eJournals lendemains 48/190-191

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ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2023-0023
0414
2025
48190-191

Malgré tout on rit à Saint-Henri

0414
2025
Dagmar Schmelzer
Politische Dokumentarfilme, die unter der Schirmherrschaft des kanadischen National Film Board / Office national du film entstanden, waren ganz wesentlich an der identitären ‚Neuerfindung‘ Québecs vor, während und nach der Révolution tranquille der 1960er Jahre beteiligt. Zentral für das Selbstbild war die Identifikation mit den urbanen classes populaires, die die Wortführer*innen der Erneuerung für sich entdeckten, einerseits als Verkörperung des kollektiven Aufbruchs in die Moderne in Opposition zu dem rural, katholisch und konservativ geprägten Selbstbild des ‚alten Québec‘ der Duplessis-Zeit, andererseits als populistische und klassenbetonte Kampfidentität gegen die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung der anglophonen Eliten Montréals und des Rest of Canada. Anhand einer Analyse exemplarischer Filme der Serien „Temps présent“ (1958-1964) und „Société nouvelle“ (1969-1980) wird im Folgenden diskutiert, wie sich die ‚Figuren des Populären‘ in dreierlei Hinsicht hin zu einem egalitäreren und demokratischeren Zugang entwickeln: 1. in imagologischer Hinsicht, 2. in narratologischer und filmästhetischer Hinsicht, 3. bezüglich der Praxis der Filmproduktion und -rezeption.
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94 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier Dagmar Schmelzer Malgré tout on rit à Saint-Henri Figuren des Populären im Korpus frankophoner Dokumentarfilme des Office national du film - zwischen ethnographischem Blick und politischem empowerment Politische Dokumentarfilme, die unter der Schirmherrschaft des kanadischen National Film Board / Office national du film entstanden, waren ganz wesentlich an der identitären ‚Neuerfindung‘ Québecs vor, während und nach der Révolution tranquille der 1960er Jahre beteiligt. Zentral für das Selbstbild war die Identifikation mit den urbanen classes populaires, die die Wortführer*innen der Erneuerung für sich entdeckten, einerseits als Verkörperung des kollektiven Aufbruchs in die Moderne in Opposition zu dem rural, katholisch und konservativ geprägten Selbstbild des ‚alten Québec‘ der Duplessis-Zeit, andererseits als populistische und klassenbetonte Kampfidentität gegen die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung der anglophonen Eliten Montréals und des Rest of Canada. Anhand einer Analyse exemplarischer Filme der Serien „Temps présent“ (1958-1964) und „Société nouvelle“ (1969- 1980) wird im Folgenden diskutiert, wie sich die ‚Figuren des Populären‘ in dreierlei Hinsicht hin zu einem egalitäreren und demokratischeren Zugang entwickeln: 1. in imagologischer Hinsicht, 2. in narratologischer und filmästhetischer Hinsicht, 3. bezüglich der Praxis der Filmproduktion und -rezeption. Das Mandat des Office national du film: Bilder Kanadas und Québecs Im Film Act 1950 erhält das kanadische Office national du film als staatlicher Akteur der Medienbranche den Auftrag, Bilder Kanadas einer größeren nationalen und internationalen Öffentlichkeit bekannt zu machen (Garneau 2013: 39). Seither widmet es sich ganz explizit dem Auftrag, zur Formierung der „imagined community“ beizutragen (Leach 2006: 12). Der Dokumentarfilm macht als „Seismograph[en] der Gesellschaft“ (Marsolais 2002: 56) deren Entwicklung sichtbar. Die Interrelation zwischen Kino und Gesellschaft möchte Gilles Marsolais jedoch nicht als „Widerspiegelung“ missverstanden sehen, vielmehr als eine Art „Osmose“, in der der Film als Dispositiv in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse eingebunden ist (ibid.). Schon Bill Marshall betont den performativen Aspekt der Filmbilder, die den Diskurs über ‚Nation‘ aktiv (mit)gestalten (Marshall 2001: 19). Für die ‚Verhandlung‘ Québecs erweist sich die prominente Stellung des ONF allerdings als ambivalent. Als föderale Institution war es bis in die 1950er Jahre eine Bastion des anglophonen Filmschaffens. Waren 1947 83 % der Filme des ONF englischsprachige Originale, stieg dieser Anteil 1950 gar auf 93 % (Poirier 2004: II, 45). Erst mit der Verlegung des Hauptsitzes nach Montréal 1956 (Marshall 2001: 20), in Reaktion auf die Vorschläge der Massey Commission zur Eindämmung des US- DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 95 Dossier amerikanischen Einflusses auf den kanadischen Film- und Kultursektor (Gittings 2002: 86-88) und auf nicht unerheblichen Druck der frankophonen Eliten, u. a. in der Zeitung Le Devoir (Poirier 2004: II, 45), machte es sich die Institution zum ausdrücklichen Ziel, die frankophone Linie zu unterstützen. Entre 1957 et 1960, l’équipe française se consolide avec Léonard Forest, Fernand Dansereau, Louis Portugais, Bernard Devlin, Claude Jutra, Gilles Groulx et Michel Brault. Ce sera le début du cinéma de la Révolution tranquille (ibid.: 46). Immer wieder klagten zwar frankophone Kreative über mangelndes Verständnis für die politischen und kulturellen Anliegen Québecs von Seiten der kanadischen Institution, so z. B. Gilles Groulx 1964 in der Zeitschrift Parti Pris (Ducharme 2022: 320sq.). Zudem nutzten viele von ihnen ab den 1960er Jahren andere Produktionsmöglichkeiten, als die neue Administration der Provinz Québec ihrerseits mit der Einrichtung von staatlichen und parastaatlichen Institutionen zur Stützung des Filmsektors begann (Poirier 2004: II 48-51; 54sq.). Dennoch: Es war in der Zeit von 1958 bis 1964 eingestandenermaßen das ONF, das ihnen Freiräume zu Innovation und Experiment ließ (ibid.: 45; 53), die sie nutzten, um die Darstellung Québecs einer neuen sozialen Realität anzupassen: „Cinéma et émergence d’une représentation moderne de la nation québécoise vont de pair“ (ibid.: 54). Die classes populaires als Bezugspunkt: Konvergenz des Klassenkampfs und der Nationalbewegung in Québec Die Quebecer Gesellschaft hatte sich seit den 1930er Jahren stark verändert. Bereits 1931 waren mit knapp einem Drittel der Erwerbsbevölkerung etwa ebenso viele frankophone Menschen in den blue-collar-Berufen der Städte beschäftigt wie in der Landwirtschaft (Bernier/ Boily 1986: 208). Die classes populaires Québecs urbanisierten sich; allerdings vom öffentlich gepflegten Selbstbild der Frankokanadier zunächst weitgehend unabhängig. Das Bild, das das politische Establishment rund um den langjährigen und prägenden Premierminister Québecs Maurice Duplessis und seine nationalistisch-autarkistische Partei Union Nationale prägte, entsprach der Entwicklung nicht (cf. McRoberts/ Posgate 1976: 65sq.; 68). Es hielt vielmehr am Ideal einer geschlossenen und beharrungsstarken rural und katholisch geprägten frankophonen Gesellschaft fest (cf. Nörenberg 2008: 95-97), wie es sich spätestens nach der administrativen Neuordnung Kanadas im Union Act 1840 und als Reaktion auf den Assimilierungsdruck der anglophonen städtischen Eliten u. a. in der Geschichtsschreibung Québecs, aber auch in Literatur und Kunst etabliert hatte. Die sogenannten Québec-Renaissance-Filme 1 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis Mitte der 1950er Jahre arbeiten sich zwar aus kritisch-entmythifizierender Perspektive an diesem „christlich-konservativen Gesellschaftsbild“ (ibid.: 99) ab und analysieren „den morbiden Stillstand der Gesellschaft“ (ibid.: 101), bleiben aber beim Fokus auf die ländlich-traditionellen Lebenswelten. Erst unter der Ägide des ONF 96 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier entdecken Québecs Filmemacher die städtischen Arbeiterviertel als Identifikationspunkt. Die für Québec charakteristische historische Koinzidenz des Klassenkampfes mit dem Kampf um nationale Selbstbestimmung nimmt ihren Anfang mit der Gewerkschaftsbewegung, die in der Provinz in den 1940er Jahren deutlich höheren Zulauf hat als im Rest of Canada (cf. Dickinson/ Young 2015: 287-289; 329-332). Die Streikenden, lautstark unterstützt von vielen liberalen und linken Intellektuellen, die später die Erneuerung der Révolution tranquille trugen, setzten sich nicht nur für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen ein, sondern auch für ein Ende der ethnischen Diskriminierung der frankophonen blue-collar-Arbeiter. Diese Koinzidenz führte zu einem imaginären Link zwischen dem Diskurs nationaler Selbstbehauptung und der proletarischen Sache (cf. Loiselle 2006: 231), die sich im wirkmächtigen identitären Bild der Frankokanadier als ‚Wasserträger‘ niederschlug, als cheap labour und Nègres blancs d’Amérique (Pierre Vallières), als kolonialisierte damnés de la terre (Frantz Fanon), die sich dem antiimperialistischen und antikapitalistischen Befreiungskampf anschließen müssten. 2 Arbeit ist denn auch im Quebecer Film ein wichtiges Element des Eigenen, anders als im Film des anglophonen Kanada, in dem gewerkschaftliche Mobilisierung und Streiks eher als bedrohliche Phänomene dargestellt sind (cf. Frank 2006: 31-34). 3 André Loiselle zeigt jedoch an einem Korpus aus Quebecer Spielfilmen, dass das Bild der Arbeiterschaft einem Stereotyp aus Perspektive von Ober- und Mittelschicht- Autor*innen entspricht: dem eines wenn auch sympathischen und bemitleidenswerten, so dennoch unterlegenen, teils unterwürfigen, passiven und jedenfalls nicht situationsmächtigen Anderen (Loiselle 2006: 210). Als Advokat*innen der Arbeiterklasse reproduzierten Filmschaffende trotz ihres politischen Engagements implizit oder explizit das Machtungleichgewicht, das sie bloßstellen wollten. „[W]hile the proletariat might be one of the more common objects of Quebec filmmakersʼ gaze, it has rarely been one of their more fully integrated subjects“ (ibid.: 211). Gleiches gilt, wie zu zeigen sein wird, für einen Großteil des hier behandelten Dokumentarfilmkorpus. Dennoch lässt sich die Geschichte des Dokumentarfilms der équipe française des ONF von 1958 bis in die frühen 1970er Jahre als ein Bemühen um ein ‚populäres‘ Filmschaffen im Sinne demokratischer Partizipation erzählen: It sought to break with the didactism and pseudo-objectivity of much documentary filmmaking, dealing with the problem of the power relationship between the film-maker and the subject […] (Marshall 2001: 21). Die Serie „Temps présent“: Performanz eines neuen Québec Die Révolution tranquille schafft ein neues gesellschaftliches Umfeld für den Dokumentarfilm. Ein Umfeld, das Thema und Objekt der Darstellung der Filme ist, ein Umfeld, das die Filme zugleich mitgestalten und auf das sie zurückwirken. Auch wenn die gesellschaftliche Modernisierung in Québec etwas später einsetzte als in DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 97 Dossier anderen kanadischen Provinzen, wie z. B. im benachbarten Ontario, und wenn frankophone Binnenmigrant*innen in den Arbeiterquartieren Montréals und anderer Städte noch lange zu den sozial prekärsten Gruppen gehörten, nahmen sie dennoch am Wirtschaftsboom seit dem Zweiten Weltkrieg und an der allgemeinen Entwicklung hin zu einer Mittelstandsgesellschaft teil. Dies lässt sich z. B. an der Ausstattung der Haushalte mit Konsumgütern festmachen, die bereits im Zeitraum 1940 bis 1960 kräftig steigt: Während beispielsweise 1941 17 % der Quebecer über einen Kühlschrank verfügten, waren dies 1951 bereits 47 % und 1961 92 %. Fließend Wasser bzw. ein eigenes Bad oder eine Dusche waren 1941 in 51 % der Haushalte vorhanden, 1951 in 61 % und 1961 in 80 %. Ein Auto besaßen 1961 ganze 51 %, während es 1941 lediglich 19 % waren (Geloso 2017: 37). Den neuen Wohlstand begleitete auch ein Wandel des Medienkonsums. Im Schlüsseljahr 1952 erzielt das Kino in Kanada noch einmal ein Rekordhoch an Besucher*innen. Zugleich nimmt der CBC/ SRC (Société Radio Canada) den Sendebetrieb für ein landesweites Fernsehprogramm auf. Zehn Jahre später, zu Beginn der 1960er Jahre, verfügten bereits mehr als 90 Prozent der Haushalte über einen eigenen Fernsehapparat (Marshall 2001: 18). In diesem Zusammenhang ist die Serie „Temps présent“ zu sehen, die das ONF im Zeitraum von 1958 bis 1964 produziert, eine Serie von halbstündigen Dokumentarfilmen, die zur prime time im Fernsehen ausgestrahlt werden. Der Titel der Serie ist Programm, befasst sich die Reihe doch mit der Alltagsgegenwart der sich modernisierenden Gesellschaft in Québec und ihren ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen (ibid.: 20). Welche Relevanz die Filmreihe für die Neuerfindung Québecs in den Jahren der Révolution tranquille hat, wird deutlich, wenn man sich ihren Ort im Leben bewusst macht. Die Fernsehausstrahlung zur besten Sendezeit erreichte damals erstmalig fast alle Haushalte und spielte den Quebecern die eigene Lebenswirklichkeit direkt ins Wohnzimmer: In the present-day context this may sound overblown, but in the context of rural Québec in 1957, the films of l’équipe française were the first public representations most Québécois had seen of their culture, the first images of themselves (MacKenzie 2004: 124). Für das nation building der 1950er und 1960er Jahre ist der Beitrag der Reihe daher kaum zu unterschätzen. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass die Serie „Temps présent“ eine performative Funktion für das Quebecer Selbstbild hatte (cf. Marshall 2001: 19). Der erste Film dieses Typs ist Les Raquetteurs (1958; Regie: Michel Brault / Gilles Groulx, Ton: Michel Carrière), der das Motiv des Schneeschuhs aufgreift, der in der traditionellen Ikonographie Québecs eine große Rolle spielt, von den europäischstämmigen Siedlern aus den Irokesenkulturen übernommen wurde und als Alltagsgegenstand für das Überleben im nordischen Winter eine wichtige praktische Funktion hatte. Im Film wird der Schneeschuh jedoch aus einer analytischen, historischen, selbst spielerisch selbstironischen Distanz betrachtet, was sich schon 98 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier daran zeigt, dass zu Filmbeginn der Begriff mittels schriftlicher Einblendung der Definition aus dem Larousse erläutert wird: „Appareil que l’on s’attache aux pieds pour marcher sur la neige sans y enfoncer“ (0: 04). Zudem wird das Motiv mehrfach verschoben. Es wird jetzt in einem städtischen Kontext als Sportgerät verwendet, während des Schneeschuhfestes in Sherbrooke, bei dem Amateure zu ihrer eigenen Belustigung und der des Publikums zu einem Wettbewerb im Schneeschuhlaufen antreten. Der Schneeschuh wird so zur Folklore, das historische Erbe zum touristisch nutzbaren patrimoine. Der Film begleitet den Tag chronologisch, verzichtet auf auktoriale Kommentare und gestaltet mittels rhythmisch organisierter Bilder eine Art ‚Symphonie der Kleinstadt‘. Neben den sportlichen Wettbewerben und einer Eröffnungsrede des Bürgermeisters gehört eine volkstümliche Parade zu den Festritualen, zu denen lokale Blaskapellen Aufstellung nehmen und sich das Publikum an den Straßenrädern sammelt. Die Bilder vom bunten Treiben sind von Emblemen der Urbanität begleitet: Der Ort organisiert sich rund um eine Bahnlinie (Abb. 1+2); der passierende Zug zwingt den Festzug zu einer Pause, während Stationssignale aufleuchten und Schranken sich senken. Der Abend klingt mit Musik und Tanz aus, bevor die Gäste sich in ihren PKW in eine Kette von Scheinwerferlichtern reihen und rechts und links der Hauptstraße die Leuchtreklamen zu blinken beginnen. Filmgeschichtlich gilt Les Raquetteurs als einer der ersten Filme, die mit der neuen Handkamera und mit Synchronton gedreht sind (Marshall 2001: 21); somit wird die Ästhetik des cinéma vérité vorbereitet, bei dem man sich als Zuschauer*in mitten im Geschehen der Filmhandlung befindet. Gerade der Beitrag des Kameramanns Michel Brault ist hier entscheidend, der statt des Teleobjektivs, das in Filmen der zeitgleichen anglophonen ONF-Serie Candid Eye zum Einsatz kam, ein Weitwinkelobjektiv verwendet und sich direkt in die Menge begibt (Jean 2005: 43). Technisch sind diese Gestaltungsmittel noch unvollkommen genutzt. Der Film gilt aber - auch infolge seiner ästhetischen Programmatik - als „Symbol des von den Frankophonen geführten Kampfes innerhalb des kanadischen ONF “; der Verzicht auf autoritativen Abb. 1+2: Die Bahn fährt mitten durch Sherbrooke. Les Raquetteurs (4: 35; 5: 08). DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 99 Dossier Off-Kommentar und der Einsatz des Weitwinkels entsprechen der moralischen Forderung nach Partizipation (Marsolais 2002: 64sq., Zitat 64). Einer der bekanntesten Filme des Korpus, La Lutte (1961; Kollektiv: Michel Brault / Claude Fournier u. a.), widmet sich einem Sport, der in der Quebecer Unter- und unteren Mittelschicht sehr beliebt war: dem Wrestling. Das Wrestling ist nicht nur Wettkampf, sondern ganz wesentlich Schaukampf und somit ein Ritual, das vor Publikum ausgetragen wird. Im Fokus stehen dabei sowohl die athletischen Körper der Kämpfer als auch die Zuschauer, die nach und nach den Saal rund um den Ring füllen. Der Film erzählt chronologisch vom Tag eines Wettkampfes und entwickelt eine eigene Dramaturgie und Dynamik über die Beschleunigung der Schnittfolge zum Höhepunkt des Kampfes hin. Besonders relevant für die Identitätsperformation ist dabei, dass auch das Publikum in das Spektakel einer Gesellschaft, die sich selbst feiert, mit eingebunden wird (Abb. 3). Im kollektiven Ritual sind Sehen und Gesehenwerden Thema. Lange Einstellungen in Großaufnahme widmen sich mit Klavierbegleitung unterlegt der ausdrucksstarken Mimik einfacher, vom Leben gezeichneter Gesichter (Abb. 4-6). Neben dem städtischen Alltag, der Festkultur (z. B. dem Nationalfeiertag Saint Jean-Baptiste in Jour de juin 1959; Kollektiv), dem Sport (z. B. Boxen als Sport der Arbeiterschaft in Golden Gloves 1961, Regie: Gilles Groulx) 4 und den neuen Konsummöglichkeiten (z. B. Restaurants in Manger 1961; Regie: Louis Portugais / Gilles Abb. 3: Sehen und Gesehenwerden sind Thema. La Lutte (9: 42). Abb. 4-6: Das Publikum gerät in den Fokus. La Lutte (9: 50; 10: 12; 10: 27). 100 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier Carle) werden in der Serie immer wieder Menschen bei harter körperlicher Arbeit gezeigt, in Branchen wie sie für das Québec der Zeit und den Identitätsdiskurs typisch waren, wie in Papierfabriken (z. B. Jour après Jour 1962; Regie: Clément Perron), in der Holzwirtschaft (Bûcherons de Manouane 1962; Regie: Arthur Lamothe) und bei Hafen- oder Lieferarbeiten (Au bout de ma rue 1958; Regie: Louis- Georges Carrier). Die Filme sind kritisch, thematisieren schwere Arbeitsbedingungen und die Dominanz US-amerikanischen Kapitals, gehen aber auch wertschätzend mit den Tätigkeiten der einfachen Bevölkerung um. Obwohl z. B. Lamothes Bûcherons de Manouane einen komplexen Dialog mit dem Mythos des coureur de bois der frankokanadischen Vergangenheit aufmacht (Abb. 7; cf. Harcourt 2003: 65), arbeiten die Saisonarbeiter im arktischen Winter unter den kapitalistischen Arbeitsbedingungen des 20. Jahrhundert. Die Erzählstimme verliest Statistiken zur Ausbeutung von Natur und Mensch durch die großen Konzerne. Auch die Träume sind zeitgemäß - so fängt die Kamera in den Baracken das Cover einer Filmzeitschrift ein (Abb. 8). Auch den immigrants, die nach und nach die Zusammensetzung der Quebecer Gesellschaft - und auch der classes populaires - ganz wesentlich verändern, sind bereits einige Filme gewidmet (z. B. Anreise neuer Migranten in Pour quelques arpents de neige 1962; Regie: Georges Dufaux / Jacques Godbout, Alltag eines italienisch geprägten Stadtviertels in Dimanche d’Amérique 1961; Regie: Gilles Carle). À Saint-Henri le 5 septembre: Kritik an den Filmen der Serie „Temps présent“ Das Vorgehen der équipe française beim Filmen und ihre intellektuelle Autorenfilmhaltung (cf. MacKenzie 2004: 146) waren jedoch nicht unumstritten. Welche Kontroversen die Serie „Temps présent“ teils auslöste, lässt sich am Film À Saint-Henri le 5 septembre (1962; Regie: Hubert Aquin) illustrieren. Der Film nimmt sich eines Arbeiterviertels in Montréal an, das seit der wirtschaftlich angespannten Situation der 1930er Jahre einen schlechten Leumund genießt. Die Arbeitslosigkeit war während Abb. 7+8: Die Holzfäller leben in der kapitalistischen und konsumorientierten Welt von heute. Bûcherons (22: 42; 18: 13). DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 101 Dossier der Grande Noirceur groß, die Wohnungen waren überbelegt und viele der kinderreichen Familien sahen sich Frühjahr für Frühjahr gezwungen, umzuziehen und sich eine oft noch prekärere Unterkunft zu besorgen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten (cf. Dickinson/ Young 2015: 221). Dementsprechend grassierten Alkoholismus, häusliche Gewalt und Kleinkriminalität. Das Viertel musste metonymisch für die Marginalisierung der schlecht ausgebildeten und oft erst rezent vom Land in die Stadt migrierten frankophonen Arbeiterschaft herhalten. Aquin baut auf diesem Stereotyp auf, versucht es aber ganz im Sinne der Aufbruchstimmung der Révolution tranquille positiv umzuschreiben. Es wird betont, dass es sich bei Saint-Henri um ein ganz normales Viertel mitten in Amerika handele, das an den gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre teilhat. Perspektivträger sind Kinder als die neue Generation (Abb. 9). Der Film spielt am Tag des Schulanfangs, nicht nur ein Tag mit besonders quirligem Verkehr, sondern auch eine Gelegenheit, die Leistungen des Quebecer Bildungswesens zu würdigen. Es wird Wert darauf gelegt, dass die Schulen in Saint-Henri Mädchen und Jungen eine Zukunft eröffnen und dass man im Viertel eine Kindheit in zugewandten Verhältnissen erleben kann. Auch der bescheidene Konsum der unteren Mittelschicht spielt eine Rolle. Anders als in Paris, im alten Europa, in dem - so die Erzählstimme aus dem Off - die sozialen Unterschiede groß seien und alte Bausubstanz teils noch immer nicht über fließend Wasser und einen Stromanschluss verfüge, lebe man in Québec in relativem Wohlstand, als „les bourgeois de lʼunivers prolétarien“ (24: 19sq.). Der Titelsong von Raymond Levèsque greift denn auch dieses Thema auf. Er betont die Lichtblicke des Alltags, ohne soziale Probleme unerwähnt zu lassen: C’est un quartier curieux / et dans les vieux fonds d’courts / il y a un enfant heureux / s’en sortira un jour. / Mais au bout de la rue / à cause du chômage / il y a un homme qui a bu / en cherchant de l’ouvrage. / On s’en fait pas pour ça / et je dis ‚chapeau bas‘ / car malgré tout on rit / à Saint-Henri […] (0: 01-0: 28). Das Filmteam wird bei den Vorbereitungen zum Dreh gezeigt, eine mise-en-abyme- Situation, wie sie im cinéma vérité häufig ist, um die Katalysatorfunktion der Kamera Abb. 9: Die Mädchen freuen sich sichtlich auf ein neues Schuljahr. À Saint-Henri (16: 26). 102 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier offen zu legen (Lipp 2 2016: 103). Das Team greift in die Wirklichkeit ein und inszeniert, was es zeigen möchte, auch wenn es hier vor Schwierigkeiten gestellt wird. Es gelingt nicht gleich, eine Familie beim abendlichen Rosenkranzbeten zu zeigen, weil der Radiosender, der das Avemaria vorspricht, zu sehr rauscht. Mehrere Minuten vergehen und wir befinden uns, mit Handkamera und Synchronton, mitten unter den Familienmitgliedern im kleinen Raum. Die Sequenz beginnt paradigmatisch für die cinéma-vérité-Ästhetik mit dem sich drehenden Kleid der Mutter im angeschnittenen Bild, die sich bückt, um den Boden zu fegen (30: 01-02). Der Off-Ton kommentiert flott und selbstironisch: 5 „Mais on a découvert que ce n’est pas toujours facile de faire du cinéma vérité.“ (29: 27-30: 02) Als der Sender endlich gefunden ist, öffnet der Regisseur plakativ die Hände, um denn doch noch die Klappe fallen zu lassen (Abb. 10): Es kommt zum Abendgebet, auch wenn die Kinder, abgelenkt durch die Kamera, nicht alle ganz bei der Sache sind. Der Blick des kleinen Mädchens in der rechten Bildhälfte fällt direkt auf den Zuschauenden und bricht mit der Filmillusion (Abb. 11). Abb. 10: Klappe - Das Filmteam wird in einer mise-en-abyme gezeigt. À Saint-Henri (31: 36). Abb. 11: Abendgebet en famille - auch eine politische Aussage. À Saint-Henri (31: 48). DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 103 Dossier Warum aber wurde ein Film dieses Inhalts kritisiert? Erstens ist die Darstellung der betenden Familie nicht so harmlos wie es aussieht. Hinter ihr versteckt sich eine subtile politische Wertung: Anlässlich des Streiks in der Asbestos-Mine 1949, eines Erinnerungsortes der Quebecer Gewerkschaftsbewegung, brach zum ersten Mal die Allianz zwischen der Duplessis-Regierung und der Katholischen Kirche auf. Der sozial gesinnte Erzbischof von Montréal zeigte sich mit den Streikenden solidarisch und rief die Gläubigen auf, die hungernden Familien mit Spenden zu unterstützen. Als der Streik beendet ist, wird der Bischof ausgetauscht. Sein Nachfolger Paul- Émile Léger ist ultramontaner Anhänger Pius’ XII. und erklärt, das Heil gläubiger Familien läge im gemeinsamen Gebet, nicht im Klassenkampf (cf. Bédard 2019: 229- 231). Die Filmfamilie - und mit ihr das ganze Viertel, über das sich abschließend die Kamera, zum Ton des Rosenkranzes, in einer Fahrt aus der Vogelperspektive erhebt - zeigt sich ergeben, passiv und konservativ. Zweitens setzt das Filmteam, allesamt gut ausgebildete Angehörige der Mittelschicht aus den reicheren Vierteln Montréals, den auktorialen Erzählton zwar selbstironisch ein, um die Schwierigkeiten des Drehs witzig zu kommentieren, spricht im gleichen flotten, beschwingten Ton aber auch von den dargestellten Menschen und ihren Alltagsproblemen. Der große soziale Abstand zwischen den Intellektuellen und ihrem ‚Objekt‘ wird mehr als deutlich. Der Film wählt einen quasi ethnographischen Zugang, den einige der abgebildeten Familien als respektlos empfanden. Manche Betroffene verließen beschämt das Viertel (cf. MacKenzie 2002: 135). Ganz wie Loiselle es für den Spielfilm gezeigt hat, reproduziert gerade das „ironic pedestal“ (Loiselle 2006: 210) die Machtdifferenz zwischen Filmenden und Gefilmten. Sowohl der Filminhalt als auch die Debatte über ihn tragen zum Verlust der „voice of authority“ des Dokumentarfilms bei - es wird offenkundig, dass nationale Mythen das Produkt von Konstruktion und Aushandlung sind (Leach 2006: 16). Ein neuer Ansatz: Die Videoprojekte der Serie „Société nouvelle“ In den 1970er Jahren wandten sich einige der frankophonen Kreativen vom ONF ab (Poirier 2004: II, 68), nicht zuletzt, weil vor dem Eindruck der Oktoberkrise 1970 einige der politischsten und polemischsten Filme, so z. B. der dokumentarische Langfilm On est au cotton von Denys Arcand über die Kontinuität kapitalistischer Ausbeutung der frankophonen Arbeiterschaft in der Textilindustrie seit dem Jahrhundertanfang bis in die damalige Gegenwart, zensiert und erst Jahre später für die öffentliche Vorführung freigegeben wurden (MacKenzie 2004: 173). 6 Der Klassenkampf, die nationale Frage und die Einforderung von Zensurfreiheit werden in der Opposition gegen die föderale Institution diskursiv enggeführt: Les films visés par les sanctions de la haute direction de l’ONF avaient comme dénomination commune d’être l’expression d’une identité politique et individuelle du Québec. Proposer l’avènement d’un véritable cinéma national participe donc d’un effort pour la libération du peuple québécois (Ducharme 2022: 330). 104 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier Dennoch setzte auch in dieser Zeit das ONF weiterhin Akzente, was die Produktion von Bildern der Arbeiterviertel Montréals anging. Das Programm, das es in den 1970er Jahren auflegte und das mit seinem Titel „Challenge for Change / Société nouvelle“ (1969-1980) programmatisch in die Zukunft weist, wendet sich vom Autorenfilm ab, setzt stärker auf die Partizipation der Menschen, mit denen sich die Filme beschäftigen, entdeckt den ‚Glauben an die soziale Aktion‘ (cf. MacKenzie 2004: 146) neu und will mit seinem handlungsorientierten Ansatz Armut bekämpfen und zur sozialen und politischen Ermächtigung beitragen: „The objective was to engender social change through media, and aspiring filmmakers of the New Left rose to the challenge“ (Baker/ Waugh/ Winton 2010: 4). Es entwickelt sich ein entsprechendes Produktionsumfeld; das ‚Ökosystem‘ verschiebt sich: Im ONF selbst unternahm bereits der Groupe de recherches sociales (1968) Vorstöße in Richtung politischen Aktivismus und später erfolgten wirkmächtige Gründungen von grassroot-Initiativen wie die der Gruppe La femme et le film (1973), später Vidéo Femmes (1979), und des Groupe d’intervention vidéo (1975) (Jean 2005: 81). Seit 1971 öffnet das selbstverwaltete Künstlerzentrum Vidéographe im Herzen Montréals 24 Stunden am Tag und stellt für aussichtsreiche Projekte kostenlos Filmausrüstung und Montagestudios zur Verfügung. 7 Der Fokus auf Emanzipation prägt auch einige der Themenschwerpunkte, wie sie typisch sind für die 70er Jahre: „Rapidement, le ton est donné: la vidéo sera sociale“ (Jean 2005: 81). So widmen sich die Filme des neu eingerichteten Studio D, in dem z. B. Anne Claire Poirier mitwirkte, der Verhandlung weiblicher Rollen in der modernen Gesellschaft, wie dem Stellenwert von Mutterschaft für das Selbstverständnis von Frauen oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (cf. die Reihen En tant que femmes 1972-75 und Working Mothers 1974-75). Das Werk von Maurice Bulbulian verschreibt sich dem politischen Engagement gegen die Ausbeutung der arbeitenden Klasse einerseits und der Angehörigen der premières nations andererseits (cf. Dans nos fôrets 1971; Richesses des autres 1973) (Véronneau 2006: 548). Auch in den 70er Jahren ist eine technische Neuerung Voraussetzung für die Entwicklung der Filmästhetik. Zum Einsatz kommt die neue Portapak-Videokamera der Firma Sony, die sich durch leichtere Bedienbarkeit und ihren moderaten Preis auszeichnet und sich für das Ziel der Demokratisierung des Filmens ideal eignet (MacKenzie 2004: 148). Die Filme setzen darauf, den Akteuren nicht nur auf der Darstellungsebene des Films Sichtbarkeit und Stimme zu verleihen, sondern sie auch zu Subjekten der Artikulation zu machen und sie an der Produktion des Films zu beteiligen. Somit haben die Filme - ganz im Sinne Spivaks (1994) - das explizite politische Anliegen, zur Ermächtigung des involvierten Kollektivs beizutragen: „The training […] is based on the belief that persons should speek for themselves instead of being spoken for“ (Todd Hénaut / Sherr Klein 2010: 24). Die Kreativen, im Zitat Dorothy Todd Hénaut und Bonnie Sherr Klein im Newsletter Access im Sommer 1969, veröffentlichten parallel zu ihren Projekten programmatische Manifeste, in denen sie ihr Vorgehen protokollierten und kritisch reflektierten. DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 105 Dossier In der Projektanbahnung knüpft das Filmteam des ONF zunächst Kontakte vor Ort und kommt mit Betroffenen zu anliegenden Bürgerbelangen und -initiativen ins Gespräch. In Workshops werden die Bürger*innen selbst an der Kamera ausgebildet und im Anschluss an Recherche und Dreh beteiligt. Durch ihr aktives Handeln bringen sie sich als Subjekte in die Filmproduktion ein. Um im lokalen Rahmen Öffentlichkeit herzustellen, werden Pressekonferenzen abgehalten und die Filmergebnisse vor Ort dem Publikum vorgestellt. Ihre eigenen Bilder auf einem Fernsehbildschirm zu sehen, erfahren die Anwohner als einen Aha-Effekt, als eine Aufwertung ihrer Belange, was eine gute Grundlage bilde, sie ins Gespräch zu bringen (cf. Todd Hénaut / Sherr Klein 2010: 25-30). Marion Froger analysiert die ethische Dimension dieser sozialen Indienstnahme des Films als eines „objet transactionnel“: Der Prozess des Filmens schaffe ein dynamisches Beziehungsnetzwerk dreier Partner - der Filmenden, der Gefilmten und der Zuschauenden -, das die Basis für horizontale, ‚erlebte‘ Solidaritäten im hic et nunc bilde (Froger 2009: 216-219; Zitat 219). Ein paradigmatisches Beispiel aus dieser Filmproduktion ist Bonnie Sherr Kleins VTR St-Jacques: Opération boule de Neige von 1969. 8 Die Titelmetapher spricht bereits das Wirkprinzip an: Wie ein Schneeball, der zur Lawine wird, sollte das Videoprojekt zum Katalysator für die soziale und politische Ermächtigung der Bürgerbewegung im Montrealer Viertel St-Jacques dienen. Das Thema ist ein doppeltes: Einerseits stellt der Film ein Projekt des Bürgerkomitees vor, die Einrichtung einer kommunalen Klinik mit dem Ziel, den Zugang der Bürger*innen des Viertels zum Gesundheitswesen zu verbessern; ein typisches ‚Projekt von unten‘ im rebellischen Geist der 1970er Jahre, als Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staatshandeln stärkere Partizipation einforderten. Andererseits thematisiert er auf der Metaebene seinen eigenen Produktionsprozess und stellt die Programmatik der Videoprojekte der Reihe „Société nouvelle“ am Beispiel dar. Ausgangspunkt ist eine Situation der Machtlosigkeit, in der die Menschen im Viertel die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen nicht selbst in der Hand haben („without the power to change the conditions of their lives“, 0: 18). Daran, so analysiert der Film, seien auch die etablierten Medien schuld, die bürgerfern seien und speziell ärmeren Menschen keine Artikulationsbasis böten („the established media are not accessible to ordinary people, especially the poor“, 1: 18). Um das zu ändern, werde den Betroffenen selbst die Kamera in die Hand gegeben. Die Distanz, die es schafft, durch die Linse zu blicken, ist dabei ein erster Ansatzpunkt für eine Bewusstseinsveränderung („when I look through the camera I really see“, 21: 51). Zudem werden Barrieren abgebaut, wenn vor und hinter der Kamera Gleichgesinnte stehen, was ein gutes Gesprächsklima auf Augenhöhe schaffe („who is holding the camera […] that’s people like themselves“, 4: 36). In einer Szene (0: 13: 55-0: 15: 43) wird (unkommentiert) ein Lehrstück in lebendiger Demokratie vorgeführt: Das Projektteam aus Viertelbewohner*innen, das mit der Postproduction des Films befasst ist und die 4 Stunden 40 Minuten Ausgangsmaterial zum halbstündigen Format reduziert (cf. Todd Hénaut / Sherr Klein 2010: 28), diskutiert einen Interviewausschnitt. Ein älterer, arbeitsloser Anwohner berichtet in 106 DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 Dossier tiefstem français populaire über seine Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Er räsoniert zu Ursachen der angespannten Arbeitsmarktsituation und urteilt unter anderem, daran seien die Frauen schuld, die um Arbeitsplätze konkurrierten. Frauen - so meint er - sollten bei Heim und Herd bleiben. Das Postproduction-Team reagiert lebhaft und kontrovers. Zunächst wird die Äußerung von einem männlichen Gruppenmitglied als „untragbar für die Frauen“ aussortiert. Eine Frau mittleren Alters mit modischer Kurzhaarfrisur und schickem Kostüm lässt die Äußerung als wertvoll stehen: Sie bilde, wenn auch anachronistisch, einen Ausschnitt des Meinungsspektrums im Viertel ab, drücke Stolz und Würde des Mitbürgers aus und seinen legitimen Wunsch nach Beschäftigung. Der Dokumentarfilm lässt also die Polyphonie der Meinungen bestehen und zeigt sie über die mise en abyme der Produktionssituation (Abb. 12) in einer Aushandlung, die zwar gewissermaßen von den Akteur*innen des Viertels abgeschlossen, nicht aber von einer auktorialen Kommentarstimme eingefangen oder stillgestellt wird. Dieses Klima des Dialogs herrscht auch bei den Treffen, in denen die Filmbilder gemeinsam betrachtet und kommentiert werden und bei denen sich alle ernst genommen und adressiert sehen („The people identify with the people on screen. They feel at home“, 23: 32). Das Ziel, Menschen ins Gespräch zu bringen, wird so erreicht („I started with the idea to get people to talk“, 3: 20). Sie planen am Filmende nicht nur weitere Videoprojekte, sondern auch zusätzliche Bürgerinitiativen zur Verbesserung der Lebensbedingungen im Viertel. Die Filmprojekte, so hält Froger fest, sind Katalysatoren der Entstehung von kommunitären Selbsthilfestrukturen: „les cinéastes de l’ONF ont accompagné, sinon provoqué, les expériences initiales qui ont permis la naissance de ces structures“ (Froger 2009: 47). Fazit Trotz der Spannungsbeziehung der Quebecer Kreativen zum ONF als föderaler Institution erwies sich diese als wesentlicher Ort für das Experiment mit einem neuen ‚populären‘ Dokumentarfilm, dessen Entwicklung nicht linear verlief, sondern sich als Abb. 12: Postproduction - Diskussion über ein strittiges Interview. VTR St-Jacques (14: 56). DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 107 Dossier ein Prozess der Aushandlung und Selbstkorrektur erweist. Die Filme der Serie „Temps présent“ entwerfen neue, moderne Bilder der städtischen classes populaires, die trotz aller empathischen Sympathie zunächst noch stereotyp und bevormundend bleiben und einer Perspektive der intellektuellen Mittel- und Oberschicht auf die ‚subalternen Anderen‘ entsprechen. Zugleich legen sie aber mit dem cinéma vérité den Grundstein für eine neue Ästhetik der Nähe und Augenhöhe, in der die Möglichkeit zur Selbstreflexivität bereits angelegt ist. Die Serie „Société nouvelle“ ergänzt diesen Ansatz um eine dialogische Praxis der Filmproduktion und Rezeptionsdispositive, die eine demokratische Rückkopplung erlauben. Zudem lässt sie das Bild des ‚Volkes‘ offen für eine prozessuale und performative Gestaltung, die Polyphonie und Diversität gestattet (cf. MacKenzie 2010: 325). ‚Populär‘ waren und sind die Filme auch deshalb, weil sie ein großes Publikum erreichten und „identitätskonkret“ im Sinne Assmanns (1988: 13) werden konnten. Ihre Zugänglichkeit auf den streaming-Plattformen des ONF und die Remediation (Froger 2009: 155) dieses Archivmaterials in zahlreichen späteren Dokumentarfilmen zur Geschichte Québecs (z. B. in La Mémoire des anges von Luc Bourdon, 2009, cf. Druick 2014: 320sq.) macht sie noch heute zu einem Teil des patrimoine und der ‚Populärkultur‘ Québecs. Assmann, Jan, „Kulturelles Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Jan Assmann / Tonio Hölscher (ed.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1988, 9-19. Baker, Michael Brendan / Waugh, Thomas / Winton, Ezra, „Introduction: Forty Years Later… a Space for Challenge for Change / Sociéte nouvelle“, in: Thomas Waugh / Michael Brendan Baker / Ezra Winton (ed.), Challenge for Change. Activist Documentary at the National Film Board of Canada, Montréal, McGill-Queen’s University Press, 2010, 3-14. Bédard, Éric, L’Histoire du Québec pour les nuls, Paris, First, 2019. 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Heide/ Kotte 2006: 94-97). 2 Loiselle weist das Stereotyp an einem Korpus Quebecer Spielfilme von den 1950er bis in die 1990er Jahre nach und zeigt, dass es in den Historienfilmen der 1980er Jahre, die sich der Duplessis-Ära widmen, eine nostalgisch-sozialromantische Wende nimmt: „The soft- DOI 10.24053/ ldm-2023-0023 109 Dossier focus image of the working class that appears in both films translates a longing for a period in history that still held the promise of progress and freedom“ (Loiselle 2006: 225). 3 Frank hält auf der Suche nach ‚dem kanadischen Arbeiterfilm‘ fest, dass ein solcher nicht so ohne weiteres sichtbar sei (Frank 2006: 25). Ganz allgemein sei der frühe Film in der Vor-Hollywood-Stummfilmära ein populäres Phänomen gewesen, der sich an ein Publikum aus den arbeitenden Schichten wendete und diese Zuschauenden meist mit positiven, empathischen und pikaresk anti-autoritären Selbstbildern adressierte. „[T]he movies helped workers to ‚visualize‘ class in the silent era“ (ibid.: 27). Das arbeitnehmerfreundliche politische Klima in den USA der 1930er und 1940er Jahre habe positive Filmbilder der Arbeiterschaft hervorgebracht (ibid.: 28). 4 Mit den Mythen des Sports der classes populaires sind auch zeittypische Männlichkeitsbilder verbunden. Thomas Waugh analysiert u. a. an Golden Gloves, inwiefern diese Bilder Aspekte von Homosoziabilität und Homoerotik mitführen (2006: 183-196). 5 Der selbstreflexive Kommentar wurde von Jacques Godbout verfasst und „raises the issue of the relationship of the filmmakers to the people they are filming and finally admits that ‚Saint-Henri has still not yielded its secret‘“ (Leach 2006: 15). 6 Auch das fiktionale Kino Québecs wird in der Zeit von 1968 bis 1974 deutlich politischer: „le propos filmique se fait revendicateur et se tourne vers l’avenir socialiste et indépendantiste à construire“ (Poirier 2004: I, 87). Allerdings steht in den feature-Filmen, wie Christian Poirier einschlägig analysiert hat, oft die Thematisierung der Machtlosigkeit, nicht die Performanz von Ermächtigung im Vordergrund (ibid.: 96sq.). 7 MacKenzie 2004: 153; www.videographe.org/ a-propos/ mission. 8 Die Abkürzung VTR steht für Video Tape Recording.