lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0017
0414
2025
48190-191
Kippfiguren des Populären
0414
2025
Kristina Köhler
ldm48190-1910016
16 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier Kristina Köhler Kippfiguren des Populären Film als ‚art populaire‘ bei Louis Delluc Folgt man einem bis heute dominanten Narrativ der Filmgeschichtsschreibung, war das Kino von Beginn an ‚populär‘ - und zwar im dreifachen Sinne: erstens als Medium, das innerhalb kurzer Zeit zu großer Beliebtheit kam und ein Massenpublikum mobilisierte; zweitens in seiner Nähe zur Populär- und Massenkultur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an deren Schauanordnungen, Sujets, Erzähl- und Präsentationsweisen es anknüpfte; drittens in seiner Verbundenheit zu den unteren Gesellschaftsschichten - den prekär beschäftigten Schausteller*innen und Artist*innen, die Filme auf Jahrmärkten und Volkfesten vorführten, oder den Arbeiter*innen, die nach Feierabend oder am Wochenende in die Vorstellungen strömten. Die starke Akzentuierung des Populären (in einem oder mehreren dieser Aspekte) wurde in der Filmgeschichtsschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven eingebracht, vielfach revidiert und ausdifferenziert. Sie erwies sich gerade dort als richtungsweisend, wo es galt, das frühe Kino aus missverständlichen Lesarten herauszulösen, seine vermeintliche ‚Primitivität‘ als besonderes Kalkül („cinema of attractions“) herauszustellen und seine Genealogien bis in visuelle und performative Künste des 19. Jahrhunderts zu verfolgen (cf. u. a. Gunning 1986; Gaudreault 2008). Sie war auch dort wichtig, wo feministische Studien aufgezeigt haben, wie zentral der Kinosaal und gezeigte Filme zur Herausbildung alternativer öffentlicher Sphären für Frauen, Migrant*innen und Arbeiter*innen beitrugen (cf. u. a. Hansen 1994; Schlüpmann 1990). Problematisch wird die Beschwörung der populären Ursprünge des Kinos hingegen dort, wo sie sich - im Barthes’schen Sinne - zum Mythos verfestigt; wo Vorstellungen eines Publikums als ‚Arbeiter*innen‘ oder ‚Bourgeoisie‘ vereinfacht und stereotyp werden; und wo die Rede vom Populären ihre häufig politisch grundierten Programmatiken in die Geschichtsschreibung einträgt. 1 Das Kino als ‚populär‘ zu denken, kann in gewissen Kontexten heißen, es als ‚primitiv‘ und ‚unfertig‘ zu apostrophieren; in anderen Kontexten ist damit wiederum ein potenziell subversiver Raum beschrieben, in dem sich die classes populaires abseits bürgerlicher Normen und Überwachung ihrer selbst vergewissern konnten. Umgekehrt stand die Modellierung vom Kino als Kunst gerade in Zeiten, in denen Film noch nicht als Forschungsgegenstand etabliert war, für das Anliegen, Film als eigenständige Ausdrucksform ernst zu nehmen, seiner Analyse spezifische Theorien und Methodologien, aber auch Institutionen und Studiengänge zu widmen. Diese Perspektive lief wiederum Gefahr, die populären, auch anti-bürgerlichen Tendenzen des Films durch normative Kunstvorstellungen zu überschreiben. Entsprechend wurde auch jenes zentrale Narrativ, das die Filmgeschichte der 1890er bis 1920er Jahre als Kunstwerdung - vom populärem Medium zur Kunst - beschreibt, mal als „Nobilitierung“, mal als „Disziplinierung“ gewandt. Gemeinsam ist beiden Varianten, dass sie DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 17 Dossier an der Idee eines grundlegenden Antagonismus zwischen populären und künstlerischen Tendenzen des Kinos - hier als konsekutive Phasen gefasst - festhalten. * * * Innerhalb dieser - aus einer Vogelperspektive skizzierten - filmhistoriographischen Gemengelage bildet der Kontext der französischen Cinephilie um 1920 einen besonders spannenden Aushandlungsort für die Frage nach dem Populären: Gerade jene Schriftsteller*innen, Künstler*innen und Intellektuelle, die sich ab Mitte der 1910er Jahre für den Film zu interessieren beginnen, ihn in Schriften, Manifesten und Filmen als ‚neue Kunstform‘ feiern, zeigen sich zugleich fasziniert vom populären Kino: Neben Mary Pickford und Charlie Chaplin zieren um 1920 Porträts von US-amerikanischen Westernhelden oder Stars aus beliebten Filmserials die Titelzeiten cinephiler Filmzeitschriften wie Cinéa und Ciné pour tous. Auch in den von Ricciotto Canudo, Louis Delluc und Lucie Derain gegründeten Ciné-clubs waren die Grenzen zwischen Kunst und Populärkultur fließend: Schriftsteller*innen, bildende Künstler*innen, Theaterregisseur*innen trafen auf Drehbuchautor*innen, Filmregisseur*innen, Schauspieler*innen (cf. Albera 2005; Wild 2015). Mich interessiert im Folgenden, wie prominent und zugleich ambivalent cinephile Filmtheoretiker*innen in den 1910er und 1920er Jahren Begriffe des ‚Populären‘ zum Einsatz bringen. Um ihre Idee eines ‚guten‘ französischen Kinos zu konturieren, schreiben sie einerseits für und gegen gewisse Formen eines cinéma populaire; andererseits sind ihre Entwürfe in hohem Maße von Fantasien, Stereotypen und Verklärungen des Populären getragen. Am Beispiel der Schriften von Louis Delluc und an seinem Film Fièvre (1921) möchte ich den Spannungen und Widersprüchen nachgehen, die diese historische Konstellation von Cinephilie prägen. Gerade an Dellucs Konzeption vom Film als art populaire lassen sich diese Ambivalenzen, aber auch ihre Abwehr und Verschiebungen in den Blick nehmen. Bekenntnisse eines Cinephilen: Faszination und Vorbehalte gegenüber dem cinéma populaire Louis Delluc ist zunächst Schriftsteller und Dramaturg, bevor er zu einer zentralen Figur jener ‚ersten Welle‘ der Cinephilie wird, die sich in Frankreich gegen Ende des Ersten Weltkriegs formiert (cf. Abel 1984; Gauthier 1999). Das Kino soll ihn anfänglich kaum interessieren. Als er Mitte der 1910er Jahre als Soldat an der Front eine Filmvorführung des US-amerikanischen Eifersuchtsdramas The Cheat (1915, Cecil B. DeMille) besucht, ist sein Interesse geweckt (cf. Francis 1949: 62-64). Ab diesem Zeitpunkt beschäftigt er sich mit den Filmen seiner Zeit - zunächst in Filmkritiken und in filmtheoretischen Texten, später auch als Begründer von Filmclubs, Herausgeber von Filmzeitschriften, Drehbuchautor und Filmregisseur. In diesen unterschiedlichen Funktionen setzte er sich für eine Filmkultur in Frankreich ein, die nicht allein auf die Produktion ‚guter‘ Filme abzielt, sondern auch darauf, filmkulturelle Öffentlichkeiten herzustellen, in denen Filme als Kunst produziert, vorgeführt, geschaut 18 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier und theoretisch beschrieben werden können. 2 Dellucs Aktivitäten sind eingelassen in die weit verzweigten künstlerischen und publizistischen Netzwerke der 1910er und 1920er Jahre (cf. Hagener 2007); so ist er in Paris Teil einer - in ihren Interessen sowie ästhetischen und politischen Haltungen durchaus heterogenen - Gruppe cinephiler Schriftsteller*innen, Kritiker*innen, Regisseur*innen, darunter Jean Epstein, Léon Moussinac und Germaine Dulac. Dellucs Schreibstil ist suggestiv und pointiert, mitunter bissig und kontrovers. So begeistert er über US-amerikanische Filme schreibt, so vehement kritisiert er das französische cinéma populaire seiner Zeit, insbesondere die Filme von Louis Feuillade, die er zwar für handwerklich solide, aber künstlerisch wenig visionär hält. Seine Filme richteten sich nicht an ein ästhetisches Urteilsvermögen, moniert Delluc, sondern an eine naiv-affektive Zuschauerhaltung. Systematisch, so hat zuletzt Annie Fee (2015) kritisch herausgestellt, wird dieser Zuschauermodus in den Schriften cinephiler Autoren als „weiblich“ apostrophiert: Prototypisch für diese Zuschauerhaltung steht die demoiselle du cinéma, die bei Delluc, Epstein & Co. meist als junges Mädchen gezeichnet wird, das eifrig Abenteuerserien und Liebesschnulzen verfolgt, Filmstars verehrt und davon träumt, selbst Filmstar zu werden. Jean Epstein beschreibt sie so: Une jeune fille, ma voisine, confiante dans la pénombre, les mains jointes sous le menton, participait bien au drame de l’écran. Des exclamations lui échappaient et des gestes. Ellemême n’était plus guère, mais la prairie, les bars, les cavalcades et une romance naïve en elle. Excès d’émotion, elle enleva brusquement son chapeau et le remit. (Epstein 1921: 12) Ähnlich wie die Rede vom „kleinen Ladenmädchen“ bei Siegfried Kracauer (2004 [1927]) diente die Konstruktion eines affektiv-leichtgläubigen Zuschauermodus Delluc und Epstein auch als Negativfolie zur Profilierung ihrer männlich konnotierten, cinephilen Zuschauerposition - engagiert und begeisterungsfähig, zugleich geschmackssicher und souverän im ästhetischen Urteil. Wie Fee im Detail nachzeichnet, unternahm Delluc gelegentlich Versuche der ‚Umerziehung‘: Fans, die Feuillades Filme mit Begeisterung verfolgten, wurden von Delluc in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Cinéa für ihren vermeintlich ‚minderwertigen‘ Geschmack verurteilt. Die angesprochenen weiblichen Fans reagierten auf diese Polemik - etwa, indem sie Leserbriefe schrieben, die in den Publikumskolumnen der Cinéa abgedruckt wurden. So entgegnet eine Leserin im Mai 1921 selbstbewusst, sie schaue sich lieber Feuillades Les Deux Gamines (1921) an als die von Delluc empfohlenen schwedischen Filme (cf. Fee 2015: 116). Das Kino als art populaire: Ein Gesellschaftsentwurf Dass Filme ‚künstlerisch‘ gestaltet sein sollten, bildete in den 1910er und 1920er Jahren einen Gemeinplatz cinephiler Texte. So wenig umstritten diese grundlegende Forderung war, so unterschiedlich waren die dabei mitgedachten Vorstellungen von DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 19 Dossier Kunst und die daran geknüpften Programmatiken. So beschrieb etwa der musikwissenschaftlich geschulte Émile Vuillermoz das Kino über Vergleiche zur Musik und einen stark symbolistisch geprägten Kunstbegriff; Ricciotto Canudo hingegen suchte eine - an Hegels Ästhetik angelehnte - Idee von der Spezifik der Künste für den Film einzubringen (cf. Rodowick 2014). In den Film-Texten der Surrealisten dominierte ein anti-bürgerlicher Gestus: Das Kino wird hier als radikal neue Form des spectacle gefeiert, als Zäsur mit bürgerlich-tradierten Konzepten von Kunst. Delluc wiederum schreibt aus einer Perspektive, die Richard Abel (1985: 14) „internationalist-democratic-left-modernist“ nennt und die ästhetische und gesellschaftliche Entwürfe dezidiert zusammendenkt. Tatsächlich schreibt er dem Kino nicht nur das Potenzial zu, klassische Kunst und populäre Unterhaltungsformen miteinander zu vereinen, sondern sieht darin auch die Möglichkeit, die stark hierarchisch angelegte Klassengesellschaft Frankreichs zu vereinen. Das klingt versöhnlich, stellt ihn jedoch auch vor eine konzeptuelle Herausforderung: Wie lässt sich das Kino als klassenumfassende Kunst denken, ohne es einseitig mit den ästhetischen Kategorien des Bürgertums zu theoretisieren? Durch verschiedene Filmkritiken und Essays hindurch lässt sich beobachten, wie Delluc mit dieser Frage ringt, sie immer wieder aufgreift und weiterdenkt. Mehr als um eine definitive Antwort, scheint es ihm darum zu gehen, die Frage selbst in Bewegung zu halten - sie aus verschiedenen Richtungen, über unterschiedlich akzentuierte Vergleiche und Beispiele einzukreisen. Eine wiederkehrende Denkfigur bildet dabei die Idee vom Kino als art populaire, wie er sie bereits 1918 in „L’art du Cinéma“ skizziert: „Un art, évidemment, ce sera un art. […] La grande puissance de cet art balbutiant, c’est qu’il est populaire. Dans la liste des civilisations on trouve peu de moyens d’expression aussi directs“ (Delluc 1986: 115). In Skizzen wie diesen knüpft Delluc allenfalls noch assoziativ an bereits etablierte Begriffe oder Genealogien eines art populaire an. 3 Vielmehr kehrt er die Perspektive kurzerhand um und erklärt Referenzen eines klassischen, westlichen Bildungskanons - das griechische Theater, Shakespeare und Molière - zu Vorläufern einer „populären“ Kunst. Als „populär“ bezeichnet er hier in einem rudimentären Sinne das, was beliebt ist, und zwar (potenziell) bei allen. In seinem Text „La Foule devant l’Écran“ von 1920 setzt er noch einmal in einer etwas anderen Wendung an: „le cinéma n’est pas un art populaire. Il appelle à soi non le peuple, mais la foule. Et la foule contient tout […]. La foule résume le monde“ (Delluc 1985a: 70). Die zunächst überraschende Negation („n’est pas un art populaire“) erlaubt Delluc, seinen Begriff des Populären zu schärfen: Das Kino ziele nicht auf die Ordnungsgröße des Volkes (peuple), sondern auf die der Masse (foule). Durch diese Unterscheidung ersetzt Delluc das traditionelle und nationalistisch aufgeladene Konzept des Volkes durch einen ‚moderneren‘ und offeneren Begriff der „foule“. Freilich nimmt er dabei - wie viele seiner eher progressiv argumentierenden Mitstreiter*innen - eine Umwertung vor: Der von der Sozialpsychologie des 19. Jahrhunderts (etwa Gustave LeBon) geprägte Begriff der ‚foule‘ gelangte zunächst mit 20 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier negativer Konnotation in frühe Filmtexte, als Verweis auf die Masse lenkbarer, willenloser Zuschauer*innen (cf. Plasseraud 2011). Kinobefürworter wie Delluc eigneten sich den Begriff in ihren Theorien mit veränderter Wertung an: Die „Masse vor der Leinwand“ steht in Dellucs Texten für eine neue Form von Gemeinschaft, die Menschen aller Klassen und Nationen zusammenführen könne. In seinem Essay „D’Oreste à Rio Jim“ von 1920 bezieht er das Gemeinschaftliche des Kinos auf die ganze Welt: „L’hémicycle où se réunissent les spectateurs du cinéma c’est le monde entier. Les êtres les plus divers et les plus extrêmes assistent à la même heure au même film sur toute la mappemonde. N’est-ce pas magnifique? “ (Delluc 1985b: 140). Dellucs Vision vom Kino als Kollektiverfahrung trägt deutlich pazifistische und unanimistische Züge; sie zielt - so kurz nach dem Krieg - auch auf eine Dimension der Völkerverständigung (cf. Tröhler 2016). Während die Rede vom Populären somit eine universalistisch-humanistische Ausweitung erfährt, bindet Delluc sie in „La Foule devant l’Écran“ zugleich wieder enger an die classes populaires zurück. In detaillierten Beschreibungen verschiedener Kinosäle und deren Zuschauer*innen suggeriert Delluc einen Zusammenhang zwischen Rezeptionshaltung und Klassenzugehörigkeit. Dabei spielt er einerseits auf erwartbare Zuordnungen an: etwa, dass ein bürgerliches Kino-Publikum mit distanziert-kontemplativer Schauhaltung auf die Filme schaue, während Zuschauer*innen der Arbeiterkinos affektiv-spontan reagierten. Während Delluc diese Klischees stellenweise aufruft - etwa den Snobismus eines bürgerlichen Publikums, das sich populäre Filme nur anschaue, um sich darüber lustig zu machen, unterwandert er an anderen Stellen diese Klischees. So besteht die Pointe seiner Ausführungen darin, dass er das Publikum der einfachen Arbeiter- und Provinzkinos als besonders aufmerksam, geschmackssicher und kino-kompetent erlebt. In einem „affreux petit cinéma de Clermont-Ferrand“ beobachtet Delluc (1985a: 73) fasziniert die Reaktionen des Publikums: Le charme de l’écran épanouit violemment le goût des foules si rebelle à se laisser cultiver par tout autre art. Quelques centaines d’ouvriers et de femmes simples s’attachèrent à la délicatesse d’un petit film japonais, sans action, fait de gestes, de fleurs et de papiers décorés. Hier beobachtet Delluc (1985a: 75) eine „sensibilité populaire“ als besondere Empfänglichkeit der „kleinen Leute“, sich - ohne Vorbildung - auf qualitativ hochstehende Filme einlassen zu können. Am liebsten, so schreibt er weiter, seien ihm die Kinobesucher*innen der unteren Schichten, wie sie ihm in den Kinos der Pariser Faubourgs begegnet seien: „ils ne me plaisent pas seulement par leur silence et leur attention, mais surtout par leur finesse, leur goût, leur pénétration“ (ibid.: 74). Gerade mit dieser Verbindung einer affektiv-spontanen Empfänglichkeit und eines ‚unverfälschten‘ Urteilsvermögens ähneln die Reaktionen dieses Publikums dem Erfahrungsmodus, den Delluc als cinephil beschrieben hatte. Und so werden die ‚gewöhnlichen‘ Zuschauer*innen für Delluc zu den eigentlichen Expert*innen des Kinos. DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 21 Dossier * * * Dellucs Entwurf vom Kino als art populaire sind eine Reihe offensichtlicher Spannungen und Widersprüche eingeschrieben: Er gibt sich einerseits anti-elitär, antibürgerlich und zelebriert die Nähe zum Populären (auch als transgressiven und emanzipatorischen Akt); andererseits ist sein Anliegen pädagogisch angelegt und getragen von einer (mitunter snobistischen) Mission des guten Geschmacks. Es gibt sich mit klassen- und weltumarmender Geste solidarisch mit den classes populaires und bleibt dennoch hochexklusiv. Kritisch anzumerken ist auch, dass Dellucs euphorische Vision vom Kino als internationaler Gemeinschaft, die alle Menschen durch die Universalsprache der Filme verbindet, nicht nur Machtgefälle und Ausschlussmechanismen verdeckt, sondern auch das dahinter liegende System einer kapitalistisch-wettbewerbsorientiert und global agierenden Filmindustrie übersieht. Mit dem Risiko dieser Verklärungen und ‚blinden Flecken‘ hält Delluc seine Rede vom Populären offen, überblendet ästhetische und soziale Argumente. Latent sind seine Ausführungen durch das dramaturgische Schema vom Klassenkampf angeleitet: So ruft er immer wieder Klassendifferenzen auf, lässt populäres und künstlerisches Kino gegeneinander antreten, um seine Vision vom Kino als art populaire sodann als Überwindung dieser ästhetischen und sozialen Differenzen zu behaupten. Dabei bedient er sich in seinen Schriften eher einer Rhetorik der Um- und Verkehrungen als der Versöhnung. Wie kommt Dellucs Idee vom Kino als art populaire und die damit verbundenen Topoi des Populären in seinen Filmen zur Aushandlung? Mit welchen Bildern, Darstellungsregimes und filmästhetischen Verfahren werden diese Fragen des Populären adressiert? Aushandlungen des Populären in Fièvre (F 1921) 4 Marseille, eine Hafenkneipe: Hier begegnet die Wirtin Sarah ihrem früheren Geliebten, dem Matrosen Militis, wieder. Ihre Leidenschaft flammt auf; es kommt zu Eifersucht und Handgreiflichkeiten. Es ist ein einfacher Plot, kaum mehr als ein fait divers, um den Louis Delluc seinen Film Fièvre (1921) komponiert. Es war der vierte von insgesamt sieben Filmen, die er zwischen 1920 und 1924 drehte, und stand in direktem Bezug zu seinem literarischen Schaffen. Als Vorlage diente seine eigene Kurzgeschichte „Tulip’s Bar“, die 1919 in der Satire-Zeitschrift Fantasio publiziert worden war. Der Film wurde von der Alhambra-Film produziert und in nur acht Tagen in den Filmstudios von Buttes-Chaumont bei Paris gedreht. In Produktionsnotizen betont Delluc (1990b: 63), er habe die Geschichte des Films bewusst einfach gehalten, „assez directe pour parler à tous les esprits et à toutes les âmes“. Ganz im Sinne seiner Idee vom Kino als art populaire schien Fièvre als künstlerisch hochstehender Film für die Massen konzipiert. 5 Dazu gehört eine Filmsprache, die sich in ihrer Machart deutlich von populären Filmen der Zeit abheben sollte. Während Feuillades Filme ihre Botschaften unmissverständlich ausfor- 22 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier mulierten, setzten Delluc und seine Mitarbeiter*innen auf eine suggestive Erzählweise, die sich über ein reduziert-stilisiertes Schauspiel, eine auffällige Licht- und Schattensetzung sowie eine Dramaturgie, welche die Erzählung rhythmisch und in Intensitäten modulierte, als ‚künstlerisch gestaltet‘ zu erkennen gab. Zugleich bezog sich Fièvre, der ursprünglich „la boue“ heißen sollte, ganz dezidiert auf ein kulturelles Imaginäres der classes populaires, wie es Romane, Theater, Oper, Malerei und visuelle Kulturen im 19. Jahrhundert bearbeitet hatten. Mit der zwielichtigen Hafenkneipe erklärt der Film das Milieu der Unterklasse zum Handlungsort und gestaltet dieses mit den Stilmitteln des Kammerspiels zu einem atmosphärischaffektiven Gefüge aus. In diesem Rahmen entfaltet sich der melodramatische Plot eines amour fou, der in Eifersucht und Affekthandlung endet. Auch die Figuren des Films scheinen vertraut, ja fast stereotyp: Da ist der joviale und zugleich etwas angespannte patron (Gaston Modot); seine Frau Sarah (Ève Francis), porträtiert als selbstbewusste femme d’âge mûr, die ihre Kneipe mit einer Mischung aus Verve und Pragmatismus führt; schließlich der charismatische, aber auch unnahbare Seemann Militis (Van Dael). Um sie gruppiert der Film einen erweiterten Mikrokosmos aus Prostituierten, Matrosen, Drogenabhängigen, Spielern und (anderen) abgehängten Existenzen. Abb. 1a/ b: Figuren als soziale Typen Mit fast schon soziologischem Blick stellt Fièvre diese Nebenfiguren in der Exposition vor: Jede Einstellung mutet wie ein kleines Porträt an, löst die Figur über die Kadrierung für einen Moment aus der Gesamtsicht heraus, gibt Zeit, ihre Gesichter, Körperhaltung, Kleidung und Accessoires zu studieren (Abb. 1a/ b). Für einen Moment sehen wir den Figuren dabei zu, wie sie warten, zaudern, die anderen Gäste mustern, sich die Zeit vertreiben, spielen, saufen, plaudern. Zwischentitel wie „le petit fonctionnaire“, „l’ivrogne“, „la femme à la pipe“ unterstützen die Lesart der Figuren als soziale Typen. 6 Ein solch inventarisierender und typologisierender Gestus wiederholt sich mehrfach im Film - etwa, wenn die Schiffsleute und Prostituierten die DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 23 Dossier Bar betreten. Interessant ist, dass er sich auch paratextuell in die Presse-Berichterstattung zum Film einschreibt. In zahlreichen Artikeln zu Fièvre waren Porträts des Figuren-Ensemble in Bildserien abgedruckt - mal in Fotografien, wie Filmkader gerahmt (Abb. 2), mal in den stilisierten Zeichnungen des Illustrators Bécan (aka Bernhard Cahn) (Abb. 3a/ b). 7 Abb. 2: Die sozialen Typen aus Fièvre als Bilderbogen (Darstellung in der Zeitschrift Cinéa, 1921) Abb. 3a/ b: Die Figuren von Fièvre in den typisierenden Illustrationen von Bécan (in der Zeitschrift Cinéa, 1921) Diese soziale Typologisierung erinnert an einen Gestus, den die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts mit den physiognomies zu einer eigenen Gattung ausgearbeitet hatte: Dabei handelte es sich um detaillierte Beschreibungen von Personentypen als „types moraux et sociaux“, die mit klinisch-distanziertem Blick und spöttischem Unterton auf ihre Eigenheiten und Ticks durchleuchtet wurden: „le chef d’orchestre“, „l’homme du peuple“, „la femme adultère“. Als kurze Skizzen erschienen die physiognomies in satirischen Zeitschriften, wurden in kleinen Heften oder als aufwändig illustrierte und enzyklopädisch angelegte Bildbände wie Les Français peints par eux- 24 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier mêmes. Panorama social du XIX e siècle (1840-1842) veröffentlicht (cf. Sieburth 1984). Das Blättern durch die einzelnen Porträts oder das Betrachten der Illustrationen auf Bilderbögen legte nahe, die Zusammenschau auch als Panorama der französischen Gesellschaft zu lesen, in dem alle Typen formal gleich(wertig) behandelt wurden. 8 Die für die physiognomies des frühen 19. Jahrhunderts so charakteristische Tonlage der Überzeichnung und Karikatur klingt in Fièvre entfernt an. Zwar dominiert auch in Dellucs Film ein sachlich-distanzierter Blick, der sich dezidiert absetzt von einem naiv-identifikatorischen Miterleben, wie es Delluc den demoiselles du cinéma zugeschrieben hatte. Doch ist dieser beobachtende Blick in Fièvre mindestens ebenso sehr sozialdokumentarisch geprägt. Der Film ähnelt darin auch den nur wenige Jahre später entstehenden Fotoserien Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander, in denen Details und Arrangements stärker darauf hinwirken, die Porträtierten sowohl in ihren typischen Aspekten als auch in ihren individuellen Zügen herauszustellen. Delluc setzt typologisierende Verfahren und plurale Figurenkonstellation (cf. Tröhler 2006) auch ein, um seine politische Vision vom demokratisierenden Potenzial des Kinos filmästhetisch auszuarbeiten. Es seien die „dix à quinze petites tragédies qui composent cet essai d’ensemble tragique“, kommentiert Delluc (1990b: 63), die ihn an der Geschichte besonders interessiert hätten. Das Hauptaugenmerk sollte nicht dem Individuum, sondern dem Neben- und Miteinander der vielen gelten. Hierarchien zwischen Haupt- und Nebenfiguren sind in Fièvre zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber doch tendenziell abgeschwächt. Die Kamera bleibt über weite Strecken frontal aufs Geschehen ausgerichtet und gibt den Raum der Kneipe wie eine Guckkastenbühne zu sehen, auf der sich vieles gleichzeitig ereignet. Gerade im zweiten Teil, in dem Matrosen und Prostituierte die Bar beleben, setzt Fièvre massiv auf Einstellungen, in denen tanzende Paare, Gäste an Tischen, das Gespräch zwischen Sarah und Militis hinter- und nebeneinander ins Bild gesetzt sind (Abb. 4a/ b). Es sei ihm um die Herstellung von Bildern gegangen, in denen viele Figuren gleichwertig im Raum agieren können, betont Delluc. Am Set habe er bis zu dreißig Personen angeleitet „qui doivent rester au même plan, c’est-à-dire demeurer aussi importants les uns que les autres aux yeux du spectateur“ (Delluc 1990b: 63). Dellucs Vision von einer Demokratisierung der Masse im Kinosaal findet in dieser Enthierarchisierung des filmischen Raums ihre filmästhetische Entsprechung. Sie liest sich auch wie eine Vorwegnahme von André Bazins Überlegungen zu Schärfentiefe und Plansequenz aus den 1950er Jahren. Der Einsatz dieser Verfahren, so schreibt Bazin, affecte, avec les structures du langage cinématographique, les rapports intellectuels du spectateur avec l’image […]. Alors que dans le montage analytique il n’a qu’à suivre le guide, couler son attention dans celle du metteur en scène qui choisit pour lui ce qu’il faut voir, il est requis ici à un minimum de choix personnel. (Bazin 2002: 75) DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 25 Dossier Abb.4a/ b: Gleichzeitig und Nebeneinander: Enthierarchisierungen des Raums So klar Fièvre seine Figuren in den classes populaires verortet, so werden diese Zuordnungen mitunter uneindeutig und brüchig. Entgegen einer statischen Idee von Milieu durchzieht eine eigentümliche Ort- und Heimatlosigkeit sämtliche Figuren. Das gilt für die Seeleute, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und sich als Reisende zwischen den Welten bewegen. Das gilt auch für die Prostituierten - als Figuren, die im kulturellen Imaginären mit hoher sozialer Versatilität ausgestattet sind, wie Anne-Sophie Donnarieix vermerkt: Die Prostituierten verwischen […] die Grenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus, sie können von einer sozialen Schicht in die höhere (oder niedrigere) wechseln - und beunruhigen daher die politischen Mächte […]. (Donnarieix 2023: 69) Dieses Verwischen sozialer Klassenordnungen vermittelt sich in Fièvre auch über Ausstattung und Kostümbild. 9 Mit ihren raffinierten Abendkleidern, reich verzierten Schals und aufwändig bestickten Röcken wirken die Prostituierten weitaus eleganter und wertiger gekleidet als ihre Kunden (Abb. 5a/ b). Die Diskrepanz zwischen sozialem Status und Kleidung bleibt zwar über das Schauspiel markiert, wird jedoch nicht vollständig aufgelöst. In jenen Einstellungen, in denen die Kamera den Blick frei gibt auf die Schauwerte glitzernder Strass-Applikationen und glänzender Satinröcke scheint für einen Moment auch Überfluss, Luxus und Glamour zelebriert, wohingegen sich der Film an anderer Stelle mit der Einfachheit der classes populaires solidarisiert. Mit der etwa zur Hälfte des Films in Erscheinung tretenden Figur der namenlosen „Orientalin“, gespielt von der russischen Schauspielerin Elena Sagrary, erweitert sich das bis dahin dominante Thema der classes populaires um koloniale und vergeschlechtlichte Kräfteverhältnisse. Die „Orientalin“ wird ganz anders als die anderen Figuren eingeführt: Als eines der zahlreichen „Mitbringsel“, das die Seeleute von ihren Reisen importiert haben, kauert sie inmitten der prächtigen Stoffe, alten Vasen, ausgestopften und lebenden Tiere am Boden. In kurzen Rückblenden wird sodann erzählt, wie Militis sie bei seinem Aufenthalt in den „Kolonien“ in einem Akt von Fürsorge und kolonialer Aneignung heiratet. Ein deutlicher Exotismus durchzieht ihre 26 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier Darstellung - nicht nur in Kostüm und Körpersprache, sondern auch in der uneindeutigen Weise, wie Fièvre sie zwischen Objekt- und Subjektposition oszillieren lässt. So ist sie einerseits reine Spielmasse im Begehren zwischen Sarah und Militis, wird andererseits - zumindest für einen kurzen Moment - zur Trägerin des Blicks und „Fokalisierungsinstanz“ (Weghofer 2014: 99): Eine PoV-Sequenz koppelt ihren Blick mit einer Montage, die die soziale Typologie der Kneipe noch einmal aufruft - nun sind alle sichtlich besoffener, die Porträts kippen deutlich ins Groteske (Abb. 6a/ b). 10 In der Tradition ironisch-gesellschaftskritischer Blickinversionen in der Literatur - etwa Montesquieus Lettres persanes - ruft dieses Verfahren eine sozialkritische Funktion auf: Die vermeintlich „unschuldige“ Kindsfrau aus der fremden Kultur wird zur Projektionsfläche eines anderen Blicks, der die Distanz zum ohnehin als befremdlich gezeichneten Treiben in der Kneipe vergrößert und die Dekadenz und Dysfunktionalität westlicher Gesellschaften entlarvt. Allerdings bleibt ihre Position zwischen Othering und Aneignung hochproblematisch: Ähnlich wie der Zuschauermodus der demoiselles du cinéma wird ihr Blick zugleich abgewertet und verklärt, Abb. 5a/ b: Schauwerte von Opulenz und Glamour in der Darstellung der Prostituierten Abb. 6a/ b: Der Blick der Orientalin DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 27 Dossier ausgeschlossen und angeeignet. Ihr Schauen muss fremd und unwissend bleiben, um als Außenposition wirksam zu werden; zugleich sorgt die stereotype Darstellung dafür, dass auch sie - ganz in der Wirkweise der physiognomies - der sozialen Anatomie Frankreichs ‚einverleibt‘ wird. Schluss Während die französische Cinephilie der 1920er Jahre lange Zeit vor allem als Aushandlungsort ästhetischer Fragen rund ums Kino untersucht wurde, legen die hier am Beispiel der Schriften und Filme von Louis Delluc untersuchten Wendungen des Populären tieferliegende Aushandlungen mit gesellschaftspolitischen Themen frei. Dellucs Vorstellung vom demokratisierenden Potenzial des Kinos findet sich nicht nur in seinen Schriften skizziert, sondern lässt sich auch in seinen Filmen wiederfinden - etwa in den vielfach eingesetzte Konstellationen des Nebeneinanders, die auch als Gegenentwurf zu vertikal imaginierten Klassenhierarchien angelegt sind: die im Kinosaal nebeneinander platzierten Zuschauer*innen; der von den physiognomies inspirierte Gestus der sozialen Typologie; die weiten, offenen und enthierarchisierten Räume von Fièvre, in denen alles gleichzeitig zu passieren scheint. Wenn sich Dellucs Rede vom art populaire als durchaus ambivalente Kippfigur erweist, so hält sie in seinen Schriften noch zusammen, was sich im Verlauf der 1920er Jahre zunehmend zu distinkten Positionen des französischen Kinos ausdifferenzieren sollte: zum einen Vertreter*innen eines an formalen und ästhetischen Experimenten interessierten Avantgarde-Kinos, die unter dem Schlagwort des cinéma pur für eine Konzentration des Films auf Visualität, Rhythmus, Licht plädierten; zum anderen Positionen eines sozial engagierten Kinos, die Anliegen und Themen der classes populaires auf die Leinwand zu bringen suchten. Es ist dieser zweite Strang, der sich im Laufe der 1930er Jahre mit den Filmen von Jean Renoir, René Clair und Marcel Carné im großen Stil entfalten sollte, wie Susan Hayward (1993) vermerkt: „The proletariat - most especially the Parisian working class - became the new iconography denoting ‚Frenchness‘.“ Gerade mit Blick auf diese politischen Subtexte lohnt es sich, die cinephilen Diskurse einer kritischen Revision zu unterziehen - schließlich haben die in den 1920er Jahren von Delluc und seinen Mitstreiter*innen ausgehandelten Denkfiguren das kulturelle Selbstverständnis der Grande Nation als Filmnation nachhaltig geprägt und Vorstellungen einer spezifisch französischen Cinephilie herausgebildet, die bis heute wirksam sind. Abel, Richard, French Cinema: The First Wave, 1915-1929, Princeton, Princeton UP, 1984. —,„On the Threshold of French Theory and Criticism, 1915-1919“, in: Cinema Journal, 25/ 1, 1985, 12-33. Albera, François, L’Avant-Garde au cinéma, Paris, Armand Colin, 2005. 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Jahrhundert an den Schnittstellen von Anthropologie, Ethnologie und Kunstgeschichte aufkommen. 4 Fièvre wurde im Rahmen der hier dokumentierten Sektionsarbeit im Österreichischen Filmmuseum vorgeführt. Die folgenden Analysen beziehen sich auf diese Vorführung einer Kopie aus den Beständen des Österreichischen Filmmuseums sowie auf ein Digitalisat aus der Cinemathèque française (online unter www.cinematheque.fr/ henri/ film/ 48026-fievrelouis-delluc-1921 [letzter Zugriff am 01.08.2024]). 5 Zeitgenössische Kritiken zeigen deutlich, dass Fièvre schon damals an dem von Delluc formulierten Anspruch gemessen wurde. So vermerkt ein Kritiker in Comœdia, es sei Delluc mit Fièvre nicht gelungen, „de lui amener à la fois la foule et les artistes“. Ganz ähnlich 30 DOI 10.24053/ ldm-2023-0017 Dossier bilanziert Germaine Dulac im Rückblick: „Fièvre wurde zunächst von der Menge nicht verstanden“ (Dulac 2016: 453sq.). 6 Das ähnelt dem Gestus, mit dem Delluc in seinen Texten wie „La Foule devant l’Écran“ über das Kinopublikum spricht, das er jeweils auch in Typen evoziert: Da ist mal von „ouvriers“ und „femmes simples“ die Rede, mal von „des mécanos, des marlous, des manœuvres et des conditionneuses“ (Delluc 1985a: 73). 7 So etwa in Tedesco 1923: 12-13 und N. N. 1921: 20. 8 Walter Benjamin sollte die „panoramatische Literatur“ für ihr Pathos und ihre „Harmlosigkeit“ kritisieren: „Zum letzten Mal erscheint der Arbeiter, außerhalb seiner Klasse, als Staffage einer Idylle“ (Benjamin 1982: 48). 9 Die Kostüme wurden von dem Maler Kees van Dongen und Hélène Berthelot gestaltet. 10 Dieser Blickwechsel wird in der literarischen Vorlage expliziter verhandelt (cf. Delluc 1990d). Auch Werbeanzeigen für Fièvre bemühten sich, diesen Blickwechsel kenntlich zu machen - vermutlich um missverständlichen Auslegungen des Films entgegenzuwirken: „Imaginez l’impression produite par un bouge mal famé sur une âme neuve - une petite orientale - brusquement jetée au milieu de violence et ne pouvant pas s’en évader“ (in: Cinéa, 26, 4. November 1921, 1).
