So besuchte Rose-Marie mit mehreren Geschwistern das Gymnasium in Caen, wo sie in einem Pensionat lebten. Da sie die Kleider der älteren Geschwister auftragen mussten, wurden sie von den Schülerinnen aus begüterten Kreisen der Stadt scheel angeschaut, was aber den schulischen Ehrgeiz nicht beeinträchtigte. Die Autorin besuchte dann mit zwei Geschwistern die Sorbonne. Das ihr zugesprochene Stipendium reichte aber keineswegs für den Lebensunterhalt in Paris. So arbeitete sie zunächst am Tag in einer Fabrik und besuchte Seminare und Vorlesungen am Abend. Später bekam sie eine kleine Stelle an der Hochschule. Die Autorin erarbeitete dann eine soziologische Dissertation, die dem ländlichen Raum galt, aus dem sie stammte. Später wurde sie Studiendirektorin und Professorin an der bekannten Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften (EHESS). In ihrem Buch beschreibt sie sehr präzise die Machtverhältnisse an der (männerdominierten) Hochschule. 2021 veröffentlichte Adrien Naselli seine Studie zu den ‚transfuges‘ und ihren Eltern. Ebenfalls 2021 erschien das schon genannte Buch von Jaquet/ Durand. Nach Valentine Faure (2021) schien der Bücherherbst 2021 durch Publikationen von ‚transfuges de classe‘ bestimmt zu sein. Verleger würden gerne solche Berichte veröffentlichen, denn diese würden das meritokratische Credo DOI 10.24053/ ldm-2023-0004 45 Dossier bestätigen: Man kann den ‚Aufstieg‘ schaffen, wenn man sich anstrengt. Aber sowohl Rose- Marie Lagrave als auch Chantal Jaquet denunzieren die Meritokratie als Ideologie, die bei der Mehrheit, die es nicht ‚schaffe‘, Schuldkomplexe auslöse. Nach einer Enquête der OECD braucht es im Schnitt in Frankreich für Menschen aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten bis zum Aufstieg in die Mittelschicht sechs Generationen! 21 Der Umweg über die englischsprachige Rezeption eines französischen Textes ist keineswegs eine Ausnahme. Nach 1918 war das Interesse für die französische Literatur und die französischen Debatten in Deutschland noch sehr ausgeprägt. Nach 1945 wandelte sich der Interessenschwerpunkt. Man wandte sich nun verstärkt der englischsprachigen Literatur (mit Hemingway oder Faulkner) zu. Das Interesse für die französische Literatur erlahmte, vor allem in den Jahren ab 1980 (siehe dazu Jurt 1999: 86-89). Ein Beleg dazu ist auch Houellebecq. Sein erstes Buch Extension du domaine de la lutte (1994) wurde zunächst von einem kleinen englischen Verlag Serpent’s übersetzt, der dann auch den deutschen Verlag Wagenbach informierte, der dann erst nach diesem englischen Umweg das Buch übersetzte, das in Deutschland auf größere Resonanz stieß als in England (cf. Treeck 2014). 22 Mail von Tobias Haberkorn an Joseph Jurt vom 5. November 2021. Nach Tobias Haberkorn war der Erfolg von Rückkehr nach Reims auch mitverantwortlich für die Aufnahme der Werke von Annie Ernaux bei Suhrkamp, die vorher mit fragwürdigen Titeln etwa bei Goldmann ‚vermarktet‘ wurden. Frank Wegner, der dort französische Belletristik lektoriert, habe alsbald den Erwerb der Rechte von Les années angestrebt. Wegner sagte ihm einmal, er habe sich nach der Lektüre von Eribon um Ernaux bemüht. Cf. Jurt 2020a [2021]: 22-26. 23 Eribon wehrte sich dann aber gegen die Tendenz des deutschen Feuilletons, ihn ausgehend von seiner familiären Erfahrung zum ‚Welterklärer‘ zu stilisieren. Cf. Walther 2017.