eJournals lendemains 48/190-191

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0019
0414
2025
48190-191

‚À nous les temps modernes‘

0414
2025
Jonas Hock
ldm48190-1910043
DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 43 Dossier Jonas Hock ‚À nous les temps modernes‘ René Clairs und Charlie Chaplins Wege in den populären Tonfilm und Auswege aus den Zwängen der Industriearbeit Mais l’œuvre cinématographique, attachée à son époque comme un coquillage à sa roche, subit à rebours la loi du temps qu’elle défiait et, immuable dans un monde changeant, semble s’éloigner de nous à mesure que le flux des années nous emporte loin d’elle. (Clair 1962) Im Mai 1936 verklagte die Tobis, nach der UFA die zweitgrößte deutsche Filmproduktionsfirma, die amerikanische Konkurrentin United Artists wegen Plagiats. 1,2 Millionen Francs Schadenersatz verlangte man dafür, dass Charlie Chaplin mit dem im selben Jahr in die Kinos gekommenen Modern Times auf Ebene der Handlung, des Szenenbilds und der zentralen Themen von René Clairs À nous la liberté (1931) abgekupfert habe. Mechanisierung und Überwachung von Arbeit und Alltag, Gefängnis und Fließband (Abb. 1), denen nur durch beherzte Flucht über die Landstraße (Abb. 2) zu entkommen ist - auf den ersten Blick sind die Parallelen zwischen beiden Filmen tatsächlich verblüffend. Abb. 1 und 2: In David Robinsons Audio-Essay „The Tobis vs. Chaplin Affair“ auf der Criterion Collection-DVD von À nous la liberté werden der Film von Clair und der von Chaplin gegenübergestellt (0: 02; 17: 50). Chaplin und sein Team waren allerdings erstaunt, hatte doch niemand, so versicherten sie, den fünf Jahre zuvor erschienenen Film aus Frankreich gesehen (Robinson 2002). René Clair selbst wurde von der Klage überrascht und lehnte es - er hatte der Tobis sämtliche Rechte übertragen - ab, sich ihr anzuschließen. Er ließ sogar verlauten, es wäre ihm eine Ehre, hätte Chaplin, den er sehr bewundere, 1 sich durch 44 DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 Dossier seinen Film inspirieren lassen (Billard 1998: 187). Umgekehrt ist nämlich die Figur des Émile in Clairs Film unmittelbar durch Chaplins ‚Tramp‘ inspiriert (ibid.: 183sq.). Jenseits dieser anekdotischen juristischen Verwicklung, aus der die beiden Filme bis heute nicht ganz zu lösen sind, besteht ihr entscheidender gemeinsamer Fluchtpunkt weniger in punktuellen Ähnlichkeiten thematisch-inhaltlicher oder auch technischformaler Natur, sondern in ihrer Aushandlung des Zusammenhangs zwischen Arbeit/ Ausbeutung, Freizeit / Freiheit bzw. Unterhaltung und Technik/ Mechanisierung vor dem Hintergrund der Etablierung des Tonfilms seit den späten 1920er Jahren. Modern Times ist der letzte Film, in dem Chaplin auf die Figur des ‚Tramp‘ - frz. ‚Charlot‘ - zurückgreift, dessen Abgang am Ende des Films (Abb. 2 links) also auch einer aus der Kinogeschichte ist. Gleichzeitig handelt es sich um einen Scharnierfilm zwischen seinen ‚stummen‘ und seinen Tonfilmen, also City Lights (1931) und The Great Dictator (1940), was vermutlich auch das Gerücht begründet, hinter der Klage gegen Chaplin und Co. durch die gleich nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten gleichgeschaltete Tobis habe Joseph Goebbels gestanden und eigentliches Ziel sei die Verhinderung der Hitler-Satire gewesen (so z. B. Mason 1982: 85). Die Handlung von Modern Times ist gleichzeitig simpel und verwickelt, handelt es sich doch um eine Abfolge lose verbundener Episoden, die auch für sich als Einzelsketche fungieren könnten. Von der ikonisch gewordenen Eingangssequenz, die Charlie am Fließband zeigt, wo er bald eine Zwangserkrankung entwickelt, über die Einweisung in die Klinik, Arbeitslosigkeit, die - unfreiwillige - Teilnahme an einer Demonstration und Inhaftierung etabliert sich ein Zyklus, den die Hauptfigur insgesamt dreimal durchläuft, ergänzt und schließlich durchbrochen durch die namenlose ‚Gamine‘, die kurz den Traum vom bürgerlichen Leben weckt, der doch Illusion bleibt. Während Modern Times durch die Zirkularität strukturähnlicher Ketten von Einzelepisoden geprägt ist, dominiert in À nous la liberté - hier nicht filmtechnisch, sondern erzähltechnisch zu verstehen - die Überblendung von Räumen und Situationen. Die Protagonisten Louis und Émile befinden sich zu Beginn bereits im Gefängnis, wo sie in Manufaktur Spielzeugpferde herstellen müssen. Dank Émile gelingt Louis ein Ausbruch und er wird nach einiger Zeit erfolgreicher Besitzer eines Imperiums für die Herstellung von Phonographen. Die Wege der beiden alten Freunde kreuzen sich erneut, als Émile, der ein träumerischer Herumtreiber geblieben und nach längerer Haft gleich erneut eingesperrt worden ist, sich in Jeanne verliebt, die als Sekretärin in Louisʼ Unternehmen arbeitet. Letzterer sieht im alten Freund zunächst eine Gefahr für seinen sozialen Aufstieg und möchte ihn loswerden, entsinnt sich dann jedoch der gemeinsamen Vergangenheit und verbrüdert sich erneut mit ihm. Als ehemalige Mitgefangene Louis erpressen und drohen, seine kriminelle Vergangenheit offenzulegen, übergibt er, auch seines großbürgerlichen Lebens überdrüssig, sein Phonographen-Imperium den Angestellten. Dank einer neuen, zu 100% automatisierten Fabrik, müssen diese dort nicht einmal mehr arbeiten. Louis und Émile wiederum finden ihre Freiheit in der Landstreicherei wieder (Abb. 2 rechts). DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 45 Dossier Die Welt und ihre Räder Das Fließband, Symbol und Kern von Taylorismus und Fordismus, steht im Zentrum beider Filme. Charlie Chaplin hatte sich für den Seinen tatsächlich über die körperlichen und psychischen Folgen der Fließbandarbeit in den Autofabriken von Detroit informiert (Chaplin 1989 [1964]: 389). Es war auch kein Zufall, dass er die Rolle des Fabrikbesitzers der Electro Steel Corporation an Allan Garcia gab, der Henry Ford ähnelte. Flankiert wird der infernale Rhythmus der Fließbandarbeit (Abb. 3) in Modern Times durch ein modernes Überwachungssystem, über das der Chef den Arbeiter mit Bild und Ton bis in die Toilettenräume verfolgt (Abb. 4). Abb. 3 und 4: Die Monotonie des Fließbands (3: 51) bei dauerhafter Überwachung (6: 02). Überforderung und Überformung von Körper und Geist, denen kaum eine Pause gegönnt wird, führen beim Tramp rasch zu einer Zwangserkrankung, die im Nervenzusammenbruch endet. Die Arbeitskraft kann erst durch erneuten Zwang - diesmal im klinischen Kontext (Abb. 5) - wiederhergestellt werden. Nach seiner Entlassung gerät der Tramp zufällig in eine Demonstration und wird als vermeintlicher Arbeiterführer ein erstes Mal verhaftet. Schnell wird deutlich, dass der zyklische Dreischritt ‚Arbeit - Internierung - Arbeitslosigkeit‘ das Grundmuster des Films bildet. Ob als Werftarbeiter, Nachtwächter oder Schlossergehilfe, immer verliert der Tramp nach kurzer Zeit seine Anstellung bzw. landet wieder im Gefängnis (Abb. 6). Die Welt der modernen Zeiten, die Welt gemäß Modern Times ist einem teuflischen Kreislauf unterworfen, dem das Individuum, hier der Tramp, nicht entkommen kann - es ist kein Außen vorgesehen - und auch nicht entkommen möchte: Charlie ist kein Rebell, seine Teilnahme an Arbeitskämpfen ist unfreiwillig und gerade darum tragikomisch. Er möchte funktionieren, sich integrieren, ein Rädchen sein im Gesamtgetriebe, nicht, wie es das wohl berühmteste Bild des Films allegorisch zeigt, von einem Zahnrad aufs nächste geschoben werden wie von einer Situation in die nächste. À nous la liberté zeigt ein anderes Verständnis von der modernen Welt: Auch hier durchlaufen die Hauptfiguren verschiedene Etappen, die sich jedoch, so lange ihre Wege getrennt sind, unterscheiden: Aus Gefängnis und Gefängnisarbeit wird für 46 DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 Dossier Abb. 5 und 6: Vom Fließband zur totalen Institution ist es nicht weit. Charlie auf dem Weg in die Nervenklinik (18: 56) und im Gefängnis (31: 46). Louis nach gelungener Flucht ‚Freiheit‘ im Sinne von Freiheit von der Arbeit am Fließband, die jedoch die Zwänge der Fabrikleitung und eines großbürgerlichen Lebensstils mit sich bringt (Abb. 7). Auch Émile bleibt dem Arbeitszwang unterworfen: Eine kurze Zwischenepisode des Herumliegens (Abb. 8) wird durch Ordnungshüter unterbrochen - Müßiggang ist nicht erlaubt, denn „Le travail, c’est la liberté“, wie ein Lehrer in einer in Émiles Verhaftung hineinmontierten Sequenz karikaturhaft seinen Schülern erläutert und sie zu singen zwingt (18: 26-47). „Arbeit macht frei“: ein Satz, der als Toraufschrift an deutschen Konzentrationslagern jede Karikaturhaftigkeit verloren hat, worauf Stanisław Jerzy Lec unter Rückbezug auf Clairs Film explizit verwies. 2 Abb. 7 und 8: Louis bei seiner neuen (33: 04), Émile bei seiner gleichbleibenden (17: 50) (Lieblings-)Beschäftigung Jenseits dieser Handlungskette ist auf visueller Ebene die Analogiebildung zwischen Bereichen, die in Modern Times noch weitgehend getrennt, wenn auch gleichsam kausal aufeinander bezogen bleiben, auffällig. Auch in René Clairs Film ist die Fabrik das thematische, symbolische und konkret szenenbildnerische Zentrum, wo sich der Großteil der Handlung abspielt. 3 Doch die zentrale Fertigungseinheit, das Band DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 47 Dossier (Abb. 10), wird bereits bei der manufakturhaften Fließfertigung im Gefängnis angedeutet (Abb. 9) und sogar bei der Essenspause in der Phonographen-Fabrik eingesetzt (Abb. 11). Abb. 9, 10 und 11: Immer wie am Fließband - Analogie zwischen Gefängnisarbeit (2: 50), Fabrikarbeit (16: 20) und Essenspause (17: 10) in À nous la liberté Zugespitzt ließe sich also sagen, dass Zwangsarbeit im Gefängnis, Lohnarbeit in der Fabrik und sogar die dortige Pausenzeit in der Perspektive von À nous la liberté dem gleichen Zwangsregime unterworfen sind. Auch hier wird sichergestellt, dass es kein Außen - der Fabrik - gibt. In einer Welt, in der Arbeit Freiheit ist, ist die Freiheit von Arbeit nicht zugelassen. Die Welt gemäß À nous la liberté ist vom gleichen Teufelskreis beherrscht wie die von Modern Times, der jedoch nicht in Form zyklischer Episodenreihen, sondern durch visuelle (Abb. 9-11) und konzeptionelle Analogiebildung sichtbar gemacht wird. Für Letztere steht paradigmatisch Émiles Verhaftung wegen Nichtstun, in die neben der oben beschriebenen Schulsequenz auch eine gänzlich unkommentierte Einstellung hineinmontiert ist, die halbnah Arbeiter am Fließband der Phonographen-Fabrik zeigt (18: 47-58). Ein zentraler Unterschied zwischen dem Film von Chaplin und dem von Clair liegt, im Gegensatz zur eingangs angesprochenen Ähnlichkeit der Schlussszenen (Abb. 2), in den Fluchtlinien hin zu einer Lösung des Konflikts zwischen dem Drängen der Protagonisten und den Zwängen der Welt, in der sie leben, d. h. ganz konkret in den Fluchtmöglichkeiten aus dieser Welt, die die Filme aufzeigen. 48 DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 Dossier Fluchtlinien: Freiheit in und außerhalb der Gemeinschaft Der zentrale Antrieb des Tramp ab dem Moment, in dem er die Gamine kennengelernt hat, besteht darin, sich mit ihr eine zumindest kleinbürgerliche Idylle mit eigenem Heim aufzubauen. 4 Angeregt durch den flüchtigen Anblick einer Szene, wie eine Hausfrau ihren Mann zur Arbeit verabschiedet, beschwört er - auf einer Texttafel - die Angebetete: „Can you imagine us in a little home like that? “ (43: 34-39). Sein anschließender Traum von einem idyllischen Leben im Überfluss, bei dem die Kuh gar von selbst Milch gibt (Abb. 12), steht jedoch in hartem Kontrast zur Wirklichkeit einer auseinanderfallenden Bruchbude (Abb.13). Abb. 12 und 13: Charlie träumt von Überfluss und häuslicher Idylle (44: 28); die Wirklichkeit sieht prekärer aus (56: 06). Nachdem beide, die Gamine als Tänzerin, der Tramp als Kellner und Sänger, gegen Ende eine feste Anstellung in einem Tanzlokal gefunden haben, zwingt die Flucht vor den Behörden, die dem Waisenkind nachstellen, erneut zum Verlassen des gerade gefundenen Rahmens: Hand in Hand verlassen sie die Stadt auf einer Straße, die ins ferne Nichts zu führen scheint. Hier bleibt dem Proletarier als Flucht vor den Zumutungen der modernen Gesellschaft nur das vermeintlich romantische Vagabundieren. Anders René Clair, der mit seiner Analogiebildung zwischen Gefängnis, Bandarbeit und Pause bzw. Ernährung ein noch dichteres Zwangsnetz gewebt hatte, in das auch zurückzufallen droht, wer ihm entkommen ist - so Louis, der von ehemaligen Mitgefangenen erpresst wird. Clair entwirft jedoch eine doppelte, eine individuelle und eine gesellschaftliche Antwort auf die Frage nach der Freiheit: So entzieht sich Louis den Zwängen des Firmenchef-Daseins und der Erpressung, die ihn als ehemaligen Verbrecher entlarven könnte, indem er just am Tag der Einweihung einer vollständig automatisierten Fabrik diese den Angestellten übermacht. Die Phonographen entstehen nunmehr von allein und die neuen Fabrikbesitzer können ihre ehemalige Arbeitsstätte zum Kegeln (Abb. 14) oder Kartenspielen (Abb. 15) nutzen, wenn sie nicht tanzen oder angeln - ein realkommunistischer Traum, den Clair in den letzten Szenen des Films genüsslich ausbuchstabiert. DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 49 Dossier Abb. 14 und 15: Die Angestellten sind nunmehr Besitzer - dank vollständiger Automatisierung bleibt genug Freizeit zum Kegeln (1: 20: 20) und Kartenspielen (1: 20: 30) Erstaunlich ist nun, dass Émile und Louis nicht Teil dieser von der Lohnarbeit befreiten Gemeinschaft bleiben möchten, zu der auch Jeanne gehört, die mit ihrem Verlobten Paul, gegen den Émile von Anfang an keine Chance hatte, zu den Tanzenden gehört, sondern sich am Ende für ein Vagabundenleben entscheiden. Den Schnitt von Jeanne und Paul auf Émile und Louis begleiten die letzten Verse der Titelchanson (1: 21: 35-1: 23: 00): Il ne faut pas songer au mariage, Quand on est fait pour courir les chemins; En attendant d’être assagi par l’âge, Contentons-nous d’amours sans lendemain. C’est le destin, Mon vieux copain. […] Partout, si l’on en croit l’histoire, Partout on peut rire et chanter, Partout on peut aimer et boire. À nous, à nous la liberté! [2x] Auch hier suchen die Hauptfiguren ihr Glück also im - allerdings freiwilligen - Vagabundieren, optieren jedoch für Freundschaft statt Ehe und höchstens kurzweilige Liebesabenteuer (vgl. V. 4). Der Chor der Landstreicher, der den Refrain mitsingt, schließt einerseits den Film und ist eine Antwort auf den Chor der Gefangenen, die eingangs die Unmöglichkeit von Freiheit und Glück in der Gefängniszelle besungen hatten (2: 36-4: 14), sowie auf den der Kinder, die von der obligatorischen, weil befreienden Arbeit singen mussten. 5 Andererseits deutet sich auf gänzlich anderer Ebene eine Opposition an: die zwischen der Freiheit zu singen und jener, jederzeit eine Schallplatte abzuspielen, die Gegenüberstellung also von spontanem Gesang und aufgezeichneter Musik. Beide Filme, der von Clair wie der von Chaplin, verhandeln anhand des thematischen Rahmens entfremdender Industriearbeit nämlich auch Potenzial und Gefahr der Tonaufzeichnung und -übertragung für die populäre 50 DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 Dossier Unterhaltung, das Kino, aber auch für den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Popularität und Tonfilm À nous la liberté war der dritte, Modern Times der erste Tonfilm für ihre jeweiligen Regisseure. Beide hatten sich bis dahin durch kritische Zurückhaltung bis hin zu Ablehnung gegenüber der neuen Technik ausgezeichnet, deren Durchbruch gemeinhin mit dem Erfolg von Alan Croslands The Jazz Singer 1927 angesetzt wird. Diese Distanz hatte unterschiedliche Gründe: Chaplin befürchtete, der Ton würde seine auf Mimik und Gestik in der Tradition der Pantomime beruhende Performance beeinträchtigen (Chaplin 1989 [1964]: 330sqq., 394). Clair argwöhnte, das Kino als junge Kunstform habe noch nicht genug Zeit gehabt, eine eigene Bildsprache zu entwickeln und sei nicht reif genug für die Festlegung, die eine Tonspur bedeute (cf. Billard 1998: 154sqq.). 6 1936 hatte Chaplin bereits eine Dekade Verspätung gegenüber den technischen und ästhetischen Möglichkeiten des Kinos. Für Modern Times wählte er bewusst den Modus eines ‚halb-stummen‘ Films, bei dem die Dialoge grundsätzlich als Texttafeln eingeblendet werden wie noch beim traditionellen Stummfilm. Das schließt den Gebrauch von Geräuschen und Filmmusik nicht aus, verleiht aber vor allem den Szenen besonderes Gewicht, in denen die menschliche Stimme zu hören ist - und das sind im gesamten Film drei. Zunächst (1) jene kurzen Sequenzen, in denen der „President“ der „Electro Steel Corp.“, der als solcher durch einen Zwischentitel (2: 32) eingeführt wird, über eine Art Videoschaltung bzw. Gegensprechanlage mit Bildschirm mit seinen Arbeitern kommuniziert und die Beschleunigung des Fließbandes anordnet (3: 19-22; 5: 05-10) sowie Charlie vom Rauchen auf der Toilette wieder zurück zur Arbeit scheucht (5: 56-6: 05). Die technische Übertragung der menschlichen Stimme ist hier also mit Überwachung und Kontrolle assoziiert. (2) Dem scheint eine der letzten Szenen des Films entgegenzustehen, die berühmt geworden ist, weil hier erstmals im Kino Chaplins Stimme zu hören ist: Nachdem er als Kellner im Tanzlokal, in dem ihm die Gamine eine Stelle besorgt hatte, Chaos und Trubel verursacht hat, wird von ihm eine Sing- und Tanzeinlage verlangt. Da er den Text nicht beherrscht, singt er Léo Daniderffs „Je cherche après Titine“ in der bekannt gewordenen Gibberish-Version (1: 20: 30-1: 23: 00). Auch hier ist die Rede bzw. der Gesang mit Arbeit verbunden - die Assoziation mit dem Musikalischen erfolgt um den Preis der Unverständlichkeit des Kauderwelschs; ohnehin verbleibt der Eindruck, der Tramp kommuniziere mehr über seinen Tanz mit dem Publikum als mittels seines Gesangs. (3) Die unmittelbarste Thematisierung der Tonaufnahme erfolgt in einer frühen Szene und führt die „Feeding Machine“ zur Zeitersparnis durch automatisiertes Füttern der Arbeiter ein. Sie wird dem verblüfften Präsidenten der Electro Steel Corporation über eine Schallplatte präsentiert, die sich selbst als „mechanical salesman“ vorstellt und den physisch durchaus präsenten Erfinder „Mr. J. Willicombe Billows“ (Abb. 16 links DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 51 Dossier im Vordergrund) vertritt (6: 55-8: 32). Die Funktion dieser auf den ersten Blick überflüssigen Entkopplung der Stimme vom Erfinder, der das Gesagte immer wieder mit großen Gesten unterstreicht, ist hier gleichsam als eine mise en abyme des Tonfilms lesbar, seiner Trennung von Bild- und Tonspur, die durch paralleles Abspielen die Illusion natürlicher Zusammengehörigkeit erzeugt. Genau diese vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ des Tonfilms führt Chaplin in der Szene humoristisch vor, die nicht umsonst der Bewerbung einer Maschine gewidmet ist, die sich durch ihre Dysfunktionalität und die mangelhafte Synchronisierung zwischen technischem Ablauf und menschlichem - in dem Fall Charlies - Mund als Folterinstrument herausstellen wird. Modern Times führt also vor, dass authentische Kommunikation und technische Übertragung sich ausschließen. Eine Conclusio, die nicht ganz mit der von À nous la liberté übereinstimmt. Es ist allerdings kein Zufall, dass der Phonograph im Zentrum von Clairs Film steht, und zwar nicht allein als Produkt, auf dem der Erfolg von Louis und seinem Industrieimperium beruht, wie die Überblendung, die seinen Aufstieg vom Verkäufer zum Magnaten markiert, deutlich macht (Abb. 17). Abb. 16 und 17: Präsentation der „Billows Feeding Machine“ (7: 11) in Modern Times und Überblendung von einem Phonographen, den Louis noch selbst vorführt, zum Wandschmuck, der später sein Fabrikgebäude ziert, in À nous la liberté (14: 26). Auch hier wird die Skepsis des Filmemachers gegenüber dem Tonfilm in einer zentralen Szene, welche dessen allein auf perfekter Synchronisation beruhende Illusionswirkung herausstellt, besonders deutlich: Es handelt sich um den Moment, in dem sich Émile aus einer Gefängniszelle heraus, in die er wegen Nicht-Arbeitens geworfen worden war, in Jeanne verliebt - und zwar im Wesentlichen aufgrund eines Missverständnisses (20: 08-23: 20). Im Moment größter Verzweiflung hört Émile Jeannes Stimme und sieht sie am Fenster singen. Er zieht einen Strick aus der Tasche, wirft ihr einen Luftkuss zu und springt von seiner Pritsche, um sich zu erhängen. Allerdings bricht das Fenstergitter aus der Verankerung und der eben noch zu Tode Verzweifelte ist frei - frei, der Angebeteten nachzustellen, die auch bald aus der Haustür tritt, was der Protagonist zunächst nicht bemerkt, da er zum Fenster hochblickt, aus dem weiterhin die Stimme schallt. Sie beginnt, zu leiern, bis jemand die Nadel von der Schallplatte nimmt und deutlich wird, dass Jeannes vermeintlicher 52 DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 Dossier Gesang eine Aufnahme war, die abgespielt wurde. Wie entscheidend diese Szene für die Deutung des hier verhandelten Verhältnisses zum Tonfilm und seiner Funktionalisierung für die gesamte Filmerzählung Clairs ist, zeigt eine Veränderung, die der Filmemacher 1950 vornahm (Dale 1986: 152sq.), indem er mittels veränderter Montage gleich zu Beginn der Szene einen Phonographen zeigte (Abb. 18), womit er auf Publikumsreaktionen der 30er Jahre einging: Als Jeanne ans Fenster tritt, während man - vermeintlich - ihre Stimme hört (Abb. 19), sind ihre Lippenbewegungen nämlich nicht synchron zum Gesang, „[ce qui] pouvait rappeler aux spectateurs certains problèmes de synchronisation entre le défilement du film et l’activation d’un phonographe“ (Boillat 2014: 98). Abb. 18 und 19: Nur das Publikum weiß durch Einblendung des Phonographen (20: 47), dass es nicht Jeanne ist, die singt (20: 59), wie Émile glaubt 1931 konnte das Publikum also noch an einen technischen Fehler glauben und sich mit Émile identifizieren, der sich zunächst in Jeannes Stimme verliebt, bevor die Illusion durch die kurze Szene, in der der Phonograph leiert und abgestellt wird, aufgelöst wird. Alain Boillat zitiert zeitgenössische Berichte, die die Wirksamkeit dieser Montage bestätigen: „Tout le monde pense: ce n’est pas synchronisé“ oder „le public s’agite, murmure: ‚Quelle mauvaise synchronisation, que se passe-t-il? ‘ […] une main arrête le disque d’un phonographe“ (Boillat 2014: 100sq.). 7 Mit der Montage von 1950 hatte das Publikum nun einen Wissensvorsprung vor dem Protagonisten auf der Leinwand - hätte Émile sich ohne zu glauben, Jeannes Stimme zu hören, verliebt? Hätte er sie überhaupt wahrgenommen? Das beeinträchtigt jedoch nicht die Grundfunktion der Szene: Bild und Ton zu entkoppeln, dadurch die Zuschauer auf eine falsche Fährte zu führen und so die Illusionswirkung des Tonfilms zu entlarven. Diese Desillusionierung via Bild-Ton-Montage - „En associant l’enregistrement sonore à l’aliénation et au leurre, Clair s’inscrit dans une démarche de dénaturalisation de la représentation filmique“ (ibid.: 106) - wird heute eher mit dem französischen Nachkriegs-Autorenfilm assoziiert (cf. Hindemith 2013). Clairs Kühnheit bestand darin, sie in den Dienst eines populären Films zu stellen, der dezidiert als linke Utopie angelegt war und sich nicht zuletzt an die Arbeiterschaft richtete. Das Zielpublikum zeigte sich allerdings nicht besonders empfänglich für diese ästhetischen DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 53 Dossier Subtilitäten, die auf einer „Verschränkung von Stumm- und Tonfilmästhetik“ (Kollinger 2019: 70) beruhten. Es störte sich auch grundsätzlich daran, dass Tonfilme sich nicht für direkte Kommentierung und Diskussion im Saal, und sei es durch Auspfeifen, eigneten (Albera 2014: 110). Léon Moussinac, Kinokritiker der kommunistischen Humanité fasste die eher negativen Zuschriften aus der Leserschaft am 29. April 1932 wie folgt zusammen: Ce qui a conduit nos camarades au jugement qu’ils nous adressent, c’est surtout le déséquilibre constant entre le réalisme dans À nous la liberté et l’esprit de la musique qui lutte constamment avec l’esprit des images (zit. nach Albera 2014: 115). René Clair hatte ein komplexes Gewebe geflochten, in dem nicht nur die analysierte Schlüsselszene, sondern über den gesamten Film hinweg das Verhältnis von Bild und Ton - ob intradiegetisch, meist gesungen, oder extradiegetische Orchestermusik - als leicht dissonant aufgefasst werden konnte. Sein Film endet im Gegensatz zu dem von Chaplin mit einer kraftstrotzenden Utopie, die Wege in die Freiheit in der Industriegesellschaft (durch Automatisierung und Vergemeinschaftung) und jenseits von ihr (durch freiwilligen vagabondage) aufzeigt. 8 Das Spiel mit der Bild- Ton-Synchronisation zeigt jedoch, dass dieser klaren Geste zu misstrauen ist: Ist die Fröhlichkeit des Landstreicherchors am Ende des Films authentisch oder läuft nicht heimlich ein Phonograph, versteckt im Feld, also hors champ? Schluss Die Rechtsstreitigkeiten zwischen der Tobis und der United Artists sollten mehr als zehn Jahre dauern. Letztere hatte eine französische Anwältin engagiert, die - sie war Jüdin - vor dem deutschen Überfall auf Frankeich und der Occupation nach New York fliehen konnte. Durch den Zweiten Weltkrieg wurde der Prozess zunächst eingefroren. Um dem Ganzen ein Ende zu setzen, stimmten die Amerikaner 1947 zu, eine symbolische Summe von 5000 Dollar zu zahlen (Robinson 2002). Weder René Clair noch Charlie Chaplin hatten den Prozess jemals gewollt oder auch nur unterstützt. Dass Chaplin erklärte, gerade die ikonisch gewordenen Fließband-Szenen seien nicht durch À nous la liberté, sondern einen ur-amerikanischen Film, nämlich Disneys Santa’s Workshop von 1932 inspiriert (Mellen 2006: 70), entbehrt insofern nicht einer gewissen Ironie, als die Fertigungsschritte, in denen die nicht singenden, aber pfeifenden Elfen in der Werkstatt des Weihnachtsmannes Holzpferdchen produzieren (Abb. 20), denen in der Gefängnismanufaktur von À nous la liberté (Abb. 21) bis in kleine Details ähneln. 54 DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 Dossier Abb. 20 und 21: Wer inspirierte Chaplins Modern Times, Santa’s Workshop (2: 24) oder À nous la liberté (3: 30) - und wie verhalten diese sich zu einander? Albera, François, „Le machinisme et la révolution dans À nous la liberté! de René Clair vus par trois périodiques de gauche“, in: 1895. Mille huit cent quatre-vingt-quinze, 72, 2014, 109-127, http: / / journals.openedition.org/ 1895/ 4808 (publiziert am 1. März 2017, letzter Aufruf am 15. Juni 2020). Billard, Pierre, Le mystère René Clair, Paris, Plon, 1998. Bergfelder, Tim / Harris, Sue / Street, Sarah, Film Architecture and the Transnational Imagination. Set Design in 1930s European Cinema, Amsterdam, Amsterdam University Press, 2007. Boillat, Alain, „René Clair et la résistance à la voix synchrone parlée. Ce que nous disent les ‚machines parlantes‘ d’À nous la liberté! “, in: 1895. Mille huit cent quatre-vingt-quinze, 72, 2014, 85-107, http: / / journals.openedition.org/ 1895/ 4806 (publiziert am 1. März 2017, letzter Aufruf am 15. Juni 2020). Boon, Jean-Pierre, „Narrative Voices in À nous la liberté“, in: The French Review, 55.4, 1982, 514-519. Chaplin, Charlie, Modern Times, USA, 1936 (Version: DVD, The Criterion Collection, 2010). —, Die Geschichte meines Lebens, trad. 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Georges Aurics Musik der 1930er Jahre, Stuttgart, Franz Steiner, 2019. Lec, Stanisław Jerzy, Nouvelles pensées échevelées, trad. André Kozimor / Zofia Kozimor, Paris, Payot-Rivages, 2000. Mason, Gregory, „René Clair at 80. An Interview“, in: Literature/ Film Quaterly, 10.2, 1982, 85-99. DOI 10.24053/ ldm-2023-0019 55 Dossier Mellen, Joan, Modern Times, London, BFI Publishing, 2006. Robinson, David, Chaplin. Sein Leben, seine Kunst, trad. Brigitte Mentz / Matthias Müller, Zürich, Diogenes, 1989 [1985]. —, „The Tobis vs. Chaplin Affair“, London, 2002 (22: 21 min. Audio-Essay auf der DVD: À nous la liberté, The Criterion Collection, 2002). Winkler, Daniel, „Marcel Pagnol auf dem Weg vom Theater zum Film“, in: Michael Lommel (ed.), Französische Theaterfilme - zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld, Transcript, 2004, 133-158. 1 1931, im Jahr von À nous la liberté, hatte Clair in einem Beitrag für die Zeitschrift VU Chaplin als auteur, also Autorenfilmer gewürdigt (Clair 1931); eine deutsche Fassung ist in der Sammlung Vom Stummfilm zum Tonfilm (Clair 1952: 74-77) zu finden. 2 So, wenn auch mit einem kleinen (Übersetzungs-? )Fehler hinsichtlich des Filmtitels: „Prenez garde, satiristes, à la naissance des bonnes idées! Dans le film de René Clair de 1931, Vive la liberté! , on entend ce refrain dans une chanson ironique: ‚Le travail, c’est la liberté.‘ Or, en 1940, à la porte d’entrée du camp d’Auschwitz, on a vu cette inscription: ‚Arbeit macht frei! ‘“ (Lec 2000: 22); die Koinzidenz wird auch in einem Interview mit Clair 1979 angesprochen, in dem er sich jedoch nicht empfänglich für diesen Zusammenhang zeigt (Mason 1982: 92). 3 Zum funktionalistisch-modernistischen Stil des Szenenbilds Lazare Meersons und dem dystopischen Gefängnis-Charakter der Fabrik in Clairs Film cf. Bergfelder/ Harris/ Street 2007: 186-191. 4 Das widerspräche streng genommen der häufigen Charakterisierung des Tramp als Anarchist, bspw. in der Chaplin-Biographie von Robinson (1989 [1985]: 530): „Der Tramp ist also letzten Endes ein selbsternannter Anarchist.“ 5 Eine musikwissenschaftliche Perspektive auf die Lieder sowie auf die gesamte Filmmusik bietet das Kapitel zu À nous la liberté in Kollinger (2019: 64-87). 6 Cf. zum Theoriestreit, der vor allem mit Marcel Pagnol ausgetragen wurde, Winkler 2014: 136-139. Clairs Schriften dazu sind auch auf Deutsch verfügbar unter dem schönen Titel „Gute Miene zum tönenden Spiel“ (in Clair 1952: 87-125). 7 Boillat zitiert hier aus einer Filmkritik in Cinémonde vom 17. Dezember 1931 sowie aus einer in Bravo vom 3. Januar 1932. 8 Es gibt allerdings auch kritischere Lesarten des Endes, die Émiles und Louisʼ Aufbruch als Scheitern an der Integration in die Gesellschaft verstehen (Boon 1982: 518); gerade diese Ambiguität wäre jedoch auch eine Stärke des Films.