lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0007
0923
2024
48189
Von der ,Vorreiterin‘ zur ,Nachzüglerin‘
0923
2024
Robert Lukenda
ldm481890075
DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 75 Dossier Robert Lukenda Von der ,Vorreiterin‘ zur ,Nachzüglerin‘ Zur Übersetzungspolitik der Texte von Annie Ernaux im deutschsprachigen Raum Seit geraumer Zeit beschäftigt man sich in den deutschsprachigen Literaturwissenschaften überaus intensiv mit der literarischen Form der Autosoziobiographie. Zwar wurden im Rahmen dieser Auseinandersetzung formale, narrative, soziologische und politische Aspekte dieser hybriden Gattung thematisiert, die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit dieser Form des soziologischen Schreibens über die Hürden des sozialen Aufstiegs im deutschsprachigen Raum erörtert sowie kulturelle und soziologische Aspekte der Rezeptionsgeschichte dieser Literatur besprochen. Dennoch werden elementare Voraussetzungen der Rezeption dieser Literatur - gemeint sind hier Fragen und Probleme der Übersetzung dieser neuen französischen Klassenliteratur - erst seit Kurzem gestellt. Dies mag angesichts des aktuellen Übersetzungsbooms der Texte von Didier Eribon, Édouard Louis und Annie Ernaux erstaunen - ein Boom, der nicht zuletzt aufgrund der Verleihung des Literaturnobelpreises an Ernaux (2022) in näherer Zukunft anhalten dürfte. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass die aktuelle Übersetzerin der Werke von Ernaux, Sonja Finck, mittlerweile eine gefragte Gesprächspartnerin in den literarischen Feuilletons geworden ist. In einem geringeren Maße gilt dies auch für Tobias Haberkorn, der Eribons Retour à Reims ins Deutsche übertragen und der in einem früheren lendemains-Dossier (Kargl/ Terrisse 2020) bereits über die sprachlichen, stilistischen und kulturellen Herausforderungen dieser Übertragung berichtet hat. Die Frage nach einer möglichen Übersetzungsmethodik zeitgenössischer Autosoziobiographien wurde jedoch bisher nicht gestellt. Hierfür lassen sich triftige Gründe finden, gibt es doch inhaltlich, sprachlich und stilistisch signifikante Unterschiede zwischen den literarischen Texten Eribons, die einen zum Teil ausgeprägten akademischen Duktus aufweisen, und Ernaux’ deskriptiver und nüchterner écriture (plate bzw. distanciée). Und dennoch scheint die Frage nach möglichen Übersetzungsnormen der gegenwärtigen französischen Klassenliteratur insofern berechtigt, als sich zwischen den genannten Autorinnen und Autoren viele Gemeinsamkeiten finden lassen - allen voran die Prägung ihres Schreibens durch die Klassensoziologie Bourdieus. Die Frage nach den Normen stellt sich zum einen auf einer übersetzungspolitischen (Makro-)Ebene, die nach den „Faktoren“ sprachlicher, (inter-)kultureller oder politischer Art sucht, „die darüber entscheiden, welche Textsorten oder sogar welche einzelnen Texte zu einem bestimmten Zeitpunkt durch Translation in eine bestimmte Kultur/ Sprache importiert werden“, und sich hierfür der „Wechselbeziehung zwi- 76 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 Dossier schen Textsorten und Agenten“ (Toury 2009: 98sq.) - z. B. Verlagen, Übersetzerinnen und Übersetzern - zuwendet. So wurde das hohe Interesse an Eribons Retour à Reims im deutschsprachigen Raum maßgeblich auf zwei Umstände zurückgeführt. Erstens liefert der Text schlüssige Antworten auf virulente gesellschaftspolitische Fragen und Probleme, die sich zuerst in Frankreich zeigten, die aber mittlerweile auch in Deutschland in den Fokus gerückt sind: Gemeint ist hier die Hinwendung der unteren Schichten zur politischen Rechten und die Frage, weshalb so viele Arbeiterinnen und Arbeiter den einstigen Klassenfeind Front bzw. Rassemblement national wählen. Zweitens macht er eine Klassenperspektive zur Analyse der sozialen Welt stark, die nach dem ‚Ende der Arbeiterklasse‘ aus den politischen und intellektuellen Diskursen verschwunden war und dabei eine intellektuelle und literarische Lücke füllte, die vor allem in Deutschland klaffte (cf. Jurt 2020; Schuhen 2020). Die übersetzungspolitische Frage stellt sich zum anderen auf der Mikroebene konkreter translatorischer Entscheidungen. Mit anderen Worten geht es hier darum, ob und inwiefern sich eine erhöhte Sensibilität für Klassenaspekte, die in den literarischen, literaturwissenschaftlichen und soziologischen Rahmendiskursen der Rezeption französischer Autosoziobiographien zum Ausdruck kommt (vgl. Schuhen 2020), sprachlich und stilistisch in den konkreten Übersetzungsentscheidungen manifestiert. Die Frage nach einer ,autosoziobiographischen‘ Übersetzungspolitik kann angesichts der Vielzahl der für eine Untersuchung infrage kommenden Texte Eribons, Ernaux’ oder Louis’ hier nicht Gegenstand einer ausführlichen Betrachtung sein. Wir wollen uns dieser komplexen Frage im Folgenden anhand einiger Beobachtungen zur Übersetzungspolitik der Werke von Annie Ernaux nähern, die, wie gezeigt wird, im zurückliegenden Jahrzehnt eine ‚translationspolitische‘ Wende durchlaufen haben. Wurden ihre Werke noch bis in die frühen 2000er Jahre im deutschsprachigen Raum zunächst als „erotische Unterhaltungsliteratur“ (Finck 2021) präsentiert, rückt man heute in der Übersetzung die ‚soziologischen‘ Prägungen ihrer Texte und ihrer Schreibweise in den Fokus. Wenn diese Wende im Zeichen einer erhöhten Sensibilität für die Klassensoziologie Bourdieus steht, wie manifestiert sich diese Aufmerksamkeit in der translatorischen Praxis? Bevor anhand der Analyse einer frühen Ernaux-Übersetzung der Werdegang dieser Autorin im deutschsprachigen Raum vom Feld der Unterhaltungsliteratur in das der Höhenkammliteratur nachgezeichnet wird, sollen im Folgenden einige Anmerkungen und Beobachtungen zur Translationsproblematik des autosoziobiographischen Schreibens zusammengetragen werden. Anmerkungen zur Translationsproblematik autosoziobiographischer Texte und des ‚soziologischen Schreibens‘ von Ernaux Bekanntermaßen hat sich Ernaux im Laufe ihrer schriftstellerischen Karriere eine Schreibweise zu eigen gemacht, die den Gestus des Exponierens und Beschreibens DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 77 Dossier sozialer Phänomene und ihrer persönlichen Gefühlswelt in den Fokus rückt. Ernaux selbst hat diesen deskriptiven Stil (oder Nicht-Stil), der sich von ästhetisierenden Elementen, von literarischen Überformungen und historisch geprägten Konnotationen befreit, in einem Buch über ihren Vater (La place) als „écriture plate“ bezeichnet (Ernaux 1983: 24). Wie in vielen ihrer Texte wird dieser Schreibstil auch in Passion simple - einem Text, auf den wir später noch zurückkommen - akzentuiert: Il n’y a naturellement ici, dans l’énumération et la description des faits, ni ironie ni dérision, qui sont des façons de raconter les choses aux autres ou à soi-même après les avoir vécues, non de les éprouver sur le moment […]. Je ne veux pas expliquer ma passion […] mais simplement l’exposer (Ernaux 2011a: 667, Herv. R. L.). Dieser dokumentarische Gestus, mit dem sich Ernaux außerbzw. unterhalb des Literarischen stellt, schließt auch formale Aspekte ein. Ernaux hat sich dabei gegen die kohärente und ‚bürgerliche‘ Form des Romans gewandt und praktiziert in ihren Texten einen fragmentarischen, notizenhaften Stil, der (oft im Tagebuchformat) Beobachtungen, Momentaufnahmen und Alltagsszenen zusammenträgt. Diese stilistischen und formalen Entscheidungen spiegeln ein soziologisches Anliegen wider - den Anspruch, das ,sozial Verdrängte‘ in der Gesellschaft sichtbar zu machen, wobei sie hierfür bekanntermaßen auf die Konzepte des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, wie etwa den Habitus-Begriff, zurückgreift, um Klassengegensätze, soziale Distinktionsmechanismen, die Hürden des gesellschaftlichen Aufstiegs oder das Gefühl der sozialen Scham zu beschreiben: „[l]es textes de Bourdieu ont été pour moi un encouragement à persévérer dans mon entreprise d’écriture, à dire, entre autres, ce qu’il nommait le refoulé social“ (Ernaux 2011b: 913). Folgerichtig ist die Frage formaler und stilistischer Übersetzungsentscheidungen hier eng an eine diskursive Dimension gekoppelt, die sich um die Rezeption der Bourdieu’schen Klassensoziologie dreht. Als Ernaux in den 1970ern zu publizieren begann, war diese Theorie im intellektuellen Diskurs Frankreichs zwar anerkannt, hatte aber in der Literatur einen schweren Stand. Grund hierfür war im Wesentlichen die Dominanz eines Literaturideals, das sich in Gestalt des Nouveau Roman von der Darstellung und Analyse sozialer Verhältnisse verabschiedet hatte. Zwar gelang Ernaux der Aufstieg zu einer etablierten Schriftstellerin, die renommierte Literaturpreise gewann, dennoch wurde (und wird) sie immer wieder mit massiver Kritik konfrontiert, was die Literaturwürdigkeit ihrer Themen und ihres Schreibstils angeht (cf. Charpentier 1994). Sie ist im deutschsprachigen Raum auch deshalb vergleichsweise spät beachtet worden, weil die Bourdieu’sche Gesellschaftstheorie in der deutschen Soziologie nach dem ausgerufenen ‚Ende der Klassengesellschaft‘ im späten 20. Jahrhundert überaus kritisch gesehen wurde (cf. Schultheis 2020). Dass sich dieser Umstand mittlerweile geändert hat, ist zum einen literarischen Entwicklungen geschuldet, z. B. der intensiven Rezeption von Autoren wie Eribon, verdankt sich zum anderen auch einer aufstrebenden Soziologie der Abstiegsgesellschaft (Nachtwey 2016), die sich mit Phänomenen der Klassenbildung in der Gegenwart auseinandersetzt. 1 78 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 Dossier Eine interessante Frage ist, ob und inwieweit sich diese diskursiven Makrokontexte auch in den Übersetzungen zeitgenössischer französischer Autosoziobiographien manifestieren. Hierfür wären ausführliche Werkanalysen nötig. Wir beschränken uns im Folgenden jedoch auf einige Anmerkungen zur Übersetzungspraxis von Schlüsselbegriffen der französischen Klassensoziologie, wie den schwer zu übersetzenden Begriff der ‚classes populaires‘. 2 Dieser wurde historisch betrachtet im Deutschen (je nach Kontext) zumeist mit einer ganzen Reihe von Termini wie ‚einfaches Volk‘, ‚Volksschichten‘, ‚Unterschicht‘ oder ‚Arbeiterklasse‘ wiedergegeben. Schaut man sich die Übersetzungen der Texte von Eribon oder Louis an, so stößt man hier auf den Begriff der ‚populären Klassen‘, der z. B. in der von Tobias Haberkorn besorgten Übertragung von Retour à Reims noch vom französischen Originalbegriff begleitet wird. So heißt es darin: „Aus tiefer Ablehnung von allem, was nach einem Aufbegehren oder einer Mobilisierung der populären Klassen (classes populaires) aussah“ (Eribon 2016: 92sq.). 3 Diese Übersetzung ist nicht unproblematisch, zumal der Begriff des ‚Populären‘ im deutschsprachigen Raum zum Teil andere Assoziationen weckt, beispielsweise zu den „(meist schlechten) Eigenschaften oder Vorlieben der ,Masse‘“ (Hecken 2007: 198), zum negativ konnotierten Begriff der Massenkultur (der Frankfurter Schule) oder aber zum Begriff der (positiver besetzten) ‚Popkultur‘, der im Zuge des Aufstiegs der Cultural Studies Verbreitung gefunden hat (cf. Hecken 2007). Zudem impliziert der französische Terminus ‚populaire‘ - neben einem sozialen, politischen und kulturellen Unterdrückungsaspekt 4 - seit den Zeiten der Französischen Revolution semantisch zugleich eine ganze politischemanzipatorische Tradition, die das deutsche ‚populär‘ nicht abdeckt. 5 Durch die Wahl des Begriffs ‚populäre Klassen‘ wird also offenkundig versucht, problematische Wertungen, wie sie den Termini der ‚Volksschichten‘ (mit seiner ethnischen Komponente) oder der ‚Unterschicht‘ bzw. dem ‚einfachen Volk‘ inhärent sind, zu vermeiden. Im Grunde genommen scheint dieser Übersetzungsvorschlag ein Beleg für die erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität zu sein, die man im deutschsprachigen Literaturdiskurs mittlerweile der Bourdieu’schen Gesellschaftstheorie entgegenbringt. In dieser spielt der Begriff des ‚Populären‘ bekanntermaßen eine wichtige Rolle, wenn man an den Gegensatz zwischen ,legitimer Kultur‘ und ,populärer Ästhetik‘ aus La distinction denkt (Bourdieu 1979: 31-36). 6 Wenn nun mit der Wahl des Begriffs ‚populäre Klassen‘ in der Übersetzung eine stärkere Akzentuierung kultureller Abgrenzungskriterien zwischen den sozialen Schichten verbunden ist (die im Übrigen im Einklang mit den Theoremen der singularisierten Gesellschaft steht, cf. Reckwitz 2019), so verweist die Doppelung von Übersetzung und Originalbegriff in diesem Zusammenhang auf die nur bedingte Vergleichbarkeit französischer und deutscher Gesellschaftsauffassungen und Kategorisierungen sozialer Schichtungen. 7 Zu beobachten ist, dass der Begriff im Zuge der ‚Wiederentdeckung‘ der Bourdieu’schen Soziologie im deutschsprachigen Raum eine neue Problematisierung erfährt, die sich in den Bourdieu-Übersetzungen selbst abbildet. Ohne hier auf umfangreiche Werkanalysen zurückgreifen zu können, zeichnet sich die Tendenz ab, DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 79 Dossier den Begriff des Populären ausgehend von seiner bei Bourdieu zu beobachtenden Relationalität in der Übersetzung zu kontextualisieren und ihn flexibel wiederzugeben. So heißt es im Übersetzerkommentar zur deutschen Neuausgabe des Aufsatzes „Vous avez dit ‚populaire‘? “ (Bourdieu 1983): Der französische Begriff populaire wird hier […] im Gegensatz zur ersten deutschen Veröffentlichung [in: Gebauer, Gunter / Wulf, Christoph (ed.) Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Bourdieus, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1993, 72-92, aus dem Französischen von Yvonne Ehrenspeck und Gunter Gebauer] je nach Kontext mit „populär“, „volkstümlich“ oder „Volks“+Substantiv wiedergegeben. Dort, wo das französische Adjektiv populaire isoliert steht und eine eindeutige deutsche Übersetzung eine Einschränkung darstellen würde, wurde der schillernde französische Ausdruck beibehalten (Bourdieu 2017: 18, Anm. d. Ü.). 8 Dieser relationale Charakter von populaire, der seine exakte Bedeutung zumeist in Opposition zu Begriffen wie ‚bürgerlich/ Bürgertum‘, ‚herrschende Klasse‘ gewinnt, erweist sich folglich gleichermaßen als Inspirationsquelle für eine neue (übersetzerische) Sichtweise auf die französische Soziologie sowie als eine Herausforderung für die Übersetzung der zeitgenössischen Klassenliteratur. Und dennoch sollte die Wirkung soziologischer und akademischer Diskurse auf den konkreten Übersetzungsstil literarischer Texte nicht überbewertet werden. Die Ernaux-Übersetzerin Finck betont in diesem Zusammenhang vielmehr den Einfluss von „journalistisch-feuilletonistischen“ Stilen und Quellen. Bourdieu’sche Begriffe wie ‚Distinktion‘, die im Französischen „auch in der Alltagssprache verständlich“ seien, gehörten, so Finck, im Deutschen hingegen zum soziologischen Fachvokabular: […] für mich sind die journalistisch-feuilletonistischen Ansätze relevanter, weil der Schreibstil mir auf der Suche nach konkreten semantischen oder syntaktischen Lösungen mehr hilft als der akademische Stil. Neulich habe ich allerdings einmal wissenschaftliche Texte hinzugezogen, als ich vor der Frage stand, wie das französische Wort ‚précarité‘ am besten zu übersetzen ist. Da habe ich überlegt: Ist ‚Prekarität‘ schon zu wissenschaftlich, nicht literarisch genug? Sage ich doch lieber ‚soziale Unsicherheit‘? Édouard Louis benutzt einige Begriffe, die aus der sozialwissenschaftlichen Theorie kommen, aber man muss diese Fachterminologie gut dosieren. Ich schreibe nicht immer ‚Distinktion‘, wenn Louis von ‚distinction‘ spricht, weil das Wort im Französischen auch in der Alltagssprache verständlich ist, während es im Deutschen ein Fachbegriff ist (Finck 2023). Die erwähnten feuilletonistischen Quellen stellen also eine Brücke dar, die fachmit allgemein- oder im weitesten Sinne bildungssprachlichen Verwendungsebenen verbindet. 9 Écriture (plate bzw. distanciée) als Herausforderung Im Fall von Ernaux wiegen die erwähnten terminologischen Übersetzungsproblematiken jedoch weniger schwer - nicht zuletzt, weil sie im Vergleich zu Louis und vor allem zu Eribon (und dessen akademisch inspirierter Schreibweise) 10 seltener soziologische Fachbegriffe benutzt und auch auf den Begriff der ‚Klasse‘ in der Regel 80 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 Dossier verzichtet. 11 Der Einfluss von Bourdieus Denken manifestiert sich bei Ernaux stärker und unmittelbarer als bei Eribon auf der Ebene des Schreibens, wenn man an den Begriff der écriture distanciée denkt: „II m’a aidée à concevoir ce que j’appelle ‚l’écriture distanciée‘ (plutôt que ‚plate‘), depuis ma place d’écartelée entre deux mondes sociaux. Il m’a renforcée dans ma détermination à chercher une voie d’écriture entre le personnel et l’impersonnel […]“ (Ernaux 2010: 27). 12 Man könnte sagen, dass Ernaux mit Verweis auf Bourdieu einen spezifischen (distanzierten) Blick konstruiert, der unmittelbar in den Strukturen des Schreibens selbst zum Ausdruck kommt. Eine solche ‚egalisierende‘ écriture macht nicht nur Unterschiede in der Wahrnehmung und Klassifikation des Sozialen sichtbar, sondern versucht sie aktiv zu überwinden. So ging und geht es ihr darum, mit poetologischen und zugleich sozialen Hierarchien zu brechen, „en écrivant de manière identique sur des ,objets‘ considérés comme indignes de la littérature, par exemple les supermarchés, le RER, l’avortement, et sur d’autres, plus ,nobles‘, comme les mécanismes de mémoire, la sensation du temps, etc., et en les associant“ (Ernaux 2003: 81). Dass den sprachlichen Aspekten (der Sprachästhetik und der Syntax) im Rahmen einer literarischen „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière 2006) ein essenzieller Wert zukommt, ist in der Übersetzungsdebatte zu Ernaux mittlerweile anerkannt. 13 Und dennoch wäre mit Blick auf die eingangs identifizierte translatorische Wende in der Ernaux-Übersetzung zu fragen, inwiefern sich Ernaux’ Sensibilität für sprachliche, ästhetische und kognitive Muster, mit denen das Soziale dargestellt wird, in frühen Übersetzungen ihrer Werke niederschlagen haben. Hierzu soll die Übersetzung von Passion simple (1991) betrachtet werden. Vollkommene Leidenschaft: Die Übersetzung von Passion simple als Element eines frühen Ernaux-fashioning im deutschsprachigen Raum In Passion simple beschreibt Ernaux eine Affäre, die sie im Zeitraum von 1988 bis 1989 mit einem jungen Mann, einem sowjetischen Diplomaten, in Paris hatte. In einer an Tagebucheinträge erinnernden Form berichtet sie, wie sich diese Leidenschaft zu einer emotionalen Abhängigkeit auswächst und den ganzen Alltag der Ich- Erzählerin in Beschlag nimmt. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht die Affäre als solche, sondern das Vorher und Nachher - das Warten auf das nächste Rendezvous. 14 Die französische Version erschien 1991 bei Gallimard (Abb. 1). Ein Jahr später folgte die deutsche Version mit dem Titel Eine vollkommene Leidenschaft. Die Geschichte einer erotischen Faszination, übersetzt von Regina Maria Hartig, bei Fischer (Abb. 2), die 2004 bei Goldmann erneut aufgelegt wurde (Abb. 3). Titel und Cover der Fischer-Ausgabe sind, wie eingangs erwähnt, dem Genre ‚erotische Unterhaltungsliteratur‘ zuzuordnen, was durch das Design der Goldmann-Ausgabe optisch noch erkennbar unterstrichen wurde. 15 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 81 Dossier Abb. 1-3: Buchcover der Ernaux-Ausgaben Die Eigenheiten von Titeln, die als „metakommunikative Einheiten“ in der Übersetzung in besonderem Maße zielkulturellen Funktionen unterliegen (cf. Nord 1993: 30), lassen nicht immer weitreichende Rückschlüsse auf konkrete Übersetzungspolitiken zu bestimmten Autorinnen und Autoren zu. Dennoch haben Titel als paratextuelle Marker (cf. Genette 1987) einen hohen symbolischen und kommunikativen Wert, weil sie - in Verbindung mit dem Cover - ein Buch einem bestimmten Feld (z. B. der anspruchsvollen Literatur oder der Massenliteratur) zuordnen und auf diese Weise Rezeptionshaltungen prägen. Im Falle der deutschen Übersetzung von Passion simple hat die Ausrichtung von Titel und Untertitel auf ein Massenpublikum (cf. Jurt 2020: 24) zur Folge, dass mögliche ,hochkulturelle‘ Reminiszenzen - „intertextuelle“ bzw. „intertitulare“ Verweise (cf. Nord 1993: 40) auf die französische Literaturtradition, die der schlichte Originaltitel enthält - getilgt werden. In erster Linie drängt sich hier Flauberts Novelle Un cœur simple (dt.: Ein schlichtes Herz) auf, in der vermeintliche Banalitäten wie die Gefühlswelt einer Haushaltshilfe Eingang in die anspruchsvolle Literatur finden. Schon Rancière (2014) hatte diesen Text als Musterbeispiel für den Bruch mit einer traditionellen Repräsentationsordnung begriffen, die zwischen vermeintlich literaturunwürdigen und -würdigen Sujets unterscheidet - eine ‚Enthierarchisierung‘, die, wie dargestellt, eines der zentralen poetologischen (und politischen) Anliegen des Ernaux’schen Œuvres bildet. Grob betrachtet sollten die Übersetzungen von Texten wie Passion simple in das Raster einer kommerziell erfolgreichen ‚weiblichen‘ Literatur aus Frankreich integriert werden. Dieses war im deutschsprachigen Raum der frühen 1990er Jahre von Romanen wie Benoîte Groults Les vaisseaux du cœur (Paris, 1988, dt.: Salz auf unserer Haut, 1989) geprägt. 16 Solche Texte wurden gezielt als eine neue, ‚emanzipierte‘ Form erotischer Frauenliteratur vermarktet. Sie handeln von selbstbestimmten, intellektuellen Frauenfiguren, die sich über gesellschaftliche Konventionen 82 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 Dossier hinwegsetzen und Beziehungen zu jüngeren Männern eingehen (Groults Roman thematisiert die Liaison einer Pariser Intellektuellen mit einem bretonischen Fischer). Insofern sind sie weit mehr als nur erotische Unterhaltungsliteratur und trafen mit ihrem selbstbewussten, freiheitlichen Frauenbild vor allem in nordeuropäischen Ländern den gesellschaftlichen Zeitgeist. 17 In der Goldmann-Neuauflage von 2004 versuchte man durch den paratextuellen Zusatz „für alle Leser von Catherine Millet und Zeruya Shalev“ (Ernaux 2004: Klappentext), die Ernaux-Übersetzung mit Bestsellern wie Catherine Millets autobiographischer Erzählung La vie sexuelle de Catherine M. (2001) in Verbindung zu bringen, deren deutsche Version 2001 ebenfalls bei Goldmann veröffentlicht wurde. Diese Verknüpfung einer Autorin, der in jener Zeit in Frankreich bereits der Status einer „arrivierten Bestseller-Autorin“ (Schwan 2016: 221) zukam, mit einer Autorin wie Millet, die ihr literarisches Erstlingswerk veröffentlichte, mag auf den ersten Blick verwundern, galt doch Passion simple als eine Art Vorreiter einer ganzen Serie „transgressiver ,Intimographien‘ weiblichen Begehrens“ 18 wie Virginie Despentes’ Baisemoi (1994), Christine Angots L’inceste (1999) oder Millets La vie sexuelle. Diese erzielten „im literarischen Frankreich der Jahrtausendwende enorme Popularität“ (Schwan 2016: 221) und stellten - nicht zuletzt aufgrund ihres im Vergleich zu Passion simple deutlich transgressiveren und skandalträchtigeren Inhalts oder Tons - Ernaux’ Texte in den Schatten. 19 Passion simple und Vollkommene Leidenschaft: ein Vergleich Zu fragen ist nun, ob und inwiefern sich diese gestalterische und paratextuelle Ausrichtung der deutschen Version von Passion simple auch inhaltlich manifestiert. Cover und Paratexte der Übersetzung deuten jedenfalls auf ein Interesse an Passion simple hin, das sich auf die Ebene des Inhalts, und hier vor allem auf die erotischen und alltäglichen Dimensionen des Begehrens, fokussiert. Zu bedenken ist jedoch, dass sich die Reflexion dieses Begehrens in Passion simple bis in die sprachlichen und formalen Strukturen des Textes hineinzieht. Dieser selbstreflexiven Dimension des Textes scheint in der Fischer-Goldmann-Übersetzung jedoch wenig Beachtung geschenkt worden zu sein, was im Folgenden an zwei Beispielen illustriert werden soll. 1. Ein bevorzugtes (Anti-)Stilmittel, mit dem Ernaux in Passion simple (wie auch in den meisten ihrer Texte) Konventionen des Erzählens unterläuft, ist der Gebrauch von Listen bzw. listenhaften Aufzählungen. Diese Praxis der Notation, die auf jegliche Interpunktion verzichtet, spiegelt und verstärkt auf formaler und visueller Ebene den zentralen Gestus der Selbstdistanz, des Beschreibens und Protokollierens ihrer Leidenschaft. Das Aufzählen einfachster Verrichtungen akzentuiert die Routine und die Monotonie, die zwischen den Begegnungen mit ihrem Liebhaber herrscht. Die Liste steht zum einen sinnbildlich für die ‚Banalität‘ der Leidenschaft. Zum anderen verdeutlicht sie, wie sehr die Ich-Erzählerin von ihrer Leidenschaft beherrscht wird: DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 83 Dossier Les seules actions où j’engageais ma volonté, mon désir et quelque chose qui doit être l’intelligence humaine (prévoir, évaluer le pour et le contre, les conséquences) avaient tous un lien avec cet homme: lire dans le journal les articles sur son pays (il était étranger) choisir des toilettes et des maquillages lui écrire des lettres changer les draps du lit et mettre des fleurs dans la chambre noter ce que je ne devais pas oublier de lui dire, la prochaine fois, qui était susceptible de l’intéresser acheter du whisky, des fruits, diverses petites nourritures pour la soirée ensemble imaginer dans quelle pièce nous ferions l’amour à son arrivée (Ernaux 2011a: 660). In der Fischer- und Goldmann-Übersetzung wird dieses Stilmittel der listenhaften Aufzählung, das in Passion simple des Öfteren auftaucht, nicht nur optisch deutlich geglättet, sondern durch die Hinzufügung von Interpunktionen stilistisch konventionalisiert: Die einzigen Handlungen, bei denen ich meinen Willen, meine Begierde und eine Fähigkeit einbrachte, bei der es sich um die menschliche Intelligenz handeln musste (vorausschauen, das Für und Wider und die Folgen abwägen), bezogen sich allesamt auf diesen Mann: Wenn ich in der Zeitung Artikel über seine Heimat las - er war Ausländer; Kleidung und Makeup auswählte; ihm Briefe schrieb; die Bettlaken wechselte und Blumen ins Schlafzimmer stellte; notierte, was ihn möglicherweise interessierte und was ich das nächste Mal nicht vergessen durfte, ihm zu sagen; Whisky, Obst und verschiedene kleine Imbisse für den gemeinsamen Abend kaufte; mir vorstellte, in welchem Zimmer wir uns nach seiner Ankunft lieben würden. (Ernaux 2004: 10). 2. Ernaux’ Sätze klingen in Passion simple oft mit der Aufzählung von Details aus, in denen gewöhnliche Vorbereitungen auf das nächste Rendezvous beschrieben werden. Es sind vermeintliche Banalitäten wie „duschen“, „Gläser hinstellen“, „Nägel lackieren“, „durchwischen“, die für Ernaux das Wesen ihrer Leidenschaft bilden, die aber in der kanonischen Literatur für gewöhnlich abwesend sind: S’il m’annonçait qu’il arrivait dans une heure - une ,opportunité‘, c’est-à-dire un prétexte pour être en retard sans donner de soupçons à sa femme -, j’entrais dans une autre attente, sans pensée, sans désir même (au point de me demander si je pourrais jouir), remplie d’une énergie fébrile pour des tâches que je ne parvenais pas à ordonner: prendre une douche, sortir des verres, vernir mes ongles, passer la serpillière (Ernaux 2011a: 661, Herv. R. L.). Diese Aufzählungen sind in der deutschen Übersetzung zwar enthalten, werden aber oft verschoben und stärker in die Mitte der Sätze gerückt: Wenn er mir ankündigte, dass er in einer Stunde kommen werde - eine ,günstige Gelegenheit‘, also ein Vorwand, zu Hause zu spät zu kommen, ohne bei seiner Frau Verdacht zu erregen -, dann verfiel ich in eine andere Art Anspannung: Ohne einen konkreten Gedanken fassen zu können, ja nicht einmal ein sexuelles Begehren zu empfinden (würde ich in diesem 84 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 Dossier Zustand überhaupt einen Orgasmus erleben können? ), stürzte ich mich in fieberhafte Aktivitäten - duschen, Gläser herausstellen, meine Nägel lackieren, überall abwischen -, ohne dass es mir gelang, all das geordnet durchzuführen (Ernaux 2004: 13, Herv. R. L.). Mit diesen syntaktischen Umstellungen wird der charakteristische Ausklang - die Aufzählung der einfachen Handlungen oder Vorgänge, die das Vorspiel des Treffens bilden und die durch ihre Position am Satzende zusätzlich akzentuiert werden - verfälscht. Die „strukturelle Nähe“ zum Original, die bei Ernaux von entscheidender Bedeutung ist (cf. Finck 2023), ist durch diese Umstellungen entscheidend beeinträchtigt. Ernaux: Von der ‚Vorreiterin‘ zur ,Nachzüglerin‘ durch Übersetzung? Das Ausmaß solcher translatorischen Entscheidungen und ihre Einflüsse auf die ‚frühe‘ Präsentation und Rezeption von Ernaux im deutschsprachigen literarischen Feld müsste freilich weiter untersucht werden. Jedoch deuten bereits die erwähnten Textbeispiele darauf hin, dass einige wichtige Unkonventionalitäten ihres soziologisch informierten Schreibens, mit denen die Autorin romaneske Erzähltraditionen unterläuft - allen voran das Stilmittel der Liste - in den frühen Übersetzungen erheblich geglättet und konventionalisiert wurden. Mit diesen stilistischen Eingriffen wird nicht nur die Ästhetik und Form ihrer Texte, sondern auch ihr soziologischer und politischer Gehalt abgeschwächt. Man findet in den Übersetzungen also klare Indizien dafür, dass das Label der erotischen Frauenliteratur, das paratextuell und optisch figuriert wird, einige der Kernanliegen ihres Schreibens in den Hintergrund rückt. Gemeint ist hier vor allem der Anspruch, sich literarisch zur ‚Ethnologin ihrer selbst‘ zu machen. Die Tatsache, dass - international betrachtet - heutzutage Eribon und Louis als Hauptvertreter der autosoziobiographischen Literatur Frankreichs gelten (cf. Jurt 2020), mag jedenfalls auch solchen Vermarktungsstrategien geschuldet sein, die das gesellschaftsanalytische und transgressive Potenzial ihrer Texte auf den Kontext der weiblichen Sexualität und ihrer Emanzipation reduzierten. Dass Ernaux auch im deutschsprachigen Raum mittlerweile im Feld der anspruchsvollen Literatur angekommen ist, hat Jurt (2020: 25) wesentlich auf die Fürsprache Eribons beim Suhrkamp-Verlag zugunsten der Autorin zurückgeführt. Zugespitzt formuliert hat also vor allem die intensive Rezeption der Autosoziobiographien von Eribon und Louis die ‚(Wieder-)Entdeckung‘ dieser Autorin erst ermöglicht. 20 In der Tat setzt im Jahr 2016, unmittelbar nach dem Erscheinen von Eribons Rückkehr nach Reims, 21 in dem Ernaux als Inspirationsquelle genannt wird, ein regelrechter Boom von (Neu-)Übersetzungen ihrer Texte ein. Nach ihrem Wechsel zu Suhrkamp im Jahr 2017 erschienen bis 2022 gleich sieben Titel in einer (Neu-)Übersetzung von Sonja Finck, angefangen mit Die Jahre (2017), auf das auch Eribon in Retour à Reims verweist. Auf den Umstand, dass diese ‚zweite‘ Ernaux-Rezeption als ,Qualitätsautorin‘ von einem ,neuen‘, strukturell und stilistisch deutlich enger an den Ausgangstexten orientierten Übersetzungsansatz begleitet und gefördert wird, wurde DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 85 Dossier bereits hingewiesen. Um diesen stilistischen Wandel, der in seinem konkreten translatorischen Ausmaß noch ausführlicher zu untersuchen bleibt, zu verdeutlichen, reicht bereits ein Blick auf die Titel der deutschen Übertragungen von Une femme (1987): Das Leben einer Frau (Ernaux 1993); Gesichter einer Frau (2007); Eine Frau (2019). 22 Im Grunde scheint jedoch bereits die Übersetzung eines Textes wie Passion simple eine Tendenz vorwegzunehmen, die sich in den Jahren nach dem Erscheinen von Rückkehr nach Reims auf dem Feld der Autosoziobiographie zeigt: dass eine Autorin, die Vorreiterin literarischer Entwicklungen war, im deutschsprachigen Raum zu einer Nachzüglerin wurde. Angot, Christine, L’inceste, Paris, Stock, 1999. Banoun, Bernard / Haberkorn, Tobias / Hoffmann, Yasmin / Reinprecht, Christoph, „Traduire, lire et étudier Retour à Reims dans les pays germanophones“, Table ronde, in: lendemains, 180, 2020, 140-149. Bourdieu, Pierre, La distinction. 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Zwar operiert diese Soziologie nicht immer bzw. unmittelbar mit Bourdieu’schen Konzepten, aber sie legt in ihrer Herangehensweise an die soziale Welt Klassenperspektiven zugrunde. 2 Dieser Terminus hat mittlerweile historische Begriffe zur Bezeichnung der unteren sozialen Schichten wie classes inférieures / basses classes und das als überholt geltende Konzept einer homogenen classe ouvrière ersetzt und seit Beginn der 2000er Jahre einen Wandel durchlaufen. Durch Zusätze wie nouvelles oder contemporaines wird in der französischen Soziologie versucht, einerseits die ökonomischen und kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen ouvriers und employés, andererseits die zunehmende Diversifizierung der unteren Schichten zu betonen. Diese Diversität schließt im Vergleich zum stark auf die Gruppe der (männlichen, weißen) Industriearbeiter bezogenen Konzept der Arbeiterklasse auch Gruppen und Kategorien der (unteren) Angestellten und Selbständigen, der Frauen sowie Migrantinnen/ Migranten ein (cf. Siblot et al. 2015). In der zeitgenössischen deutschen Soziologie kursieren Begriffe wie prekäre Klasse (Reckwitz 2019), die sich semantisch jedoch nur zum Teil mit den erwähnten französischen Termini decken. DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 87 Dossier 3 Im weiteren Verlauf des Textes fällt der französische Begriff weg. 4 Zum Begriff populaire als Gesamtheit dessen, was aus dem ‚legitimen Sprachgebrauch‘ ausgeschlossen ist, cf. Bourdieu 1983: 98. 5 Auf den Umstand, dass der Begriff des ‚Populären‘ sich in der Literatur und Wissenschaft Frankreichs semantisch zwischen den Polen der miserabilistischen Inferiorisierung und der populistischen Emphase bewegt, haben Grignon und Passeron (1989) hingewiesen. 6 Bekanntermaßen wurde die Bourdieu-Rezeption in Deutschland durch die Publikation der deutschen Übersetzung von La distinction (Die feinen Unterschiede, 1982) ausgelöst (cf. Fröhlich/ Rehbein/ Schneickert 2014: 381). Zwar sind Bourdieus Theorien im Rahmen einer Soziologie des Übersetzens als analytische Kategorien in das translationswissenschaftliche Feld eingeflossen. Die Übersetzungen seiner Werke sind meines Wissens aber bis heute nicht systematisch aufgearbeitet worden. 7 Begriffe wie ‚Mittel-‘ oder ,Unterschicht‘ werden in Frankreich - vor allem im Singular - kaum benutzt. Hingegen ist im Deutschen der im Französischen geläufigere Plural (classes populaires, classes moyennes etc.) deutlich seltener zu finden. 8 Schon in früheren Bourdieu-Übersetzungen, etwa von La distinction, ist ein solches flexibles Vorgehen erkennbar (Bourdieu 1982: 44). 9 Da die Übertragung der Werke von Eribon, Louis und Ernaux nur von wenigen ‚Expertinnen‘ und ,Experten‘ für autosoziobiographische Literatur besorgt wird, wäre es interessant, den stilistischen und lexikalischen Einfluss dieser Akteure auf die Rezeption der französischen ,Klassenliteratur‘ ausführlicher und langfristiger zu untersuchen. 10 Zur Übersetzungsproblematik von Eribons Retour à Reims cf. Banoun et al. 2020. 11 Der von Ernaux gebrauchte Begriff der „race“ (Ernaux 2011c: 550), der Familie und Herkunftsmilieu bezeichnet, legt den Fokus weniger auf politische, sondern vielmehr auf eine anthropologische und ethnologische Dimension sozialer Ungleichheiten. 12 Cf. hierzu auch ihre 2008 erschienene unpersönliche Autobiographie Les années. 13 Cf. Finck 2023. Die mit den sprachlichen Entscheidungen verknüpften Herausforderungen in der Übersetzung der Ernaux’schen Texte - neben dem Verzicht auf idiomatische Wendungen ist hier vor allem die komplexe Syntax gemeint - werden am Beispiel syntaktischer Strukturen unten im Übersetzungsvergleich thematisiert. 14 „À partir du mois de septembre l’année dernière, je n’ai plus rien fait d’autre qu’attendre un homme […]“ (Ernaux 2011a: 660). 15 Zwar existieren auch in Frankreich Cover ihrer Texte, die man als erotisch bezeichnen kann. Dennoch hatte sich Ernaux schon seit den 1980er Jahren einen Ruf als ‚soziologische‘ Autorin erarbeitet. Ihre Werke konnten daher vom Publikum entsprechend eingeordnet werden, auch weil sie im angesehenen Gallimard-Verlag erschienen. 16 Groults Roman hielt sich im Zeitraum von 1989 bis 1991 ganze 61 Wochen lang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste (Wikipedia 2022). 17 Wenn man an Texte wie Passion simple oder Se perdre (2001) denkt, sind es die aus solchen Konstellationen resultierenden psychologischen Ambivalenzen (die neuen emotionalen Abhängigkeiten, in die diese Frauen geraten), die Ernaux interessieren. 18 Der Begriff der ‚Intimographie‘ stammt von Karen Struve (2005). 19 Das hohe internationale Interesse, das diese Debütromane mit ihren zum Teil expliziten Darstellungen sexueller Praktiken weckten, und der große Erfolg der Übersetzungen dieser Texte (Virginie Despentes, Baise-moi = Fick mich, trad. Kerstin Krolak / Jochen Schwarzer, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2002; Christine Angot, Inzest, trad. Christian Ruzicska, Frankfurt a. M., Fischer, 2002) mögen wesentliche Gründe für die Neuauflage der deutschen Fassung von Passion simple bei Goldmann gewesen sein - eines Textes, von dem in Frankreich beachtliche 300.000 Exemplare verkauft wurden (Schwan 2016: 221), der 88 DOI 10.24053/ ldm-2023-0007 Dossier aber, wie die spärliche Rezeption der Fischer-Übersetzung zeigt, im deutschsprachigen Raum bis dato wenig Beachtung fand. 20 Finck (2023) relativiert diesen Einfluss. Ihr zufolge waren die Übersetzungsrechte an Les années schon vor Erscheinen von Rückkehr nach Reims vergeben. 21 Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule wurde bereits 2015 ins Deutsche übersetzt: Édouard Louis, Das Ende von Eddy, trad. Hinrich Schmidt-Henkel, Frankfurt a. M., Fischer, 2015. 22 Annie Ernaux, Das Leben einer Frau, trad. Regina Maria Hartig, Frankfurt a. M., Fischer, 1993; Gesichter einer Frau, trad. Regina Maria Hartig, München, Goldmann, 2007; Eine Frau, trad. Sonja Finck, Berlin, Suhrkamp, 2019.
