Tribologie und Schmierungstechnik
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0724-3472
2941-0908
expert verlag Tübingen
10.30419/TuS-2020-0020
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JungkDynamische RWDR Tests neu definiert!
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Hüttinger Alexander
Markus Wöppermann
Jörg Hermes
Klassische Radialwellendichtringe (RWDR) sind nach wie vor die erste Wahl, wenn es darum geht industrielle Antriebssysteme sicher und wirtschaftlich abzudichten. Für eine möglichst lange Lebensdauer der Dichtung ist die Verträglichkeit von Schmierstoff und Elastomer von zentraler Bedeutung. Zur Prüfung der Verträglichkeit wurde ein neues Messverfahren entwickelt mit dessen Hilfe dynamische RWDR Tests schneller und einfacher bewertet werden können. Die vorgestellte Messmethode ermöglicht eine in-situ Bewertung des Tribosystems im Dichtspalt hinsichtlich Welleneinlauf oder chemische Wechselwirkungen über die Laufzeit des Versuches. Dies bietet die Möglichkeit Schmierstoffe oder Dichtsysteme in sehr schnellen Iterationszyklen zu entwickeln.
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Motivation Bei der Entwicklung zukünftiger Antriebstechnik stehen Aspekte wie Nachhaltigkeit, Effizienz und Langlebigkeit ganz weit im Vordergrund. Wer sich diesen Anforderungen stellt, kommt an modernen Simulationswerkzeugen und neuen Berechnungsverfahren nicht vorbei. Tragfähigkeiten von Verzahnungen und Lagern können damit schon heute sehr exakt berechnet werden. Selbst das Geräuschverhalten von kompletten Antriebssträngen lässt sich heute durch innovative Simulationen vorausbestimmen und optimieren. Jedoch beruhen alle diese Berechnungsmodelle darauf, dass die Schmierung und Kühlung der Einzelkomponenten auch dauerhaft funktioniert. Immer mehr Antriebe müssen zukünftig mit einer einmaligen „Lebensdauerschmierung“ auskommen. Ein Schmierstoff- oder Dichtungswechsel ist hier im Produktlebenszyklus nicht mehr vorgesehen. Schmierstofftechnisch lässt sich diese Anforderung durch geeignete Maßnahmen gut realisieren. Jedoch muss beachtet werden, dass die Lebensdauerschmierung eines Antriebes nur dann funktionieren kann, wenn auch das Dichtsystem auf Dauer funktioniert! Aktuell wird in der Antriebstechnik immer noch auf klassische berührende Dichtsysteme wie den Radialwellendichtring (RWDR) gesetzt. Leider hat sich im Hinblick auf die Berechenbarkeit der Lebensdauer von RWDR in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas getan. So gibt es Stand heute dafür keine geeigneten Berechnungswerkzeuge. Das bedeutet, selbst wenn sich die Tragfähigkeit der Verzahnung und Lagerung bis auf die Stunde genau berechnen lässt, bleibt es nach wie vor ungewiss, ob die Dichtheit des Systems und damit die Schmierung über die geforderte Lebensdauer gewährleistet werden können. Hier müssen gegenwärtig immer noch langwierige und kostspielige Schmierstoffverträglichkeitstests mit den Dichtsystemen und Gegenlaufflächen durchgeführt werden. Bewährt haben sich dabei praxisnahe, dynamische Tests der Dichtungshersteller. Die üblichen Testverfah- Aus Wissenschaft und Forschung 15 Tribologie + Schmierungstechnik · 67. Jahrgang · 4/ 2020 DOI 10.30419/ TuS-2020-0020 Dynamische RWDR Tests neu definiert! Alexander Hüttinger, Markus Wöppermann, Jörg Hermes* Klassische Radialwellendichtringe (RWDR) sind nach wie vor die erste Wahl, wenn es darum geht industrielle Antriebssysteme sicher und wirtschaftlich abzudichten. Für eine möglichst lange Lebensdauer der Dichtung ist die Verträglichkeit von Schmierstoff und Elastomer von zentraler Bedeutung. Zur Prüfung der Verträglichkeit wurde ein neues Messverfahren entwickelt mit dessen Hilfe dynamische RWDR Tests schneller und einfacher bewertet werden können. Die vorgestellte Messmethode ermöglicht eine in-situ Bewertung des Tribosystems im Dichtspalt hinsichtlich Welleneinlauf oder chemische Wechselwirkungen über die Laufzeit des Versuches. Dies bietet die Möglichkeit Schmierstoffe oder Dichtsysteme in sehr schnellen Iterationszyklen zu entwickeln. Schlüsselwörter Reibmoment, Schmierstoffverträglichkeit, Messverfahren, Radialwellendichtring (RWDR), Dynamischer RWDR Test, In-situ Bewertung, Schmierstoff, Prüfstand New definition of dynamic seal tests! Classical radial oil seals still are the first choice for sealing industrial drive system securely and economically. In order to ensure a long service life of the seal, using compatible lubricants and elastomers is crucial. To check compatibility, a new method of measurement has been developed that facilitates a quicker and easier evaluation of oil seal tests. The introduced method of measurement provides an in-situ evaluation of the tribological system within the sealing gap, for example regarding the run-in on the shaft or the chemical interaction during the runtime of the test. This allows for developing lubricants and sealing systems in very quick iteration cycles. Keywords Friction torque, Lubricant compatibility, Measurement methods, Radial shaft seal (RWDR), Dynamic RWDR test, In-situ rating, Lubricant, Test rig Kurzfassung Abstract * Dipl.-Ing. (BA) Alexander Hüttinger SEW Eurodrive GmbH & Co KG, EGT-TD 76646 Bruchsal Dr.-Ing. Markus Wöppermann Dr.-Ing. Jörg Hermes SEW Eurodrive GmbH & Co KG, Getriebeentwicklung 76646 Bruchsal Bedingungen testen zu können, wurde der Prüfstand so entwickelt, dass Ölfüllstand, Temperatur, Drehzahl und Überdruck unabhängig voneinander eingestellt werden können. Der genauere Aufbau ist in Bild 1 dargestellt. Es wurde ein Konzept gewählt, bei dem der Antriebsmotor auf beiden Seiten ein freies Wellenende hat. Somit können pro Antrieb zwei RWDR gleichzeitig geprüft werden. Mit dem Kompromiss, dass das Drehzahlprofil für Messzelle 1 und 2 identisch ist. Alle weiteren Parameter können für die beiden Messzellen eines Antriebsstranges unabhängig voneinander gewählt werden. Das Messprinzip der Reibmomentmessung beruht auf der Wegmessung gegen eine bekannte Federkraft. Die Kalibriereng der Messeinheit erfolgt klassisch über Totgewichte. Auf eine reibungsfreie Lagerung wurde aus Gründen der Einfachheit verzichtet. Im Fokus bei der Entwicklung des neuen Prüfstandes standen nicht absolute, sondern relative Reibmomentmessungen. Es hat sich gezeigt, dass nicht der absolute Reibmomentwert ein geeigneter Indikator für eine Schmierstoffverträglichkeit ist, sondern der Reibmomentverlauf. Der Heiz- und Kühlmantel wurde so aufgebaut, dass der Ölraum berührungslos geheizt oder gekühlt werden kann. Die Messzelle wurde mit einer Bremseinheit ausgestattet, um die Reibmomentmessung bei Drehzahlsprüngen oder Drehrichtungsumkehr temporär deaktivieren zu können. Ansonsten würde der Reibmomentverlauf primär durch die Veränderung der Drehzahl be- Aus Wissenschaft und Forschung 16 Tribologie + Schmierungstechnik · 67. Jahrgang · 4/ 2020 DOI 10.30419/ TuS-2020-0020 ren bieten keinerlei Informationen über den Zustand der Dichtung zur Laufzeit des Versuches. Erst nach Abschluss der Tests kann durch eine Analyse der Zustand der Dichtung bewertet werden. Eine zeitnahe Entwicklung neuer Schmierstoffe oder Dichtsysteme, die auf den dynamischen Tests beruht, ist mit dieser Vorgehensweise nicht möglich. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass für die Entwicklung eines Schmierstoffes mit einer guten Dichtungsverträglichkeit in der Regel mehrere Schleifen durchlaufen werden müssen. Dieser Tatsache geschuldet wurde ein neues Prüfverfahren entwickelt, das zur Laufzeit des dynamischen Versuches einen Rückschluss auf das tribologische Verhalten im Dichtspalt zulässt. Anliegen ist es, die Verträglichkeit von Schmierstoff und RWDR beobachten zu können und nur zielführende Kombinationen über die geforderte Laufzeit zu testen. Kombinationen, die kein stabiles Tribosystem zeigen, können mithilfe der Reibmomentmessung vorzeitig beendet werden. Das senkt die Entwicklungskosten und verkürzt signifikant die Entwicklungszeit. Prüfstand Grundlegend bei der Entwicklung eines neuen RWDR- Prüfstands war die Idee, das Reibmoment im Dichtspalt permanent zu ermitteln und über die Veränderung des Reibmomentes auf das tribologische Verhalten im Dichtspalt zu schließen. Um möglichst unter gleichbleibenden Bild 1: a - Reibmomentprüfstand mit 4 Antriebssträngen, b - Aufbau eines Antriebsstranges mit 2 Messzellen, c - Aufbau einer Messzelle einflusst werden und nicht durch die tribologischen Effekte im Dichtspalt. Versuchsergebnisse Die nachfolgenden Beispiele zeigen einen kleinen Ausschnitt aus den bereits ermittelten Reibmomentverläufen unterschiedlicher Elastomer/ Schmierstoff-Kombinationen. In Bild 2 wird beispielhaft der Reibmomentverlauf für die Kombination von FKM-RWDR mit CLP-PG- Schmierstoffen dargestellt. Wie auch aus dem Diagramm ersichtlich wird, unterscheidet sich der Reibmomentverlauf mit dem Referenzschmierstoff dahingehend von den andern, dass der Verlauf sich innerhalb der ersten 24 h stabilisiert und auch über die weiteren 216 h sehr konstant bleibt. Während die Verläufe der 3 Schmierstoffmuster auch nach 240 h keinen stabilen Verlauf erreichen. Eine anschließende Analyse der RWDR und der Wellen zeigte bei allen 3 Schmierstoffmustern abrasiven Verschleiß und Welleneinlauf >>10 µm auf der Wellenoberfläche. Die RWDR mit dem Referenzschmierstoff zeigten dagegen nicht mal eine Glättung der Wellenoberfläche. In Bild 3 wird der Reibmomentverlauf mit NBR-RWDR und Mineralöl aufgezeigt. Auch hier ist der Unterschied von dem Referenzschmierstoff zu den Schmierstoffmustern sehr deutlich ausgeprägt. Im Gegensatz zu FKM- RWDR geht aus dem Reibmomentverlauf jedoch hervor, dass bei NBR-RWDR das Reibmoment über die Zeit stetig ansteigt. Die bisherigen Versuche deuten darauf hin, dass die Steigung der Reibmomentkurve bei Versuchen mit NBR- RWDR in direktem Zusammenhang mit Merkmalen wie Ölkohlebildung, Blasenbildung, Rissbildung, Quellung oder Schrumpfung steht. Aus Wissenschaft und Forschung 17 Tribologie + Schmierungstechnik · 67. Jahrgang · 4/ 2020 DOI 10.30419/ TuS-2020-0020 Bild 2: 240-h-Reibmomentmessung mit FKM-RWDR und CLP-PG-Schmierstoffen Prüfbedingungen [01]: y RWDR: A38x52x7 y Ölbadtemperatur: 70 °C y Ölfüllstand: Mitte Welle y Dichtkantenbefettung: ja y Überdruck: 250 mbar y Drehzahlprofil: Bild 3: 240-h-Reibmomentmessung mit NBR-RWDR und CLP-Schmierstoffen Prüfbedingungen [01]: y RWDR: A38x52x7 y Ölbadtemperatur: 70 °C y Ölfüllstand: Mitte Welle y Dichtkantenbefettung: nein y Überdruck: 250 mbar y Drehzahlprofil: 2000 Upm - S1-Betrieb Mit den aufgeführten Referenzschmierstoffen konnten die Grenzwerte nach [1] auch nach Testende eingehalten werden. Während die anderen Schmierstoffmuster mit Leckage, starkem Welleneinlauf oder sichtbaren chemischen Wechselwirkungen (Blasen, Ölkohle oder Risse) nicht mehr der Spezifikation genügten. Zukünftige Schmierstoff- oder Dichtungsentwicklungen können mit Hilfe der Reibmomenterfassung in sehr schnellen und effektiven Entwicklungszyklen erfolgen. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein Wissensaufbau zur Interpretation der unterschiedlichen Formen des Reibmomentverlaufes. Literatur [1] Statische und dynamische Prüfungen von Radialwellendichtringen (RWDR). SEW Prüfvorschrift 971180315. Aus Wissenschaft und Forschung 18 Tribologie + Schmierungstechnik · 67. Jahrgang · 4/ 2020 DOI 10.30419/ TuS-2020-0020 Fazit Im Hinblick auf die gesamtumfänglichen, zukünftigen Anforderungen an die Antriebstechnik wird man auch in absehbarer Zukunft nicht um dynamische RWDR-Tests umher kommen. Solange die Verträglichkeit von Schmierstoffen und Elastomeren nicht berechnet oder simuliert werden kann, werden praxisnahe dynamische Prüfungen erforderlich sein. Eine Lebensdauerprognose für Dichtsysteme lässt sich auf Basis der Reibmomentmessung allein noch nicht stellen, jedoch bietet dieser Kennwert heute schon eine sehr effektive Möglichkeit, Dichtsysteme sehr viel besser und effektiver hinsichtlich der Verträglichkeit mit dem Schmierstoff in-situ bewerten zu können. Die beispielhaft aufgeführten Reibmomentmessungen wurden zur Validierung auch über 2016 h durchgeführt.