eJournals lendemains 48/189

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0005
0923
2024
48189

Die classes populaires in Édouard Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule (2014) und Louis-Ferdinand Célines Mort à crédit (1936)

0923
2024
Christina Ernst
ldm481890046
46 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier Christina Ernst Die classes populaires in Édouard Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule (2014) und Louis-Ferdinand Célines Mort à crédit (1936) Literarische Imaginationen der classes populaires - 1936 und 2014 Literarische Texte, in denen aus autobiographischer Perspektive von den classes populaires und dem eigenen sozialen Aufstieg erzählt wird, erfreuen sich in den letzten Jahren großer Popularität. Diese Autosoziobiographien bzw. transclasse-Erzählungen (cf. Jaquet 2014) zeichnen sich dadurch aus, dass sie soziale Klassen an der Schnittstelle von literarischen und soziologischen Darstellungsweisen ausloten. Die Autorin Annie Ernaux, auf die die Bezeichnung „auto-socio-biographique“ (Ernaux 2011: 23) zurückgeht, verortet das Verfahren ihrer Texte „entre la littérature, la sociologie et l’histoire“ (ibid.: 54). Autosoziobiographien, die als solche sozialwissenschaftliche Fachsprache und Analysekategorien aufgreifen und auktoriale Selbstbehauptungen als faktuale Tatsachenberichte inszenieren, wurde in der Rezeption häufig gesellschaftsdiagnostische Qualität zugesprochen und ihren Autor: innen die Funktion als „Übersetzer des Sozialen“ (Spoerhase 2017: 35), die dem bildungsbürgerlichen Lesepublikum von den armen, prekarisierten und abgehängten Teilen der Bevölkerung berichten. Édouard Louis verfolgt das Projekt einer Literatur, die ethische und poetologische Fragen des Schreibens zusammendenkt und sich dabei als sozialkritisch und politisch links versteht. Er beruft sich mit seiner Darstellung der Lebensbedingungen der Arbeiterklassen auf den Naturalismus Émile Zolas, in seinem Selbstverständnis als écrivain engagé auf Jean-Paul Sartre und in seiner Poetik auf Ernaux. Dabei gibt es in seinen Texten, allen voran in En finir avec Eddy Bellegueule, eine Tendenz zum misérabilisme, 1 der in einem solchen Projekt nicht aufzugehen scheint und der das materielle Elend der classes populaires nicht nur darsondern zur Schau stellt und dieses über die bloße ökonomische Dimension hinausgehend als kulturelles, geistiges und moralisches Elend in Erscheinung treten lässt. „Le roman, dans la mesure où il concurrence le réel, est à la fois le dépositaire et le pourvoyeur de l’imaginaire social“, schreibt Nelly Wolf (1990: 7) in der Einleitung ihres Standardwerks Le peuple dans le roman français de Zola à Céline. Das soziale Imaginäre - Bildersprachen, Erzählungen, Mythen und Sprechweisen (cf. Eiden-Offe 2017: 23) - werde in literarischen Texten, allen voran dem realistischen Roman, ebenso aufgegriffen wie erfunden. Dabei handele es sich weder um reale Tatsachen noch um freie Fiktionen, sondern um diskursive Versatzstücke, die reaktualisiert und neu arrangiert werden. Wolf hält für die Troisième République fest, dass die Literatur sich weiterhin an den ‚archaischen‘ Arbeiterbildern des 19. Jahrhunderts, den DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 47 Dossier Zola’schen Minen-, Baustellen- und Eisenbahnarbeitern und deren sozialen Praktiken abarbeite (cf. Wolf 1990: 63sq.); die entscheidenden Neuerungen finden auf anderer Textebene statt, jener der Sprache (cf. ibid.: 8). Lassen sich also die Darstellungsweisen bei Louis noch einmal anders deuten, wenn sie nicht als Sozialrealismus gelesen, sondern im Kontext anderer Literaturtraditionen betrachtet werden? Das ist die leitende Frage, der ich in diesem Aufsatz nachgehen werde. Als Vergleichsfolie ziehe ich Louis-Ferdinand Céline heran, der als derjenige Autor gilt, der das français populaire in den Rang der Literatursprache erhoben hat und der in Mort à crédit eine Erzählung der Kindheits- und Jugendjahre seines Protagonisten Ferdinand und dessen Herkunft aus den classes populaires liefert, aus der sich Parallelen zu En finir avec Eddy Bellegueule ableiten lassen. Diese Konstellation stellt zwei Autoren und Werke einander gegenüber, zwischen deren Veröffentlichungsdatum fast 80 Jahre (und die gesellschaftlichen Veränderungen und Umwälzungen des 20. Jahrhunderts) liegen, und die auch nicht im Verhältnis einer direkten literarischen Traditionslinie zueinander stehen. Die Schreibweise und die Autorenhaltung von Céline und Louis, die auch am jeweils anderen Ende des politischen Spektrums liegen, sind grundverschieden. Dennoch legt schon eine Passage aus Louis’ letztem Buch nahe, dem Vergleich von En finir avec Eddy Bellegueule mit Mort à crédit einmal nachzugehen. In Changer: méthode (2021) beschreibt Louis eine Szene von seiner ersten Begegnung mit Literatur: J’ai avancé vers Elena. [...] J’ai essayé quelque chose: Alors tu lis quoi. Elle m’a regardé. Elle m’a regardé et elle se méfiait mais elle m’a montré la couverture du livre, Voyage au bout de la nuit, et pour gagner du temps [...] j’ai répondu Je la connais pas ta Céline. Elle a ri, C’est un homme. Céline, c’est son nom de famille, Louis-Ferdinand Céline - et pour cacher la honte qui montait en moi j’ai cherché une réponse, Je m’en fous de la littérature de toute façon (Louis 2021: 52sq.). Céline wird hier gleichsam zur literarischen Initialzündung von Louis’ transclasse- Biographie stilisiert, denn es ist die Freundschaft zu Elena, über die der Erzähler in die Welt der bourgeoisie eingeführt wird. Aus der anekdotischen Erwähnung soll nun nicht abgeleitet werden, Louis’ Roman aus dem Werk Celines heraus zu erklären. Dennoch lassen sich in der Gegenüberstellung ihrer jeweiligen Erzählungen und Milieubeschreibungen, ihrer Poetiken und Stilmittel Kontinuitäten und Differenzen in den Darstellungen der classes populaires herausarbeiten und neue Perspektiven auf die Louis’sche Programmatik der Literatur als emanzipatorisches politisches Projekt werfen. En finir avec Eddy Bellegueule - misérabilisme? Mit seiner ersten literarischen Veröffentlichung En finir avec Eddy Bellegueule ist Louis 2014 mit einem Schlag ein beachtlicher Erfolg gelungen - allein in den ersten beiden Jahren wurde das Buch in 20 Sprachen übersetzt, und 300 000 mal verkauft (cf. Hugueny-Léger 2017). Louis erzählt darin vom leidvollen Aufwachsen als junger 48 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier Homosexueller in der ländlichen Arbeiterklasse in der Picardie. Von Anfang an war der Text von medialen Kontroversen und polemischen Berichterstattungen begleitet. Denn obwohl er vom Verlag als roman kategorisiert wird und ein wesentliches Strukturmerkmal der Autobiographie - die Namensgleichheit von Autor und Protagonist - fehlt (die Diskrepanz zwischen den Namen wird erst auf den letzten Seiten andeutungsweise aufgehoben), 2 wurde En finir avec Eddy Bellegueule als autobiographischer Text rezipiert. Neben lobenden Besprechungen wurde Louis „misérabilisme“, „racisme de classe“ (Mauger 2014: 124) und das Exponieren seiner Herkunftsfamilie vorgeworfen. Jérôme Meizoz macht etwa den Miserabilismus von Louis an stilistischen Merkmalen fest: Durch die Markierung der direkten Rede mittels kursiver Typographie wird die gesprochene Sprache der Familie und der Dorfbewohner: innen auch visuell von der eigenen Erzählerstimme abgehoben. Während letztere analytisch beschreibend und im Standardfranzösischen gehalten ist, verwendet Louis für die Darstellung von Mündlichkeit sprachliche Formen, die dem Stilregister nach dem français populaire zuzuordnen sind und fehlerhafte, vulgäre und diskriminierende (v. a. rassistische und homophobe) Ausdrucksweisen enthalten. Der Abstand zwischen Édouard Louis und Eddy Bellegueule, zwischen dem Autor und seiner Herkunftsklasse, von dem der Text erzählt, wird so auf der sprachlichen Ebene noch einmal performativ perpetuiert. Die Differenzen, die Louis dabei markiert, sind ebenso sehr kultureller und weltanschaulicher wie soziolinguistischer Art (cf. Meizoz 2014). Deutlich wird dies etwa anhand eines Beispiels aus dem Kapitel „La bonne éducation“, in dem Louis eine typische Familienszene beim Abendessen beschreibt: Une odeur de graisse, donc, de feu de bois et d’humidité. La télévision allumée toute la journée, la nuit quand il [der Vater] s’endormait devant, ça fait un bruit de fond, moi je peux pas me passer de la télé, plus exactement, il ne disait pas la télé, mais je peux pas me passer de ma télé. Il ne fallait pas, jamais, le déranger devant sa télévision. C’était la règle lorsqu’il était l’heure de se mettre à table: regarder la télévision et se taire ou mon père s’énervait, demandait le silence, Ferme ta gueule, tu commences à me pomper l’air. Moi mes gosses je veux qu’ils soient polis, et quand on est poli, on parle pas à table, on regarde la télé en silence et en famille. À table, lui (mon père) parlait de temps en temps, il était le seul à en avoir le droit. Il commentait l’actualité Les sales bougnoules, quand tu regardes les infos tu vois que ça, des Arabes. On est même plus en France, on est en Afrique, son repas Encore ça que les boches n’auront pas. Lui et moi n’avons jamais eu de véritable conversation (Louis 2014: 103sq.). Mit dieser Distanzierung zwischen der Figurenrede des Vaters und den erklärenden Kommentaren des Erzählers, wie auch durch die ironisierende Kapitelüberschrift der ‚guten Erziehung‘, wählt Louis eine ganz andere Haltung als etwa Annie Ernaux. Ernaux begreift ihr Schreiben entsprechend ihrer Herkunft aus den classes populaires als ‚écrire dans la langue de l’ennemi‘ (cf. Ernaux 2011: 33), woraus sie folgende Konsequenz für ihre Schreibhaltung zieht: „La seule écriture que je sentais ‚juste‘ était celle d’une distance objectivante, sans affects exprimés, sans aucune DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 49 Dossier complicité avec le lecteur cultivé“ (ibid.: 34). Zwar reklamiert auch Louis für seine Vorgehensweise, er würde wie Ernaux „reconstituer la réalité de cette vie à travers des faits précis, à travers les paroles entendues“ (ibid.); der Wahrheitsgehalt seiner Erzählung wurde aber in der Rezeption stärker bestritten - und eine gewisse „complicité avec le lecteur cultivé“ kann dem Text ebenfalls nicht abgesprochen werden. Teile der Kontroversen um die Veröffentlichung von En finir avec Eddy Bellegueule entstanden aufgrund von Aufdeckungsreportagen, in denen Familienangehörige Louis vorwarfen, sich in den Darstellungen nicht wiederzuerkennen. 3 Den Vorwürfen der verzerrten Tatsachendarstellung begegnet Louis nicht etwa mit einem Verweis auf die Literarizität des Textes, die mit der Gattung ‚Roman‘ die Kategorien ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ aushebeln würde, sondern ganz im Gegenteil mit der Replik: „[M]on livre n’est pas une simple histoire. Il est ni de l’autofiction, ni de la fiction, ce que je raconte est vrai“ (Abescat 2014). Seine Texte seien also gerade keine Fiktionen, so das Selbstverständnis von Louis. Folglich grenzt er davon die Gattung der Autobiographie ab, der er den antihegemonialen Status des „anarchisme de la littérature“ (Kaprièlian/ Lalanne 2021: 15) zuspricht: 4 L’autobiographie vous confronte au réel, beaucoup plus que la fiction, elle dit: ce qui se passe est vrai, présent, il faut faire quelque chose. Elle empêche de détourner le regard comme le font toujours les dominants pour ne pas voir la violence du monde. On entend souvent que la fiction permet de s’évader, l’autobiographie vous empêche de vous évader, elle vous questionne: qu’est-ce que vous faites pour rendre ce monde moins laid et moins injuste? (ibid.) Louis behauptet also den Wahrheitsgehalt des von ihm Beschriebenen und vertritt eine Schreibweise, die jegliche Fiktionalisierung der sozialen Realität von sich weist. Die Abwehr gegen die Fiktion, die er als das Erfinden und Fingieren von Wirklichkeit begreift und nicht etwa als immanenten Konstruktionscharakter der Literatur, hat hier einen strategischen Zweck: Damit die Autosoziobiographie in der Rezeption ihren privilegierten Wissensstatus über gesellschaftliche Verhältnisse erlangt, muss ihren Darstellungen der classes populaires ein Maximum an Authentizität zugesprochen werden. Die Bewertung des Geschriebenen als soziologisch relevante Aussagen hängt dabei mit der Inszenierung des transclasse-Status in den Texten und in der Öffentlichkeit zusammen. So sollen der autobiographische Erlebnisbericht und die Distanzhaltung durch den erfolgten Klassenaufstieg für einen zugleich authentischen wie auch analytisch versierten Blick auf einen den bildungsbürgerlichen Leser: innen fremden Teil der Gesellschaft bürgen. Das Autobiographische bietet in dieser Konstellation den heuristischen Vorteil, die soziologische Analyse an den eigenen Erlebnissen zu verifizieren 5 Dabei soll nicht vergessen werden, dass Authentizität immer ein Effekt des Textes ist, die autosoziobiographische Reaktualisierung des effet de réel und als solche Ergebnis einer literarischen Konstruktion. Frédéric Nicolosi (2020: 98) hat in seiner linguistischen Untersuchung des français populaire in En finir avec Eddy Bellegueule herausgearbeitet, dass Louis in seiner Darstellung der direkten Rede auf sprachliche Formen zurückgreift, die im Mündlichen bei Sprecher: innen aller sozialen Schichten 50 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier vorkommen, in ihrer Verschriftlichung jedoch ‚populär‘ konnotiert sind, da sie nicht dem Standardfranzösischen entsprechen. Es handelt sich also mitnichten, wie der Text durch die Kursivsetzung suggeriert, um wörtliche Transkriptionen der ‚langue des dominés‘, sondern um deren literarische Bearbeitung, wie Louis kurz nach dem Erscheinen seines Buchs auch zugab: „[L]es vérités que j’ai essayé de mettre à jour, je n’ai pu les mettre à jour que par le travail littéraire, stylistique, formel, un travail sur la langue, sur la ponctuation, etc.“ (Philippe 2014). Da der Versuch, die Sprechweise seiner Mutter und Großmutter direkt wiederzugeben, ‚unverständlich‘ war, musste Louis diese ‚übersetzen‘ - so gibt er es zumindest in einem Gespräch mit Le Monde vor (cf. Simon 2014). 6 Der „Übersetzer des Sozialen“, als den Carlos Spoerhase (2017) den oder die transclasse in der Autosoziobiographie ausmacht, ist also - wenigstens im Fall von Édouard Louis - ein doppelter; er übersetzt die Sprache der classes populaires einerseits in einer verdeckt bleibenden Operation der Literarisierung, die sich als Zitat ausgibt, 7 und andererseits in ihrer offensichtlichen Gegenüberstellung mit der Erzählerstimme, die sie kommentiert und deutet. Ein wiederkehrendes Verfahren im Text ist dabei die Darstellung desselben Inhalts in zwei unterschiedlichen sprachlichen Varianten, wobei die populäre Ausdrucksweise im Standardfranzösischen reformuliert und ‚übersetzt‘ wird (cf. Nicolosi 2020: 112sq.), auch dort, wo eine Erklärung für das Verständnis nicht notwendig wäre: „les virées en mobylette - on disait pétrolette“ (Louis 2014: 23); „la plupart du temps elles gardent les enfants Je m’occupe des gosses et les hommes travaillent, ils bossent à l’usine (ibid: 58); „Ma cousine caissière [...] me racontait qu’elle n’en pouvait plus J’en peux plus moi. Je suis à bout“ (ibid.: 37sq.). Konfrontative Literatur Die Autosoziobiographie wird bei Louis als „littérature de confrontation“ (Kaprièlian 2018: 16) zur politischen Textsorte stilisiert. Ihre Entsprechung findet diese Positionierung in der Inszenierung des Autors als écrivain engagé gemäß der Tradition Émile Zolas und Jean-Paul Sartres, 8 die Louis in seinen Büchern, in Interviews und in den sozialen Medien vollzieht. Allerdings ist seine Literaturkonzeption der von Sartre hier völlig entgegengesetzt: Während für Sartre in Qu’est-ce que la littérature? (1948) jede: r Autor: in ein: e engagierte: r Autor: in ist, der oder die den Leser: innen mit seiner oder ihrer Literatur nicht die Freiheit abspricht (womit auch die Freiheit gemeint ist, sich nicht auf den Text einzulassen), 9 ist engagierte Literatur für Louis nur jene, die die Leser: innen zum Hinsehen zwingt. Es gehe heute nicht mehr um das bloße Sichtbarmachen noch nicht bekannter sozialer Realitäten, sondern um eine direkte Konfrontation der Rezipient: innen mit diesen, die sie moralisch in die Pflicht nehme und eine (affektive oder auch konative) Reaktion in ihnen hervorrufe. 10 Louis führt diese Differenz in Dialogue sur l’art et la politique (2021), einem verschriftlichten Gespräch mit dem britischen Filmemacher Ken Loach, aus: DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 51 Dossier Le temps où la littérature - ou les films - présentait une réalité que personne ne connaissait est presque totalement passé, même s’il reste des choses qu’on ignore bien sûr. Zola écrivait pour montrer la vie des ouvriers à l’usine ou dans les mines, Sartre écrivait pour rendre visibles les prostitués ou les homosexuels, il a d’ailleurs beaucoup écrit sur cet enjeu littéraire et politique, rendre visible... Maintenant, avec les nouveaux médias [...], les technologies, tout ou presque est visible. La question n’est donc plus de montrer, mais de confronter - je pense que c’est un basculement important: qu’est-ce que serait une esthétique de la confrontation? (Loach/ Louis 2021: 37) Louis’ ‚Ästhetik der Konfrontation‘ ist gegen die von ihm behauptete Hegemonie einer normativen und ‚bürgerlichen‘ Literaturkonvention gerichtet, wie er in einem Interview mit Les Inrockuptibles festhält: „Un des grands principes conservateurs de la littérature pour moi, c’est l’idée d’implicite [...]. Je pense que combattre l’aspect bourgeois de la littérature, c’est combattre cette idée d’implicite“ (Kaprièlian/ Lalanne 2021: 16). Dabei bleibt zu klären, was Louis im Umkehrschluss explizit machen möchte bzw. womit er seine Leser: innen konfrontieren will. Die Welt seines Herkunftsmilieus und der classes populaires, die er in En finir avec Eddy Bellegueule beschreibt, ist geprägt von Armut, Gewalt, Rassismus, Homophobie und starren Geschlechterrollen, die Louis in einem drastischen Sozialrealismus schildert - pars pro toto steht dafür schon der erste Satz des Romans „De mon enfance, je n’ai aucun souvenir heureux“ (Louis 2014: 13). Seine Darstellungen scheinen, trotz der eigenen Behauptung einer „confrontation avec le réel“, alte Schreckensbilder der ‚Unterschicht‘ aufzurufen, etwa dann, wenn die Figur des Vaters auf den ersten Seiten als sich prügelnder, Schweineblut trinkender Alkoholiker eingeführt wird: Je l’avais vu égorger des cochons dans le jardin, boire le sang encore chaud qu’il extrayait pour en faire du boudin (le sang sur ses lèvres, son menton, son tee-shirt) C’est ça qu’est le meilleur, c’est le sang quand il vient juste de sortir de la bête qui crève. Les cris du cochon agonisant quand mon père sectionnait sa trachée-artère étaient audibles dans tout le village (ibid.: 14). Beschreibungen wie diese, die Vorstellungen von Machismus, Brutalität, Schmutz sowie visuellen und auditiv vermittelten Ekel evozieren, bedienen sich einer Bildsprache, die die condition der classes populaires (Louis spricht in Bezug auf seine Herkunft von „lumpenprolétariat“, cf. Abescat 2014) nicht nur als ökonomische, sondern auch als geistige und moralische misère vorführt - Pierre-Héli Monot erkennt hierin ein ‚linksreaktionäres‘ Arbeiterbild, das Mentalitäten und Lebensweisen, und nicht etwa strukturelle Ungleichheiten, als Ursache für ihre soziale Lage festmache (cf. Monot 2020: 124). Louis selbst grenzt seine Darstellungsweise vom Pasolini’schen Populismus auf der einen Seite („la mythification, l’idéalisation des classes populaires“, Abescat 2014) und von der Genet’schen Ästhetisierung von Gewalt auf der anderen Seite („rendre les choses lyriques pour se les réapproprier, belles, métaphoriques“, ibid.) ab und behauptet, sie dadurch in ihrer rohen Wirklichkeit wiederzugeben. Selbstverständlich jedoch schreibt sich auch Louis mit der literarischen Bearbeitung seines Erzählgegenstandes in bestimme Diskurstraditionen ein, die 52 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier ebenso wenig (politisch oder ethisch) ‚neutral‘ sind wie der von ihm abgelehnte Populismus. Seine Darstellungen können deshalb als ‚authentisch‘ erscheinen, weil sie bestehende Vorstellungen und Klischees der ‚Unterschicht‘ aufrufen, 11 so Meizoz in seiner Rezension: „Edouard Louis a livré ici moins la vérité de son monde social d’origine que le cliché, stylisé mais caricatural, qu’en attendent une partie des lecteurs cultivés“ (Meizoz 2014). Louis’ Beschreibungen lassen sich in eine Traditionslinie stellen von soziobiologischen Diskursen über die „classes dangereuses“ (Frégier 1840), die im 19. Jahrhundert entstehen und in einer Gleichsetzung von sozioökonomischen mit moralischen Kategorien (wie materielles und geistiges Elend, Kriminalität, Alkoholismus, Ungepflegtheit, sexuelle Zügellosigkeit und Krankheit) die classes populaires als Bedrohung bzw. als das ‚gefährliche Andere‘ des Bürgertums stilisieren. 12 Diese Schreckensbilder, begreift man sie als Teil eines politischen Diskurses, lassen sich unschwer als mépris de classe problematisieren; allerdings verkennt die Reduktion auf eine solche Perspektive meines Erachtens die spezifisch literarische Qualität des Textes (und das ist vielleicht gegen die Autorintention von Édouard Louis gedacht): Denn das Konzept der ‚gefährlichen Klassen‘ ist eines, das sich die Kultur der Arbeiterklasse und die Literatur im speziellen immer schon für die eigenen Zwecke subversiv angeeignet haben - gerade im Modus der Über-Affirmation und der Übertreibung. 13 Mort à crédit - hyperbolische Darstellungen der classes dangereuses Die Imagination der moralisch verkommenen und gefährlichen classes populaires griff schon Louis-Ferdinand Céline in seinem Roman Mort à crédit auf. Hierbei handelt es sich um eine Autofiktion avant la lettre der Kindheits- und Jugendjahre des Autors und zugleich um ein Portrait des verarmten Pariser Kleinbürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts (in der ausgehenden Belle Époque bzw., wenn man den Prolog mitberücksichtigt, auch der 1930er-Jahre). Céline beschreibt das familiäre Milieu der petite bourgeoisie als eines, das dem Zustand der Prekarisierung, der gesellschaftlichen Abstiegsangst und der ökonomischen Krise verhaftet ist: Die Eltern besitzen einen Trödelladen in der fiktiven Passage des Bérésinas im 2. Arrondissement, in der der Protagonist Ferdinand aufwächst. Der Vater verdingt sich zusätzlich als kleiner Angestellter in einer Versicherungsgesellschaft, wo er den ständigen Demütigungen seiner Vorgesetzten ausgeliefert ist. Die sozioökonomische Lage der Familie als kleine Ladenbesitzer ist weiter entfernt von der Welt des Bürgertums, der sie nur bei Hausbesuchen begegnen, bei denen sie (vergeblich) versuchen, Waren zu verkaufen, als von der Lebensrealität der Arbeiterklasse, von der sie sich dem ideellen Selbstverständnis nach abzugrenzen suchen: Zwar bezahlen sie eine Arbeiterin, die für sie Spitzenware ausbessert, und die Großmutter besitzt zwei Häuser in der ärmlichen Vorstadt, die sie vermietet, doch der Erzähler schildert das Leben als geprägt von unfreien, körperlich anstrengenden und erniedrigenden Arbeiten, knapp entlang des Existenzminimums. DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 53 Dossier Céline inszeniert seine Erzählung nicht als realistische oder naturalistische Darstellung der sozialen Verhältnisse, auch wenn die Forschung darauf hingewiesen hat, dass er die sozioökonomische Situation der petite bourgeoisie in Frankreich um 1900 pointiert wiedergegeben habe (cf. Drews 2022: 341). Er spielt mit dem autobiographischen Pakt, indem er seinem Protagonisten den Vornamen Ferdinand gibt und dessen Biographie an die eigenen Lebensdaten anlehnt, 14 jedoch hebelt er eine autobiographische Lesart als realitätsgetreue Abbildung von Tatsachen von vornherein aus, indem er die geschilderten Ereignisse ins Unwahrscheinliche, Traumhafte oder Groteske zieht; die Übertreibung als Stilmittel ist im Roman zu präsent, um diesen für eine Schilderung wahrhaftiger Geschehnisse zu halten. Das Hyperbolische des Textes tritt aber nicht nur in den geschilderten Szenen zu Tage, sondern vor allem auch auf der Ebene der Sprache. Obszönitäten und Beleidigungen, Körperausscheidungen, sexuelle Obsessionen und Gewalt werden in einer exzessiven Anhäufung aneinandergereiht, sodass der Céline-Spezialist und Herausgeber der kommentierten Werkausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade Henri Godard von einer „violence faite au lecteur“ (Godard 1996: 104) spricht, die beim Erscheinen des Buchs viele Leser: innen schockiert habe (cf. ibid.: 14). Celine gilt seit seinem Debüt Voyage au bout de la nuit (1932) als großer Erneuerer der Literatursprache, der die Mündlichkeit des français populaire und des argot zum poetischen Prinzip seines Schreibens gemacht hat. Die gesprochene Sprache, auch jene der classes populaires, findet sich schon zuvor im realistischen und naturalistischen Roman, in Victor Hugos Les Misérables (1862) wie in Émile Zolas L’Assommoir (1877), doch dort steht sie in der Regel in Anführungszeichen, dient der Charakterisierung der Figurenrede und ist von der Erzähler: innenstimme abgehoben (cf. Godard 1985: 34sq.). Diese Grenze zwischen populärer und literarischer Sprache wird bei Céline nun überwunden, Oralität strukturiert den narrativen Diskurs. Dabei beschränkt er sich nicht darauf, umgangssprachliche oder mit mündlichen Sprechsituationen konnotierte Wörter aufzugreifen, sondern sprengt den schriftsprachlichen Satzbau auf; als Ersatz für die Syntaktisierung dienen die berühmt gewordenen trois points (cf. Blank 1991: 83). Jedoch ist Célines Sprache ebenso wenig eine lebensechte Wiedergabe der mündlichen Rede der classes populaires wie die kursiv gesetzte von Louis - sie ist eine Kunstsprache, die auf den Effekt fingierter Mündlichkeit zielt: „Son but est de se donner une langue, qui, écrite, donne l’impression d’être celle que parlent les Français, plus spécialement quand ils ne sont pas passés par le lycée“ (Godard 1985: 55). Eddy und Ferdinand Vergleicht man die Handlung der beiden Romane, so fällt auf, dass sich der Werdegang von Ferdinand als eine Art inverse Erzählung zu jener von Eddy Bellegueule lesen lässt: Bei Eddy lösen die Erfahrungen von Gewalt, Beschämung und Verachtung den Wunsch aus, der Misere zu entkommen („Il fallait fuir“, Louis 2014: 154) und führen zur Entfremdung vom Herkunftsmilieu sowie letztlich zum gelungenen 54 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier Klassenaufstieg. Hingegen dreht sich Célines Anti-Bildungsroman 15 um das permanente Scheitern aller schulischen und beruflichen Bemühungen Ferdinands. Zwar durchläuft auch Ferdinand einen Klassenaufstieg - so viel lässt sich implizit herauslesen -, denn in der Gegenwart der Rahmenerzählung ist er Arzt in einem Vorort von Paris, doch der Roman endet mit dem Verlust seiner Anstellung und dem Eintritt in die Armee. Der Bruch mit dem Vater und das Verlassen der elterlichen Wohnung nach einer körperlichen Auseinandersetzung (cf. Céline 1952: 333-336) führen bei Ferdinand zunächst in eine zunehmende Prekarisierung; weder der Schulbesuch (der mit der école communale endet) noch die Anstellungen als Handelslehrling eröffnen ihm eine Aufstiegsperspektive: „C’étaient des mensonges [...]. Ces salades puantes c’était pour que je bosse à l’œil! ... Il [der Vorgesetzte] profitait de mes parents... Qu’ils pouvaient encore me nourrir... Il dépréciait mon boulot pour me faire marner gratuitement“ (ibid.: 149). Auffällig ist dabei, dass die Figuren Ferdinand und Eddy in ihrer Grunddisposition zunächst ähnlich angelegt sind, denn beide sind Opfer von Vorwürfen und Beschämungen ihrer Eltern, die auf ihre (angeblichen) Charakterzüge zielen: Bei Eddy ist es das als „airs“ oder als „manières“ (Louis 2014: 25) bezeichnete, als effeminiert wahrgenommene Verhalten, das sanktioniert wird; bei Ferdinand unterstellt der Vater ihm ein grundsätzlich verdorbenes und delinquentes Naturell: Mon père, en prévision que je serais sans doute voleur, il mugissait comme un trombone. [...] ,Il est sale comme trente-six cochons! Il n’a aucun respect de lui-même! Il ne gagnera jamais sa vie! Tous ses patrons le renverront! ‘... il me voyait l’avenir à la merde... ,Il pue! Il retombera à notre charge! ‘... Papa voyait lourd, voyait loin (Céline 1952: 70). Aber auch Ferdinand selbst wird nicht als Sympathieträger beschrieben, ebenso wenig wie die Eltern oder die Nachbar: innen in der Passage. Zwar werden die Widrigkeiten ihrer Lebensumstände plastisch geschildert, doch die classes populaires, die Céline beschreibt, sind gewalttätig, niederträchtig, voller Vorurteile und Selbstmitleid. Das Kleinbürgertum, das sich von den Entwicklungen der Moderne abgehängt und bedroht sieht, zieht ihr Selbstbild daraus, sich von den Arbeiter: innen abzugrenzen: Ma mère, c’est pas une ouvrière... Elle se répète, c’est sa prière... C’est une petite commerçante... On a crevé dans notre famille pour l’honneur du petit commerce... On est pas nous des ouvriers ivrognes et pleins de dettes... Ah! non. Pas du tout! ... Il faut pas confondre! (ibid.: 44) 16 Von ähnlichen Ressentiments - als Abgrenzung nach unten - erzählt En finir avec Eddy Bellegueule noch dort, wo von Klassenunterschieden im engeren Sinne keine Rede mehr ist, nämlich innerhalb der verarmten ländlichen Arbeiterklasse, in der Louis seine Familie verortet: Nous n’étions pas les plus pauvres. Nos voisins les plus proches, qui avaient moins d’argent encore, une maison constamment sale, mal entretenue, étaient l’objet du mépris de ma mère DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 55 Dossier et des autres. N’ayant pas de travail, ils faisaient partie de cette fraction des habitants dont on disait qu’ils étaient des fainéants, des individus qui profitent des aides sociales, qui branlent rien. Une volonté, un effort désespéré, sans cesse recommencé, pour mettre d’autres gens au-dessous de soi, ne pas être au plus bas de l’échelle sociale (Louis 2014: 88). Der Mythos der classes populaires als classes dangereuses wird bei Céline wie bei Louis, neben den Darstellungen von ökonomischem Elend sowie geistiger und kultureller Deprivation, über den Topos der devianten Sexualität sowie den der mangelnden Körperhygiene aufgerufen - und zwar gerade mittels der beiden Hauptfiguren Ferdinand und Eddy. Beide werden anhand von Körperpraktiken porträtiert, die als klassenspezifisch beschrieben werden und daher stellvertretend für ihr soziales Milieu stehen; sie zielen darauf ab, Ekel, Abwertung und moralische Entrüstung bei den Leser: innen hervorzurufen. Sie ernähren sich schlecht, 17 betrinken sich schon im Kindesalter, 18 und verzichten auf grundlegende Tätigkeiten der Körperreinigung: Wie alle Kinder im Dorf putzt sich Eddy nie die Zähne („Les dents, comme les miennes, n’étaient probablement jamais lavées“, Louis 2014: 18), und Ferdinand, der von seiner Mutter von Termin zu Termin bei potenziellen Kund: innen gehetzt wird, wischt sich den Hintern nicht ab: „On avait si hâte d’arriver que je faisais dans ma culotte... d’ailleurs j’ai eu de la merde au cul jusqu’au régiment“ (Céline 1952: 48). 19 Ein zentraler Stellenwert für die Imagination der Körperlichkeit der classes populaires kommt darüber hinaus dem Bereich der Sexualität zu: Sie ist zum einen präsent auf der Ebene der Sprache, auf der sie sich durch den Text zieht; bei Louis in Form der homophoben Beleidigungen und bei Céline als Stil, der sein obszönes Vokabular aus dem Sexualwortschatz des argot schöpft (cf. Haas 2022). Die Romane greifen in den Darstellungen der sexuellen Erlebnisse ihrer Protagonisten zum anderen Vorstellungen von der triebhaften, frühreifen und promiskuitiven Sexualität der ‚Unterschichten‘ auf, die sie zudem als missbräuchliche oder gewaltvolle Erfahrungen durch ältere Jugendliche oder Erwachsene beschreiben: So werden die sexuellen Handlungen zwischen Eddy und den Dorfjungen vom fünfzehnjährigen Bruno initiiert, während die anderen erst neun bzw. zehn Jahre alt sind; 20 Ferdinand wird von Mme Gorloge, der Frau seines Lehrmeisters, und Nora, der Co-Leiterin des Meanwell College in Rochester, die er zuvor begehrt hatte, regelrecht vergewaltigt (cf. Céline 1952: 188; 278). Politik des Stils Vergleiche wie diese würden sich noch viele weitere finden lassen, sie zeugen von den Kontinuitäten des sozialen Imaginären über die classes populaires. Der entscheidende Unterschied zwischen Mort à crédit und En finir avec Eddy Bellegueule lässt sich demnach nicht auf der Ebene des Dargestellten verorten, sondern in der Darstellungsweise: Während Louis die Sprache seines Herkunftsmilieus, aber auch dessen Werte, Ansichten und Lebensweisen, durch die Verwendung zweier distink- 56 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier ter Sprachregister von der eigenen Erzählerstimme abgrenzt, wählt Céline einen ‚popularisierenden‘ Stil, der die Syntax des korrekt geschriebenen Französisch aufsprengt und das français populaire wie den argot selbst zur Erzählsprache erhebt. Dabei handelt es sich in beiden Fällen nicht um eine mimetische Abbildung der tatsächlich gesprochenen Sprache, sondern um Formen der fingierten Mündlichkeit. Im Gegensatz zu Louis amalgamiert Céline jedoch die verschiedenen Register vom Jargon bis zur Hochsprache (cf. Godard 1996: 136sq.) und nivelliert dadurch - wenigstens auf der Ebene seiner Sprachästhetik - deren soziale Wertungen. Zwar ist das Porträt, das er vom kleinbürgerlichen Milieu der Pariser Passagenhändler zeichnet, nicht minder miserabilistisch als jenes von Louis - allen voran jenes der Eltern: „Kaum je hat ein Autor seinen Eltern ein abstoßenderes Denkmal gesetzt“, hält Geyersbach (2008: 21) in seiner Biographie fest, weshalb Céline seine Mutter schwören ließ, den Roman nie zu lesen (cf. ibid.: 77). Aber er erhöht den Erzähler - den Ferdinand der Romangegenwart - nicht über diese; er spricht, denkt und handelt wie die anderen und behält den Habitus der classes dangereuses bei. Wie bei Louis richtet sich das Schreibprojekt von Céline gegen die herrschende bürgerliche Literatur seiner Zeit, deren Konventionen er aufbrechen will, denn sie sei emotionslos, akademisch und tot (cf. Blank 1991: 87). Aber welche Herrschaftsverhältnisse (im literarischen Feld wie in der Politik und Gesellschaft allgemein) er imaginiert, und dass er diese nicht nur auf soziale Klassen bezieht, wird klar, wenn man bedenkt, dass er sein antisemitisches Pamphlet Bagatelles pour un massacre (1937) nur ein Jahr nach Mort à crédit veröffentlicht, in dem er einen essenziellen Zusammenhang zwischen ‚Stil‘ und ‚Rasse‘ herstellt (cf. Blank 1991: 86). 21 In seinen späteren Aussagen aus den 1950er-Jahren weist er, befragt nach seiner Literatursprache, jegliche politische oder ideologische Implikationen zurück und plädiert für eine Schreibweise, die der Arbeit am Stil den Vorrang gibt und ihn ins Zentrum des Werks rückt. L’histoire, mon Dieu, elle est très accessoire. C’est le style qui est intéressant. Les peintres se sont débarrassés du sujet, une cruche, ou un pot, ou une pomme, ou n’importe quoi, c’est la façon de le rendre qui compte (Chapsal 2013 [1957]). Édouard Louis wiederum behauptet, dass diese Aussage von Céline selbst zur vorherrschenden Auffassung in der Bewertung von Literatur geworden sei. In einem Interview auf das Zitat angesprochen, distanziert er sich nicht - wie zu erwarten wäre - von der Position Célines, die seiner eigenen Haltung ja entgegensteht, sondern er transponiert sie für seine eigenen Zwecke: Le meilleur moyen de rendre hommage à Céline, qui a écrit de si grands livres, c’est de ne pas répéter ce qu’il disait. De la même manière qu’il dit: „les peintres se sont débarrassés du sujet“, je crois qu’il faut dire aujourd'hui: „Les écrivains se débarrassent de la mythologie du style“ (Louis 2015). DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 57 Dossier Damit leugnen letztlich beide, Louis wie Céline, den Zusammenhang von Stil und Politik, den ihre Texte wie deren Wirkungsgeschichte zeigen - dass nämlich Stilfragen auch politische Fragen sind, insofern die Entscheidung für einen bestimmten Stil immer auch eine bestimmte, von gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht loszulösende Sichtweise auf den erzählten Gegenstand transportiert, und das unabhängig von der behaupteten Autor: innenhaltung - Céline, indem er die Politik aus dem Stil ausklammert, Louis, indem er seine Politik von Stilfragen befreien will. Das unbequeme Fazit daraus ist, dass der reaktionäre Antisemit und Rassist Céline mit seiner textästhetischen Darstellung der classes populaires in seinem Roman eine deutlich demokratischere Stilpolitik verfolgt als der linke Demokrat Louis. 22 Abescat, Michel, „Édouard Louis: ‚J’ai deux langages en moi, celui de mon enfance et celui de la culture‘“ [Interview mit Édouard Louis], in: Télérama, www.telerama.fr/ livre/ edouard-louisj-ai-deux-langages-en-moi-celui-de-mon-enfance-et-celui-de-la-culture,114836.php (publiziert am 19.07.2014, letzter Aufruf am 18.05.2023). Blank, Andreas, Literarisierung von Mündlichkeit. Louis-Ferdinand Céline und Raymond Queneau, Tübingen, Narr, 1991. Céline, Louis-Ferdinand, Mort à crédit, Paris, Gallimard, 1952 [1936]. 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DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 59 Dossier 1 Unter misérabilisme versteht der Soziologe Jean-Claude Passeron die Tendenz, die Kultur der classes populaires ausschließlich als Mangel oder als Abweichung von der als normativ gesetzten legitimen Kultur zu sehen: „décompter d’un air navré toutes les différences comme autant des manques, toutes les altérités comme autant de moindre-être - que ce soit sur le ton du récitatif élitiste ou sur celui du paternalisme“ (Grignon/ Passeron 1989: 43sq.). 2 Zur Inkongruenz von Autor- und Figurennamen vgl. Schuhen 2023: 146 sqq. 3 So z. B. im Courrier Picard vom 02.02.2014: „Les deux visages d’Eddy Bellegueule“. 4 Louis bezieht sich damit auf das Chanson Les Anarchistes von Leo Ferré: „Il dit que les anarchistes font tellement peur qu’il suffit qu’il y en ait très peu pour que les dominants paniquent“ (Kaprièlian/ Lalanne 2021: 15). 5 Annie Ernaux (2002) spricht in diesem Zusammenhang von der „véracité de la théorie en quelque sorte garantie par l’expérience“. 6 Ein Hinweis dazu findet sich auch schon in einer in Klammern gesetzten Nebenbemerkung zu einer kursiv gesetzten Passage der direkten Rede im Text: „je ne le disais pas de cette manière, mais en écrivant ces lignes, certains jours, je suis las d’essayer de restituer le langage que j’utilisais alors“ (Louis 2014: 76). 7 Diese Deutung nimmt u. a. Didier Eribon vor, der in seiner Rezension von En finir avec Eddy Bellegueule schreibt: „Le livre est écrit en deux langues: celle, très travaillée, que manie le narrateur et celle que parlent tous les autres, populaire et souvent vulgaire, toujours en italique parce que ce sont des citations“ (Eribon 2014). 8 Louis situiert sich programmatisch in der literarischen Traditionslinie Zolas; zu einem Vergleich der Darstellung der prekarisierten Arbeiterklasse in den Romanen der beiden Autoren cf. Henk/ Myszkowski 2022. 9 Cf. Sartre (1948: 56): „Dans la passion, la liberté est aliénée [...]. L’écrivain ne doit pas chercher à bouleverser, sinon il est en contradiction avec lui-même; s’il veut exiger, il faut qu’il propose seulement la tâche à remplir“. 10 Cf. die oben zitierte Aussage „L’autobiographie vous confronte au réel“ (Kaprièlian/ Lalanne 2021: 15). 11 Der Schriftsteller Senthuran Varatharaja bringt das in einem Interview mit der taz mit folgenden Worten prägnant auf den Punkt: „Authentizität als literarisches Kriterium [...] ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment“ (Uthoff 2017). 12 In seiner historischen Abhandlung Classes laborieuses et classes dangereuses (1958) analysiert Louis Chevalier, wie in Literatur, Sozialstudien und öffentlicher Meinung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Verbindung zwischen den sozialen Gruppen der Arbeiter: innen und der Kriminellen hergestellt wird: „Pour les bourgeois de Paris, les classes laborieuses sont et restent en marge de la ville, de la même manière qu’aux époques anciennes, ces catégories de population que l’on confondait avec les groupes criminels“ (Chevalier 2007: 453); cf. insbesondere ibid.: 451-496. 13 Patrick Eiden-Offe (2017: 330sq.) schreibt diesbezüglich vom ‚Mythos‘ der classes dangereuses, der den herrschenden Verhältnissen gefährlich zu werden droht oder verspricht und der in der Gegenwart in einer Bildsprache (Bilder, Figuren, Vorstellungsmuster) der devianten Übertreibung, z. B. im Gangsta-Rap, wiederkehrt. 14 Sein Biograph Ulf Geyersbach (2008: 15sq.) hat darauf hingewiesen, dass Céline die Lebensumstände seiner Familie prekärer dargestellt hat, als sie waren. 60 DOI 10.24053/ ldm-2023-0005 Dossier 15 Henri Godard (1996: 66) bezeichnet Mort à crédit als einen „roman de contre-formation“, in dem Erziehung, Bildung und Erfahrung nicht zur Integration des Protagonisten in die Gesellschaft führen, sondern dieser an deren Rändern bleibt. 16 Annie Ernaux erzählt in La place (1983) und Une femme (1987) in ähnlichen Worten vom Statusbewusstsein ihrer Eltern als petits commerçants, das sich in Abgrenzung von den ouvriers konstituiert. 17 Cf. Céline 1952: 58; cf. Louis 2014: 102sq. 18 Cf. Céline 1952: 326sq.; cf. Louis 2014: 97. 19 Bei Ferdinand haben die wiederholten, nicht kontrollierbaren Ausscheidungen von Exkrementen und Erbrochenem auch eine pathologische Dimension (sie stehen im Zusammenhang mit Situationen der Angst, Scham und Gewalt); ihre plastische Beschreibung war einer der Hauptgründe für den Skandal, den der Roman nach seiner Veröffentlichung hervorgerufen hat, cf. Godard 1996: 47. 20 „[...] Bruno [...] qui avait à ce moment une quinzaine d'années quand nous n'en avions que neuf ou dix“ (Louis 2014: 143). 21 Zum Verhältnis von Célines Romanen und seiner antisemitischen Ideologie cf. auch Drews 2022 und Mecke 2015. 22 Für diesen Hinweis danke ich Chantal Jaquet.