eJournals lendemains 48/189

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0008
0923
2024
48189

Travailleurs, peuple, populace – Victor Hugo und ‚sein Volk‘

0923
2024
Walburga Hülk
ldm481890089
DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 89 Dossier Walburga Hülk Travailleurs, peuple, populace - Victor Hugo und ‚sein Volk‘ Das Populäre ist populär, wie sich, neben vielen anderen Phänomenen des Kulturbetriebs, in der aktuellen Welle der Klassenliteratur in Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien zeigt. Dabei geht es nicht um Statistiken, sondern um ein Narrativ, das zumeist in Erzählungen und Romanen, Soziofiktionen und Autosoziofiktionen über Herkunft, über Alltags- und Arbeitswelt, Geld, feine Unterschiede und Scham ausgefaltet wird. Die Klassenliteratur handelt von Milieus, in denen Armut, Not, misères den Alltag bestimmen, in denen Aufstiegsträume blühen, Klassenflucht und -aufstieg jedoch nicht so unwahrscheinlich sind, wie man denken könnte. Die Literatur, die diesem Trend zugeordnet wird, erzählt also von der sozialen Klasse, die heute je nach Blickwinkel oft Prekariat oder auch Unterschicht genannt wird. Niemand würde Christian Krachts Romane, in denen der Reichtum bizarre Formen annimmt und zu einem ganz anderen Elend führt, diesem Trend zuordnen. Es geht vielmehr um Knappheit, nicht um Überfluss. Der klassenkämpferische Begriff des 19. Jahrhunderts, ‚Proletariat‘, ist hingegen aus heutigen Elendsnarrativen verschwunden, während man in der Literatur durchaus dem Wort ‚Arbeiter‘ oder ‚ouvrier‘ begegnet. Dieses wiederum ist aus der politischen Sprache und aus der Soziologie weitgehend verschwunden, wohl deshalb, weil es heute gerade die Deindustrialisierung und das langsame Verschwinden der mechanischen Fabrikarbeit sind, die Armut hervorbringen. In der Entstehungszeit des Begriffs ‚Proletariat‘ und der Hochzeit der Industriearbeit, also in der Mitte des 19. Jahrhunderts, hatte das Populäre Konjunktur. Victor Hugo ist dessen Ahnherr und kann, neben Eugène Sue, als ‚Erfinder‘ des Populären in der Moderne gelten. Er ist außerdem derjenige, der das Spektrum des Populären in unsterblichen Werken, zuvörderst den Misérables, ganz ausschöpfte. Die Faszinationskraft dieses 1862 erschienenen Romans, die schon damals von den Massen in Frankreich und von der Weltöffentlichkeit erlebt wurde, zeigt sich bis heute in populären Medien vom Musical bis zum Comic, neben einer Fülle von Filmen, auch aus den letzten Jahren, so etwa in Tom Hoopers gleichnamiger Musical- Verfilmung von 2012 oder in Ladj Lys Banlieue-Film von 2019. Kein Werk aus dem 19. Jahrhundert ist populärer als Les Misérables, und kaum jemand zögert, von einem Jahrhundertroman zu sprechen. Wer also vom Populären spricht, zumal vom Populären in der Moderne, spricht einerseits vom Stoff und seiner medialen Gestaltung, andererseits von seiner augenblicklichen massenmedialen Wirkung und seinem langen Nachleben. An Victor Hugo kommt man deshalb nicht vorbei. Um ihn wird es im Folgenden gehen. Zu- 90 DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 Dossier nächst werden summarisch einige begriffsgeschichtliche Bemerkungen zum ‚Populären‘ bzw. zum peuple skizziert, soweit sie für die Fragestellung aufschlussreich erscheinen; sodann werden einige Schlaglichter auf die immense Breite des Populären in Hugos Werk geworfen; zuletzt wird der weitgehend unbekannte Text Les Caves de Lille von 1851 vorgestellt. Das Populäre ist etymologisch von lat. populus ‚Volk‘, peuple, abzuleiten. Dieses Lexem hatte zu Hugos Zeit eine lange begriffsgeschichtliche und semantische Tradition hinter sich, die historisch, national und sprachlich etliche Varianten aufzeigt. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Begriff ‚Volk‘ (später auch ‚Nation‘), Reinhart Koselleck zufolge, „auf die Selbstorganisation und Selbstwahrnehmung politischer Handlungseinheiten“ angewendet, welche ethnische, sprachliche und regionale Zugehörigkeiten umfassten und „andere Handlungs- oder Fremdgruppen [ausschlossen]“ (Koselleck 1992: 142). „Binnenkonstitution“ und „Außenabgrenzung“ (ibid.: 146) sind insofern kennzeichnend für den Begriff ‚Volk‘. Quer durch die Diachronie wurde jedoch auch in der Binnenordnung nach Geburt und Herkunft, politisch-rechtlicher Bürgergemeinschaft, civitas, und von ihr Ausgeschlossenen (Sklaven, Barbaren) unterschieden und eine Differenzierung nach topografischem Muster (oben - unten, innen - außen) vorgenommen. Im 18. Jahrhundert wurde ‚Volk‘ zudem Synonym von Geistes-, Kultur- und Sprachnation. Der Artikel 25 der Constitution vom 24. Juni 1793 schrieb die Souveränität und Einheit des französischen Volkes fest: „La souveraineté réside dans le peuple, elle est une et indivisible, imprescriptible et inaliénable“. Peuple stand für die Gesamtheit der französischen Bürger und Bürgerinnen im Sinne von democratia, ‚Volksherrschaft‘, oder res publica/ populi, ‚Republik‘, „Gemeinwohl“ (Koselleck 1992: 323). Diese Definition war für Hugo gültig, sie war die Prämisse und Richtlinie seines Denkens, auch dann noch, als sie nach 1830 zu zerbrechen drohte und die Bedeutung von peuple sich allmählich verschob. Die Devise der Julimonarchie nämlich, Enrichissez-vous, und die rauschhafte Industrialisierung, die in den 1830er Jahren einen ersten Höhepunkt erreichte, riefen zahlreiche Aufstände, beginnend 1832 mit der Revolte der Abb. 1: Victor Hugo, Miseria, Maisons de Victor Hugo - Hauteville House, Inv. No. 102. Gemeinfrei. 1 DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 91 Dossier Lyoner Seidenweber, hervor. Diese ließen die Semantik von peuple fluide werden. Hauptlexem der politischen Kommunikation während der blutigen Junitage 1848, wurde peuple zu diesem Zeitpunkt auf travailleurs und ouvriers eingeengt und später mit prolétariat gleichgesetzt. Je nach politischer Überzeugung galt peuple fortan als heroisches Volk oder abjekte populace, als Pöbel. Hugo ist Zeuge, Kommentator und Erzähler dieser politischen, sozialen und semantischen Entwicklung, die in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Spaltungen hervorgebracht hat, deren Auswirkungen heute (noch oder wieder), wie nicht zuletzt Christophe Guilluy in seinen Studien gezeigt hat, geographisch-sozial spürbar sind (cf. Guilluy 2013; 2022). Hugo war Verfechter der Constitution und sah das Prinzip der Souveränität der Bürger und Bürgerinnen bereits als Modell für die Verfassung der künftigen Vereinigten Staaten von Europa und der Vereinigten Staaten der Welt - utopische Ideen, die er für realistisch hielt. Zugleich war er - sieht man von Ausnahmen wie seinem Einsatz für den amerikanischen Abolitionisten John Brown ab, der 1859 einen Sklavenaufstand anführte - ein Gegner gewaltsamer Versuche, diese Ideale durchzusetzen (cf. Hugo 2001: 213-221). Er suchte stattdessen lebenslang nach dem, was sein Volk eint, und fürchtete das, was es spaltet. Als Romantiker und ozeanischer Künstler, der die Unendlichkeit des Universums bewunderte, liebte er, und das mit zunehmendem Alter immer mehr, die Vorstellung der Weltenharmonie; als Buchhalter aber, der in der Jugend selbst Armut erlebt hatte und lebenslang noch die kleinsten Ein- und Ausgaben minutiös auflistete, hasste er alles, was zu Unordnung führt und die Vision zerstört: blutige Revolutionen, die in Bürgerkriege ausarten, Staatsstreiche und Diktaturen, aber auch die Anarchie, die er gegen den Protest seines Sohnes Charles mit der Infragestellung des Eigentums beginnen sah. So hatte er mehrfach Grund, an seinem Volk zu zweifeln und zu verzweifeln: Erstmals angesichts der Junikämpfe 1848 und dann wieder während der Kommune 1871. „Quelle affreuse chose! “, schrieb er im Brief vom 24. Juni 1848 morgens um 8 Uhr aus dem Parlament an seine Frau, „[e]t qu’il est triste de songer que tout ce sang qui coule des deux côtés est du sang brave et généreux“ (Hugo 1848; Hülk 1982: 63); sein Entsetzen prägte die von ihm zusammen mit seinen Söhnen und den Freunden Paul Meurice und Auguste Vacquerie am 30. Juli 1848 gegründete und bis zum September 1851 veröffentlichte Tageszeitung L’Évènement; diese machte sich die soziale Mediation zur Aufgabe, ihr Leitspruch, ausgehend von einer Parlamentsrede Hugos, lautete: „Haine vigoureuse de l’anarchie. Amour tendre et profond du peuple“. Fatalerweise verkannte Hugo zu diesem Zeitpunkt die autokratischen Ambitionen des Präsidenten der II. Republik, Louis-Napoléon Bonaparte, den er zunächst unterstützte, bevor er zu seinem erbittertsten Gegner wurde. Und so zweifelte Hugo nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 erneut am peuple, das zu diesem Zeitpunkt bereits ein Synonym für ouvriers war. Denn gerade in der Arbeiterschaft zeichnete sich eine überwältigende Mehrheit für die neue Verfassung ab, die dem Prinz-Präsidenten und späteren Kaiser Louis-Napoléon Bonaparte diktatorische Macht zuerkannte und dazu führte, dass der Schriftzug Liberté, Égalité, Fra- 92 DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 Dossier ternité von allen öffentlichen Gebäuden entfernt und die Freiheitsbäume gefällt wurden. Da wollte er nicht glauben, dass dieses Ergebnis, aus heutiger Sicht ein früher Erfolg des Rechtspopulismus, keine Wahlfälschung war, und er notierte, die Lieferanten des Élysée brächten erst Mädchen, dann Leichen (cf. Hugo 2002: 765). Es war die Julirevolution 1830, die Victor Hugo, bis dahin hin- und hergerissen zwischen Royalismus und Bonapartismus (als quasi elterliches Doppelerbe), zum Republikaner und Anwalt des Volkes, besonders der ärmeren Bevölkerung, machte. Während die meisten Menschen in ihrer Jugend zum Rebellentum neigen, entdeckte er erst mit fast 30 Jahren seinen Hang zur Kritik und wurde später, als bereits 50- Jähriger, zum Aktivisten und Dissidenten. Zum ewigen Verbannten, so fortan die Selbstmythographie und -ikonographie. Seit Juli 1830 habe Paris, vor allen anderen Hauptstädten, die Hoheit über das Straßenpflaster; seitdem stehe der Thron auf der Straße, schrieb er dann 1848, ohne genaues Datum, in Choses vues (cf. Hugo 2002: 487). Die Trois Glorieuses, die drei Tage der Julirevolution 1830, waren der Auftakt seiner unter diesem Titel lebenslang fortgeführten, nicht immer genau datierten, manchmal auch nachträglich mit einem Datum versehenen Aufzeichnungen: Notaten zu Gesehenem und Erlebtem, Essays, Betrachtungen, Anekdoten, Exempla, Aphorismen und Sentenzen. Ein selbstreflexives und selbstkonstituierendes Unternehmen in der Tradition der antiken Hypomnemata, das er bis kurz vor seinem Tod in unregelmäßiger Folge weiterführte: Gedanken in Bewegung, das Schreibheft als Spiegel, Instrument und Medium praktischer Ethik. In einer Notiz, wahrscheinlich vom September 1830, feierte er, noch während seines Bühnenerfolgs mit dem Drama Hernani, die Trois Glorieuses wie ein Theaterstück: „Les révolutions sont de magnifiques improvisatrices. Un peu échevelées quelquefois“ (Hugo 2002: 62), verstand sie später jedoch auch als lange schwelendes und dann aufflammendes Feuer. Wenngleich bereits der 22-Jährige 1823 im Schauerroman Han d’Islande rebellischen Minenarbeitern einen starken Auftritt verschafft hatte, setzte die eigentliche Reflexion über Begriff und Realität des Volkes und über Abb. 2: Charles Hugo, Victor Hugo sur le Rocher des Proscrits, Jersey, Sommer 1853, Maison de Victor Hugo - Hauteville House. Gemeinfrei. DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 93 Dossier das Populäre erst mit der Julirevolution ein und variierte im Rhythmus der historischen Ereignisse. So gibt es im Roman Notre-Dame de Paris. 1482, der überstürzt, unter dem Druck des Verlegers Gosselin in monatelanger Klausur ab August 1830 niedergeschrieben wurde und am 16. März 1831 erschien, spektakuläre Volksszenen und überdies, im zunächst vom Verleger gestrichenen Kapitel „Ceci tuera cela“, eine Hymne auf die kollektive Kunst, die sich vor allem in den großen Bauwerken aller Völker und Kulturen manifestiert. Wenngleich (mittelalterliche) Volkskunst, Märchen und Sagen anonymer Herkunft von den Romantikern wiederentdeckt wurden, ist diese Würdigung seitens eines Autors, der auf seinem Genie bestand und sich in die Tradition Shakespeares stellte, doch bemerkenswert. Zur gleichen Zeit wandte sich Hugo dem Populären im Sinne einer drängenden sozialen Frage zu. Mal spitzte er diese, wie in Choses vues wohl vom 3. Mai 1852 (cf. Hugo 2002: 795), mit der Anekdote vom armen und reichen Dieb zu und verlieh seinem Beispiel die Qualität eines Exemplums. Dann wieder würdigte er in Gedichten der Feuilles d’automne, 1832 erschienen, die Armen, Alten und ‚Abgehängten‘ in den Straßen von Paris; Gedichte wie beispielsweise „Rêverie d’un passant à propos d’un Roi“ und „Pour les pauvres“ sind unbedingt als Prätexte zu Baudelaires Parisdichtungen zu lesen. Gleichzeitig entstanden Prosawerke, die das Thema der Armut immer weiter auffächerten. Im Vorwort zu dem beklemmenden Kurzroman Le dernier jour d’un condamné, 1829 geschrieben und 1832 in seiner definitiven Form mit einem programmatischen Vorwort veröffentlicht, deutete er, eingebettet in die Thematik des stetigen Kampfes gegen die Todesstrafe, den Zusammenhang zwischen sozialer Not und Verbrechen an. Im Kurzroman Claude Gueux von 1834 ist dieser Zusammenhang bereits vorherrschend; mit dem Titel und dem Namen des Protagonisten, „Gueux“, eines Tagelöhners, der zuerst nur Brot stiehlt, verweist Hugo sogar früh auf ein Wort, das wie canaille oder populace zunehmend als verächtlicher Ausdruck für die Armen benutzt wurde. Damit kritisierte er auch den Zerfall des Ideals der Constitution und jene Identifizierung der ‚arbeitenden Klassen‘ mit ‚gefährlichen Klassen‘, die, wie Louis Chevalier 1958 in seiner zum Klassiker gewordenen Studie Classes laborieuses et classes dangereuses dargelegt hat, von Polizei und öffentlicher Meinung befeuert wurde, mit Auswirkungen auf damals populäre und in der Kriminalistik nicht angezweifelte Wissenschaftszweige wie Phrenologie und Physiognomie. Ende der 1840er Jahre begann Hugo mit dem Langzeitprojekt der Misérables, erst unter dem Arbeitstitel Jean Tréjean, dann Les Misères, bis er sich im Exil auf Jersey für den endgültigen Titel entschied und den Roman auf Guernsey und in Waterloo zu Ende schrieb. Hier erzählt er vor allem von Einzelschicksalen, die Allgemeingültigkeit, ja Universalität beanspruchten und wie der gamin de Paris „Gavroche“ - zu dem Hugo durch Eugène Delacroix und sein Kolossalgemälde von 1831, La Liberté guidant le peuple, angeregt wurde - lexikalische Geltung erlangten; in Les Misérables appellierte er, mit dem für ihn charakteristischen melodramatischen Pathos und im Strom seines ganz und gar narrativen und visionären Gehirns, an die Vorstellungskraft seiner Leser, an ihre Empathie und den Willen zum Engagement für die Ausgestoßenen. Von seinem Exil, noch von Jersey aus, äußerte er sich, wie 94 DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 Dossier seine Tochter Adèle am 6. Oktober 1854 in ihrem Journal vermerkte, zu dem wichtigsten Impuls für sein Schreiben und sein politisches Engagement: Dans ma littérature, comme dans ma politique, j’ai eu l’intention de réhabiliter le paria, quelle que soit la forme qu’il prenne, que ce paria soit un bouffon comme Triboulet, une courtisane comme Marion Delorme, une empoisonneuse comme Lucrèce Borgia, un opprimé comme le peuple (Hugo 1984: 411). Zu diesem Zeitpunkt - angeregt nicht zuletzt durch die spiritistischen Séancen in seinem Haus Marine Terrace auf Jersey (ein besonderes Kapitel des Hugo-Kosmos) - hatte er in seinem Exil- und Inseldasein längst den Begriff des Paria, als dessen Verkörperung er sich inzwischen selbst sah, ausgeweitet auf die tierische und pflanzliche Welt: Er gab zwar einer gotischen Kathedrale und einem chinesischen Lackschrank den Vorzug gegenüber den anmutigen Gänseblümchen in seinem Garten, liebte jedoch Brennnesseln und Disteln, weil alle sie hassten und auszurotten versuchten. Er fütterte räudige Hunde, sah wilde Katzen als legitime Mitbewohner an, rettete Insekten, Spinnen und Salamander und schrieb Gedichte über Kröten. Was als beiläufige Schrulle erscheinen mag, ist als ökologische Achtsamkeit in Hugos Welt des Diversen absolut stimmig. Und überdies, wie das Gedicht Le crapaud von 1854, später aufgenommen in die Légende des siècles, über eine von einem Priester, einer eleganten Dame und Kindern gequälte „hideuse bête“ zeigt, eine ‚Ästhetik des Hässlichen‘ vor Baudelaire, Rimbaud und Tristan Corbière, eine Würdigung der abjekten Kreatur, wo immer sie sich findet. Aber das ist ein weites Feld. Der Text Les Caves de Lille von 1851 (Hugo 2001: 159-171), den Hugo für eine Parlamentsrede vorbereitete, erscheint aus zweierlei Gründen für das Thema des vorliegenden Dossiers interessant: Zum einen ist er, als Ergebnis einer kleinen soziologischen Feldforschung, ein drastisches Elendsnarrativ. Zum anderen führt er in die Region Les Hauts-de-France, die im Fokus auch der bekanntesten aktuellen Texte der Klassenliteratur, nämlich von Didier Eribon und Édouard Louis, steht. Am 10. Februar 1851, neun Monate vor dem Staatsstreich Louis-Napoléon Bonapartes und dem Beginn des neunzehn Jahre dauernden Exils, besuchte Hugo, damals konsekrierter Dichter, Mitglied der Académie Française, Pair de France und Abgeordneter der Assemblée Nationale, zusammen mit Adolphe Blanqui - Autor der Studie Les classes ouvrières en France von 1846, Mitglied des Instituts und Bruder des Sozialisten Auguste Blanqui - die Caves de Lille. Diese Caves waren Behausungen der Textilarbeiter, die an heimischen Webstühlen saßen oder an Spulen Spitzen klöppelten, bevor die industrielle Fabrikarbeit diese Region erreichte und ihr Erscheinungsbild und das soziale Leben maßgeblich prägte. Die großenteils mittelalterlichen Caves de Lille galten kritischen Zeitgenossen und Ärzten als besonders drastische Manifestationen des sozialen Elends; vielfach ehemalige Vorratsspeicher, DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 95 Dossier feuchte und oft überschwemmte, kalte und dunkle Räumlichkeiten unterhalb von Zuwegen oder in Höhe von Abwässern und Seitenarmen der Deûle (Clabaut 2001: 67sqq.), nahmen sie im kollektiven Imaginären den Charakter von Souterrains an. Sie standen so symbolisch, ja buchstäblich für die bas-fonds einer Gesellschaft im Fortschrittsrausch, bas-fonds, die viele zu diesem Zeitpunkt mit der Konnotation ‚Abschaum‘ versahen. Am 9. Juli 1849 hatte Hugo in der Assemblée législative (seit Mai 1849 der Name der Assemblée constituante) eine Rede über die Pariser Faubourgs gehalten: „Détruire la misère“. Darin heißt es: La misère, messieurs, j’aborde ici le vif de la question, voulez-vous savoir jusqu’où elle est, la misère? Voulez-vous savoir jusqu’où elle peut aller, jusqu’où elle va, je ne dis pas en Irlande, je ne dis pas au Moyen Âge, je dis en France, je dis à Paris, et au temps où nous vivons? Voulez-vous des faits? (Hugo 1849) Wenige Monate später, am 15. Januar 1850, verknüpfte er am selben Ort die soziale Frage mit der Forderung nach freier, kostenloser und obligatorischer Schulbildung - in einer dezidiert antiklerikalen Rede, die ihm endgültig den Ruf eines linken Republikaners eintrug. In diesen Monaten wurde ein Gesetz zur Einsetzung von Kommissionen zwecks Besichtigung und Verbesserung ungesunder Wohnverhältnisse vorbereitet, das angesichts wiederkehrender Epidemien, namentlich der Cholera, erhebliche Dringlichkeit besaß, Anfang des Jahres 1850 verabschiedet wurde und Abb. 3.: Louis Chamonin, coll CHN, Archives départementales du Nord (Nord info 2021). 96 DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 Dossier am 13. April in Kraft trat. Jetzt aber, im Februar 1851 in den Caves de Lille, erfasste Hugo die Armut nicht mehr nur abstrakt oder nahm sie als Existenzform wahr, die im öffentlichen Raum zunehmend sichtbar wurde. Er erkannte sie hier auch, in ihrer äußersten Form, als unmittelbare Folge verheerender Arbeits- und Wohnbedingungen. Er sah „ce [que la loi] avait laissé derrière elle“ (Hugo 2001: 162), er sah das soziale Elend mit eigenen Augen, choses vues. Diesen Besuch schilderte er zwei Jahre später in dem Gedicht „Joyeuse vie“ der Sammlung Châtiments, vor der Folie des fröhlichen Lebens der Reichen, als nachgerade dantesken Abstieg in die Hölle und verlieh den Caves dadurch allegorische Qualität: „Un jour je descendis dans les caves de Lille; / Je vis ce morne enfer. Des fantômes sont là sous terre dans des chambres, [...] Misère! “ (Hugo 1985: 75); später rief er den Besuch auch in La Légende des siècles noch einmal in Erinnerung. Doch es ist die Wucht des gerade Erlebten, die in Les Caves de Lille dominiert und der Rede den Charakter einer eindringlichen Reisereportage verleiht. Hugo adressiert die Abgeordneten, „Messieurs, quand nous sommes allés à Lille, mes honorables compagnons de voyage et moi [...]“ (Hugo 2001: 162), und führt sie an zufällig ausgewählte, doch präzise lokalisierte Orte: zunächst in eine Behausung an der Cour à l’eau, no. 2, anschließend in eine Cave an der Cour Ghâ, dann in einige Bruchbuden („masures“) in der Rue des Étaques, no. 14, durch die ein verpesteter Bach fließt. Erst nach Gewöhnung an die Dunkelheit in den niedrigen Kammern und Nischen, in denen er, obwohl selbst nicht groß gewachsen, nur in der Mitte aufrecht stehen kann, sieht der Besucher überhaupt etwas, „j’y distinguai dans l’obscurité un être vivant“ (ibid.: 163) - im ersten Keller, der Behausung von sechs Personen, ein etwa 6-jähriges Mädchen mit Masern und hohem Fieber, bei ihm die Großmutter, im zweiten vier kleine, auf sich allein gestellte Kinder, in den Bruchbuden eine fast blinde Frau mit einem Kind, das an einer lymphatischen Krankheit leidet, ein anderes hatte sie gerade an dieselbe Krankheit verloren, sowie einen 35-jährigen tuberkulösen Mann, der, bevor er hinfällig wurde, als Fleischzerteiler gearbeitet hatte, und eine Epileptikerin mit drei kleinen Kindern. Doch noch bevor Hugo die Caves überhaupt betritt, schlägt ihm an diesem klaren, sonnigen Wintertag aus den weit geöffneten Türen der Gestank von Fäulnis, Dreck und Exkrementen entgegen, der ihm fast den Atem raubt. Krankheiten - darunter „ophtalmies, amauroses, phtisie, scrofules, rachitisme, idiotisme, indigence morale“ (ibid.: 163sqq.) -, sowie Alter, Hunger, fehlende hygienische Vorrichtungen, verrottete Baustoffe, schimmelige Matratzen, Torfasche, das sind, neben der eisigen Kälte in den Räumen, neben miserablem Lohn und überhöhter Miete sowie der Auskunft der Bewohner, von der Stadt alle fünf Tage ein Brot zu erhalten, „quelques faits“, die Hugo den Herren mit der mehrfach wiederholten Formel „Figurez-vous“ vor Augen führt: „D’après ceux-là, vous jugerez du reste“ (ibid.: 164). Er fügt hinzu, er habe hier nur den Mittelwert des Elends erlebt und wisse von noch Schlimmerem, „mais je n’en parlerai pas, car je ne veux citer que [les faits] que j’ai vus“ (ibid.). Und inmitten der sinnlichen Eindrücke - Gestank, Klagelaute oder Stille, Dunkelheit, für Hugo immer auch Symbolik des Schreckens und der missglückten Aufklärung -, erfasst er die Arbeitsbedingungen: DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 97 Dossier [L]e travail sans relâche, le travail acharné, pas assez d’heures de sommeil, le travail de l’homme, le travail de la femme, le travail de l’âge mur, le travail de la vieillesse, le travail de l’enfance, le travail de l’infirme, et souvent pas de pain, et souvent pas de feu [...] et si vous doutez, et si vous niez ... Ah! vous tuez! (ibid.: 167sq.). Und er warnt, dass das Elend und die Agonie der Armen nicht nur individuelles Leiden seien, sondern ebenso der Ruin der Gesellschaft, die Ursache aller Aufstände und zuletzt des Todes auch der Reichen, „un danger social grandissant d’instant en instant“ (ibid.: 169). Hugo schließt mit dem Hinweis darauf, dass Revolutionen mit dem Ruf eines Kindes beginnen: „[J]’ai faim! “ (ibid.: 171). Er hielt die Rede Les Caves de Lille letztendlich nicht. Daran mögen die Ereignisse desselben Jahres einen Anteil haben und die Sorge um eine Republik, deren Ende sich abzeichnete und um derentwillen er sich einen weiteren Affront der Abgeordneten nicht leisten konnte, ohne die republikanische Allianz gegen die erwartete Diktatur zu gefährden. So die Vermutung des ‚hugolien‘ Franck Laurent auf eine Anfrage François Ruffins, Journalist, Regisseur, Abgeordneter der France Insoumise in dessen Magazin Fakir (cf. Ruffin 2018). Ruffin hingegen glaubt, Hugo habe verstanden, dass seine vulgären Schilderungen, diese „effraction du réel“ bis hin zur Erwähnung der „chiottes“, von den honorigen Abgeordneten nicht hingenommen worden wären, und Ruffin suggeriert, dass Hugo wohl auch ahnte, dass er einer solchen Transgression wegen persönlichen Schaden genommen hätte - so wie es ihm, Ruffin, selbst häufig widerfahre (cf. ibid.). Selbstverständlich kannte und praktizierte Hugo, wie er mehrfach unter Beweis gestellt hatte, neben allen literarischen Gattungen auch die Textsorte der Parlamentsrede, ja, er teilte die Vorliebe der Abgeordneten für rhetorische Finessen, Höflichkeitsformeln und Metaphern. Diesmal aber ließ er wissen, er wolle keineswegs schon wieder Alarm schlagen, doch: „Hé mon Dieu! ce n’est pas le moment de chercher des délicatesses de langage! “ (Hugo 2001: 166). Was letztlich ausschlaggebend dafür war, dass diese Rede nicht gehalten wurde, wissen wir nicht, Aufzeichnungen und Briefe geben ausnahmsweise einmal keinen Hinweis. Anders als man vermuten könnte, steht Hugo nicht ausschließlich für eine romantisch-idealistische Verklärung des peuple und war Émile Zola nicht der erste, der in L’Assommoir (1877) und in Germinal (1885) das Arbeiterleben in Paris und in der Provinz ungeschönt darstellte. Denn von einer romantisch-idealistischen Verklärung ist in Les Caves de Lille von 1851 nichts zu entdecken. Im Gegenteil, Zolas Themen, Blick und Tonfall sind da, nicht, um das Schicksal fiktiver Figuren, sondern das lebender Menschen, êtres vus, zu schildern. Stark ist der Text, weil er den Charakter einer Reportage aufweist, indem er „[umfasst], was außerhalb unseres Kopfes liegt und mit unseren Sinnesorganen wahrgenommen werden kann: die Geschichten, die uns andere Menschen erzählt haben; […] die Geschehnisse, die wir beobachtet, gehört, gerochen, geschmeckt und betastet haben, kurz: die Objekte unserer Arbeit“ (Haller 2008: 167). Der Besuch in Lille war nicht Hugos einzige Feldforschung, er suchte auch Gefängnisse und Straflager auf, aber sie ist eine für die Thematik des 98 DOI 10.24053/ ldm-2023-0008 Dossier Dossiers besonders aufschlussreiche. Les Caves de Lille demonstrieren gleichermaßen die intimen Demütigungen des individuellen Elends wie die Struktur der misère, überdies sind sie nachgerade die topografische Materialisierung des Sozialmodells von ‚Oben und Unten‘. In Les Caves de Lille ist le peuple ganz unten. Das Lexem peuple erfuhr im 19. Jahrhundert in rascher Folge schwankende Bedeutungen. Diese lassen sich in Hugos Werk, Denken und Handeln nachzeichnen, die dem peuple, dem Populären und dem Paria eine vorrangige Rolle zuweisen - Parlamentsreden, Aufzeichnungen, Briefe, Polemiken, lyrische, dramatische und vor allem epische Texte sowie versponnene Zeichnungen, politische Aktionen und sogar Tafeln und Schnitzwerke in Hauteville House auf Guernsey. Peuple steht für Hugos Weltsicht, die Utopie und Autopsie war: Denn peuple repräsentiert für ihn einerseits die Idealvorstellung der Freiheit, Einheit und Gleichheit des von der Verfassung geschützten Volkes, auf die er lebenslang hinarbeitete. Wie zeitgleich dem Historiker Jules Michelet in seinem 1846 erschienenen und in den Folgejahren mehrfach neu aufgelegten Buch Le Peuple, steht Hugo die Transformation der Menschenmenge oder Masse in ein Volk vor Augen: „Hier vous n’étiez qu’une foule: / Vous êtes un peuple aujourd’hui“, heißt es 1835 in einem Gedicht ohne Titel, „Dicté après juillet 1830“ der Chants du crépuscule (Hugo 2010: 29), peuple findet sich aber auch zunehmend in der Bedeutung von ‚arbeitender Bevölkerung‘, und neben das pathetische Bild der misérables tritt die ungeschönte Schilderung der Lebenswirklichkeit von ouvriers oder travailleurs, deren Anwalt er war, solange diese nicht gewaltsam die Republik infrage stellten. Was im 21. Jahrhundert als Paternalismus ausgelegt wird, überzeugte im 19. Jahrhundert viele - europäische Freiheitsaktivisten und Republikanerinnen, Abolitionisten der Vereinigten Staaten, Exilanten und arme Frauen -, die Hugos Rat einholten oder sich hilfesuchend an ihn wandten. Mutmaßungen darüber, wie Victor Hugo auf heutige gewaltsame Proteste und Aufrufe zur Unterminierung der republikanischen Ordnung reagiert hätte, müssen an dieser Stelle nicht geäußert werden. Chevalier, Louis, Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIXe siècle, Paris, Perrin, 2002 [1958]. Clabaut, Jean-Denis, Les Caves médiévales de Lille, Villeneuve d’Ascq, Éditions Universitaires du Septentrion, 2001. Guilluy, Christophe, Fractures françaises, Paris, Flammarion, 2013. —, Les Dépossédés. L’instinct de survie des classes populaires, Paris, Flammarion, 2022. Haller, Michael, Die Reportage, Konstanz, UVK Verlagsgesellschaft, 2008. Hülk, Walburga, „Populäre Identitätsbildung im Kontext von 1848 - ‚Les Mystères du peuple‘“, in: lendemains, 28, 1982, 38-51. Hugo, Adèle, Journal, ed. Frances Vernor Guille, t. 3 (1854), Paris, Lettres modernes Minard, 1984. Hugo, Victor, Choses vues, Souvenirs, journaux, cahiers 1830-1885, ed. 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