lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0006
0923
2024
48189
Biographiepolitik. Zu Rosanvallons Projekt Raconter la vie
0923
2024
Philipp Lammers
ldm481890061
DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 61 Dossier Philipp Lammers Biographiepolitik. Zu Rosanvallons Projekt Raconter la vie Als Emmanuel Macron im Oktober 2022 der Schriftstellerin Annie Ernaux auf Twitter zum Nobelpreis gratulierte, hob er würdigend hervor, sie schreibe seit 50 Jahren den „roman de la mémoire collective et intime de notre pays“ (Macron 2022). Sie sei die Stimme der Freiheit der Frauen und der Vergessenen dieses Jahrhunderts. Er musste sich daraufhin anhören, dass er selbst ebendiese Stimmen systematisch zum Schweigen bringe; man fragte nach den Ergebnissen des ,Grand Débat ‘, den der Präsident nach den Gelbwestenunruhen mit der Bevölkerung in allen Landesteilen geführt hatte; man titulierte Frankreich als Schnellkochtopf, der im Begriff sei hochzugehen. 1 Das Geschehen macht einige Verbindungen sichtbar, die im vorliegenden Fall interessieren: Eine offensichtliche Legitimationskrise der Demokratie bzw. ihrer Repräsentanten und Institutionen, aber auch die Prominenz einer Literatur, die die Marginalisierten, die „vies muettes“ (Adler 2012), zum Thema macht - die das allerdings, wie Macron schreibt, auch schon seit 50 Jahren betreibt. Zuletzt: Eine mediale Plattform, auf der ein speaking back möglich ist, aber fraglich bleibt, wer eigentlich spricht und sprechen kann. Während der Glaube an die Politik und ihre Vertretungsfunktion gerade in Frankreich jedes Jahr neue Tiefststände zu markieren scheint, gibt es zwei andere Institutionen, die Literatur und das Internet, die sich in einem Projekt der jüngeren Vergangenheit noch einmal zu Hoffnungsträgern entwickelt haben. Pierre Rosanvallon, Historiker und sozialliberaler Intellektueller, widmet sich nicht nur seit ebenfalls fünfzig Jahren der Demokratie, dem Populismus und der mal-représentation, sondern entwickelt auch selbst Auswege aus dem Dilemma, das er wie andere Autoren diagnostiziert. Sein Projekt trägt den Titel Raconter la vie und war eigentlich unbefristet angelegt, bestand in seinem Kern jedoch nur von 2014 bis 2017; noch bis 2020 war es zumindest unter dem Folgetitel Raconter le travail und kuratiert von der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT einsehbar. Mittlerweile ist es offline. 2 Es handelt sich um ein Internetportal, auf dem Menschen spontan ihren „récit de vie ou d’expérience (portant de manière privilégiée sur une expérience professionnelle, un moment-clé de la vie, un moment critique ou de tensions particulières)“ einreichen können, so die offizielle Charta. 3 Gepaart ist diese Seite mit einer Buchreihe bei Seuil, in der einzelne Titel, auch auf der Seite abrufbar, verlegt worden sind. Aufmerksamkeit zog das Projekt auf sich, weil es programmatisch und prominent eingeführt worden war. Nichts weniger als der „roman vrai de la société“ 4 und ein „parlement des invisibles“ sollten hier entstehen - diesen Titel trug der Auftaktessay des Intellektuellen Rosanvallon in besagter Buchreihe. Es sollte eine Reaktion auf die Krise der französischen Gesellschaft sein: „Une impression d’abandon exaspère et déprime aujourd’hui de nombreux Français. Ils se trouvent oubliés, incompris. Ils se sentent exclus du monde légal, celui des gouvernants, des institutions et des mé- 62 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier dias“ (Rosanvallon 2014: 9). Es sind weniger diese weitgehend geläufigen Diagnosen als vielmehr die von Rosanvallon gezogenen Konsequenzen, die das Projekt bekannt gemacht haben. Im Folgenden wird es nicht um ein Panorama zeitgenössischer und historischer Repräsentations- und Reparaturprojekte zwischen Literatur und Soziologie gehen, etwas, das Rosanvallon zum Teil selbst erledigt hat und das von der Forschung vertieft worden ist. 5 Vielmehr werde ich das Programm von Raconter la vie auf latente historische Filiationen prüfen. Es gilt zu zeigen, ob und in welcher Weise die gegenwärtige mal-représentation für Rosanvallon einen historischen Fluchtpunkt in der Postrevolution hat, genauer dem von ihm selbst beforschten ‚Moment Guizot ‘. Nicht nur scheint der heutige liberale Historiker seine eigene (Krisen-)Zeit mit der krisenhaften Epoche der frühliberalen Historiker um 1820 vergleichen zu wollen; auch in seinem Entwurf einer narrativen Demokratie scheinen Vorstellungen der Frühliberalen weiterzuleben. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass dieses historische Erbe im Programm des Projekts zugunsten eines Schulterschlusses mit zumeist engagiertkritischen Unternehmungen zurücktritt. Von der vorgeschlagenen - diachronen - Perspektive aus lassen sich andere Fragen stellen als in einem synchronen Vergleich mit zeitgenössischen engagierten Projekten: Welche Funktion hat die explizite Eingliederung in eine Geschichte des Engagements zur Sichtbarmachung der „oubliés, incompris […], exclus“? Wessen Elend, wessen „abandon“ erzählt eigentlich Rosanvallon? Und zuletzt gilt es auch selbstkritisch nach der Popularität nicht nur der classes populaires, sondern auch solcher intellektueller Projekte zu fragen, die versprechen, die ‚Unsichtbaren‘ sichtbar und die ‚Ungehörten‘ hörbar zu machen. Welches Fantasma bedient also ein Projekt, das genealogisch in der proto-demokratischen Epoche, vor dem ‚Sieg‘ der Demokratie, wurzelt? Das Programm: roman vrai oder regulierte Fiktion? Die fast schon konsensuelle Diagnose, die Rosanvallon der französischen Gesellschaft stellt, überdeckt, welche weitreichenden Schlüsse er daraus zieht. Erstens ersetzt er das Prinzip des Zählens der Stimmen mit dem des Erzählens durch Stimmen; zweitens das Prinzip der Repräsentation durch mediale Präsenz. Jedes Leben müsse erzählt und präsent gemacht werden, denn: Des vies non racontées sont de fait des vies diminuées, niées, implicitement méprisées. Car une vie laissée dans l’ombre est une vie qui n’existe pas, une vie qui ne compte pas. Être représenté, à l’inverse, c’est être rendu présent aux autres, au sens propre du terme (ibid.: 11). Wie sehr der Historiker Repräsentation als Sprache und Erzählung denkt, zeigt sich in seiner zweifachen Kritik der Abstraktion. Erstens richtet er sich gegen einen „langage politique saturé d’abstractions, qui n’a plus de prise sur le réel et s’enfonce DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 63 Dossier dans l’idéologie“, zweitens gegen die populistische Scheinlösung eines monolithischen „peuple“ (ibid.: 11-12). Stattdessen schlägt er vor, die Gesellschaft, das ‚Volk‘, zu konkretisieren: Durch individuelle Zeugenschaft und durch eine pluralistische Selbsterzählung - in Form einer lebendigen „Abfolge von Einzelbildern“ (ibid.: 12). Warum aber erfolgt hier keine soziologische oder politische Theorie des Kollektivs und seiner Repräsentation? Rosanvallons zentrale und aus früheren Werken bekannte These ist die einer „Gesellschaft der Singularitäten“, 6 allerdings umgelegt auf deren potenziellen Output: die Ich-Erzählung. Laut dem Historiker hat das „Individuum als Geschichte“ („l’individu-histoire, nécessairement singulier“) das „Individuum der Verhältnisse“, („l’individu-condition“) überlagert (ibid.: 22). Ungeachtet sozio-ökonomischer Faktoren gelte es also, die Dichte der sozialen Welt mittels einer „représentation-narration“ (ibid.: 23) wiederzugewinnen. Wenn sich Individuen in Serie selbst erzählen und repräsentieren sollen, hat das freilich Auswirkungen auf die Funktion der Intellektuellen. Fürsprecher können sie nicht mehr sein; dieser Verlust wird aber mehr als wettgemacht. Schließlich stellt und konzipiert Rosanvallon die Plattform für die entstehenden Lebenserzählungen. Für deren Notwendigkeit aber muss der Intellektuelle eine defiziente mediale Öffentlichkeit annehmen, so wie er es zu Beginn seines Essays andeutet. Seine Plattform schaffe dagegen die Voraussetzung einer authentischen, gemeinsamen Welt „à partir de multiples récits de vie“ (ibid.: 23). Sie macht die Zeuginnen und Zeugen zu Autorinnen und Autoren ihres eigenen Lebens. Der Intellektuellenmund spricht nicht, er macht sprechen. Das ließe sich als die emanzipative Funktion intellektuellen Engagements beschreiben. Daneben besteht aber eine eher biopolitisch-gouvernementale Funktion, die sich in der Rolle des Intellektuellen als Hermeneutiker manifestiert. Gibt er doch den Impuls zur Produktion von Lebenserzählungen, die die Gesellschaft insgesamt einfacher zu lesen und zu regieren machen sollen. 7 Rosanvallons Projekt ist deshalb im Wortsinn ambivalent, verortet sich selbst allerdings durch seinen historischen Exkurs eher in eine Geschichte emanzipativer und engagierter Projekte von den Arbeiterzeitschriften des 19. Jahrhunderts bis zu den kritischen soziologischen Unternehmungen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Ausblenden explizit liberaler Referenzen bzw. einem programmatischen Eklektizismus, der allerdings die engagierten Vorbilder betont, resultiert ein Spannungsverhältnis, das sich auch in der konkreten Ausgestaltung des Projekts niederschlägt. Schließlich folgt das Design von Raconter la vie liberalen Überzeugungen - etwa der Initiative der Individuen und einem emphatischen Gleichheitsdenken. Aus der konkreten Ausgestaltung lassen sich dagegen mindestens zwei ‚Lektionen‘ ableiten, die Rosanvallon in Widerspruch zu seinen Zielen bringen. 1. Die Unsichtbaren kommen nicht von allein: Ganz im Sinne der Sichtbarmachung der Unsichtbaren argumentiert Rosanvallon im historischen Teil seines Essays mit der Tradition der Arbeiterrepräsentation und -literatur des 19. Jahrhunderts, etwa indem Eugène Sue zitiert wird: „À défaut de représentation politique, ces ouvriers ont créé une sorte de représentation poétique“ (Rosanvallon 2014: 38). 64 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier Weitere Orientierungspunkte sind rezente journalistische und soziologische Werke wie Florence Aubenas’ autobiographische Undercover-Recherche als Gelegenheitsarbeiterin (Le Quai de Ouistreham, 2010) und multiperspektivische Kollektivwerke wie Bourdieus La misère du monde (1993) oder, neueren Datums, La France invisible (2006). Eine solche selbstgewählte Filiation mag (und soll) den Eindruck erwecken, dass Raconter la vie auf jene ‚Unsichtbaren‘ im Sinne der Arbeiterklasse bzw. der classes populaires wenn nicht exklusiv, so doch besonders abzielt. 8 Allerdings haben sowohl die Projektmitarbeiterinnen als auch die Forschung schnell bemerkt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Projekts eine Lücke klafft. Erzählungen aus dem Kreis der classes populaires oder sonstige unter dem Titel der invisibles Versammelten waren sowohl unter den Buchtiteln als auch auf der Website rar gesät bzw. kamen nicht von allein (cf. Peretz 2018: 182). Für die Buchreihe muss etwa stets ein anonymer Bericht eines ungelernten Logistikarbeiters herhalten (Moi, Anthony, ouvrier d’aujourd’hui), der die Reihe zwar eröffnen durfte, aber unter den ‚populären‘ Ausnahmen blieb. Die editoriale Leitlinie, Amateure gleichrangig neben professionellen Autorinnen und Autoren zu veröffentlichen, schlug deutlich zugunsten der letzteren aus: Engagierte Autorinnen wie Annie Ernaux oder Maylis de Kerangal, Journalistinnen und Soziologinnen wie Ève Charrin publizierten in der Reihe. Es überrascht nicht, dass auch die Leserschaft eher letztere nachfragte (cf. ibid.: 183). Wenig anders sah es auf der gleichwohl inklusiveren Webseite aus, wo Texte nach kurzer Prüfung hochgeladen werden konnten (cf. Grenouillet 2014: 32). 9 Man hat also nachhelfen müssen, d. h. Leute akquiriert und interviewt, dort abgeholt, wo sie zu finden waren, um sie auf die Seite zu bringen. 10 2. Auch die narrative Demokratie braucht Fiktionen: Mit der ausbleibenden spontanen Partizipation der invisibles wankt der Anspruch auf Selbstrepräsentation durch Narration. Unbeeinflusst von Überlegungen postmoderner Theorie sollte sich das Projekt ja von Bourdieus Misère du monde darin unterscheiden, dass die invisibles hier zu Autorinnen und Autoren werden, nicht Objekte bleiben (cf. Lepenies 2014: 21). Damit sollte nicht zuletzt der „fiction“ (Rosanvallon 2014: 16) der Repräsentation und des Wahlvolks als Souverän abgeholfen werden, jenen „regulativen Fiktionen“ (Koschorke 2021: 4) jeder Demokratie, denen Rosanvallon hier skeptisch entgegentritt. Zumindest die Buchreihe zeichnet sich allerdings durch eine Fiktion von Autorschaft aus, ohne die der ‚wahre Roman der Gesellschaft‘ nicht entstehen konnte. Texte wie Sous mon voile von Fatimata Diallo sollen als authentische Zeugenberichte zum konkretisierten, lebendigen Kollektiv beitragen. Retrospektiv entpuppen sie sich allerdings als betreutes Schreiben: „Sous mon voile entretient la fiction d’un livre écrit à la première personne par Fatimata. Mais sa parole a toujours eu besoin d’être sollicitée“ (Peretz 2016: 123). Obwohl für sie geschrieben wurde, fungiert sie als einzige Autorin auf dem Buchdeckel. 11 Auch ein Projekt zur Reparatur der (nach Rosanvallon allzu) abstrakten und regulativen Fiktionen der Demokratie, ihrer Institutionen, bedarf selbst offenbar bestimmter Fiktionen zu seiner Konstituierung. Dazu gehört auch die Emphase der Erzählung, die hier als Roman und Literatur geadelt wird und auf der große Hoffnungen ruhen. Raconter la vie, ein Titel, der DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 65 Dossier Ähnlichkeiten mit Annie Ernaux’ großer Anthologie Écrire la vie hat, beruht offensichtlich auf einer Illusion der Unmittelbarkeit von Sprache, die nur den einfachen Leuten zurückgegeben werden muss, um einfach zu sein (cf. Zenetti 2016). Die Emphase der Zeugenschaft und der Lebenserzählungen, so lässt sich festhalten, dient im Programm Rosanvallons nicht allein der Konstitution einer neuen, verbesserten und verlebendigten Öffentlichkeit. Die mühsame Konstruktionsarbeit ihrer Konstituierung - in Ermangelung ihrer spontanen Zusammenkunft - belegt, dass die ‚einfachen Leben‘ auch einer politischen Idee dienen. Diese lässt sich als Wiedergewinnung eines vorpolitischen Raums bezeichnen. Die Charta von Raconter la vie legte schließlich fest: „un récit de vie ou d’expérience (portant de manière privilégiée sur une expérience professionnelle, un moment-clé de la vie, un moment critique ou de tensions particulières), non l’expression d’une opinion ou d’une conviction“. 12 Damit ist auch deutlich, dass die neue und verbesserte öffentliche Sphäre, Gegenbild zur „presse people“ (Rosanvallon 2014: 29) und dem medialen ‚Mainstream‘, ihrerseits klassisch gedämpft und moderiert werden muss, um ungewünschte Formen der Kollektivierung (politische Radikalisierung oder Mobilisierung 13 ) oder aber der sozialen Spaltung zu verhindern. Die ‚Gesellschaft der Singularitäten‘ wird auf lediglich eine Art von Kollektivierung festgelegt: auf anthropologische oder, präziser, biographische Konstanten; Schlüsselerlebnisse, Krisen- und Spannungsmomente, Peripetien jeder Biographie. Das ist keineswegs Ausdruck einer politischen Unbedarftheit, sondern Entwurf einer Biographiepolitik, die sich bewusst in den Dienst eines gesellschaftlichen Zusammenhalts stellt. 14 Zweifellos wirkt sich diese Politik des Unpolitischen nivellierend aus - die Geschichten der ‚Individuen-als-Geschichten‘ stehen, im Positiven wie im Negativen, eben nebeneinander. Sie verweisen nicht mehr, wie beim ‚Individuum der Verhältnisse‘ auf eine Arbeiterschaft, auf soziale Klasse oder klassenbedingte Solidarität. Moi, Anthony, ouvrier d’aujourd’hui und Sous mon voile zeigen nicht eine strukturell zu erfassende, soziologisch zu beschreibende misère du monde, sondern eine individuelle galère, die bemerkenswert offen endet: „On verra“ (Anthony 2014: 61 15 ) bzw. „Je vais trouver une solution“ (Diallo 2015: 98). Angesichts dieser Zwischenbilanz lässt sich danach fragen, wessen Krise hier eigentlich erzählt wird. In ihrer intendierten Zusammenschau bestätigen die Erzählungen nämlich die Programmschrift Rosanvallons. Obgleich diese eine exklusive Konzentration auf den „malheur social“ (Rosanvallon 2014: 58) ablehnt und positive Erfahrungen auf individueller Ebene hervorheben möchte, operiert sie selbst mit dem Bild einer Gesellschaft und Öffentlichkeit im Abstieg. In vielen Erzählungen zeichnet sich dann auch ein Bild ab, das Frankreich als in der Krise begriffen sieht, die Gesellschaft als „solitudes cohabitant les unes à côté des autres“ (Zappi 2016). Ein Gutteil der publizierten Bände der Reihe bei Seuil stellt vor allem ex negativo auf das Elend der spätmodernen Institutionen und Körperschaften ab, die in den individuellen Schilderungen absent oder auf dem Rückzug sind (Gewerkschaften, staatliche Fürsorgeeinrichtungen…). Raconter la vie verweist allerdings auch, explizit wie implizit, auf das Elend einer weiteren Institution: der Medien. Diese werden im Manifest Rosanvallons in einem 66 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier Atemzug mit den Institutionen und Regierenden genannt - und als Betreiber eines Trends der „pipolisation“ und „hypervisibilité“ einiger weniger Persönlichkeiten angeklagt (Rosanvallon 2014: 29). Da „Anthony“ in diesen Medien nicht mehr vorkomme, so suggeriert es das Projekt, stelle es sich als neues Medium dem Bias der Massenmedien entgegen. Raconter la vie ist damit ein Zeugenbericht über eine als defekt und dekadent empfundene Öffentlichkeit, die das Projekt zugleich zu reparieren versucht. Der Moment Guizot 2.0. Rückkehr zum frühliberalen Traum Es ist Rosanvallon selbst, der seinem Projekt eine historische Tiefe verleiht. Seine knappe Diagnose, ausgehend von der Postrevolution, unterscheidet sich wenig von jener „Anthonys“ gegenüber dessen Arbeiterwelt ohne Schutz und Institutionen. Das frühe 19. Jahrhundert, so der Historiker, sieht die alte Welt der Körperschaften zu Staub zerfallen, es herrsche Desorientierung. Mit der darauffolgenden frühkapitalistischen Klassengesellschaft werde die soziale Welt wieder lesbarer, ehe sie mit den zeitgenössischen Wandlungen des Kapitalismus erneut unlesbar werde. Es handle sich hierbei um nichts weniger als einen „retour à une indétermination originelle“ (Rosanvallon 2014: 18). Es gilt, diese Idee einer ‚Rückkehr zum Ursprung‘ eines Zustands der Unentschiedenheit und Orientierung wörtlich zu nehmen, um Rosanvallons Werk zu verstehen. Denn der Historiker wechselt seit seinen ersten Werken, auch den im engeren Sinne akademisch-historischen, zwischen der Zeit der Postrevolution und seiner Gegenwart hin und her. Zentral für Rosanvallons Denken ist dabei nicht 1789 und damit die Revolution selbst, sondern die Bewältigung und Rezeption von 1789 in Restauration und Julimonarchie. Diejenigen, die an einer neuen Form gesellschaftlicher Lesbarkeit mitwirkten, taten das, indem sie die Geschichte Frankreichs vor dem Hintergrund von 1789 neu schrieben. Rosanvallon ist ursprünglich Spezialist für diese Historiker und Intellektuellen. Augustin Thierry, Prosper de Barante und François Guizot waren wie Rosanvallon selbst Publizisten, Historiker und später Politiker - eine Karriere als Politiker hat Rosanvallon zumindest angestrebt. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Jahr 2002 stellt sich der Historiker selbst, neben heute deutlich positiver besetzten Vorbildern wie Toqueville, in die Tradition von François Guizot (Rosanvallon 2003: 18). Diesem widmete er sein zentrales historisches Werk, Le Moment Guizot (1985). Nicht der Guizot des ‚Enrichissez-vous‘, führender Minister des Bürgerkönigs, der sich noch 1848 dem allgemeinen Wahlrecht verweigert, ist Vorbild für Rosanvallon, sondern derjenige, der frühzeitig politische und historische Aufklärungsarbeit als Historiker und Oppositioneller betreibt. Dem modernen Historiker Rosanvallon geht es mithin um die Rehabilitierung einer liberalen Schule, die zur nicht anerkannten Grundlage der späteren Republik geworden ist. Die ungewöhnliche Idee von Raconter la vie aber lässt sich dann nicht nur als Nachdenken über DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 67 Dossier Repräsentation und den „peuple introuvable“ 16 an sich fassen, sondern als fast utopisch anmutende Zeitreise, die Rosanvallon seit Le Moment Guizot mit Blick auf die Aktualität der Liberalen formuliert: Nous avons, au moins conceptuellement, en effet presque achevé d’explorer toutes les virtualités de la démocratie comme système de représentation fondé sur l’expression des volontés. Dans ces conditions, nous sommes aujourd’hui obligés de réapprofondir les notions de démocratie et de citoyenneté. D’où l’intérêt et l’importance d’un retour à ,l’origine‘ en quelque sorte (Rosanvallon 1985: 375). Die fast wörtliche Vorlage des „retour à l’origine“ für die spätere Plattform lässt aufhorchen. Erscheinen damit doch bedeutende kollektive politische Mittel als ausgeschöpft, an deren Stelle nunmehr eine neue, kollektive Erzählung treten soll - diese Mittel sind etwa: allgemeines Wahlrecht, ökonomische Demokratie, Tarifverhandlungen etc. Zurückzukehren zu Guizot, zu Restauration und Julimonarchie bedeutet daher, zu einem Moment zurückzukehren, bevor die Demokratie sich, mit Philip Manow gesprochen, sukzessive demokratisiert hat (Manow 2020). Damit ist für Rosanvallon die Chance verbunden, gedanklich nicht aus dem ‚Gefängnis der siegreichen Demokratie‘ selbst schreiben zu müssen, sondern vor der Stabilisierung eines „idéal démocratique“, vor der „idéologie démocratique“ (Rosanvallon 1985: 375). Die Programmatik von Raconter la vie, die sich recht unbeeindruckt von moderner und postmoderner Theoriebildung präsentiert, erklärt sich mit Blick auf Rosanvallons Fluchtpunkt bei den liberalen Historikern. Auch diese haben nicht auf Basis der verfügbaren historischen Methoden operiert, sondern aus einer aus dem historischen Moment erklärbaren politischen Passion (cf. dazu Venayre 2013: 35-49). Welche Ideen und Thesen dieses ‚Moment Guizot ‘ sind nun für die in Raconter la vie entwickelte alternative Repräsentation wichtig? Und inwieweit nimmt Rosanvallon hier Ersetzungen und Aktualisierungen eigentlich liberaler Vorstellungen vor? 1. Missrepräsentation nicht der Bevölkerung, sondern der eigenen Geschichte: Zuerst sind das die Konsequenzen, die die neue Generation von Publizisten und Historikern nach dem Ende des Empire und zu Beginn der Restauration aus der zurückliegenden Revolution zieht. Für François Guizot, Augustin Thierry oder Prosper de Barante, die liberale Oppositionspolitik zuerst einmal als Journalisten und Historiker betreiben, muss Geschichte und Geschichtswissenschaft neu geschrieben werden. Und das ist ganz explizit ein Projekt zur Konstitution und Ausweitung historischer und sprachlicher Repräsentation - noch im Vorfeld jeglicher politischen Repräsentation. Denn man beklagt unisono, dass Frankreich sich selbst nicht kenne, überhaupt keine Histoire de France vorliege, die diesen Namen verdient habe. 17 Die Missrepräsentation liegt hier im Historischen. Rosanvallon würde hier von Lesbarkeit sprechen, die es wiederzugewinnen galt, um die Beziehungen von Gesellschaft und politischer Zentralgewalt zu verstehen. Politisch muss also eine Geschichte der ganzen Nation her. Stilistisch wird eine naive, einfache Erzählung angestrebt, die der liberalen Schule auch den Titel école narrative eingetragen hat. Hier sind großangelegte Projekte wie das von Thierry und Mignet aus dem Jahr 1824 von Interesse. Sie 68 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier hatten vor, Frankreichs Geschichte als Kompilation von Stimmen von Zeugen (Memoirenautorinnen, Chronisten, sonstige Quellen) neu zu konstituieren, so dass sich die Geschichte selbst erzählt (cf. dazu Thierry 1835: xxviij-xxix). Aus den Ruinen der alten, vorrevolutionären Gesellschaft bergen zuerst die liberalen Historiker der Restauration, ihrer eigenen Überzeugung nach, die Materialien und Stimmen für eine neue gesellschaftliche und nationale Selbstverständigung. Das ist ein Sicherungs- und Stabilisierungsunternehmen, das zugleich Züge einer alternativen, nämlich poetisch-historischen Repräsentation trägt: Aufgrund zunehmender Restriktionen schrumpfen die Möglichkeiten der politischen Opposition in der Restauration, und die Liberalen flüchten in die Literatur. Stendhal hat diesen Moment mit „la révolution entre dans la littérature“ (Stendhal 1997: 245) beschrieben (cf. Lammers 2021). 2. Narrative Zivilisation als Vorform der narrativen Demokratie: Damit eng verbunden ist eine zweite fixe Idee der Zeit - und zwar die Erschreibung und Gewinnung eines ordre social als Geschichte, betrieben vor allem von Guizot als Geschichte der Zivilisation. Guizot nimmt die Konjunktur der Erzählung und die Ausweitung erzählbarer Fakten in der Geschichtswissenschaft zum Anlass für eine neue Form von Geschichte. In seinen Vorlesungen legt er dar, dass die Zivilisation eine Geschichte hat, die man erzählen könne, bestehend aus einer Vielzahl von Geschichten und aller verfügbaren sozialen Fakten (Guizot 1884: 7-9). Rosanvallon stellt sich gerade hier in die Tradition Guizots (Rosanvallon 2003: 18), nur tauscht er die Zivilisation gegen die Demokratie, die als Geschichte konstituiert werden muss, um verlebendigt zu werden. Historische Forschung ist damit allerdings nicht mehr von der Praxis der Demokratie zu trennen (cf. Dormal 2016: 28). Je mehr daran partizipieren, so die Intention von Raconter la vie, desto besser. Die Hinwendung Rosanvallons zu den multiplen Lebenserzählungen mag als Reflex auf die Erfolge neuer Formen von Autobiographien und faktualer Erzählungen erscheinen; sie ist allerdings auch ein gedanklicher retour zu einer Wende von einem Gesellschaftsbild zu einem anderen in der frühliberalen Epoche: „L’ordre social […] doit être dorénavant compris selon un mode biologique“ (Rosanvallon 1985: 18). Man begreift die Gesellschaft als Lebewesen. Wo Guizot allerdings noch das Leben einer ganzen Gesellschaft als das eines Körpers, eines Individuums, dachte, fordert Rosanvallon die Verlebendigung des peuple durch die Erzählung ‚seiner‘ Lebensgeschichte, zusammengesetzt aus den Lebenserzählungen aller. Von dieser Perspektive aus betrachtet, ist das Projekt Rosanvallons tatsächlich ein biographiepolitisches, das sich aus einem ursprünglich biopolitischen Projekt, der Vermessung, Erzählung und Lesbarmachung des ‚Volkskörpers‘ speist. 18 3. Emphatische Öffentlichkeit und Lesbarmachung der Individuen: Mit seiner Gegenwartsdiagnose einer Gesellschaft der singulären Individuen, losgelöst von alten ökonomischen und klassenlogischen Bindungen, setzt Rosanvallon ebenfalls noch einmal beim ‚Moment Guizot ‘ an. Anders als andere liberale Vorbilder denkt Guizot nicht über das Problem von Individuum und Masse nach. Für ihn geht es stets darum, eine Passung sowohl zwischen citoyen und Individuum als auch zwischen Individuen und Staat herzustellen. Guizots Bild des zivilisierten Individuums ist das DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 69 Dossier eines sozialen Individuums in direkter Interaktion, ohne Zugehörigkeiten zu Körperschaften oder sonstigen Intermediären. Für Rosanvallon entsteht im ‚Moment Guizot‘ ein neues, soziales Individuum. 19 Le parlement des invisibles scheint, trotz seines pessimistischen Auftakts, genau daran aktualisierend anzuknüpfen, sowohl in der Diagnose einer Gesellschaft von Individuen als auch im wesentlich optimistischeren Ausgang, der erklärt, neue soziale Verknüpfungen herstellen zu wollen. Vor dem Hintergrund von Rosanvallons Forschungen zur Restauration lässt sich diese Intention von Raconter la vie historisch einordnen. Sie will das vereinsamte, atomisierte Individuum wieder in einen sozialen Zusammenhang bringen, durchaus so, wie Rosanvallon die Ära Guizots versteht. Damit das funktioniert, muss eine wirkliche Öffentlichkeit erst geschaffen werden. Rosanvallon fasst den frühliberalen Glauben an die Öffentlichkeit zusammen: La publicité est à la sphère politique ce que le marché est à la sphère économique: elle produit de l’autorégulation dans un système […] informationnel. La communication politique suppose au contraire une visibilité croissante, une manifestation toujours plus évidente, de ce qu’est la société. Elle se nourrit de visibilité […]. Si la liberté de presse peut révolutionner le monde […] c’est aussi parce qu’elle s’inscrit dans un processus cognitif par lequel les hommes découvrent ce pour quoi ils sont faits, et non pas une institution qui leur permettrait de formuler leurs désirs et d’affirmer leur volonté collective (Rosanvallon 1985: 68). Hier gibt es die wohl größte Parallele und zugleich den größten Unterschied zwischen Guizot und seinem Historiker. Die frühen Liberalen um Guizot streben (nach Rosanvallons Interpretation) eine permanente Tuchfühlung zwischen den Institutionen und der Gesellschaft an, eine Tuchfühlung, die Guizot vor allem über die Freiheit der Presse garantiert sah, die zu einem ‚selbstregulierenden‘ System wird. Ein solcher direkter Draht von Politik und Gesellschaft wird auch bei Rosanvallon angestrebt; ebenso lässt sich eine Skepsis gegenüber den bestehenden politischen Institutionen wiederfinden. Allerdings vermag Rosanvallon im Unterschied zu Guizot sich nicht mehr emphatisch auf die Presse bzw. Medien zu berufen. So medienwirksam der Intellektuelle arbeitet, so deutlich wird, dass er die Sprache und Struktur der Medien nicht als ausreichend repräsentativ betrachtet. Der Zweck der medialen Sphäre bei Guizot hingegen - als gleichzeitige Dienerin von und freie Vermittlerin zwischen peuple und gouvernement - scheint sich in Rosanvallons Bauplan seiner Plattform wiederzufinden. Denn diese entscheidet sich nicht zwischen emanzipativ-partizipativem („mobiliser, résister“) und staatsdienlichem („lisibilité“) Zweck. Sie will - und hierin liegt auch die Intention ihrer Adelung als ‚Literatur‘ - Gegenmodell zur medialen Sphäre, d. h. konter-mediale Sphäre sein. Schluss: Die Produktivität der Fantasmen Vom Moment Guizot aus betrachtet erscheint das Sichtbarmachen der Unsichtbaren, das Sprechen-Machen der Ungehörten mittels Selbsterzählung weniger im emanzipativen und modernen Sinn, sondern im Hinblick auf eine Funktion für ein 70 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier funktionierendes Gemeinwesen. Raconter la vie baut auf dieser Funktion von Sichtbarkeit auf und lädt frühe liberale Vorstellungen mit jenen eines modernen Empowerment auf. Kenner der intellektuellen Landschaft Frankreichs werden gleichwohl gewusst haben, welche Grundideen Rosanvallon seinem Projekt mitgibt. Gleichwohl gilt es, die emphatische Beschwörung von Partizipation und das große Gewicht engagiert-kritischer Referenzen im Programm als Geste ernst zu nehmen. Dass das bis in die Wortwahl liberale Erbe 20 hier nicht namentlich genannt wird, zeugt von dessen Ausfall als Vorbild. Demgegenüber steht die unbestreitbare Popularität von Erzählungen von und über die classes populaires, von Autosoziobiographien (cf. zum Erfolg der Autosoziobiographien Schuhen 2020) und von soziologischen und engagierten Erschließungen von sozialen Milieus. Raconter la vie ist wohl auch der Versuch, mithilfe einer verbindenden Erzählung - und durch die Beschwörung der Erzählung selbst - viele unterschiedliche Zielgruppen zu versammeln. So wie die Berichte der Plattform selbst sich in einem vorpolitischen Raum bewegen sollen, der aus spontanen Berichten ‚von unten‘ gespeist wird, erscheint auch das Programm Rosanvallons als vorpolitisch. Die vorigen Ausführungen haben gezeigt, dass dies keineswegs Zufall ist. Vielmehr erscheint - im Design von Raconter la vie sowie in der Philosophie Rosanvallons - eine Rückkehr zu einem Zustand ‚vor der Demokratie‘ als zentrale Notwendigkeit. Poetische Repräsentation, konkrete soziale Welt, das heißt auch: Sich selbst den anderen nochmal neu (und einfach) erzählen und so Gesellschaft bilden. In Raconter la vie und dem anhängigen Parlement des invisibles manifestieren sich zwei Fantasmen. Zum einen evoziert der Traum der ‚einfachen‘ Sprache und der unmittelbaren Zeugenschaft das Fantasma einer reinen, verlustfreien Repräsentation. Hier hat die Kritik im Sinne der Frage Spivaks „Can the subaltern speak? “ eingesetzt. Und auch Raconter la vie kann sich den Aporien der Repräsentation 21 und des Sprechen-Machens nicht entziehen. Zum anderen aber arbeitet Rosanvallons Entwurf deutlich mit dem Gegen-Fantasma des Exotischen, mit dem erträumten Außerhalb der Repräsentation, dem Noch-nicht-Eingeholten, den sprichwörtlichen invisibles. Das Projekt benötigt die Faszination für ‚das Andere‘, um überhaupt zu mobilisieren. Seit den frühen Werken Foucaults lässt sich diese Faszination für das Andere (die Wahnsinnigen, die Nicht-Protokollierten, die infâmes) systematisch denken. Auch dieses Fantasma ist derweil längst dekonstruiert mit Verweis auf seinen Exotismus (‚Othering‘) oder aber mit Verweis auf die Ubiquität sprachlicher Repräsentanz (‚es gibt kein Außerhalb der Sprache‘). Rosanvallons Projekt - und nicht nur sein Projekt - zeigt hingegen, dass beide Fantasmen ineinandergreifen und sich gegenseitig immer wieder hervorbringen. Vor allem aber, dass trotz weit fortgeschrittener Theoretisierung in dieser Frage solche Projekte immer von Neuem Strahlkraft erzeugen können. So ambivalent bestimmte Projekte zur ‚Reparatur der Gesellschaft‘ anmuten mögen, so erwartbar ist die Kritik an ihnen. Vielversprechender, als sich auf eine solche kritische Position zu beschränken, erscheint es, die Produktivität beider Fantasmen anzuerkennen und zur Grundlage für neue Untersuchungen zu machen. Auch wir, DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 71 Dossier Forschung und Akademie, sollten uns fragen, ob und auf welche Weise wir am intellektuellen Traum transparenter Repräsentation und an Vorstellungen eines noch nicht erschlossenen Außen mitwirken. Rosanvallons Werk interessiert - trotz oder wegen der zu konstatierenden Widersprüche -, weil es die Fantasmen gleichsam mit einer historischen Tiefenschicht versieht. Mit der gedanklichen Rückkehr zu einem proto-demokratischen Anfang ist die Uhr auf null gestellt. Und es wird deutlich, warum Raconter la vie keine partizipative Erzählung der classes populaires, keine der misérables und nicht einmal eine der wesentlich unspezifischeren invisibles sein kann. Das Elend, von dem Rosanvallons Projekt erzählt, ist nur vordergründig menschlich-biographisch (im Sinne der „Épreuves de la vie“, Rosanvallon 2021). Vor allem ist es menschengemacht. Es sind die Institutionen, die regulativen Fiktionen der Demokratie, auf die hier gezielt wird. Aus diesem Grund ist die Kategorie der invisibles auf alle Mitglieder der Gesellschaft, das Elend auf nichts weniger als den Staat, die Demokratie selbst, auszuweiten. Heilung - um eine andere Zentralvokabel der neueren Erzähltheorie zu verwenden (cf. Gefen 2017) - verspricht nur die Lebenserzählung, die Biographie als Praxis. In Filiation zum ‚Moment Guizot‘ arbeitet Rosanvallon hier an der Utopie einer Rückkehr, um hinter die Institution, die mediale Macht und die Theorie zu gelangen. In diesem Sinne steht Raconter la vie in merkwürdiger Verbindung zum Retour-Motiv neuerer autobiographischer Literatur. Wird in letzterer die Herkunft und der Herkunftsort aufgesucht, um Verdrängtes wieder vor die eigene, durch Bildung und Aufstieg verzerrte Linse zu holen, so gerät Rosanvallons Programm und Projekt zu einer ‚Gemeinschaft der Singularitäten‘, die gemeinsam in die Lage versetzt werden soll, nochmal neu und einfach polis zu werden. Alles auf Anfang. Adler, Aurélie, Éclat des vies muettes, Paris, Presses Sorbonne Nouvelle, 2012. Diallo, Fatimata, Sous mon voile, Paris, Seuil, 2015. Dormal, Michel, „Eine Phänomenologie der Ränder und Antinomien: Pierre Rosanvallons Beitrag zur Methodenfrage in der Ideengeschichte“, in: ZPTh - Zeitschrift für Politische Theorie, 7/ 1, 2016, 17-31. Foucault, Michel, Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France (1978-1979), Paris, Seuil, 2004. Gefen, Alexandre, Réparer le monde: la littérature française face au XXI e siècle, Paris, Corti, 2017. Grenouillet, Corinne, „Raconter le travail: le projet politique du site Internet ‚Raconter la vie‘“, in: Aurélie Adler / Maryline Heck (ed.), Écrire le travail au XXI e siècle: quelles implications politiques, Paris, Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2016, https: / / books.openedition.org/ psn/ 10480 (letzter Aufruf am 20.04.2023), 67-79. Guizot, François, Histoire de la civilisation en Europe depuis la chute de l’Empire romain jusqu’à la Révolution française, Paris, Perrin, 1884 [1828-1829]. Koschorke, Albrecht, „Identität, Vulnerabilität und Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten“, FGZ Working Paper Nr. 1, Leipzig: Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, https: / / fgz-risc.de/ wp-1 (publiziert im Dezember 2021, letzter Aufruf am 10.10. 2022). 72 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier Lammers, Philipp, In der Nachhut erzählen. Stendhals Zeitgeschichten als Arbeit an den Memoiren, Heidelberg, Winter, 2021. Lepenies, Wolf, „Wer schreibt, der bleibt“, in: Die Welt, 29. Januar 2014, 21. Leterrier, Sophie-Anne, Le XIX e siècle historien, Anthologie raisonnée, Paris, Belin Sup, 1997. Lukenda, Robert, „Die ‚Krise der politischen Repräsentation‘ Frankreichs im Spiegel der Literatur - Strategien und Formen eines neuen narrativen und gesellschaftlichen Engagements“, in: Deutsch-Französisches Institut (ed.), Frankreich Jahrbuch 2018. Das Phänomen Macron und die Krise der Demokratie in Europa, Wiesbaden, Springer VS, 2019(a), 139-154. —, „Dynamiken und Diskurse der Repräsentation - aktuelle Strategien und Tendenzen der Gesellschaftsdarstellung in der französischen Gegenwartsliteratur“, in: Nanette Rißler-Pipka / Christof Schöch (ed.), PhiN Beiheft 16, 2019(b), 98-125, https: / / web.fu-berlin.de/ phin/ beiheft16/ b16t07.pdf (letzter Aufruf am 20.04.2023). —, „Verdrängt, vernachlässigt und vergessen? Die classes populaires als neue/ alte ,Paragesellschaft‘? “, in: Teresa Hiergeist et al. (ed.), Paragesellschaften. Imaginationen - Inszenierungen - Interaktionen in den Gegenwartskulturen, Berlin/ Boston, De Gruyter, 2021, 25-57. Macron, Emmanuel, „Tweet vom 6.10.2022“, https: / / twitter.com/ EmmanuelMacron/ status/ 15779 97945194123265? s=20&t=2il2VLKVzM2zSFUPgqiyDQ (letzter Aufruf am 13.10.2022). Manow, Philip, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, Berlin, Suhrkamp, 2020. Mellet, Laurent, „Introduction“ (Dossier: Narrative Democracy), in: Études britanniques contemporaines, 57, 2019, http: / / journals.openedition.org/ ebc/ 7345 (publiziert im Dezember 2019, letzter Aufruf am 26.04.2023). Moi, Anthony, ouvrier d’aujourd’hui, Paris, Seuil, 2014. Peretz, Pauline, „Écrire pour autrui “, in: Le Sujet dans la Cité, 7/ 2, 2016, 121-127, www.cairn. info/ revue-le-sujet-dans-la-cite-2016-2-page-121.htm (letzter Aufruf am 15.10.2022). —, „Comprendre une société en mutation. L’expérience Raconter la vie ou les enjeux de la représentation au début du XXIème siècle“, in: lendemains, 170-171, 2018, 158-171. Raconter la vie: charte éditoriale, www.radiofrance.fr/ franceinter/ raconter-la-vie-charte-editoriale- 1857944 (publiziert im Januar 2014, letzter Aufruf am 10.10.2022). Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin, Suhrkamp, 2017. Rosanvallon, Pierre, Le Moment Guizot, Paris, Gallimard, 1985. —, Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France, Paris, Gallimard, 1998. —, Pour une histoire conceptuelle du politique. Leçon inaugurale au Collège de France faite le jeudi 28 mars 2002, Paris, Seuil, 2003. —, Le Parlement des invisibles, Paris, Seuil, 2014. —, Les Épreuves de la vie. Comprendre autrement les Français, Paris, Seuil, 2021. Schuhen, Gregor, „Erfolgsmodell Autosoziobiografie? Didier Eribons literarische Erben in Deutschland (Daniela Dröscher und Christian Baron)“, in: lendemains, 180, 2020, 51-63. Schulz, Daniel, „Pierre Rosanvallon: Eine werksbiographische Einführung“, in: ZPTh -Zeitschrift für Politische Theorie, 7/ 1, 2016, 91-103. Stendhal, Paris-Londres, Paris, Stock, 1997. Thierry, Augustin, Dix ans d’études historiques, Paris, Just Tessier, 1835. Venayre, Sylvain, Les origines de la France - Quand les historiens racontaient la nation, Paris, Seuil, 2013. Zappi, Sylvia, La maison des vulnérables, Paris, Seuil, 2016. Zenetti, Marie-Jeanne, „Les ‚Invisibles‘ peuvent-ils se raconter? L’entreprise ‚Raconter La Vie‘ entre ambition littéraire et soupçon de ‚Storytelling‘“, in: Comparatismes en Sorbonne, 7, 2016, „Fiction littéraire contre storytelling? Formes, valeurs, pouvoirs du récit aujourd’hui“, DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 73 Dossier https: / / obvil.sorbonne-universite.fr/ actualite/ fiction-litteraire-contre-storytelling-formes-valeurspouvoirs-du-recit-aujourdhui/ jeu (publiziert im September 2016, letzter Aufruf am 20.04.2023). 1 „Annie Ernaux écrit, depuis 50 ans, le roman de la mémoire collective et intime de notre pays. Sa voix est celle de la liberté des femmes et des oubliés du siècle. Elle rejoint par ce sacre le grand cercle de Nobel de notre littérature française“ (Macron 2022). 2 Die CFDT hat es laut Mitteilung der ehemaligen Mitarbeiterin des Projekts, Pauline Miel, eigenhändig eingestellt. Offizielle Archive existieren laut ihrer Aussage nicht (Private Korrespondenz Oktober 2022). Rosanvallon selbst hatte das Projekt der CFDT übertragen, zu der er gute Beziehungen unterhält. In den 1970er Jahren war er Chefredakteur der CFDTeigenen Zeitung. Cf. zur Person und Werkbiographie: Schulz 2016. 3 Die Charta ist noch einsehbar als Dokumentation der Radiosendung, in der Rosanvallon sein Projekt vorstellen durfte und Zuhörende zur Partizipation aufgefordert wurden. Cf. https: / / www.radiofrance.fr/ franceinter/ raconter-la-vie-charte-editoriale-1857944 (letzter Aufruf am 14.10.2022). 4 So lautete der Slogan der Internetseite, der ebenfalls auf den Büchern zu finden ist. 5 Grundlegend dazu etwa die Artikel Laurent Mellets (2019), Marie-Jeanne Zenettis (2016), Robert Lukendas (2019a, 2019b). Cf. auch das lendemains-Dossier von Robert Lukenda und Lisa Zeller („Aktuelle Formen des Gesellschaftsporträts“, in: lendemains 170-171, 2018), zu dem auch die Mitarbeiterin des Rosanvallon-Projekts beitrug (Peretz 2018). 6 Mit seinem Konzept der ‚Gesellschaft der Gleichen‘ und der Epoche des „individualisme de singularité“ (Rosanvallon 2014: 21) nimmt Rosanvallon Andreas Reckwitz’ Titel Die Gesellschaft der Singularitäten (2017) vorweg. 7 „Plus de visibilité et de lisibilité conduit par ailleurs à rendre la société mieux gouvernable et mieux réformable“ (Rosanvallon 2014: 27). 8 Das Manifest legt an mehreren Stellen dar, dass die ganze Gesellschaft zum Mitmachen aufgefordert ist - zugleich streuen aber rhetorische Markierungen („invisibles“, „abandon“) Referenzen auf engagierte Projekte, so wie die editoriale Politik zu Beginn (Peretz 2018: 178) die Rezeption steuerte. 9 Im Jahr 2014 stammten lediglich acht von 91 Erzählungen von „ouvriers“; zur Internetseite trugen in nicht geringem Maße schreiberfahrene Amateure bei. 10 Cf. Peretz 2018: 182: „Notre web éditrice s’est donc mise à recueillir elle-même des récits qui n’arrivaient pas par eux-mêmes sur le site. Ces textes sont d’abord nés de rencontres provoquées […]. Nous avons donc passé un accord avec le bailleur social Adoma pour pouvoir entrer dans ses résidences et ses centres d’accueil pour les réfugiés […].“ 11 Auf der letzten Seite des Buches findet sich ein Hinweis zur Mitarbeit von Pauline Peretz. Bei Moi, Anthony, ouvrier d’aujourd’hui hingegen wird die Mitarbeit, obgleich sie stattfand, nicht angegeben. 12 https: / / www.radiofrance.fr/ franceinter/ raconter-la-vie-charte-editoriale-1857944. 13 Von den verfügbaren Rubriken der Website oblag es derjenigen zu „Être au service des riches“, eine politischere Note hineinzubringen. Cf. zu den Rubriken und der Ausgestaltung der Seite Grenouillet 2016: 24. 14 Wie bewusst und konstant Rosanvallon (2021) dieses Projekt vorantreibt, zeigt auch sein neuestes Buch, das dieselben biographiepolitischen Grundlagen wie Raconter la vie besitzt. 15 Grenouillet (2016: 31) sieht ebenfalls in diesem ersten récit der Reihe eine Bestätigung einer entpolitisierten „débrouillardise personnelle“. 74 DOI 10.24053/ ldm-2023-0006 Dossier 16 Dass etwa das hier diskutierte Projekt seinen Ursprung in einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Volk und der Repräsentation (Le peuple introuvable, 1998) hat, ist mehrfach bemerkt worden (cf. Grenouillet 2016 und Lukenda 2021). 17 So äußern sich etwa Chateaubriand, Stendhal und andere Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts. Cf. zur narrativen Historikerschule Leterrier 1997. 18 Foucault identifiziert Biopolitik geradezu mit dem Liberalismus (Foucault 2004: 24): „c’est une fois qu’on aura su ce que c’était que ce régime gouvernemental appelé libéralisme qu’on pourra, me semble-t-il, saisir ce qu’est la biopolitique.“ Cf. zum Nexus Biopolitik- Liberalismus auch ibid.: 29-48 (Leçon du 17 janvier 1979). 19 Rosanvallon 1985: 61: „Ce qui naît avec la civilisation, c’est donc un individu de type nouveau: l’individu social, non point atome isolé, ni simple composante d’un petit corps simple, mais moment et sujet de l’interaction sociale“. 20 Cf. den wiederholten Wortgebrauch von „capacités [individuelles]“ (Rosanvallon 2014: 19) im Manifest, der sich klar auf die frühliberale, Guizot’sche Vorstellung des citoyen capacitaire beziehen lässt, des fähigen, politisch mündigen Bürgers, auf dem Guizot die Stabilität der sozialen Ordnung beruhen lässt. 21 Cf. Lukenda 2019b: 121: Raconter la vie sei nicht in „erster Linie ein exaktes, umfassendes Tableau der französischen Lebensverhältnisse, sondern vielmehr ein ‚wahres‘ Abbild bestehender Probleme der Repräsentation“.
