lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0009
0923
2024
48189
Die Arbeiterklasse unter dem Joch der Automobilindustrie in Claire Etcherellis Roman Élise ou la vraie vie (1967)
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2024
Melanie Schneider
ldm481890100
100 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Melanie Schneider Die Arbeiterklasse unter dem Joch der Automobilindustrie in Claire Etcherellis Roman Élise ou la vraie vie (1967) Einleitung In seinem Referenzwerk Flüchtige Moderne (1999) bemerkt Zygmunt Bauman, dass die fordistische Fabrik, „in der menschliche Aktivitäten auf einfache, routinisierte und im großen und ganzen vorbestimmte Bewegungen reduziert wurden, die gehorsam und mechanisch, ohne weiteres Nachdenken auszuführen waren“ (2003: 37), neben der Bürokratie (Weber), dem Panoptikum (Foucault) und Big Brother (Orwell) ein „klassische[s] Sinnbild“ der „,schwer[en]‘“, „solide[n]“, „kondensiert[en]“ und „systemisch[en]“ (ibid.: 36) Moderne darstelle. „Jegliche Spontaneität und individuelle Initiative“ verneinend und das Schaffen einer allumfassenden „Homogenität“ als Ziel (ibid.: 37) verfolgend, bringe der Fordismus Arbeitsbedingungen hervor, die die Arbeitnehmer: innen unerbittlich körperlich aufzehren und geistig abstumpfen lassen. Das Herz der Fabrik und zugleich Schlüsselelement des Fordismus ist dabei das Fließband, das die Geschwindigkeit und den Rhythmus der auszuübenden Tätigkeiten determiniert und die Arbeitnehmer: innen an sich bindet. Dabei kann die Arbeit am Fließband als monoton, repetitiv, eintönig und stumpfsinnig charakterisiert werden - Eigenschaften, die das Erzählen einer solchen Tätigkeit zu einer wahren Herausforderung machen. Claire Etcherelli ist eine der wenigen Autor: innen, die sich dieser Aufgabe in ihrem Roman Élise ou la vraie vie (1967) stellt und als Setting die Automobilindustrie wählt. Wie reiht sich Etcherellis Werk in die literarische und soziologische Tradition des 20. Jahrhunderts ein, innerhalb derer die prekären Arbeitsbedingungen in der Automobilindustrie thematisiert werden? Wie wird die Fabrikarbeit in ihrem Roman dargestellt? Der vorliegende Beitrag geht diesen Fragen nach. Es folgt zunächst ein allgemeiner Überblick über das (Be-)Schreiben der Fabrikarbeit in der Automobilindustrie und ein kurzer Abriss der Entstehungsgeschichte von Etcherellis Roman, bevor anschließend die Poetik der Fließbandarbeit in Élise ou la vraie vie herausgearbeitet und zuletzt die literarische Darstellung der Entfremdung sowie die Entmenschlichung der Arbeiter: innen als unmittelbare Konsequenz der Fließbandarbeit gedeutet wird. Auch wenn der Fokus auf der Untersuchung von Etcherellis Roman liegt, werden - dem Versuch einer möglichst umfassenden Untersuchung geschuldet - zusätzlich andere fiktionale und nicht-fiktionale Texte und Dokumentationen für die nachfolgende Analyse herangezogen. DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 101 Dossier Kontext, Entstehung und Rezeption von Élise ou la vraie vie (1967) Standen im 19. Jahrhundert in Frankreich die Seiden- und (Baum-)Wollmanufakturen hinsichtlich ihrer prekären Arbeitsbedingungen im Fokus der öffentlichen Diskussion, 1 erblickt mit dem Automobil in der späten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Technologie das Licht der Welt, die vor dem Hintergrund der industriellen Massenproduktion die Prekarität und Ausbeutung der Arbeiter: innen im 20. Jahrhundert fortführt. 1913 integriert Henri Ford das Fließband für die Massenproduktion seines berühmten T-Models in seine Automobilfabriken, und nach dem Ersten Weltkrieg orientiert André Citroën seine Produktion am amerikanischen Vorbild. Für den rasanten Produktionsanstieg wird eine nicht unerhebliche Zahl an Arbeiter: innen nachgefragt, die sich in dem neuen von Taylorismus und Fordismus buchstäblich durchgetakteten System schnell zermürbt sehen. Der Taylorismus optimiert die Arbeitsabläufe durch Prozesssteuerung, die auf einer Trennung von geistig anspruchsvollen und einfachen manuellen Tätigkeiten basiert. Darauf aufbauend perfektioniert der Fordismus die Massenproduktion durch Standardisierung mittels der Einführung des Fließbands. Aufgrund der neuartigen Arbeitsorganisation und den nun vorherrschenden Arbeitsbedingungen in den Automobilfabriken sind diese zu interessanten Gegenständen der soziologischen Betrachtung avanciert: Angefangen bei Klassikern wie Simone Weils La condition ouvrière (1937, ersch. 1951) und Alain Touraines L’Évolution du travail ouvrier aux usines Renault (1955), über Robert Linharts L’Établi (1978) und Marcel Durands Studie Grain de sable sous le capot: résistance et contre-culture ouvrière: les chaînes de montage de Peugeot (1990/ 2006), hin zu Stéphane Beauds und Michel Pialoux’ Arbeit Retour sur la condition ouvrière. Enquête aux usines Peugeot de Sochaux-Montbéliard (1999) und Martine Sonnets biographischen Bericht L’atelier 62 (2008), 2 haben französische Sozialwissenschaftler: innen und Intellektuelle das Arbeitsleben in den Fabriken untersucht. Weil legt u. a. Zeugnis über ihre Erfahrungen als Fräserin in den Renault-Werken im Sommer 1935 ab, Touraine führt mit seiner Beobachtung bei Renault die technologische Komponente in das Feld der industriellen Soziologie ein. Linhart schildert die Organisation eines Streiks in der Citroën-Fabrik in Clichy 1968-69 und erzählt von seinen dortigen Erfahrungen als Schweißer, Fenstermacher und Kontrolleur. Durand berichtet über die Arbeit am Fließband in den Renault-Werken in Sochaux. Beaud und Pialoux schreiben über die condition ouvrière bei Peugeot Anfang der 1980er bis Ende der 1990er Jahre. Sonnet thematisiert in ihrer Biographie die Erfahrungen ihres Vaters als Schmied in der Renault-Fabrik in Billancourt in den 1950er Jahren. Bei den größtenteils soziologisch motivierten Studien liegt der Fokus dabei - neben den üblichen Fragen nach den methodologischen Aspekten wie der Legitimation und der Durchführung der Berichterstattung 3 - vor allem auf der Beleuchtung der prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter: innen. Im Unterschied zu den Sozialwissenschaften wird die Arbeit im Allgemeinen und die Fabrikarbeit im Besonderen in der Literatur der von Jean Fourastié als Trente Glorieuses bezeichneten Nachkriegsperiode kaum thematisiert. Dominique Viart 102 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier identifiziert neben Linharts Établi nur einen weiteren Text aus dieser Zeitspanne: Claire Etcherellis Roman Élise ou la vraie vie aus dem Jahre 1967. 4 Linharts und Etcherellis Werke bezeichnet er demnach als „hapax“ (Viart 2012: 139), als Ausnahmephänomene in der französischen Literaturlandschaft der Trente Glorieuses. Laut Viart zeichne sich die literarische Produktion der 1950-70er Jahre durch eine „contestation du réalisme“ (ibid.) aus und interessiere sich demnach wenig für den in der Realität verankerten Gegenstand der Arbeit, wobei er als Beispiel die Werke des Nouveau Roman (Robbe-Grillet und Sarraute) anführt (ibid.). Neben Etcherelli und Linhart kann mit Roger Vaillands Roman 325.000 Francs (1955) eine weitere Ausnahme identifiziert werden: Auch wenn die Arbeit im Text - leider erfolglos - eher als Vehikel zum individuellen sozialen Aufstieg beschrieben wird, ist die Schilderung der Fabrik- und Fließbandarbeit doch sehr detailliert und ergibt sich ähnlich wie bei Etcherelli und Linhart aus realen Beobachtungen, die Vailland im Zuge einer Reportage gewinnt. Autobiographische Aspekte spielen nicht nur in Linharts und Vaillands Texten eine wichtige Rolle, sondern auch in Etcherellis Roman, weshalb zunächst die Autorin vorgestellt und die Entstehungsgeschichte von Élise ou la vraie vie skizziert werden soll. Claire Etcherelli hat in den 1950er Jahren selbst in der Automobilindustrie gearbeitet: 1957 zieht sie mit ihrem Sohn von Bordeaux nach Paris und ist für siebzehn Monate bei Citroën am Fließband tätig. Ungeachtet dieser persönlichen Erfahrung entscheidet sie sich gegen die Chronik oder den Bericht und wählt für ihre Geschichte den Roman als Gattung. Zu ihrer Enttäuschung bleibt der literarische Charakter ihres Werks allerdings von der damaligen Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet. So betont sie selbst am 29. November 1967 in einem Interview mit Francine Mallet in Le Monde, dass sie sich zwar über das Interesse Simone de Beauvoirs an ihrer Erfahrung als weibliche Arbeiterin gefreut habe, gleichzeitig aber auch betrübt sei, dass die literarische Qualität ihres Werks nicht die verdiente Aufmerksamkeit bekäme: „Si j’avais voulu parler seulement de la condition des femmes à l’usine ou du racisme, j’aurais écrit une chronique“ (Mallet 1967). In der Tat liegt der Fokus in dem kurz zuvor stattgefundenen Gespräch Écoutez cette femme! , das Beauvoir mit Etcherelli am 26. November 1967 für den Nouvel Observateur führt, vorrangig auf den persönlichen Erfahrungen der Autorin und weniger auf ihrem Roman. Sie führt in Le Monde weiter aus: „Or j’ai choisi la forme du roman parce que je tenais à créer des personnages, à les faire vivre, et parce que j’attache beaucoup d’importance à l’écriture.“ Elise ou la vraie vie n’est pas un roman uniquement autobiographique comme beaucoup l’ont cru. Claire Etcherelli n’a pas de frère, n’a jamais vécu avec sa grand-mère. Le sachant, on est mieux sensible à son exigence romanesque (ibid.). Etcherellis Wille, mit ihrem Schreiben Figuren zum Leben zu erwecken und über die realitätsgetreue Darstellung ihrer eigenen Erfahrungen in der Fabrik hinaus zu wirken, fasst Milan Kundera fast zwanzig Jahre nach diesem Interview in seiner Aussage „Le roman n’examine pas la réalité mais l’existence“ (Kundera 1986: 61) DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 103 Dossier zusammen: Nicht die allgemeingültige Realität, sondern die allgemeinen Bedingungen der menschlichen Existenz versuche der Roman einzufangen. Der letzte Kommentar der Interviewerin verweist darüber hinaus auf den essenziellen Punkt, dass Autor: innen in der Regel nicht auf Fiktion zurückgreifen, um ausschließlich von ihrem individuellen Leben zu erzählen. Gleichzeitig liegt die Stärke der Literatur in der Rückwirkung des Textes auf die „außerliterarische Realität“ und erhält, wie Stefan Neuhaus bemerkt, seine „Relevanz […] erst dadurch, dass ihn Leser*innen auf ihre eigene Erfahrungswelt beziehen“ (Neuhaus 2022: 117). Auch wenn die autobiographischen Erfahrungen des: der Autor: in, wie Neuhaus notiert, nicht maßgebend für die Rezeption sind und Etcherelli sich dezidiert für die Romanform entscheidet, so scheitert ihr Vorhaben an der Leserschaft ihrer Zeit, die ihren Roman vordergründig als Chronik lesen und verstehen wollen. Dieser Umstand scheint besonders erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Autorin in ihrem Roman implizit den Anspruch einer Berichterstattung, wie er den weiter oben zitierten Studien zugrunde liegt, kritisiert. Lucien, der Bruder von Élise, schreibt in einem Brief an seine Schwester über sein Vorhaben, die prekären Arbeitsbedingungen in der Automobilindustrie aufschreiben zu wollen, in dem Bestreben, denen eine Stimme zu geben, die nicht für sich selbst sprechen können: Je me suis trouvé dans la nécessité matérielle d’accepter un boulot pénible, mais combien exaltant. Je vais me mêler aux vrais combattants, partager la vie inhumaine des ouvriers d’usine. Au milieu des Bretons, des Algériens, des Polonais exilés, ou des Espagnols, je vais trouver le contact avec la seule réalité en mouvement. Et quand j’aurai fini la journée d’usine, je retrouverai mes papiers, mes cahiers, car, ma vieille Élise, je témoignerai pour ceux qui ne peuvent le faire (Etcherelli 1967: 59). 5 Lucien sieht sich in seinem Vorhaben maßgeblich durch seinen der Bourgeoisie zugehörigen Freund Henri beeinflusst, seine Motivation erinnert allerdings an die Zielsetzungen Weils, Linharts und Durands. Allerdings ließe sich argumentieren, dass Lucien mit seinem Projekt, Zeugnis für die Arbeiter: innen abzulegen, bloß versucht, sich durch die Beobachterposition gegenüber den anderen Arbeiter: innen besser zu stellen. Sich stark an seinem Freund Henri orientierend und mit dem Anspruch, sich in seiner mageren Freizeit bilden zu wollen, verkörpert er eine gescheiterte transfuge-Figur, die nicht aus ihrem soziokulturellen Milieu auszubrechen vermag: Denn schnell sieht Lucien ein, dass die mit der Fabrikarbeit verbundene körperliche und geistige Belastung jegliche Kapazitäten für sein Schreiben aufzehrt. Von den Arbeitsbedingungen bei Citroën erzählt im Roman eben nicht der sozialkritisch eingestellte Lucien, sondern Élise, und zwar aus einer subjektiven Perspektive und ohne soziale Motivation. Die Erzählung, die mit einer Prolepse beginnt, setzt nach Luciens Tod ein, mit dem der Roman endet, was ihm eine zirkuläre Struktur verleiht, die bereits auf die immerwährende Monotonie verweist. Élise verbringt ihre letzte Nacht in Paris, bevor sie zurück nach Bordeaux zu ihrer Großmutter und Schwägerin geht und rekapituliert ihre Geschichte: von ihrer und Luciens Kindheit, über ihre Arbeit bei Citroën und ihre 104 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Liebesgeschichte mit Arezki, einem algerischen Fabrikarbeiter, bis hin zum Verlust des Bruders und des Geliebten, mit dem der Roman endet. Schon diese Zusammenfassung weist darauf hin, dass Etcherellis Roman nicht allein das Fabrikleben bei Citroën erfassen will - der Text heißt schließlich Élise ou la vraie vie und nicht Élise ou la vie d’usine -, sondern den persönlichen Übergang von Élise in die „vraie vie“ markiert, weg von der häuslichen Sphäre in die Arbeiterwelt, in der sie Freundschaft und Liebe, aber auch Erschöpfung und Leid erfährt. Der Roman wird in der Forschung auf drei zentrale Themen reduziert: auf die condition ouvrière, die condition féminine und auf den Rassismus vor dem Hintergrund des Algerienkriegs. Auch wenn alle thematischen Bereiche ineinandergreifen, werden sie maßgeblich von den drei Hauptfiguren Élise, Lucien und Arezki verkörpert. Trotz des Fokus auf das Innere der Citroën-Fabrik im zweiten Teil wurde der Roman in der Öffentlichkeit vor allem aufgrund seiner Liebesgeschichte zwischen einem Algerier und einer Französin im Angesicht des ansteigenden Rassismus im Zuge des Algerienkriegs und weniger als ein Arbeiterroman beworben. Diese Qualität soll dem Roman nicht abgesprochen werden, steht hier aber nicht im Vordergrund. Vielmehr wird im Folgenden das Erzählen über das Fließband und die Fließbandarbeit fokussiert. Die Poetik des Fließbands Das Fließband, oder auch ‚Gängel-Band‘, wie Stéphane Beaud und Michel Pialoux es in ihrer bereits erwähnten Studie bezeichnen, hat die Arbeiter: innen in der Automobilindustrie fest im Griff: Es gibt den unbändigen Rhythmus vor, an dem sich die Arbeiter: innen auszurichten und dem sie sich unterzuordnen haben. Sein hartes Regime schlägt sich im Französischen in den beiden Ausdrücken travail à la chaîne und travail enchaîné nieder, die jeweils auf die Bedeutung von chaîne als Fließband einerseits und als die Arbeiter: innen fesselnde Kette andererseits verweisen. In Lydie Salvayres ironisch-zynischem Roman La Médaille (1993) beschreibt der Fabrikarbeiter Auguste Donte seine Situation in der Automobilfabrik wie folgt: „Je travaillais enchaîné à la chaîne comme un esclave du temps jadis. Dans une fosse de surcroît. Et ça, au XX e siècle, en France! “ (ibid.: 29). Wie erbarmungslos das Fließband ist, sieht man darüber hinaus anhand der ikonischen Darstellung in Charlie Chaplins Modern Times (1936), die satirisch überspitzt die fundamentalen Merkmale der Fließbandarbeit aufgreift: Der Rhythmus des Bandes ist schnell und unerbittlich, er unterjocht die Arbeiter und zwingt ihnen ein rasantes Tempo bei der Ausführung auf. Jeder Arbeiter hat seinen zugewiesenen Platz für die jeweilige Aufgabe, deren unsichtbare Grenzen durch den Akkord bestimmt werden. Kommt ein Arbeiter aus dem Takt, stört er die anderen und wird dafür von einem Vorgesetzten gerügt. Der Ausgang der Szene ist bekannt: Der Tramp (Charlie Chaplin) versucht - wenig erfolgreich - dem Rhythmus des Fließbandes nachzukommen, gelangt in den Schacht, wird rückwärts aus diesem wieder ausgespuckt, hat schließlich den Ver- DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 105 Dossier stand verloren und will daraufhin alle Schrauben, innerhalb oder außerhalb der Fabrik, nachziehen - auch die an Schrauben erinnernden Knöpfe an der Bluse einer Fußgängerin. Die Arbeit am Fließband hat ihn in den Wahnsinn getrieben (cf. Chaplin 1936: 00: 14: 00-00: 16: 22). Die Kritik, die Chaplin hier äußert, bezieht sich auf das System von Ford, dem - wie Weil passend in ihrer Condition ouvrière beschreibt - die Idee zugrunde liegt, „nicht besser, sondern mehr zu arbeiten“, 6 und zwar ohne Verlängerung der realen Arbeitszeit. Das Prinzip ist klar: Die Vereinfachung der Arbeitsschritte durch Arbeitsteilung ermöglicht den Anzug des Tempos und die Erhöhung der Produktion bei minimaler Qualifikation der Arbeiter: innen, was wiederum jegliche Form der Berufsausbildung verzichtbar macht. Auch Élise ist eine ungelernte Arbeitskraft. Nachdem sie durch die Vermittlung ihres Bruders als Kontrolleurin in der Citroën-Fabrik in Clichy angefangen hat, erkennt sie, wie Weil, die Logik hinter der Taktung des Fließbandes: Während einer Prüfung durch einen Zeitmesser bemerkt sie: „Le chrono devinait et le chrono ne regardait pas combien de minutes demandait un travail, mais déterminait lui-même un temps à chacun des gestes de l’ouvrier“ (E 125). Den Arbeiter: innen wird von oben ein Arbeitsrhythmus auferlegt, der einer ökonomischen und keiner humanen Logik folgt. Interessant ist zunächst jedoch die Art und Weise, wie das Fließband im Roman eingeführt wird: Noch bevor dieses als Schauplatz in Erscheinung tritt, wird Élise dreimal vor der Arbeit am Fließband gewarnt - die in Märchen und Mythologie symbolisch aufgeladene Zahl ,Drei‘ spiegelt sich auch in den drei Hauptthemen und drei Hauptfiguren des Romans wider. Die drei Vorwarnungen - man denke hier an den ähnlich klingenden Titel von Arthur Schnitzlers Novelle Die dreifache Warnung von 1911 - erstrecken sich über drei Seiten und werden von unterschiedlichen Figuren auf Élises Weg ins Innere der Fabrik ausgesprochen. Die erste Warnung erhält sie vor dem Eingang der Fabrik von ihrem zukünftigen Vorarbeiter Gilles: C’est la chaîne, insista-t-il. Lucien vous l’a dit? - Oui, monsieur. - Bon, eh bien, à tout à l’heure. - Et s’ils ne m’acceptent pas? Il éclata de rire. - Il fallait dire „… et si je n’accepte pas.“ Ils vous prendront. A tout à l’heure. (E 76) Gleich nachdem sie die Fabrik betreten hat, erhält sie im Einstellungsbüro die nächste Warnung, diesmal von einer Büroangestellten: „- Vous savez que ce n’est pas pour les bureaux, dit-elle, quand elle lut ma fiche“ (E 77). Die letzte Warnung gibt ihr der zuständige Dienstarzt im Rahmen der anfänglichen Untersuchung auf Tauglichkeit: „Pourquoi n’avez-vous pas demandé un emploi dans les bureaux? Vous savez où vous allez? Vous allez à la chaîne, avec tout un tas d’étrangers, beaucoup d’Algériens. Vous ne pourrez pas y rester. Vous êtes trop bien pour ça“ (E 78). Gilles, die Frau im Büro und der Arzt fungieren in abgeschwächter Form als Dreiheit von Schicksalsboten und verweisen auf die schwierige praktische Arbeit am Band bzw. warnen - wie im Falle der rassistischen Aussage des Arztes - vor dem 106 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Personal. Interessant sind bei den Warnungen auch die Reaktionen von Élise: Sucht sie anfangs noch den Dialog und zweifelt an ihrer Eignung für den Job, antwortet sie beim zweiten Mal mit einem knappen „Oui, oui“ (E 77), beim dritten Mal hingegen erwidert sie nichts (cf. E 78). Ihr voranschreitendes Verstummen markiert den Übergang vom autonomen Subjekt hin zu einer heteronomen Fließbandarbeiterin, die sich, wie Élise später im Roman bemerkt, im Zuge ihrer repetitiven und monotonen Tätigkeit zum einfachen Werkzeug degradiert sieht: „Rivés à la chaîne comme des outils. Outils nous-mêmes“ (E 111). Den Warnungen vor der Arbeit am Fließband folgt passenderweise die Beschreibung des Ateliers 76, dem Élise zugeteilt wird, als Höllenschlund: Les machines, les marteaux, les outils, les moteurs de la chaîne, les scies mêlaient leurs bruits infernaux et ce vacarme insupportable, fait de grondements, de sifflements, de sons aigus, déchirants pour l’oreille, me sembla tellement inhumain que je crus qu’il s’agissait d’un accident, que, ces bruits ne s’accordant pas ensemble, certains allaient cesser (E 79, H.d.V.). Neben dem unmenschlichen Höllenlärm wird bei der Beschreibung des Fließbandes mehrmals die Analogie zu einer Schlange bemüht: Es erscheint Élise „sinueusement“ (E 81), als „boa“ (E 124), und als „grand serpent mécanique“, der die Arbeiter: innen verschlingt (E 120). Die Schlange als Symbol für Tod und Vernichtung steht in der Tat für den Würgegriff des Fließbandes, der die Arbeiter: innen fest umschlungen hält. Die Fabrik wird demnach schon vor der eigentlichen Arbeit am Fließband als Schreckensort gezeichnet, wodurch bereits die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen angekündigt werden. Wie wird nun die konkrete Arbeit am Band erzählt? Élise arbeitet als Kontrolleurin und überprüft die fertigen Automobile auf Montagefehler und -versäumnisse seitens ihrer Kolleg: innen. Die Arbeit am Band verlangt dabei vollen Körpereinsatz: Grimper, enjamber, m’accroupir, regarder à droite, à gauche, derrière, au-dessus, voir du premier coup d’œil ce qui n’est pas conforme, examiner attentivement les contours, les angles, les creux, passer la main sur les bourrelets des portières, écrire, poser la feuille, enjamber, descendre, courir, grimper, enjamber, m’accroupir dans la voiture suivante, recommencer sept fois par heure (E 91). Auf der Textebene wird der repetitive Charakter der Fließbandarbeit durch Wiederholungen der auszuführenden Gesten wiedergegeben. Dasselbe Verfahren lässt sich auch in Vaillands 325.000 Francs beobachten: „Busard courut à la presse. Il leva, détacha, baissa, trancha, sépara, jeta, attendit, leva, détacha, baissa, trancha, sépara, jeta, attendit, leva, détacha, baissa, trancha…“ (Vailland 1956: 179). Der Dreipunkt verweist dabei im Gegensatz zum Punkt in Etcherellis Zitat auf die unendliche Fortführung dieses monotonen Ablaufs, dem sich auch Élise im Laufe des Romans ausgesetzt sieht. Die jeweiligen Wortfelder der beiden Zitate stammen aus dem Bereich der Bewegung und betonen den körperlich anstrengenden Charakter der Arbeit: Élise muss ihren Körper dabei nicht nur dem Rhythmus des Fließbandes, DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 107 Dossier sondern auch der ungnädigen Stahlhülle des Automobils anpassen, ein- und aussteigen, das Auto von allen Seiten betrachten, versuchen, auf jede Kleinigkeit zu achten, wohingegen Busard in seinen wiederholenden Gesten auf derselben Stelle verharrt. Hinsichtlich dieser Unterschiede bei den am Fließband auszuführenden Tätigkeiten unterscheidet Linhart in seinem Bericht zwischen einer „poste mobile“ und einer „poste immobile“ (Linhart 1989: 32). Der mobile Posten ist für die Arbeiter: innen ungleich strapaziöser, da er durchgehend vollen Körpereinsatz verlangt und wenig Möglichkeit zum Verschnaufen lässt, wie im Falle von Élise. Michel Drachs gleichnamige Verfilmung von Etcherellis Roman aus dem Jahr 1970 zeichnet ähnlich wie der Text einen realistischen Eindruck der Arbeit am Fließband, wenn Élise (Marie-José Nat) von Auto zu Auto schreitet und hektische Kontrollgesten ausführt, wobei die aufeinanderfolgenden Szenen kontinuierlich kürzer und schneller werden. Der ohrenbetäubende Lärm, die raschen Bewegungen und der Zeitdruck, der durch die schnellen Schnitte dargestellt wird, illustrieren - wie im Roman die Aufzählung der Arbeitsabläufe - den Stress und den Druck, dem sich Élise bei ihrer Arbeit ausgesetzt sieht. Dabei läuft das Fließband unerbittlich in seinem Rhythmus weiter, die Autos ziehen an Élise vorbei, und oft schafft sie es nicht, Schritt zu halten, ähnlich wie dies im Ausschnitt von Modern Times zu beobachten ist. Drachs Film legt besonders in Bezug auf die Hintergrundgeräusche in der Fabrik ein historisches Zeugnis ab. In einem Gespräch mit der Kunsthistorikerin Pascale Cassagnau und dem Regisseur Jean-Gabriel Périot über die Dreharbeiten bemerkt David Drach, der Sohn von Michel Drach und Marie-José Nat, bezüglich der Automobilfabrik in Algerien, die als Drehort diente: Le travail à la chaîne ne fut jamais stoppé pour les besoins du film. Impossible de ralentir la cadence de l’usine en plein fonctionnement. Nous parlons d’un temps où les usines n’étaient ni vraiment robotisées ni insonorisées. Le bruit des machines était si violent que les comédiens et les techniciens du film, intégrés aux vrais ouvriers, hurlaient pour se faire entendre, même à proximité. Mes parents racontaient que tous furent victimes de terribles maux de tête et de vomissements. Deux jours plus tard seulement, plus aucun effet secondaire. Ils s’étaient adaptés au bruit et l’équipe arrivait dorénavant à communiquer en parlant tout à fait normalement (Cassagnau 2022). Das durch den Lärm in der Fabrik ausgelöste Unwohlsein auf Seiten der Filmcrew gibt Aufschluss über die Anpassung, die die Menschen im Zuge der Industrialisierung an die neuen Arbeitsbedingungen zu leisten hatten. Drachs Film greift in seinem Anspruch an eine realitätsgetreue Darstellung der condition ouvrière Bruno Muels engagierter Dokumentation Avec le sang des autres (1975) vor und widerlegt teilweise Michel Boyers sechzehn Jahre zuvor erschienenen Dokumentarfilm En passant par la Franche-Comté (1954). Auch in Boyers Produktion werden unterschiedliche Kontrollen, wie Élise sie ausführt und wie sie auch im Bericht von Linhart zu finden sind (cf. 1989: 49), illustriert: Mithilfe von Kreide werden die auszubessernden Stellen direkt auf der Karosserie markiert oder nach visueller Erfassung der: des Arbeiters: in schriftlich protokolliert. Nicht nur wirken die Gesten der Arbeiterin bei 108 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Boyer kontrollierter und ruhiger, auch der Lärm ist verschwunden und wird durch eine Off-Stimme ersetzt (cf. 00: 43: 00-00: 43: 25). Die unterschiedlichen Inszenierungen der Fließbandarbeit bekommen so eine politische und ideologische Färbung. 7 Neben dem aus dem infernalen Rhythmus resultierenden körperlichen Verschleiß führt die Fließbandarbeit auch eine geistige Abnutzung der Arbeiter: innen herbei. Welche Konsequenzen hat die körperliche und geistige Degradierung zu einem an das Fließband angeketteten Werkzeug für die Arbeiter: innen? Entmenschlichung der Arbeiter: innen und Entfremdung der Arbeit Die Entmenschlichung der Arbeiter: innen am Fließband lässt sich auf die bereits erwähnten ökonomischen Konzepte von Fordismus und Taylorismus zurückführen, die ein System der Unterdrückung und der Entfremdung geschaffen haben, wie Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, besser bekannt unter dem Titel Pariser Manuskripte, von 1844 ausführt: Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Cretinismus für den Arbeiter (ibid.: 58-59). Die Arbeiter: innen werden zu Maschinen degradiert und durch die einfachen manuellen Arbeitsschritte geistig abgestumpft. Marx thematisiert zwei Transformationen der Arbeiter: innen durch die Fließbandarbeit: zunächst die zu einer Maschine, einem „outil“, die von Élise weiter oben angesprochen wurde (E 111). Des Weiteren spielt Élise auch auf die die Entfremdung der Arbeit an, unter der Marx vorrangig die Trennung zwischen der Produktion und dem Arbeiter versteht, wenn sie ihren Vorarbeiter fragt, warum den Arbeiter: innen nicht der ganze Fabrikationsprozess eines Automobils gezeigt wird: „On ne comprend rien au travail que l’on fait. Si on voyait par où passe la voiture, d’où elle vient, où elle va, on pourrait s’intéresser, prendre conscience du sens de ses efforts“ (E 97). Ihre Anfrage wird mit der Erklärung zurückgewiesen, dass ein solches Vorhaben die Produktion bremsen würde (cf. ibid.). In Wahrheit wird den Arbeiter: innen der Prozess nicht erklärt, weil ein ganzheitliches Wissen um die Produktion für die Ausführung der isolierten Arbeitsschritte nicht nötig ist. Die zweite Transformation, die Marx anspricht, ist die Verwandlung zurück in einen ‚barbarischen‘ Zustand, der oft durch eine Tieranalogie zum Ausdruck gebracht wird. Im Amerika-Teil von Célines Voyage au bout de la nuit (1932) erwidert der Arzt, der Bardamu vor seiner Anstellung bei Ford in Detroit einstellt, auf die Aussage des Protagonisten, er habe selbst Medizin studiert: - Ça ne vous servira à rien ici vos études, mon garçon! Vous n’êtes pas venu ici pour penser, mais pour faire les gestes qu’on vous commandera d’exécuter… Nous n’avons pas besoin DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 109 Dossier d’imaginatifs dans notre usine. C’est de chimpanzés dont nous avons besoin… Un conseil encore. Ne nous parlez plus jamais de votre intelligence! On pensera pour vous mon ami! (Céline 1993: 287, H.d.V.) Die Arbeit am Fließband verlangt nicht nach klugen Köpfen, sondern nach gehorsamen und im besten Fall stumpfen Arbeiter: innen, die tiergleich auf gewisse Gesten konditioniert werden, die sie tagein, tagaus ohne nachzudenken auszuführen haben. Irving Bernstein verwendet für die Fabrikarbeiter: innen bei Ford ebenfalls eine Tieranalogie, wenn er den Vergleich mit Ameisen heranzieht: „ant-like beings […] expected to enjoy the drudgery of existence“ (1969: 739). Und vor Céline und Bernstein schreibt Flaubert über die Nadelfabrik in Manchester in einem Brief an Louise Colet am 14. August 1853: Quel boucan l’industrie cause dans le monde! Comme la machine est une chose tapageuse! À propos de l’industrie, as-tu réfléchi quelquefois à la quantité de professions bêtes qu’elle engendre et à la masse de stupidité qui, à la longue, doit en provenir? Ce serait une effrayante statistique à faire! Qu’attendre d’une population comme celle de Manchester, qui passe sa vie à faire des épingles? Et la confection d’une épingle exige cinq à six spécialités différentes! Le travail se subdivisant, il se fait donc, à côté des machines, quantité d’hommes-machines. […] Oui, l’humanité tourne au bête. Leconte a raison; il nous a formulé cela d’une façon que je n’oublierai jamais. Les rêveurs du moyen âge étaient d’autres hommes que les actifs des temps modernes (Flaubert 1980: 393). Auch hier wird die Rückentwicklung vom denkenden Menschen zum Tier aufgegriffen. Diese Entwicklung lässt sich bei der Ich-Erzählerin in der Fabrik beobachten. Der Verschleiß der Arbeiter: innen reicht im Roman von einem ständigen Müdigkeits- und Erschöpfungszustand bis zu körperlichen Schmerzen, die im Extremfall von Verletzungen durch Arbeitsunfälle herrühren. Die Müdigkeit entfaltet im folgenden Chiasmus ihre volle Wirkung und fungiert als Kernaussage der condition ouvrière am Fließband: „J’espérais que mon corps s’habituerait à la fatigue, et la fatigue s’accumulait dans mon corps“ (E 98). Mit der Erschöpfung und Müdigkeit steigt auch das Risiko für Arbeitsunfälle: Bei einer Kontrolle geht Élise um ein Auto herum, als „une fatigue sournoise sciait [s]es muscles au ras de mollets“ (E 167), was sie dazu veranlasst, sich an dem offenen Kofferraumdeckel abzustützen, der zufällt und den Arm eines Arbeiters einklemmt. Der ständige Erschöpfungszustand hat eine zivilisatorische Rückentwicklung der Arbeiter: innen in einen animalischen Urzustand zur Konsequenz: Sie fühlen sich zu schwach für jegliche Körperpflege, schlafen während der Pause in den Ecken und auf den Böden der Fabrik, schlingen ihr Essen in der Mittagspause hinunter, ohne sich die Hände zu waschen, um noch ein paar Minuten länger schlafen zu können (cf. E 109), bevor sie wieder ans Fließband müssen. Sowohl Lucien als auch Arezki äußern gegenüber Élise, dass ihr Arbeitsalltag sie in einen „état sauvage“ (E 106), einen „était animal“ (E 86) zurückversetze. 110 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Die Entmenschlichung der Arbeiter: innen tritt auch dort besonders deutlich hervor, wo sie auf ein ,Stück‘ Menschlichkeit treffen, oder versuchen, sich diese zu bewahren. In der Krankenstation findet Élise beispielsweise unverhofft einen Zufluchtsort: L’infirmerie tiède, ensoleillée, où il y avait des objets humains, la bouilloire, la vapeur en spirales, un évier carrelé de blanc, des verres, me fit prendre en horreur le monde disproportionné de l’atelier, la chaîne, les piliers métalliques et l’odeur d’essence chaude (E 106). Der plötzliche Kontrast führt Élise das Grauen der technologisch fortschrittlichen Fabrik vor Augen, die jegliche Menschlichkeit absorbiert. Auch erinnert sie sich später während der Arbeit an einen Mozart-Akkord, den Lucien bei der Rückkehr von der Schule oft gesummt hat und den sie wieder aufnimmt: „Mon fredonnement se perdait dans le bruit de la chaîne. J’aurais voulu connaître la symphonie entière pour la soupirer comme une flûte dans le grondement des machines“ (E 124sq.). Der technologischen Fratze der Fabrik wird ein Raum mit auf den Menschen zugeschnittenen Installationen (Waschbecken) und Objekten (Wärmeflasche, Wasserkocher), den Geräuschen der Maschinen humane Klänge gegenübergestellt. Das Leiden und die Entmenschlichung der Arbeiter: innen werden im Roman jedoch nicht ausschließlich auf diese allgemeinen Kriterien reduziert. Der Terminus der ‚Arbeiterklasse‘, der sich auch im Titel meines Beitrags findet, ist in dieser Hinsicht ambivalent. Wie Linhart in seinem Bericht über die Organisation eines Streiks feststellen muss: „[I]ci, cette insertion ‚dans la classe ouvrière‘ se dissout en une multitude de petites situations individuelles, où je ne parviens pas à trouver une prise ferme. […] Chacun, ici, est un cas. Chacun a son histoire“ (1989: 60sq.). Es handelt sich demnach bei den Arbeiter: innen in der Automobilindustrie nicht um eine homogene Klasse - im Gegenteil: Diese setzt sich aus den unterschiedlichsten Einzelschicksalen zusammen. Diesem Umstand schenkt auch Etcherellis Roman Beachtung: Der Fokus liegt hier, wie schon eingangs erwähnt, auf Élise, Lucien und Arezki. Diese drei Figuren treten als Vertreter: innen dreier unterschiedlicher Gruppen in der Automobilindustrie auf: Frauen, ‚Störenfriede‘ (politisch aktiv und die Ordnung untergrabend) und Migranten. Die individuellen Schicksale erheben dabei den Anspruch auf eine Universalisierung der spezifischen Leiden dieser Gruppen. Die Frauen in der Arbeiterschaft kämpfen mit der schmutzigen Arbeit in der Fabrik und gegen die äußerliche Verwahrlosung. Élise bemerkt über ihre Mitstreiterinnen: „Elles arrivaient le matin, maquillées et coiffées, et réussissaient, dans la journée, à s’isoler pour remettre du rouge. Il y avait là quelque chose qui dépassait la coquetterie: une parade, une défense instinctive contre un travail qui finissait par vous clochardiser“ (E 139). Auch sehen sie sich nach der Arbeit zu einer ,Neugestaltung‘, einem „ravalement“ gezwungen, da die „[n]euf heures d’usine détruisaient le plus harmonieux des visages“ (E 160). Hier werden Taktiken beschrieben, die der Entmenschlichung entgegenwirken sollen. Lucien gerät hingegen wegen seiner Sympathie mit den migrantischen Arbeitern - im Roman ausschließlich Männer - und seiner militanten Einstellung ins Visier der DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 111 Dossier Vorgesetzten (cf. E 88), die ihn mit einer Versetzung in die Lackiererei ruhig zu stellen versuchen: „Sais-tu où ils m’ont envoyé? A la peinture. Je n’ai même pas envie de t’expliquer. Pour me dégoûter, pour que je parte. Il paraît que je sape le moral des ouvriers, je perturbe. Même le délégué est contre moi. Il dit que je vais trop loin“ (E 141). Als Lackierer arbeitet er am „endroit le plus sale de l’atelier. Les hommes vêtus de bleus tachés, avaient le visage barbouillé“ (E 81sq.). Kurz darauf erwähnt Lucien während der gemeinsamen Pause mit Élise, dass er nichts essen kann, weil er durch die Farbe vergiftet ist (cf. E 86). Später erkrankt er arbeitsbedingt an einem Bluthusten und muss ins Krankenhaus (cf. E 243sq.). Der Druck, der auf den migrantischen Arbeitern liegt, ist nicht minder hoch: Sie werden von den französischen Aufsehern als Arbeiter zweiter Klasse angesehen, wobei der ausgeprägte Rassismus aufgrund des Kriegs vor allem die Algerienstämmigen trifft. Mit am deutlichsten treten rassistische Ressentiments innerhalb der Fabrik zu Tage, wenn Arezki nicht erlaubt wird, auf die Krankenstation zu gehen, mit der Begründung, dass den algerischen Arbeitern kein Glauben zu schenken sei. Im Fall von Lucien und Arezki verdankt sich die quälende Arbeit demnach nicht allein der Natur des Fließbandes, sondern den in der Fabrik vorherrschenden Machtverhältnissen, die sich jedoch erst innerhalb der Logik der Fließbandarbeit realisieren können. Schluss Die Analyse von Claire Etcherellis Roman Élise ou la vraie vie hat sich auf die fiktionale Darstellung der condition ouvrière in der französischen Automobilindustrie Ende der 1950er Jahre in Paris konzentriert. Im Fokus standen die Darstellungen des Fließbands sowie dessen Dominanz über und die Auswirkungen auf die Arbeiter: innen. Das Fließband bringt für die Beschäftigten prekäre Arbeitsbedingungen hervor, unterwirft sie im Rahmen der Massenproduktion einem festen Rhythmus, verschleißt sie nicht nur, sondern entfremdet sie auch von ihrer Arbeit. Die Stärke von Etcherellis Roman liegt maßgeblich in der anschaulichen Darstellung, die sich aus der subjektiven Erzählperspektive von Élise und einer spezifischen Symbolik der Hölle sowie der Entmenschlichung ergibt. Dies ermöglicht einen intimen Zugang zur Realität von Fabrikarbeiter: innen der Automobilindustrie, der die dominante soziologische Perspektive in der Epoche um eine literarische ergänzt. Insbesondere ist dabei Etcherellis ureigene ‚Fließband-Ästhetik‘ hervorzuheben: Durch die Verwendung von Metaphern und Wiederholungen gelingt es ihr, den gleichzeitig monotonen wie infernalen Charakter der Fließbandarbeit sowie deren Auswirkungen auf die Arbeiter: innen in Form von Müdigkeit und Erschöpfung zu erfassen. In dieser Hinsicht gilt Etcherelli zweifellos als Wegbereiterin von François Bon und Leslie Kaplan, die sich in ihren jeweiligen in Bezug auf das Thema kanonischen Werken von 1982 - Sortie d’usine und L’Excès-usine - mit denselben ästhetischen Fragen rund um das Erzählen der Fabrik und der Fabrikarbeit konfrontiert sehen. Fragen, die allem Anschein nach auch im 21. Jahrhundert nichts an ihrer 112 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Aktualität eingebüßt haben und die 2019 in Joseph Ponthus’ Versroman À la ligne. Feuillets d’usine erneut Gegenstand einer literarischen Bearbeitung wurden. Mit der Schilderung seiner Fließbandtätigkeit in einer Fischfabrik und einem Schlachthof zeigt uns Ponthus, dass die Fließbandarbeit noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist, wenn er seinen Text mit den folgenden Versen schließt: „Il y a qu’il n’y aura jamais / De / Point final / À la ligne“ (Ponthus 2019: 273). Bauman, Zygmunt, Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2003. Beaud, Stéphane / Pialoux, Michel, Retour sur la condition ouvrière. Enquête aux usines Peugeot de Sochaux-Montbéliard, Paris, Fayard, 2004. Beauvoir, Simone de, „Écoutez cette femme... Un entretien de Simone de Beauvoir avec Claire Etcherelli“, in: Le Nouvel Observateur, 15. November 1967. Bernstein, Irving, Turbulent Years: A History of the American Worker 1933-1941, Boston, Houghton Mifflin, 1969. Bon, François, Sortie d’usine, Paris, Minuit, 1982. Boyer, Michel, En passant par la Franche-Comté [Dokumentation], Les Films Pierre Boyer, 1954, www.youtube.com/ watch? v=UTmKU_Me1XI&ab_channel=AmadePsa (letzter Aufruf am 25.04.2023). Cassagnau, Pascale, „Élise ou la vraie vie (1970), une histoire de France. Entretien avec David Drach et Jean-Gabriel Périot“, http: / / derives.tv/ elise-ou-la-vraie-vie-1970-104-une-histoirede-france (publiziert im September 2022, letzter Aufruf am 20.04.2023). Céline, Louis-Ferdinand, Voyage au bout de la nuit, Paris, Gallimard (folio), 1972. Chaplin, Charlie, Modern Times [Film], USA, United Artists,1936. Doumazane, Françoise, „De la production d’une œuvre à sa réception: Élise ou la vraie vie de Claire Etcherelli“, in: Pratiques, 32, 1, 1981, 66-104, DOI: 10.3406/ prati.1981.1221 (letzter Aufruf am 10.04.2023). Etcherelli, Claire, Élise ou la vraie vie, Paris, Denoël, 1977. Flaubert, Gustave, Correspondance, ed. Jean Bruneau, Bd. 2, Paris, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade; 284), 1980. Kaplan, Leslie, L’Excès-l’usine, Paris, Hachette, 1982. Kundera, Milan, L’Art du roman, Paris, Gallimard, 1986. Linhart, Robert, L’Établi, Paris, Minuit, 1989. Mallet, Francine, „,Les Prix Fémina: Claire Etcherelli parle‘“, in: Le Monde, 29. November 1967. Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, ed. Barbara Zehnpfennig, Hamburg, Meiner, 2005. Maugeri, Salvatore, „Filmer le travail à Peugeot Sochaux. 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Villermés, Louis René, Tableau de l’état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures de coton, de laine et de soie de 1840, Paris, EDHIS, 1979. Weil, Simone, La condition ouvrière, Paris, Gallimard, 1951. 1 Cf. Louis René Villermés’ Studie Tableau de l’état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures de coton, de laine et de soie von 1840. 2 Dominique Viart verweist mit Bezug auf Sonnets Werk auf die Verknüpfung von soziologischer Untersuchung und literarischer Spurensuche: „Apparaît enfin ce qui tient d’une véritable convergence, comme dans ce livre de Martine Sonnet, Atelier 62 (2008), qui conjoint un travail d’écriture mémorielle autour de la figure d’un père à une véritable enquête de sociologie historique sur le monde ouvrier, en l’occurrence celui des forges Renault de Billancourt où travaillait ce père taiseux dont il s’agit de restituer l’existence. La nature hybride de ce livre, dont les chapitres de souvenirs et d’enquête alternent, emblématise parfaitement la porosité à laquelle littérature et sociologie sont parvenues en l’espace de deux décennies“ (Viart 2012: 143sq.). In der Aufzählung genießt Sonnets Text demnach eine Sonderstellung, da er sich an der Schnittstelle zwischen Soziologie und Literatur bewegt, im Gegensatz zu den anderen Texten, in denen eindeutig ein soziologisches Interesse überwiegt. 3 Auch wenn sich Weil vollkommen in ihr Leben als Fabrikarbeiterin einfügt, haftet ihr doch immer die Kritik an, ihr Schicksal im Gegensatz zu den anderen Arbeiter: innen selbst gewählt zu haben. Weil steht mit ihrem Vorhaben allerdings nicht allein da, wie Michel Ragon bemerkt: „Allons! Se sont dit certains intellectuels bourgeois sincères, si la vérité est en usine, travaillons à l’usine, faisons-nous ouvriers. Le mouvement qui a poussé des étudiants à se faire ouvriers chez Renault après mai 1968, se plaçait dans une même perspective que l’élan qui fit les prêtres ouvriers après la Libération. Mais ce phénomène n’était pas nouveau. Henry Poulaille citait en 1930 Jean de Vincennes qui, pendant une semaine, s’astreignit à faire de ,bas métiers‘ et revint ensuite dans son appartement confortable, ,rescapé de l’enfer‘, écrire en toute quiétude De pauvres vies“ (Ragon 1986: 16). Weils Vorhaben ist dabei wesentlich authentischer einzustufen als das von Vincennes. Durand schleust sich inkognito in Sochaux ein und wird nach Enthüllung seiner Identität mit Feindseligkeit seitens der Arbeiter: innen bestraft, wohingegen sich Beaud und Pialoux nach Abwägung dafür entscheiden, sich bei ihrer Felduntersuchung von Beginn an als Soziologen auszuweisen. 4 Allerdings bemerkt Viart zugleich, dass Linharts Text eher soziologisch als literarisch einzuordnen sei und Etcherellis Roman sich stärker mit dem Thema der Diskriminierung der algerischen Bevölkerung im Frankreich der 1950er Jahre als mit dem Gegenstand der Arbeit auseinandersetze, und verweist auf René-Victor Pilhes’ Roman L’Imprécateur (1974) als Vorreiter einer ab den 1980er Jahren mit Francois Bon (Sortie d’usine, 1982) und Leslie Kaplan (L’Excès-L’usine, 1982) wieder auflebenden Arbeiterliteratur (cf. Viart 2012: 139). 5 Im Folgenden wird der Roman mit dem Sigle „E“ im Fließtext abgekürzt. 6 Im frz. Original: „non pas à travailler mieux, mais à faire travailler plus“ (Weil 1951: 226). 7 Eine genaue Untersuchung und Gegenüberstellung von Boyers und Muels Dokumentationen findet sich in Salvatore Maugeris Artikel „Filmer le travail à Peugeot Sochaux. Une approche comparative“ (Maugeri 2019). Interessant und zugleich erschreckend ist dabei auch der Erfolg von Boyers Dokumentation - die eher einem Werbefilm gleicht - im Vergleich zu der Muels: Bei Youtube erreicht En passant par la Franche-Comté fast 440.000 114 DOI 10.24053/ ldm-2023-0009 Dossier Aufrufe (verfügbar seit 2013), die Kommentarspalten sind voll von nostalgischen Bemerkungen im Stil „un grand moment de notre histoire industrielle! “, „Enfin un document patrimonial d’une extrême importance“ oder „Un petit Bijoux, vous y retrouverez peut être vos grands parents. A cette époque La France était un grand Pays“, wohingegen Muels engagierte Independent-Produktion bei YouTube nur etwas über 1000 Aufrufe erreicht (verfügbar seit 2021).
