Soziolinguistik der deutschen Sprache
Eine Einführung
0313
2023
978-3-8385-4455-7
978-3-8252-4455-2
UTB
Eva Neuland
Christian Efing
10.36198/9783838544557
Dieser Band bietet einen breiten Überblick über die Soziolinguistik der deutschen Sprache. Er behandelt anhand aktueller Fragestellungen, Forschungsliteratur und Beispiele schwerpunktmäßig herkömmliche und neue Forschungsfelder, die für die Lehre von besonderem Interesse sind, und eignet sich ideal als Seminar-Grundlage sowie als Überblickslektüre mit Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Forschungsentwicklungen. Dabei werden zentrale soziale Faktoren (wie soziale Gruppe, soziale und regionale Herkunft, Gender, Generation und Soziale Medien) und Prozesse (wie Migration, Mehrsprachigkeit und Sprachwandel) in ihrem Einfluss auf den Sprachgebrauch im Deutschen berücksichtigt. Auch subjektive Faktoren von Sprachbewertungen und Spracheinstellungen sowie der Einfluss der Soziolinguistik auf Schule und Sprachunterricht werden einbezogen.
<?page no="0"?> FRAUEN MÄNNER HAND- DRAWN HALLO DORT DIE DIVERS HIER ALT JUNG WIR �� GUTEN TAG Eva Neuland Soziolinguistik der deutschen Sprache <?page no="1"?> utb 4455 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Eva Neuland lehrte Germanistik/ Didaktik der deutschen Sprache an der Bergischen Universität Wuppertal. <?page no="3"?> Eva Neuland unter Mitarbeit von Christian Efing Soziolinguistik der deutschen Sprache Eine Einführung Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838544557 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4455 ISBN 978-3-8252-4455-2 (Print) ISBN 978-3-8385-4455-7 (ePDF) ISBN 978-3-8463-4455-2 (ePub) Umschlagabbildung: Gesichter (frimages) © istock 2022 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 15 1 17 1.1 18 1.2 19 1.3 21 1.4 22 1.5 26 2 31 2.1 31 2.1.1 32 2.1.2 35 2.2 37 2.2.1 38 2.2.2 39 2.3 41 2.4 44 2.4.1 44 2.4.2 48 2.4.3 55 2.4.4 58 2.4.5 61 2.5 66 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Grundzüge und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte und frühe Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fach- und bildungspolitische Entstehungsbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Ziele und Erkenntnisinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Tendenzen und konzeptionelle Überlegungen . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Forschungsparadigmen und Theorieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungen zur gesprochenen Sprache und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel: Gespräch in einer Arbeiterfamilie . . . . . . . . . . . . . Gesprächsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung subjektiver Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrkomponentenansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche und soziale Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflüsse auf Sprachwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistische Theorieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code-Theorie und Sprachbarrierenthese (Basil Bernstein) Soziale Dialektologie und Variationslinguistik (William Labov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnographie der Kommunikation (Dell Hymes) und interaktionale Soziolinguistik ( John Gumperz) . . . . . . . . . . Soziologie der Sprache ( Joshua Fishman) . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende und weiterführende Überlegungen . . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3 73 3.1 73 3.2 75 3.3 79 3.4 81 3.5 88 3.6 90 95 1 97 1.1 97 1.1.1 97 1.1.2 98 1.1.3 100 1.2 103 1.3 105 1.3.1 106 1.3.2 107 1.3.3 109 1.4 110 1.5 110 2 115 2.1 115 2.1.1 116 2.1.2 116 2.1.3 117 2.1.4 119 2.1.5 120 2.2 121 2.2.1 124 2.2.2 125 2.3 126 Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistik und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative und qualitative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodentriangulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Ausgewählte Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und soziale Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Sozialisation, Sprachbarrieren und Sprachkompensatorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elterliche Kontrolltechniken in der sprachlichen Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie der linguistischen Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel: Vorschulkinder erzählen eine Geschichte zu Ende Sprachdefizite und Sprachdifferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alte und neue Sprachbarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Zweitsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Bildungssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Sprachgebrauch und Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialekt als Sprachbarriere und Dialekt - Hochsprache kontrastiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung einer kommunikativen Dialektologie . . . . . . Dialektbedingte Fehlertypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialekt und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Beispiel aus einer niederrheinischen Landwirtsfamilie Dialekt - Hochsprache kontrastiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionales Varietätengefüge im heutigen Deutsch . . . . . . . Dialekt-Renaissance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beliebtheitsskalen deutscher Dialekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perzeptive Dialektologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2.4 129 2.5 131 2.6 133 3 141 3.1 141 3.1.1 142 3.1.2 143 3.2 143 3.2.1 143 3.2.2 147 3.3 151 3.3.1 151 3.3.2 154 3.4 155 3.5 157 4 163 4.1 163 4.2 166 4.3 169 4.4 172 4.4.1 172 4.4.2 175 4.4.3 176 4.5 178 5 183 5.1 184 5.2 186 5.3 187 5.3.1 187 5.3.2 188 Stadtsprachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele der Stadtsprachenforschung im Deutschen . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachgebrauch und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachpolitik, Sprachplanung, Sprachlenkung . . . . . . . . . . Sprachpolitik und Sprachplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachlenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle deutsch-deutsche Sprachentwicklungen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachgebrauch in beiden deutschen Staaten . . . . . . . . . . . Sprachliche Folgen der Umbruchsituation von 1989 . . . . . . Deutsch in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationale Varietäten des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Variantenwörterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsch als Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachgebrauch und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Benachteiligung von Frauen und Sexismus-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auseinandersetzungen um das generische Maskulinum . . Geschlechtstypische Kommunikationsstile . . . . . . . . . . . . . Sozialisation, Stilisierungen und Doing Gender . . . . . . . . . Doing Gender in der primären Sozialisation . . . . . . . . . . . . Doing Gender in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtstypische Höflichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistische Dimensionen des Generationsbegriffs: gesellschaftlich, familial, relational, ideologisch . . . . . . . . . Kindersprache, Jugendsprache, Alterssprache . . . . . . . . . . Sprachgebrauch und Generationsbeziehungen . . . . . . . . . . Kommunikationskreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 5.4 190 5.5 193 5.5.1 194 5.5.2 197 5.6 202 5.7 204 6 209 6.1 209 6.2 211 6.3 213 6.4 214 6.4.1 214 6.4.2 220 6.5 223 6.6 225 6.7 227 7 233 7.1 234 7.2 236 7.3 246 7.4 249 7.5 251 7.6 253 8 261 8.1 262 8.2 263 8.3 265 8.4 269 8.4.1 269 8.4.2 270 Sprachgebrauch in gesellschaftlichen Generationen: das Beispiel 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart . . Merkmale jugendtypischen Sprachgebrauchs . . . . . . . . . . . Konversationelle Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersbilder und Generationsstereotypen . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Sprachgebrauch sozialer Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppensprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code-Switching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formelle und informelle Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Szenen und virtuelle Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppenspezifische Variation von Schriftlichkeit . . . . . . . Beispiele: Bandlogos und Graffiti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität (Christian Efing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gastarbeiterdeutsch der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnolekte und De-Ethnisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit, Identität und Integration . . . . . . . . . . . . Interkulturalität und Interkulturelle Kompetenz . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Sprachgebrauch und soziale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digitale Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionale Nutzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chat-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiel mit Stil, Spiel mit Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicknamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtuelle Identitäten zwischen Selbstmaskierung und Selbstenthüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 8.5 271 8.5.1 272 8.5.2 274 8.6 277 9 283 9.1 283 9.2 284 9.3 285 9.4 286 9.5 287 9.6 289 9.6.1 289 9.6.2 292 9.7 293 9.7.1 293 9.7.2 297 9.8 298 303 1 305 1.1 305 1.1.1 306 1.1.2 307 1.1.3 308 1.2 311 1.2.1 313 1.2.2 315 1.2.3 319 1.3 320 2 327 2.1 327 2.1.1 327 Sprache und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hassrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cybermobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Sprachliche Umgangsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachnorm und Sprachgebrauch im Alltag . . . . . . . . . . . . Statuierte und subsistente Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweifelsfälle, Spielräume und Normierungskonflikte . . . . Umgang mit Political Correctness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anredeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höflichkeits- und Routineformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschiedsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit (Un)Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pejorativa, Schimpfwörter und Beleidigungen . . . . . . . . . . Soziokulturelle Höflichkeitsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . III Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schule und Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schule und Sprachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompensatorische Sprachförderung im Vorschulalter . . . . Sprachförderung in Gesamtschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistische Impulse im Deutschunterricht . . . . . . . . Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht (Christian Efing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachnormenkritik und Sprachkritikkompetenz . . . . . . . . Kommunikative und Register-Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Sprachkritik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie Menschen über Sprache denken: Schwerpunkte laienlinguistischer Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umfrageergebnisse zu Spracheinstellungen . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="10"?> 2.1.2 330 2.1.3 332 2.2 334 2.2.1 334 2.2.2 336 2.3 337 3 341 3.1 342 3.1.1 344 3.1.2 349 3.2 354 3.2.1 357 3.2.2 360 3.2.3 363 3.3 365 3.4 372 3.5 374 383 384 393 396 Populistische Sprachkritik und Sprachverfallsthese . . . . . . Öffentliches Sprachbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkritik aus linguistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . Sprachreflexion und Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkritik von unten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und weiterführende Literatur . . . . . . . . Soziolinguistik und Sprachwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen . . . . . . . . . . Beispiele aus Pragmatik, Lexik und Semantik . . . . . . . . . . . Tendenzen der Destandardisierung und Informalisierung . Sprachkontakt (Christian Efing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss des Englischen auf das Deutsche . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Ethnolekte auf das Deutsche . . . . . . . . . . . Das Russische in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Gleichstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflüsse der sozialen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> Vorwort Die Soziolinguistik hatte in Deutschland Hochkonjunktur in den 1970er Jahren; Einführungen, Handbücher und Bibliographien erschienen (v. a. Dittmar 1973, 1997, Simon 1974, Löffler 1985, Veith 2002, Ammon/ Ditt‐ mar/ Mattheier 1987/ 88). Grundgedanken der Soziolinguistik wurden in Lehrveranstaltungen vermittelt und fanden Eingang in Module zur Sprach‐ variation im Inland und Ausland im Rahmen von Studiengängen der Ger‐ manistik und von Deutsch als Fremdsprache. Wenn heute eine neue Einführung vorgelegt wird, muss sich die Frage stellen: War die Soziolinguistik doch nur eine Modeerscheinung? Ist sie vielleicht nie in der Mitte der germanistischen Sprachwissenschaft ange‐ kommen? Allein die neuesten Auflagen von Löffler (2016), des internatio‐ nalen Handbuchs (2004/ 05) und von Veith (2005) sowie die Einführungen in die Varietätenlinguistik von Sinner (2014) und Felder (2016) und die erst nach Manuskriptabschluss erschienene Einführung von Spitzmüller (2022) deuten auf ein nicht nachlassendes Interesse an der Thematik. Die vorgelegte Einführung will die fortdauernde Aktualität von Frage‐ stellungen und Gegenstandsfeldern der Soziolinguistik aufzeigen, wie auch deren Veränderungen im gesellschaftlichen Wandel. Neue Fragestellungen und Gegenstandsfelder sind mit soziokulturellen Entwicklungen und Ver‐ änderungen im Variationsgefüge im heutigen Deutsch hinzugetreten (v. a. deutsch-deutsche Sprachentwicklungen, Mehrsprachigkeit und Sprachkon‐ takt, Sprachgebrauch und Generationsbeziehungen, Sprachgebrauch in neuen Medien, postmoderne Vergemeinschaftungs- und Kommunikations‐ formen und Formen der Stilisierung, Umgang mit Political Correctness), neue Beschreibungsverfahren, v. a. der Interaktionslinguistik wie der Ana‐ lyse gruppenspezifischer Formen von Schriftlichkeit, sind vorgelegt und eröffnen Perspektiven für Studium und Lehre und Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Forschungsentwicklungen. Damit wurden auch die in Löfflers Schlussbemerkung angeführten ›neuen Aufgabenfelder‹ für die germanis‐ tische Soziolinguistik (Sprachgebrauch während und nach der Wende, das ›Mischdeutsch‹ von Flüchtlingen, Auswirkungen des Sprachgebrauchs in sozialen Medien; Löffler 2016: 174) in diesem Band berücksichtigt. Die Einführung knüpft an die Geschichte der germanistischen Soziolin‐ guistik in Deutschland an und gibt einen Überblick über Forschungspara‐ <?page no="12"?> digmen, Theorieansätze und Forschungsmethoden (Kap. I). Dies erscheint besonders im Hinblick auf die Verwendung des Bandes im fortgeschrittenen Masterbereich sinnvoll, sodass neben der theoretischen Erarbeitung auch praktisch-empirische Anknüpfungs- und Umsetzungsmöglichkeiten gebo‐ ten werden. Neun ausgewählte, für die Soziolinguistik zentrale klassische wie neue Gegenstandsfelder werden im Spiegel aktueller Forschungslitera‐ tur genauer vorgestellt (Kap. II) und können auch je einzeln bearbeitet werden. Ein Einblick in aktuelle Anwendungsfelder von Schule, Sprachbera‐ tung und Sprachkritik sowie Sprachwandel (Kap. III) rundet die Darstellung ab. Zur Bestimmung des engeren Gegenstandsfelds der Soziolinguistik wer‐ den sechs zentrale Aspekte zur Diskussion gestellt, die der Abgrenzung gegenüber anderen Teildisziplinen der Variationsforschung dienen und, wenn möglich, in allen ausgewählten Gegenstandsfeldern wieder erkennbar sind und zu deren Kohärenz beitragen. Im Gegensatz zu einem nahezu unbegrenzten Ansatz der Variationslinguistik, der Probleme einer klaren Ein- und Abgrenzung mit sich bringt (»Was ist eigentlich keine Variation? «), bietet der doppelte Zuschnitt mit seiner Fokussierung a) auf die soziolektal bedingte Variation und b) auf soziolinguistische Phänomene innerhalb der deutschen Sprache eine gut begründbare und nachvollziehbare Auswahl an Themen. Vieles kann allerdings nur kurz angerissen werden und zu vertieften Auseinandersetzungen anregen. Dazu werden in jedem Kapitel weiterführende und allgemeine Literaturhinweise gegeben. Das verwendete generische Maskulinum soll sich ausdrücklich auf männliche wie auf weib‐ liche Referenten beziehen. Der Band eignet sich daher als Seminargrundlage und Überblickslektüre, der auch die Zusammenhänge der Themen herausstellen und nicht Variatio‐ nen beliebiger Provenienz und Ausprägung unverbunden nebeneinander‐ stellen will. Teile des Bandes wurden in Seminarveranstaltungen im Inland und im Ausland erprobt; den Studierenden sei dafür herzlich gedankt. Die einzelnen Kapitel orientieren sich, soweit möglich und sachdienlich, an der chronologischen Folge der Forschungsentwicklung, bemühen sich um ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Empirie in der gebotenen komprimierten Form und präsentieren weiterführende Literaturhinweise zur Vertiefung und zum Selbststudium. Gleichwohl stellen die überblicks‐ artig vorgestellten Gegenstandsfelder eine selektive Auswahl dar, die eine Ergänzung v. a. durch das internationale Handbuch unter Berücksichtigung von Aktualität sowie durch einschlägige Fachzeitschriften nicht ersetzen. 12 Vorwort <?page no="13"?> Einzelne Kapitel wurden von einschlägig ausgewiesenen Fachkollegin‐ nen und Fachkollegen gegengelesen und kommentiert. Ihnen allen: Peter Colliander (†), Norbert Dittmar, Claus Ehrhardt, Joachim Gerdes, Birte Kellermeier-Rehbein, Benjamin Könning, Helga Kotthoff, Corinna Peschel danke ich von Herzen. Christian Efing hat die Kapitel II.7, III.1.2 und III.3.2 beigetragen. Florian Volkhausen und Thien Ngo haben mich bei der Herstellung des Manuskripts unterstützt. Auch Ihnen sei herzlich gedankt. Der Manuskriptabschluss erfolgte im Juni 2022. Eva Neuland Vorwort 13 <?page no="15"?> I Grundzüge und Grundlagen <?page no="17"?> 1 Geschichte und frühe Entwicklungen Die Soziolinguistik hat sich als ein Teilgebiet der Linguistik seit der Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt. Von der ersten Erwähnung der Be‐ zeichnung durch Haver C. Currie (1952) bis zur Entwicklung einer eigen‐ ständigen Teildisziplin vergingen einige Jahrzehnte. Dazu trugen wichtige Forschungsparadigmen bei, die im folgenden Kapitel (I.2) ausführlicher vorgestellt werden. Der soziale Aspekt von Sprache wurde aber in der Entwicklung der Sprach‐ wissenschaft des Deutschen schon zuvor verschiedentlich thematisiert, und zwar insbesondere von Sprachwissenschaftlern des 19. (v.-a. Humboldt, H. Paul) und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (v. a. Saussure, Sapir, Whorf). Zwar stand, wie Löffler (2016: 26ff.) die vorlinguistischen Traditionen resümiert, die Konsolidierung der Schriftsprache einerseits und der »echten« Dialekte andererseits weiterhin im Fokus der Betrachtungen. Doch mangelte es an einer entsprechenden empirischen Forschung, während strukturimmanente Sprach‐ beschreibungen dominierten (so Dittmar 1997: 25). Gleichwohl existierte bereits eine dialektologische Tradition (u. a. mit Informantenbefragungen und zum Laut‐ wandel) im Rahmen der Arbeiten zu Sprachatlanten des Deutschen (Wegener 1880, Wenker 1881, Wrede 1903). Die Entwicklung der Soziolinguistik orientierte sich in Deutschland hingegen stark an angloamerikanischen Forschungen. Die Konstitution der Soziolinguistik fand in den 1950er Jahren in den Vereinig‐ ten Staaten statt und ist verbunden mit den Namen und Forschungsrichtungen der Sprachsoziologie, besonders mit Fishman, mit der Sozialen Dialektologie oder Variationslinguistik, besonders Labov, mit der Ethnographie der Kommuni‐ kation, besonders Hymes, sowie mit interaktionslinguistischen Fragestellungen, besonders Gumperz (→-Kap. I.2). Die empirischen Forschungen im Zwischen‐ bereich von Sprache und Gesellschaft wurden mit ca. zehnjähriger Verspätung im deutschen Sprachraum aufgegriffen und mit Studien zum schichtspezifischen Sprachgebrauch im Deutschen weitergeführt (→-Kap. II.1). Dabei spielte der Gesichtspunkt der sozialen Ungleichheit eine zentrale Rolle und führte in der frühen Soziolinguistik im Kontext von fach- und bildungspolitischen Reformen zur sog. Sprachbarrierenforschung. In späteren Entwicklungsphasen weitete sich das Gegenstandsfeld und das Methodenspektrum der germanistischen Soziolinguistik aus. <?page no="18"?> 1.1 Fach- und bildungspolitische Entstehungsbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland Sieht man von früheren Traditionen wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft, v. a. in der Dialektologie, ab, so gelten die 1960er Jahre als ›Geburtsstunde‹ der Soziolinguistik in Deutschland, namentlich in Westdeutschland. Vor allem zwei wichtige Komplexe haben als Auslösefaktoren zu dieser Entwicklung beigetragen: ● Fachpolitische Faktoren Die auf den Germanistentagen 1966 in München und 1968 in Berlin diskutierte Krise des Faches mit der Kritik an seiner unaufgearbei‐ teten Vergangenheit und geisteswissenschaftlich-ideengeschichtlicher Ausrichtung spielte bei der euphorischen Rezeption der frühen Sozio‐ linguistik eine entscheidende Rolle. Rufe nach einer Neubestimmung der Germanistik wurden im Band: Germanistik - eine deutsche Wissen‐ schaft von Lämmert, Killy, Conrady und von Polenz 1967 laut und in der von Kolbe 1969 herausgegebenen Sammlung: Ansichten einer künftigen Germanistik konkretisiert. H.-W. Jäger hob die gesellschaftskritischen Aspekte der Germanistik, besonders das Sprachbarrierenproblem her‐ vor (S. 66), Lämmert (S. 87) und von Polenz (S. 180f.) plädierten für eine stärkere Berücksichtigung der Gegenwartssprache und eine Reform des Sprachunterrichts. Forderungen nach einem Gegenwarts- und Ge‐ sellschaftsbezug des Faches und nach seiner empirischen Fundierung und Praxisrelevanz wurden laut. Dies schien die Soziolinguistik mit ihrer Kritik an Homogenitätsvorstellungen des Sprachgebrauchs und der Sprachgemeinschaft einzulösen. ● Bildungspolitische Faktoren Im Bildungsbereich und in den Erziehungswissenschaften wurde in den 1960er Jahren ein Bildungsnotstand diagnostiziert, der die bun‐ desdeutsche Wirtschaft und Demokratie gefährde (vgl. Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe 1964, Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht 1965, Gutachtenband des Deutschen Bildungsrats, hg. v. H. Roth 1969). Die sog. Bildungskatastrophe hatte in Westdeutschland Forschungen zu Bildungshindernissen ausgelöst; eine Erschließung von Begabungsreserven wurde gefordert. Dieser Prozess verlief analog zu den einige Jahre zuvor initiierten Entwicklungen in den USA: Als Reaktion auf den technologischen Vorsprung der UdSSR, bekannt unter 18 1 Geschichte und frühe Entwicklungen <?page no="19"?> dem Stichwort vom sog. Sputnik-Schock (1957), wurden Forschungen zu Ursachen und Wirkungen sozialer Deprivation und einem vorherr‐ schenden middle class bias im schulischen Sprachgebrauch veranlasst. Auch zur Bearbeitung solcher Probleme im Anwendungsbereich von Schule und Erziehung sollte die Soziolinguistik mit Forschungen zum Zusammenhang von sozialer Schicht und Sprachgebrauch Lösungsvor‐ schläge anbieten (→-Kap. II.1 und Kap. III.1). 1.2 Frühe Ziele und Erkenntnisinteressen Soziale Ungleichheit erschien somit als zentrales Thema und verbindendes Erkenntnisinteresse der frühen bundesdeutschen Soziolinguistik. Studie‐ rende der Sozial-, Erziehungs- und Sprachwissenschaften und die kriti‐ sche Studentenbewegung nahmen solche Thesen gegen Ende der 1960er Jahre mit großem Engagement auf und trugen Ideen der Bildungs- und Wissenschaftsreform (u. a. dynamische Begabungskonzepte, alternative Begabungsformen wie die Kreativität und das divergente Denken, die Bedeutung der Sozialisation, der Plastizität und Variabilität menschlicher Eigenschaften), z.T. in selbstverantworteten studentischen Seminaren, in die Fachdiskussionen (vgl. die Broschüre Sprachbarrieren. Beiträge zum Thema Sprache und Schichten, Bochum WS 1969/ 70). Die Themen und die damit verbundenen Erkenntnisinteressen lösten einen großen Zuwachs an entsprechenden Publikationen in der Germanistik aus: Das Institut für deutsche Sprache stellte mit dem Band Sprache und Ge‐ sellschaft einer größeren Fachgemeinschaft Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache (Moser 1971) vor. Klein und Wunderlich (1971) präsentierten grundlegende empirische und theoretische Ansätze der internationalen Soziolinguistik; Wunderlich diskutierte darin den Status der Soziolinguistik in der Struktur des Wissenschaftsbetriebs und benannte als wissenschaftspraktische Zielsetzungen der Soziolingu‐ istik in Deutschland u. a. die Antizipation herrschaftsfreier Kommunika‐ tionsformen, Gesellschaftsveränderung durch Sprachveränderung sowie Einflussnahme auf die Sozialisationsphase (1971: 297 ff.). Hager et al. (1973) bemängelten in ihrem Band über Soziologie und Linguistik: Die schlechte Aufhebung sozialer Ungleichheit durch Sprache. Dittmars verdienstvolle Bände zur Soziolinguistik (1973, 1997) machten einschlägige Studien aus den Vereinigten Staaten bekannt; zu seiner kommentierten trat die (geschätzt) 1.2 Frühe Ziele und Erkenntnisinteressen 19 <?page no="20"?> mehrere tausend Einträge umfassende Bibliographie von Simon (1974) hinzu. Neben den fach- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen haben aber erst wesentliche fachgeschichtliche Entwicklungen die Bear‐ beitung der o. g. Fragestellungen ermöglicht. Dazu gehörten in der da‐ maligen Zeit vor allem die Vorstellungen zur gesprochenen Sprache und zur mündlichen Kommunikation sowie die Entwicklungen der linguistischen Pragmatik und Kommunikationsforschung (→ Kap. I.2). Interdisziplinäre Bezüge, wie der Einbezug von Aspekten der Sozialisationsforschung, namentlich der Rollentheorie sowie der Schulforschung traten hinzu. Thematische Schwerpunkte in den frühen 1970er Jahren bildeten sich in der germanistischen Sprachwissenschaft im Kontext von Norm, Variation und Sprachwandel heraus, wie sich insbesondere an der Kritik an den Vorstellungen der sogenannten Hochsprache und einer homogenen Sprach‐ gemeinschaft zeigte (dazu u. a. Braun 1987). Soll die Schule Sprachnormen als fest, wandelbar oder veränderbar lehren? formulierte Augst programmatisch im Sammelband: Schulen für einen guten Sprachgebrauch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Mogge/ Radtke 1982). Einen zentralen Stellenwert nahm weiterhin die Differenzierung von sozialen und regiona‐ len Einflüssen auf den Sprachgebrauch ein, auch in Verbindung mit den empirischen Studien zum Sprachgebrauch von Kindern und Jugendlichen (→-Kap. II.1). Es ist aufschlussreich, dass beide Themenschwerpunkte, die ja auch in engem Zusammenhang stehen, zugleich in ihrer Auswirkung auf Bil‐ dungsprozesse und gesellschaftlichen Aufstieg diskutiert wurden (vgl. auch Roeder et al. 1965, Rolff 1969). Ob und inwiefern ein Ausgleich oder gar eine Aufhebung sozialer Ungleichheiten durch eine Form der Sprach‐ förderung erzielt werden könne, bildete einen zentralen und kontroversen Diskussionspunkt der damaligen Zeit (vgl. u.-a. Hager et al. 1973). Auch in der DDR wurden im Zeitraum von ca. 1970 bis 1989 einige Studien betrieben, die man als soziolinguistische werten kann (dazu Schönfeld 1983). Dittmar bezeichnete sie als »Soziolinguistik eigenen Typs« (so Dittmar 2004: 716). Wichtige Studien beschäftigten sich mit dem Rückgang von Dialekten 20 1 Geschichte und frühe Entwicklungen <?page no="21"?> zugunsten einer standardnahen Umgangssprache, wie Rosenkranz/ Span‐ genberg in Thüringen (1963) zeigten, und mit den Veränderungen der gesprochenen Sprache, wie Herrmann-Winter in Norddeutschland (1979) und die Studie von Donath/ Schönfeld zur Sprache im sozialistischen In‐ dustriebetrieb (1978). Kontexte von Sprachnorm (v. a. Hartung 1977) und Sprachkultur/ Sprachpflege bildeten wichtige Diskussionspunkte in der da‐ maligen Zeit. In den 1980er und 1990er Jahren unterlagen Untersuchungen zur Jugendsprache in der DDR (Beneke 1986, Heinemann 1989) allerdings der Zensur, da sie nicht mit der vorherrschenden ideologischen Meinung über eine sozialistische Einheitssprache vereinbar waren. 1.3 Entwicklungsphasen In aktuellen Einführungen und Übersichtsbeiträgen zur Soziolinguistik, v. a. von Löffler (2016), Dittmar (2004), Auer (2015), finden sich wissenschafts‐ geschichtliche Phasierungsvorschläge, die sich in formaler Hinsicht ähneln und etwa das folgende Bild ergeben: ● Vorsoziolinguistische Phase Diese bezog sich auf die Tradition der frühen Sprachforschung in Deutschland, insbesondere zur Dialektgeographie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, auch zur sozialen Schichtung von Mundarten (der Nationalsozialist A. Bach 1950/ 1934) und zu sprachpolitischen Fragen (Kloss 1978/ 1952) mit der Hinwendung zur gesprochenen Sprache und mit Anfängen der Feldforschung und wissenschaftlich fundierter Befragungsmethoden. Schlieben-Lange diagnostiziert allerdings eine »Askese« d. h. eine Ausklammerung soziologischer Gesichtspunkte als dominantes Paradigma der damals vorherrschenden Sprachwissen‐ schaft (1973: 25). Sie bezieht sich dabei auf Steger (1971: 9 f.), demzu‐ folge die Askese gekennzeichnet ist »durch extreme Eingrenzung des empirischen wie theoretischen Erkenntnisinteresses«. Die Idealisierun‐ gen der Homogenität und Statik des Sprachsystems wurden von der strukturalistischen wie von der transformationellen Sprachwissenschaft übernommen. Schlieben-Lange konstatiert für die Mitte der 1960er Jahre folgende Tendenzen: 1.3 Entwicklungsphasen 21 <?page no="22"?> Untersucht wurden homogene Sprachsysteme, nicht das Zusammenleben ver‐ schiedener Systeme. Untersucht wurde das Funktionieren der autonomen Spra‐ che, nicht ihre Einbettung in Handlungszusammenhänge. (Schlieben-Lange 1973: 28) ● Konstitutionsphase In der Bundesrepublik um 1965, in den Vereinigten Staaten bereits seit den 1950er Jahren in den Gebieten der Ethnographie der Kommunika‐ tion (Hymes 1962, Gumperz 1972), der Soziologie der Sprache (Fishmann 1968, Ferguson 1965), und der Variationslinguistik (Labov 1968) (→ Kap. I.2.2). ● Konsolidierungsphase Ab ca. 1980 mit einer Ausweitung der Forschungsfelder (v. a. Sprach‐ gebrauch und Geschlecht, Sprachgebrauch und Migration, Sprachge‐ brauch in der Stadt, Sprachgebrauch in West- und Ostdeutschland), des Methodenspektrums (korrelative und funktionale Studien, Einzelfall‐ analysen) und wichtigen Formen wissenschaftlicher Institutionalisie‐ rung vor allem im Bereich der Veröffentlichungen von Einführungen, Zeitschriften und Jahrbüchern. 1.4 Neue Tendenzen und konzeptionelle Überlegungen Aktuelle und künftige Entwicklungen nach der Konsolidierungsphase zeigen sich v. a. im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung, Sozialdialekto‐ logie, Spracheinstellungsforschung, Jugendsprachforschung, Höflichkeits‐ forschung und in medienlinguistischen Fragestellungen. Von diesen Kon‐ texten ist die Soziolinguistik allerdings nicht immer scharf zu unterscheiden. Neben vielen gegenstandsspezifischen spielen allerdings soziolinguistische Perspektiven und Methoden eine wichtige Rolle. Eine solche formale wissenschaftsgeschichtliche Orientierung soll jedoch um eine prinzipiell kulturgeschichtliche Betrachtungsweise ergänzt werden. Die Themenschwerpunkte in einzelnen Entwicklungsphasen der Soziolinguistik sind ja nicht etwa zufällig oder willkürlich ausgewählt worden; vielmehr stehen sie in Zusammenhang mit gesellschaftlich-his‐ torischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland. 22 1 Geschichte und frühe Entwicklungen <?page no="23"?> In gewissem Maße folgen wesentliche Entwicklungen der germa‐ nistischen Soziolinguistik sowie weitere Bereiche der Sozial- und Bildungswissenschaften weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen, Problemlagen und Umbrüchen. Dazu gehören ab der Mitte des vergangenen Jahrhun‐ derts v. a. Bildungskrisen, Protest- und Frauenbewegungen, politische Umbrüche, Migrationsbewegungen, Entwicklungen alternativer Sze‐ nen und Jugendrevolten. Diese Kontexte werden in späteren Kapiteln wieder aufgegriffen und in ihren sprachlichen Auswirkungen konkre‐ tisiert. Eine solche Sichtweise, die gesellschaftlichen Auslöse- und Anwendungs‐ kontexten der Soziolinguistik folgt und innerhalb der verschiedenen Ge‐ genstandsfelder nach vergleichbaren Momenten sucht, unterscheidet sich von den vorgenannten fachgeschichtlichen Darstellungen. ● So entwickelt Dittmar ein Mischmodell zwischen formalen (Anfangs‐ phase, Gründerzeit, Konsolidierung) und inhaltlichen Entwicklungs‐ phasen (ideologische Auseinandersetzungen der 1970er Jahre, wider‐ sprüchliche Tendenzen ab den 1990er Jahren). Schließlich folgert er für die heutige Zeit ein »Verblassen des Gesamtprofils« der Soziolinguistik (2004: 702). ● Auer konstatiert eine wissenschaftsgeschichtliche Selbstinszenierung der bundesdeutschen Soziolinguistik als eine ›neue‹ Wissenschaft und diagnostiziert eine ›Vagheit ‹ ihres Gegenstandsbereichs (2015: 382). ● Löffler schließlich entfaltet ein nahezu unbegrenztes Spektrum von Gegenstandsfeldern der Sprachvariation, der Kommunikation und all‐ gemeiner gesellschaftlich-historischer Einflüsse und postuliert: »Eine germanistische Soziolinguistik (…) kann im Grunde mit der Wissen‐ schaft »von der aktuellen Gegenwartssprache Deutsch gleichgesetzt werden«. ( 5 2016: 14). Dem Verdikt der ›Blässe‹ und ›Vagheit‹ wollen wir uns nicht anschließen; eher sehen wir in Löfflers allumfassendem Spektrum eine angemessene Würdigung der vielschichtigen gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf den Sprachgebrauch, wobei für einen soziolinguistischen Zugang im engeren Sinne folgende Momente hinzutreten sollten: 1.4 Neue Tendenzen und konzeptionelle Überlegungen 23 <?page no="24"?> 1. Fokus auf soziale Differenz im Sprachgebrauch / 2. Einbezug sozio‐ kultureller Bedingungskontexte (Auslösung und Anwendung) Diese beiden Punkte sind selbsterklärend: Sie bilden das zentrale Ge‐ genstandsfeld der Soziolinguistik, wenn auch die Auswahl und Gewich‐ tung der Bedingungskontexte in einzelnen soziolinguistischen Konzepten unterschiedlich ausfallen mögen (→ Kap. I.2). Auch sei in Rechnung gestellt, dass sich eine gewisse Abhängigkeit von der tagespolitischen Aktualität und von konjunkturellen Schwankungen einstellen kann, der wissenschaftspolitisch entgegenzusteuern ist. 3. Mehrdimensionalität der sprachlichen Variation Die aktuelle Variationsforschung, auf die sich das linguistische For‐ schungsinteresse der jüngeren Zeit konzentriert (s.v.a. Barbour/ Stevenson 1998, Häcki Buhofer 2000, Eichinger/ Kallmeyer 2005) legt nahe, dass die Fixierung auf einen einzelnen außersprachlichen sozialen Faktor, z. B. Raum (›Dialekt‹), Schicht (›Soziolekt‹), Geschlecht (›Genderlekt‹) oder Alter (›jugendsprachliche Varietät‹), wie es in den Bezeichnungen: Dialekt, Genderlekt oder auch Jugendsprache zum Ausdruck kommt, der Komple‐ xität von Sprachvariation nicht gerecht werden kann. 4. Bedeutung subjektiver Faktoren Zur Mehrdimensionalität sprachlicher Variation sind subjektive Faktoren wie Spracheinstellungen, subjektive Wahrnehmung und Selbstverortung u. a. zuzurechnen, um nicht von einem zu mechanistischen Wirkungs‐ verhältnis sozialer Aspekte auszugehen. Allerdings ist auch in dieser Subjektivität eine sozial-kollektive Dimension eingeschrieben. 5. Einflüsse auf Gegenwartsdeutsch bzw. Sprachwandel Soziolinguistische Einflüsse auf Sprachwandel spielen in einzelnen Kon‐ zepten eine unterschiedliche Rolle. Manche beschränken sich auf Auswir‐ kungen bei Individuen oder Familien, andere greifen makrosoziologische Kontexte auf. Solchen Überlegungen werden wir im Teil III des Bandes nachgehen. 6. Empirie, v.-a. in interaktionalen Kontexten Soziolinguistische Beschreibungen und Erklärungen sollten empirisch gestützt erfolgen, ohne von einer Dominanz einzelner Forschungsmetho‐ den auszugehen. Vielmehr erscheinen Methodenkombinationen heute der sicherste Weg, Vorteile und Nachteile einzelner quantitativer und/ oder qualitativer Verfahren auszugleichen (→-Kap. I.3). 24 1 Geschichte und frühe Entwicklungen <?page no="25"?> Die genannten Faktoren sind auch hilfreich bei der Abgrenzung der Sozio‐ linguistik v. a. von der Varietätenlinguistik: So stehen die ersten beiden Faktoren sowie der vierte Faktor in der Variationslinguistik weit weniger im Fokus als in der Soziolinguistik. Die vorliegende Darstellung folgt generell weitgehend einer kulturge‐ schichtlichen Betrachtungsweise und hebt dabei insbesondere drei wesent‐ liche soziolinguistische Themenschwerpunkte und ›Kerngebiete‹ der Soziolinguistik hervor (vgl. Neuland 2016): ● Sprachgebrauch und soziale Schichten ● Sprachgebrauch und Geschlecht ● Sprachgebrauch und Migration Diese entsprechen den jeweiligen soziokulturellen Bedingungskontexten: ● Bildungskrise und soziale Ungleichheit (ab den 1960er/ 70er Jahren) ● Frauenbewegungen und Sprachpolitik (ab den 1970er/ 80er Jahren) ● Migration und Mehrsprachigkeit (ab den 1980er/ 90er Jahren) Weitere Themenschwerpunkte sind in jüngerer Zeit hinzugetreten wie: ● Sprachgebrauch der Generationen im Bedingungskontext von Jugend‐ bewegungen und der kulturellen und medialen Inszenierungen von Generationsbildern wird später noch ausführlicher erörtert (→ Kap. II.4) ● Ost-West-Differenzen im deutschen Sprachgebrauch (→-Kap. II.3) ● urbane Sprachformen, die mit Problemen der Stadtentwicklung verbun‐ den sind (→-Kap. II.2.4) ● neuere Entwicklungen im Bereich Digitalisierung und Sprachgebrauch in sozialen Medien (vgl. v.-a. Androutsopoulos 2014; →-Kap. II.8) ● soziolinguistisch relevante Aspekte sprachlicher Umgangsformen (→-Kap. II.9) Der Bezug wissenschaftlicher Modelle auf aktuelle soziokulturelle Bedin‐ gungskontexte birgt allerdings auch eine Gefahr bzw. demonstriert ein Dilemma, und zwar hinsichtlich einer Dominanz tagespolitischer Moden und konjunktureller Schwankungen zu Ungunsten der wissenschaftlichen Entwicklung und Kontinuität. Dies hat sich in der Soziolinguistik der deutschen Sprache im vergangenen Jahrhundert zumal am Beispiel der Sprachbarrierenthematik, der ›Frauensprache‹ und der ›Jugendsprache‹ gezeigt, worauf noch verwiesen werden wird. 1.4 Neue Tendenzen und konzeptionelle Überlegungen 25 <?page no="26"?> Dabei werden im Verlauf der folgenden Darstellungen viele der sozio‐ linguistischen Grundbegriffe und soziologischen Konzepte erwähnt und erweitert, die in den Kapiteln II und III im internationalen Handbuch Soziolinguistik aufgeführt werden (Ammon et al. 2004/ 5). Ein wichtiges Themenfeld, das der historischen Soziolinguistik, kön‐ nen wir in diesem Kontext leider nicht aufgreifen und ausführlicher erör‐ tern. Es sei zumindest darauf hingewiesen, dass die Verbreitung der Schrift und damit der Zugang zu Bildung und gesellschaftlichem Aufstieg sowie die Sprachgeschichte ›von unten‹ zentrale soziolinguistische Momente darstellen, die eine ausführliche Darstellung verdient hätten (vgl. dazu die Forschungen von Maas, z.-B. 2003, 2005, Elspaß 2005). 1.5 Zusammenfassung und weiterführende Literatur Die frühen Entwicklungen der Soziolinguistik in der Bundesrepublik Deutschland fanden in einem historisch besonderen fach- und bildungspo‐ litischen Kontext statt: Die Krise der geisteswissenschaftlichen Disziplin der Germanistik und der Bildungsnotstand begünstigten die Entwicklung der Soziolinguistik in Deutschland, ihr frühes auf soziale Ungleichheit ge‐ richtetes Erkenntnisinteresse wie aber auch ihre pädagogische Verwertung. In der Konsolidierungsphase weitete sich ihr Gegenstandsfeld vor allem auf die Bereiche Sprachgebrauch und Geschlecht sowie Sprachgebrauch und Migration aus; ebenso erweiterte sich das Methodenspektrum. Kultur‐ geschichtlich lassen sich soziolinguistische Themenschwerpunkte mit so‐ ziokulturellen Entwicklungen in Deutschland verbinden. Zur Bestimmung des engeren Gegenstandsfelds der Soziolinguistik werden sechs zentrale Aspekte zur Diskussion gestellt. Literatur (weiterführend) Auer, Peter (2015): Die Geschichte der germanistischen Soziolinguistik in Deutsch‐ land: eine Skizze. In: Eichinger, Ludwig (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin/ Boston, 379-405. Dittmar, Norbert (2004): Forschungsgeschichte der Soziolinguistik (seit Verwendung dieses Ausdrucks). In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J./ Trud‐ gill, Peter (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/ New York, 698-721. 26 1 Geschichte und frühe Entwicklungen <?page no="27"?> Neuland, Eva (2016): Dimensionen der germanistischen Soziolinguistik: Rückblick und Ausblick auf den Sprachgebrauch der Generationen. In: Japanische Gesell‐ schaft für Germanistik (Hg.): Germanistische Soziolinguistik und Jugendsprachfor‐ schung. München, 9-35. Literatur (gesamt) Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J. / Trudgill, Peter (Hg.) (2004/ 05): Soziolinguistik, Ein internationals Handbuch der Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. Aufl.Berlin/ Boston. Androutsopoulos, Jannis (2014): Mediatization and sociolinguistic change. Key concepts, research traditions, open issues. In: ders. (Hg.): Mediatization and sociolinguistic change. Berlin, 3-48. Auer, Peter (2015): Die Geschichte der germanistischen Soziolinguistik in Deutsch‐ land: eine Skizze. In: Eichinger, Ludwig (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin/ Boston, 379-405. Bach, Adolf (1950/ 1934): Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgabe. 2. Aufl. Heidelberg. Barbour, Stephen/ Stevenson, Patrick (1998): Variation im Deutschen. Soziolinguisti‐ sche Perspektiven. Berlin. Beneke, Jürgen (1986): Die jugendspezifische Sprachvarietät - ein Phänomen unse‐ rer Gegenwartssprache. In: Linguistische Studien. ZISW/ A Berlin H.140, 1-82. Bielefeld, Hans-Ulrich/ Hess-Lüttich, Ernest W.B./ Lundt, André (1977): Soziolinguis‐ tik und Empirie. Beiträge zu Problemen der Corpusgewinnung und -auswertung. Wiesbaden. Braun, Peter (1979): Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Sprachvarietäten. Stuttgart. Currie, Harver C. (1952): A projection of sociolinguistics: the relationship of speech and social status. In: Southern Speech Journal 18: 1, 28-37. Dahrendorf, Ralf (1965): Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspo‐ litik. Hamburg. Der Deutschunterricht 1/ 2004: Sprachvariation im heutigen Deutsch, hg. v. Eva Neuland. Der Deutschunterricht 4/ 2017: Soziolinguistik, hg. v. Eva Neuland/ Peter Schlobinski. Dittmar, Norbert (1973): Soziolinguistik. Exemplarische und kritische Darstellung der Theorie, Empirie und Anwendung. Frankfurt/ M. Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit Aufga‐ ben. Tübingen. 1.5 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 27 <?page no="28"?> Dittmar, Norbert (2004): Forschungsgeschichte der Soziolinguistik (seit Verwendung dieses Ausdrucks). In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J./ Trud‐ gill, Peter (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/ New York, 698-721. Donath, Joachim/ Schönfeld, Helmuth (1978): Sprache im sozialistischen Industriebe‐ trieb: Untersuchungen zum Wortschatz bei sozialen Gruppen. Berlin. Eichinger, Ludwig/ Kallmeyer, Werner (Hg.) (2005): Standardvariation. Wieviel Va‐ riation verträgt die deutsche Sprache? Berlin. 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So ist die in den 1960er Jahren einsetzende Entwicklung der Forschungen zur gesprochenen Spra‐ che und zur mündlichen Kommunikation eine wichtige Voraussetzung für die systematische Beschäftigung mit sozialen Einflüssen auf den Sprachge‐ brauch. In den 1970er Jahren traten verstärkt Forschungen zur linguistischen Pragmatik und Kommunikationsforschung hinzu. An dieser Stelle werden die beiden wesentlichen Forschungskontexte der subjektiven Faktoren (Spracheinstellungen) und der soziolinguistische Einfluss auf Sprachwan‐ del erörtert. Die linguistische Erfassung der sprachlichen Variation im sozialen Kontext soll anhand wesentlicher Theoriekonzepte (Code-Theorie Bernsteins, Variationslinguistik Labovs, Ethnographie der Kommunikation (Hymes) und interaktionale Linguistik (Gumperz), Sprachsoziologie von Fishman) vorgestellt werden. Einige vergleichende Überlegungen schließen das theoretische Kapitel ab. 2.1 Forschungen zur gesprochenen Sprache und Kommunikation Die Normsprache in der Sprachwissenschaft war, von wenigen, v. a. dia‐ lektgeographischen Ausnahmen abgesehen, seit jeher die Schriftsprache (written language bias). Erst in den 1960er Jahren setzte im deutschen Sprachraum eine systematische Erforschung der gesprochenen Sprache ein, da mittlerweile auch die technischen Voraussetzungen zur Aufnahme und Speicherung der mündlichen Sprachdaten gegeben waren. Nach einer Phase der Kontrastierung geschriebener und gesprochener Sprache begann bald auch die Transkription, Dokumentation und Erforschung von sprechsprach‐ lichen Texten in alltäglichen Verwendungszusammenhängen (→ Kap. II.4). In den 1970er Jahren traten verstärkt Forschungen zur linguistischen Prag‐ matik und Kommunikationsforschung hinzu, die weitere Anregungen für soziolinguistische Fragestellungen boten. Damit war ein fruchtbarer Impuls für die empirische Sprachforschung verbunden. <?page no="32"?> Die Freiburger Forschungsstelle des Instituts für deutsche Sprache veröf‐ fentlichte eine Reihe: Texte zur gesprochenen deutschen Standardsprache I-III, darunter der Band III: Alltagsgespräche (hg. v. Fuchs/ Schank 1975). Deren Beschreibung und Klassifikation erfolgte mit Hilfe redekonstellativer Merk‐ male im Rahmen des Redekonstellationskonzepts (Deutrich/ Schank 1973, Schank/ Schoenthal 1983). Die Zuordnung eines konstanten Merkmals‐ inventars erwies sich allerdings als einem dynamischen Prozessverlauf und den variierenden Strukturen und Funktionen von Gesprächen unzulänglich (Neuland 1980). Mit der sich seinerzeit auch in Deutschland verbreitenden Gesprächsbzw. Konversationsanalyse (vgl. dazu Wunderlich 1976, Ditt‐ mann 1979; →-Kap. I.3.4) lagen angemessenere Analysemöglichkeiten vor. 2.1.1 Beispiel: Gespräch in einer Arbeiterfamilie Neuland demonstrierte das an Beispielen aus Gesprächen mit einer Arbei‐ terfamilie: Beispiel: »Punkt zwölf muss et Essn auf ’m Tisch stehn! « E1: Frau P., arbeiten Sie auch noch? … Nee, nä? W1: ( Ja, … stundenweise. C1: (Nä … morgens nur ä … ’ne Stunde. ((verhalten, leise)) W2: 'Ne Stunde ä hier ä/ tut se hier'(n bisken nebenbei putzn . C2: (Also anderthalb Stunde ä ä . normalerweise, aber ich bin meistens'n in'ne Stunde wieder zurück. Anderthalb Stunde krich ich' E2: Muss man . im Haushalt ja auch die Zeit haben, nä.‘, C3: 'anderthalb Stunde krich ich (dann bezahlt, nä. W3: (Ja datt is ja die Zeit, wo die/ wo Th. schon in'ne Schule is un die K. noch am schlafen is, in der Zeit hat se ja Zeit,. un da kann se sich ja da noch'n paar Pfennige nebenbei verdienen , da braucht se nur hier drüben. am Sauerstoffwerk hin, hier um'e Ecke iss'e da. E3: Un wenn se wiederkommt, is die Kleine auch aufgewacht, nä, W4: Ja. E4: un der Junge kommt nachher aus de Schule, und sie kann in Ruhe Essen kochen' W5: Ja. C4: Ja un dann dann dann ä muss ich ja schon Essn fertich haben, dee kommt ja auch schon um zwölf sein Essen wieder abholen. W6: ((lacht)) Nä un wie (ä C5: (Punkt zwölf muß et Essn aufm Tisch stehn! 32 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="33"?> W7: ((hustet)) Un genau wie wer sachten vorhin schon mit de de Eltern, Zeit für de Kinder hat man ja sowieso nich mit'n/ groß mit'n Lernen. Weil wenn gezz ä/ gezz komm ich ja komm gezz ä mittachs Essn abholen. Datt is ja, kann man sagen, zu 97 Pro/ 3 Prozent kommt datt ja nur vor, datt die die Väter nach Hause komm un sich et Essn mittachs abholen. Meistens essen se ja nam mittachs, wenn se von'ne A beit komm, nä’.. C6: Datt werd ich au ma einrichten. Datt geht nich mehr. Oder ich hol dir wieder'n Henkelmann. Wenn ich ma weg will morgens, dann ä ((Gelächter)) W8: Da werd ich zu dick! (C6): dann ä muss ich wieder um Punkt zwölf da sein. W9: Nä un ä un dann is et ja so bei den meisten/ Ja, bei den meisten Fällen is et ja so , da gehen die Eltern gehen mo / vielmehr die Mutter geht morgens in der Zeit, wo de Jung in'ne Schule is, eben wacker in'ne Stadt einkaufen. Weil se ja/ dat is ja dee Moment, wo se de meiste Zeit hat, zwei Stunden oder drei, nä. Dann kommt kommt se nach Haus, kommt de Jung aus de Schule , da kann se ja nich mehr bei de Schulabeiten bleiben, sie muß ja et Essn k ochen un die Wohnung fertich haben, wenn dee Mann nach Hause kommt. … Also wer soll denn gezz dabei sein, um datt de Jung anständich Schulabeiten machen kann? Is doch gar keiner … Un wenn doch gezz ä dabeibleibn will , watt bleibt zurückliegn? Die Wohnung oder et Essenmachen. Eins von beiden bleibt zurückliegen. Un watt gib et End vom Lied? Datt kuckt dee Mann sich dreimal an, un beim viertenmal gib et Theater: Mein Essen is wieder nich fertich! ’, nä? … So mach ich wenichstens Theater, nä. C7: ((laut, abgesetzt)) Tja genau, genau, sprech du nur von dir! (Komm du ma mit W10: ((Gelächter)) ja, nä? (C7) deine Wahrheit raus, du willss et ja nie gewahr haben, wenn ich et dir sach, nä? W11: Ja wenn ich ä / wenn ich pünktlich nach Hause komm, will ich auch pünktlich mein Essn haben! C8: Kommss du ma pünktlich nach Hause? ((sehr hoch)) W12: Ja. C9: War anfangs jedenfalls nich so. W13: Wieso? C10: Früher war datt nich so … (heute'. W14: ( Ja heute ja. C11: Seitdem de’t eingesehn hass, datt ich recht hatte. W15: Heute is man länger verheiraat, da muß man datt länger könn, da hat man datt gelernt. ((lachend)) C12: Nä, seitdem ich / seitdem de eingesehen hass, datt ich recht hatte. W16: Nä un ä C13: Ich hab immer gesacht ((stark emotional)), de S. is kein Umgang für ihn … ,Nein mein KolIege , mein Abeitskollege , datt is so 'n Kollege! ' Hijaa, un jezz hat er't endlich eingesehen . Denn der hat den nur verführt immer zum Saufen! Dee kam von'ne Abeit aus nich nach Hause, dee ging saufen . Datt mußte ja nich sein! 2.1 Forschungen zur gesprochenen Sprache und Kommunikation 33 <?page no="34"?> 1 Erläuterung zur Transkription: Phonetische Besonderheiten wurden ansatzweise or‐ thographisch wiedergegeben; Kursivierungen geben besondere Akzentsetzungen wie‐ der, Klammern Simultansprechen, Schrägstriche Anakoluthe, ´ Hebungen. W17: Na, ab un zu muß man, C14: Nä, datt musste ja nich sein! Un da ä / machte ich mir Sorgen , weil er nich zu Hause war. Ja verdammt,(wo bleibt denn? Auf Abeit war'e nich mehr.) W18: (In säm in sämtlichen Sachen C15: (Wer weiß watt in in in kurzer Zeit passieren kann. Weiß man ja alles nich, nä? Brauch ja nur’n Unfall gebaut zu haben. W19: ln sämtlichen Sachen ä (läu C16: Watt dann? ‘ (W19) : läuft man sich eimal de Hörner stumpf. C17: Ja ja, sicher …( ich mein, du hass ja gesehen, wie de S. un de C. is, nä? W ((Lachen)) W21: J ä (is eben Pech! C18: ( Saufen gehn un andere Weiber im Kopp un dann nix anderes … (und du ' W22: ( Ja ä eins muss dann bleiben. (C18) du wärss nämmich genauso geworden, wenn de nich auf mich gehört hätts. W23: Ja! C20: ((versöhnlich)) Ja, hass’e aber endlich ma ein gesehn W24: Entweder ha ä/ gehss’e saufen, dee eine hat datt un dee andere hat datt. C21: Ja ja, sicher. W25: Entweder hat man’s oder man hat’s nich! ((Lachen)) C22: ((Lachen)) Jaa, entweder hat man / hätts ja gehen könn, ich wär auch gegangen. W ((Lachen)) E6: Ja, aber das Familienleben leidet doch so und so drunter, W26: Ja, is klar, is klar. C23: Hatt man’t Essn fertich, watt wird et: kalt ! Fressen se’t nich, weil se gesoffen haben, nä? Ja wofür kocht man dann? …Damit man’t anschließend im Klo schmeißen kann, nä? W27: Ja kumma, jezz sauf ich bald gar nich mehr. C24: Ja jezz is ja / datt is schon ma viel Wert, datt du / datt die Krankheit festgestellt worden is, du. Ich gönn dir ja nix Schlechtes, aber datt hab ich dir gegönnt, du. ((Lachen)) (nach Neuland 1981) 1 34 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="35"?> 2.1.2 Gesprächsanalyse Merkmale gesprochener Sprache ● Variabilität und Multimodalität ● Bedeutungskonstitution und Beziehungsdefinition im Gespräch Im Unterschied zu der durch die Orthographie weitgehend einheitlich geprägten geschriebenen Sprache hatte sich die Sprechsprache kaum durch Vorgaben der Hochlautung regeln lassen. Umgangssprache, soziale und regionale Einflüsse waren vielmehr ausschlaggebend, hinzu traten para‐ verbale und nonverbale Kommunikationsmittel, für die unterschiedliche Notations- und Beschreibungssysteme entwickelt wurden. Das angeführte Gesprächsbeispiel lässt z. B. die folgenden soziolektalen und dialektalen Merkmale erkennen: Regionalsprachliche Lautungen aus dem Ruhrgebietsdeutsch: ● auslautendes / s/ wird als Verschlusslaut realisiert: watt und datt, ● anlautender Frikativ / j/ wie in jetzt wird als Verschlusslaut / g/ ausge‐ sprochen: gezz, ● Vokaldehnung vor silbenauslautendem / r/ : auf`e Aabeit ● die im Mündlichen übliche Kontraktionen und Verschleifungen: um’e Ecke, in’ne Schule, nämmich ● Spirantisierung auslautendes / g/ wie in fertich ● Verwendung sozialer Topik: ’n paar Pfennige nebenbei verdienen, sich de Hörner stumpf laufen, dee eine hat datt un dee andere hat datt ● Ersatz der finalen Subordination: damit durch: um datt. Zu Beginn der transkribierten Gesprächsphase wird sogleich eine Bedeu‐ tungsdifferenz zwischen den Eheleuten sichtbar, indem die angesprochene Ehefrau C ihre Arbeitstätigkeit des Putzens anders definiert als ihr Mann W und es dadurch zu kontroversen Antworten auf die Frage von E kommt (W1: ja. C1: nein). In der Fortsetzung von W: (N’bisken nebenbei putzn) wird dann genauer definiert, dass mit der ›Arbeit‹ kein hauptberufliches Vollzeitar‐ beitsverhältnis, sondern eine stundenweise Nebentätigkeit gemeint ist. Aus den anschließenden Erläuterungen beider Eheleute wird auch eine positive Selbstdarstellung ersichtlich, dass man die günstigen Gegebenheiten zu 2.1 Forschungen zur gesprochenen Sprache und Kommunikation 35 <?page no="36"?> nutzen weiss: (un da kann se sich ja da noch’n paar Pfennige nebenbei verdienn (W3)), womit auf ein sozialtypisches kollektives Erfahrungsmuster verwiesen wird. Aufschlussreich für die Beziehungskonstellation der Eheleute ist die Tatsache, dass W sich für die Beantwortung der Frage an seine Frau zuständig erklärt. Im weiteren Gesprächsverlauf ergreift er immer wieder die Rede als dominanter Gesprächspartner, der Redebeiträge und Beitrags‐ versuche seiner Frau überhört und ein neues Subthema initiieren will, bis es zum Widerstand seiner Frau mit einer anschließenden offenen Eskalation kommt. Diese Dominanz reflektiert zugleich die geschlechtspezifischen Machtverhältnisse zwischen den Eheleuten. Die hier nur unzureichend wiedergegebene starke emotionale Beteiligung der Frau zeigt sich in ihrer erhöhten Lautstärke, in starken Akzentsetzungen, einer zweigipfligen In‐ terjektion (C13: hijaa! ) und schließlich auch in einem Stilwechsel zu einer drastischen Lexik: C23: Hat man’t Essn fertich, watt wird et: kalt! Fressen se’t nich, weil se gesoffn haben, nä? Ja, wofür kocht man dann? … Damit man’t anschließend im Klo schmeißn kann, nä? Die Linguistik der gesprochenen Sprache und mündlichen Kommunikation hat mittlerweile feinere Möglichkeiten der Widergabe solcher Gesprächs‐ verläufe entwickelt. Nach den anfänglich eher taxonomisch angelegten Übersichten (v. a. Schwitalla 2012, Fiehler et al. 2004) dokumentieren sie inzwischen genauer die interaktiven Prozesse (v. a. das Gesprächsanalyti‐ sche Transkriptionssystem GAT von Selting u. a. 2009). Das anfangs als Gesprächslinguistik bezeichnete Verfahren (Henne/ Rehbock 2001), mitt‐ lerweile überwiegt Konversationsanalyse (Erfassung der sprechereigenen emergenten Gestaltung von Redebeiträgen, die in Interaktionsprozessen formale konstruktive Muster bilden, vgl. z. B. Birkner et al. 2020) firmiert mittlerweile unter dem Terminus der Interaktionslinguistik als pragma‐ tisch fundierte Beschreibung von Interaktionsprozessen in Gesprächen, die von den beobachtenden Teilnehmern rekonstruiert werden (z. B. Dep‐ permann 2008). Auf die Tradition dieses Ansatzes in der Ethnographie der Kommunikation werden wir später noch genauer eingehen. Mit der Wahl unseres Beispiels heben wir jedoch eine genuin soziolinguistische Beschreibungs- und Herangehensweise hervor. 36 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="37"?> Die Interaktionslinguistik untersucht das Sprechereignis in seiner Situa‐ tionsbezogenheit entsprechend der gemeinsam hergestellten sequenziel‐ len Struktur des Kommunikationsablaufs (vgl. Selting/ Couper-Kuhlen 2000, Imo 2013, Imo/ Lanwer 2019). Das obige Gesprächsbeispiel dokumentiert auch einen wichtigen Punkt der Verletzung konditioneller Relevanzen zwi‐ schen der wiederholten, einen impliziten Vorwurf enthaltenen Äußerung der Ehefrau in C5: Punkt zwölf muss et Essn auf`m Tisch stehn! und der Folgeäußerung des Ehemannes in W7 (Un genau wie wer sachten vorhin schon mit de de Eltern (…). Dieser fehlt dagegen mit dem Rückgriff auf einen schon zuvor erwähnten und gemeinsam abgehandelten Themenbereich jede inhaltliche und pragmatische Bezugnahme auf die Vorgängeräußerung seiner Frau. Damit setzt er zwar lokal eine neue Gesprächsphase mit einem neuen Handlungsschema durch (Erläuterungen über allgemeine Probleme der Hausaufgabenbetreuung abgeben), doch lässt sich die weitere Dynamik des Gesprächsverlaufs bis zur Eskalation global ohne diesen Kooperations‐ verstoß nicht erklären. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass der besondere Stil dieses Gesprächs mit Hilfe der Sozialstilistik beschrieben werden kann. Für einen solchen Zugang eignet sich eine pragmatische Sicht von Stil als Er‐ wartungshaltung und mit zusätzlicher Bedeutung versehen weitaus eher als eine allein nach Förmlichkeitsgraden der Sprechsituation unterscheidende Auffassung von Kontextstilen im Sinne Labovs. Im Unterschied zu Varietäten, aber auch zu Registern, die hauptsächlich grammatisch und lexikalisch bestimmt werden, weisen soziolinguistische Stile als Ausdrucksformen sprachlichen wie nichtsprachlichen Handelns überdies auch paralinguisti‐ sche und nonverbale Merkmale auf. Für einen soziolinguistischen Stilbegriff, der für die Jugendsprachforschung fruchtbar gemacht werden konnte (vgl dazu Neuland 2018; → Kap. II.4), hält Dittmar (1997: 225 ff.) die expressive Funktion für wesentlich; Kallmeyer (2000: 266 ff.) hebt ihre Funktion als Mittel der sozialen Positionierung von Sprechern hervor. Dies zeigt sich insbesondere bei der Analyse größerer Interaktionseinheiten und kommu‐ nikativer Handlungsmuster wie Erzählen oder Lästern und Frotzeln. 2.2 Bedeutung subjektiver Faktoren Die subjektive Bewertungsdimension und die Spracheinstellungen (lan‐ guage attitudes) haben seit den Anfängen in der Soziolinguistik bei Labov 2.2 Bedeutung subjektiver Faktoren 37 <?page no="38"?> eine bedeutende Rolle gespielt. Methoden und Probleme ihrer Erfassung werden vorgestellt, ebenso ihre Anwendung in verschiedenen soziolinguis‐ tischen Forschungsschwerpunkten. Als ›objektive‹ Daten galten in der Geschichte der modernen Linguistik zwar die sprachlichen Äußerungen der Informanten selbst, nicht aber ihre Äußerungen über Sprache, die von einem positivistischen Wissenschafts‐ verständnis aus als subjektive Daten verpönt wurden (vgl. dazu Neuland 1993). Obwohl die begriffliche Trennung von ›objektiven‹ und ›subjek‐ tiven‹ Sprachdaten methodologisch zunehmend problematischer wurde, sind bislang kaum Beschreibungskategorien und Analysemethoden für den Umgang mit ›subjektiven‹ Faktoren entwickelt worden. Sprachgefühl, Spracheinstellungen und Sprachbewusstsein sind For‐ schungsgegenstände einer Soziolinguistik der Sprache, die die sozialen Bedingungen und Wirkungen des Sprachgebrauchs nicht nur in ihren äußerlich manifesten Erscheinungsweisen erforschen, son‐ dern auch die Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit im Bewusstsein von Sprechern und Hörern berücksichtigen will. Erkenntnisse über Sprachvariation und Sprachwandel sprechen für die Bedeutsamkeit der subjektiven, gleichwohl sozial vermittelten und kollek‐ tiv vorhandenen Faktoren der Spracheinstellungen für Spracherwerb und Sprachlernen, Sprachverwendung und Sprachkonflikte, Spracherhalt und Sprachverlust. So können Sprachgebrauchsweisen subjektive wie gemein‐ sam geteilte Eindrücke und Stereotypen auslösen und, je nach Situation und Kontext, Auswirkungen auf gesellschaftliches Ansehen, Schulerfolg und beruflichen Aufstieg ausüben (vgl. z. B. Neuland 1993; Plewnia/ Rothe 2011). 2.2.1 Mehrkomponentenansatz Einstellungen oder Attituden bezeichnen nach Allports frühem Ansatz (1935) eine auf Erfahrung beruhende Verhaltensbereitschaft gegenüber sozialen Objekten, die mit kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Aspekten zusammenhängen. Der Mehrkomponentenansatz enthält: 38 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="39"?> ● kognitive Komponenten wie auf Sprache bezogene klassifizierende Konzepte und laienlinguis‐ tische Kategorien, wie z. B. schwäbeln oder sächseln, wie vom Dorf sprechen, hört sich ungebildet an ● affektive Komponenten wie Gefühlsempfindungen wie Sympathie/ Antipathie, z. B. Schauer auf dem Rücken und abwertende Zuschreibungen bei Soziolekten und Dialekten ● verhaltensbezogene Komponenten wie Übernahme oder Ablehnung von Sprechweisen, Kontaktsuche oder Kontaktvermeidung von Sprechern Einstellungen sind demnach verdeckte, aber erschließbare Größen. Selbst nicht direkt beobachtbar, lassen sich doch ihre einzelnen Kompo‐ nenten externalisiert als metasprachliche Äußerungen über Meinungen, Gefühle und Verhaltensbereitschaften operationalisieren. Einstellungen stellen keine fixen Persönlichkeitsmerkmale dar; vielmehr sind sie als gesellschaftlich vermittelte Produkte sozialer Lernprozesse veränderbar und in ihrer Aktualisierung von situationsbedingten Faktoren abhängig (Triandis 1975, Bierbrauer 1976, Bohner 2002). 2.2.2 Sprachliche und soziale Korrelate Zu den sprachlichen Auslösefaktoren gehören v. a. Erfahrungen mit unüb‐ lichem, von der Sprachnorm abweichendem Verhalten, wie sie im Umgang mit Sprachvarietäten, v. a. Dialekten und Soziolekten, mit Mehrsprachigkeit, beim Zweitspracherwerb etc. auftreten. Während die strukturalistische Linguistik solche subjektiven Daten nicht ernst genommen und als unwis‐ senschaftlich beiseitegeschoben hat, bilden sie seit Anbeginn ein wichtiges Forschungsfeld der Soziolinguistik. Folgende Schwerpunkte können unter‐ schieden werden: Labov hatte Tests zur ›subjektiven Bewertung‹ entwickelt, mit denen die Reaktion von Probanden auf bestimmte linguistische Variablen des Nonstandards erfasst werden sollten (→ Kap. I.3). Zur Klassifikation dienten Skalen der Berufseignung (Fernsehansager, Lehrer, Bürovorsteher, Verkäufer, Postbeamter, Vorarbeiter, Fabrikarbeiter), Skalen der Härte/ toughness (von 2.2 Bedeutung subjektiver Faktoren 39 <?page no="40"?> knallharter Killer über Durchschnittstyp bis zu Niete und Memme) und Freundschaftsskalen (von sicher über wahrscheinlich bis nie) sowie Skalen zur kulturellen Selbstzurechnung (von Allah und Bruder über Farbiger bis zum knallharten Schweinefleischfresser) (Labov 1976/ 1978: 74 ff.). Auch die ›Doppelrollen‹-Technik (matched guise-Technik) setzte Labov ein, um sub‐ jektive Reaktionen auf kritische Variablen von Sprachwandel zu erforschen (Labov 1976/ 1978: 302 ff.). Das wird in Kapitel I.3 näher ausgeführt. Dabei verweist er auf die Forschungen des kanadischen Psychologen Wallace Lambert (1960, 1969), der die matched guise-Technik zur Beurtei‐ lung von Sprachen in multilingualen Gesellschaften wie z. B. Englisch und Französisch in Kanada entwickelt hatte. Für die Sprachsoziologie und die Fragen von Sprachwahl, Spracherhalt und -verlust sind die sozialen Einstellungen wichtige Bedingungsfaktoren, um Prestige und Stigma von Sprachen und Varietäten genauer bestimmen zu können. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt lässt sich auf den Sozialpsychologen und Lingu‐ isten Howard Giles (1970, 1987) zurückführen, der sich mit evaluativen Reaktionen auf Sprachstile beschäftigt hatte. In der germanistischen Soziolinguistik Deutschlands hat die Spracheins‐ tellungsforschung mit ihren Auswirkungen im pädagogischen Kontext leider nur wenig Resonanz gefunden. Allerdings findet sie in der sozialen Dialektologie, insbesondere der Perzeptiven Dialektologie, neue Aufmerk‐ samkeit (→-Kap. II.2). Subjektive Faktoren wirken zugleich als wesentliche Variablen der Fremdwie Selbsteinschätzung und beeinflussen auch den eigenen Sprachgebrauch. Sie weisen dem Individuum eine aktive Rolle beim sprachlichen Handeln zu; sie wirken allzu deterministischen Vorstel‐ lungen des Einflusses gesellschaftlich-historischer Kontexte auf den Sprachgebrauch entgegen und öffnen das Blickfeld für mehrdimen‐ sionale Variation. Zumal im Bereich der soziolinguistischen Jugendsprachforschung lässt sich sehr nachdrücklich die Wirkung subjektiver Faktoren belegen: So können sich Jugendliche durch die Nutzung von Fachwörtern z. B. als Experten für einen bestimmten Straßensport oder für eine bestimmte Musikrichtung ausweisen, durch den Gebrauch von Regionalismen ihre Ortsgebundenheit 40 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="41"?> demonstrieren, durch provozierende sprachliche Derbheiten und Obszöni‐ täten Härte symbolisieren und sich als Nonkonformist oder Macho stilisieren (vgl. Neuland 2018). Dies verdeutlicht die sozialsymbolische, identifikatori‐ sche Funktion von subkulturellen Sprachstilen (→-Kap. II.4). ● Die Rolle subjektiver Faktoren wird aber nicht nur in der Jugend‐ sprachforschung deutlich; vielmehr spielen sie eine wichtige Rolle in der soziolinguistischen Genderlinguistik, nimmt man den nicht nur in der feministischen Linguistik geäußerten Wunsch nach dem ›Mitgemeint-sein-wollen‹ ernst. Studien wie die von J.Klein (1987) ver‐ anschaulichen die psycholinguistischen Auswirkungen des generischen Sprachgebrauchs (→-Kap. II.3). Konstitutiv scheinen subjektive Faktoren schließlich für die Wahrneh‐ mungsdialektologie, die die subjektiven Empfindungen und Meinungen der Sprachteilhaber zum Ausgangspunkt ihrer Forschungen nimmt (→ Kap. II.2). Im Kontext von Schule und Sprachunterricht spielt schließlich die kriti‐ sche Auseinandersetzung mit Stereotypen und Vorurteilen eine zentrale Rolle beim sozialen Lernen und der Reflexion über Sprache (→-Kap. III.1). 2.3 Einflüsse auf Sprachwandel Soziolinguistik und Sprachwandelforschung weisen viele Überschneidungs‐ bereiche auf. Sie betreffen vor allem die Ausbreitung von sozialen oder auch regionalen Sprachvarianten in die Gemeinsprache; allerdings sind nicht alle Sprachwandelphänomene soziolinguistisch motiviert. Dazu gehören v. a. Aspekte des syntaktischen Wandels, wie die Unterscheidung des epistemischen vom faktischen weil (Keller 1993) und des korrektiven vom restriktiven obwohl (Günthner 1999) sowie des phonetischen Wandels, wie z. B. die Kürzung und eventuelle Entspannung eigentlich langer, gespannter Vokale, z. B. Omega [o: mega oder Ɔmɛga] (vgl. Colliander 2012). Darauf werden wir in diesem Band nicht weiter eingehen. In der Sprachwandelforschung wird ›externen‹ Faktoren unterschied‐ liches Gewicht gegenüber sprachinternen Faktoren beigemessen. Für eine soziolinguistische Betrachtungsweise spielen soziale Faktoren wie Genera‐ tion, Geschlecht, Migration entscheidende Rollen. Schon von Polenz hatte in seiner Sprachgeschichte ein Kapitel den sozialen oder regionalen Sprachva‐ 2.3 Einflüsse auf Sprachwandel 41 <?page no="42"?> rianten gewidmet und z. B. Einflüsse der älteren Studentensprache sowie der jüngeren Jugendsprache auf die Gemeinsprache festgestellt (1999: 454 ff.). Auch Besch und Wolff spüren dem Einfluss von Varietäten des Deutschen auf die Gemeinsprache in ihrer Sprachgeschichte nach (2009: 107 ff.). Aus soziolinguistischer Sicht hatte sich Labov, wie noch gezeigt werden wird (→ Kap. I.4.2), in mehreren Studien mit sozialen Faktoren von Sprachwandel beschäftigt. Dabei berücksichtigte er neben sozialen Schichten und der sozial stratifizierten Bewertung sprachlicher Variablen Faktorenkomplexe wie Alter, Migration und ethnische Gruppen, lokale Identität bzw. Gruppenidentität als Zugehörigkeitskategorien sowie schließlich auch die Rolle der Frauen mit ihrer Sensibilität für Prestigeformen (→ Kap. II.3). Weiterhin unterschied er zwei Typen von Prozessen der Verbreitung sprachlicher Innovationen: und zwar den Druck von oben, der sich hauptsächlich auf sprachpolitische Maßnahmen (v. a. durch neue Normvorschriften) bezieht und bewusst verläuft, sowie den Druck von unten, der sich eher spontan und unbewusst vollzieht. Mittels subjektiver Reaktionstests und der matched guise-Verfahren (→ Kap. I.3.2.2) wurden phonologische Merkmale wie die Frikativform des / th/ und das postvo‐ kale / r/ als Prestigevarianten der oberen Mittelschicht analysiert. Die These von der Hyperkorrektheit der unteren Mittelschicht als Zeichen sprachlicher Unsi‐ cherheit und als Faktor von Sprachwandel konnte insbesondere für formellere Sprechsituationen bestätigt werden. Auch im deutschen Sprachraum können sprachliche Einflüsse auf die Gemeinsprache wie Alter bzw. Generation, Geschlecht, Migra‐ tion und Gruppenidentitäten festgestellt werden (ausführlich → Kap. III.3). Während jedoch der angeblich negative Einfluss Jugendlicher und ihrer informelleren Sprachstile auf die Standardsprache in der Öffentlichkeit oft übergewichtet (→ Kap. II.4) und der Einfluss von Migration als Russendeutsch, Türkendeutsch oder Kanaksprache ver‐ unglimpft wird, ist demgegenüber der Einfluss von genderbezogenen Sprachstilen und speziell des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs zweifellos größer als gemeinhin angenommen (→-Kap. II.3). Die vielfach empfundene soziale Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in der Sprache wurde zum Anlass für sprachpolitische Forderungen genommen, die z. B. in Empfehlungen zum geschlechtergerechten 42 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="43"?> Sprachgebrauch bzw. zur sprachlichen Gleichstellung mündeten. Diesen Forderungen wird heute durchwegs im öffentlichen und politischen Raum Rechnung getragen. Ein weiterer Einfluss geht von der Digitalisierung aus und wird später noch ausführlich dargestellt (→-Kap. III.3). Eichinger (2018) hebt in einer Übersicht über Entwicklungen im Deut‐ schen insbesondere Neuerungstendenzen im Wortschatz, Subkultur und neue Mehrsprachigkeit sowie Veränderungen im grammatischen System hervor. »Die neuen Medien, jugendkulturell Lockeres, an modernen Lebensstilen und nicht autochthonen Kulturen Orientiertes, international Gängiges und in den Medien Präformiertes« zeigen sich in den Veränderun‐ gen, weiterhin : »politisch korrekte Reaktionen (Fracking, Inklusionsklasse) und entsprechende Lebensstile (grüner Smoothie, Vöner, Helikoptereltern), neue Elektronik und Medien (Fingerwisch, Selfie) und Aspekte aktuell mo‐ dernen Lebens (Freistoßspray, Pop-up-Restaurant)« spiegeln sich im Wort‐ schatz des modernen Lebens wider. (2018: 14) Dazu werden die klassischen Wortbildungsmuster der Deutschen verwendet wie vor allem die Komposi‐ tion, aber auch Kontaminationen und Kurzwörter (GroKo). (vgl. dazu auch das Neologismen-Wörterbuch des IDS (www.owid.de), Steffens/ Al-Wadi 2013 sowie Eisenberg 2013). Das Veränderungspotential mit der Tendenz zunehmender sprachli‐ cher Lockerung bei gleichzeitiger fachlicher Diversifizierung hängt mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen, die Eichinger (2018: 16) wie folgt gruppiert: ● Neue, bis dahin als marginal angesehene Sprechergruppen beanspru‐ chen Gehör in der Öffentlichkeit (u.-a. Jugendkulturen), ● zunehmende Binnenmehrsprachigkeit als Folge von Arbeitsmigration, ● Ausdifferenzierung und Omnipräsenz klassischer und elektronischer Medien. Die zunehmende Informalisierung des Sprachgebrauchs zeigt sich nicht nur in der Lexik, sondern auch in alltäglichen sprachlichen Umgangsformen, v. a. der Anrede, Begrüßung und Verabschiedung, wie die entsprechende Studie von Neuland (2015) mit dem Passe-par‐ tout-Wort: Hallo demonstriert (→-Kap. II.9). 2.3 Einflüsse auf Sprachwandel 43 <?page no="44"?> Auf einige soziolinguistisch bedeutsame Aspekte von Sprachwandel werden wir am Ende des Bandes genauer eingehen (→-Kap. III.3). 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze Zu den vier überwiegend aus der US-amerikanischen Forschung stammen‐ den Theorieansätzen, die Dittmar (1997) in den Grundlagen der Soziolingu‐ istik aufzählt: ● Soziale Dialektologie oder Variationslinguistik, ● Sprachsoziologie, ● Ethnographie der Kommunikation, ● Interaktionale Soziolinguistik, wollen wir die Sprachbarrierenforschung hinzurechnen, die sich in Groß‐ britannien entwickelt hat und großen Einfluss auf die Soziolinguistik der deutschen Sprache ausgeübt hat (→ Kap. II.1). Dabei müssen wir uns aus Platzgründen auf jeweilige Hauptvertreter und auf einige Grundgedanken und Grundbegriffe beschränken, wodurch der Aspektreichtum der jeweili‐ gen Ansätze leider nur verkürzt und in Auswahl dargestellt werden kann. 2.4.1 Code-Theorie und Sprachbarrierenthese (Basil Bernstein) Der britische Soziologe Basil Bernstein (1924-2000) hat sich mit den Sprach‐ fähigkeiten von Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und dem Zusammenhang mit der Schulbildung beschäftigt. In seinen Schriften entwickelte er seit Ende der 1950er Jahre die These, dass der Bildungs- und Aufstiegserfolg von Gesellschaftsmitgliedern entscheidend vom Grad der Wohlorganisiertheit ihrer Sprachverwendung abhängt (Dittmar 1973: 1). In diesem Zusammenhang traf er die Unterscheidung einer ›öffentli‐ chen‹ Sprache der sozialen Unterschicht und einer ›formalen‹ Sprache der Mittelschicht, die er in späteren Schriften als restringierten (RC) und elaborierten Code (EC) bezeichnete. Die durch die Sprache vermittelte unterschiedliche soziale Erfahrung deutet Bernsteins Orientierung an der Sapir-Whorf-Hypothese an, auf die er selbst mehrfach verweist. Bereits in den frühen Schriften nimmt er eine Beschreibung der beiden Sprechweisen vor, die starke linguistische Kritik auf sich gezogen hat, wie er auch selbst in der Einleitung zu seinen Schriften konstatiert (z. B. 44 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="45"?> 1972: 42). Besonders die Merkmalslisten des restringierten Codes gleichen einer Mängelliste (1972: 88). Das hat mit dazu geführt, den Bernstein’schen Theorieansatz als Defizitkonzeption zu bezeichnen, da die Unterschicht‐ angehörigen über eine geringere sprachliche Variationsbreite zu verfügen scheinen: »Diese zentrale Annahme, daß die Unterschichtsprache unquali‐ fizierter und beschränkter als die Mittelschichtsprache ist, wollen wir im folgenden Defizit-Hypothese nennen.« (Dittmar 1979: 1) Schon in seinen frühen Schriften präsentiert Bernstein Charakteristika der beiden Codes (Tab. I.2.1). Es verwundert die unklare Begrifflichkeit, die Vermischung linguistischer und psychologischer Charakterisierungen, die Schlichtheit des Schichtungs‐ modells, der hohe Allgemeinheitsgrad und Verallgemeinerungsanspruch sowie vor allem die mangelnde empirische Validierung und der offensicht‐ liche Wertungsmaßstab. Empirische Validierungsversuche stammen eher von späteren Schülern und Mitarbeitern Bernsteins (wie Coulthard, Hawkins, Henderson, Lawton). Bernstein selbst hatte seine Daten auf eine Stichprobe von 61 5-18jährigen Besuchern der Berufsschule (Arbeiterschichtgruppe) und 45 in Alter und Ge‐ schlecht gleichgesetzten Besuchern von Public Schools bezogen, die alle eine freie Diskussion zum Thema ›Abschaffung der Todesstrafe‹ durchführten. Untersuchungsvariablen waren u. a. Häufigkeit und Länge von Sprechpau‐ sen, Gesamtlänge der Äußerungen, Anzahl und Klassifikation einzelner Wortarten, v.-a. von Personalpronomen. Die Anlage der Untersuchung und die Analyse wurden einer detaillierten Kritik unterzogen (vgl. v.-a. Dittmar 1973: 58 ff., Neuland 1975: 44 ff.). Selbst wenn man bedenkt, dass der Autor nicht auf linguistische Vorbilder oder Traditionen zurückgreifen konnte, kann man der zusammenfassenden Kritik an den Merkmalslisten der linguistischen Codes von Dittmar (1973: 24) nur zustimmen: 1. Sie geben nur sehr global an, welcher Natur Unterschiede zwischen den zwei Sprechweisen sein können. 2. Die Trennung zwischen linguistischer Ebene und anderen Ebenen ist nicht geklärt. 3. Die Charakterisierungen gehen von Normvorstellungen aus, die weder gesellschaftlich hinterfragt noch durch ein explizites wissenschaftliches Modell gerechtfertigt werden. 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 45 <?page no="46"?> öffentliche Sprache formale Sprache 1 Kurze, grammatisch einfache und oft unvollständige Sätze, die das Aktiv betonen. Genaue grammatische Struktur und Syn‐ tax regulieren das Gesagte 2 Einfacher und sich wiederholen‐ der Gebrauch von Konjunktio‐ nen Grammatisch komplexe Satzkonstrukti‐ onen und der vielfältige Gebrauch von Konjunktionen und Relativsätzen 3 Häufiger Gebrauch kurzer Be‐ fehle und Fragen. Häufige Verwendung von Präpositionen, die auf eine logische Beziehung und auf einen zeitlichen und räumlichen Zusam‐ menhang verweisen. 4 Häufiger Gebrauch von Adjekti‐ ven und Adverbien. Differenzierende Verwendung von Ad‐ jektiven und Adverbien. 5 Gelegentlicher Gebrauch von unpersönlichen Fürwörtern als Subjekte von Bedingungs- und Hauptsätzen. Häufige Verwendung unpersönlicher Fürwörter. 6 Fragen implizierende Feststellun‐ gen, die eine »sympathetische Zirkularität« in Gang bringen. - 7 Begründungen und Folgerungen werden zu einer kategorischen Behauptung vermengt. - 8 Häufig individuelle Auswahl aus einer Gruppe idiomatischer Wen‐ dungen. Ein Sprachgebrauch, der auf die Mög‐ lichkeiten verweist, die sich in einer komplexen Begriffshierarchie zur Ein‐ ordnung von Erfahrungen finden. 9 Angewandte Symbole weisen eine niedrige Allgemeinheits‐ stufe auf. Expressive Symbole mit der Funktion, eher das Gesagte zu untermalen, als dessen Inhalt in logischer Hinsicht ver‐ ständlicher zu machen. 10 Die individuelle Qualifikation liegt implizit in der Satzorganisa‐ tion: Es ist eine Sprache implizi‐ ter Bedeutungen. Die individuelle Qualifikation wird durch die Struktur und die Beziehungen innerhalb und zwischen den Sätzen ver‐ mittelt. Es handelt sich somit um eine explizite Qualifikation Tab. I.2.1: Bernstein-Thesen zur öffentlichen und formalen Sprache (1972/ 1959: 88 f.) (gekürzt und kontrastiv geordnet v. E.N.) 46 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="47"?> Auch die später eingeführten Merkmale: universalistisch (EC) vs. partikula‐ ristisch (RC) sowie geringe (EC) vs. hohe Vorhersagbarkeit (RC). tragen nicht zu einer grundlegenden Klärung bei. Umso mehr verwundert die unkritische bis euphorische Rezeption der Begrifflichkeit wie der Thesen Bernsteins zur damaligen Zeit, die sich angesichts der weiter vorn skizzierten wis‐ senschafts- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen (→ Kap. I.1) vielleicht nur aus dem Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Bestätigung offensichtlich schichtspezifischer Differenzierungen des Homogenitätsmo‐ dells erklären lassen. So ist schon der postulierte Zusammenhang sozialer und sprachli‐ cher Aspekte bei Bernstein diffus geblieben. In folgendem Schaubild hatte er versucht, diesen für die Entwicklung der Soziolinguistik wesentlichen Kernpunkt zu klären: Ebene I (Bestimmung des Codes) Ebene II (Entstehung des Codes) Hervorgebrachte Bedeutungssysteme Sprechakte (speech events) ASozialstruktur (Bedeutungsgefüge) Verbale Planungsfunktionen BFormen sozialer Beziehung (Spezifische Bedeutungssysteme) CLinguistische Codes Abb. I.2.1: Auswirkung der Sozialstruktur auf linguistische Codes (Bernstein 1972/ 1959: 249) Hier finden sich an den entscheidenden Stellen (von B nach C oben sowie innerhalb von A) Pfeile an Stellen theoretischer Explikationen. Bernsteins Code-Theorie bleibt trotzdem weiterhin eine spannende These und Her‐ ausforderung für die Sprachwissenschaft - bei aller Plausibilität seiner Ausführungen zu möglichen Folgen sozial unterschiedlicher Sprechweisen, die sich mit Mitteln der interaktionalen Kommunikationsforschung heute präziser beschreiben lassen. Auf Bernsteins Ausführungen zur sprachlichen Sozialisation werden wir in Kapitel II.1 näher eingehen. Zur breiten Bernstein-Rezeption in Deutschland haben zweifellos die zahlreichen Studien beigetragen, die Grundgedanken Bernsteins aufgriffen 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 47 <?page no="48"?> und auf den deutschen Sprachraum übertrugen. Dazu zählt vor allem die Ar‐ beit: Sprache und soziale Herkunft (1970) des Soziologen Ulrich Oevermann. Darin formuliert er als Generalhypothese: 1. Zwischen Kindern der Mittelschicht und der Unterschicht zeigen sich im Sprachverhalten Unterschiede, die mit der theoretischen Interpretation der linguistischen Merkmale in der Dimension »restringiert« - »elaboriert« übereinstimmen. 2. Diese Unterschiede zwischen der Unterschicht und der Mittelschicht beste‐ hen unabhängig vom Niveau der gemessenen Intelligenz. (1970: 94) Diese Hypothesen sollten anhand von Aufsätzen in einer sechsten Real‐ schulklasse mit künstlich gepaarten Unterschicht- und Mittelschichtkindern überprüft werden, und zwar mit einer Liste von insgesamt 89 Variablen, die unter fünf theoretischen Gesichtspunkten subsummiert waren (Komplexi‐ tät, Differenzierung, Individuierung und Abstraktionsniveau). Wie die minutiöse Ergebnisdarstellung zeigt, weist nur ein Teil der Variablen signifikante soziale Unterschiede auf, und zwar vor allem im Hinblick auf die syntaktische Komplexität. Im sonstigen Kontext genereller Kritikpunkte (wie schriftsprachliches Material aus dem schulischen Kontext, fragwürdige Schichtzuweisungen und Variablenauswahl) rechtfertigt das nicht unbedingt den Schluss einer Bestätigung Bernsteins Theorie, beson‐ ders im Hinblick auf das vermeintliche Defizit im Sprachgebrauch von Unterschichtangehörigen. 2.4.2 Soziale Dialektologie und Variationslinguistik (William Labov) Die kritische Bernstein-Rezeption wurde in der Bundesrepublik schon bald auf die Polarisierung Defizitvs. Differenzkonzeption konzentriert, für die der US-amerikanische Soziolinguist William Labov als Kronzeuge galt. Dittmar stellt die beiden unterschiedlichen Konzepte idealtypisch einander gegenüber (1973: 129 f.): Defizitkonzeption Differenzkonzeption Normatives Vorgehen Deskriptives Vorgehen Einseitige Fixierung auf die Analyse schichtenspezifischen Sprachgebrauchs Untersuchung von Sprachvariation auf der Mikroebene verbaler Interaktion 48 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="49"?> Sprache der Mittelschicht (MS) leistet mehr als die Sprache der Unterschicht (US) Sprachliche Varietäten sind funktional äquivalent Schwerpunktmäßiger Einbezug kogni‐ tiver Aspekte, Anlehnung an Sprachre‐ lativismus Weitgehende Ausklammerung kogniti‐ ver Aspekte Beschreibung des Sprachgebrauchs in einseitigen formalen Testsituationen, v.-a. im schulischen Kontext Erforschung des formalen-informa‐ len Kontinuums natürlichen Sprachge‐ brauchs in unterschiedlichen sozialen Kontexten Rolle des Sprachgebrauchs für den sozialen Erfolg von Sprechern, be‐ schränkte Anzahl sozialer Parameter, gerichtete Hypothesen Sämtliche durch Intervention sozialer Parameter verursachten sprachlichen Differenzierungen, ungerichtete Hypo‐ thesen Tab. I.2.2: Defizitvs. Differenzkonzeption (Dittmar 1973: 129 f., gekürzt v. E.N.) Den Defiziteffekt erklären die Anhänger der Differenzkonzeption als Folge eines ›middle class bias‹ in soziolinguistischen Erhebungs- und Analyseme‐ thoden sowie mit unzureichenden linguistischen Analysen der Systematik nonstandardsprachlichen Sprachgebrauchs. Ein wichtiger Punkt in diesem Modell ist die soziale Bewertung sprachlicher Erscheinungsformen (Privilegierung, Stigmatisie‐ rung) und deren mögliche Folgen für den Sprachwandel, der stärker in den Fokus gerückt wird. Entscheidend bleibt darüber hinaus die These der funktionalen Äquivalenz von unterschiedlichen Ausdrucks‐ formen. Dittmar (1973: 131 ff.) setzt sich ausführlich mit Grundbegriffen, Traditio‐ nen und theoretischen Konzepten zur Beschreibung von Sprachvariation auseinander. Löffler (2016: 30 ff.) verfolgt Aspekte der Schichtungstheorie und der Handlungstheorie einschließlich subjektiver Komponenten in der Weiterentwicklung der ursprünglich einfachen ›Code-Theorie‹ zu einer komplexen ›Varietäten-Linguistik‹. Nabrigs (1981: 9) spricht von einer ›Wiederentdeckung‹ der sprachlichen Heterogenität und zeichnet einen Paradigmenwechsel (›variationist paradigm‹, seit Bailey 1971) nach. W. Klein (1976: 30 f.) postuliert: »die Variation als wesentlichen Zug einer 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 49 <?page no="50"?> jeden Sprache, nicht bloß als Störfaktor, zu sehen, sie in die Sprachtheorie einzubeziehen und geeignete Methoden zu ihrer genauen Erfassung zu entwickeln.« William Labov hat seit den frühen 1960er Jahren bahnbrechende Un‐ tersuchungen über Lautwandel und soziale Stratifikation des Englischen durchgeführt. Dabei ging es um die Realisierung des postvokalischen Pho‐ nems / r/ in von unterschiedlichen sozialen Schichten besuchten Kaufhäu‐ sern in New York City. Seine innovative Methodologie begründet er mit Prinzipien des Studiums der ›Sprache im sozialen Kontext‹ (1976/ 1978). Methodologische Axiome, darunter: Stilwechsel, Aufmerksamkeit, Regi‐ onaldialekt, Förmlichkeit führen ihn zur Formulierung des bekannten Beobachterparadoxons (→-Kap. I.3). Auf methodologische Aspekte werden wir im folgenden Kapitel I.3 zurück‐ kommen; hier soll der konzeptionelle Ansatz der ›Sozialen Dialektologie‹, teilweise auch als ›korrelative Soziolinguistik‹ bezeichnet, genauer verfolgt werden (vgl. dazu Labov 1976/ 1978). Seiner Ansicht nach war das Schicht‐ gefüge der New Yorker Stadtsprache nicht mehr mit der traditionellen Dialektologie beschreibbar; vielmehr vertritt er die These, dass »das Eng‐ lisch von Schwarzen und Weißen ein Kontinuum von Varietäten darstellt, die in den Formen erhebliche Kontraste aufweisen, aber gleichwertigen kommunikativen Funktionen/ Normen entsprechen.« (Dittmar 1997: 53). Soziolinguistische Variablen sind mithin eine »Menge alternativer Möglich‐ keiten, sprachlich das gleiche zu sagen, damit aber unterschiedliche soziale Identitäten/ Hintergründe/ Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen«. Die Summe der Varianten wird dann z. B. mit der Schichtzugehörigkeit eines Sprechers in einen Zusammenhang gebracht, d. h. korreliert. So kann die Realisierung des / r/ als (r-1), die Nichtrealisierung als (r-0) bezeichnet wer‐ den. Der im Vergleich zu den Unterschichtsprechern hohe Wert von (r-1) bei Mittelschichtsprechern weist dieses als ein soziolinguistisch bedeutsames Merkmal aus, das gesellschaftlich ›prestigebesetzt‹ ist. Abbildung I.2 verdeutlicht eine linguistische Variable als Funktion von Kontextstilen und Schichtzugehörigkeit, eingeschränkt durch die Faktoren: Vertrautheit mit Normen und Sprechkontrolle. 50 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="51"?> Vertrautheit mit Prestigenormen Sprechkontrolle XXx Niveau der linguistischen Variable UUS OUS UMS OMS zwanglos gewählt Lektüre Wortliste stilistische Variation soziale Schichten Abb. I.2.2: Linguistische Variable als Funktion von Kontextstilen und sozialen Schichten nach Labov (UUS/ LWC = untere Unterschicht; OUS/ UWC = obere Unterschicht; UMS/ LMC = untere Mitelschicht; OMS/ UMC-= obere Mittelschicht (Dittmar 1997: 59) Eine linguistische Variable kann Unterschiede in ihrer Distribution im Hinblick auf soziale Schichten und/ oder Sprechstile aufweisen. Abbildung I.3 zeigt die Verteilung der Variablen (/ th/ ) als prestigebesetzter interdentaler Frikativ (th-0) oder als lenisierter Verschlusslaut (th-2) im Hinblick auf Stil und Status des Sprechers. Die mögliche Form einer Affrikata (th-1) kam selten vor. Den Ergebnissen zufolge wurde der Frikativ in geringem Maße in der Unterschicht realisiert, jedoch bei formellem Sprechstil stärker als bei informellem: SÖS Index SÖS/ SES = sozioökonomischer Status 0-1 UUS A = zwangloses Sprechen 2-4 OUS B = gewähltes Sprechen 5-6 UMS C = Lesestil 7-8 D = Wortlisten 9 OMS SÖS 0-1 2-4 5-6 7-8 9 0 A B C Stil D 20 10 30 50 70 90 40 th-Index 60 80 Abb. I.2.3: Soziale und stilistische Stratifizierung der Variable (/ th/ ) nach Labov (Dittmar 1997: 59) 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 51 <?page no="52"?> Die Abbildung zeigt zugleich einen ›cross over-Effekt‹, eine Überkreuzung der Werte der unteren Mittelschicht (UMS), von Labov als Zeichen für Hy‐ perkorrektheit und Aufwärtsmobilität in einem sich vollziehenden Sprach‐ wandel (mit »pressure from below«) gewertet. Im Regionaldialekt von New York, ehemals / r/ -los, ist die / r/ -Aussprache inzwischen zur Prestigenorm geworden. Einen solchen Hyperkorrektheitseffekt hat er auch für andere phonologische Variablen nachweisen können. Zur präziseren Erfassung von variablen Sprachstrukturen hat Labov die Variablenregel als ein Beschreibungselement entwickelt, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Weitere sprachliche Erscheinungsweisen, mit denen sich Labov theore‐ tisch wie empirisch beschäftigt hat, beziehen sich auf das NNE bzw. Black Englisch (BE) im Unterschied zum Standard-Englisch (SE), z. B. im Hinblick auf Formen der Negation, die im BE auch als doppelte bzw. mehrfache Negation realisiert werden kann (Labov 1971). Daneben hat er auch Inter‐ aktionsformen analysiert wie rituelle Beschimpfungen und konversationelle Erzählungen schwarzer Jugendlicher, die die interaktionale Soziolinguistik wesentlich beeinflusst haben. Von großer Bedeutung sind schließlich seine Studien zu unbewussten sozialen Sprachurteilen, die er mit Hilfe subjektiver Reaktionstests erfassen wollte (→ Kap. I.3). Diese bezeichnet er als äußerst einheitlich in einer Sprachgemeinschaft: das Korrelat regelmäßiger Schichtung einer soziolinguistischen Variable im Verhalten ist die einheitliche Übereinstimmung der subjektiven Reaktionen auf diese Variable. (Labov 1971: 176) Das demonstriert er anhand der Stratifikation von / r/ im Regionaldialekt junger Erwachsener, wobei vier unterschiedliche Altersgruppen miteinan‐ der verglichen werden: 52 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="53"?> Abb. I.2.4: Soziale Stratifikation von postvokalem / r/ für vier Altersstufen in zwangloser Rede in New York City nach Labov (1971: 177) Demnach besteht bei den unter 40jährigen ein deutlicher Unterschied im Gebrauch des / r/ , also (r-1). Diesen Prestigestatus der / r/ -Aussprache weisen auch die Ergebnisse der subjektiven Reaktionstests nach: Abb. I.2.5: Prozentuale Verteilung der / r/ -positiven Antworten auf subjektive Reaktions‐ tests nach Altersstufen in New York City nach Labov (1971: 177) 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 53 <?page no="54"?> Der Vergleich von Altersgruppen kann auch Hinweise auf künftigen Sprach‐ wandel geben - allerdings als ›apparent time‹-Querschnittstudie, nicht als ›real time‹-Längsschnittvergleiche. Immer wieder hat Labov sich mit dem Thema des Sprachwandels auseinandergesetzt und eine weiterführende Be‐ grifflichkeit sowie Erklärungsperspektiven unter Einbezug von auslösenden Faktoren und Übergangsstadien sowie sozialer Bewertungen eingeführt. Darauf werden wir in Kapitel III.3 zurückkommen. Subjektive Reaktionstests können aber auch verdeckte, entgegengesetzte Wertungen enthüllen, wie die Einschätzung auf den bekannten Skalen für Berufseignung ( Job), Schlägerei (fight) und Freundschaft (friend) zeigen: Abb. I.2.6: Prozentuale Verteilung von fünf sozialen Gruppen der höheren Einschätzung eines ›Mittelklassesprechers‹ gegenüber einem ›Unterklassesprecher‹ in Bezug auf die drei Merkmale Hier zeigt sich bei der unteren Arbeiterschicht wieder ein besonderer Effekt bei der Einschätzung auf den Freundschafts- und Schlägerei-Skalen. 54 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="55"?> 2.4.3 Ethnographie der Kommunikation (Dell Hymes) und interaktionale Soziolinguistik (John Gumperz) Auch die Ethnographie der Kommunikation beschäftigt sich mit dem alltäglichen Sprachgebrauch von Gesellschaftsmitgliedern. Al‐ lerdings versucht sie, daraus deren soziokulturelle Orientierungen und Verhaltensnormen zu rekonstruieren. Die bevorzugte Methode ist die teilnehmende Beobachtung ethnischer Gruppen in möglichst natürlichen Kommunikationssituationen. Dell Hymes (1927-2009), der als Begründer der ethnographischen Soziolin‐ guistik gilt, hat für die Analyse solcher ›Sprechereignisse‹ sieben Kompo‐ nenten unterschieden (1979: 49) und das folgende Raster entwickelt: S setting scene physical circumstances subjective definition of an occasion P participants speaker/ sender/ addressor hearer/ receiver/ audience/ addressee E ends Purpose and goals Outcomes A act sequence message form and content K key tone, manner I instrumentalities channel (verbal, nonverbal, physical) forms of speach drawn from community repertoire N norms norms of interpretation norms of interaction G genres categories such as poem, myth, tale, riddle, lecture etc. Tab. I.2.3: SPEAKING-Modell nach Hymes (Dittmar 1997: 82) Daneben unterscheidet Hymes sieben Sprachfunktionen, die den sieben genannten Faktoren entsprechen (1979: 59): 1. expressive (emotive) 2. direkte (konative, pragmatische, rhetorische, persuasive) 3. poetische 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 55 <?page no="56"?> 4. Kontaktfunktion 5. metasprachliche 6. Darstellungs bzw. Referenzfunktion 7. Kontextfunktion Durch ihre anthropologische, deskriptive Orientierung unterscheidet sich die ethnographische Soziolinguistik sowohl von der korrelativen, quantitati‐ ven Variationslinguistik als auch insbesondere von der transformationellen Linguistik Chomskys. Mit dessen kontextfreier Analyse nach den Prinzi‐ pien der Grammatikalität und der Universalität setzt sich Hymes kritisch auseinander; er entwickelt den wirkungsmächtigen Begriff der ›kommu‐ nikativen Kompetenz‹, der das Anwendungsfeld des Sprachunterrichts so nachhaltig beeinflusst hat (→ Kap. III.1 sowie II.6.5), in bewusster Abgrenzung von der linguistischen Kompetenz Chomskys. Sprachgemeinschaften unterscheiden sich seiner Überzeugung nach in Anzahl und Auswahl der für sie wichtigen Sprachstile, wobei es keine mechanischen Korrelationen von Sprachmerkmalen untereinander und mit Kontexten gibt; vielmehr muss dieser Stil außerhalb seines Kontextes erkannt und verwendet werden (1979: 177). Für größere, an soziale Gruppen gebundene Sprechstile schlägt er die Bezeichnung Varietäten vor, für solche, die an Personen, spezielle Situationen oder Genres gebundene: Register. John Gumperz (1922-2013), 1939 in die Vereinigten Staaten emigriert, hat sich in seinen Studien der ethnographischen Beschreibung von Kom‐ munikationsprozessen gewidmet und gilt als Begründer der Interaktionalen Linguistik. Den Kommunikationsprozess beschreibt er wie folgt: Erfahrung und Ökologie soziale Identitäten Handlungsort Ereignisse Inhalte Umgebung Kodes nicht-verbale Zeichen Verhaltensnormen und Inhalt Anlässe Soziale Enkodierung Dekodierung |Phonologie |Syntax |Übertragungskanal Informationen Laute und andere Zeichen Abb. I.2.7: Kommunikationsprozess in ethnographischer Perspektive nach Gumperz (Ditt‐ mar 1997: 84) 56 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="57"?> Demnach verarbeiten Sprecher Reize der äußeren Situation entsprechend ihrem sozialen Hintergrund so, dass sie die kommunikativen Normen für die jeweilige Situation ableiten. Jeder Inhalt wird von sozialen und situativen Bedingungen beeinflusst, die die soziale Identität des Sprechers ausmachen. Dem Kontext und der Kontextualisierung weist Gumperz eine her‐ ausragende Bedeutung für die Interaktion zu. Während der Kontext in den bislang angesprochenen Ansätzen als material gegebene Entität und als mit Hilfe quantifizierbarer Sozialdaten erfassbare Größe an‐ gesehen wird, geht der Kontextualisierungsansatz von einem ›aktiven Interaktionsteilnehmer‹ aus, der den Kontext interaktiv konstruiert (Auer 1986: 23). Gumperz belegt dies zusammen mit Jan-Petter Blom (1975/ 1972) in seiner Studie über ›die soziale Bedeutung in sprachlichen Strukturen‹ am Beispiel des Codewechsels in einer norwegischen Gemeinde. Zum linguistischen Repertoire dieser Gemeinde gehört eine Variante der norwegischen Stan‐ dardsprache und der regionale Dialekt, der für die Einheimischen lokale Werte und gemeinsame Identitäten innerhalb der lokalen Kultur symboli‐ siert. Wechselt ein Sprecher den Code unabhängig vom Gesprächsthema, so spricht Gumperz von metaphorischem gegenüber einem situativen Code‐ wechsel. Auer, der sich eingehend mit der Kontextualisierung beschäftigt hat, hält fest: Zusammenfassend kann man ›Kontextualisierung‹ also als eine dreistellige Relation definieren zwischen Ausdrucksmitteln (Idiomatik, Gestik, Prosodie etc.), der Bedeutung (Interpretation) bestimmter Handlungen und Wissensbeständen (frames), die diese Interpretation ermöglichen, indem sie als ihr Kontext relevant gemacht werden. (Auer 2013/ 1999: 179) In der Weiterentwicklung der Interaktionalen Soziolinguistik wird vielfach auf die Grundgedanken von Gumperz zurückgegriffen (vgl. u. a. Hinnenkamp 1989, Keim 2007, Imo/ Lanwer 2019), zumal die‐ ser schon früh paralinguistischen Merkmalen der Satzprosodie und Merkmalen der Stilwahl als ›interpretative Schlüsselreize‹ Beachtung 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 57 <?page no="58"?> schenkte, die in der heutigen linguistischen Interaktionsforschung unter dem Stichwort der Multimodalität relevant geworden sind. 2.4.4 Soziologie der Sprache (Joshua Fishman) Nach Joshua Fishman (1926-2015) untersucht die Soziologie der Sprache die Wechselbeziehungen zwischen: »dem Gebrauch der Sprache und dem sozial organisierten System des Verhaltens.« (1975: 13). Als deskriptive Soziologie der Sprache versucht sie, die Normen des Sprachgebrauchs einschließlich der Einstellungen gegenüber der Sprache in größeren oder kleineren Netzwerken oder Gemeinschaften sichtbar zu machen; als dyna‐ mische Soziologie der Sprache fragt sie darüber hinaus, wie und warum diese innerhalb derselben Netzwerke oder Gemeinschaften in verschiedenen Situationen verschieden sein können und aus einmal ähnlichen Netzwerken oder Gemeinschaften völlig verschiedene Systeme des Sprachgebrauchs und Verhaltensmuster gegenüber der Sprache entstehen können (1975: 15). Fishman wendet sich einigen zentralen soziolinguistischen Termini aus soziologischer Perspektive zu, darunter Varietät, Dialekt, Soziolekt und bewertet diese im Hinblick auf ihre Standardisierung, Autonomie, Geschichtlichkeit und Vitalität (1975: 31). Auch wird der Begriff der Sprach‐ gemeinschaft im Hinblick auf mögliche soziale und verbale Repertoires in traditionellen und modernen Erscheinungsformen erörtert. Dabei führt er den für die Sprachsoziologie zentralen Terminus der Domäne ein, die aus einer Zusammenfassung kongruenter Situatio‐ nen abgeleitet werden (Haus, Schule und Kultur, Arbeitsplatz, Regie‐ rung und Verwaltung, Kirche, 1975: 36). Mit Hilfe eines weiteren, von Ferguson (1959) geprägten zentralen Begriffs: der Diglossie, die das Vorhandensein komplementärer Varietäten für Funktionen innerhalb einer Gruppe bezeichnet (1975: 50) gelingt dann eine Differenzierung verschiedener Typen von Sprachgemeinschaften sowie eine Integra‐ tion von makro- und mikrostruktureller Betrachtung. 58 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="59"?> Er betont aber auch: Das Sprachverhalten wirkt zurück auf die soziale Wirklichkeit, die es widerspie‐ gelt und trägt dazu bei, sie in Übereinstimmung mit den Werten und Zielen bestimmter Sprachteilhaber auszubauen (oder zu verändern). (1975: 171) Diese Relationen deutet das folgende Abbild nicht ganz zureichend an: BÜNDEL VON WERTEN Menge von Werten in einer Sprachgemeinschaft, die in einem typischen Ausmaß in kulturell definierten Verhaltensdomänen aktualisiert werden DOMÄNE Bündel von sozialen Situationen, die in typischer Weise durch eine gemeinsam geteilte, verbindliche Menge von Verhaltensregeln normativ festgelegt sind. TYP DES INTERAKTIONSNETZES (offen und geschlossen) Bündel von Rollenbeziehungen, die durch das Ausmaß an kollektiven Werten (einzelne oder multiple) definiert sind. TYP DER INTERAKTION (personal und transaktional) Funktion der Interaktion, die durch den Grad definiert ist, in den Teilnehmer in sozialen Situationen gegenseitig Rechte und Pflichten einklagen ROLLENBEZIEHUNGEN Menge von kulturell definieren Rechten und Pflichten SOZIALE SITUATION Durch Umgebung, Zeit und Rollenbeziehung bedingte Interaktion Zeit Umgebung SPRECHEREIGNISSE UND SPRECHAKTE Abb. I.2.8: Beziehungen zwischen den Konstrukten der Makro- und Mikroebene von Fishman (1975: 60) nach Dittmar (1997: 76) Bevorzugte Analysegegenstände Fishmans sind zwei- und mehrsprachige Gesellschaften, wie Englisch und Spanisch bei Puertorikanern in New York oder Katalanisch und Kastilisch in Teilen Spaniens. Die Varietäten werden mit bestimmten Wertungen und Domänen assoziiert. So analysier‐ ten Fishman und Greenfield (1970) nach Vorarbeiten von Greenfield fünf Domänen, die von den Sprechern mit je als angemessen empfundenen Gesprächspartnern, Orten und Themen assoziiert wurden: 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 59 <?page no="60"?> Domäne Gesprächspartner Ort Thema Familie Elternteil Heim Wie werde ich ein guter Sohn oder eine gute Tochter? Freund‐ schaft Freund Strand Wie spielt man ein bestimmtes Spiel? Religion Pfarrer Kirche Wie wird man ein guter Christ? Erzie‐ hung/ Bildung Lehrer Schule Wie löst man eine algebraische Aufgabe? Beruf Arbeitgeber Arbeits‐ platz Wie leiste ich mehr im Beruf ? Tab. I.2.4: Beispiel: Domänen nach Fishman und Greenfield 1970 (Fishman 1975: 53) Die befragten Puertorikaner, die Englisch und Spanisch gleich gut be‐ herrschten, gaben an, das Spanische bevorzugt in den Domänen Familie und Freundschaft, das Englische hauptsächlich in den Domänen Religion, Arbeit und Ausbildung zu verwenden. Englisch wird demzufolge als H-Varietät mit einem hohen Prestige und das Spanisch als L-Varietät mit einem niedrigen Prestige bezeichnet. Allerdings richtet sich der konkrete Sprachgebrauch in mehrsprachigen Gemeinschaften nicht immer funktional nach allgemeinen und vermeintlich homogenen Prestigewertungen; vielmehr spielen weitere subjektive Fakto‐ ren der soziokulturellen Selbstzurechnung und Identifikation eine Rolle, wie auch die zum Teil heftigen sprachpolitischen Debatten zeigen (z. B. zwischen Französisch und Flämisch in Belgien, Kastilisch und Katalanisch in Teilen Spaniens, die Rolle des Schweizerdeutschen, der nationalen Dialekte gegen‐ über dem Hocharabischen in arabischsprachigen Gesellschaften etc.). Fish‐ man selbst diskutiert auch Fälle von Divergenz zwischen Einstellung und Verhalten, z. B. verstärkte Wertschätzung nichtenglischer Muttersprachen von Migranten bei gleichzeitig zunehmender Verweisung dieser Sprachen an immer weniger und engere Domänen der Sprachverwendung (1975: 144). Hier berührt die Sprachsoziologie Fragen der Spracheinstellungsforschung. 60 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="61"?> 2.4.5 Vergleichende und weiterführende Überlegungen Dittmar hat zusammenfassend einige charakteristische Unterschiede von vier soziolinguistischen Orientierungen, und zwar der Sozialen Dialektolo‐ gie oder Varietätenlinguistik, Sprachsoziologie, Ethnographie der Kommu‐ nikation und Konversationsanalyse - hier getrennt betrachtet - in einer schematischen Übersicht gegenübergestellt (1997: 99 f.). Dabei bleiben die verschiedenen Spielarten innerhalb der Rahmenvorstellungen unberück‐ sichtigt. Diese grob vereinfachende Tabelle wird in Tab. I.5 leicht modifiziert und um die Code-Theorie ergänzt wiedergegeben. Zur Erläuterung mögen nach den ausführlicheren Einzeldarstellungen einige Stichworte genügen: Zusammenfassende Charakterisierung 1. Im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse stellen, wie auch Dittmar anmerkt, die linguistische Position der Variationslinguistik und die soziologische der Sprachsoziologie quasi die beiden extrem entgegen‐ gesetzten Positionen dar, während in Ethnographie und Interaktions‐ linguistik pragmalinguistische Vorstellungen dominieren. 2. Bei der Datenbeschreibung spielen in der Sprachsoziologie kom‐ munikationsspezifische Regeln die geringste Rolle, während es in den übrigen Paradigmen um die Variation sozialen und sprachli‐ chen Verhaltens geht, die zum Teil korrelativ oder durch Variab‐ lenregeln erfasst (wie in der Variationslinguistik), zum Teil durch kommunikative Kompetenz erläutert werden (wie in Ethnogra‐ phie und Interaktionslinguistik). 3. Der Erklärungsansatz beruht bei den beiden letztgenannten auf qualitativen Überlegungen, während in der Variationslinguistik und Sprachsoziologie weitgehend quantitative Vorgehensweisen vorherrschen. 4. Dies schlägt sich in den verschiedenen Wegen der Feldforschung nieder: Ethnographie und interaktionale Linguistik bevorzugen teilnehmende Beobachtungen natürlicher Gespräche, die übrigen Ansätze setzen bevorzugt Interviewmethoden und Testverfahren ein (→-Kap. I.3). 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 61 <?page no="62"?> Code-Theorie Variationslinguistik Ethnographie der Kommuni‐ kation Interaktionale Soziolinguistik Sprachsoziologie Gegen‐ stand Schichtspezifische Sprechweisen Grammatische Va‐ riation und Sprach‐ einstellungen ›Ways of Spea‐ king‹/ soziolinguis‐ tische Stile und Re‐ gister Interaktive Konstruktion/ Orga‐ nisation des Diskur‐ ses Status und Funk‐ tion von Varietäten, Spracheinstellungen Erkent‐ nislei‐ tende Prinzi‐ pien (Theorie) Soziale Konsequen‐ zen schichtspezi‐ fischen Sprachge‐ brauchs Korrelativer Zusam‐ menhang soziologi‐ scher und linguisti‐ scher Kategorien Kontextspezifische Angemessenheit kommunikativer Mittel in Sprech‐ ereignissen Diskursorganisation als interaktives so‐ ziales Handeln Soziologische An‐ sätze zum domänen‐ spezifischen Sprach‐ gebrauch Beschrei‐ bung Normative Betrach‐ tung sozial bedingter Sprachunterschiede Systemlinguistische Beschreibung unter Rückgriff auf außer‐ sprachliche Faktoren Kontextsensitive Sprachgebrauchsre‐ geln für Sprechereig‐ nisse Instruktionsregeln zur Organisation des Diskurses durch Synchronisie‐ rung kommunikati‐ ver Mittel in Interak‐ tionen Muster und Regeln des Sprachwahlver‐ haltens unter domä‐ nenspezifischen Ge‐ brauchsbedingungen Erklä‐ rung Korrelative Analyse sprachlicher Struk‐ turen im Hinblick auf soziale Parameter Soziale Dynamik von Varietäten in Sprachgemeinschaf‐ ten/ Sprachwandel Funktionale Ange‐ messenheit kommu‐ nikativen Verhaltens in unterschiedlichen sozialen Kontexten Kommunikative Kompetenz: Syn‐ chronisierung von Verhaltensweisen in Interaktionen mit unterschiedlichen Zielen sozialen Han‐ delns Status- und Funkti‐ onsunterschiede von Varietäten, Relatio‐ nen zwischen mikro- und makrosoziolin‐ guistischen Aspek‐ ten 62 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="63"?> Code-Theorie Variationslinguistik Ethnographie der Kommuni‐ kation Interaktionale Soziolinguistik Sprachsoziologie Feldfor‐ schung Interview, Test Soziolinguistisches Interview (Quer‐ schnitt-studien), Tests Teilnehmende Beob‐ achtung Dokumentation in‐ teraktionalen Ver‐ haltens, Teilneh‐ mende Beobachtung Fragebögen/ Inter‐ views (Querschnitt‐ studien) Tab. I.2.5: Soziolinguistische Paradigmen im Vergleich (ergänzt und modifiziert v. E.N. nach Dittmar 1997: 99 f.) 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 63 <?page no="64"?> Greifen wir an dieser Stelle auf die in Kapitel I.1 genannten zentralen Aspekte für einen soziolinguistischen Zugang im engeren Sinne auf, so ist festzuhalten: Vergleich mit den zentralen soziolinguistischen Aspekten 1. Fokus auf soziale Differenz im Sprachgebrauch: Dieser Fokus wird von allen angeführten Ansätzen eingenommen. 2. Einbezug soziokultureller Bedingungskontexte (Auslösung und An‐ wendung): Auslösende Bedingungskontexte werden in der Code-Theorie mit den Faktoren der Schichtzugehörigkeit und des familialen Rollensystems in der kindlichen Sozialisation erfasst; der Anwen‐ dungskontext der Erziehung ist von herausgehobener Bedeutung. Auch bei Labov spielt die Schichtzugehörigkeit eine wichtige Rolle, daneben werden regionale Faktoren (Regional- und Ortsdia‐ lekt) berücksichtigt. Auch treten Stilvarianten (zwanglos, gewählt etc.) hinzu. Als weitere soziolinguistische Auslösefaktoren wer‐ den ethnische Zugehörigkeit (Black bzw. Standard-Englisch), das Alter bzw. die generationelle Zugehörigkeit und das Geschlecht relevant. Ethnographie und interaktionale Linguistik beziehen sich auf den Kontext und die einzelnen Faktoren von Sprechereignissen. In der Sprachsoziologie sind es die Werte einer Sprachgemeinschaft, die Domänen und einzelne soziale Situationen, die die individuellen wie kollektiven Sprachpräferenzen beeinflussen. Pädagogische Anwendungskontexte werden bei den vier letztge‐ nannten Ansätzen ausgeblendet. 3. Mehrdimensionalität der sprachlichen Variation: Das bleibt in der Code-Theorie Bernsteins unberücksichtigt und wurde hinlänglich kritisiert. Durch Einbezug des kommunikativen Kontextes bieten Ethnographie und interaktionale Linguistik dif‐ ferenzierte Erfassungen. Die Variationslinguistik Labovs bezieht die Stilvariation ein ebenso wie subjektive Wertungen, der auch von der Sprachsoziologie eine besondere Bedeutung zugewiesen werden, allerdings für Sprachgemeinschaften. 64 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="65"?> 4. Bedeutung subjektiver Faktoren: Diese werden in der Code-Theorie ausgeklammert. Explizite Be‐ rücksichtigung finden sie hingegen in Variationslinguistik und Sprachsoziologie, wie soeben ausgeführt. In Ethnographie und interaktionaler Linguistik werden subjektive Faktoren durch den Handlungskontext einbezogen. 5. Einflüsse auf Sprachwandel: Diese werden von Ethnographie und Interaktionslinguistik aus‐ geklammert. Sprachwandel wird hingegen bei Labov wie in der Sprachsoziologie relevant. Beide Ansätze haben speziell soziolin‐ guistische Zugänge zum Sprachwandel entwickelt. Diese stichworthaften Übersichten ersetzen keine eingehendere Analyse der einzelnen Ansätze und ihrer Varianten. Sie wollen aber Diskussionsan‐ reize zur vertiefenden Beschäftigung bieten. Viele einflussreiche internatio‐ nale und europäische Soziolinguisten sind hier zwangsläufig unerwähnt geblieben. Von den erörterten Theorieansätzen wird aktuell im Deutschen insbesondere auf die interaktionale Soziolinguistik rekurriert, so in den For‐ schungen von Kallmeyer und Keim, Auer, Kotthoff und Androutsopoulos, worauf wir noch eingehen werden. Nur kurz verwiesen sei hier auf die Position des französischen Soziolo‐ gen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu, auf den sich einzelne der ausführlicher dargestellten Ansätze beziehen lassen: Schon früh nahm Bourdieu mit Passeron zur sozialen Ungleichheit Stellung (Die Illusion der Chancengleichheit 1964, dt. 1971) und erörterte in seinen späteren Schriften die Bedeutung der Sprache (Aussprache, Akzent, Grammatik, Stil) als ein Instrument von symbolischer Macht und kulturellem Kapital. Über seine ethnologischen Perspektiven zeigt sich eine Nähe zu Hymes und dessen Kompetenzbegriff, während die linguistische Kategorie des Kontextes durch den soziologischen Begriff des (sprachlichen) Marktes und den marxistischen Begriffs des (kulturellen) Kapitals ersetzt wird. Das sprachliche Kapital kann auf verschiedenen Märkten als kulturelles und als ökonomisches Kapital wirksam werden. Die distinktiven Merkmale der sprachlichen Kompetenz fasst Bourdieu unter dem Terminus des Habitus, zu dem neben dem Sprachstil auch Geschmack und Lebensstil rechnen. Sie bilden ein System feiner Unterschiede (Die feinen Unterschiede 1979, dt. 1982), die als symbolische Machtbeziehungen wirken. Die Verbindung 2.4 Soziolinguistische Theorieansätze 65 <?page no="66"?> von linguistischen und soziologischen Konzepten erweist sich hier als weiterführend für die Soziolinguistik. 2.5 Zusammenfassung und Literatur Die Erhebung, Dokumentation und Analyse gesprochener Sprache sind wichtige Voraussetzungen für die Soziolinguistik. Die Forschungsentwick‐ lung seit den 1970er Jahren wird nachgezeichnet von der ursprünglich kontrastiven Analyse gesprochener und geschriebener Sprache über die Ge‐ sprächslinguistik bis zur Interaktionalen Linguistik. Soziolektale Merkmale werden an einem familialen Streitgespräch veranschaulicht. Die hier vorgestellten Forschungsparadigmen und Theorieansätze zur gesprochenen Sprache und Kommunikationsforschung, zur Code-Theorie und Variationslinguistik, zur Ethnographie der Kommunikation und inter‐ aktionalen Linguistik sowie zur Soziologie der Sprache dienen der theoreti‐ schen und begrifflichen Grundlegung der germanistischen Soziolinguistik. Wichtige Grundbegriffe konnten in ihrem theoretischen Kontext aufgezeigt werden. Die später vorgestellten Gegenstandsfelder (→ Kap. II) nehmen mit unterschiedlicher Gewichtung auf die einzelnen Ansätze Bezug. Eine einheitliche Ausrichtung ist in der Soziolinguistik hingegen nicht zu erken‐ nen. Zweifellos dominiert die Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache und Kommunikation. Auch hat sich gezeigt, dass eine rein deterministi‐ sche Sicht auf den Einfluss von sozialen Faktoren der Eigenaktivität der Sprachbenutzer nicht gerecht wird. Subjektive, gleichwohl sozial geteilte Faktoren spielen beim Sprachgebrauch eine wichtige Rolle, ebenso die sozialsymbolische Funktion von Sprache als Symbol sozialer Identität. Literatur (weiterführend) Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier Klaus J., Trudgill, Peter (Hg.) (2004/ 05): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch der Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/ Boston. Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit Aufga‐ ben. Tübingen. 66 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="67"?> Literatur (gesamt) Allport, Gordon W. (1935): Attitudes. In: Murchison, Carl (Hg.): A Handbook of Social Psychology. Worchester, 798-844. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, 22-47. Auer, Peter (2013/ 1999): Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. 2. Aufl. Berlin/ Boston. Bailey, Charles-James (1971): Trying to talk in the new paradigm. In: Papers in Linguistics 4, 312-338. Bernstein, Basil (1970): Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten. Aufsätze 1958-1970. Amsterdam. Bernstein, Basil (1972/ 1959): Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf. Bernstein, Basil (1975): Sprachliche Kodes und soziale Kontrolle. Düsseldorf. Bernstein, Basil (1977): Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Prozesses. Frank‐ furt/ M. Bernstein, Basil/ Oevermann, Ulrich/ Reichwein, Regine/ Roth, Heinrich (1970): Ler‐ nen und soziale Struktur. Aufsätze 1965-1970. Amsterdam. Besch, Werner/ Wolff, Norbert Richard (2009): Geschichte der deutschen Sprache. Längsschnitte - Zeitstufen - Linguistische Studien. Berlin. Bierbrauer, Günter (1976): Attituden - latente Strukturen oder Interaktionskonzepte. In: Zeitschrift für Soziologie I, 4-16. Birkner, Karin/ Peter Auer/ Angelika Bauer/ Helga Kotthoff (2020): Einführung in die Konversationanalyse. Berlin/ New York. Bohner, Gerd (2002): Einstellungen. In: Stroebe, Wolfgang/ Jonas, Klaus/ Hewstone, Miles (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung. Berlin/ Heidelberg, 265-31. Bourdieu, Pierre/ Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stutt‐ gart. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils‐ kraft. Frankfurt/ M. Colliander, Peter (2012): Phonetische Eindeutschung - was heisst das? In: de Matteis, Mario/ Kadzadej, Birkena/ Röhling, Jürgen (Hg.): Die Auslandsgermanistik im albanophonen Sprachraum. Oberhausen, 73-106. Deppermann, Arnulf (2008): Gespräche analysieren. Eine Einführung. 4. Aufl. Opla‐ den. Deutrich, Karl-Heinz/ Schank, Gerd (1973): Redekonstellation und Sprachverhalten I, II. In: Baumgärtner, Klaus/ Stegner, Hugo (Hg.): Funk-Kolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Bd.-2. Frankfurt/ M., 242-263. 2.5 Zusammenfassung und Literatur 67 <?page no="68"?> Dittmann, Jürgen (1979): Arbeiten zur Konversationsanalyse. Tübingen. Dittmar, Norbert (1973): Soziolinguistik. Exemplarische und kritische Darstellung ihrer Theorie, Empirie und Anwendung. Mit kommentierter Bibliographie. Frankfurt/ M. Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit Aufga‐ ben. Tübingen. Eichinger, Ludwig M. (2018): Entwicklungen im Deutschen. 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Tübingen. 68 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="69"?> Hymes, Dell (1973): Die Ethnographie des Sprechens. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd.-2: Ethnotheorie und Ethnographie des Sprechens. Reinbek, 338-433. Hymes, Dell (1979): Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation. Eingel. u. hrsg. v. Florian Coulmas. Frankfurt/ M. Imo, Wolfgang (2013): Sprache in Interaktion: Analysemethoden und Untersuchungs‐ felder. Berlin/ Boston. Imo, Wolfgang/ Lanwer, Jens (2019): Interaktionale Linguistik. Eine Einführung. Ber‐ lin. Kallmeyer, Werner (2000): Sprachvariation und Soziolinguistik. In: Häcki Buhofer, Annelies (Hg.): Vom Umgang mit sprachlicher Variation. Soziolinguistik, Dialekto‐ logie, Methoden und Wissenschaftsgeschichte. Tübingen, 261-278. 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Tübingen. 2.5 Zusammenfassung und Literatur 69 <?page no="70"?> Neuland, Eva (1975): Sprachbarrieren oder Klassensprache. Untersuchungen zum Sprachverhalten im Vorschulalter. Frankfurt/ M. Neuland, Eva (1980): Alltagsgespräche. Untersuchungen zu ihrer Struktur, Funktion und didaktischen Relevanz. In: Linguistik und Didaktik 43/ 44, 179-198. Neuland, Eva (1981): »Punkt zwölf muss et Essn auf ’m Tisch stehn! «. Analyse alltäglicher Kommunikation in einer Arbeiterfamilie. In: Linguistische Berichte 76, 64-90. Neuland, Eva (1993): Sprachgefühl, Spracheinstellungen, Sprachbewusstein. Zur Relevanz »subjektiver Faktoren« für Sprachvariation und Sprachwandel. In: Mattheier, Klaus J./ Wegera, Klaus-Peter/ Hofmann, Walter/ Macha, Jürgen/ Solms, Hans Joachim (Hg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Frank‐ furt/ M., 723-748. Neuland, Eva (2015): »Hey, was geht? « Beobachtungen zum Wandel und zur Differenzierung von Begrüßungsformen Jugendlicher. In: IDS-Sprachreport 1, 30-35. 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Neologismen im Deutschen 2001-2010. 2 Bde. Mannheim. Triandis, Harry C. (1975): Einstellungen und Einstellungsänderungen. Weinheim. Vandermeeren, Sonja (2004): Research on Language Attitude/ Spracheinstellungsfor‐ schung. In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J./ Trudgill, Peter (Hg.): Sociolinguistics/ Soziolinguistik. Berlin. 1318-1332. Wunderlich, Dieter (1976): Entwicklungen der Diskursanalyse. In: Wunderlich, Dieter (Hg.): Studien zur Sprechakttheorie. Frankfurt/ M., 293-395. 70 2 Forschungsparadigmen und Theorieansätze <?page no="71"?> Internetquellen Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (o.-J.): OWID - Online-Wortschatz-Informa‐ tionssystem. Abrufbar unter: https: / / www.owid.de/ (Stand: 01/ 06/ 2022) Selting, Margret et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2. In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 10 (2009), 353- 402. Abrufbar unter: http: / / www.gespraechsforschung-ozs.de/ heft2009/ px-gat2. pdf (Stand: 01/ 06/ 2022) 2.5 Zusammenfassung und Literatur 71 <?page no="73"?> 3 Forschungsmethoden Aus der Kritik an der als unzulänglich empfundenen empirischen Grundle‐ gung der Code-Theorie und Sprachbarrierenthese Bernsteins entwickelte sich in der deutschen Soziolinguistik alsbald eine fruchtbare Diskussion im Kontext von Soziolinguistik und Empirie. 3.1 Soziolinguistik und Empirie Schlieben-Lange hält als drei Aufgaben der Soziolinguistik fest (1973: 103): Aufgaben der Soziolinguistik: 1. Sie muss aktuelle Sprachproben beibringen, Texte, wie sie tatsäch‐ lich performiert werden. 2. Sie muss objektive Angaben zur Person und zu den Modalitäten der Sprachverwendung sammeln. 3. Sie muss die Einstellungen zu den verschiedenen Sprachformen ermitteln. Auf Kolloquien und in Sammelbänden konnte 1977 eine erste Bilanz aus laufenden Projekten gezogen werden. Hess-Lüttich urteilt in seiner Einlei‐ tung zum Band: Soziolinguistik und Empirie: Linguistik, verstanden als eine der Sozialwissenschaften, gründet ihre Urteile auf die Beobachtung wirklichen sprachlichen Verhaltens und Hypothesen über mögliche Sätze. (Hess-Lüttich 1977: 10) Als Wissenschaft, die sich mit sozialen Differenzen im Sprachgebrauch beschäftigt, ist die Soziolinguistik Sprachgebrauchsforschung und mithin eine empirische Disziplin. Löffler formuliert zwar noch die These vom »›integrativen‹ Charakter der Soziolinguistik als einer spekulativen Wis‐ senschaft auf empirischer Grundlage.« (2016: 46) Introspektion und Selbst‐ beobachtung hatten lange Zeit in der Sprachwissenschaft vorgeherrscht, <?page no="74"?> die sich zur Plausibilisierung ihrer theoretischen Einsichten konstruierter Beispielsätze bediente. Den intuitiv-heuristischen Verfahrensweisen aus der linguistischen Tradition wurde in der Weiterentwicklung der Soziolinguis‐ tik indessen immer weniger Aufmerksamkeit zuteil (vgl. dazu auch Dittmar 1973, Albert/ Marx 2017). Die Empirie, v. a. in interaktionalen Kontexten, hatten wir daher auch zu den konstitutiven Kennzeichen der hier dargestellten Soziolinguistik gerechnet (→ Kap. I.1). Gleichwohl gehen wir hier von einem offenen Empirieverständnis aus, das nicht nur quantitative wie qualitative Verfah‐ rensweisen unterscheidet, sondern auch nach den theoretischen Vorannah‐ men empirischer Untersuchungen fragt. Schlobinski weist zu Recht darauf hin, dass es in der Sprachwissenschaft »keine Theorie ohne Bezug auf sprachliche Daten und keine Empirie ohne theoretische Vorannahmen gibt (bzw. geben sollte).« (1996: 9) Insbesondere Labov hat sich in Auseinandersetzung mit Chomsky ausführlich mit der Empirie beim Studium der Sprache im sozialen Kontext befasst und Probleme der Redebehandlung diskutiert (1971: 116ff.), darunter: ● der ungrammatische Charakter der Rede, den er als einen Mythos bezeichnet ● Variation in der Rede und in der Sprachgemeinschaft, die seiner Ansicht nach nicht die Ausnahme, sondern den Normalfall darstellt. Schwierigkeiten beim Hören und Aufnehmen aktuellen Sprachgebrauchs und Seltenheit bestimmter grammatischer Formen werden zusätzlich als Er‐ schwernisse genannt. Für die Probleme von Sprachaufnahmen in natürlicher Umgebung hat Labov Lösungen entwickelt. Aus der Analyse soziolinguisti‐ scher Feldforschungsprojekte leitet er fünf methodologische Axiome ab, die zu dem bekannten Beobachter-Paradoxon führen: Methodologische Axiome des Beobachter-Paradoxons: 1. Stilwechsel, die bei allen Informanten auftreten 2. Aufmerksamkeit für die Kontrolle des eigenen Sprechens 3. Regionaldialekt (vernacular) als Stil, dem dieser Kontrolle die geringste Aufmerksamkeit geschenkt wird 4. Förmlichkeit, zu der jede systematische Beobachtung des Spre‐ chens führt 74 3 Forschungsmethoden <?page no="75"?> 5. brauchbare Daten zur Gewinnung von Sprechproben, v. a. Inter‐ views. Das Beobacher-Paradoxon lautet schließlich: Beobachter-Paradoxon Das Ziel der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Gemeinschaft muss sein, herauszufinden, wie Menschen sprechen, wenn sie nicht systematisch beobachtet werden; wir können die notwendigen Daten jedoch nur durch systematische Beobachtung erhalten. (Labov 1971: 135) 3.2 Forschungsablauf Soziolinguistische Untersuchungen lassen sich in verschiedene Stufen bzw. Phasen gliedern (dazu Schlobinski 2018: 37, Denzin 1970), die im Einzelnen kurz angesprochen werden sollen: 1. Fragestellung und Hypothesen: Dabei geht es zunächst darum, in der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Gegenstandsfeld präzise zu formulieren bis hin zu den Erwartungen oder konkreten Hypothesen. 2. Planung und Durchführung der Datenerhebung; dazu gehörten ggf. die Auswahl der Stichprobe und eventuelle Voruntersuchungen. 3. Aufbereitung und Darstellung der Untersuchungsergebnisse 4. Analyse und Interpretation der Daten, Beantwortung der einleiten‐ den Fragestellungen und Hypothesen Friedrichs (2003: 22) unterscheidet in den Methoden der empirischen Sozial‐ forschung fünf Phasen, wobei er zusätzlich noch zwischen Problembenen‐ nung und Gegenstandsbenennung differenziert (Abb. I.9). 3.2 Forschungsablauf 75 <?page no="76"?> Problembenennung Analyse Auswertungsverfahren Verwendung von Ergebnissen Gegenstandsbenennung Durchführung Anwendung von Forschungsmethoden I IV V II III Abb. I.3.1: Forschungsphasen (nach Friedrichs 2003: 22) Zur ersten Phase bzw. zum Übergang von Phase 1 zu 2 gehört auch speziell für die quantitativen Vorgehensweisen die Operationalisierung des Untersuchungsgegenstands und der theoretischen Vorannahmen, d. h. die Überführung in die in der Studie verwendeten Methoden. Angesprochen wird der Ziel-Mittel-Zusammenhang, also die Frage, wie ich etwas anhand welcher Variablen und mit Hilfe welcher Methoden überprüfen will. Fried‐ richs definiert: Unter Operationalisierung versteht man die Schritte der Zuordnung von empi‐ risch erfassbaren, zu beobachtenden oder zu erfragenden Indikatoren zu einem theoretischen Begriff. Durch Operationalisierung werden Messungen der durch einen Begriff bezeichneten empirischen Erscheinungen möglich. (Friedrichs 2003: 50) Bubenhofer hat für die Korpusanalyse das in Abbildung I.10 wiedergege‐ bene Diagramm für den Forschungsprozess entwickelt. Was hier am Beispiel der Korpusanalyse aufgezeigt wird, lässt sich auf andere Fragestellungen und Methoden übertragen: Wenn ich z. B. die Wortschatzkenntnis von Vorschulkindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten prüfen will und von der These ausgehe, dass Unterschichtkinder keine geringeren Leistungen als Mittelschichtkinder aufweisen, so kann ich das Konstrukt Wortschatzkenntnis durch einen Wortschatztest oder eben durch eine Korpusanalyse der gesprochenen Spontansprache überprüfen. Dabei stellt sich zugleich das Problem der Validität, d. h. prüfen die Tests wirklich das, was sie vorgeben? Weitere Gütekriterien der Reliabilität und der Objektivität sowie der Repräsentativität treten bei der Anwendung 76 3 Forschungsmethoden <?page no="77"?> von (auch selbstkonstruierten) Testverfahren hinzu, was hier nicht vertie‐ fend behandelt werden kann. Forschungsfrage These Operationalisierung Evaluation/ Interpretation Korpusanalyse Pretests Korpus festlegen Methoden festlegen Abb. I.3.2: Ablaufdiagramm (Bubenhofer 2006-2015) Eine für die Soziolinguistik wesentliche erhebungstechnische Schwierigkeit stellt die Zugänglichkeit der Informanten dar, wie Neuland ausführt: Gerade Unterschichtangehörige sind in dieser Hinsicht besonders empfindliche, wenn nicht sogar verunsicherte und eingeschüchterte Adressaten des Linguis‐ ten, mit einer möglicherweise bereits negativen Erwartungshaltung gegenüber der undurchschaubaren »Leistungssituation« und einer misserfolgmeidenden Einstellung gegenüber der eigenen Sprachleistung. (Neuland 1981: 65) Dies bestätigen einschlägige Erfahrungen bei der Gewinnung von Informan‐ ten aus vergleichenden Studien zum schichtspezifischen Sprachgebrauch von Vorschulkindern (vgl. Neuland 1975: 98 f.): Während die Mittelschicht‐ eltern durchwegs eine positive Erwartungshaltung für die Testleistungen ihrer Kinder zeigten (»Die/ Der xy kann schon gut Geschichten erzählen.« ) of‐ fenbarten Unterschichteltern oft eher eine negative Einstellung und suchten 3.2 Forschungsablauf 77 <?page no="78"?> nach Ablehnungsgründen (»Die/ Der xy hat ja so’n Anschlach an’ne Zähne.«). Schließlich sollte die Gefahr einer Instrumentalisierung der Informanten daher stets mitbedacht werden, wenn diese nicht angemessen über die Forschungsintentionen aufgeklärt werden. Besondere Sorgfalt muss auch der Objektivität der Erhebungsmetho‐ den gewidmet werden. Aus den frühen soziolinguistischen Studien ist zu schließen, wie groß die Gefahr eines middle class bias ist. Gerade die auf Standardisierung aller Ausgangsbedingungen und Kontrolle mög‐ licher intervenierender Variablen (z. B. subjektive Faktoren wie die unterschiedliche Motivation und die Situationsdefinitionen) bedachten vergleichenden Studien zeigen: »wie außerordentlich schwierig sich die Herstellung ›schichtneutraler Null-Punkt-Experimente‹ bzw. ›kulturfairer‹ Methoden gestaltet.« Dies belegen die kindlichen Reaktionen auf den für ›schichtneutral‹ gehaltenen Erzählanreiz einer beim Fußballspiel zerschla‐ genen Fensterscheibe (vgl. Neuland 1975: 172; →-Kap. II.1). In Einzelfall-Studien kann es sinnvoll sein, die Faktoren der Kommunika‐ tionssituation im Erhebungsverfahren nach dem ethnographischen Modell von Hymes (→-Kap. I.2.4.3) zu differenzieren, wobei schon die Unterschei‐ dung von setting und scene das Interpretationsgeschick des Analysierenden herausfordert. Hier berühren sich quantitative und qualitative Daten, wozu einige allgemeine Bemerkungen angebracht sein werden. Zuvor seien aber noch weitere grundlegende Unterscheidungen einge‐ führt: Subjektive Faktoren, wie sie bislang behandelt wurden, haben eine andere sprachliche Erscheinungsweise als die objektiven Sprachgebrauchs‐ daten selbst: Bei den erstgenannten handelt es sich z. B. um Meinungsäu‐ ßerungen über Sprache, für die sich aktuell die Bezeichnung: metaprag‐ matische im Unterschied zu pragmatischen Daten des Sprachgebrauchs eingebürgert hat, um der manchmal schiefen Optik der Gegenüberstellung von objektiven und subjektiven Daten zu entgehen. Nur kurz kann hier auf den Umgang mit gesprochensprachlichen und schrift‐ sprachlichen Daten eingegangen werden. Seit der Beschäftigung mit der gespro‐ chenen Sprache (→-Kap. I.2.1) sind verschiedene Transkriptionssysteme ent‐ wickelt worden, die teilweise auch paraverbales (Intonation, Lautstärke, Akzente, Lachen, Hüsteln etc.) und nonverbales Verhalten (Gestik, Mimik, Blickrichtungen, Körperhaltungen etc.) notieren. Solche multimodalen Performanzdaten werden für die interaktionale Soziolinguistik, besonders im Rahmen der Jugendsprach‐ forschung und der Genderlinguistik, immer bedeutsamer. Eine Erweiterung des multimodalen Ausdrucksfelds ist ebenso in der Schriftlinguistik zu verzeichnen. 78 3 Forschungsmethoden <?page no="79"?> Hier geht es um typographische Besonderheiten bis hin zu Smileys. Darauf werden wir in Kapitel II.5.5 zur gruppenspezifischen Variation von Schriftlichkeit zurückkommen. 3.3 Quantitative und qualitative Verfahren Dittmar hat diese idealtypisch einander gegenübergestellt (Dittmar 1997: 101f.): - - Quantitative Methoden Qualitative Methoden 1 Perspektive der Beobachtung ›Soziale Tatsachen‹ erhe‐ ben; ›Selbstexploration‹ der Informanten; kontrol‐ lierte, standardisierte, wie‐ derholbare Beobachtun‐ gen; Beobachtungsraster nach Theorievorgabe ›Binnenperspektive‹ er‐ schließen; teilnehmende Beobachtung; Handeln, Normen, Werte aus der In‐ teraktion erschließen; Be‐ obachtungsraster während der Beobachtung gewin‐ nen 2 Informantenwahl Stichprobe; Zufallsaus‐ wahl; statistisch repräsen‐ tativ; Vorgabe sozialer Merkmale Teilnahme an bestimm‐ ten Netzwerken, Handlun‐ gen, Interaktionen; Fall‐ auswahl; repräsentativ im Sinne von ›typische Fälle‹ 3 Art der Datener‐ hebung Standardisierte Befragun‐ gen nach vorgegebenen Kategorien; Daten müssen ›meßbar‹ sein (Skalen etc.); ›äußere‹ Beobachtungen teilnehmende Beobach‐ tung; Tagebuch; natürli‐ che Handlungen/ Interpre‐ tationen; Daten über Binnenperspektive (Werte, Normen) der Informanten 4 Beobachtungs‐ phase festgelegte, operationa‐ lisierbare Beobachtungs‐ terme auf der Folie der Theorie; Konstrukte Alltagssprache; Proto‐ kolle; Dokumente, Biogra‐ phien; Lebensgeschichte, Begriffe, Formulierungen, Stereotypen der Teilneh‐ mer 5 Auswertungs‐ phase Übersetzung der Rohda‐ ten in Variablen, Skalen; Zählen und Messen; sta‐ tistische Verfahren; Variab‐ lenregeln, probabilistische Grammatiken, Implikati‐ onsskalen Zuordnung der Beobach‐ tungen zu Typen, Verstehendbeschreibungen; konstitutive Regeln 3.3 Quantitative und qualitative Verfahren 79 <?page no="80"?> 6 Art der Aussagen Hypothesenüberprüfung; signifikante vs. nicht-si‐ gnifikante Ergebnisse etc. qualitativ distinktive Ty‐ pen von Handlungen, In‐ teraktionsweisen, Werte, Normen, Beziehungen etc. Tab. I.3.1: Quantitative vs. qualitative Methoden (nach Dittmar 1997: 101 f.) Schlobinski fasst zusammen: Quantitative Verfahren sind solche, bei denen das Operieren mit Zahlen eine zentrale Rolle spielt, qualitative sind solche, bei denen der Interpretationsprozess im Vordergrund steht und die sich auf der Folie hermeneutischer Verfahren entwickelt haben. Quantitative Verfahren sind letztlich statistische Verfahren, qualitative sind - zumindest in den Sprachwissenschaften - solche, bei denen Texte oder Diskurse nach einer bestimmten Methodik erhoben und interpretativ analysiert werden. (Schlobinski 2018: 35) Bei den quantitativen Erhebungs- oder Elizitierungstechniken gibt es einige kritische Punkte, von denen wir hier nur die Stichprobentechnik und die Standardisierung herausgreifen wollen. Schlobinski veranschaulicht die Stichprobenziehung wie in Abbildung I.11 gezeigt; der dargestellte Indukti‐ onsschluss ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn in der Stichprobe die gleiche Merkmalsausprägung vorliegt wie in der Grundgesamtheit. Eine Repräsentativität ist in den meisten soziolinguistischen Fällen damit nicht gegeben, vielleicht aber auch nicht notwendig. Die Schwierigkeit einer Standardisierung haben wir weiter oben bereits skizziert. Aus den bisherigen Ausführungen folgt das Fazit, dass quantitative und qualitative Verfahren keine Gegensätze darstellen; vielmehr muss auch nach ›verborgener‹ Qualität bei den quantitativen und umgekehrt nach ›verborgener‹ Quantität bei den qualitativen Verfahren gesucht werden (dazu auch Ehlich 1982). Eine Reflexion der Verfahrensweisen scheint unabdingbar. 80 3 Forschungsmethoden <?page no="81"?> Induktionsschluss Stichprobe Grundgesamtheit Abb. I.3.3: Stichprobenziehung (nach Schlobinski 2018: 40) In den letzten Jahrzehnten sind in verschiedenen Disziplinen zahlreiche Ver‐ öffentlichungen zur qualitativen Forschung erschienen (u. a. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1976, Soeffner 1979, Friebertshäuser/ Prengel 1997, Kallmeyer 2005, Flick 2014, Flick et al. (Hg.) 2016, Dittmar 2018). Einzelne Methoden wie die teilnehmende Beobachtung, Interviews (biographische, narrative) und Gruppendiskussionen wurden ausführlich mit Vorzügen und Schwächen diskutiert. Darauf soll hier nur verwiesen werden. 3.4 Erhebungsverfahren Daher wollen wir im Folgenden auch nicht mehr scharf zwischen qualitati‐ ven und quantitativen Verfahrensweisen trennen; vielmehr sollen diese im Einzelnen kurz angesprochen werden. Folgende Verfahren der Datenerhebung werden in der Fachliteratur grob und jeweils mit bestimmten Untergruppen unterschieden: Verfahren der Datenerhebung 1. Beobachtung, v.-a. teilnehmende 2. Befragung, v.-a. Fragebögen 3. Experiment und Testverfahren 3.4 Erhebungsverfahren 81 <?page no="82"?> 1.Beobachtung Beobachtungsverfahren spielen in soziolinguistischen Studien eine wichtige Rolle: Sie können in verschiedenen Formen erfolgen, die sich folgenderma‐ ßen unterscheiden: Aspekte von Beobachtungsverfahren 1. Strukturiertheit 2. Offenheit 3. Partizipation des Beobachters Um z. B. Unterrichtskommunikation frei von subjektiven Eindrücken ver‐ gleichbar und orientiert an unterschiedlichen Kriterien zu beobachten, ist das Flandersche Kategoriensystem entwickelt worden, in dem die Beobach‐ ter in bestimmten Zeitintervallen von drei Sekunden je eine Beobachtungs‐ kategorie protokollieren müssen. Dies erlaubt zwar eine gewisse Quantifi‐ zierbarkeit und Vergleichbarkeit, doch bergen die Kategorien selbst einen großen subjektiven Interpretationsspielraum, der Objektivität, Reliabilität und Validität des Verfahrens beeinflusst (z. B. Kategorie 1. Akzeptiert Gefühle). Verdeckte Beobachtungen gewähren in soziolinguistischen Studien sicher einen guten Einblick in spontanes Sprachverhalten (s. das Labov’sche Be‐ obachterparadox), doch stellen sich hier ethische und juristische Probleme, so dass von diesem Vorgehen eher abgeraten werden kann. Die teilnehmende Beobachtung ist zweifellos das am meisten ver‐ wendete Verfahren der soziolinguistischen Datenerhebung. Es stammt aus der Ethnologie und wurde vor allem im Paradigma der Ethnographie der Kommunikation eingesetzt (→ Kap. I.2.4.3). Es bedeutet, dass die Forscher Teil des sozialen Systems und des Interaktionsfeldes werden. So hat das in Kap. 2.1 dokumentierte und zu einem Streitgespräch eskalierende Gespräch zwischen den Eheleuten in dieser Form wahrscheinlich nur wegen der Anwesenheit des teilnehmenden Beobachters stattgefunden. Erst dadurch wurde eine neue Bühne für Selbstdarstellungen und Rollenzuschreibungen eröffnet, die für die beiden Eheleute schon längst bekannt und oft ausge‐ tauscht gewesen sein dürften. Für die Analyse von Peergruppengesprächen eignet sich diese Methode ebenfalls, wie schon Labov in seinen Untersu‐ 82 3 Forschungsmethoden <?page no="83"?> chungen zum Black English Vernacular von Jugendlichen in New York praktizierte. Um in der Rolle des >observer as participant< akzeptiert zu werden. haben sich einige Forscher etwa eine Zeitlang in den betreffenden Jugendgruppen einleben und integrieren müssen (z.-B. Chovan 2003). In soziolinguistischen Studien der jüngeren Zeit dominieren korpusana‐ lytische Verfahren in Form von Einzelfallstudien, in denen ein gegenstands‐ spezifisch valide erhobenes Korpus sprechsprachlicher Daten mit einem digitalen Instrumentarium beschrieben wird (korpusanalytische Verfahren). Dabei wird das mit Hilfe von detaillierten Transkriptionsverfahren (vgl. dazu Dittmar 2009) aufbereitete Datenmaterial nach verschiedenen linguis‐ tischen Parametern ausgewertet - allerdings mit dem Vorbehalt begrenzter Verallgemeinerbarkeit und Vergleichbarkeit. Dies gilt auch für die Analyse von Internetkommunikation mit dem zusätzlichen Validitätsproblem der Anonymität der Interaktanten. Bei der materialgeleiteten induktiven Vor‐ gehensweise ist die Auswahl der für die Fragestellung relevanten Analyse‐ kriterien besonders wichtig, wenn nicht nur eine nicht selten anzutreffende Paraphrasierung der Transkription als Ergebnis herauskommen soll. Mus‐ terhaftigkeit und Auftretensfrequenz der sprachlichen Merkmale sind daher von besonderer Bedeutung, um sich nicht in mehr oder minder großen Zufälligkeiten zu verlieren. 2. Befragung Befragungsmethoden sind ebenfalls sehr beliebt und werden oft in soziolin‐ guistischen Studien eingesetzt. Hierunter fallen insbesondere Interviews und Fragebogenerhebungen. Auch die verschiedenen Formen der Befragung können nach dem Parameter der Strukturiertheit unterschieden werden. So ist z. B. ein informelles Gespräch oder eine Gruppendiskussion in der Regel wenig strukturiert, ein Leitfadengespräch teilstrukturiert, Einzel- und Gruppeninterviews, telefonische Befragungen können wie Frageboge‐ nerhebungen im schriftlichen Bereich stark strukturiert sein. Je höher die Strukturierung, desto höher auch der Anteil messbarer, quantitativer Aspekte; je geringer der Strukturierungsgrad, desto höher der Anteil der in‐ terpretativen, qualitativen Aspekte (dazu Atteslander 2003: 145). Durch eine inhaltsanalytische Kategorisierung können allerdings auch umfangreiche freie Äußerungen in quantifizierbare Bestandteile gruppiert werden. Auch hier zeigt sich wieder die enge Verwobenheit qualitativer und quantitativer Verfahrensweisen. 3.4 Erhebungsverfahren 83 <?page no="84"?> Als Beispiel für eine offene Frage bzw. Aufforderung, deren Antworten von über tausend Jugendlichen für die Auswertung kategorisiert werden müssen, sei die folgende aus den Wuppertaler Studien zur sprachlichen Höflichkeit bei Jugendlichen genannt (Neuland et al. 2020: 51): Gib bitte ein Beispiel für sprachliche Höflichkeit. Für die Antworten wurden linguistische Kategorien gebildet wie z. B. Siezen, Danken und Dankerwiderungen, Begrüßen und Verabschieden. Sind die Kate‐ gorien induktiv sehr textnah gebildet, wirken sie zwar authentisch, sind aber nicht sehr systematisch, wie es in deduktiven Verfahren der Fall sein dürfte. So vermischen sich z.-B. Sprechhandlungen (wie oben angegeben), Höflichkeits‐ wörter (wie bitte und danke) mit grammatischen Kategorien (wie Konjunktiv, Modalpartikel) oder konkreten Beispieläußerungen (Hallo, wie geht es Ihnen? ). Dies ist bei Spracheinstellungsfragen noch virulenter, z. B. bei der Frage nach Gebrauchsbegründungen für Jugendsprache (Neuland 2016: 148): Rang Items* m** SD 1. das mache ich ganz automatisch/ aus Gewohnheit 3.93 1054 1.09 2. weil Jugendliche eben so sprechen 3.36 1043 1.23 3. weil das unkomplizierter ist als die Erwachsenensprache 3.28 1053 1.28 4. um Gefühle wie Ärger, Freude usw. auszudrücken 3.27 1043 1.29 5. um im Freundeskreis mitreden zu können 2.60 1045 1.21 6. um anders zu reden als Erwachsene 2.36 1051 1.56 7. um cool/ lässig zu sein 2.22 1041 1.21 8. ich gebrauche keine Jugendsprache 1.88 1028 1.05 Tab. I.3.2: Warum gebrauchst Du Jugendsprache? Häufigkeitsverteilung. *-Items aus Formulie‐ rungen Jugendlicher in Voruntersuchungen gewonnen; ** angegeben wurden Mittelwerte (m) und Standardabweichungen (SD) der Einschätzungen von 1 (trifft nie zu) bis 5 (trifft immer zu) 84 3 Forschungsmethoden <?page no="85"?> Diese Kategorien können selbstverständlich noch abstrakter formuliert und besser systematisiert werden. Zur Prüfung der Kategorienbildung kann auch auf die Ergebnisse von Pretests zurückgegriffen werden. Atteslander (2010: 161) veranschaulicht das Verhältnis von Strukturiert‐ heit, Standardisierung und Art der Fragestellung wie in Abbildung I.3.4 dargestellt: Interviewsituation Fragebogen Frage „offen - geschlossen“ „standardisiert - nicht-standardisiert“ „strukturiert - nicht-strukturiert“ Abb. I.3.4: Verhältnis von Strukturiertheit, Standardisierung und Art der Fragestellung (nach Atteslander 2010) Auf die Fachliteratur zu den verschiedenen Frageformen kann hier nur verwiesen werden. Als schriftliche Befragungsmethode wird in der Sozio‐ linguistik, namentlich in der Jugendsprachforschung. bevorzugt die Frage‐ bogenerhebung verwendet. Dies hat vielfach Kritik erfahren, wie schon zu Beginn der einschlägigen Forschungen die mündliche Befragung in Form von Gruppeninterviews. Die Beliebtheit dieser Verfahren liegt zweifellos darin, mit einem begrenzten Aufwand eine Menge an Daten mit dem Fokus auf Wortgebrauch und -bedeutungen zu erhalten. Doch sind mannigfache Reflexionen und Erprobungen der Methodenkonstruktion zu bedenken. So hatte Henne (1986) Schüler in sein Universitätsseminar eingeladen, um u.-a. Erkenntnisse über ihr Partnervokabular zu erhalten: »H: werden Freunde und Freundinnen angeredet? Das ist natürlich jetzt etwas schwierig … äh […] Sie sagen: mein Macker? «. Und etwas später: H: »Die Koseworte haben wir ja noch nicht gehört, irgendwelche … Mausi … Liebling […] na ja, ich mein’ das geht jetzt natürlich in Bereiche rein, die kann man praktisch nicht mehr generalisieren, nicht wahr […]« (Henne 1986: 131 ff.) 3.4 Erhebungsverfahren 85 <?page no="86"?> In der frühen Phase der Lexikologie der Jugendsprachforschung wurden so in mündlichen wie in schriftlichen Befragungsverfahren kontextisolierte Daten von beschränkter Aussagekraft gewonnen, die eine faktisch nicht ge‐ gebene Homogenität und Standardisierung jugendlichen Sprachgebrauchs nahelegten (vgl. dazu Neuland 2018). Im Wuppertaler Fragebogen, bundesweit an über 1000 Jugendlichen eingesetzt, wurde versucht, durch die Unterscheidung von Kenntnis und Ge‐ brauch, Skalierung der Gebrauchshäufigkeit sowie Angabe eines Beispiels im Situationskontext ein differenzierteres Ergebnis zu erhalten: Abb. I.3.5: Beispiel-Item aus dem Wuppertaler DFG-Projekt zur Jugendsprache (Neuland 2016: 46 sowie 2018: 82) 3. Experiment und Testverfahren Werfen wir abschließend zu den Erhebungstechniken noch einen Blick auf das Experiment, wiewohl es in soziolinguistischen Studien keine zentrale Rolle spielt. In der empirischen Sozialforschung, wo es hingegen als Königs‐ weg der Forschung gilt, wird stets auf die Definition von Zimmermann (1972: 37) verwiesen. Demnach ist das Experiment: eine wiederholbare Beobachtung unter kontrollierten Bedingungen; dabei wer‐ den eine bzw. mehrere unabhängige Variablen so manipuliert, dass eine Überprü‐ 86 3 Forschungsmethoden <?page no="87"?> fungsmöglichkeit der zugrundeliegenden Hypothese, d. h. der Behauptung eines Kausalzusammenhangs in unterschiedlichen Situationen gegeben ist. Atteslander veranschaulicht die soziale Situation im Experiment wie in Abbildung I.14 dargestellt. Was als Vorzug von Experimenten geltend gemacht wird: der hohe Grad an Kontrollierbarkeit, erweist sich zugleich als nachteilig in verschiedener Hinsicht: Die Kontrolle aller bedeutsamen Variablen und die Manipulation der Versuchsbedingungen führen zu einer Künstlichkeit des Verfahrens und des dargestellten Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, was ihrer Komplexität nicht gerecht wird. Diese Selektivität erschwert die Übertragbarkeit der Er‐ gebnisse und stellt ihre Allgemeingültigkeit in Frage. Mit Feldexperimenten, Simulationen und Planspielen als Varianten des klassischen Experiments wurde versucht, dessen Nachteile abzumildern. Daher ist es nicht erstaun‐ lich, dass sich diese Form der Datenerhebung in der Soziolinguistik, im Unterschied zur Psycholinguistik, nicht durchgesetzt hat. Soziale Situation verursachende Faktoren soziales Verhalten als bewirkter Faktor Person(en) unabhängige Variable abhängige Variable Abb. I.3.6: Soziale Situation im Experiment (nach Atteslander 2010: 199) Testverfahren werden dagegen in manchen soziolinguistischen Studien durchgeführt, so schon bei Lambert und dann Labov mit subjektiven Reak‐ tionstests (→ Kap. I.2). Das bekannteste Verfahren ist die matched guise- Technik, die Doppelrollen-Technik. Diese besteht aus Sprechproben z. B. von bilingualen Sprechern des Englischen und des Französischen in Kanada, die englischsprachigen und französischsprachigen Studierenden aus Quebec vorgespielt wurden, wobei diese davon ausgingen, dass es sich um verschie‐ dene Sprecher handelt. Dabei wurden die englischsprachigen Proben stets besser bewertet, z. B. im Hinblick auf Intelligenz, Zuverlässigkeit etc. Labov hat solche Tests im Hinblick auf Einschätzungen von Normorientierung oder auch Berufseignung (von einer TV-Persönlichkeit über eine Telefonistin bis zur Fabrikarbeiterin), Freundschafts- und Schlägerei-Skalen durchgeführt 3.4 Erhebungsverfahren 87 <?page no="88"?> (→ Kap. I.2.4.2, Abb. I.4 bis I.6). Die große Frage ist, ob die sozialen Bewer‐ tungen einheitlich in einer Sprachgemeinschaft oder aber sozial differenziert sind, je nach Beurteilungsdimensionen. Neuland hat eine Studie mit Dialektsprechern des Deutschen in diesem Paradigma durchgeführt: »Wie hört der sich denn an? « (1988) und dabei festgestellt, dass Sprecher mit ausgeprägteren Dialektmerkmalen beim Vorlesen eines Zeitungstextes stets negativer als standardnähere Sprecher eingeschätzt wurden. Ihnen wurde ein niedrigerer Schulabschluss, geringere Intelligenz und Selbstsicherheit, aber auch geringere Beliebtheit und Unter‐ haltsamkeit von Schülern und Studierenden unterstellt. Auf die Frage nach Prestige oder Stigma von Dialekten werden wir in Kapitel II.2 zurückkom‐ men. Schließlich wurde in verschiedenen Wuppertaler Studien, u. a. auch zur Interkulturellen Kommunikation, der Fragestimulus der critical inci‐ dents verwendet. Die ursprünglich von dem Psychologen Flanagan (1954) entwickelte CI-Technik wurde von uns erfolgreich eingesetzt, um interkul‐ turelle Vergleiche beim Kritisieren und Komplimentieren von studentischen DaF-Lernern aus verschiedenen Kulturen zu erfassen (vgl. z. B. Neuland 2011). Das konstruierte kritische Ereignis muss dem Erfahrungsbereich der Probanden entstammen und als realistisch und kulturfair aufgefasst werden. Ein Beispiel betrifft eine Besuchssituation zum Essen bei einem Dozenten oder einem Freund, wobei jedesmal die Suppe versalzen ist. Anhand von vier aus Voruntersuchungen gewonnenen und vorformulierten Auswahl‐ antworten und einer freien Kategorie sollen die Probanden nun einschätzen, welche Äußerung sie am ehesten bevorzugen würden. Auf diese Weise konnten wichtige kulturtypische Unterschiede im Umgang mit Kritik und Kompliment (z. B. im Hinblick auf den Direktheitsgrad der Äußerungen, auf den Einsatz von Witz und Ironie) und auf die Adressatendifferenzierung gewonnen werden. 3.5 Methodentriangulationen In der aktuellen empirischen Forschung haben sich in verschiedenen Diszi‐ plinen in der jüngsten Zeit mixed methods-Verfahren, v. a. sog. Triangulatio‐ nen durchgesetzt (v. a. Flick 2008, Ecarius/ Miethe 2011, Schreier/ Odag 2017), die die Nachteile einzelner Verfahren durch Kombination verschiedener 88 3 Forschungsmethoden <?page no="89"?> ausgleichen sollen. Mey et al. veranschaulichen dies wie in Abbildung I.3.7 dargestellt. Abb. I.3.7: Methodentriangulation und Mixed Methods (https: / / studi-lektor.de/ tipps/ qualit ative-forschung/ triangulation-mixed-methods.html) Durch die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven soll ein vertieftes und vielschichtiges Verständnis des Untersuchungsobjekts erreicht werden. So können einzelne Verfahren auch zur vorläufigen Exploration und/ oder abschließenden Überprüfung eingesetzt werden. In der empirischen Jugend‐ sprachforschung wird nicht nur eine große Palette der Forschungsmetho‐ den, sondern oft auch eine between method-Triangulation angewandt, wie der Sammelband Jugendliche im Gespräch dokumentiert (Neuland et al. 2018). In der Studie von Neuland et al. zum Umgang von Jugendlichen mit sprachlicher Höflichkeit (2020) wurde ein Fragebogen bei über 1.000 Ju‐ gendlichen und ein weiterer bei ca. 160 Lehrkräften eingesetzt. Weiter‐ hin wurden Spontandatenkorpora erhoben und in Unterrichtsgespräche, Pausengespräche und außerunterrichtliche Reflexionsgespräche in Form freier Gruppendiskussionen unterteilt, die sich in den Dimensionen von spontan-elizitiert und objektsprachlich-metasprachlich unterschieden. In der Tat differenzierten die Interaktionen je nach Gesprächstyp: 3.5 Methodentriangulationen 89 <?page no="90"?> Reflexionsgespräche Unterrichtskommunikation Pausenkommunikation • (A) elizitierte meta‐ sprachliche Äußerun‐ gen zum Thema Höf‐ lichkeit/ Unhöflichkeit - - • (B) spontane meta‐ sprachliche Äußerun‐ gen zum Thema Höf‐ lichkeit/ Unhöflichkeit • (B) spontane meta‐ sprachliche Äußerun‐ gen zum Thema Höf‐ lichkeit/ Unhöflichkeit • (B) spontane meta‐ sprachliche Äußerun‐ gen zum Thema Höf‐ lichkeit/ Unhöflichkeit • (C) spontanes höf‐ liches/ unhöfliches Sprachverhalten • (C) spontanes höf‐ liches/ unhöfliches Sprachverhalten • (C) spontanes höf‐ liches/ unhöfliches Sprachverhalten - • (D) methodisch abge‐ leitetes höfliches/ un‐ höfliches Sprachver‐ halten - Tab. I.3.3: Korpustypen und Arten von Sprachgebrauch (nach Neuland et al. 2020: 45) So macht es schließlich einen großen Unterschied, ob eine als höflich eingestufte Äußerung Jugendlicher im Unterricht spontan geäußert oder methodisch elizitiert wurde, ob sie in Form eines objektsprachlichen Bei‐ spiels (z. B. Das war richtich tofte! ) oder eines metasprachlichen Kommentars erfolgt (z.-B. Ich meine das ganz lieb! ). Die Verfasser haben eine eigenständige Korrespondenzdatenanalyse durchgeführt und folgern, dass der Vergleich beider (idealtypischer) Da‐ tentypen, also von pragmatischen Spontandaten und metasprachlichen Fragebogendaten die Funktion einer gegenseitigen Unterstützung erfüllen oder auch einen Widerspruch aufdecken und damit die Validität der Ergeb‐ nisse insgesamt stärken kann. Gesprächsdaten können die Fragebogendaten interaktional veranschaulichen, wie statistische Daten die Spontandaten verallgemeinern (Neuland et al. 2020: 31.). 3.6 Zusammenfassung und Literatur In diesem Kapitel wurden einige grundlegende Probleme empirischer Sprachforschung angesprochen (u. a. Zugänglichkeit der Informanten, 90 3 Forschungsmethoden <?page no="91"?> Schwierigkeiten der Standardisierung und der Operationalisierung, Güte‐ kriterien der Forschung) und Typen von Daten sowie Erhebungsverfahren vorgestellt (v. a. teilnehmende Beobachtung, Fragebogenmethoden, matched guise-Techniken und critical incidents-Methoden). Dabei wurde deutlich, dass nicht mehr scharf zwischen quantitativen und qualitativen Verfahren unterschieden werden kann. In der aktuellen Forschung werden daher mixed methods-Verfahren, v.-a. Triangulationen bevorzugt. Literatur (weiterführend) Dittmar, Norbert (2018): Datenerhebung qualitativ. Mit einem Ausblick auf Beschrei‐ bungsverfahren. In: Neuland, Eva/ Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in Gruppen. Berlin/ Boston, 52-84. Schlobinski, Peter (2018): Datenerhebung quantitativ. In: Neuland, Eva/ Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in Gruppen. Berlin/ Boston, 35-51. Literatur (gesamt) Albert, Ruth/ Marx, Nicole (2017): Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehr‐ forschung. Tübingen. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1976): Kommunikative Sozialforschung. Mün‐ chen. Atteslander, Peter (2003): Methoden der empirischen Sozialforschung. 10., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin. Atteslander, Peter (2010): Methoden der empirischen Sozialforschung. 13., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin. Bielefeld, Hans-Ulrich/ Hess-Lüttich, Ernest W. B./ Lundt, André (Hg.) (1977): Sozio‐ linguisik und Empirie. Beiträge zu Problemen der Corpusgewinnung und -aus‐ wertung. Mit einem Register laufender Forschungsprojekte der Empirischen Soziolinguistik von Ernest W.B. Hess-Lüttich. Wiesbaden. Chovan, Milos (2003): Kommunikative Praktiken in Peergruppen. Analysen und Ver‐ gleiche. In: Neuland, Eva (Hg.): Jugendsprachen - Spiegel der Zeit. Frankfurt/ M., 347-360. Denzin, Norman (1970): The Research Act. Theoretical Introduction of Sociological Methods. Chicago. Dittmar, Norbert (1973): Soziolinguistik. Exemplarische und kritische Darstellung ihrer Theorie, Empirie und Anwendung. Mit kommentierter Bibliographie. Frankfurt/ M. Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit Aufga‐ ben. Tübingen. 3.6 Zusammenfassung und Literatur 91 <?page no="92"?> Dittmar, Norbert (2009): Transkiption. Ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien. Wiesbaden. Dittmar, Norbert (2018): Datenerhebung qualitativ. Mit einem Ausblick auf Beschrei‐ bungsverfahren. In: Neuland, Eva/ Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in Gruppen. Berlin/ Boston, 52-84. Ecarius, Jutta/ Miethe, Ingrid (Hg.) 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Abrufbar unter: https: / / studi-lektor.de/ tipps/ qualitative-forschung/ tria ngulation-mixed-methods.html (Stand: 01/ 06/ 2022) 3.6 Zusammenfassung und Literatur 93 <?page no="95"?> II Ausgewählte Forschungsfelder <?page no="97"?> 1 Sprache und soziale Ungleichheit 1.1 Sprachliche Sozialisation, Sprachbarrieren und Sprachkompensatorik Wie bereits erwähnt, hat die Erforschung sozialer und regionaler Einflüsse auf den Sprachgebrauch als Initialzündung der Soziolinguistik Deutschlands gewirkt. Der heute noch aktuelle Grundgedanke lautet, dass die in den sozialen Schichten unterschiedlichen Formen sprachlicher Sozialisation der Kinder zu kultureller und sprachlicher Deprivation führen und Schulerfolg und sozialen Aufstieg beeinträchtigen können. 1.1.1 Elterliche Kontrolltechniken in der sprachlichen Sozialisation Nach Bernsteins Ausführungen zur sprachlichen Sozialisation erwirbt das Kind schon in der frühkindlichen Entwicklung vermittelt über den Sprach‐ gebrauch der Familie seine soziale Identität. Ein sprachliches Mittel dabei bilden Formen elterlicher Kontrolle, die wiederum mit dem Rollensystem und den Kommunikationsformen in der Familie zusammenhängen. Dabei unterscheidet er idealtypisch zwei Familientypen: positionale Familien mit klarer Rollentrennung und einem geschlossenen Kommunikationssys‐ tem und personale Familien mit einem offenen Kommunikationssystem. Nach Bernstein werden in der sozialen Unterschicht Imperative und verge‐ meinschaftende positionale Appelle (z. B. Alters- oder Geschlechts-Sta‐ tus-Regeln wie: Kleine Jungen spielen nicht mit Puppen! ) gegenüber individualisierenden personalen Appellen bevorzugt, die er der sozialen Mittelschicht zurechnet. Dies verdeutlicht er mit folgendem (konstruierten) Beispiel aus einer Mutter-Kind-Interaktion (Bernstein 1972: 200): Beispiel: Mutter-Kind-Interaktion Mutter: »Kinder küssen ihren Großvater.« (positional) Kind: »Ich möchte nicht - warum muss ich ihn immer küssen? « Mutter: »Es geht ihm nicht gut.« (positionaler Appell) - »Und jetzt genug mit deinem Unsinn! « (Imperativ) <?page no="98"?> Eine andere Mutter sagt in demselben Zusammenhang: »Ich weiß, dass du Großvater nicht küssen magst, aber es geht ihm nicht gut, er mag dich sehr gern, und es macht ihn sehr glücklich, wenn du ihm einen Kuss gibst.« Demnach wird durch den kindlichen Sprachgebrauch zugleich die darin aufgehobene soziale Erfahrung bekräftigt: So wie das Kind seine Sprache lernt, oder (…) wie es spezifische Codes lernt, die seine verbalen Akte regulieren, lernt es auch die Erfordernisse seiner Sozial‐ struktur. Die Erfahrung des Kindes wird transformiert durch den Lernprozess, der erzeugt wird durch die eigenen, scheinbar freiwilligen Sprechakte. Die Sozialstruktur wird auf diese Weise das Substrat der kindlichen Erfahrung, und zwar wesentlich durch die mannigfache Auswirkung des linguistischen Prozesses. Unter diesem Gesichtspunkt wird, sobald das Kind spricht oder hört, die Sozialstruktur in ihm verstärkt und seine soziale Identität gestaltet. (Bernstein 1972: 202) Abgesehen von den konkreten Benennungen und Beschreibungen ist dieser Grundgedanke heute noch aktuell. In einer Studie von Cook-Gumperz 1976 konnten die wesentlichen An‐ nahmen Bernsteins zur sprachlichen Sozialisation und den Konsequenzen für das Kind empirisch unterstützt werden: […] dass elterlicher Kontrollstil und kommunikative Kompetenz als ein subtilerer Zugang zum Verständnis der Unterschiede in der schulischen Leistung des Kindes betrachtet werden können, insofern auf diese Weise eine Einsicht darin gewon‐ nen werden kann, wie sich Schichtunterschiede im Verhalten manifestieren. (Cook-Gumperz 1976: 244) 1.1.2 Theorie der linguistischen Codes Den Zusammenhang von Sozialstruktur, sozialen Beziehungen und Sprech‐ akten, vermittelt durch linguistische Codes, will Bernstein in der Darstellung eines Interdependenzgefüges veranschaulichen, das allerdings keine letztli‐ che Klärung erbrachte. Bernstein entwickelte eine Theorie der linguistischen Codes als verbale Planungsstrategien, die in den verschiedenen Sozialschichten unterschied‐ lich ausfallen (→ Kap. I.2.4.1, Abb. I.2.1). Diese werden binär charakterisiert, 98 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="99"?> v. a. durch Grade lexikalischer und syntaktischer Vorhersagbarkeit, univer‐ salistische versus partikularistische Bedeutungen, und als restringierter und elaborierter Code benannt. So wird der restringierte Code nach Bernstein gekennzeichnet durch eine Art Mängelliste (→ Kap. I.2.2.1), die er mit den folgenden (ebenfalls konstruierten) Beispielen veranschaulicht: Beispiel: Restringierter Code Dies sind die zwei Geschichten: 1. Drei Jungen spielen Fußball und ein Junge schießt den Ball und er fliegt durch das Fenster der Ball zertrümmert die Fensterscheibe und die Jungen schauen zu und ein Mann kommt heraus und schimpft mit ihnen weil sie die Scheibe zerbrochen haben also rennen sie fort und dann schaut diese Dame aus ihrem Fenster und sie schimpft hinter den Jungen her 2. Sie spielen Fußball und er schießt ihn und er fliegt rein dort zertrümmert er die Scheibe und sie schauen zu und er kommt raus und schimpft mit ihnen weil sie sie zerbrochen haben deshalb rennen sie weg und dann sieht sie raus und sie schimpft hinter ihnen her. (Bernstein 1972: 267) Die Theorie der linguistischen Codes und die Vorstellungen einer Sprach‐ kompensatorik, die die vermeintlichen sprachlichen Defizite von Un‐ terschichtkindern im Hinblick auf die Norm des Sprachgebrauchs von Mittelschichtkindern ausgleichen sollte, haben sich auf die im Entstehen begriffene westdeutsche Soziolinguistik ausgewirkt. Die Studie des Sozio‐ logen Ulrich Oevermann (1972) leitet eine Reihe weiterer überwiegend korrelativer Studien zum sozialtypischen Sprachgebrauch von Kindern ein, darunter Wiederhold (1971), Bühler (1972), Oevermann (1972), Schlee (1973), Neuland (1975), Steinig (1976), Jäger (1978). In kontrastiven Vergleichen und zumeist orientiert an der Bernstein’schen Charakterisierung des elaborierten und des restringierten Codes wurden schichtspezifische Unterschiede im Sprachgebrauch des Deutschen von Kin‐ dern und Jugendlichen festgestellt, weiterhin größere Übereinstimmungen des schulischen Sprachgebrauchs von Lehrkräften, Lehrwerken und auch Schulleistungstests mit dem Sprachgebrauch von Mittelschichtangehörigen (middle class bias). Die These von Sprachbarrieren als Bildungshindernisse 1.1 Sprachliche Sozialisation, Sprachbarrieren und Sprachkompensatorik 99 <?page no="100"?> 2 Die Kursivierungen geben besondere Betonungen wider. für Schulerfolg und sozialen Aufstieg schien damit hinreichend belegt, nicht aber die defizitorientierten Beschreibungen der Sprache von Unterschicht‐ kindern. 1.1.3 Beispiel: Vorschulkinder erzählen eine Geschichte zu Ende Dazu seien die folgenden Beispiele von Vorschulkindern präsentiert. Sie stammen aus der Studie von Neuland (1975; Texte aus 1978: 17 f.). Kindern aus Akademiker- und aus Arbeiterfamilien wurde der Anfang einer Ge‐ schichte als Erzählanreiz geboten 2 : Beispiel: Vorschulkinder erzählen eine Geschichte zuende Interviewer: Das Fußballspiel Heute ist so schönes Wetter draußen. Die Kinder wollen auf die Straße gehen und spielen. Peter bringt einen großen Ball mit. »Au ja, ich habe eine Idee«, ruft Sabine. »wir spielen Fußball.« Das macht Spaß! Die Kinder schreien laut und rennen hinter dem Ball her. Plötzlich gibt es einen großen Krach. Der Ball fliegt mitten durch eine große Fensterscheibe. O je, jetzt ist die Scheibe kaputt! Was machen wir jetzt? Kannst Du Dir vorstellen, was die Kinder jetzt machen? Petra: (…) Dann. Dann. hat eine Mutter den anderen Kind ausgeschimpft, un da kam/ … Dann is der wieder zuhause gegangen. Hat die Mutter gesacht: »Warum bis du denn so spät nach Hause gekommen? « hat se gesacht. »Ich hab ’ne Fenster kaputtgemacht.« Dann . dann da sacht er: »Ich hab ’ne Fenster kaputtgemacht.« Un da hat er von ’ne Mutter se gekricht. I: Und was is mit dem Fenster passiert? Da? Haben sie wieder ein neues reingemacht. Un da mußte der . der Junge den bezahln, den Fenster. I: Hat da auch jemand geschimpft? Ja! Ja sicher, die Frau hat da geschimpft, is rausgekommn. 100 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="101"?> Bettina: (…) Un. dann sah die/ …un . dann sah . eine Mutter an dem Fenster das … un . kuckte un . sah das . das . Un . dann kam die Mutter raus un . un schimpfte, daß der Ball da in das Fenster reingeflogen is … I: Ja, und dann? Dann? Dann . sagte das Kind: »Na, was is’n da passiert? Da wird ich meiner Mami mithelfn, … das Fenster heilemachen . un . un schimpfn.« Un weiß du, was ich dann noch sage? … Dann? Dann hat das Kind so kräftich geschimpft, daß die weggerannt sind . Un die . un die hattn Geld grade noch für ein neuen Ball. I: Und wer muß die Fensterscheibe bezahlen? Die Kinder mü . mü . müßtn die Fensterscheibe bezahln. Dann . ka . ka . kamn die mit ein neuen Ba . Ball nach Hause . un haben sich neues Geld . Geld von seiner Spardose geholt. Karola: (…) Da müssen se die Scheibe bezahln. Die kostet so viel…Da kam ’ne Frau, hat gesacht . gesacht: »Wer hat datt denn gemacht? « Die sind weggerannt. Die Frau hat se noch gekricht. »Habt ihr datt gemacht? « »Ja«, haben se gesacht . un müssn die Scheibe bezahln. Dinah: (…) Da schimpft die Frau . un sacht: »Ihr könnt hier nich mit’m Ball spieln. Ihr könnt aufn Fußballplatz gehen mit’n Ball spieln . un da spieln se da. I: Und wer mußte die Fensterscheibe bezahlen? Die Kinder. Die Beurteilung der sprachlichen Leistungen der Kinder ist von den jeweils angelegten linguistischen Analyseaspekten und Wertmaß‐ stäben abhängig: Ausführlichkeit, Informationsdichte, Ausschmü‐ ckungen, Kohärenz, Erzählperspektive, Grammatikfehler u. a. m. können dabei beachtet werden; als inhaltliche Gesichtspunkte spielen u. a. der materielle Schaden, seine Behebung, Bestrafung der Kinder, alternative Spielmöglichkeiten eine Rolle. Jedes der vier Mädchen liefert eine andere Geschichte, jedes kommt aber auch mit einer anderen Familiengeschichte in die Schule und weist schon 1.1 Sprachliche Sozialisation, Sprachbarrieren und Sprachkompensatorik 101 <?page no="102"?> während der Grundschulzeit einen anderen Schulerfolg auf. Die zwei Mäd‐ chen aus Akademikerfamilien (Bettina und Dinah) kamen in der ersten Grundschulklasse gut mit; die beiden anderen wurden nach kurzer Zeit in die Sonderschule verwiesen. Die Klassifikationen: reichhaltiger, privilegier‐ ter und armer, stigmatisierter Sprachgebrauch reflektieren gesellschaftli‐ che Wertmaßstäbe, die linguistisch nicht zu begründen sind. Vielmehr verarbeiten die Kinder je spezifische Umwelterfahrungen, die sich in Auswahl und Gewichtung der inhaltlichen Aspekte niederschlagen (vgl. die Darstellung in Neuland 1975: 171 ff.). Die Erzählungen der Kinder weisen darauf hin, dass die Geschichte der zerbrochenen Fensterscheibe für die in einem gehobenen Neubauviertel wohnenden Vorschulkinder aus der Mit‐ telschicht weniger ihren persönlichen Erlebnisbereich anspricht, als es für die in einem Obdachlosenasyl wohnenden Unterschichtkinder der Fall ist. Das Beispiel verweist zugleich auf die Schwierigkeit, »schichtneutrale« Erzählanlässe zu finden. Für die Unterschichtkinder bilden der durch die zerbrochene Fensterscheibe verursachte materielle Schaden und die Bestrafung dafür wesentliche Erzählaspekte, für die Mittelschichtkinder wiegen dagegen stärker die Aspekte der Schadensbehebung und der Ersatz‐ möglichkeiten für das Fußballspiel (Neuland 1975: 213). Solche heute noch zum Nachdenken anregenden Befunde werden in der frühen deutschen Soziolinguistik als Argumente gegen die Defizitthese und für eine Differenzkonzeption zur Beschreibung der schichtspezifischen Sprachunterschiede gewertet. Beispiele für die lebhafte kontroverse Dis‐ kussion bilden Dittmar (1973: 130 ff.), Hess-Lüttich/ Steinig (1973), Ammon (1975: 96 ff.), Neuland (1977: 9 ff.) u.-a. Auch Ammon (1972b) griff in einer frühen Studie das Thema Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule auf und trug damit zu einer spezifisch deutschen Variante der Sprachbarrierenforschung bei, indem er den Dialekt als Sprachbarriere untersuchte (→ Kap. II.2). In seiner Studie über Dialekt und Einheitssprache in ihrer sozialen Verflechtung (1972a) weist er den vernachlässigten Aspekt von Sprache und sozialer Ungleichheit bei Dialekt‐ sprechern nach und macht auf ihre Probleme beim Lesen, Rechtschreiben und der mündlichen wie schriftlichen Textproduktion aufmerksam (→ Kap. III.1). Vor allem Löffler hat sich um eine differenzierte Erfassung dialektbe‐ dingter Schwierigkeiten beim Erwerb der Standardsprache bemüht (1972). Diese beruhen oft auf Strukturdifferenzen zwischen dialektaler Ausgangs‐ sprache und standardsprachlicher Zielsprache und können zu Interferenz‐ 102 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="103"?> fehlern (z.B. Köllchrank) oder Hyperkorrekturen (z. B. sparzierengehen) führen (vgl. Schüwer 1977). 1.2 Sprachdefizite und Sprachdifferenzen Die Theorie der linguistischen Codes und das Bernstein-Oevermann-Para‐ digma der sog. Defizithypothese wurde einer heftigen theoretischen wie methodischen Kritik unterzogen. Kritik an der Defizithypothese betrifft ● die vorpragmatischen linguistischen Annahmen und wertgebun‐ denen linguistischen Beschreibungen, den »middle class bias« der zugrundegelegten Sprach(bewertungs)normen, ● den unterstellten Zusammenhang zwischen Sprache und Denken (einfache bzw. komplexe Sprache = einfaches/ komplexes Denken) ● die zu einfachen sozialen Schichtungsmodelle und die soziologi‐ schen Zuordnungen, ● die voreiligen Didaktisierungen und die mangelnde Sprachdiag‐ nostik und Evaluation kompensatorischer Maßnahmen. Studien wie die von Neuland (1975) wandten sich bereits scharf gegen die Defizithypothese und verstanden sich als Beiträge zu einer Differenzkonzep‐ tion. Diese bezog sich auf das vom amerikanischen Linguisten William Labov (1976/ 78) vertretene Sprachvariationskonzept und seine Studien zum Nonstandard English und dessen systematische Abweichungen vom Standard (→ Kap. I.2). Die daran orientierte Differenzhypothese im deutschen Sprachraum betonte die aufgrund der unterschiedlichen sozia‐ len Erfahrungen differenten schichtspezifischen Sprachgebrauchsweisen, ohne diese einer normativen Wertung zu unterziehen. Neuland (1975) veranschaulichte diese These mit dem Modell von sich nur teilweise überschneidenden Kreisen im Unterschied zur Defizithypothese, die vom Sprachgebrauch der unteren sozialen Schichten als geringere Teilmenge des Sprachgebrauchs von Mittelschichtangehörigen ausging. Dieses Modell wurde durch differenzierte Analysen insbesondere auf der lexikalischen und semantischen sowie inhaltlichen Ebene unterstützt, die auf gemeinsame 1.2 Sprachdefizite und Sprachdifferenzen 103 <?page no="104"?> schichtübergreifende und je schichtspezifische Repertoires hinweisen (für die Kinder der Mittelschichtgruppe z. B. differenzierte Bezeichnungen für Kleidung, Diminutivformen, kindersprachliche Ausdrücke, für die der Un‐ terschichtgruppe z. B. für Süßigkeiten, Strafen, aggressive Handlungen) (Neuland 1975: 203 ff.). Mittelschicht Mittelschicht Unterschicht Unterschicht Abb. II.1.1: Symbolisierungen der Defizit- und der Differenzkonzeption schichtspezifischen Sprachgebrauchs (nach Neuland 1975: 219 ff.) Wie Abbildung II.1.1 verdeutlicht, setzte die Defizitkonzeption den Sprach‐ gebrauch von Mittelschichtangehörigen als Norm, den von Unterschichtan‐ gehörigen dem gegenüber als mangelhafte Teilmenge. Dieses als Mangel gegenüber der Mittelschichtnorm symbolisierte Defizit sollte durch schon bei Bernstein postulierte sprachkompensatorische Maßnahmen behoben werden. Allerdings hatte sich schon Bernstein selbst kritisch gegen den »Unfug mit der kompensatorischen Erziehung« (1970) gewandt, die von den Problemen der Bildungsinstitutionen ablenke und die Kinder als unvollstän‐ dige Systeme betrachte (1972: 281); (→-Kap. III.1). Der bildungspolitische Wandel, der auf die konstatierte Bildungskata‐ strophe (so Picht 1964) und die damals radikale Forderung Bildung ist Bürgerrecht (so Dahrendorf 1965) folgte, sowie die fachlichen Weiterent‐ wicklungen der Forschungen zur Sprachvariation und die Verlagerung der Forschungsinteressen zur Gender- und Migrationslinguistik trugen zu einem Erliegen der wissenschaftlichen Diskussion um das Sprachbarrie‐ renthema bei. Das bedeutet aber keineswegs ein Ende der Debatte um die soziale Ungleichheit. Das schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems in 104 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="105"?> 3 Vgl. Datenreport 2018 der Bundeszentrale für politische Bildung, SZ v. 15.11.2018: Das Land der großen Unterschiede: Kinder aus sozial schwachen Familien haben schlechte Chancen. Schulleistungstest wie PISA zeigt, wie notwendig und wichtig sie nach wie vor ist (vgl. der sog. Pisa-Schock 2000). Auch neueste Befunde zur sozial differenzierten Schulbildung in Deutschland weisen noch eine Bildungs‐ benachteiligung nach. Ein Ende der Debatte um die Sprachbarrieren gilt ebenfalls nicht für den öffentlichen Sprachgebrauch, in welchem die Rede von Sprachbarrieren als eine Metapher für Kommunikationsprobleme jeglicher Art immer noch stark verbreitet ist (vgl. dazu schon Mattheier 1974). Das »Überwinden von Sprachbarrieren« ist bereits zu einem geflügelten Wort geworden. Die heutige soziolinguistische Forschung zum Komplex soziale Ungleichheit vermeidet v. a. die Zuordnung der Probanden zu sozialen Schichten, da sich diese Modelle angesichts der gesellschaftlichen Differenzierung als zunehmend problematisch erweisen. Das Problem sozialer Ungleichheit bzw. unterschiedlicher Teilhabechancen, wie es heute heißt, ist allerdings nach wie vor aktuell. Dies wurde dem deutschen Bildungssystem nicht nur durch die ländervergleichenden PISA-Studien bescheinigt. Vielmehr belegen neueste Befunde zur sozial differenzierten Schulbildung, dass nur 7 % der Gymnasiasten aus Elternhäusern mit Hauptschulabschluss stammen, gegenüber 65 % aus Elternhäusern mit Abitur/ Fachhochschulreife. 3 Die Studie von Quasthoff/ Krah (2015) kann nachweisen, dass die familiale Kommunikation immer noch eine wichtige Ressource für die Entwicklung der Argumentationskompetenz von Kindern darstellt. Damit eröffnen sich aktuelle interaktionslinguistische Perspektiven für den frühen soziolinguis‐ tischen Forschungsschwerpunkt Sprache und soziale Ungleichheit. 1.3 Alte und neue Sprachbarrieren Heute ist auch vielfach von »neuen Sprachbarrieren« die Rede; das soll an einigen Beispielen illustriert werden (vgl. dazu auch Kellermeier-Rehbein 2017). 1.3 Alte und neue Sprachbarrieren 105 <?page no="106"?> 4 Laut Bildungsbericht haben z. B. unter den Kindern und Jugendlichen mit Migrati‐ onshintergrund zwischen 6 bis 12 % der Eltern die schulische Ausbildung lediglich auf Grundschulniveau beendet; unter denen ohne Migrationshintergrund sind dies nur rund 1 % der Eltern (2016: 168). Generell erschweren die sehr unterschiedlichen Datenlagen Vergleiche. 1.3.1 Deutsch als Zweitsprache Damit wird überwiegend der Bereich Deutsch als Zweitsprache angespro‐ chen und der Schwerpunkt der Betrachtung auf die unzureichende Beherr‐ schung des Deutschen als Bildungshindernis für Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Muttersprache gelegt (vgl. v. a. Gogolin et al. 2013), während die zusätzlichen Kompetenzen und der Wert der Mehrsprachigkeit oft weniger Beachtung finden (→ Kap. II.7). Damit ergibt sich eine Fortsetzung wie Potenzierung der mittlerweile in Deutschland nicht mehr so aktuellen These vom Dialekt als Sprachbarriere. Die Potenzierung ist durch die un‐ terschiedlichen sprachlichen Ausgangssysteme bedingt; die Fehlleistungen der Interferenz und der Hyperkorrektur ähneln sich hingegen und steigern sich noch als verdeckte Sprachschwierigkeiten mit vermehrtem Einsatz von Schriftlichkeit im Laufe der Schulzeit, oft in Verbindung mit einer eingeschränkten Weiterentwicklung der jeweiligen Erstsprachen. Die These von einer doppelten Halbsprachigkeit, d. h. unzureichender sprachlicher Kompetenzen in Erst- und in Zweitsprache hat in den vergangenen Jahr‐ zehnten in Wissenschaft wie Öffentlichkeit Befürworter wie aber auch Gegner wie z.-B. Brizic (2009) und Franceschini/ Saxalber (2016) gefunden. Wie die Daten des Bildungsberichts von 2016 belegen, zeigt sich ein deut‐ liches Ungleichgewicht bei der Verteilung auf verschiedene Schultypen mit höheren Bildungsabschlüssen zuungunsten von Schülern mit Migrations‐ hintergrund, was für ein Fortbestehen sozialer Ungleichheit und Bildungs‐ disparität spricht 4 . Kinder von im Ausland geborenen Eltern haben bereits in der Grundschule einen Nachteil von rund einem Lernjahr gegenüber Kindern ohne Migrationshintergrund (Daten von 2011), wobei sozio-öko‐ nomische Faktoren besonders ausschlaggebend wirkten. Hinsichtlich der Beteiligung an weiterführenden Schulen sind eklatante Unterschiede be‐ merkbar: Während deutsche Jugendliche im Schuljahr 2014/ 15 fast zur Hälfte am Gymnasium sind (rund 44 %) und nur zu 8 % an Hauptschulen, besucht lediglich knapp ein Viertel (24 %) der ausländischen Jugendlichen das Gymnasium und ein weiteres Viertel (25 %) die Hauptschule. Die all‐ gemeine Hochschulreife erreichen Jugendliche mit Migrationshintergrund 106 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="107"?> mit Studienberechtigung immer noch deutlich seltener (16 %) als deutsche Jugendliche (44-%). 1.3.2 Deutsch als Bildungssprache Angeregt aus der Sprachpädagogik wird auch die Forderung erhoben, Deutsch als Bildungssprache in der Schule zu vermitteln. Damit ist ein Sprachgebrauch gemeint, der u. a. durch einen hohen Grad an konzeptionel‐ ler Schriftlichkeit und einen Fachwortschatz gekennzeichnet ist (u. a. Feilke 2012, Augst 2020, Gogolin/ Lange 2011, Gogolin et al. 2013). Eine Gleichset‐ zung mit dem elaborierten Code aus der alten Sprachbarrierendebatte liegt nahe. Die Bildungssprache wird als ein Register beschrieben, das der Fach- und der Wissenschaftssprache im Hinblick auf Schriftlichkeitsorientierung, Formalität, Abstraktion und Komplexität gleicht, aber zur Alltags- und zur Schulsprache kontrastiert. Funktional soll die Bildungssprache vor allem der Explizierung, Verdichtung und Verallgemeinerung dienen, was zu einer komplexen Grammatik führt, z. B. zu Passivkonstruktionen und Konjunktivverwendungen. Dies zeigt sich auch im Wortschatz in Form von Nominalisierungen, Komposita und Partizipialattributen. Literatursprache Wissenschafstssprache Rechtssprache Schriftsprache Schulsprache ՚ classroomlangguage՚ Schulsprache i.w.S. Lernen & Lehren • Sprache des Lernens • didaktisch genutzte Sprache • einzelsprachliche Ressource • Sprache des Lehrens • didaktisch gemachte Sprache • schulische Tradition Bildungssprache Bildungssprache Abb. II.1.2: Begriffliches Umfeld der Bildungssprache (Feilke 2012: 6) 1.3 Alte und neue Sprachbarrieren 107 <?page no="108"?> Eine Gleichsetzung mit dem elaborierten Code aus der Sprachbarrierendebatte liegt nahe, wird aber selten thematisiert und macht die genauere Erforschung von Variablen wie soziale Herkunft, ethnische Herkunft und Schulerfolg not‐ wendig. Solchen Fragen sind in der jüngsten Vergangenheit verschiedene Studien der empirischen Bildungsforschung nachgegangen (u. a. Nauck/ Schnoor 2015). In der Studie von Schnoor (2019) wurden überdies bildungssprachliche Deutschfähigkeiten zur Erklärung der herkunftsbedingten Bildungsungleichheit zwischen deutschen, vietnamesischen und türkischen Schülern in den Blick genommen. Solche bildungssprachlichen Kompetenzen werden als ein wichtiges Zwischenglied im Prozess der intergenerationellen Statustransmission und Wohlfahrtsproduktion angesehen. Beide Migrantengruppen wiesen dabei signifikant geringere Fähigkeiten als die deutsche Referenzgruppe auf, wobei die Schüler vietnamesischer Herkunft signifikant über dem der türkischen Gruppe liegen. Der hohe Bildungserfolg der vietnamesischen Gruppe, so schließt der Verfasser, ist demnach: nicht mit ihren bildungssprachlichen Deutschfähigkeiten zu begründen. […] Bezüglich der Koppelung der bildungssprachlichen Deutschfähigkeiten an die soziale Herkunft ist diese in der deutschen Herkunftsgruppe mit 21 % der Varianz‐ aufklärung am stärksten. (Schnoor 2019: 151) Die entsprechenden Daten für die türkische Gruppe lauten: 17 %, für die viet‐ namesische 11 %. Das Akkulturationsverhalten (bessere Deutschfähigkeiten der Mutter, Besuch einer Kindertagesstätte) löst hier signifikante Effekte aus. Bessere bildungssprachliche Fähigkeiten spielen damit zwar bei deutschen, nicht aber bei Schülern mit Migrationshintergrund eine entscheidende Rolle als ›kulturelles Kapital‹ und sollten daher auch nicht überbewertet werden. Kontrastiv zum Konzept einer Bildungssprache sind Impulse aus den Inklusionsdebatten um eine leichte Sprache zu verzeichnen, die sozusagen einen barrierefreien Zugang Aller erlauben soll (vgl. dazu u. a. Der Deutsch‐ unterricht 5/ 2018). Dabei sollen v. a. Fach- und Fremdwörter sowie Mehr‐ deutigkeiten vermieden, bekannte Wörter und kurze Sätze bevorzugt und Alltags- und Adressatennähe, strukturelle Einfachheit und Transparenz, Di‐ rektheit und Orientierung am Hier und Jetzt bewirkt werden (Bredel/ Maaß 2018: 4). Dazu ein Beispiel: 108 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="109"?> Beispiel Schlecht: Wenn Sie mir sagen, was Sie wünschen, kann ich Ihnen helfen. Gut: Ich kann Ihnen helfen. Bitte sagen Sie mir: Was wünschen Sie? Abb. II.1.3: Beispiel aus Netzwerk Leichte Sprache (Bock 2018: 17) Um das Konzept einer leichten Sprache hat sich eine heftige Kontroverse entwickelt, die sich u. a. um den Einsatz für historische und literarische Texte und die Nutzung im Sprachunterricht dreht. Darauf kann hier nur verwiesen werden. 1.3.3 Weitere Kontexte Ein weiterer Bedeutungskontext neuer Sprachbarrieren ist mit der Nutzung elektronischer Medien angesprochen. Hier wird zwischen digital natives und digital immigrants unterschieden (Prensky 2001). Mit letzterem sind ältere und ungeübte sowie eventuell auch ärmere Nutzer (→ Kap. II.8) gemeint, für die sich der erschwerte Zugang zu den neuen Medien als Sprachbarriere erweisen kann. Nicht zuletzt kann auch (Standard)Deutsch als eine Sprachbarriere für die internationale Kommunikation wirken, wenn man Englisch nicht gut genug beherrscht. Weitere Bedeutungszuschreibungen sind möglich und sprechen für die Fruchtbarkeit der Metapher der Sprachbarrieren, trotz aller Fragwürdigkeit ihres linguistischen Fundaments und aller Unklarheiten der empirischen Fundierung. Unbeschadet von solchen Konjunkturen ist der Komplex von Sprach‐ einstellungen und Sprachbewertungen als soziolinguistisches Querschnitts‐ thema aktuell geblieben. 1.3 Alte und neue Sprachbarrieren 109 <?page no="110"?> 1.4 Soziale Einstellungen Als wichtige Variable im Zusammenhang mit sozialen und regionalen Einflüssen auf den Sprachgebrauch und seine Auswirkungen haben sich die subjektive Sprachbewertung bzw. die Spracheinstellung erwiesen (vgl. Neuland 1988, 1993). Aktuell wird für Teile dieses Kontexts auch der Termi‐ nus des Enregisterments verwendet (Agha 2007). Sprechern, die sub- und nonstandardsprachliche Merkmale in ihrem Sprachgebrauch aufweisen, werden im Urteil von Laien, aber auch von z. B. Lehramtstudierenden und Lehrkräften, oft negative Eigenschaften (hört sich ungebildet an, wie jemand vom Lande u. a.) zugeschrieben, was sich in bestimmten Kontexten als self-fulfilling prophecy erweisen kann. Während die strukturalisti‐ sche Linguistik solche subjektiven Daten nicht ernst genommen und als unwissenschaftlich beiseitegeschoben hat, bilden sie seit Anbeginn ein wichtiges Forschungsfeld der Soziolinguistik, vor allem bei Labov (→-Kap. I.2). Fishman verweist auf die Erforschung des symbolischen Werts von Sprachvarietäten als eine der Aufgaben der Soziologie der Sprache (1975: 17). Während die Forschung zu language attitudes im Bereich der sozialen Dialektologie durch die perzeptive Dialektologie auch in Deutschland wieder zugenommen hat, ist sie in der germanistischen Soziolinguistik bis auf wenige Ausnahmen weitgehend versandet bzw. nie so richtig in den Fokus genommen worden. 1.5 Zusammenfassung und weiterführende Literatur Das Thema: soziale Ungleichheit in der Sprache diente als eine Initialzün‐ dung der bundesdeutschen Soziolinguistik. Die heute noch aktuellen und zum Nachdenken anregenden Grundgedanken zur sprachlichen Sozialisa‐ tion werden vor dem damaligen bildungspolitischen Hintergrund der Bil‐ dungskrise und angesichts fortbestehender unterschiedlicher Teilhabechan‐ cen sozial schwacher Gesellschaftsgruppen vorgestellt und an Beispielen veranschaulicht. Die Studien von Basil Bernstein fanden in Deutschland eine intensive Rezeption und führten zu vergleichbaren empirischen Studien und zur Forderung pädagogischer Konsequenzen der Sprachförderung. Anfangs auf die Kontroverse zwischen Defiziten oder Differenzen im Sprachge‐ brauch konzentriert, kam die Debatte um Sprachbarrieren und Sprachkom‐ pensatorik bald zum Erliegen. Das Erkenntnisinteresse an sprachlichen 110 1 Sprache und soziale Ungleichheit <?page no="111"?> Formen sozialer Ungleichheit bleibt in der Soziolinguistik weiter bestehen; der Terminus Sprachbarrieren wird heute breiter verwendet. Neue Sprach‐ barrieren können v. a. Deutsch als Zweitsprache und als Bildungssprache darstellen. Literatur (weiterführend) Ammon, Ulrich (1975): Differenz- oder Defizithypothese schichtenspezifischer Spra‐ che? In: Ammon, Ulrich/ Simon, Gerd (Hg.): Neue Aspekte der Soziolinguistik. Weinheim, 96-121. Neuland, Eva (1979): Soziolinguistik und Sprachunterricht. In: Boueke, Dietrich (Hg.): Deutschunterricht in der Diskussion. Forschungsberichte. Bd.-1. 2., erw. u. bearb. Aufl. Paderborn, 240-288. Hess-Lüttich, Ernest/ Steinig, Wolfgang (1973): Defizit oder Differenz? 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In diesem Kapitel verfolgen wir die Entwicklung dieser Diskussion angesichts der Veränderungen im regionalen Varietätengefüge im heutigen Deutsch bis zur Stadtsprachenforschung und zur Perzeptiven Dialektologie. 2.1 Dialekt als Sprachbarriere und Dialekt - Hochsprache kontrastiv Im Vordergrund der dialektologischen Forschung stand von jeher die raum‐ bezogene Betrachtungsweise in Form der Dialektgeographie (vgl. z. B. Goossens 1977). Löffler frmuliert: Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Sprachbarrieren, d. h. den sprach‐ lich bedingten und daher mit Mitteln der Linguistik beschreibbaren Hinder- und Hemmnissen innerhalb des Schul- und Bildungsbetriebes, wird Mundart als eine Sonderform von regionaler und sozialer Sprachbarriere genannt. (Löffler 1974: XI) Eine gesellschaftsbezogene Betrachtungsweise und Orientierung auf die Dialektsprecher statt einer strikt auf die Sprache beschränkten Sichtweise entwickelte sich erst im Rahmen der Sprachbarrieren-Diskussionen und führte zu einer Fülle von dialektsoziologischen Publikationen (u. a. Mundart als Sprachbarriere (Löffler 1972) und empirischen Studien zur Benachtei‐ ligung dialektsprechender Kinder in der Schule, z. B. Abhängigkeit des Schulerfolgs vom Einfluss des Dialekts (Hasselberg 1972), Zusammenhang von Dialekt, sozialer Ungleichheit und Schule (Ammon 1972a), Dialekt als Barriere bei der Erlernung der Standardsprache (Besch 1975), Schlechte Chancen ohne Hochdeutsch (Reitmajer 1975), Dialekt und Bildungschancen (Hasselberg 1976a). <?page no="116"?> 2.1.1 Entwicklung einer kommunikativen Dialektologie Mit Mattheiers Pragmatik und Soziologie der Dialekte wurde 1980 eine Einführung in die kommunikative Dialektologie des Deutschen vorge‐ legt, die Befunde zu Parametern der gesellschaftlichen Strukturierung wie Geschlecht und Alter, soziale Gruppen und Situation zusammentrug und die Funktion des Dialekts in der Schule sowie im Hinblick auf zentrale Veränderungsprozesse der Gesellschaft diskutierte. Er resümiert: Dialekte sind heute keine ausschließlich raumgebundenen Varietäten mehr, wenn sie es überhaupt jemals waren. Dialekte sind sprachliche Existenzformen, die eingebunden sind in vielfältige und verschiedenartige gesellschaftliche und situative Bezüge, die nicht ihren Randbereich bilden, sondern das Phänomen der Dialektalität heute zentral prägen. (Mattheier 1980: 199) Aus der Diskussion von Forschungsbefunden konstruiert der Verfasser zwei fiktive sprachliche Lebensläufe eines Dialektsprechers und einer Dialekt‐ sprecherin mit idealtypisch diglossischer Domänen- und Rollenverteilung. Solche Konstrukte sind heute durch multifaktorielle Variation, gewandelte Geschlechterrollen und Sprachwertungen sowie subjektive Faktoren und den allgemeinen Sprachwandel zu differenzieren. Abb. II.2.1: Idealtypische sprachliche Lebensläufe eines Dialektsprechers und einer Dia‐ lektsprecherin (nach Mattheier 1980: 54) 2.1.2 Dialektbedingte Fehlertypologien Ein Forschungsschwerpunkt der 1970er Jahre war insbesondere die diffe‐ renzierte Erfassung dialektbedingter Normverstöße beim Gebrauch der 116 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="117"?> Standardsprache (s. auch Schüwer 1977, Reitmajer 1975). Solche Normver‐ stöße wurden wie im Fremdsprachenunterricht mit strukturellen Differen‐ zen zwischen zwei sprachlichen Systemen erklärt, und zwar entweder als Interferenzfehler der Übertragung einer sprachlichen Regel/ Üblichkeit von einem System in das andere (z. B. Waatesaal) oder um hyperkorrekte Bildungen der Umsetzung auf Fälle, für die sie nicht gelten (z. B. sparzie‐ rengehen). Hauptsächliche Fehlerschwerpunkte liegen nach Löffler (1972), Hasselberg/ Wegera (1975), Besch/ Löffler (1973) in folgenden Bereichen: ● Phonetik/ Phonologie - nach Reitmajer mit Abstand die größte Feh‐ lergruppe im Mündlichen im vierten Grundschuljahr -, wenn stan‐ dardsprachliche Unterscheidungen aufgrund mundartlicher Interferenz nicht gemacht werden, z. B. Aufhebung der Konsonantenoppositionen t: d, als Fehler etwa: drotz ● Morphologie - eine große Fehlergruppe im schriftlichen Sprachge‐ brauch -, wenn das Morpheminventar zwischen Dialekt und Standard verschieden ist, z.-B. als Fehler: Steiner/ Steine, Bröter/ Brote ● Lexik - hier können in Ausgangs- und Zielsprache unterschiedliche Wortinventare oder Bedeutungsinventare vorkommen. 2.1.3 Dialekt und Schule Hasselberg (1972, 1976) schließt aus seinen Untersuchungen an verschiede‐ nen Schultypen in Hessen, dass Schülern aus der Unterschicht und Dialekt‐ sprechern in Lehrerprognosen und sprachlich relevanten Tests schlechter als Schüler aus Mittel- und Oberschicht und Sprecher der Einheitssprache abschneiden. Zu ähnlichen Tendenzen kommt Reitmajer (1975, 1976) im bairischen Sprachraum: die besonderen Schwierigkeiten mundartgeprägter Grundschulkinder in der Orthographie, Grammatik, beim Lesenlernen und in der Unterrichtsbeteiligung wirken sich negativ auf die Deutschnote und den Zugang zu weiterführenden Schulen aus. Der erste Dialektologe, »der sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Schichten und dem Gebrauch von Sprachva‐ rietäten wie Dialekt und Standardsprache in einem umfassenderen syste‐ matisch-theoretischen Zusammenhang stellt und zugleich den Versuch unternimmt, sie empirisch gut zu lösen, ist Ulrich Ammon.« So würdigt Mattheier (1980: 82) das dialektologische und sprachdidaktische Verdienst Ammons. 2.1 Dialekt als Sprachbarriere und Dialekt - Hochsprache kontrastiv 117 <?page no="118"?> In zwei großen Studien lenkte Ammon 1972 den Blick auf Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule sowie 1973 auf das Verhältnis von Dialekt und Einheitssprache in ihrer sozialen Verflechtung. Dabei berücksichtigte er ne‐ ben der hauptsächlichen Dichotomie der unterschiedlichen Arbeitsweisen (Hand- und Kopfarbeit) in den sozialen Schichten, von der zeitgenössischen Kritik als zu eng empfunden, auch die Kategorien von Geschlecht und Alter und entwickelte die Messtechnik der dialektalen Stufenleiter für unterschiedliche Dialektniveaus. Dem Komplex Dialekt und Schule wandte sich Ammon mit seiner Studie von 1972a zu. Die Frage, wie groß der Prozentsatz primär dialektal sozialisierter Kinder bei Schuleintritt ist, bleibt wegen der unterschiedlichen Auffassungen von ›Dialektsprechern‹ in Umfragen schwer zu beantworten. Mattheier (1980), ging - bei großer regionaler Schwankung und dem bekannten Nord-Süd-Gefälle - von geschätzt einem Viertel aller Schulkinder in Deutschland aus. Aktuelle Umfrageergebnisse weisen entgegen allen Prognosen über das Absterben von Dialekten immernoch auf einen großen Anteil von Dialektsprechern in der Gesamtbevölkerung hin: Die bundesweite Repräsentativumfrage des Instituts für deutsche Sprache (2009) schließt auf 60 %- bei allen methodischen Vorbehalten (Gärtig et al. 2010: 137). Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland weisen nach eigenen Angaben die meisten Dialektsprecher auf, wobei das Alter stark differentiell wirkt. Die Gesellschaft für deutsche Sprache ging 2008 von folgender Statistik aus: Ja, spreche die Mundart Ja, ein wenig Nein, spreche die Mundart nicht 1991 % 1998 2008 Schaubild 31 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 5253, 6063 und 10016 © IfD-Allensbach Regionale Dialekte, Mundarten werden noch von etwa jedem Zweiten gesprochen, aber tendenziell weniger Frage: „Können Sie die Mundart hier aus der Gegend sprechen? “ 27 25 48 27 23 50 28 17 55 Abb. II.2.2: Dialektgebrauch (GfdS 2008: 30) 118 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="119"?> 2.1.4 Ein Beispiel aus einer niederrheinischen Landwirtsfamilie Entsprechend klein dürfte der Prozentsatz von Dialektsprechern bei Schul‐ eintritt sein. Die Erkenntnis, dass der Dialekt das Erlernen und Praktizieren der Standardsprache erschwert, hat sich über Generationen hinweg in der Elternschaft durchgesetzt. Dies veranschaulichen Befragungen von Lehr‐ amtsstudierenden bei Landwirtsfamilien im niederrheinischen Sprachraum. Es sind zugleich Belege für die Relevanz von Spracheinstellungen für den Sprachgebrauch. Beispiel: Niederrheinische Landwirtsfamilie zu Dialekt und Standardsprache I 1 : Und ihre Kinder sprechen mit den Enkelkindern auch wieder Hochdeutsch … kein Platt. G: Keiner … keiner. I 1 : Ja und warum nich? G: Dat kunnten die nit. ‚Ja warum denn nit? ‘ Warum denn Platt? Dat is doch nit anjebracht, dat Platt. I 1 : Ja wo, wo is es denn angebracht? G: En Kind, isch will mal sagen jetz wie dat Kind oder et unsere »deutet auf die 8jährige Enkeltochter« … jetz …also die Jahre sind schon wieder vorbei. Isch will mal sagen: fünf, sechs Jahre, und die Kinder kommen zur Schule, wat meinen Se, was die’s schwer haben. … Und drum sollten wir mit den Kindern ein bißchen Deutsch anfangen »mit erhobener Stimme«, dat dat denen nachher nit so schwerfällt. I 2 : Ja meinen Sie denn nicht, die sollten in der Schule einfach auch Dialekt sprechen dürfen? G: Dürfen die nit »flüsternd«. I 2 : Ja meinen Sie denn nicht, das wär gut, wenn die das dürften? I 1 : Wenn die beides könnten? G: Dat weiß isch nit. I 2 : Ja, jetzt hätt ich mal eine Frage an Sie: warum sprechen Sie denn mit Ihren Kindern nich mehr Dialekt? M: Ja, da is folgendes, weil ä weil die Kinder/ weil wir früher zu/ in der Schule Schwierigkeiten dad/ dadurch hatten, und wir jetz bemüht sind, daß die Kinder . ä es doch etwas leichter haben, besonders im Rechtschreiben. Denn uns wurde früher/ ä ä also wir wurden früher von den Lehrern darauf hingewiesen, daß wir zuviel Platt sprachen, und 2.1 Dialekt als Sprachbarriere und Dialekt - Hochsprache kontrastiv 119 <?page no="120"?> ä wir dann auch manche Wörter im Diktat hatten, die eventuell auf ’s Platt rauskamen. Ja und ä ä wir unterhalten uns (…) wir unterhalten uns zuhause viel mit den Kindern Platt. Und eben drum können unsre Kinder auch noch was Platt. (…) I 2 : Können Sie uns denn vielleicht kurz sagen, in welchen Situationen die Kinder Platt sprechen. Zum Beispiel wie Sie eben sachten, wenn die Kinder reingerufen werden oder so? Können Sie uns das kurz sagen? M: Ja, wenn isch die Kinder reinrufe, dann komm isch, komm isch doch in die Verlegenheit . ä . komm isch doch noch in die Verlegenheit, sie Platt anzurufen. Also, anders is es, wenn isch den Kindern etwas aufgebe, oder die sa/ oder etwas befehle sozusagen, dann ä ä dann mach isch das in Hochdeutsch, eben darum, weil … weil sie das doch besser ä verwer/ also verwenden können. I 1 : Ich hätte noch mal eine Frage: wie is das, wenn Sie Ihren Kindern bei den Schularbeiten helfen? M: Ja, das geht dann nur in Hochdeutsch. Wenn es dann mal daneben‐ geht, dann kommt dann auch wieder mal/ wenn es heftich geht, da kommt wieder mal das Platt durch … Ja, das wär es denn, ä ä was ich dazu zu sagen hätte. (Befragungen einer Großmutter (G) und einer Mutter (M) nach Neuland 1978: 30 f.) 2.1.5 Dialekt - Hochsprache kontrastiv Auf Einzelheiten der damaligen Überlegungen zu einer dialektorientierten Didaktik kann hier nicht eingegangen werden (→ Kap. III.1.2). Doch wollen wir ein Projekt besonders hervorheben, und zwar die seit 1974 erschienene Heftreihe Hochsprache/ Mundart - kontrastiv. Jedes der acht Hefte besteht aus einer linguistischen Analyse des Großraumdialekts auf kontrastiver Basis. Für eine Auswahl divergierender Sprachbereiche bieten die Hefte eine Reihe von Sprachübungen, mit deren Hilfe Lehrkräften die Diagnose dialektbedingter Schwierigkeiten und deren Förderung ermöglicht wird. Als Beispiel sei aus der Einführung zum Rheinischen zitiert: In jedem Einzelkapitel wird eine kontrastive Analyse, d. h. eine Beschreibung und (historische) Erklärung der auftretenden Differen‐ zen zwischen Mundart und Hochsprache durchgeführt; die Fehler‐ 120 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="121"?> möglichkeiten werden aufgezeigt und vor allem anhand konkreter Beispiele erläutert. Die von mundartsprechenden Kindern zu leistende Umsetzung dialektaler Laute und Formen ins Hochdeutsche wird als Entsprechungsregel aufgeführt. Als Beispiel dafür kann folgende Regel dienen: Hochdeutsch Rheinisch Dialektbeispiel / ü/ Wö: sch (Würste) > / ö/ / ö/ Röck (Röcke) Abb. II.2.3: Beispiel für eine kontrastive Analyse im Rheinischen (nach Klein et al. 1978: 24, zit. nach Neuland/ Hochholzer 2006: 180) Für die Fehlerschwerpunkte (hier: die Senkung hoher Vokale im Rheini‐ schen) werden entsprechende Übungsaufgaben entwickelt. Der kontrastive Ansatz stößt aber da an seine Grenzen, wo es um se‐ mantische und vor allem pragmatische Unterschiede geht. Die beschränkte Reichweite des kontrastiven Ansatzes wurde in kritischen Kommentaren hervorgehoben, ohne die Notwendigkeit einer Fehlergeographie grund‐ sätzlich in Zweifel zu ziehen (Löffler 2003). 2.2 Regionales Varietätengefüge im heutigen Deutsch In der Sprachforschung der letzten Jahrzehnte sind wesentliche Erkennt‐ nisse über aktuelle Verschiebungen im Varietätengefüge der deutschen Sprache und über die vielfachen Ausgleichsprozesse gewonnen worden. Neuland formuliert in der Einleitung zur Sprachvariation im heutigen Deutsch: Das Varietätengefüge des Deutschen ist in Bewegung geraten; es lässt sich nicht mehr ohne Weiteres mit einer begrenzten Anzahl von Parametern und dem einheitlichen Zugriff der frühen Varietätenlinguistik erfassen. Vor allem erweisen sich strikte Grenzziehungen und stabile Funktionsteilungen zwischen einzelnen Varietäten als der Dynamik und Komplexität der Sprachentwicklung des heutigen Deutsch nicht mehr angemessen. Auch scheint ein strukturalistisches Varietäten‐ 2.2 Regionales Varietätengefüge im heutigen Deutsch 121 <?page no="122"?> modell mit einer eher sprachsystembezogenen Sichtweise die sprecherbezogene Perspektive des Sprachgebrauchs und seiner Bedeutung für sozialdistinktives Handeln nicht zureichend zu erfassen. (Neuland 2006: 10) Ergebnisse der aktuellen Sprachwandelforschung lassen demgegenüber Ausgleichsprozesse bipolarer, oftmals eher konstruierter Kontrastierungen zwischen Standard und den Basisdialekten bzw. Grundmundarten er‐ kennen. Niebaum/ Macha sprechen daher von einer Polymorphie der Dialekte und machen auf Anregungen aus der Mehrsprachigkeitsforschung und Kontaktlinguistik aufmerksam (1999: 5 ff., dazu auch Macha 2006 und Löffler 2016: 127 ff.). Dem ›Zwischenraum‹, der regionalen Umgangssprache, wird dagegen große kommunikative Relevanz zugesprochen. Bellmann (1983) schlug dafür den Terminus neuer Substandard vor. Eichhoff veranschaulichte diesen Bereich wie in Abbildung II.2.4 gezeigt: Abb. II.2.4: Umgangssprachen zwischen Standardsprache und Mundart (nach Eichhoff, zit. nach Macha 2006: 154) Während der Abstand zwischen den norddeutschen Umgangssprachen und der Standardsprache am geringsten sein dürfte, scheint dieser Abstand zur Standardsprache bei den süddeutschen Umgangssprachen am größten. Die mittleren geographischen Zonen Deutschlands weisen die meisten Sprachwandelgebiete auf. Dingeldein präsentiert die folgende Kartenskizze (1997: 130): 122 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="123"?> Abb. II.2.5: Verbreitung und Entwicklung der Sprachvarietäten im mittleren Deutschland (Dingeldein 1997: 130) 2.2 Regionales Varietätengefüge im heutigen Deutsch 123 <?page no="124"?> Städtische Ballungsgebiete müssen dabei ausgeklammert werden, mit diesen werden wir uns im übernächsten Abschnitt beschäftigen. Allgemein lässt sich aber beobachten, dass man heute nicht mehr von einer strikten Dicho‐ tomie Hochsprache - Dialekt ausgeht, sondern eher von einem Kontinuum der Regionalsprachlichkeit und von ›neuen‹ Dialekten, die mit alten Basis‐ dialekten als Objekte der Sprachpflege kaum mehr etwas gemein haben und selbst aus einer Mischung, z. B. mit Jugendsprachen bestehen. Ein prominentes Beispiel bilden die Texte regionaler Musikgruppen, z. B. der Kölner Band BAP (s. weiter unten). 2.2.1 Dialekt-Renaissance? Zudem muss eine allgemeine Entwicklungstendenz beachtet werden, die als Dialekt-Renaissance bezeichnet wird und sich gegenläufig zur hohen Wertschätzung der Standardsprache seit einigen Jahrzehnten abzeichnet (dazu v. a. Mattheier 1997). Ein vermehrter Dialektgebrauch ist für weite Bereiche des öffentlichen Lebens festzustellen, womit eine Domänenver‐ schiebung zu ungunsten der Standardsprache verbunden ist. Werbesprüche wie: Wir können alles - außer Hochdeutsch zeugen von einem neuen regio‐ nalen Selbstbewusstsein, das auch dazu führt, dass z. B. Predigten im Dialekt gehalten werden. Anhaltspunkte für die These von der Dialekt-Renaissance bieten Volksstücke und Dialekttheater, die in den Medien Verbreitung finden, daneben Lieder moderner Popgruppen, aber auch aus dem Karneval. Eine Studie von Reinert-Schneider zum Kölner Raum erfragte genauer die Rezeptionsmotive von Probanden mit folgendem Ergebnis (1987: 211): Motive des Dialekterhalts mit 54 % und der Brauchtumspflege mit 46,8 % der Befragten sind besonders stark vertreten, gefolgt von diversen Vorzügen des Dialekts, u.a.: ● weil der Dialekt nicht so steif ist wie das Hochdeutsche (52,4-%) ● weil etwas aus dem Leben erzählt wird (47,8-%) ● weil so viel Menschliches darin vorkommt (41,6-%) ● weil hier etwas Echtes und Ursprüngliches geboten wird (40,3-%) ● weil der Dialekt eine positive Lebenshaltung ausdrückt (39,6-%) ● weil der Dialekt Nähe und Wärme vermittelt (39,5-%) Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Motive je nach Textsorte und Altersklasse stark differieren. Und schließlich ist zu bedenken, dass es nicht um ein Wiedererstarken des alten Basisdialekts geht, sondern zumin‐ 124 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="125"?> dest teilweise um Formen des neuen Substandards, der gerade in Opposition zur Sprach- und Brauchtumspflege steht, wie Beispiele entsprechender Auseinandersetzungen um das Rheinische der Gruppe BAP aus dem Kölner und Düsseldorfer Raum zeigen (vgl. Neuland/ Hochholzer 2006: 187): Beispiel: Neuer Substandard Vüür paar Woche, nit lang her, jedenfalls do spillte mir en dä Kneip, wo mir sons och sinn. Alles toll, die Buud woor voll, alles woor su wie et soll, op einmohl kütt die Wahnsinnsfrau rinn. Die überdurchschnittlich superstarke, mir noch absolut inbekannte, ruut, wieß, blau, querjestriefte Frau. […] (Erste Strophe des Songtextes: Ruut-wiess-querjestrifte Frau von BAP, https: / / www.songtexte.com/ songtext/ bap/ ruut-wiess-blau-querjestrie fte-frau-bc2217a.html) In diesem Textbeispiel finden sich Merkmale der regionalen Umgangsprache (nit lang her), der Sprechsprache (alles toll) und der Jugendsprache (Kneipe, Bude) neben Merkmalen des rheinischen Basisdialekts (kütt rinn). 2.2.2 Beliebtheitsskalen deutscher Dialekte Wenden wir uns einem weiteren Bereich laienlinguistischer Wahrnehmung von Dialekten zu: den bekannten Beliebtheitsskalen deutscher Dialekte. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass regionalsprachliche Markierungen von den meisten Befragten positiv eingeschätzt werden: Über 63 % finden dialektal gefärbtes Deutsch »(sehr) sympathisch«, über 23,4-% »teils/ teils«, ca. 6 % »(sehr) unsympathisch« (Gärtig et al. 2010: 155). Die Rangfolge der Beliebtheit erweist sich als bemerkenswert konstant (so auch Adler/ Plewnia 2019: 145 f.), wenn auch die Prozentzahlen und die vorgegebenen Dialektaus‐ wahlen in den Umfragen leicht variieren und das Alter sowie die Herkunft der Befragten eine Rolle spielen. Für 2010 halten Gärtig et al. fest: 2.2 Regionales Varietätengefüge im heutigen Deutsch 125 <?page no="126"?> Besonders sympathischer Dialekt Besonders unsympathischer Dialekt Norddeutsch 24-% Sächsisch 30-% Bairisch 20-% Keinen 28-% Alemannisch 13-% Bairisch 13-% Tab. II.2.1: Beliebte und unbeliebte Dialekte (Gärtig 2010 et al., gekürzt nach Löffler 2016: 139) Nach einer aktuellen Umfrage (Stand 1/ 2021) liegen süddeutsche Dialekte, v. a. Bairisch, vor norddeutschen (https: / / www.wochenblatt.de/ archiv/ die-b ayern-haben-glueck-ihr-dialekt-ist-besonders-beliebt-103653). Aufschlussreich ist, dass der Dialekt auch in der Internet-Kommunika‐ tion auftritt, wie Tophinke/ Ziegler mit Dialektthematisierungen in einem Gameblog nachweisen: BÄRLINISCH! ! ! ! . ick find das dis der läscherste dialekt is (gibt natürlich auch die hardcore berliner, die versteh ich dann sogar manchma nich..) und bayrisch is mir einfach ma zu anstrengend zum anhören… nix gegen bayern! ! (D 30) ich babbel badisch. isch faschd s gliche wie schwäbisch, nur dass badisch eifach bessa isch. weil: badner ischs höchschte was e mensch werre konn … s gibt halt badische un unsymbadische … […] (D 4) nice to be a Preiß but it’s higher tob e a Bayer … Wohn im tiefsten Niederbayern, von daher erklärt sich die Frage nach dem Dialekt ganz von selbst (D 31) (Tophinke 2019: 11) Mit der subjektiven Perspektive in den letzten Beispielen haben wir bereits ein Teilgebiet der Dialektologie beschritten, das der sog. Perzeptiven Dia‐ lektologie zugerechnet wird. Diese sei Im Folgenden kurz skizziert. 2.3 Perzeptive Dialektologie Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts rückte eine neue dialektologische Sichtweise in den Blick, die als Perzeptive oder Wahrnehmungsdialektologie bezeichnet wird. Dabei geht es um laienlinguistische Einstellungen, Konzep‐ tualisierungen und Wissensbestände im Hinblick auf regionale Varietäten. 126 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="127"?> Nach einer Etablierungaphase ist die Perzeptive oder Wahrnehmungsdi‐ alektologie nun in der deutschsprachigen Areallinguistik angekommen, wie Hundt feststellt (2018: 99). Eingeführt wurde dieser Untersuchungsgegen‐ stand von Preston am Beispiel der verschiedenen Formen des US-amerika‐ nischen Englisch und des damit verbundenen Laienwissens über Sprache. Was Laien über entsprechende Dialekte wissen und wie sie diese bezeichnen, wie sie Dialektareale verorten (mental maps) und deren Korrektheit und Beliebtheit beurteilen, sind bis heute leitende Fragestellungen der Wahrneh‐ mungsdialektologie. Zu Beginn des neuen Jahrtausends breiteten sich die entsprechenden Forschungsinteressen im deutschsprachigen Raum spürbar aus (vgl. dazu Anders et al. 2010). Themenkomplexe der Wahrnehmungsdialektologie (Hundt 2018: 102 ff.): ● Einstellungen (Prestige, Stigma) gegenüber Dialekten und deren Sprechern ● Salienz von Merkmalen der Dialekterkennung und Konzeptkons‐ titution, die nicht immer der Sprachwirklichkeit entsprechen ● mental maps linguistischer Laien, wobei diese eine draw a map-Aufgabe zu erfüllen haben. Dieser Aufgabentyp fand bereits in der Mehrsprachigkeitsforschung Anwendung (→-Kap. II.6). Inzwischen plädieren viele Forscher »Für eine perzeptive Varietätenlingu‐ istik« (so Krefeld/ Pustka 2010) und vergrößern damit das linguistische Anwendungsfeld dieses Zugangs. 2.3 Perzeptive Dialektologie 127 <?page no="128"?> Abb. II.2.6: Beispiel für mental map (nach: Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien, https: / / www.wahrnehmungsdialektologie.uni-kiel.de/ de/ bilder/ ki116. jpg) Hundt führt zahlreiche Beispiele für wahrnehmungsdialektologische Stu‐ dien auf, vor allem auch in deutschschweizer und in österreichischen Sprachräumen. 128 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="129"?> 2.4 Stadtsprachenforschung Städte als Ballungszentren mit entsprechender sprachlicher Heterogenität und mit Konfliktpotential bieten eine besondere Herausforderung für die Soziale Dialektologie. »Die Stadt war immer in gewissem Sinne Stein des Anstoßes für die Dialektologie und Prüfstein für die Soziolinguistik«, wie Kallmeyer formulierte: Die Aufrechterhaltung von Sprachunterschieden und die Entstehung neuer Sprachunterschiede innerhalb von Gemeinschaften ist ebenso mit den Prozessen der Konstitution von größeren sozialen Einheiten verbunden wie die sprachliche Angleichung. Variation ist ein allgemeines Prinzip der Sprachverwendung. Die Konstitution von Sprache durch das Sprechen und die Konstitution von sozialen Strukturen durch das - weitgehend sprachliche - Handeln der Individuen ist ein universeller Prozess, auf dessen Grundlage sich die sozialen und sprachlichen Grenzziehungen sozio-historisch ausprägen. Wegen der spezifischen Eigenschaf‐ ten der »modernen« sprachlichen Verhältnisse in der Stadt besteht eine Affinität von Stadt und Soziolinguistik, die auch in der Forschungsgeschichte deutlich wird. (Kallmeyer 1994: 6 f.) Das 1981 durchgeführte und 1982 von Bausch herausgegebene IDS-Kollo‐ quium: Mehrsprachigkeit in der Stadtregion dokumentiert die Belebung und Neuorientierung dieses Forschungsbereichs im deutschen Sprachraum mit besonderer Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit durch Migration. Dittmar und Schlieben-Lange (1982) skizzieren in einem umfangreichen Einführungsbeitrag ›Forschungsrichtungen und -perspektiven einer ver‐ nachlässigten soziolinguistischen Disziplin‹ mit einem Überblick über ausgewählte einschlägige Studien in verschiedenen Ländern sich die Stadt‐ sprachenforschung früher sprachsoziologischen Fragestellungen und empi‐ rischen Methoden zugewandt hatte als die deutsche Dialektologie, die Stadt‐ sprachen lange Zeit mehrheitlich als ›unreine‹ Mischungen ausgeklammert hatte. Insbesondere durch den Innovationsschub von Labovs Studien zum Sprachgebrauch in New York City wurde geradezu ein dialektologischer Paradigmenwechsel - so Dittmar und Schlieben-Lange (1982: 10) - ausge‐ löst, demzufolge Städte als sozialdeterminierte, geordnete Varietätenräume aufgefasst wurden, die sozialen und sprachlichen Wandel initiieren kön‐ nen. Durch den industriellen Modernisierungsschub und den verstärkten Einfluss der Schriftsprache durch Verwaltungs- und Bildungsinstitutionen kommt der Stadtmundart eine Zwischenposition mit besonderem Prestige 2.4 Stadtsprachenforschung 129 <?page no="130"?> und einer Ausgleichsfunktion zwischen Standardsprache und ländlichen Mundarten zu, die Debus in seiner These von der ›Strahlungskraft der Stadtsprache‹ pointiert zusammenfasst (1962: 13). In der Auseinandersetzung mit Forschungstraditionen in romanischspra‐ chigen Ländern, besonders in Katalonien, mit Konzentration auf Barcelona, und in Italien treten wichtige, in der nordamerikanischen Tradition weniger beachtete Aspekte der Stadtsprachenforschung auf, wie z. B. die Sozialge‐ schichte der Stadt, das Verhältnis von Stadt und Land, die Besonderheit von Stadtvierteln und städtischen Subkulturen, schließlich die Binnenmi‐ gration. Aber auch kanadische Studien, v. a. in Montreal zum weitgehend stigmatisierten Franco-Kanadischen und britische Untersuchungen, v. a. von Cheshire zu soziolinguistischen Normen in städtischen Subkulturen Readings, und Milroys Studien zur Relevanz sozialer Netzwerke in Belfast fügten den soziolinguistischen Beschreibungen von Stadtsprachen innova‐ tive Aspekte hinzu. Die Entwicklung der Stadtbzw. Ortssprachenforschung in Deutschland brachte zugleich wesentliche Impulse für die Soziolinguistik mit sich. Kallmeyer zählt einige davon unter folgenden Stichworten (1987: 84) auf: ● Stadt-Umland-Verhältnis ● Stadt als Varietätenraum ● Mehrsprachigkeit in der Stadt ● Binnenstrukturen der Stadt ● Stadt als Raum interkultureller Kommunikation So wurden die Konzepte der Diglossie und der Domänenverteilung von Fishman entschieden dynamisiert, v. a. die für städtische Gesellschaften typische Dichotomie von öffentlichen und privaten Bereichen, ebenso das Verständnis einer Sprachgemeinschaft, das durch Netzwerkanalysen nicht zureichend ersetzt werden kann, und die seit Labov plausiblen Kontinu‐ umsvorstellungen, denen die subjektiv empfundene Diglossievorstellung Betroffener von ›eigener‹ und ›fremder‹ Sprache gegenübergestellt wurde. Im deutschsprachigen Raum war es vor allem das ›Erp-Projekt‹ von Besch et al. (1981/ 1982), das sich den Beziehungen von Stadt und Umland am Beispiel von Köln und Erp/ Erftstadt unter besonderer Berücksichtigung des Pendler-Phänomens widmete, die Auswirkungen der Urbanisierung auf das Umland einer Großstadt empirisch belegte und das Konzept der ›Sprachlagen‹ zur vertikalen Differenzierung der Ortsmundarten sowie die ›Ortsloyalität‹ als Faktor der subjektiven Zugehörigkeit einführte. 130 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="131"?> Mattheier veranschaulichte den Zusammenhang von situativen Varietäten, Ortsgebundenheit und Arten sozialer Netzwerke wie folgt (1982: 102): - Sprecher, die dominie‐ rend in geschlossenen Netzwerken leben Specher, die dominierend in offenen Netzwerken leben Alltagssprache Dialekt Tendenz zum Dialekt öffentliche Varietät Tendenz zum Dialekt starke Tendenz zur Standard‐ sprache Tab. II.2.2: Zusammenhang von situativen Varietäten und Arten sozialer Netzwerke im Erp-Projekt (nach Mattheier 1982: 102) Das Erp-Projekt steht für die sprachsoziologische Öffnung der deutschen Dialektologie. Das Projekt hat zugleich entschieden die Sprecher selbst in den Fokus gerückt, was künftig nicht mehr hintergangen werden sollte. 2.5 Beispiele der Stadtsprachenforschung im Deutschen Die Stadtsprachenforschung, die sich den aktuellen Problemen der Stadtent‐ wicklungen zuwandte, hat demgegenüber noch entschiedener die Mehrdi‐ mensionalität der sprachlichen Variation in ihr Zentrum gerückt. Von den zahlreichen Beispielen der aktuellen Stadtsprachenforschung mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen und theoretischen Orien‐ tierungen seien hier Forschungsprojekte zu Berlin und Mannheim heraus‐ gegriffen: 1. Berlin An diesem Beispiel einer von 1961 bis 1989 geteilten Stadt können zugleich einige Aspekte der West-Ost-Variation im Deutschen aufgezeigt werden. Dazu wurden in der Studie (vgl. Dittmar et al. 1986, Schlobinski 1987) drei Bezirke im Hinblick auf bestimmte Variablen miteinander verglichen: das bürgerliche Westberliner Zehlendorf, der traditionelle Westberliner Arbeiterbezirk Wedding und der Ostberliner Prenzlauer Berg, damals noch Arbeiterbezirk. Im Hinblick auf die unterschiedliche Realisierung von sechs phonologischen Variablen ergibt sich folgende Dialektverteilung: Zehlen‐ 2.5 Beispiele der Stadtsprachenforschung im Deutschen 131 <?page no="132"?> dorf: 28 %, Wedding: 52 %, Prenzlauer Berg: 79 % (Schlobinski 1987: 153). Das unterschiedliche Ausmaß der Sprachvariation in den beiden ursprünglich relativ homogenen Berliner Arbeiterbezirken lässt sich vor dem Hinter‐ grund der politisch geteilten Kommunikationsgemeinschaften und sozialen Netzwerke erklären (→-Kap. II.3.2). 2.-Mannheim Das 1981 begonnene Projekt verfolgt nach Kallmeyer das folgende Ziel: Im Zentrum der Analyse standen die sprachlichen Erscheinungsformen der sozialen Zugehörigkeit von Städtern, d. h. ihre Zugehörigkeit zu unterschied‐ lichen städtischen Milieus mit unterschiedlich ausgeprägter lokaler Bindung. (Kallmeyer 1994: 2) Dazu wurden Beobachtungen von ausgewählten Gruppen aus verschiede‐ nen Stadtteilen Mannheims durchgeführt. Es handelt sich also um die Bin‐ nendifferenzierung einer Stadtsprache mit Konzentration auf die wesentli‐ chen Kommunikationsformen für die Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialem Zusammenhalt unter städtischen Lebensbedingungen. Dabei geht es im Einzelnen um die Benutzung von Sprache als Ausdruck sozia‐ ler Identität und um die Rolle sozialer Stile für die städtische Gesellschaft (ebd.: 21). Dazu sollten prinzipiell alle Eigenschaften des Sprachverhaltens in Betracht gezogen und nicht nur eine Beschreibungsebene der phonolo‐ gisch-phonetischen Variation berücksichtigt werden. Im Verlauf der Projektarbeit wurden zahlreiche Einzelstudien zu Gruppen von Jugendlichen (Schwitalla), von Migrantinnen (Keim), von Frauen einer Bastelgruppe vorgenommen. Kallmeyer führt aus: Es handelt sich dabei jeweils um die Verknüpfung einer Population in einem Geflecht sozialer Beziehungen und die Abgrenzung eines spezifischen Bezirks der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in dessen Handlungszusammenhang sich ein besonderes Sinnsystem bildet, eigene Kommunikationsregeln gelten und sich Muster des sprachlichen Verhaltens entwickeln. Derartige Strukturen stellen soziale Rahmen dar, an denen sich die Handlungsorientierungen der Beteiligten und ihre Bewertungskriterien für angemessenes, erfolgreiches und authentisches Handeln ausrichten. (Kallmeyer 1994: 22) Dafür greifen die Verfasser das Konzept der ›sozialen Welten‹ aus dem Symbolischen Interaktionismus auf. Keim führt aus: 132 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="133"?> Kennzeichnend für die soziale Welt ist die Fokussierung auf Kernaktivitäten, mit denen sich alle zur sozialen Welt Gehörenden identifizieren und die sie gemeinsam bearbeiten. (2018: 314) Im Konzept des kommunikativen sozialen Stils ist Stil sozial-funktional defi‐ niert. Sprecher setzen Stilformen als Mittel zum Ausdruck sozial-kultureller Zugehörigkeit und zur sozialen Positionierung in Relation zu relevanten Anderen ein. (ebd.: 316) Im Hinblick auf soziale Identität folgt das Projekt dem interaktionistischen Ansatz von Gumperz, wonach soziale Identität keine feststehende Größe ist, sondern in der Interaktion immer wieder neu ausgehandelt und festgelegt wird. In ausführlichen Detailanalysen deuten die Mitglieder der Projektgruppe einzelne sprachliche Szenen. Keim fasst in ihrem Beitrag von 2018 einige davon zusammen: ● die »Bastelgruppe« als Beispiel für einen kommunikativen sozialen Stil einer Frauengruppe aus der »Welt der kleinen Leute«, ● die »Literaturfrauen« aus der Welt des Bildungsbürgertums, ● die »türkischen Powergirls«, deren Stil als Ausdruck der Rebellion gegen ihre Herkunftskultur sowie gegen die der Mehrheitsgesellschaft gedeutet werden kann. Kennzeichen ihres Sprachstils sind v. a. die gegensätzlichen stilistischen Mittel, zwischen denen die Gruppenmit‐ glieder virtuos wechseln. Dies zeigt sich nicht nur im System sozialer Kategorien, sondern auch im Umgang mit verschiedenen charakteris‐ tischen Sprechweisen wie das ›Gastarbeiterdeutsch‹, ›Ghettodeutsch‹ oder Mannheimerisch. 2.6 Zusammenfassung und Literatur In diesem Kapitel haben wir die Entwicklung der Sozialen Dialektologie im Deutschen verfolgt vom Ausgangspunkt der These vom Dialekt als Sprachbarriere, die in den 1970er Jahren eine Vielzahl empirischer Studien auslöste. Das überwiegend kontrastive Verständnis von Dialekt und Hoch‐ sprache führte auch zu Vorschlägen einer dialektorientierten Sprachdidaktik in der Schule. Die Soziale Dialektologie lenkte den Blick auf die klassischen soziolinguistischen Variablen von Alter und Geschlecht sowie auf die Ein‐ stellungen und subjektiven Wertungen von Dialekten. Verschiebungen im Varietätengefüge der deutschen Sprache durch Ausgleichsprozesse und 2.6 Zusammenfassung und Literatur 133 <?page no="134"?> Veränderungen im Stadt-Umland-Verhältnis führten u. a. zu Kontinuums‐ vorstellungen an Stelle einer fixen Dichotomie und zum Konzept eines neuen Substandards. Die Perzeptive Dialektologie lenkte den Blick erneut auf die subjektiven Spracheinstellungen und das Laienwissen über Dialekte. Die beispielhaft vorgestellte Stadtsprachenforschung versucht schließlich die Mehrdimensionalität der städtischen Sprachvariation zu erfassen. Literatur (weiterführend) Dittmar, Norbert/ Schlieben-Lange, Brigitte (1982): Stadtsprache. Forschungsrich‐ tungen und Perspektiven einer vernachlässigten soziolinguistischen Disziplin. In: Bausch, Karl-Heinz (Hg.): Mehrsprachigkeit in der Stadtregion. Mannheim, 9-86. Macha, Jürgen (2006): Dynamik des Varietätengefüges im Deutschen. 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In: Praxis Deutsch 275, 4-13. 138 2 Sprachgebrauch und Region <?page no="139"?> Tophinke, Doris/ Ziegler, Evelyn (2014): Spontane Dialektthematisierungen in der Weblogkommunikation: Interaktiv-kontextuelle Einbettung, semantische Topoi und sprachliche Konstruktionen. In: Cuonz, Christina/ Studler, Rebekka (Hg.): Sprechen über Sprache. Tübingen, 205-242. Internetquellen Songtexte.com (o.-J.): Ruut-wiess-blau querjestriefte Frau Songtext. von BAP. Ab‐ rufbar unter: https: / / www.songtexte.com/ songtext/ bap/ ruut-wiess-blau-querjes triefte-frau-bc2217a.html (Stand: 02/ 06/ 2022) Universität Kiel (o.J): Abrufbar unter: https: / / www.wahrnehmungsdialektologie.un i-kiel.de/ de/ bilder/ ki116.jpg (Stand: 02/ 06/ 2022) Wochenblatt (2017): Die Bayern haben Glück ihr Dialekt ist besonders beliebt. Abrufbar unter: https: / / www.wochenblatt.de/ archiv/ die-bayern-haben-glueck-i hr-dialekt-ist-besonders-beliebt-103653 (Stand: 02/ 06/ 2022) 2.6 Zusammenfassung und Literatur 139 <?page no="141"?> 3 Sprachgebrauch und Politik Die Gegenstandsfelder dieses Kapitels könnten zwar auch unter regionalen, also sozialdialektologischen Perspektiven subsumiert werden, doch über‐ wiegen hier die politischen Entscheidungen und Grenzziehungen, die den Sprachgebrauch maßgeblich beeinflusst haben. Nach einer Reflexion der Termini: Sprachpolitik, Sprachplanung und Sprachlenkung (→ Kap. 3.1) werden folgende soziolinguistisch bedeutsame Aspekte aus dem breiten Spektrum der Sprachpolitik herausgegriffen, und zwar die politischen Um‐ brüche im deutsch-deutschen Verhältnis, speziell in der Zeit ab 1945 mit der Wende von 1989 und ihren bislang absehbaren sprachlichen Folgen (→ Kap. 3.2), die Unterscheidung von Deutsch als Nationalsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz (→ Kap. 3.3) und ein Ausblick auf Deutsch als Fremdsprache in Europa (→ Kap. 3.4). Das Bemühen der deutschen Sprache innerhalb der EU eine höhere Geltung zu verschaffen und die Förderung von Deutsch als Fremdsprache in Europa können ebenfalls unter dem Terminus Sprachpolitik zusammengefasst werden. Weitere Gesichts‐ punkte auf der politischen Makroebene wie z. B. die deutschen Sprachinseln können an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Natürlich spielen auch politische Aspekte auf der Mikroebene des alltäglichen Sprachgebrauchs in der persönlichen und in der medienvermittelten Kommunikation eine Rolle, insbesondere der Sprachgebrauch der Politik. Dazu sei auf die einschlägigen Kapitel II.8 und II.9 verwiesen. 3.1 Sprachpolitik, Sprachplanung, Sprachlenkung Generell wird unter Sprachpolitik jeder regulative Eingriff in die Entwick‐ lung von Sprachen in der Gesellschaft verstanden (s. Coulmas 1985). Dies spielt in mehrsprachigen Ländern und in internationalen Organisationen eine große Rolle, u. a. für das schulische Fremdsprachenangebot und die Rechte von Minderheitensprachen. <?page no="142"?> 3.1.1 Sprachpolitik und Sprachplanung Unter Sprachpolitik oder Sprachplanung wurde ursprünglich die normative Tätigkeit einer eigens geschaffenen Institution wie die Académie Française verstanden (Haugen 1972). Der Begriffsumfang wurde seitdem deutlich erweitert: So können verschiedene Akteure (Individuen, Gruppen oder Institutionen) und Legitimationen sowie Arten der Sprachpolitik, wie z. B. offene und verdeckte, bewusst oder unbewusst herbeigeführte Formen der Sprachförderung, Sprachverbreitung oder auch des Sprachverbots, verschiedene Ziele, Mittel und Bereiche der Sprachpolitik unterschieden werden. Marten systematisiert das breite Spektrum der sprachpolitischen Kernbegriffe in Abbildung II.3.1 (2016: 27): Abb. II.3.1: Sprachpolitische Kernbegriffe (Marten 2016: 27) Im sprachpolitisch engeren Sinne spielt die Elaborierung der deutschen Sprache, z. B. durch die Rechtschreibreform, eine besondere Rolle, die in der jüngeren deutschen Wissenschaftsgeschichte auch eng mit den Faktoren der Sprachpflege und Sprachkritik verbunden ist (→-Kap. III.2). Statusplanung gehört dagegen zur Sprachenpolitik im weiteren Sinne und betrifft u. a. die Festlegung von Staats- und Amtssprachen und von schulischen Fremdspra‐ chen. In den folgenden Kapiteln veranschaulichen exemplarische Gegenstands‐ felder je unterschiedliche sprachpolitische Themenbereiche, die von nicht 142 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="143"?> intendierten Folgen politischer Entwicklungen im Sprachgebrauch bis zu nationalstaatlichen Identitäten und Verbreitung fremdsprachlichen Unter‐ richts reichen. 3.1.2 Sprachlenkung Der Ausdruck Sprachlenkung ist negativ besetzt und rückt in die Nähe von Sprachmanipulation, da eine Lenkung möglicherweise ohne Wissen und Mitwirkung der Sprachbenutzer geschehen kann. Im Kontext gesell‐ schaftlicher Machtverhältnisse können Tabus und/ oder bestimmte Sprach‐ gebrauchsweisen gesetzlich oder politisch vorgeschrieben und durchgesetzt werden. Von Sprachlenkung ist daher meist in Verbindung mit totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus die Rede (s. Schmitz-Berning 1999). Dies betraf u. a. die radikale sprachliche Assimilierung der Luxemburger Bevölkerung durch die Nazis in Form einer Aufnötigung von Deutsch als alleinige Amts- und Gerichtssprache und das Verbot der französischen Sprache in allen öffentlichen Bereichen sowie die Umbenennung von Orten und Personen (s. Scholten 2000). Es sei daran erinnert, dass in der BRD seit 1949 die DDR laut einer regierungsamtlichen Regelung bis in die siebziger Jahre nur »DDR« (oder auch Zone) benannt werden durfte. Gleichwohl ließ sich der Alleinvertre‐ tungsanspruch der BRD und das von ihr behauptete eigentliche wahre Deutsch nicht aufrechterhalten. Heute kann aber auch das Gebot politisch korrekten Sprechens (PC) als eine indirekte und sublime Art der Sprachlenkung im Sinne eines Sprachmoralismus ( Jung 1996, Klug 2020; → Kap. II.9.4) angesehen werden. 3.2 Aktuelle deutsch-deutsche Sprachentwicklungen nach 1945 3.2.1 Sprachgebrauch in beiden deutschen Staaten Die deutsche Teilung in zwei Staaten nach 1945 infolge des Nationalso‐ zialismus und des Zweiten Weltkriegs und die Wiedervereinigung 1989 bilden zugleich ›ein faszinierendes linguistisches Beobachtungsfeld‹, wie Hellmann ausführt: 3.2 Aktuelle deutsch-deutsche Sprachentwicklungen nach 1945 143 <?page no="144"?> Denn hier wird quasi in einem unfreiwilligen Großversuch vorgeführt, was sprachlich geschieht, wenn eine Nation in zwei staatlich organisierte Kommuni‐ kationsgemeinschaften mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung geteilt wird. (Hellmann 1989: 42) Das Problem der Ost-West-Differenzen im Sprachgebrauch der Nachkriegs‐ zeit führt zu der Frage nach sprachlichen Gemeinsamkeiten oder einer Sprachspaltung nach 1945. Schon in den Bezeichnungen für die Natio‐ nalvarietät (v. a. deutsches Deutsch, deutschländisches Deutsch, Bundes‐ deutsch, Binnendeutsch) spiegeln sich die ideologischen Gegensätze. Es scheint, dass in manchen Studien das Trennende betont und das Gemein‐ same, nämlich dieselbe sprachliche Grundlage bei der Teilung, vernachläs‐ sigt wird. Angesichts der geringen vor allem lexikalischen Differenzen zwischen Ost und West von bis zu 5 % kommt von Polenz zu dem Schluss (1999: 424): »Eine wirkliche ›Sprachspaltung‹ hat nicht stattgefunden.« BRD-Wortschatz WELT ND DDR-Wortschatz WELT ND Aktie 925 5 Aktivist 3 142 Anzahlung 160 1 allseitig 7 125 Arbeitnehmer 133 5 antiimperialistisch 1 62 Aufsichsrat 231 6 Arbeiterklasse 3 589 Autohaus 44 0 Arbeitsnorm 1 23 Tab. II.3.1: West-Ost-Wortschatzvergleich (DIE WELT, NEUES DEUTSCHLAND 1949-1974), Fälle mit mind. 95,5 % Belegzahldifferenz, in Klammern weitere Wortbildungen (Hellmann 1992, Bd.-2: 3 ff., hier nach von Polenz 1999: 424) Im Wortschatz kristallisierten sich die ideologischen Unterschiede zwischen der BRD und der DDR am deutlichsten heraus. Allerdings fehlen - wie Ammon anmerkt (1995: 389) - bei ideologisch oder auch institutionell geprägtem Wortschatz oft konsequente Vergleiche mit der anderen Seite. Zudem spielen häufig unterschiedliche Sprechergruppen und Intentionen eine Rolle. Man denke nur an: Mauer anstelle von: antifaschistischer Schutz‐ wall. Auch ist der Übergang zur Benennung von Sachspezifika fließend: Man denke nur an Wörter wie Radikalenerlass (…), Aktionär, Demonstrations‐ recht, Kaltmiete (…) und viele andere für die BRD oder an Wörter wie Namens‐ 144 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="145"?> weihe (…), Neuerer (…), Subbotnik (…), Wohnungskommission (…) und viele andere für die DDR. (ebd.: 390) Solche Eintragungen finden sich auch in den Wörterbüchern der beiden deutschen Staaten, z. B. im Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 6 Bde. (Mannheim, 1976-1981) sowie dem ebenfalls sechsbändigem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Leipzig, 1964-1977), meist mit dem Zusatz »BRD« oder »DDR« markiert. Wirklich austauschbare Wörter zählt Ammon nur wenige auf: BRD DDR (Brat)Hähnchen Broiler Diskjockey Diskosprecher Jeans Niethose Plastik Plaste Zielsetzung Zielstellung Tab. II.3.2: Lexikalische Varianten in beiden deutschen Staaten (Ammon 1995: 390) Ein früheres Werbeplakat für DDR-Produkte aus ›Plaste und Elaste‹ leuchtet nun als Neonschild im Foyer des Deutschen Historischen Museums in Berlin (Neuland 1997: 5). Auch Teubert stellt die These einer DDR-spezifischen Varietät des Deut‐ schen nach einer Diskussion von DDR-spezifischen Neologismen in Frage, vor allem der vielzitierten Beispiele von Broiler und Datsche sowie von Denotaten wie Intershop und festen Fügungen wie das unerschütterliche Bündnis (1993: 38 ff.). Schließlich wird auch die Annahme einer Doppel‐ sprachigkeit der Bürger der DDR, die zwischen einer offiziellen Partei‐ sprache (Verlautbarungssprache, verballhornt auch Kaderwelsch) und einer inoffiziellen Privatsprache wechseln konnten, als vereinfachendes Stereotyp kritisiert (so bei Reiher/ Baumann 2004). Zu den Kennzeichen der Verlautbarungssprache zählt Hellmann (1997: 17) u.a.: marxistisch-leni‐ nistische Terminologie, propagandistische Formeln, spezifisches Vokabular und markante Stilfiguren mit stereotypen Attribuierungen. Ein solch starrer Funktionalstil führte bereits in der DDR zu satirischen Persiflagen. Der Sprachwitz in der DDR richtete sich an eine inoffizielle Gegenöffentlichkeit. 3.2 Aktuelle deutsch-deutsche Sprachentwicklungen nach 1945 145 <?page no="146"?> Schiewe und Schiewe präsentieren u. a. Beispiele für sog. Gegenlosungen, die die von der SED vorgegebenen Losungen konterkarieren (2000: 34 ff.): Wir kennen zwar den Plan nicht, aber wir schaffen das Doppelte! Lieber schlank weg da im Westen als dicke da im Osten. Die DDR-Staatssicherheit marschiert unter der Losung: Kommen Sie zu uns - bevor wir zu Ihnen kommen. Die Zweisprachenthese wurde von Fraas und Steyer (1992) zu einem Drei‐ fachsystem von Kommunikationsbereichen erweitert, indem sie zusätzlich einen kulturell-literarischen Bereich der Halböffentlichkeit, z. B. in kirch‐ lichen und oppositionellen, oft regional orientierten Diskussionsgruppen unterschieden. Dieckmann verwies 1967 auf die ungenügende linguistische Methodik der Untersuchungen zum Ost-West-Problem, die erst später durch großan‐ gelegte Korpusanalysen von Tageszeitungen (Abb. II.3.2) auf eine solidere Basis gestellt werden konnten. Abb. II.3.2: Titelblatt von Reiher/ Läzer (1996) 146 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="147"?> Mit dem Ansatz einer plurizentrischen Sprache für das Deutsche und dem von Ammon vorgeschlagenen Terminus: staatliche Varietät statt nationale Varietät wurden die ideologischen Auseinandersetzungen um Sprache und Nation schwächer 3.2.2 Sprachliche Folgen der Umbruchsituation von 1989 Seit der Maueröffnung und der politischen Wende von 1989 hat für das deutsch-deutsche Sprachverhältnis und seine Erforschung eine weitere Entwicklungsphase begonnen. Sprachwissenschaftler aus Ost und West wandten sich sowohl dem Sprachgebrauch vor als auch nach der Wende zu mit den Schwerpunkten Lexik und Stil, aber auch Textsorten und kommunikativen Mustern. Aus der Fülle der Veröffentlichungen seien hier nur einige wenige exemplarisch herausgegriffen: Wie verarbeiten unmittelbar Betroffene die politischen und kulturellen Umbrüche? Dieser Frage gingen Fix und Mitarbeiter in ihrem Sprachbio‐ graphie-Projekt mit zahlreichen narrativen Interviews und sprachreflexi‐ ven Äußerungen der Betroffenen nach. Es stießen zwei Kommunikationsgemeinschaften aufeinander, die zwar durch die gleiche Sprache und gleiche kulturelle Wurzeln verbunden waren, sich aber nicht mehr genau kannten. So nahm man sich gegenseitig teilweise befremdet in seinen abweichenden Lebens-, Denk- und Sprachgebrauchs‐ gewohnheiten wahr. (Fix/ Schleichardt 2015: 228) Dabei zeigte sich, dass in den 1990er Jahren die Auseinandersetzung mit dem Umbruch dominiert und je nach dem Grad der Systemkonformität unterschiedliche Sprechhandlungsmuster (z. B. erklären, rechtfertigen) und Topoi (z. B. ›Man hat keine Wahl.‹) vorherrschen. Im Zeitraum um 2008/ 2009 rücken sprachlich manifestierte Identitätskonflikte (z. B. ›der is’n Ossi‹) in den Mittelpunkt der Darstellungen. Es ist offensichtlich, dass sich der Wortschatz am schnellsten wandelte, was sich vor allem am weitgehenden Verlust des offiziellen Wortschatzes der DDR manifestierte. Ein Gefühl von ›Fremdheit in der Muttersprache‹ - so der Titel eines damaligen Verbunds von Forschungsprojekten - stellte sich bei vielen ostdeutschen Bürgern ein. Ein Bedarf an Sprachberatung entstand (z. B. Kühn/ Almstädt 1997). Generell ist zu konstatieren, dass die Hauptlast der Umorientierung von den Bürgern der ehemaligen DDR zu leisten war. Ein ›Wendekorpus‹ mit einer Textsammlung aus Ost und West und Studien zu ausgewählten ›Schlüsselwörtern der Wendezeit‹ (Herberg et al. 3.2 Aktuelle deutsch-deutsche Sprachentwicklungen nach 1945 147 <?page no="148"?> 1996) gibt Auskunft über den lexikalisch-semantischen Wandel der damali‐ gen Zeit. Mit Textsammlungen zur Alltagssprache ›einer untergegangenen Republik‹ wollen Reiher und Mitarbeiter »Mit sozialistischen und anderen Grüßen« (1995) diese vor dem Vergessen retten: »Pläne, Losungen, ja Urkunden, Verträge und selbst Zeugnisse waren plötzlich Makulatur«, wie es im Klappentext lautet. Aus dem Gelöbnis für die Jungen Pioniere heißt es: Gelöbnis Ich verspreche, als Junger Pionier so zu leben und zu lernen, daß ich würdig bin, Mitglied der Pionierorganisation zu sein, die den Namen „Ernst Thälmann“ trägt. Ich verspreche, die Gesetze der Jungen Pioniere immer zu halten und nach diesen Gesetzen meine Aufgaben als Junger Pionier zu erfüllen. DIE GESETZE DER JUNGEN PIONIERE, 1953 JUNGE PIONIERE achten den Menschen Wir sind ein Teil des werktätigen Volkes - die revolutionären Kämpfer der Arbeiterklasse sind die Vorbilder der Jungen Pioniere. JUNGE PIONIERE lieben ihre Heimat Wir helfen nach unseren Kräften mit im Kampf um den Frieden, ein einheitliche s , demokratisches, friedliebendes und unabhängiges Deutschland und den Aufbau des Sozialismus in unserer Deutschen Demokratischen Republik. JUNGE PIONIERE sind Freunde der Sowjetunion Wir hüten und pflegen die Freundschaft mit der Sowjetunion so, wie es uns Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck lehren. Die Jungpioniere der Sowjetunion sind unsere Freunde, von ihnen wollen wir immer lernen. Abb. II.3.3: Aus dem Gelöbnis für die Jungen Pioniere (aus: Reiher et al. 1995: 43) Neben dem Wortschatz zeigten sich die Folgen des soziopolitischen Um‐ bruchs aber auch in einer Veränderung des Textsortenspektrums und der Kommunikationssituationen: Es entstanden Forschungen zu Wohnungsan‐ zeigen (z. B. Reiher 1997: Dreiraumvs. Dreizimmerwohnungen), Leserbrie‐ 148 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="149"?> fen, Bewerbungen, Arbeitszeugnissen. Besondere Aufmerksamkeit erhiel‐ ten Losungen und Demo-Sprüche (Pappert/ Scharloth 2020), die u. a. Reime, Redensarten, Werbeslogans oder alte Losungen variieren, Wortspiele mit Personennamen verwenden u. a. m. (z. B. Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei, Ruinen schaffen ohne Waffen - 40 Jahre DDR, Es ist nicht alles Gold, was krenzt). Abb. II.3.4: Plakate und Spruchbänder der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 im Deutschen Historischen Museum in Berlin (picture-alliance | THILO RÜCKEIS TSP) Forschungsprojekte, die auf größeren Korpora basieren, sind zu Bewer‐ bungsgesprächen (Birkner 2001) und zum Erzählen (Bredel 1999) durchge‐ führt worden. Bredel untersucht Besonderheiten von ›Umbruch‹-Erzählun‐ gen von Ostberlinern. Birkners Studie basiert auf einem breiten Korpus von authentischen Gesprächen, Rollenspielen und Experteninterviews aus West und Ost und ermöglicht entsprechende Vergleiche. Ein wesentlicher Punkt in dieser Textsorte ist die Selbstdarstellung: Während Ostbewerbende sich ›nicht verkaufen‹ könnten, würden sich Westbewerbende im Schnitt ›besser darstellen‹, heißt es in einer Zusammenfassung (Internet-Quelle Auer). Insgesamt scheinen sich unterschiedliche Stilpräferenzen im Material abzuzeichnen: Während Ostdeutsche oft zu einer stärkeren Indirektheit 3.2 Aktuelle deutsch-deutsche Sprachentwicklungen nach 1945 149 <?page no="150"?> tendieren, zeichnen sich Äußerungen von Westdeutschen häufig durch Direktheit aus; weiterhin scheinen Ostbewerber bisweilen eher konsensori‐ entiert, Westbewerber dissenzbereit. Allerdings ist vor Generalisierungen und Stereotypisierungen zu warnen. Circa 60 Gespräche mit Ost- und Westberlinern haben Dittmar und Bredel (1999) in ihrem Band: Die Sprachmauer zusammengefasst. Abb. II.3.5: Die Sprachmauer (Dittmar/ Bredel 1999) Der erste Teil des Hauptkapitels dokumentiert narrative Interviews mit Ost- und Westberlinern zum 9.11.1989 und offenbart einen sehr formalen Umgang von Ostberlinern mit der Situation. Der zweite und zentrale Teil thematisiert Umbruch und ›kollektives Gedächtnis‹ und zeigt Dif‐ ferenzerfahrungen der Probanden auf, bei Ostberlinern vor allem eine extreme Involviertheit, bei Westberlinern eher eine Erweiterung des eigenen Handlungsradius. Der dritte Teil Registerwandel erarbeitet Unterschiede im Gebrauch sprachlicher Mittel, die zugleich oft Merkmale gesprochener 150 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="151"?> Sprache sein können und mithin nicht unbedingt Ost-West-Unterschiede präsentieren. Die 1998 durchgeführte und von Auer/ Hausendorf 2000 dokumentierte Bielefelder Tagung: 10 Jahre Wiedervereinigung demonstriert - ebenso wie das Resümee von Hellmann (2003) -, dass trotz der nachlassenden Brisanz in den jüngeren Generationen das Thema deutsch-deutsche Sprachentwick‐ lung noch lange nicht erschöpft ist. 3.3 Deutsch in Europa 3.3.1 Nationale Varietäten des Deutschen Auch historisch gesehen kann man nicht von einer einheitlichen deutschen Sprachgemeinschaft sprechen; vielmehr existierten neben dem Latein viele regionale Varietäten des Deutschen, die erst im Zuge eines langwierigen Ausgleichprozesses zu einer deutschen Hoch- und Schriftsprache mit gemeinsamer grammatischer und orthogra‐ phischer Grundlage vereinheitlicht wurden. »Die Gemeinsamkeit der deutschsprachigen Länder basiert auf einer sprachhistorischen und kulturell-literarischen Gemeinsamkeit (…)« erinnert Löffler (2016: 62). Erweitern wir unsere sprachpolitischen Betrachtungen auf den deutschen Sprachraum in Europa. Heute gehen wir von einer plurizentrischen deutschen Sprache (Clyne 1995) aus - wie mehrere andere europäische Sprachen auch (Englisch, Französisch, Niederländisch, Portugiesisch, Spa‐ nisch), insbesondere von einer pluriarealen Standardsprache. Deutsch ist in insgesamt sieben Staaten bzw. Teilen davon staatliche Amtssprache; in drei unabhängigen Staaten die Landes- oder Nationalsprache: Neben Deutschland sind dies Österreich und die deutschsprachige Schweiz, nach Ammon nationale Vollzentren der deutschen Sprache, die auch über eigene Nachschlagewerke, v. a. Wörterbücher, verfügen. Demgegenüber werden Liechtenstein, Luxemburg, Südtirol und Ostbelgien von Ammon als nationale Halbzentren bezeichnet, die zwar auch über standardsprachliche Besonderheiten verfügten, die aber nicht kodifiziert seien. 3.3 Deutsch in Europa 151 <?page no="152"?> Die jeweiligen nationalen Standardvarietäten des Deutschen weisen Be‐ sonderheiten auf, vor allem im Bereich der Aussprache und der Lexik. In den drei deutschsprachigen Zentren werden diese Varianten als Austriazismen (im österreichischen Standarddeutsch), Helvetismen (im schweizerischen Hochdeutsch) und Teutonismen (im deutschen Standard) bezeichnet. ● Für das österreichische Deutsch können die Beispiele Jänner ( Januar) und Marille (Aprikose), ● für das schweizer Autocar (Autobus) und Rüebli (Möhre), ● für das deutsche Abitur und Sonnabend genannt werden (nach Keller‐ meier-Rehbein 2022: 41). Listen mit Austriazismen oder Helvetismen sind so beliebt, dass sie auch als Postkartenmotive mit ungefähren deutschen Entsprechungen zu finden sind (z. B. für Wienerisch: i steh auf di - ich liebe dich, drahn - abends ausgehen, Ungustl - widerlicher Typ, Gstanzl - kurzes Lied). Die nationalen Varianten sind sprachliche Merkmale, die kenn‐ zeichnend für eine nationale Standardvarietät sind. Sie gelten als nationale Schibboleths, Erkennungszeichen für andere, die den Spre‐ chern selbst nicht bewusst sein müssen. Der Grad an unterschiedli‐ chen Ausdrücken ist allerdings relativ gering; die meisten werden gemeindeutsch genutzt und verstanden. Dennoch gelten die nationalen Varietäten als Symbole nationaler Identität und Eigenständigkeit und werden von den jeweiligen Sprechern auch als solche heftig und emotional verteidigt, vor allem gegen den sprachlichen Alleinvertre‐ tungsanspruch des in Deutschland üblichen Standards. Ein besonders prägnantes Beispiel für einen solchen Sprachpatriotismus fand im Rahmen der Aufnahmeverhandlungen Österreichs mit der Euro‐ päischen Union 1994/ 95 statt: Und zwar wurde dem Beitrittsvertrag für Österreich ein Protokoll (Nr. 10) hinzugefügt, das 23 Varianten des österrei‐ chischen Standarddeutschs, also Austriazismen, nannte, die in EU-Texten zusätzlich zu den in Deutschland geltenden Varianten zu verwenden sind. Dies veranschaulicht der folgende Textauszug des Protokolls: 152 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="153"?> Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes: 1. Die in der österreichischen Rechtsordnung enthaltenen und im An‐ hang zu diesem Protokoll aufgelisteten spezifisch öszterreichischen Ausdrücke der deutschen Sprache haben den gleichen Status und dürfen mit der gleichen Rechtswirkung verwendet werden wie die in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücke, die im Anhang angeführt sind. 2. In der deutschen Sprachfassung neuer Rechtsakte werden die im Anhang genannten spezifisch österreichischen Ausdrücke den in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücke in geeigne‐ ter Form hinzufgefügt: Anhang Österreich Beiried Eierschwammerl Erdäpfel Faschiertes Fisolen Grammeln Hüfterl Karfiol Kohlsprossen Kren Lungenbraten Marillen Melanzini Nuß Obers Paradeiser Powidl Ribisel Rostbraten Schlögel Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften Roastbeef Pfifferlinge Kartoffeln Hackfleisch Grüne Bohnen Grieben Hüfte Blumenkohl Rosenkohl Meerrettich Filet Aprikosen Aubergine Kugel Sahne Tomaten Pflaumenmus Johannisbeeren Hochrippe Keule 3.3 Deutsch in Europa 153 <?page no="154"?> Topfen Vogerlsalat Weichseln Quark Feldsalat Sauerkirschen Abb. II.3.6: Protokoll über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union (Nr. L 30/ 4 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften) Besonders erwähnenswert sind nach Kellermeier-Rehbein (2022: 38) noch Sachspezifika, die es nicht in allen Zentren einer Sprache gibt. Dazu rechnen landestypische Speisen (z. B. Panhas), Besonderheiten der nationalen Ver‐ waltung (z. B. Regierender Bürgermeister) und geographische Besonderheiten (z.-B. Hallig). Auch in der deutschsprachigen Schweiz existieren viele Besonderheiten im nationalen Standard, doch spielen diese für das Schweizer Nationalbe‐ wusstein keine so entscheidende Rolle wie in Österreich, da sich dieses stärker als in den übrigen deutschsprachigen Staaten vor allem im Dialekt ausdrückt. 3.3.2 Das Variantenwörterbuch Daher bedarf die Entwicklung eines neuartigen Wörterbuchs (Ammon/ Bi‐ ckel/ Lenz 2016) in Zusammenarbeit von drei nationalen Forschungsgruppen besondere Erwähnung, dessen zweite Auflage auch unter Berücksichtigung der im Untertitel genannten drei ›Viertelzentren‹, in denen Deutsch eine Minderheitensprache ist, und der regionalen Differenzierung neu bearbeitet wurde. Sie enthält nun ca. 12.000 standardsprachliche Wörter und Wendungen mit national und/ oder regional eingeschränkter Verbreitung und/ oder mit Differenzen im Gebrauch sowie deren gemeindeutsche Ent‐ sprechungen. Grundlage bildet ein Korpus von geschriebenen Sachtexten, vor allem Zeitungen, die in der Regel eine Standardschriftlichkeit des Deutschen repräsentieren. Das Korpus wird genutzt bei der Analyse von Gebrauchsfre‐ quenzen, der nationalen und regionalen Distribution sowie der Auswahl von Beispielsätzen. Nationale Varianten sind immer Varianten des jeweiligen Standards, sie 154 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="155"?> ● sind spezifisch für das betreffende Land bzw. die Minderheit; ● kommen regelmäßig in Modelltexten vor; ● werden von jeweiligen Sprachnormautoritäten (v. a. Lehrkräften) als für den öffentlichen Sprachgebrauch korrekt anerkannt. Erfüllt ein Lemma, diese Kriterien nicht, wird es z. B. in Modelltexten als nichtstandardsprachlich markiert (u. a. in Anführungszeichen gesetzt) und gilt als ›Grenzfall des Standards‹. Gegenüber der Erstauflage (2004) wurde der gesamte Lemmabestand auf der Grundlage von Korpusanalysen, lexikographischen Nachschlagewerken und Expertenurteilen überprüft und aktualisiert. Damit ist nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für die Forschung, sondern auch für viele Anwendungsbereiche (→ Kap. III.1) wie Übersetzen und Dolmetschen und Deutsch als Fremdsprache vorgelegt worden. In einem Vorwort erläutern die Verfasser Intention und Zustandekommen des Nachschlagewerkes. An einem Beispielartikel soll das Variantenwör‐ terbuch veranschaulicht werden. Die Artikel informieren über die natio‐ nal-regionale Zuordnung, Angaben zu Bedeutung, Grammatik, Lautung und nationale/ regionale Varianten sowie ggf. weitere Zusatzangaben wie stilistische Markierungen. Ạbfallkübel A CH D-mittel/ süd der; -s, -: ��� Mistkübel A CH, ��� Müllkübel A D, ��� Kehrichteimer CH, ��� Mistkorb RUM, ��� Schmutzkorb RUM ‚Abfalleimer; Mülleimer‘: Eines stimmt: Wenn man einen Ab-fallkübel sucht, ist er meist nicht da (Presse 4. 6. 2013, 23; A); Seit gestern sind die silbrigen Abfallkübel am Bahnhof Bern Geschichte. Sie wurden durch Recycling-Stationen ersetzt (Blick 16. 10. 2012, 1; CH); Ta ke -away-Betrieben wird die Pfl icht auferlegt, Abfallkübel aufzustellen und regelmäßig zu leeren (Badische Ztg 9. 2. 2012, 35; D) - Wird in A seltener verwendet als Mistkübel. Vgl. Kübel (Ammon/ Bickel/ Lenz 2016: s.v. ›Abfallkübel‹) 3.4 Deutsch als Fremdsprache Die Einordnung dieses Kapitels unter der Überschrift: Deutsch in Europa trägt dem Umstand Rechnung, dass die deutsche Sprache hauptsächlich in Europa verbreitet war und ist; sie ist keine Weltsprache, obwohl Deutsch als Fremdsprache natürlich weltweit gelehrt und gelernt wird. Die Verteilung wird in Abbildung II.3.7 dargestellt: 3.4 Deutsch als Fremdsprache 155 <?page no="156"?> Abb. II.3.7: Weltweite Verteilung der Deutschlernenden nach Regionen (Auswärtiges Amt 2020: 8) Als zentraler Bestandteil der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ist die Förderung von Deutsch als Fremdsprache (DaF) im Ausland Kernaufgabe des Auswärtigen Amts und seiner Partnerinstitutionen, vor allem des Deut‐ schen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) und des Goethe-Instituts (GI). Im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kommt der Deutschförderung weltweit große Bedeutung zu. Zu den Maßnahmen ge‐ hört die 2008 vom damaligen Außenminister Steinmeier ins Leben gerufene PASCH-Initiative (Schulen: Partner der Zukunft), die Schulen im Ausland mit einem hohen Stellenwert des Deutschunterrichts fördert. Zu den politi‐ schen Maßnahmen rechnet auch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz aus dem Jahr 2020, das der Anwerbung von Fachkräften aus sog. Drittstaaten, also Nicht-EU-Ländern dient. Das Auswärtige Amt fördert unter anderem Deutschunterricht an Schulen, die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, das Angebot an Hochschulstipendien sowie außerschulische und außeruni‐ versitäre Sprachlernangebote. In Europa ist Deutsch die Sprache mit der größten Anzahl von Mutter‐ sprachlern, als Fremdsprache steht Deutsch dagegen nicht an der Spitze aller erlernten Fremdsprachen, wie die folgenden Nachweise und Übersichten zeigen: Deutsch ist Muttersprache von knapp 20 %. Darüber hinaus sprechen über 10 % der Europäer Deutsch als Fremdsprache; das heißt insgesamt rund 30-% der EU-Bürger sprechen Deutsch. 156 3 Sprachgebrauch und Politik <?page no="157"?> Insgesamt ist Englisch in Europa die meistgesprochene Sprache, das zeigen Daten von Eurostat. 38 % der Europäer beherrschen sie, gefolgt von Französisch mit 12-%. Deutsch liegt mit 11-% auf dem dritten Platz. (www.a uswaertigesamt.de/ de/ aussenpolitik/ europa) Mit über 90 Millionen Sprechern ist Deutsch zudem die am meisten gesprochene Muttersprache in der Europäischen Union und rangiert unter den zehn stärksten Muttersprachen der Welt. Deutsch ist eine der 24 Amts- und Arbeitssprachen in der EU. Ursprünglich stark in Mittel- und Osteuropa verbreitet und als ›Brückensprache‹ Europas (Clyne 1995) bezeichnet, ist die Verbreitung und Geltung des Deutschen durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg stark zurückgegangen und hat sich heute auf niedrigerem Niveau stabilisiert. Verändert haben sich vor allem die Motive, Deutsch als Fremdsprache zu erwerben: Waren es früher hauptsächlich Motive der Bildungssprache, z. B. die Texte der deutschen Klassiker aus Literatur und Philosophie im Original zu lesen und zu verstehen, sind es heute Motive, die mit der Wirtschaftskraft Deutschlands zusammenhängen: Deutschlernende versprechen sich bessere Berufschancen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem in Europa. 3.5 Zusammenfassung und Literatur In diesem Kapitel haben wir drei sprachpolitische Gegenstandsfelder prä‐ sentiert, die primär auf der politischen Makroebene und sekundär auch auf der regionalen Ebene zu lokalisieren sind: Die politischen Umbrüche im deutsch-deutschen Verhältnis wurden insbesondere mit der Wende im Jahr 1989 und ihren sprachlichen Folgen skizziert (→ Kap. 3.2) und die Differenzierung von verschiedenen Standardvarietäten des Deutschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgestellt (→ Kap. 3.3). Schließ‐ lich folgte ein Ausblick auf die Verbreitung von Deutsch als Fremdsprache vor allem in Europa (→ Kap. 3.4). Bei aller grundlegenden Unterschied‐ lichkeit haben diese Gegenstandsfelder gemeinsam, dass (sprach)politische Entscheidungen die Entwicklungen beeinflusst haben, sei es als Folge von politischen Umbrüchen (→ Kap. 3.2) oder staatlicher Kulturpolitik (→ Kap. 3.3 und 3.4). 3.5 Zusammenfassung und Literatur 157 <?page no="158"?> Weiterführende Literatur Ammon, Ulrich (2006): Nationale Standardvarietäten in deutschsprachigen Ländern. Mit einem Bericht über das Variantenwörterbuch des Deutschen. In: Eva Neuland (Hg.): Variation im heutigen Deutsch. Perspektiven für den Deutschunterricht. Frankfurt/ M., 97-111. Der Deutschunterricht (1/ 1997): Sprachwandel nach 1989 (hgg. v. Eva Neuland). Literatur (gesamt) Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/ New York. Ammon, Ulrich (2004): Sprachliche Variation im heutigen Deutsch: nationale und regionale Standardvarietäten. In: Der Deutschunterricht 1, 8-17. 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J.): Abrufbar unter: www.bundesregierung.de/ breg-de/ such e/ leipziger-rufen-wir-sind-ein-volk-403754 (Stand: 02/ 06/ 2022) 3.5 Zusammenfassung und Literatur 161 <?page no="163"?> 4 Sprachgebrauch und Geschlecht 4.1 Sprachliche Benachteiligung von Frauen und Sexismus-Kritik Das Interesse an frauenbezogenen Forschungsthemen nahm im Zuge der Frauenbewegungen in den 1970er Jahren in Westdeutschland deutlich zu. Nach der Institutionalisierung von Frauenstudien und den ersten Beiträgen zur linguistischen Frauenforschung in den Vereinigten Staaten, besonders mit dem 1973 erschienenen Beitrag von Robin Lakoff: Language and Wo‐ man’s Place, erlebte auch die feministische Linguistik in Deutschland ihren Startschuss mit dem 1978 veröffentlichten Beitrag: Linguistik und Frauensprache von Senta Trömel-Plötz. Darin bemängelt sie die Diskriminie‐ rung von Frauen im Sprachsystem wie im Sprachgebrauch, wofür eine Reihe von Beispielen angeführt werden, v.-a. das generische Maskulinum und die personale Referenz sowie der Gebrauch bestimmter Wortschatzregister ent‐ sprechend den traditionellen Frauenrollen, z. B. Formen der Verniedlichung, Fehlen von Vulgärausdrücken, Flüchen etc., Verwendung von Stilmitteln der Verschönerung, Abschwächung, von standardnäheren Prestigeformen des Sprechens. Und in ihrer Antrittsvorlesung: Frauensprache in unserer Welt der Männer 1979 an der Uni Konstanz resümiert sie: Die Forschung auf dem Gebiet Frauen und Sprache konzentriert sich darauf zu zeigen, dass und wie Frauen in der Sprache ausgeschlossen und machtlos, unsicht‐ bar und peripher, benachteiligt und degradiert sind. Denn Männer dominieren auch in der Sprache und bei sprachlichen Aktivitäten, von den Trivialunterhal‐ tungen des Alltags zum wissenschaftlichen Diskurs bis zur literarischen Tätigkeit und politischen Auseinandersetzung. (Trömel-Plötz 1982: 60) Ihre starke These von der »Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen«, Untertitel des Sammelbands Gewalt durch Sprache (1984), begründet sie ge‐ sprächsanalytisch mit Hypothesen anhand von zwei TV-Sendungen (58 ff.): <?page no="164"?> ● Männer ergreifen öfter das Wort und reden länger als Frauen. ● Männer unterbrechen Frauen systematisch; Frauen unterbrechen Män‐ ner kaum. ● Frauen müssen um ihr Rederecht kämpfen und müssen kämpfen, es zu behalten. ● Männer bestimmen das Gesprächsthema, und Frauen leisten die Ge‐ sprächsarbeit. Darin sehe ich die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen, dass weder ihre Leistung und Arbeit im Gespräch honoriert wird noch ihre professionelle Kompetenz garantiert, dass sie gehört, geschweige denn gleichbehandelt werden. (Trömel-Plötz 1984: 65 f.) Trömel-Plötz hat diese Hypothesen nicht systematisch überprüft; ihr provo‐ kativer Anspruch hat gleichwohl viele Studien animiert, die z.T. zu anderen Ergebnissen kamen und den universalistischen Anspruch einer homogenen ›Frauensprache‹ als letztlich unhaltbar erwiesen (→ Kap. II.4.3). Luise Pusch konzentrierte sich demgegenüber auf journalistisches, sprachkritisch-iro‐ nisches Schreiben und die Textsorte der Glosse v. a. in der Zeitschrift Courage. Ihre Texte sind an ein breiteres Publikum gerichtet und regen in der Tradition der öffentlichen Sprachkritik mit Witz zum Nachdenken über Sprache an. Die Erwiderung der vorherrschenden Linguistik erfolgte rasch von Kalverkämper (1979): Die Frauen und die Sprache, der aus strukturalistischer Sicht die Argumentation der feministischen Linguistik zu widerlegen ver‐ suchte. Fortgesetzt wurde die Debatte von Pusch (1984) mit ihrem Beitrag: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch weiter kommt man ohne ihr, in dem sie das »Wahrgenommenwerden, Beachtetwerden, Identifiziertwerden und Gemeintsein« (23 ff.) als linguistisch ernst zu nehmende Größen in ihr Recht setzt. Weitere Beiträge von Trömel-Plötz und Pusch präsentierten die Sam‐ melbände von 1983 und 1984, die zugleich die Interdisziplinarität und Internationalität der feministischen Grundgedanken entfalteten. Einzelne Studien vertieften Forschungen v. a. zum Gesprächsverhalten, wie die von F. Werner (1983) und von C. Schmidt (1988) zum geschlechtstypischen Kom‐ munikationsverhalten in studentischen Kleingruppen: »Typisch weiblich - typisch männlich«. Kommentare und Einordnungsversuche folgten von Bußmann (1995) und Schoenthal (1985) bis zu den ersten Übersichts- und 164 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="165"?> Einführungsbänden von Samel (2000), Klann-Delius (2005) und Ayaß (2008), die das Gegenstandsfeld der feministischen Linguistik zu systematisieren versuchten und dabei auch Aspekte wie Entstehung der feministischen Sprachwissenschaft, Sprachpolitik und Sprachwandel berücksichtigten. Karsta Frank präsentierte aus gesprächsanalytischer Sicht Metaanalysen vieler gemischtgeschlechtlicher Einzelstudien unter dem Titel: »Sprachge‐ walt: die sprachliche Reproduktion der Geschlechterhierarchie« (1992). Dabei diskutierte sie die Einwirkung von Variablen wie ● Aufnahmesituation, ● Gruppengröße und Gruppenzusammensetzung, ● Grad der Öffentlichkeit, ● Soziales Verhältnis der Beteiligten und ihr Bekanntheitsgrad, ● Gesprächsthema auf die bislang in der feministischen Linguistik als Zeichen für die Dominanz von männlichen Gesprächsteilnehmern angesehenen Variablen der Rede‐ zeit, Zahl und Dauer von Redebeiträgen, Art und Anzahl von Sprecherwech‐ sel (s. die Bemerkungen zu Trömel-Plötz), Mittel der Gesprächsarbeit wie Minimalbestätigungen, Mittel der Themenkontrolle. Ihr Plädoyer für eine kontextbezogene Interpretation sprachlicher Äußerungen nimmt grundle‐ gende Einsichten der interaktionalen Linguistik vorweg (→ Kap. II.4.3, I.3.4). Weitere Ausdehnungen des Forschungsfeldes in den 1980er Jahren bezo‐ gen sich auf »Körperstrategien« wie Körpersprache und nonverbale Kommuni‐ kation (Henley 1988) und den Umgang mit Humor (Kotthoff 1988). Besondere Aufmerksamkeit wurde auch dem Sexismus im Bildungswesen (Spender 1985) und dem Schulbereich gewidmet (Enders-Dragässer/ Fuchs 1990). Zusammengefasst sind Verdienste wie Schwächen der feministi‐ schen Linguistik zu würdigen. Ihre frühen Vertreterinnen haben auf wichtige Forschungsdesiderate im interdisziplinären und internatio‐ nalen Kontext aufmerksam gemacht und zu intensiven Forschungen angeregt. Gleichwohl mussten sich die frühen Studien und Hypothe‐ sen als zu global erweisen, sowohl im Hinblick auf die biosoziale Kategorie des Geschlechts als auch auf die linguistische Kategorie einer ›Frauensprache‹. 4.1 Sprachliche Benachteiligung von Frauen und Sexismus-Kritik 165 <?page no="166"?> Die Aspekte Sprachpolitik und Sprachwandel dominierten allerdings von Anbeginn die linguistische Beschäftigung mit der Thematik Sprache und Geschlecht und haben dazu beigetragen, die feministische Linguistik auf eine feministische Sprachkritik zu konzentrieren (→-Kap. III.2). 4.2 Auseinandersetzungen um das generische Maskulinum In ihrem Buch Genderlinguistik bezeichnen die Verfasserinnen Kotthoff und Nübling im Kapitel: »Das so genannte generische Maskulinum« dieses als »eine der größten Kontroversen in der öffentlichen Diskussion« (2018: 91). Die Frage, ob maskuline Personenbezeichnungen wie Leser, Hörer und Indefinitpronomen wie man, jeder geschlechtsübergreifend referieren, bewegt die Öffentlichkeit bis heute, wie die jüngste Duden-Kritik belegt (vgl. SZ v. 6./ 7.3.2021: Die Bösewichtin sowie v. 11.3.2021: Neue Pronomen braucht das Land). Allerdings wird der Begriff generisch in der Linguistik abstrakt auf eine Gattung (Klasse) bezogen und nicht auf konkrete Personen; er wird also nicht-referentiell verwendet (vgl. Klann-Delius 2005): Dem Leser sollte das Buch gefallen. Daher wäre die Bezeichnung geschlechtsübergreifendes (an Stelle von generisches) Maskulinum zutreffender. Tabelle II.5 soll den Zusammenhang von Referenzialität und der Relevanz von Geschlecht verdeutlichen: Je höher die Referenzialität, desto obligatorischer die Ge‐ schlechtsangabe: - Beispiele Kategorien - a Sehr geehrter Gast! Lieber Rent‐ ner! adressierend +-+--Referenzialität----- +-+--Relevanz von Geschlecht----- b Dieser Gast / Dieser Rentner be‐ zieht gleich sein Zimmer referierend: spezifisch, de‐ monstrativ, Agens c Der Gast / Der Rentner sucht noch seinen Koffer spezifisch, definit, Agens d Ich habe den Gast / den Rentner begrüßt spezifisch, definit, Patiens e Ich begrüße nachher noch einen [bestimmten] Gast / Rentner spezifisch, indefinit 166 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="167"?> f Im Wirtshaus kommt nach‐ her sicher noch [irgend] ein Gast / ein Rentner vorbei nicht-spezifisch, indefinit g Sg.: Ein (der) Gast / ein (der) Rentner ist immer willkommen; Pl.: Gäste / Rentner sind immer willkommen. generisch, Subjekt h Du bist ein beliebter Gast / jetzt (ein) Rentner prädikativ Tab. II.4.1: Zusammenhang von Referenzialität und Relevanz von Geschlecht (Kot‐ thoff/ Nübling 2018: 93) Bei Gast - Gästin, einem Anlass für die derzeitige Duden-Schelte, besteht das Dilemma, dass die Form Gästin - obwohl schon früh bei Grimm im Deutschen belegt - nur äußerst selten moviert wird, wie auch im Duden angemerkt. Zur Veranschaulichung der strukturellen Asymmetrie der Kennzeich‐ nung von Geschlechterdifferenzen im Deutschen greifen die Verfasserinnen auf eine Darstellung von Pusch zurück (1984: 54): Singular sog. generisches Maskulinum (geschlechtsübergreifend) der Student geschlechtsspezifisch die Studentin der Student Plural Geschlechtsspezifisch die Stu‐ dentinnen die Studenten sog. generisches Maskulinum (geschlechtsübergreifend) die Studenten Tab. II.4.2: Asymmetrie der Kennzeichnung von Geschlechterdifferenzen (Kotthoff/ Nübling 2018: 97) Da die beiden Lesarten von der Student homophon sind - im Gegensatz zur geschlechtsspezifischen Lesart von die Studentin - können sich laufend Missverständnisse ergeben. Die Vermutung, dass maskuline Personenbezeichnungen eine Prädomi‐ nanz männlicher Geschlechtsspezifizierung erzeugen, wurde in meh‐ 4.2 Auseinandersetzungen um das generische Maskulinum 167 <?page no="168"?> reren Studien empirisch überprüft. Die erste stammt von Josef Klein, der Probanden mit entsprechenden Lückentests konfrontierte, darunter: Auch dieses Jahr haben wir die Ehre, einen Schüler unserer Schule für das beste Abitur mit einem Stipendium zu belohnen. Es handelt sich dabei um … (Vorname) Kaiser. Wir gratulieren. (Klein 1988: 314) Von insgesamt 158 männlichen wie weiblichen Probanden wählten nur 20 % einen weiblichen Vornamen, knapp 70 % assoziierten jedoch einen männlichen Schüler. An diesem Verhältnis ändert sich auch nichts Wesent‐ liches, wenn man männliche und weibliche Probanden getrennt auswertet. Maskuline Personal- und Possessivpronomen erhöhen den Effekt der Ge‐ schlechterdominanz noch mehr. Aber selbst die Beidnennung löscht ihn auch nicht vollkommen aus; sie mindert ihn jedoch, und zwar durchaus erheblich am Beispiel des obigen Testsatzes (47 % Assoziationen mit weib‐ lichen vs. 44 % mit männlichen Referenten), wie Klein zeigen konnte. Er kommt zu dem Schluss: Die Benachteiligung der Frau durch das generische Maskulinum ist also keine feministische Schimäre, sondern psycholinguistische Realität. (Klein 1988: 319) Weitere Studien differenzieren die Wirkung einer Reihe von weiteren Faktoren im Hinblick auf die Geschlechterwahrnehmung (dazu z. B. Gott‐ burgsen 2000, Heise 2000, Rothmund/ Scheele 2004, darunter insbesondere verschiedene Referenzformen (generisches Maskulinum, Neutralformen wie Jugendliche, geschlechtsspezifizierende Alternativformen wie Beidnen‐ nungen, Binnen-I etc)), Kategorien wie Numerus, (In)Definitheit, Frequenz movierter Korrelate, daneben auch das Auftreten in verschiedenen Kontex‐ ten (z. B. Eishockey vs. Gymnastik) und Textsorten (z. B. Stellenanzeigen, Werbetexte). Die schlechtesten Ergebnisse im Sinne der Geschlechterge‐ rechtigkeit erzielt stets das generische Maskulinum im Singular. Kotthoff und Nübling schließen angesichts der Forschungslage: Ist man beim Texten daran interessiert, beide Geschlechter zu repräsentieren, dann führt kein Weg an expliziten Sichtbarkeitsverfahren vorbei […]. Finden sich keine expliziten Hinweise auf weibliches Geschlecht, greift der male bias. (Kotthoff/ Nübling 2018: 115) Neben der Auseinandersetzung um das generische Maskulinum haben auch weitere sprachliche Verfahren der Markierung oder Neutralisierung von Geschlecht heftige Kritik erfahren, darunter vor allem die Femininmo‐ 168 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="169"?> vierung durch das Suffix -in (Verfasserin, Leserin) und der dahinterstehende Androzentrismus. Die Entwicklung von einer relationalen (die Frau des Pastors als Pastorin) zu einer funktionalen Movierung nach dem Agens-Prin‐ zip (Pastorin als Berufsbezeichnung) spiegelt einen Zuwachs weiblicher Agentivität wider. Pusch kritisierte: Das hochproduktive Suffix -in konserviert im Sprachsystem die Jahrtausende alte Abhängigkeit der Frau vom Mann, die es endlich zu überwinden gilt. Auch sprachlich. (Pusch 1984: 59) Puschs Versuch einer Maskulinmovierung (die Pilot, der Piloterich) hat sie selbst als »Beitrag einer außerirdischen Linguistik« bezeichnet (1984: 43). Manche Suffixe wie das französische -euse evozieren überdies im Deutschen pejorative Nebenbedeutungen (Friseuse, bes. bekannt: Masseuse) und werden vermieden (Friseurin/ Frisörin, Masseurin). Neuerdings finden sich Neubildungen wie die Suffixe -x oder -ecs als Ausdrücke der Diversität, die die Zweigeschlechtlichkeit neutralisieren sollen, sich aber zugleich weit vom gesellschaftlichen Usus entfernen. 4.3 Geschlechtstypische Kommunikationsstile Die Gesprächsforschung zum Thema Sprache und Geschlecht hat sich seit den Anstößen von R. Lakoff (1973) und im Deutschen Trömel-Plötz (1982) mit der männlichen Dominanz und den vermeintlichen Defiziten von Frauen im Gespräch beschäftigt: Der weibliche Gesprächsstil (Gen‐ derlect) sei durch Zurückhaltungen, Abschwächungen, Unsicherheiten gekennzeichnet (→ Kap. 4.3.1), der männlich dagegen sei stärker durchset‐ zungsbestimmt. Dies schienen auch frühe Studien wie die von Kotthoff zu argumentativen Dialogen an der Universität (1984) zu bestätigen: Unter dem Aspekt erfolgreicher Kommunikation erwies sich das direktere und beharrlichere Gesprächsverhalten des männlichen Probanden erfolgreicher im Erreichen eines bestimmten Gesprächsziels (Unterschrift des Dozenten) als der höflichere, verständnisvollere Gesprächsstil der weiblichen Proban‐ din. Trotz aller methodischer Kritik an den frühen Einzelbeobachtungen hat die These der unterschiedlichen Gesprächskulturen, die besonders durch Maltz und Borkers Zwei-Kulturen-These (1991) und die für eine breitere Öffentlichkeit geschriebenen Bestseller von Tannen (Du kannst 4.3 Geschlechtstypische Kommunikationsstile 169 <?page no="170"?> mich einfach nicht verstehen, warum Männer und Frauen aneinander vorbei‐ reden (1991) sowie Das hab’ ich nicht gesagt! (1992) popularisiert wurde, weitgehende Zustimmung erfahren. Der ursprünglich negativ bewertete weibliche Gesprächsstil wurde - im Sinne einer Differenzthese - als kooperativer, indirekter und personorientierter beschrieben, der männliche dagegen als kompetitiver, direkter und selbstbezogener. Wenn Frauen eine Bindungs- und Intimitätssprache, Männer aber eine Status- und Unabhängigkeitssprache sprechen und verstehen, dann kann die Kommuni‐ kation von Männern und Frauen zur interkulturellen Kommunikation werden, die oft am unterschiedlichen Gesprächsstil scheitert. (Tannen 1991: 40) Dazu ein Beispiel eines Gesprächs eines Ehepaars im Auto: Beispiel: Missverständnis zwischen Mann und Frau Die Frau hatte gefragt: ›Würdest Du gern irgendwo anhalten, um was zu trinken? ‹ Ihr Mann hatte - wahrheitsgemäß - mit ›Nein‹ geantwor‐ tet und nicht angehalten. Frustriert musste er später feststellen, dass seine Frau verärgert war, weil sie gern irgendwo Rast gemacht hätte. Er fragte sich: ›Warum hat sie nicht einfach gesagt, was sie wollte? Warum spielt sie solche Spielchen mit mir? ‹ Ich erklärte, dass die Frau nicht deshalb verärgert war, weil sie ihren Willen nicht bekommen hatte, sondern weil ihr Mann sich nicht dafür interessiert hatte, was sie gern gemacht hätte. (Tannen 1991: 13) Insgesamt muss man aber schließen, dass solche Gesprächsstile im Sinne der Mehrdimensionalität sprachlicher Variation nicht immer und nicht unbedingt nur mit der Kategorie Geschlecht verbunden und daher die Bezeichnungen als Genderlekte verkürzt sind. So urteilten schon Günthner und Kotthoff: Es darf aber nicht aus den Augen verloren werden, dass Geschlecht lediglich einen relevanten Parameter (unter anderen wie Alter, Bildung, soziale Schicht, ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomischer Status etc.) in Interaktionssituatio‐ nen darstellt. (Günthner/ Kotthoff 1991: 38) Gesprächsstilistische Forschungen haben im Übrigen dazu beigetragen, anfänglich eher unreflektiert verwendete linguistische Aspekte genauer zu differenzieren. Dazu gehören: 170 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="171"?> ● Unterbrechungen: Sind von Überlappungen, Einwürfen, Rezipienten‐ signalen mit je unterschiedlichen Funktionen im Gespräch zu unter‐ scheiden; sie können Dominanz und Status oder auch hohe Involviert‐ heit sowie Zustimmung oder Ablehnung des vorhergehenden Beitrags ausdrücken. Außerdem sind Unterbrechungen interkulturell sehr unter‐ schiedlich zu interpretieren. ● Fragen: Können selbst in Verbindung mit Rückversicherungspartikeln (nicht wahr? Oder? ) sehr unterschiedliche Formen und Funktionen aufweisen (z. B. Abschwächung des Geltungsgrads, Einführung eines neuen (Teil)Themas). Studien kommen dabei zu unterschiedlichen Er‐ gebnissen, wobei Status und Kontext jeweils eine bedeutende Rolle spielen. ● Rezeptionssignale: Können zwar unterstützende Rückmeldefunktion anzeigen, aber auch andere Funktionen ausdrücken und als Zeichen von Status und Expertenrollen gelten. ● Redezeit und -umfang: Auch wenn sich Vorurteile wie die der ge‐ schwätzigeren Frauen bis heute erhalten und - wie das jüngste Beispiel des (ehemaligen) japanischen IOC-Vorsitzenden zeigt - zu politischen Rücktritten führen können, ist auch die Redezeit kein verlässlicher Indikator für die Geschlechtszugehörigkeit. Vielmehr bestätigt sich, dass männliche Gesprächsteilnehmer zumal in formellen Gesprächen oft höhere Redezeiten in Anspruch nehmen, wobei wiederum der Status in solchen Gesprächen eine ausschlaggebende Bedeutung hat. Die Beispiele zeigen aber zugleich, dass die Selbstdarstellung von Expertentum und Autorität ein geschlechterbezogenes Gefälle ergibt und zudem ein interaktives, ko-konstruiertes Produkt darstellt, zu dem alle Gesprächsbeteiligten beitragen. Die Befunde aus verschiedenen Studien lassen den Schluss zu, dass es keine geschlechtsexklusive Gesprächsstilistik gibt (so auch Kotthoff/ Nübling 2018: 303). Neuerdings werden auch im Zuge der Gender-Debatten und der schrift‐ sprachlichen Dokumentationen und Symbolisierungen von Geschlechter‐ konzepten unterschiedliche Schreibstile unterschieden (Kotthoff 2020; → Kap. III.3.3). Auf das Thema sprachliche Gleichstellung gehen wir im Kapitel III.3.3 ein. 4.3 Geschlechtstypische Kommunikationsstile 171 <?page no="172"?> 4.4 Sozialisation, Stilisierungen und Doing Gender Forschungen zu einer biologisch orientierten Geschlechterkategorie (Sexus) wurden schließlich auch in Deutschland durch die soziale Kategorie Gender ersetzt, womit nachdrücklich auf die kulturelle Bedingtheit des Sprachgebrauchs verwiesen wurde. Damit gerieten auch die Kategorie der Geschlechtsrollenstereotype und der sozialkonstruktivistische Ansatz‐ punkt verstärkt in den Blickpunkt der Forschung (u. a. Günthner et al. 2012). Die Frage also ist: Wie wird Geschlechtsidentität, Weiblichkeit und Männlichkeit im Gespräch hergestellt? Diese Frage wollen wir über die Sozialisationsforschung verfolgen, die die Wirksamkeit der Produktion von Genderdifferenzen aufgezeigt hat. 4.4.1 Doing Gender in der primären Sozialisation Goffman ist dem Phänomen der Geschlechterstilisierung als naturalisier‐ tem Faktor der Interaktionsordnung nachgegangen (1994). Solche Stilisie‐ rungen laufen im Gespräch fortdauernd und oft auch unbewusst mit. Doing Gender nach West und Zimmerman (1987) sowie Fensterma‐ ker und West (2001) setzt nach Kotthoff eine besondere Relevantset‐ zung von Geschlecht im Gespräch voraus und fällt überdies oft mit Doing Dominance zusammen. In jedem Fall ist diese Formulierung von einem essentialistischen Konzept von Geschlechtsspezifik als inhären‐ tem Merkmal von Interaktanten zu unterscheiden und betont zudem die Handlungsebene im Gespräch. Doing x hat sich als passende Be‐ zeichnung auch für die Stilisierungen in der Jugendsprachforschung erwiesen (→-Kap. II.5). Bereits Neugeborenen werden aufgrund ihrer biologischen Geschlechtszu‐ gehörigkeit Merkmale und Eigenschaften zugewiesen, die dem Erwachse‐ nenstereotyp von Männlichkeit und Weiblichkeit entstammen (H. Keller 1979). So werden weibliche Neugeborene eher als süß, zart und zerbrechlich, männliche als groß, stark und kräftig wahrgenommen und beschrieben, und zwar von Eltern wie von Nicht-Eltern. Die Existenz und verhaltenssteuernde Funktion von Geschlechtsrollenstereotypen auch unabhängig vom tat‐ 172 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="173"?> sächlichen Geschlecht des Kindes zeigt sich darin, dass Erwachsene mit ein- und demselben Kind, das ihnen - im gelben Strampelanzug - einmal als Mädchen und einmal als Junge vorgestellt wurde, differentiell interagieren - je nach angenommener Geschlechtszugehörigkeit. Mütter agieren mit sechsmonatigen Jungen eher distal, mit gleichaltrigen Mädchen eher proximal, halten diese in größerer körperlicher Nähe und sprechen sie eher verbal an. Entsprechend dem traditionellen Geschlechts‐ rollenklischee hat man dem sprachlichen Sozialisationsregister die Bezeich‐ nung motherese verliehen, also das Mutterische, im Deutschen früher vergleichbar mit der Ammensprache; es handelt sich um einen Gesprächsstil mit kürzeren, einfacheren und redundanteren, überbetonten Äußerungen. In der damals geringen Zahl von Studien über den Sprachgebrauch von Vätern wurden diese als »Fathers and other Strangers. Men’s Speech to Young Children« (Berko Gleason et al. 1983) bezeichnet. Das Mutterische ist allerdings auch nicht allein den Müttern zuzuordnen; schon Berko Gleason stellte fest, dass auch männliche Betreuungspersonen ein solches an der unterstellten Rezeptionsfähigkeit der Kinder angepasstes Sozialisationsregister aufweisen. Bei Zweijährigen wurden häufigere und längere Formen der Anrede mit einem höheren Anteil von Fragen, Lob und Wiederholungen verwendet. Insbesondere die Fragen spielen als inter‐ aktionsfördernde sequenzbildende Sprechhandlungen eine wichtige Rolle gegenüber den bei Jungen häufigeren Direktiven, auf die auch nonverbal reagiert werden kann (Cherry/ Lewis 1976). Solche Unterschiede in der El‐ tern-Kind-Kommunikation setzen sich mit dem Lebensalter des Kindes fort: Eine in Kiel durchgeführte Studie von Pieper (2009/ 1981) stellte während einer Spielsituation mit Fünfjährigen fest: Unter anderem verwendeten die Väter mehr und direktere Befehlsformen, die Mütter mehr Fragen und indirekte Befehlsformen (Intonationsfragen, umschreibende Formen). Die Verfasserin resümiert, dass ihre Befunde in jeder Hinsicht das Klischee vom strengen. leistungsorientierten Vater und der nachgiebigen, weniger leistungsals personorientierten Mutter bestätigen. Cook-Gumperz leitet aus ihren Beobachtungen dreijähriger Mädchen beim Mutter-Kind-Spiel die These ab, dass diese ihr Wissen um die weibliche Geschlechtsrolle für ihre kommunikative Kompetenz nutzen; sie fragt: »Warum sind die Dreijährigen schon Frauen, noch bevor sie Mädchen werden? « (1991: 317). Die Internalisierung der Geschlechtsrollenklischees schreitet so voran. »Learning what it means to talk like a lady« betitelte Edelsky (1977) ihre Studie mit dem Ergebnis gradueller Annäherungen der kindlichen Einschät‐ 4.4 Sozialisation, Stilisierungen und Doing Gender 173 <?page no="174"?> zungen geschlechtsspezifischen Sprachgebrauchs vom ersten bis zum sechs‐ ten Schuljahr im Hinblick v.-a. auf den Derbheitsgrad von Flüchen und den Direktheitsgrad von Befehlen. Während es hier um das passive Erkennen und Zuordnen von Geschlechtsrollenklischees ging, untersuchte sie später den aktiven Sprachgebrauch in Dyaden gleichaltriger und verschiedenalter Kinder im Hinblick auf verbale Dominanzindikatoren. Dabei stellte sich heraus, dass die Mädchen in der dritten Klasse gegenüber jüngeren Kindern einen größeren Anteil tutorisierender Instruktionen, die Jungen hingegen größere Anteile angeberischer und verletzender Äußerungen aufwiesen. Bei den männlichen Erstklässlern fand sich im Gespräch mit älteren ein höherer Anteil an Komplimenten und Selbstdegradierungen (1996). Beispiele für die kulturelle Geprägtheit geschlechtertypischen Sprachgebrauchs finden sich im Prozess der sprachlichen Sozialisation auch unabhängig von der Familienerziehung, insbesondere werden Ge‐ schlechtsrollenklischees - selbst wenn von Eltern vermieden - von media‐ len Vorbildern übernommen. Dies zeigen Beobachtungen von Kindern im Vorschulalter, die einen perfekt gendertypischen Sprachgebrauch produzie‐ ren können. Die fünfjährige Katharina wird bei einem selbst gewählten Rollenspiel (am Telefon) beobachtet. Sie spielt feine Dame mit deutlicher Artikulation und Akzentuierung, hoher Stimmlage und nasal: Beispiel: Wie spricht eine feine Dame? Auf meine Frage: ›Wie spricht eine feine Dame? ‹ reagiert die Fünfjährige in hoher Stimmlage wie folgt: »Ich muss mal eben austreten gehen. Oh, eine schöne Kachel haben sie in der Toilette.« Und begleitet ihre Rede mit einer entsprechenden Mimik (hochgezogene Brauen), Gestik (kleine Armbewegungen) und Bewegungsart (Tippelschritte). Auf die Frage: und wie spricht ein feiner Herr? »Oh, meine Dame, darf ich Sie zum Tanz auffordern? « in tiefer Stimmlage und mit großen, raumgreifenden Bewegungen. (Neuland 1993: 186) Die Übernahme sozialer Typisierungsschemata und Geschlechtsrollenkli‐ schees vollzieht sich oft außerhalb elterlicher Kontrolle durch mediale Vorbilder (wie die holländische Moderatorin Linda de Mol mit langen blonden Haaren), Kinderbücher und Spielzeug (wie die Barbie-Puppe) und kann das Sprachbewusstsein der Kinder bis in das Erwachsenenalter als 174 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="175"?> Vorurteile prägen. Selbst die Farb-Vorlieben (rosa, rosa und nochmals rosa) ändern sich dann erst im Laufe der Grundschulzeit. 4.4.2 Doing Gender in der Schule In der Schule setzen sich gendertypische Interaktionsweisen fort, auch entgegen der Selbsteinschätzung der Lehrkräfte. In ihren Beiträgen über die unsichtbaren Frauen im Schulsystem spricht Spender über den ›doppelten Standard‹ im Klassenzimmer. Damit ist gemeint, dass Jungen in gemischten Klassen den größten Teil der Aufmerksamkeit der Lehrkräfte erhalten, auch wenn diese der Meinung sind, den Geschlechtern gleiche Zuwendung zukommen zu lassen: Bei 10 aufgenommenen Stunden an der Oberschule und im College betrug das Ma‐ ximum an Interaktionszeit mit Mädchen 42 Prozent, der Durchschnitt 38 Prozent und das Minimum für Jungen 58 Prozent. Es war ein regelrechter Schock für mich, die Diskrepanz zwischen meiner Selbsteinschätzung und meinem tatsächlichen Verhalten zu erkennen. (Spender 1984: 74) Die Erwartungen der Lehrkräfte entsprechen stark den Geschlechtsrollen‐ klischees, wobei sich Rosenthal-Effekte (als self-fulfilling prophecies) einstel‐ len können. Die Wirkung des heimlichen Lehrplans führt, so Barz (1990), zu einem Macht- und Überlegenheitsanspruch der Jungen und oft zu einer Vergrößerung der Leistungsschere zwischen den Geschlechtern. Die Jungen verarbeiten das zum Teil nach einer subjektiven Theorie als ungerechter, die Mädchen bevorzugender Lehrkräfte, was wiederum ihre Aggression gegenüber den Mädchen steigern kann. Die feministische Schulforschung hat daher auch die »Kooperationsgret‐ chenfrage« neu aufgeworfen (Fuchs 1992: 30) und letztlich dazu beigetragen, Jungen als aktuelle Problemgruppe in den Fokus zu rücken, die der PISA-Stu‐ die zufolge (2000) schwächere schulische Leistungen erbringt. Neuere Arbeiten wie die Schulethnographien von Budde und Willems (2006) lassen aber auch erkennen, dass Mädchen in den letzten Jahren anscheinend stärker behütet werden als Jungen (vgl. Kotthoff/ Nübling 2018: 239 f.). Neuere Studien zum Sprachgebrauch in getrennt- und gemischtge‐ schlechtlichen Gruppen Jugendlicher arbeiten unterschiedliche Themen‐ präferenzen heraus (z. B. den romantischen Markt von Verliebtheit, Liebes‐ kummer u. Ä. (Kotthoff 2010), soziale Kategorisierungen und Lästern über 4.4 Sozialisation, Stilisierungen und Doing Gender 175 <?page no="176"?> Gruppenfremde (Branner 2003, Spreckels 2006) in Mädchengruppen). Ein Vergleich zwischen Mädchen- und Jungengruppen kommt jedoch nicht zu eindeutigen Genderpräferenzen, auch nicht beim Lästern (Schubert 2009, Walther 2014) oder bei der Verwendung von Bricolagen (Galliker 2014). 4.4.3 Geschlechtstypische Höflichkeit? Studien zum Umgang mit sprachlicher Höflichkeit weisen dagegen signifi‐ kante Geschlechterdifferenzen auf (Neuland et al. 2020): Mädchen reagieren höflichkeitssensibler als Jungen, was z. B. verletzende Konnotationen von Bezeichnungen betrifft (Neuland 2016: 308), sie halten laut 1.126 Probanden insgesamt sprachliche Höflichkeit signifikant für wichtiger als Jungen (Neuland et al. 2020: 47): Kategorien w [N-= 597] m [N-= 529] p M M wichtig 2,29 2,12 ,003** gebildet 1,49 1,47 ,854 unecht -0,57 -0,44 ,203 spießig -1,08 -0,91 ,083 überflüssig -1,27 -1,11 ,14 Tab. II.4.3: Beurteilung sprachlicher Höflichkeit nach Geschlechtern (Neuland et al. 2020: 47) Das Geschlecht erweist sich in den Höflichkeitsstudien als relevante so‐ ziolinguistische Variable, auch beim Äußern und Erwidern von Kritik. Held hatte in ihren kontrastiven Untersuchungen zur verbalen Höflichkeit anhand italienischer, französischer und österreichischer Beispiele des Kri‐ tisierens einen deutlichen Geschlechtereffekt festgestellt: »dass Mädchen generell mehr auf den Gesprächspartner eingehen und auf die Pflege einer guten Beziehung aus sind (und) keinen kommunikativen Aufwand (scheuen)« (2002: 127). In einer Testaufgabe zu einem critical incident (Lehrkraft kritisiert Schüler vor der Klasse für eine schlechte Leistung) bevorzugen die Probandinnen 176 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="177"?> hochsignifikant eine Minimalisierungsstrategie (Das kann doch jedem mal passieren, dass man eine Frage nicht beantworten kann.), die den Konflikt zwi‐ schen den beiden Parteien abmildern soll. Bei der entsprechenden kritischen Kommunikationssituation unter Gleichaltrigen (ein guter Freund/ eine gute Freundin hat eine neue, unmögliche Jacke an) werden die Antwortmöglich‐ keiten direkte Kritik (Oh Gott, was hast du denn da an? Die Jacke geht ja gar nicht! ) sowie auch das unechte Lob (Die Jacke steht Dir echt gut! ) hochsignifikant von den Probandinnen abgelehnt (Neuland et al. 2020: 161 und 167). Eine klare Geschlechterdifferenz weist schließlich auch heute noch der Gebrauch von Beleidigungen bzw. Schimpfwörtern auf: Vergleicht man die häufigsten bei weiblichen und männlichen Probanden, so ergaben sich in einer Studie mit 235 Probanden folgende geschlechtsbezogene Differenzen: Ausdruck Rang weiblich [n = 120] männlich [n-= 115 ] Diffe‐ renz [% der Fälle] abs. % der Fälle abs. % der Fälle Huren‐ sohn/ -tochter 1 2 1,7 25 21,7 20 Spasti 2 3 2,5 19 16,5 14 Schlampe 3 16 13,3 0 0 13,3 Wixxer 4 1 0,8 12 10,4 9,6 Arschloch 5 10 8,3 20 17,4 9,1 Hure 6 6 5 0 0 5 Bitch 7 5 4,2 0 0 4,2 Tab. II.4.4: Beleidigungen Gleichaltriger nach Geschlechtern (Neuland et al. 2020: 99) Die größten Unterschiede zugunsten der männlichen Probanden zeigen sich bei den beiden erstgenannten Beispielen; Schlampe, Hure und Bitch sind in unseren Erhebungen spezifisch für weibliche Jugendliche. 4.4 Sozialisation, Stilisierungen und Doing Gender 177 <?page no="178"?> 4.5 Zusammenfassung und weiterführende Literatur Die Forschung zum Zusammenhang von Sprachgebrauch und Geschlecht nahm ihren Ausgangspunkt in den feministischen Forschungen zur sprach‐ lichen Benachteiligung von Frauen und zur Sexismus-Kritik, die sich insbe‐ sondere in den bis heute aktuellen Auseinandersetzungen um das generische Maskulinum niederschlug. Anzeichen für stabile geschlechtstypische Kom‐ munikationsstile sind wegen der multifaktoriellen Einflüsse nur schwer auszumachen. Dagegen lassen sich belastbare Belege für Stilisierungen und Doing Gender in den Sozialisationsprozessen finden. 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West, Candace/ Zimmerman, Don H. (1987): Doing Gender. In: Gender & Society 2: 1, 125-151. 182 4 Sprachgebrauch und Geschlecht <?page no="183"?> 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation Das soziale Alter spielt in der Soziolinguistik eine wichtige Rolle als eine soziologische Variable, die allerdings, wie Kapitel I.3.2 zeigt, theoretisch in der Forschung kaum thematisiert wird. So ist eher von Kindern oder Jugend‐ lichen ohne weitere Differenzierung die Rede. Das Alter als Kategorie hat natürlich auch die biologische Dimension der Reifung und Entwicklung im frühen und des Abbaus und Verlustes im späteren Lebenalter zur Folge und führt zu den bekannten ›Tafelberg‹-Modellen (vgl. Häcki Buhofer 2003) oder auch ›Lebenstreppen‹-Vorstellungen (z. B. Thane 2005), wenn man Entwicklungsverläufe des Lebensalters verfolgen möchte. Abb. II.5.1: Lebenstreppe aus dem 19. Jahrhundert (Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kunstgeschichte, Münster) Ein solcher Zugang führt dann eher in das Gebiet der Sprachentwick‐ lungsforschung und neuerdings auch der Alterslinguistik (u. a. Cheshire 2004, Fiehler/ Thimm 1998). Sprachbiographisch wichtige Zäsuren im Lebenslauf wie z.-B. Einschulung, Schullaufbahn, Berufseintritt, Migration, Heirat/ Lebenspartnerschaft, Familiengründung, Pensionierung etc. werden <?page no="184"?> mit der Altersdimension allenfalls oberflächlich erfasst. Dabei hat gerade die Jugendsprachforschung gezeigt, dass ein formaler Altersbegriff für die Ausbildung jugendtypischen Sprachgebrauchs zu kurz greifen muss. Auch die Berücksichtigung des Ausdrucks Postadoleszenz kann dieses Problem nicht grundlegend lösen (s. Bahlo/ Krain 2018). Wir schlagen daher vor, soziolinguistisch mit dem Begriff der Generation zu arbeiten. Wir werden soziolinguistische Dimensionen des Generationsbegriffs aufzeigen, Beispiele für Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Ge‐ nerationen diskutieren, den Sprachgebrauch der 68er Generation vorstellen und schließlich heutige Jugendsprachen veranschaulichen und Beispiele für die Stereotypisierung von Altersbildern anführen. 5.1 Soziolinguistische Dimensionen des Generationsbegriffs: gesellschaftlich, familial, relational, ideologisch Der Generationsbegriff ist bislang noch kaum von der Soziolinguistik beach‐ tet worden, doch kann er in verschiedener Hinsicht für die soziolinguistische Forschung fruchtbar gemacht werden und wichtige Forschungsfelder mit‐ einander verknüpfen (Kohli 2009, Neuland 2015b). Gemeinhin wird in der Soziologie das Konzept der Generation mit den Bezugsgrößen Gesellschaft und Familie verbunden (vgl. Kohli/ Szydlik 2000). Kohli formuliert: Auf beiden Ebenen ist das Generationskonzept ein Schlüssel zur Analyse der Bewegung durch die Zeit. In der Abfolge der Generationen schaffen Familien und Gesellschaften Kontinuität und Veränderungen im Hinblick auf Eltern und Kinder, ökonomische Ressourcen politische Macht und kulturelle Hegemonie. In allen Feldern sind Generationen eine Grundeinheit sowohl von sozialer Reproduktion wie von sozialem Wandel - also von Stabilität und Erneuerung oder Umsturz. (Kohli 2009: 233) Der gesellschaftliche Generationsbegriff umfasst makroanalytisch Per‐ sonen, die - in einem begrenzten Zeitraum geboren - bestimmte historische Ereignisse in ähnlichem Lebensalter erfahren haben. Der verbindende Ge‐ nerationszusammenhang und seine sprachlichen Klassifikationen stiften soziale Identität als lebenszeitliche Erfahrungs- und Erinnerungsgemein‐ schaft und ein biographisch prägendes Wir-Gefühl der Generationenlage Dies gilt in der jüngeren Sprachgeschichte u. a. für die 68er-Generation, 184 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="185"?> die Wende-Generation von 1989, die Generation Facebook (vgl. dazu z. B. Brommer/ Dürscheid 2015), -Praktikum, -Millenium oder wie auch immer die Jugendlichen heute klassifiziert werden. Der familiale Generationsbegriff bezeichnet mikroanalytisch die Ge‐ nerationsfolge der Herkunftsfamilien und lenkt den Blick auf die interge‐ nerationelle Transmission von Werthaltungen und Weltorientierungen im kommunikativen Austausch zwischen Eltern und Kindern. Diese Dimension ist in den frühen soziolinguistischen Studien zur sprachlichen Sozialisation in der Folge der Bernstein-Studien (→ Kap. II.1.1) zum Tragen gekommen. Wie die Studie von Quasthoff/ Krah (2015) veranschaulicht, ist die Sprache der Eltern-Generation ein wesentlicher Einflussfaktor für die Diskursfähig‐ keit von Kindern, aber auch immer noch für die Perpetuierung von sozialer Variation und damit verbundener Ungleichheit von Bildungschancen. Schließlich lassen sich noch Generationsbeziehungen als dritte Dimen‐ sion des Generationsbegriffs unterscheiden: Generationskonflikte etwa lassen sich oft nur im Rückbezug auf gesellschaftliche wie familiale Gene‐ rationsdimensionen analysieren, wie am Beispiel vieler Konflikte in der 68er-Generation gezeigt werden kann, in denen sich gesellschaftliche wie familiale Konfliktmomente spiegeln. Fassen wir für die soziolinguistische Betrachtungsweise zusammen: Der Generationsbegriff eröffnet aus unserer Sicht v. a. die folgenden vier Dimensionen für die Soziolinguistik (Neuland 2015b: 21 ff.): Vier Dimensionen des Generationenbegriffs 1. Die gesellschaftliche Dimension wird die je spezifischen gesell‐ schaftlich-historischen Kontexte erklären helfen, innerhalb derer sich bestimmte Sprachgebräuche historischer Generationen her‐ ausbilden und wandeln können; damit wird ein Gegenstandsfeld für eine historische, sprachgeschichtlich orientierte Soziolinguis‐ tik gewonnen; 2. Die familiale Dimension macht die funktionalen Leistungen erkennbar, die der familiale Generationsverbund für die kulturelle Reproduktion, für die Tradierung von Erziehung und Bildung, und zwar insbesondere durch Spracherziehung und sprachliche Sozia‐ lisation, im Rahmen soziokultureller Differenzierung erbringt; 3. Die relationale Dimension eröffnet den Blick auf Generati‐ onskonstellationen, die durch je unterschiedliche generationelle 5.1 Soziolinguistische Dimensionen des Generationsbegriffs 185 <?page no="186"?> Normen und Wertvorstellungen, Konflikte und Brüche gekenn‐ zeichnet sind, die in der sprachlichen Interaktion ausgetragen und kommunikationsanalytisch untersucht werden können, z.-B. Ver‐ ständigungskonflikte in authentischen oder fiktionalen Texten; 4. Die ideologische Dimension unterscheidet schließlich noch die Produktion von Ideologien in Form von Altersbildern und Generationsstereotypen, die sich in je zeitgebundener sozialer Topik, in Redensarten und in Diskursen niederschlagen und ihre Wirksamkeit entfalten. Solche Altersstereotype werden insbeson‐ dere in der Werbung instrumentalisiert und bilden ein Thema für die soziolinguistische Sprachkritik. 5.2 Kindersprache, Jugendsprache, Alterssprache Greifen wir noch einmal kurz zurück auf die o. e. Kategorie des Alters, so kann man festhalten: Die Linguistik hat sich mehr oder minder gründlich mit einzelnen Etappen von Sprachgebrauch und Kommunikation in verschiede‐ nen Lebensphasen beschäftigt, so z. B. mit Formen der Kindersprache (vgl. dazu z. B. Butzkamm/ Butzkamm 2008, Pregel 1970) und mit Prozessen der Sprachentwicklung und schließlich mit der Eltern-Kind- und der Peergrup‐ pen-Kommunikation. Der Sprachgebrauch Jugendlicher und die Kommunikation in Jugend‐ gruppen stehen im Fokus der Soziolinguistik und werden im Folgenden (→-Kap. II.5.5) genauer behandelt. Die Erforschung des Sprachgebrauchs im Alter und der Kom‐ munikation mit Älteren hat bedauerlicherweise erst kürzlich ein‐ gesetzt. Abgesehen von Fiehler/ Thimm (1998) und Fiehler (2008) kann noch auf Sachweh (2000) verwiesen werden, die die Kommuni‐ kation in der ›Altenpflege‹ thematisiert. Unter dem Stichwort des Ageismus wird im Bereich der Sprachkritik seit Kurzem auf die Altersdiskriminierung aufmerksam gemacht (Kramer 1998, Neuland 2015a). Balsliemke (2015) dokumentiert, dass in einschlägigen Lexika zur Phraseologie alt zu einem hohen Prozentsatz mit negativen Be‐ deutungen verbunden wird (z. B. ein alter Hut, alte Zöpfe abschneiden, 186 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="187"?> alte/ olle Kamellen, zum alten Eisen gehören etc.). Bei Schimpfwörtern dominieren vor allem diskriminierende Bezeichnungen für Frauen (z.-B. alte Scharteke/ Hexe etc.). 5.3 Sprachgebrauch und Generationsbeziehungen Generationskonflikte sind nicht nur ein beliebtes Thema in literarischen Texten; sie bieten auch ein reichhaltiges, wenn auch noch kaum beachtetes Forschungsfeld für die soziolinguistische Kommunikationsforschung. 5.3.1 Kommunikationskreislauf Ryan und Kwong See (1998) untersuchen die Wirkung von Altersstereo‐ typen in der Kommunikation (→ Kap. II.7.7) und demonstrieren ein Kommunikationspräjudiz des Alters in Form einer patronisierenden Kommunikation, das gewissermaßen dem motherese, dem Mutterischen in der primären Sozialisationsphase ähnelt (→ Kap. II.1.1). Dieser Kreislauf der kommunikativen Anpassung ist der Akkomodationstheorie von Giles u. a. entlehnt (→ Kap. I.3.3) und weist zugleich die Wirkung einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung (Rosenthal-Effekt) auf: Abb. II.5.2: Kommunikationspräjudiz des Alters (Ryan/ Kwong See 1998: 61 f.) 5.3 Sprachgebrauch und Generationsbeziehungen 187 <?page no="188"?> Der Kommunikationskreislauf muss aber innerhalb der einzelnen Alters‐ phasen unterschiedlich akzentuiert werden. 5.3.2 Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen? Probleme für die Verständigung zwischen den Generationen ›Alt und Jung‹ bilden schließlich auch ein ständiges Diskussionsthema in der medialen Öffentlichkeit und in der Schule. In der linguistischen Jugendsprachfor‐ schung wird argumentiert, dass Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen zumeist mediale Konstrukte darstellen. Abb. II.5.3: Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen? (Titelseite von Müller-Thurau 1985) 188 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="189"?> Wie empirische Befunde belegen, unterscheiden Jugendliche recht genau zwischen verschiedenen Domänen des Sprachgebrauchs (v. a. Freizeit, Schule, Familie) und können in der Regel flexibel zwischen verschiedenen Sprachstilen im Gespräch untereinander und im Gespräch mit Erwachse‐ nen wechseln. So ergaben Befragungen von über 1.000 Jugendlichen im Wuppertaler Forschungsprojekt (vgl. Neuland 2016) auf einer fünfstufigen Skala von 5 (immer) bis 0 (nie) klare Domänenpräferenzen für den Gebrauch jugendsprachlicher Ausdrucksweisen zwischen Freizeit (m = 3.91) und Schule (m-= 3.68) gegenüber dem Gebrauch in der Familie (m-=2.71). Freizeit Schule Familie abs. (in %) abs. (in %) abs. (in %) immer 290 27,7 171 16,3 52 4,9 oft 491 46,9 471 45,0 205 19,4 manchmal 173 16,5 243 23,2 349 33,1 selten 66 6,3 117 11,2 277 26,3 nie 27 2,6 44 4,2 171 16,2 ges. 1047 100,0 1046 100,0 1054 100,0 m 3,91 3,58 2,71 27,7% 46,9% 16,5% 6,3% 16,3% 45,0% 23,2% 11,2% 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Freizeit Familie Schule immer oft manchmal selten nie 4,9% 19,4% 33,2% 26,3% 16,2% 2,6% 4,2% Abb. II.5.4: Häufigkeitseinschätzungen der Verwendung von Jugendsprache in den Domä‐ nen von Freizeit, Schule und Familie (Neuland 2016: 156) 5.3 Sprachgebrauch und Generationsbeziehungen 189 <?page no="190"?> Die Fähigkeit Jugendlicher, zwischen verschiedenen Domänen des Sprach‐ gebrauchs (→ Kap. I.3.5) unterscheiden zu können, wird grob unterschätzt, wenn z. B. in Lehrwerken Gespräche zwischen den Generationen als ›Zwei-Welten‹-Texte präsentiert werden, die von keinem Jugendlichen heute mehr ernst genommen werden können, wozu die künstlich konstruierten, den Jugendlichen in den Mund gelegten Texte noch hinzutreten: Frank: Hör mal, Dad, in Oberhausen hat so’n neuer Schuppen aufgemacht, da würd’ ich morgen Abend gern hin. Vater: Wovon redest Du eigentlich? Seit wann interessierst Du Dich für Land‐ wirtschaft? […] Das Prinzip dieses Beispiels aus einem Sprachbuch von 1998 (Wortlaut 9) ist leider aktuell geblieben, wie Texte späterer Lehrwerke zeigen (z. B. Praxis Sprache 9, 2006: 143 f.; vgl. Steffin-Özlük 2015: 166 ff.): Tante: Komm rein, Paula! Schön, dass Du mich zum Mittagessen mal besuchst! Paula: Hab echt Bock, was in’n hohlen Zahn zu kriegen. Was gibt’s? […] (Hotz 1998: 188 f.) In den Wuppertaler Studien zum Umgang von Jugendlichen mit Höflichkeit (2020) hat sich gerade die Adressatenorientierung als wichtige Variable für die Wahl eines Kommunikationsstils von Jugendlichen herausgestellt. Demnach würden Jugendliche lebensältere Personen gerade nicht in diesem Stil ansprechen. 5.4 Sprachgebrauch in gesellschaftlichen Generationen: das Beispiel 1968 Unter dem gesellschaftlichen Aspekt lassen sich einzelne Generationen sozialgeschichtlich genauer untersuchen, die als ›sprachprägend‹ angese‐ hen werden. Dies wird insbesondere der 68er-Generation nachgesagt. Folgt man der soziologischen Unterscheidung von Generationsgestalten in Form von »Protest-« und »Spaß- und Freizeitgenerationen« (so Fischer-Ko‐ walski 1983), so verkörpert die 1968er-Generation in besonderer Weise einen sprachlich expliziten Protest aus Sicht der Außerparlamentarischen Opposition. Die APO-Sprache wird linguistisch auch eher als Beispiel eines politischen Sprachgebrauchs klassifiziert. Studierende als Träger dieses 190 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="191"?> Protests verkörpern jedoch in prototypischer Weise die neue Altersrolle der Postadoleszenz (vgl. Gillis 1980: 206 ff.). Die Studenten- und die flankierenden Schülerbewegungen, die auch zur Bezeichnung der APO als »Jugendrevolte« führten, entwickelten neue Ausdrucksformen des antiautoritären Protests gegen Professoren (Alle Professoren sind Papiertiger), Lehrkräfte (autoritäre Scheißer) und generell gegen das Establishment (wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment). Geschult an theoretischen Texten des Marxismus-Le‐ ninismus und der kritischen Theorie zeigte sich der studentische Sprach‐ stil in Schrift und Rede als hoch komplex, z. B. durch die Verwendung eines entsprechenden Fachvokabulars sozialwissenschaftlicher (Autorität, Manipulation, Repression) und marxistischer Begriffe (u. a. Kapitalismus, Mehrwert, Entfremdung) sowie fester Wendungen (z. B. herrschaftsfreier Raum, subversive Aktionen, Potential antiautoritärer Kräfte). Scharloth (2008: 228 ff.) hat eine Sozialstilistik von Sprachgebrauchswei‐ sen in dieser Zeit entwickelt und u. a. einen skeptischen Verweigerungsstil von Vertretern der Studentenbewegung im Gespräch mit Vertretern des Establishments in Politik und Medien unterschieden. So verweigert Rudi Dutschke in einem SPIEGEL-Gespräch, die Bedeutung der Bezeichnung Revolutionär zu übernehmen und versucht stattdessen, sie aus seiner Sicht neu zu definieren. Neben einem in Diskussionen vorherrschenden intellektuell-avantgardistischen Stil wird schließlich noch ein hedonistischer Selbstverwirklichungsstil in Kommunen und Subkulturen mit sprech- und umgangssprachlichen Elementen und der Betonung der Ich-Perspektive und ihrer Relativität aufgeführt. Private Konfliktgespräche im familialen Gene‐ rationskontext sind hingegen kaum dokumentiert, obwohl sie zweifellos häufige Praxis waren und sind. Aus lexikalischer Sicht erläutert das Revolutionslexikon, 1968 als Handbuch der außerparlamentarischen Opposition von Weigt herausgege‐ ben, einige zentrale Begriffe der damaligen Zeit, z. B. Revolution, Repression, Pressekonzentration, Widerstandsrecht. Ein kleiner roter Schülerduden (1970) wurde für die korrespondierenden Schülerbewegungen publiziert (»Alle Erwachsenen sind Papiertiger.«, S.-14). 5.4 Sprachgebrauch in gesellschaftlichen Generationen: das Beispiel 1968 191 <?page no="192"?> Abb. II.5.5: Revolutionslexikon (Titelseite von Weigt 1968) Im Rahmen neuer Ausdrucksformen des Protests entwickelten sich neue textsortenspezifische Sprachgebrauchsweisen, wie bei Demonstrationen rhythmisch gerufene (Solidarisieren - mitmarschieren! ) und auf Spruchbän‐ dern aufgeschriebene Parolen (Unter den Talaren - Muff von tausend Jahren), Flugblätter mit kurzen appellativen Texten, Teach-Ins mit längeren und argumentativen Redebeiträgen. In zahlreichen Sprüchen, aber auch in neuen Wortbildungsmustern (z. B. Love-In) zeigen sich Kreativität und Witz bzw. Selbstironie als jugendtypische Kommunikationsmerkmale. Zieht man - auch in sprachgeschichtlicher Perspektive - ein Fazit, so wird die These vertreten, dass das Jahr 1968 eine Zäsur in der jüngeren Sprachgeschichte darstellt, und zwar im Hinblick auf eine erhöhte Sprachsensibilität und Bereitschaft zu sprachkritischer Reflexion in der Gesellschaft (so Wengeler 1995, Stötzel 1995). Darüber hinaus sind viele damals geprägte Bezeichnungen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen (dazu z. B. Stötzel/ Eitz 2002; → Kap. III.3.1). 192 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="193"?> Die Frage, ob und inwieweit Merkmale jugendtypischer Sprachstile sich auf die jeweiligen Gegenwartssprachen auswirken und Sprachwandel auslösen können (→ Kap. III.3.1), wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet: Während der Romanist Zimmermann in seinen kontrastiven Analysen die Frage eindeutig bejaht und von einer eigenen Varietätengenese spricht (2015), macht die Germanistin Christen in ihren dialektologischen Studien auch einige Einschränkungen geltend (2015). 5.5 Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart Jugendliche Sprachstile sind in der heutigen Gesellschaft so vielfältig wie die Gesellschaft selbst, die der Sozialwissenschaftler Gerhard Schulze auch als eine Erlebnisgesellschaft bezeichnet hat. Jugendsprache wird heute über‐ wiegend, aber durchaus nicht ausschließlich als ein mündlich konstituiertes, von Jugendlichen in bestimmten Situationen verwendetes Medium der Gruppenkommunikation definiert und durch die wesentlichen Merkmale der gesprochenen Sprache, der Gruppensprache und der mündlichen In‐ teraktion gekennzeichnet (Neuland 2018: 79 ff.). Funktional dienen Jugend‐ sprachen der sozialen Distinktion, d. h. der Abgrenzung nach außen, anderen Generationen gegenüber und der Identifikation nach innen, gegen‐ über anderen Jugendlichen. Bahlo et al. erwähnen die sozialsymbolische Funktion des Ausdrucks als We-Code, d. h. des Gemeinsamen in jugendlichen Peer-Gruppen (2019: 70). Jugendliche selbst äußern sich wie folgt zur Frage, warum sie Jugendsprache verwenden: Jugendliche versuchen Wörter zu vereinfachen, kürzen umständliche Sätze, um ihre Meinung schneller zu Ausdruck zu bringen [17jährige Berufsschülerin aus Chemnitz] Unsere Sprache ist die Zukunft und da kann keiner was dran ändern, denn jede Generation hat ihren Teil zur deutschen Sprache beigetragen [19jähriger Berufsschüler aus Giessen] Weil sie für mich die Jugend und Phantasien unserer heutigen Generation ausdrückt [15jährige Gymnasiastin aus Rostock] 5.5 Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart 193 <?page no="194"?> Weil Jugendsprache fetter ist als das Gelaber von Erwachsenen [18jähriger Berufsschüler aus Wuppertal] Abb. II.5.6: Begründungen der Verwendung von Jugendsprache (Zit. in Originalor‐ thographie n. Neuland 2016: 137 ff.) Dies zeigt zugleich, dass Jugendsprache ein fest im Sprachbewusstsein von Jugendlichen verankertes Phänomen ist. Trotz der lebhaften Forschungsentwicklung und der Ausweitung ihres Gegenstandsfelds und ihrer Forschungsmethoden, die in den knapp zehn bisherigen internationalen Tagungen dokumentiert werden, stellt sich die Frage nach der Typizität in der Heterogenität (Neuland 2018: 84 ff.). Zwischenbilanz des bisherigen Forschungsstands ● Ist das Gegenstandsfeld der Jugendsprachen mittlerweile so hete‐ rogen geworden, dass kaum mehr eine kategoriale und begriffli‐ che Ordnung möglich scheint? ● Welche Kenntnisse über jugendtypische Spezifika bzw. über »uni‐ verselle« Merkmale von Jugendsprachen können als wissenschaft‐ lich gesichert gelten? ● Ist Jugendsprache nur Gruppen- oder Szenesprache, Straßen- oder Stadtsprache? ● Ermöglicht die Vielzahl der Einzelfallstudien noch eine Vergleich‐ barkeit oder Verallgemeinerung der Befunde? ● Reicht das Kriterium ›Jugend‹ bzw. ›Jugendlichkeit‹ aus, um den multifaktoriellen Varietätenraum von Jugendsprachen zu be‐ schreiben und zu erklären? ● Eine Anzahl von Forschungsdesideraten, gerade auch zu soziolin‐ guistischen Merkmalen v. a. der sozialen Differenz, werden in der Literatur benannt. 5.5.1 Merkmale jugendtypischen Sprachgebrauchs Betrachten wir im Folgenden kurz einige Merkmale jugendtypischen Sprachgebrauchs (vgl. Neuland 2018: 74 ff. sowie Bahlo et al. 2019: 56 ff.): 194 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="195"?> ● Lexik: Der Wortschatz von Jugendlichen und seine rasche Veränderung stehen im Blickpunkt der Öffentlichkeit, wozu auch die zahlreichen Wörterbücher der Jugend- und Szenesprachen beigetragen haben. Er speist sich aus unterschiedlichen Domänen, z. B. der Mode, Medien und Musik (Androutsopoulos 1997), und ist z. T. auch fachsprachlicher Natur; daneben werden viele Anglizismen (fuck, bitch, chillen) verwendet. Solche Bildungen sind oft nur kurzlebig und einem raschen Wandel unterworfen. Längerfristig in Gebrauch sind dagegen Klassifikations‐ ausdrücke wie Proll mit der Bedeutung: ›Angeber‹, ›Pseudo-King‹, ›Rumposer‹: Beispiel: Bedeutungsbeschreibungen von ›Proll‹ Kategorie 1: der immer angibt/ mit Buffalos (Freiburg GY 7 w), angebe‐ risch: wenn ich mit meinem 3er BMW-Carbio durch die Gegend fahre, werde ich selbst so bezeichnet (Gießen GY 11-m), Typen, die mit Weiber‐ geschichten prahlen, in Wahrheit aber noch nie eine hatten (Gießen GY 11 w), Großkotz der alles kann (Chemnitz HS 7 w), zur Beschreibung einer arroganten und hochnäsigen Person (Magdeburg BS m), einer der total angibt und nur Markenklamotten trägt, den nennen wir so: auf der Straße »guck mal der prollt mal wieder voll rum« (Kiel GY 7 w), wir haben jemanden bei uns, der immer nur über seinen leistungsstarken PC prollt (Kiel GY 7-m). […] ein Proll ist eine Person, die kein Benehmen hat, aber einen auf superschlau und reich macht (Regensburg GY 11 w), jemand der mit seinen Wertsachen angibt (Kiel HS 9 w), Angeber, jemand der mit Goldketten und Markensachen rumläuft (Erfurt GY 11 w) (aus Neuland 2016: 105) ● Morphologie: Kompositionen (Gangsterschlampen) und Derivationen (hammermäßig) richten sich nach dem im Deutschen üblichen Regel‐ system, ebenso die Kurzwortbildung (Studis) und die Verwendung von Akronymen. ● Semantische Veränderungen: Bedeutungsveränderungen sind im jugendsprachlichen Gebrauch besonders häufig, wenn auch nicht so augenfällig. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich geil, das seine Be‐ deutung von ehemals geschlechtlich erregt zu einem allgemein positiv wertenden Adjektiv erweitert hat. Die Schlampe hat hingegen eine 5.5 Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart 195 <?page no="196"?> Bedeutungsverengung erfahren, von einem unordentlichen zu einem liederlichen, sexuell freizügigen Mädchen. ● Stilmerkmale: Expressivität, Direktheit und Unernst lassen sich als Hauptmerkmale jugendtypischen Sprachstils benennen. Sie werden durch eine Vielzahl von Wertungsausdrücken, durch Witzeleien, An‐ spielungen, oft im Modus der Scherz- und Angebotskommunikation und nach dem Topping-Prinzip des sich gegenseitig Überbietens, realisiert (Beispiel: Du bist verbogen). Beispiel: Scherzkommunikation DU BIST VERBOGEN EI = Schülerin Eileen MI = Schülerin Miranda RO = Schüler Robert 001 MI: SHIT! - - der schläger ist verBOgen; 003 - (--) 004 EI: hhh°- 005 - (--) 006 RO: <<f> du bist ver! BO: ! gen ha ha,-> 007 - ((MI und EI lachen)) 008 - ((EI macht schaufelnde Bewegungen mit dem Federball‐ schläger)) 009 EI: SCHAUfeln; 010 - okay wir spielen jetzt also mit BRATpfannen; ((lachen und spielen weiter Federball)) (Neuland et al. 2020: 110) ● Kommunikative Muster: Als hauptsächliches Merkmal kann die Bricolage, die Stilbastelei, gelten. Dabei werden unterschiedliche kul‐ turelle Ressourcen aus Filmen, Fernsehsendungen, jugendkulturellen Kontexten aus ihrem bisherigen Kontext herausgenommen und in einen neuen Verwendungskontext rekontextualisiert und zwar interaktiv im Rahmen der Gruppenkommunikation. Das veranschaulicht das folgende Beispiel: Wayne interessiert’s? nach Könning (2015: 376), hier nach Neuland 2018: 61f. 196 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="197"?> Beispiel: Bricolage, Wayne interessiert’s? M1 [-((lachen))-] - M2 [(xxx xxx xxx) wird_n RICHtiger angeber irgendwann; -] F1 - [ja der wird_n richtiger macho; -] M3 [ja der wird (.) ich mein der; -] - <<in hoher versteller stimme intoniert> ich kann auch breakdan‐ cen-> - ((lachen)) M3 <<lachend> toll>. F1 schön für dich; M4 wen juckt_s, - wo is der bus, M2 = wo is die kette, M5 wayne interessiert_s, - ((allgemeines lachen)) M2 wayne interessiert_s M3 wayne rooney; M6 voll whack alles hier. (Könning 2015: 376, hier nach Neuland 2018: 61 f.) In diesem Beispiel entlehnen jugendliche Gymnasiasten ihre Bricolage dem TV-Fomat: Got to dance und arbeiten Anspielungen auf das gemeinsame Busfahren, die Kette beim Einsteigen und auf Fußballspieler ein. 5.5.2 Konversationelle Muster Neben diesen Praktiken finden wir in der informellen Freizeitkommunika‐ tion Jugendlicher vor allem den plaudernden Austausch, das Banter oder unverbindliches Geplänkel im Rahmen von Scherzkommunikation und mock politeness. Diese kann aber in jugendlichen Peergruppen schnell zu den Mustern des Lästerns und des Frotzelns führen (vgl. Technau 2017). Weitere in der Literatur unterschiedene Muster sind das Blödeln (Walther 2014: 317) und das Dissen (Deppermann/ Schmidt 2001: 84). In typologischer Hinsicht können Blödeln und Frotzeln zum kooperativ-vergemeinschaften‐ den, Lästern und Dissen hingegen zum distinktiv-vergemeinschaftenden Typ kommunikativer Muster Jugendlicher gerechnet werden. Tabelle II.5.1 5.5 Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart 197 <?page no="198"?> zeigt vergleichend einige komplexe konversationelle Handlungsmuster in informellen Gruppengesprächen Jugendlicher auf. Die binäre Plus-/ Minusdarstellung impliziert zwar eine gewisse Verein‐ fachung; dennoch lassen sich einige wesentliche Unterscheidungsmerkmale festhalten: Bei der Interaktantenkonstellation zeigt sich auch empirisch, dass Frotzeln und Dissen die Anwesenheit eines Publikums erfordern, die anderen Muster können auch in dyadischen Kommunikationssituationen auftreten. Das jeweilige Referenzobjekt ist ein weiteres Unterscheidungs‐ merkmal: Beim Klatschen und Lästern sind diese abwesend; beim Frotzeln und Dissen ist deren Anwesenheit geradezu konstitutiv. Bekanntheit und Vertrautheit mit den Referenzobjekten ist in schwächerem bis stärkerem Ausmaß für fast alle Handlungsmuster kennzeichnend. Der thematische Kern beinhaltet ein thematisches Ereignis und hat - bis auf das Lästern - auch einen Neuigkeitswert. Fiktionalisierungen spielen in sämtlichen Mustern eine mehr oder minder große Rolle. Funktionalen Merkmalen ist Tabelle II.5.1 gewidmet. 198 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="199"?> Teilnehmer Referenzobjekt Thematischer Kern Anzahl Bekannt‐ heitsgrad - In situ bekannt vertraut themat. Ereignis Neuigkeit Fiktinali‐ sierung Erzählen 2 + x +/ - +/ - +/ - +/ - + +! + Klatschen 2 + x +/ - -! + +/ - + +! (-) Frotzeln >-2 + +! + +! (-) (-) + Lästern 2 + x +! -! +! + +/ - +/ - (-) Dissen >-2 + +! + +/ - - (-) + Mobben >-2 + (+) (+) -! - (-) + Tab. II.5.1: Strukturelle und inhaltliche Merkmale konversationeller Handlungsmuster Jugendlicher (! = unbedingt; (x) = tendenziell) (Neuland 2016: 245) 5.5 Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart 199 <?page no="200"?> Alterorien‐ tiert Egoorientiert Wertorien‐ tiert Gruppenorientiert Unterhal‐ tung Entlas‐ tung Selbstdar‐ stellung Wertaus‐ handlung Verge‐ meinschaf‐ tung Innendiffe‐ renzierung Außenabgrenzung Erzählen + + + + + - - Klatschen + +/ - (+) + + +/ - - Frotzeln + - (+) + + + - Lästern + (-) (+) + + + - Dissen + - + - - + (+) Mobben + (-) (+) - - - + Tab. II.5.2: Funktionale Merkmale konversationeller Handlungsmuster (! -= unbedingt; (x)-= tendenziell) (vgl. Neuland 2016: 246) 200 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="201"?> Eine funktionale Gemeinsamkeit aller hier aufgeführten Handlungsmus‐ ter besteht zweifellos in der alter-orientierten Unterhaltung, die bei Jugendlichen stärker als bei Erwachsenen im Sinne von Ereignis, Perfor‐ mance gestaltet werden kann. Eine Selbstdarstellungsfunktion scheint nur beim Mobben sekundär, ebenso das Aushandeln geteilter Wertvor‐ stellungen, das auch eher untypisch für das Dissen ist. Im Hinblick auf die Gruppenorientierung wirken vor allem die Handlungmuster des Erzählens, Klatschens sowie des Frotzelns und des Lästerns vergemein‐ schaftend. Das Mobben scheint eindeutig auf eine Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen angelegt. In einer Zusammenschau sämtlicher hier aufgeführter Merkmale lassen sich für die sechs konversationellen Handlungsmuster drei übergeordnete Funktionaltypen hypostasieren (vgl. Neuland 2016: 247): ● kooperativ-vergemeinschaftend Erzählen, Klatschen und Frotzeln ● distinktiv-vergemeinschaftend Lästern und Dissen ● konfrontativ-dissoziativ Mobben Das folgende Beispiel einer Frotzelsequenz stammt aus einer Gruppe von Hauptschülerinnen (Su, An) und Hauptschülern (Ph, Mi) und weist eine deutlich genderbezogene Komponente auf: Beispiel: Frotzelsequenz, In festen Händen Iw: Also (.) seid ihr in festen Händen? Su: Ja (..) ich Ph: Ja sie An: Ich nich Ph: Sie und er (..) un sie nich (…) An: Ich will nich Ph: Sie will ihn aber er will nich An: Nein (..) ich will keinen haben Ph: Nein? An: Nein (..) die nerven nur Ph: ((lacht)) Überhaupt nich An: Ja (.) die nerven nur 5.5 Jugendsprachen: soziokulturelle Stile in der Gegenwart 201 <?page no="202"?> Mi: Du stellst dich auch immer an (Neuland 2018: 184) Jugendsprachen sind aber nicht nur Gruppensprachen mit Kennzeichen von Stilmischungen; sie weisen darüber hinaus viele Sprachkontaktphänomene, z. B. in Form von Sprachmischungen auf (→ Kap. II.7). Solche Phänomene finden sich insbesondere beim sog. Kiezdeutsch (Wiese 2012). Die These, dass es sich dabei um einen multiethnischen Dialekt handelt, ist linguistisch kontrovers diskutiert worden (→ Kap. II.7). Dazu das folgende Gesprächs‐ beispiel zwischen zwei jungen Frauen in Berlin-Kreuzberg: Beispiel: Kiezdeutsch, heut muss isch wieder Solarium Seda: Isch bin eigentlisch mit meiner Figur zufrieden und so, nur isch muss noch bisschen hier abnehmen, ein bisschen noch da. Dilay: So bisschen, ja, isch auch. Seda: Teilweise so für Bikinifigur und so, weißt doch so […] Dilay: Isch hab von allein irgendwie abgenommen. Isch weiß auch nisch, wie. Aber dis is so, weiß doch, wen wir umziehen so, isch hab keine Zeit, zu essen, keine Zeit zu gar nix. […] Heute muss isch wieder Solarium gehen. (Wiese 2012: 9) Und nicht zuletzt weisen Jugendsprachen Einflüsse aus dem Gebrauch von neuen Medien und der Internetkommunikation auf, wie z. B. an den Akronymen hdl (für hab dich lieb) und lol (für laughing out loud) gezeigt werden kann (→-Kap. II.8). 5.6 Altersbilder und Generationsstereotypen Die ideologische Dimension von Generationen manifestiert sich in Altersbildern und Klischees, in Topoi (Jugendwahn, Seniorenlawi‐ nen) und Phraseologismen (ein alter Hut, alte/ olle Kamellen, alte Zöpfe abschneiden), die symptomatisch für den jeweiligen gesellschaft‐ 202 5 Sprachgebrauch, Lebensalter und Generation <?page no="203"?> lich-historischen Kontext sind und sich mit ihm wandeln. So ist es auch kein Zufall, dass mit der gesteigerten Wertschätzung von Jugendlichkeit als Prestigefaktor und der »Entdeckung« der Jüngeren in der Werbung auch das Klischee der Älteren von den »defizitären« Alten zur kaufkräftigen Generation Gold oder Best Ager werbemäßig aufgewertet wurde, wie Medienberichte und Werbeanalysen (Neuland 2015b) demonstrieren. Abb. II.5.6: Was heißt hier alt? (Titelblatt aus Focus 51/ 2007) Alter wird nicht mehr als Verlust oder Abbau gesehen, sondern als Erlebnis und Gewinn inszeniert: ältere Menschen mit jugendlichem Habitus gehen segeln (Blasenschwäche - für uns kein Problem! ), Fahrrad fahren, küssen sich (einer der beiden trägt die Dritten. Aber wer? ). Auch mit Generations‐ verhältnissen verschiedener Lebensalter wird Werbung, v. a. mit Mode gemacht: »Jugendlichkeit dient sozusagen als ein generationelles ›Binde‐ mittel‹ zur Angleichung der Generationen im Konsum und damit auch zur Wiedergewinnung eines universellen Marktes.« (Neuland 2015a: 382) Denn dieser war durch die Unglaubwürdigkeit der auf Jugendliche zielenden Werbestrategien bereits erfolglos geblieben. 5.6 Altersbilder und Generationsstereotypen 203 <?page no="204"?> 5.7 Zusammenfassung und weiterführende Literatur Für die soziale und individuelle Relevanz des Sprachgebrauchs im Lebens‐ lauf hat sich die Kategorie der Generation als fruchtbar erwiesen: und zwar sowohl im Hinblick auf die Verständigung in Generationsbeziehungen, auf die prägende Wirkung gesellschaftlicher Generationen, namentlich der 1968er Generation, als auch im Hinblick auf die familialen Generationen und die sprachliche Sozialisation von Kindern (→ Kap. II.1). Der Generation heutiger Jugendlicher und ihrem Sprachgebrauch wurde auch vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund der Jugendbewegungen und Jugendre‐ volten der 1970er und 1980er Jahre besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Ausblick wurde auf die Instrumentalisierung von Altersbildern und Generationsstereotypen in der Werbung vermittelt. Literatur (weiterführend) Bahlo, Nils/ Becker, Tabea/ Kalkavan-Aydın, Zeynep/ Lotze, Netaya/ Marx, Kon‐ stanze/ Schwarz, Christian/ Șimșek, Yazgül (2019): Jugendsprache. Eine Einfüh‐ rung. Stuttgart. Cheshire, Jenny (2004): Age and generation-specific use of language/ Alters- und generationsspezifischer Sprachgebrauch. In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J./ Trudgill, Peter (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Hand‐ buch der Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/ Boston, 1552-1564. Neuland, Eva (2015a): Sprache und Generation. Eine soziolinguistische Perspektive auf Sprachgebrauch. 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Der Terminus: gruppenspezifischer Sprachgebrauch hat den zu Beginn der soziolinguistischen Forschung in Deutschland üblichen schichtspezifischen Sprachgebrauch längst abgelöst. 6.1 Gruppensprachen Der Terminus Gruppensprache ist nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch, sondern auch in der Sprachforschung neben dem der Standessprache bereits seit der Sondersprachforschung in der germanistischen Sprachwissenschaft gut eingeführt (vgl. im Folgenden in Orientierung an Neuland/ Schlobinski 2018). Er scheint so vertraut, dass genauere Definitionen unterbleiben. Die Sondersprachforschung unterschied sozial determinierte Gruppen‐ sprachen von den fachlich determinierten Standesbzw. Berufssprachen. Das folgende Schaubild von Hirt (1921/ 1909) verdeutlicht, dass die drei Variablen: sozialer Stand, Geschlecht und Alter unterschieden werden. Das sondersprachliche Forschungsinteresse war hauptsächlich auf den besonde‐ ren Wortschatz und seine Beziehung zur Gemeinsprache gerichtet. Erst lange nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Gegenstandsfeld der Gruppensprachen von der deutschen Sprachwissenschaft wieder aufgegrif‐ fen, und zwar im Zusammenhang der großen Paradigmenwechsel von der inhaltsbezogenen Sprachbetrachtung zur modernen Sprachwissenschaft. Steger (1964) forderte den Einbezug der sozialen Situation und gliederte im Sprachgebrauch von Gruppen junger Akademiker vier Kernbereiche grup‐ pensprachlichen, von der Standardsprache unterschiedlichen Wortschatzes aus: Seminarbetrieb, gemeinsame Mahlzeit und Geselligkeit sowie Gewohn‐ heiten in der Gruppe. <?page no="210"?> Sprache des Ackerbauers Jägersprache Bergmannsprache Buchdruckersprache Sonstige Handwerksprache Kaufmannsprache Seemannsprache Soldatensprache Gaunersprache Sprache der Philosophie Sprache der Mathematik Sprache der Grammatik Höhere und niedere Sprache Sprache der Religion Rechtssprache Kanzleisprache Dichtersprache Frauensprache Männersprache Ammensprache Sprache der Jugend Pennälersprache Studentensprache Sondersprachen Berufssprachen Standessprachen Sprachen der Geschlechter Sprachen der Altersklassen Abb. II.6.1: Klassifikation der Sondersprachen (Hirt 1921/ 1909) Bausinger wandte sich hingegen von volkskundlich-kulturwissenschaftli‐ cher Seite aus den Gruppensprachen (damals auch: »Sozialdialekte«) zu, wobei sein Forschungsinteresse insbesondere dem funktionalen Aspekt der »Gruppierungsfunktion« von »Sprache als Gruppenabzeichen« (so 1972: 118 ff.) galt. Insbesondere hebt Bausinger die Funktionen der Stärkung des Gruppenzusammenhalts einerseits und der externen Abgrenzung und Ge‐ heimhaltung andererseits hervor. Dies führt ihn zu folgender funktionalen Differenzierung von Sondersprachen in Geheimsprachen mit besonderer Abschließungsfunktion, sachorientierte Fachsprachen und gruppenorien‐ tierte Kontrasprachen. In der Geschichte der Gruppensprachforschung wurden diese jedoch durchwegs als homogene Einheiten aufgefasst. 210 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="211"?> Abb. II.6.2: Funktionen der Sondersprachen (Bausinger 1972: 124) 6.2 Soziolekte Mit der Entwicklung der Soziolinguistik und der Varietätenlinguistik nahmen die Versuche zu, die Gruppensprachen als Soziolekte in das varie‐ tätenlinguistische Klassifikationssystem einzuordnen. So ordnete Nabrings (1981) Gruppensprachen neben Sonder-, Berufs-, Geschlechts- und Alters‐ sprachen der diastratischen Dimension sprachlicher Variation zu, die neben der diachronen, diatopischen und diasituativen Dimension das weiteste Feld der sprachlichen Differenzierung darstellt. Der Soziolekt war in der frühen Soziolinguistik in Deutschland relativ stark mit der Bernstein’schen Code-Theorie verbunden und wurde praktisch mit den schichtspezifischen Sprechweisen gleichgesetzt (→ Kap. II.1). Nach Steinig (1976: 14) repräsentiert ein Soziolekt »das Sprachverhalten einer gesellschaftlich abgrenzbaren Gruppe von Individuen«. Löffler widmet in seiner Germanistischen Soziolinguistik (2016) ein um‐ fangreicheres Kapitel den Soziolekten als soziolektale (gruppale) Varietäten: »Gruppenspezifische Varietäten im weitesten Sinne werden neuerdings Soziolekte genannt« (Löffler 2016: 112). Seinem Einteilungsmodell zufolge werden drei große Gruppen von Soziolekten unterschieden, darunter »ei‐ gentliche Soziolekte« (Sondersprachen und nicht berufsbedingte Gruppen‐ sprachen), die transitorisch, temporär oder habituell sein können (→ Kap. II.2): 6.2 Soziolekte 211 <?page no="212"?> Prestige (angesehen) Oberschicht (Ober)region gebildet Angestellter Hochsprache einheimisch Soziolekte Sprachl. (soziolektable) Merkmale symptomatisch für: Sprachl. Merkmalbündel konstitutiv für eine (berufsbedingte) Gruppensprache A C B Berufs-, Fach-, Wissensch.-, Schichten-, Standessprache/ Jargon Stigma (verachtet) Unterschicht (Unter)region ungebildet Arbeiter Dialekt fremd/ auswärtig „Eigentliche Soziolekte“ (Sondersprachen/ nichtberufsbedingte Gruppensprachen) transitorisch temporär habituell Lebensalter Schüler-, Jugend-, Seniorensprache Militär-, Soldatensprache Gefängnis-, Sport-, Hobby-, Freizeit-, Nachtlebensprache Frauen-, Männersprache Gaunersprache Fahrenden, „Jenisch“ Jiddisch Pidgin-Deutsch Fremdsprache Abb. II.6.3: Einteilung der Soziolekte (Löffler 2016: 115) Dabei zeigt sich, wie sehr der Gegenstandsbereich der eigentlichen Soziolekte zwischenzeitlich ausgedehnt wurde und ein fast unüberschaubares Feld unterschiedlicher Differenzierungen ergibt. Im angelsächsischen Bereich ist weiterhin der Terminus der social dialects üblich (Durrell 2004: 200 ff.). Der Gruppenbegriff in der deutschsprachigen Soziologie In der deutschsprachigen Soziologie wurde der Gruppenbegriff zur Bezeichnung sozialer Gebilde der Vergemeinschaftung und Verge‐ sellschaftung von Individuen erst um die Wende des 19./ 20. Jahrhun‐ derts fruchtbar gemacht, u. a. durch Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel und Leopold von Wiese. Vor allem aber hat die ame‐ rikanische Kleingruppenforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts (u. a. Robert Bales, Charles Cooley, George Homans, Jacob L. Moreno, Kurt Lewin) die Ausbildung einer Gruppensoziologie maßgeblich beeinflusst. Seitdem hat sich die Gruppensoziologie mit unterschiedlichen Theorien und Anwendungsfeldern des Gruppenbe‐ 212 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="213"?> griffs auseinandergesetzt und verschiedene Formen und Funktionen sozialer Gruppen unterschieden und z. T. mit binären Bezeichnungen charakterisiert. Schäfers fasste prägnant zusammen: Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern, die ein gemeinsames Ziel verfolgen und für die Erreichung dieses Ziels dauerhaft in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen, aus dem sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl (Wir-Gefühl) entwickeln. Voraussetzung für die Erreichung des Gruppenziels und die Herausbildung einer Gruppen-Identität sind gemeinsame Normen und ein gruppenspezifisches Rollendifferential. (Schäfer 2013: 108) Eingeführte Unterscheidungen betreffen formelle und informelle Gruppen; in jüngster Zeit sind virtuelle Gruppen in der computervermittelten Kom‐ munikation hinzugetreten (vgl. dazu und im Folgenden Neuland/ Schlobin‐ ski 2018). 6.3 Code-Switching Vor dem Hintergrund von Globalisierung, Migration und Sprachkontakt erscheint es selbstverständlich, wie Petkova ausführt: dass multilinguale Praktiken wie das Code-switching einen festen Bestandteil des sprachlichen Repertoires darstellen und als Mittel genutzt werden, um Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren, um die eigene(n) Identität(en) sichtbar zu machen und auch um die Kommunikation zu erleichtern. (Petkova 2018: 218) Auf Code-Switching (CS) wird in verschiedenen theoretischen Zugängen (soziolinguistisch, psycholinguistisch, konversationell, bilinguistisch etc.) und Anwendungsfeldern Bezug genommen. Es lässt sich sprachstrukturell beschreiben, z. B. ob es satzintern oder gar wortintern auftritt; doch soll dieser Aspekt hier nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr soll hier vorrangig die kommunikativ-funktionale Wirkung in den Blickpunkt rücken, wie sie schon bei Gumperz (1982) beschrieben wurde. 6.3 Code-Switching 213 <?page no="214"?> John J. Gumperz führte die Unterscheidung zwischen situativem und metaphorischem Code-Switching ein. Er hatte aber auch schon vor einer automatischen Bedeutungszuschreibung des Code‐ wechsels gewarnt und auf die Berücksichtigung des Gesprächskontex‐ tes, der sozialen Voraussetzungen und des Vorwissens der Gesprächs‐ beteiligten verwiesen. Auch kann sich Code-Switching auf zwei Standardsprachen in bilingualen Gemeinschaften beziehen oder auf den Wechsel zwischen Stilen bzw. Varietäten einer Standardsprache, auch bei Monolingualen. Code-Switching kann als Ausdruck von Identität und Gruppenzugehörig‐ keit angesehen werden, aber auch in der gruppeninternen Kommunikation auftreten und z. B. zur Markierung von Zitaten, Verstärkung von Aussagen, fachlichen Spezifizierung bis hin zum spielerischen Crossing (vgl. u. a. Androutsopoulos 2003b) verwendet werden. Es kann auch Gesprächsphasen zäsurieren und einen Wechsel der Adressatengruppe anzeigen, wie im Beispiel von Petkova aus der Schlussphase einer Fernsehmoderation, in der der Moderator nach Ende des Interviews von Hochdeutsch zum Schweizer‐ deutsch wechselt (Petkova 2018: 228). Schließlich findet sich CS auch in virtuellen Gemeinschaften (vgl. Androutsopoulos/ Hinnenkamp 2001), wozu allerdings noch wenig Forschung vorliegt. 6.4 Formelle und informelle Gruppen Der Sprachgebrauch in festen gesellschaftlichen Formationen wie Vereinen in Politik, Kirche und Freizeit, Fachverbänden oder Arbeitsgruppen ist ein gut eingeführtes und überschaubares Gegenstandsfeld. Gemeinsame Ziele und Interessen schlagen sich in einem themengebundenen Wortschatz nieder. Dennoch hat die germanistische Soziolinguistik bislang nur wenige einschlägige Beispiele untersucht. 6.4.1 Peergruppen Der Sprachgebrauch in informellen Gruppierungen wird hingegen weit häufiger in soziolinguistischen Untersuchungen thematisiert. Dabei spie‐ 214 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="215"?> len vor allem Peergruppen eine entscheidende Rolle. Der unmittelbare persönliche Kontakt ist das Charakteristikum von Peergruppen, die für Prozesse der Sprachentwicklung, der Ausbildung spezifischer Kommunika‐ tionsgemeinschaften und Register, der Kommunikation in altersbezogenen Gruppen/ Soziolekten von erheblicher Bedeutung sind (vgl. dazu Krappmann 1991). Die Gleichaltrigengruppe gilt als sozialer Ort spezifischer sozialer Erfahrungen und der Selbstverortung. (…) die zentrale Funktion dieser Primärgruppen ist ihr Sozialisationsbeitrag zur Entwicklung der sozialen Identität. (…) Die Gleichaltri‐ gengruppen geben die Chance zur Behauptung gegenüber der Erwachsenenwelt, zur Suche nach Authentizität und zum Aufbau der eigenen Persönlichkeit und ihrer Identität. (Machwirth 1999: 248 ff.) Die Peergruppenforschung entwickelte sich von verschiedenen Ansätzen her, darunter die jugendsoziologische und pädagogische Sozialforschung und Sozialpsychologie. Forschungsschwerpunkte bilden v. a. die Funktionen von Peergruppen für umfassendere soziale Gebilde sowie für die soziale Entwicklung des Individuums. Empirische Studien in den Vereinigten Staaten wandten sich bereits Mitte des 20. Jahrhunderts dem ›abweichenden‹ Verhalten ›delinquenter‹ Jugendlicher in Gangs oder Banden im Kontext von Verstädterungs- und frühen Migrationsprozessen und sozialer Benachteiligung zu; besonders be‐ kannt durch die gleichnamige Verfilmung wurde die von Leonard Bernstein 1957 konzipierte Geschichte: West Side Story. Dieser jugendsoziologische Forschungsbereich ist bis heute aktuell geblieben (z. B. Bohnsack 1989, Tertilt 1996). Im Rahmen zunehmend komplexer gesellschaftlicher Anforderungen und Erwartungen können Peergruppen eine Schutz- und Ausgleichsfunktion erfüllen und in diesem Rahmen Sicherheit und Status vermitteln. Peergrup‐ pen spielen in der soziolinguistischen Forschung daher auch eine besondere Rolle. Peer Gruppen in der soziolinguistischen Forschung Durch die Ausbildung gemeinsamer Interessen, Meinungen und Wer‐ tungen und durch gemeinsame Handlungspraxen liegt die Ent‐ wicklung eines gruppentypischen Wortschatzes nahe. Da es sich zu‐ gleich um Interaktionsgemeinschaften handelt, ist dieser Wortschatz 6.4 Formelle und informelle Gruppen 215 <?page no="216"?> aber in sprachliche Handlungskontexte eingebunden und oft nur in solchen Kontexten zu verstehen. Zur relativen Altershomogenität und Generationsgemeinschaft tritt zumeist eine milieu- und geschlechts‐ typische Differenzierung von Peergruppen hinzu, die diese zu einem bevorzugten Gegenstandsfeld soziolinguistischer Forschungen macht. Aufgrund der Unmittelbarkeit des face to face-Kontakts bildet der Sprachgebrauch in Peergruppen auch eine wichtige Basis für For‐ schungen zu gesprochener Sprache, interpersoneller Kommunikation und subkulturellen Stilbildungen. Studien aus der Jugendsprachforschung greifen gern auf Probanden aus Peergruppen zurück, da diese untereinander gut vernetzt sind, und es zudem zunehmend schwierig ist, Jugendliche ohne Mitgliedschaft in informellen Gruppen zu finden. Dabei sind allerdings keine scharfen Grenzziehun‐ gen möglich. Differenzierter wurden in den 1980er Jahren z. B. jugendli‐ che Angehörige der Alternativszene (Bättig/ Schleuning 1980), später von Musik-Subkulturen wie v. a. Hip-Hop (Berns 2003), Rapper und Raver (Watzlawik 2000) betrachtet. Mangels begrifflicher Präzisierungen kann man eher schließen, dass mit dem unbestimmten Szene-Begriff die Vorstellung kleinerer und lose verbundener sozialer Einheiten assoziiert wurde, die zum Teil lokal gebunden (z. B. die Szene vom xy-Platz) und großthematisch orientiert (v.-a. Musik, Mode, Sport, vgl. Androutsopoulos 1997), aber mit nicht allzu fest gefügtem Weltbild, Verhaltenskodex und Lebensstil ausgestattet scheinen (Neuland 2018: 278). Im Rahmen des Mannheimer Stadtsprachenprojekts analysierte Schwitalla (1986) eine Szene Jugendlicher, die durch das gemeinsame Beobachten und Kommentieren von Passanten einen lockeren Verbund bildete: Beispiel: Kommentare zu Passanten So äußerte ein Jugendlicher, als eine junge Frau in schwarzer Leder‐ kleidung vorbeikam: 216 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="217"?> »Uäh! Ach Gott … die asozial … e e keggl - n kinderwaache schiewe schiewe un daß so e alte schlamp noch e kipp debei raacht … so rischtisch uäh! Ajo! isch geh uff sämtlische hardrock-konzerte, verstehsch? do geht der fisch ab! « (rülpst) ((›keggl‹ = dialektaler Ausdruck für ›Kind‹)) Über ein vorbeikommendes Mädchen ((nachträgliche Erläuterung)): »Des war so ne rischtische rockerbraut, wo der Mann jetzt grad bis um viere schafft beim benz. Un=na kommt er mit der maschine. Un=na geht=s ab.«: »verstehsch … bin die rockerbraut! « Über einen älteren, nach Handwerker aussehendem Mann: »Ha jo, schaff isch bei benz fahrzeugmacher vogelstang ne … bei benz geht der fisch ab! Verstehsch … und dann ne halbe kaschde bier un a wiener schnitzel, alles klar, oder? « Über einen Jugendlichen: »Verstehsch … kumpels fahr ins neggazentrum, mach die leut õ. alles klar! « »Ha jo, vertehsch, geh un guck noch schnalln, geht der fisch ab ne? ! « (Schwitalla 1986: 250) Die Studie von Schlobinski et al. (1993) kann als Beispiel für die heute immer weniger trennscharfe Unterscheidung von formellen und infor‐ mellen Gruppen gelten. Untersucht wurden eine Jugendgruppe in einer Kirchengemeinde und Jugendliche aus einer Schulklasse. Die Wuppertaler Studie zu deutschen Schülersprachen (Neuland 2016: 53 ff.) rekrutierte ihre Probanden aus Schulklassen, in denen nach Gruppen gefragt wurden, die sich auch in der Freizeit treffen. Diese setzen sich aber eben nicht nur aus Mitschülern zusammen; vielmehr ist das Altersspektrum etwas größer, und die Freizeitgruppen eint oft ein gemeinsames Interesse, z. B. Theater spie‐ len, Musikvorlieben, Umweltengagement. Abgesehen von vielleicht einem besonderen Wortschatz spielen jugendsprachliche Unterschiede aber keine große Rolle. Ob auch eine Mitschülergruppe als Peergruppe im engeren Sinne gelten kann, ist eine offene Frage, denn die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe ist ja eher aus formalen Gründen und nicht als bewusste Wahl zustande gekommen. 6.4 Formelle und informelle Gruppen 217 <?page no="218"?> Galliker (2014) führte eine Studie zum Sprachgebrauch von Jugendgrup‐ pen in der Deutschschweiz durch und konzentrierte sich dabei auf das Sprechhandlungsmuster der Bricolage, das als besonderes Kennzeichen gruppenspezifischen Sprachstils gilt. Sie analysiert dieses stilbildende Element an vielen Beispielen, v. a. einer Peergruppe von 5 bis 15 Gymnasi‐ asten aus dem Dialektgebiet Nidwalden. Dazu ein Beispiel: Die Jugendlichen besuchen ein Open-Air-Festival in einem anderen Kanton und werden von einer Aufsichtsperson aufgefordert, mitgebrachten Alkohol in PET-Fla‐ schen umzufüllen, deren Deckel gesucht wird. Dabei entwickeln sie eine sprechstilistische Bricolage mit verschiedenen Ressourcen, u. a. unmarkierte Normallage (Z. 7), eigener lokaler Dialekt (Z. 27), gruppenspezifischer Stil in den allgemeinen Gesprächsteilen, stilisiertes ethnolektales Sprechen (Z. 21-23), bewusst fehlerhaftes Englisch (Z. 34); an der sich alle anwesenden Gruppenmitglieder beteiligen: Beispiel: ddeckel Personen: Sicherheitsbeamter (SIC), Marco (MAR), Andreas (AND), Martin (MAT) und weitere Datum: 08.06.07 01 SIC: isch das alles ((=der gesamte Alkohol)) 02 hä? 03 MAT: ja! 04 SIC: guèt! 05 AND: sori 06 MAR: hee= 07 wo isch da de teckèl? 08 SIC: tschau zäme 09 ? : merssi vilmal 10 AND: wuchenänd ((ironisch)) 11 MAR: adee (.) 12 uf niämee=wider=gsee 13 hemmer da? 14 ((pfeift)) 15 ((..)) 16 MAR: <<genervt> hör mal uuf! 17 tue nid h↑lä! ((mach das nicht hier! )) 18 hEE= 218 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="219"?> 19 ich ha scho ganz <imitiert Betrunkenen <s=nasses bÄi> ((Bein)) 20 AND: gratuliere rächt härzlich ((ironisch)) 21 MAR: hed Öpper ((jemand)) 22 hed öpper gfunde ddeggel? 23 ddeggel? 24 ? : will=mer amigs au gisch ((weil Du mir normalerweise auch gibst)) 25 ((…)) 26 MAR: schmaiss ((.)) 27 hesch dui ä teckèl? 28 MAT: ja wo wett dä anäggangä si? (( Ja, wo will der hingegangen sein? )) 29 ((…)) 30: MAR hÖÖfli! ((Andreas)) 31 h: ööfli! 32 MAT: dui bisch gfraagt 33 MAR: allgemäine suche nach disem deggel? 34 duu iuu siin dis deggel? ((do you s een this Deggel? 35 ((Rülpser, Stimmen im Hintergrund)) 36 MAR: dä hend=er mit i brunne grüert ((den habt ihr mit in den Brunnen geschmissen)) 37 AND: näi= 38 mier hend dich nu gfraagt 39 MAR: schäiss=egaal (Galliker 2014: 295 f.) Die Verfasserin hebt an diesem Beispiel insbesondere die verschiedenen Ressourcen des Variationsspektrums hervor, die die Jugendlichen verfrem‐ den und kontrastieren, was ihrer Selbstdarstellung dient, ihre regionale Herkunft wie ihre Mehrsprachigkeit herausstellt und damit ihre Gruppen‐ identität stärkt. 6.4 Formelle und informelle Gruppen 219 <?page no="220"?> 6.4.2 Soziale Szenen und virtuelle Gruppen Angesichts zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung geht die sozio‐ logische Forschung heute von vielfachen Pluralisierungs- und Individuali‐ sierungsprozessen aus (vgl. Beck/ Beck-Gernsheim 1994), die zu gewichtigen Umstrukturierungen des sozialen Lebens und zu neuen Vergemeinschaf‐ tungsformen und Gesinnungsgenossenschaften führen, denen die tradi‐ tionellen Sozialisationsagenturen - neben Familie und Schule auch Vereine, Verbände und Gemeinden - immer weniger gerecht werden können. Hinzu treten Strukturveränderungen des Erfahrungsraums speziell der jugendli‐ chen Peergruppen, v. a. durch die Verbreitung neuer Medien, durch erhöhte Mobilität und vermehrte Sprach- und Kulturkontakte. Dadurch verlieren auch die traditionellen Einteilungskriterien und Definitionsmerkmale sozia‐ ler Gruppen an Trennschärfe. Peergruppen gehen teilweise in de-lokalisierte Szenen über. Hitzler et al. definieren solche Szenen als: Thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte ma‐ teriale und/ oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabi‐ lisieren und weiterentwickeln. (Hitzler et al. 2001: 20) Szene-Begriff Im Unterschied zu traditionellen Gemeinschaftsformen weisen Szenen zwar auch inhaltliche Relevanzen (v. a. Großthematiken wie Musik, Sport, Mode und neue Medien; vgl. auch die Studie von Strzoda et al. 1996), Routinen und Deutungsschemata auf; sie sind aber auch durch eine höhere Dynamik, geringere Verbindlich‐ keitsansprüche und partiellere Geltungsbereiche gekennzeichnet. Szenen können, so Hitzler et al. (2008: 20), als Angebote zur zeitweiligen Vergemeinschaftung und sozialen Selbst- und Fremd‐ verortung ohne größere Verpflichtungen und ohne dauerhafte Bindungen dienen. Als thematisch fokussierte soziale Netzwerke können Szenen auch einzelne soziale Gruppen umfassen. Durch Ästhetisierung und Stili‐ sierung der Ausdrucks- und Handlungsformen im thematischen Fokus unterscheiden sich Szenen von Milieus (vgl. Schulze 1993), aber auch durch die Außenperspektiven öffentlicher Wahrnehmung eines 220 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="221"?> Szene-Publikums von umfassenderen Sozialgebilden von Vergesell‐ schaftung und Lebensstil (vgl. dazu Hörning/ Michailow 1990). Für die soziolinguistische Jugendsprachforschung hat sich das Gegenstands‐ feld kultureller Szenen als äußerst fruchtbar erwiesen, wie die verschiedenen Studien zum Sprachgebrauch in z. B. Musik-, Sport- und Modeszenen zeigen Dabei geht es nicht nur um Studien zu oftmals fachspezifischen Wortschät‐ zen, sondern etwa auch um Anredeformen und spezifische kommunikative Handlungsmuster. Man kann den Zusammenhang von Gruppen, Szenen und übergeordneten Strukturen auch in Form eines ›Zwiebelmodells‹ veranschaulichen, in dem Gruppen Netzwerke in Szenen bilden (z. B. die ›Punker-Szene am Ratinger Tor in Düsseldorf‹), diese wiederum bilden Netzwerke in Milieus und Subkulturen (vgl. Clarke et al. 1979). Insofern sind auch Szenen keine Zufallsprodukte willkürlicher Selbstverortung, sondern weisen zumindest teilweise auch sozial vororganisierte Erfahrungen auf. Abbildung II.6.4 nach Hitzler et al. soll in dieser Hinsicht entsprechend erweitert werden: Interaktion Subkulturen Milieus Szenen Gruppe Personen Abb. II.6.4: Gruppen in Szenen, Milieus und Subkulturen (erweitert nach Hitzler et al. 2001: 25) Auch in soziologischer Sicht stellt sich die Frage nach dem speziellen Anteil des kommunikativen Handelns in solchen Formen postmoderner Verge‐ meinschaftungen. Knoblauch (2008) entwickelt die These, dass traditio‐ 6.4 Formelle und informelle Gruppen 221 <?page no="222"?> nale Gemeinschaften zumeist eine Form der Unmittelbarkeit bzw. Kopräsenz und mithin eine Unmittelbarkeit der kommunikativen Begegnung von Angesicht zu Angesicht implizieren, gemeinsames Wissen voraussetzen und daher als Wissensgemeinschaften bezeichnet werden können. Demgegen‐ über haben sich mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft, dem vermehrten Bedarf an und den entwickelten Möglichkeiten von mit‐ telbarer Kommunikation posttraditionale Gemeinschaften entwickelt, die durch Kommunikation im Wesentlichen erst konstituiert werden. Beispiele für solche Kommunikationsgemeinschaften, die durch gemeinsame Nutzung kommunikativer Muster und Verfahrensweisen konstituiert wer‐ den, bilden gerade die interaktiven Medien (z.-B. Blogs, Pins, Gästebücher). Indem Social Media wie Twitter, Instagram, Facebook das Nutzungsverhal‐ ten durch Algorithmen auswerten und es für Themenvorschläge nutzen, werden solche Kommunikationgemeinschaften mitkreiert. Es entstehen sogenannte ›Filterblasen‹ bzw. ›Bubbles‹. Als Kommunikationsgemeinschaften teilen sie nicht nur gemeinsame Codes und Formen, sondern auch die Vorstellung einer Gemeinschaft, der man angehört; damit verbunden, im Rahmen der entkontextualisierten Kommunikation noch wichtiger, ist die kommunikative Markierung einer Identität, die der Gemein‐ schaft entspricht. (Knoblauch 2008: 85) Die ›Mitgliedschaft‹ in solchen Gemeinschaften wird durch kommuni‐ kative Partizipation performativ praktiziert. Solche posttraditionalen Gemeinschaften sind durch: Anonymisierung, Entkontextualisierung und Medialisierung charakterisiert. Weitere Beispiele solcher Gemeinschaften stellen aber auch Fan- und Event-Gruppen dar, Party-Szenen sowie die ad hoc-Gemeinschaften beim public viewing; die Zugehörigkeit wird stets durch die kommunikative Partizipation angezeigt. Eine solche Erweiterung der traditionellen soziologischen Kategorie der sozialen Gruppe trägt nicht nur in besonderer Weise dem kulturellen Wan‐ del der Gesellschaft Rechnung; sie eröffnet zugleich Möglichkeiten einer Neubestimmung der soziolinguistischen Kategorie der Gruppensprache und bietet einen Anschluss zum Einbezug der Multimodalität von Schriftsprache und ihrer gruppenspezifischen Variation (→-Kap. I.3.1). 222 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="223"?> 6.5 Gruppenspezifische Variation von Schriftlichkeit Eine soziolinguistische Perspektive auf Schriftlichkeit wird seit einigen Jahren verstärkt eingefordert, v. a. von Lillis (2013), Spitzmüller (2013) und Androutsopoulos (2014) sowie Busch (2021). Dabei geht es um Formen der skripturalen und graphischen Variation als Kennzeichen bestimmter Szene-Stile und als Kontextualisierungshinweise für subkulturelle Identi‐ tätsarbeit. Androutsopoulos (2003a: 182 f.) demonstriert anhand eines Eintrags auf dem Gästebuch eines Hip Hop-Portals, wie durch das Verdichten verschie‐ dener Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit in Verbindung mit lexikali‐ schen und phraseologischen Momenten ein für eine bestimmte Jugendkultur (Hip Hop) typischer Schreibstil entsteht: Beispiel: Eintrag im Gästebuch eines Hip Hop-Portals Hey ho leudde! Na wie gehts euch so suche ma n paar leudde die bock ham mit mir n paar freestyleparts zu kicken. Also wenn ihr bcok habtmal gegen n mädel zu battln und zu verliern schreibt ma. Also bis dann. (Androutsopoulos 2003a: 182 f.) Die Berücksichtigung des Rahmenkonzepts posttraditionaler Gemeinschaf‐ ten bietet zusätzlich zu Peergruppen und Szenen fruchtbare Anknüpfungs‐ punkte für soziolinguistische Sprachgebrauchsuntersuchungen und das gewandelte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in neuen Me‐ dien (→ Kap. II.8), wie der folgende Ausschnitt aus einem WhatsApp-Chat mit weiteren Merkmalen konzeptioneller Mündlichkeit und dem »Split‐ ting«-Verfahren, der Aneinanderreihung von vergleichsweise kurzen Bei‐ trägen nach semantisch-pragmatischen Aspekten, hier nur kurz zeigt (Bahlo et al. 2019: 96 f.): 6.5 Gruppenspezifische Variation von Schriftlichkeit 223 <?page no="224"?> Beispiel: WhatsApp-Chat 1 B: Hi 2 A: Hey 3 B: Wgg? ? 4 A: Supii und wütend dir? 5 B: Einbissel Depri aber auch total Happy 6 B: Wieso wütend? ? 7 A: Why happy? ? ? C und D … wegen 7 x 7 ich hatte halt kb auf bankrutschen 8 B: Was haben Sie denn gemacht? 9 B: Happy weil olli mich heute angeguckt hat.. 10 A: Ohhh mich auch 11 B: Alter sind D und C dumm 12 A: Ich weiss sry das ich aggro bin …. Supiiiii das er geguckt hat 13 B: [Lach-Emoji] 14 A: Hör auf zu lachen 15 B: Sry.. 16 A: Sagt die die gestern einen lahflash hatte 17 B: [Wut-Emoji] 18 B: Was’n? ? 19 A: Ach nichtsssss (Bahlo et al. 2019: 96 f.) Neueste Studien differenzieren die Rolle des Graphischen (Spitzmüller 2013, Androutsopoulos/ Busch 2020, Busch 2021), denn zumal im Rahmen der Digitalisierung hat sich die Schriftlichkeit strukturell wie funktio‐ nal besonders verändert. In den Beiträgen des Sammelbands Register des Graphischen werden sechs Klassen graphischer Zeichen besonders bearbeitet, u. a. die veränderten Funktionen und Vorkommen von In‐ terpunktion, die Rolle der Bildzeichen, der Typographie, Phonographie und Graphostilistik betreffen. Die Auswahl aus diesen Möglichkeiten der Multiskripturalität ist soziolinguistisch bedeutsam, da der Regis‐ terwahl soziale Bedeutung zugeschrieben wird (Enregisterment). Als These wird formuliert: 224 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="225"?> dass eine sozio-situative Ausdifferenzierung des digitalen Schreibens ohne eine […] sprachreflexive Dimension nicht möglich ist, und dass soziolinguistische Registerkonzepte ihr theoretisch, methodisch und empirisch entgegenkommen. (Androutsopoulos/ Busch 2020: 4) 6.6 Beispiele: Bandlogos und Graffiti Busch hat sich mit der Bedeutung skripturaler Variation in der speziel‐ len Subkultur des Black Metal beschäftigt und sich auf die Verwendung und Rekontextualisierung der Runenschrift konzentriert, die er in einem Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Kommerzialisierung ver‐ ortet (2015: 33). Neben metasprachlichen Diskursen bezieht er auch ein Korpus von Artefakten ein, das verschiedene Ressourcen von Textsorten (v. a. Tonträger-Cover, Bandlogos, Werbeflyer, Konzertplakate), aber auch T-Shirts und andere Merchandise-Artikel enthält. Deren Analyse erfolgt nach kompositorischen Prinzipien wie räumliche Anordnung, Rahmung und Auffälligkeit (Abb. II.6.5). Abb. II.6.5: Bandlogos I (Busch 2015: 206) sowie nach Schreibprinzipien wie z. B. computerisierte Runenelemente und solche mit manueller Anmutung, die als authentischer empfunden werden (Abb. II.6.6): 6.6 Beispiele: Bandlogos und Graffiti 225 <?page no="226"?> Abb. II.6.6: Bandlogos II (Busch 2015: 112) Ein kurzer Ausblick sei noch auf das Thema: Graffiti präsentiert. Die dominierende aktuelle Form von Graffiti, die das wissenschaftliche Interesse auf sich zieht, sind jugendkulturelle und zumeist illegale Szene-Graffiti in der Stadt, wodurch eine territoriale Markierung erfolgt. Dabei geht es darum, den Namen des Sprayers oder seiner Gruppe (»tag«) im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Tophinke führt aus: Das Szene-Graffiti als urbanes Phänomen hat seine Wurzeln im »american graffiti«, das im Kontext der Hip-Hop-Jugendkultur in den frühen 1980er Jahren nach Deutschland kommt. Graffitis als Artefakte sind im urbanen Raum seit dieser Zeit anhaltend präsent. (Tophinke 2016: 405) Erste Analysen der spezifischen Schriftbildlichkeit des Graffiti-Schrei‐ bens von Arten der Stilisierung über die Transkriptivität, d. h. das Umschreiben vorhandener Texte (vgl. Jäger 2009), bis zur nichtlinearen Textualität und zur grammatischen Relevanz nichtverbaler Ressourcen wurden vorgelegt (Tophinke 2019). Das Herstellen von Graffiti wird, wie das handschriftliche Schreiben, als körperlich situierte Praktik beschrieben, die sich einfachen Sinnzuschreibungen entzieht und geradezu durch Intranspa‐ renz gekennzeichnet wird. Ein origineller Buchstabenstil (»style«) sowie die sprachliche, figürliche und dekorative Gestaltung der Graffiti trägt zur Anerkennung in der Sprayer-Szene (»fame«) bei (so Papenbrock/ Top‐ hinke 2016, die auch ein Graffiti-Archiv angelegt haben). Inwieweit solche Schriftbilder als Dialogangebote im öffentlichen Raum verstanden werden 226 6 Sprachgebrauch sozialer Gruppen <?page no="227"?> können (so Schmitz/ Ziegler 2016), ist allerdings noch eine weitere offene Forschungsfrage. Abb. II.6.7: Beispiel für Nichtlinearität von Graffiti (Piece <SAK> (aus: Papenbrock et al. 2016) 6.7 Zusammenfassung und Literatur Ausgehend vom klassischen Terminus Gruppensprache werden weitere so‐ ziolinguistisch relevante Vergemeinschaftungsformen der informellen und formellen Gruppen sowie der sozialen Szenen und der virtuellen Gruppen und ihrer sprachlich-kommunikativen Differenzierungen der Soziolekte verfolgt und an Beispielen veranschaulicht. Dabei wird auch das gewandelte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisiert und ein Aus‐ blick auf gruppen- und szenetypische Schriftlichkeitsvariation vermittelt. 6.7 Zusammenfassung und Literatur 227 <?page no="228"?> Literatur (weiterführend) Neuland, Eva/ Schlobinski, Peter (2018): Sprachgebrauch in sozialen Gruppen. In: Neuland, Eva/ Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen. Berlin/ Boston, IX-XXVI. Busch, Florian (2021): Digitale Schreibregister. Kontexte, Formen und metapragmati‐ sche Reflexionen. Berlin/ Boston. Literatur (gesamt) Androutsopoulos, Jannis (1997): Mode, Medien und Musik. Jugendliche als Sprach‐ experten. In: Der Deutschunterricht 6, 10-21. Androutsopoulos, Jannis (2003a): Online-Gemeinschaften und Sprachvariation. So‐ ziolinguistische Perspektiven auf Sprache im Internet. In: Zeitschrift für germa‐ nistische Linguistik 31, 173-197. Androutsopoulos, Jannis (2003b): Jetzt speak something about italiano. 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In den frühen 1970er Jahren konzentrierte sich die Forschung auf das Gastarbeiterdeutsch, auch als ›Pidgin-Deutsch‹ bezeichnet, wie im Heidel‐ berger Projekt (1975) zu spanischen und italienischen Gastarbeitern. Dabei herrschte die Vorstellung einer rudimentären und defizitären Beherrschung des Standarddeutschen vor. Korrespondierend dazu wurden aber auch im Foreigner Talk einheimischer Gesprächspartner Tendenzen der Vereinfa‐ chung und Reduktion erkannt (z. B. Duzen, Verwendung unflektierter Formen), die die sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen der ausländischen Gesprächspartner oft unterschätzten. Der Anwendungsbe‐ zug der frühen Forschungen war deutlich durch den als unzureichend empfundenen ungesteuerten Zweitspracherwerb ausländischer Arbeitneh‐ mer motiviert und wurde alsbald vom sprachpädagogischen Interesse an gesteuertem Zweitspracherwerb abgelöst. Während es sich hier noch um Migranten der ersten Generation vorwiegend aus Südeuropa handelte, wird bald darauf dem Herkunftsland Türkei und dem sog. Türkendeutsch sowie den Folgegenerationen der in Deutschland geborenen Nachfahren der Migranten große Aufmerksamkeit zuteil. Im Folgenden wird dieser Entwicklung Rechnung getragen, indem die soziolinguistische Forschung anhand eines Spannungsbogens vom Gastarbeiterdeutsch über ethnolektale Sprechweisen bis hin zum polyethnischen Sprechstil nachgezeichnet wird. Die jüngste Migrations- und Flüchtlingswelle um das Jahr 2015 herum wird dabei noch nicht berücksichtigt, da abzuwarten bleibt, was hier aus soziolinguistischer Sicht noch erforscht wird. Die (Fremd- und Zweit-)Spra‐ chendidaktik hat sich dieser Zielgruppe hingegen schnell angenommen (vgl. etwa Roche 2016). <?page no="234"?> 7.1 Gastarbeiterdeutsch der 1970er Jahre Als Gastarbeiterdeutsch wird die sozial stigmatisierte, rudimentäre und früher auch als pidginisiertes Deutsch (Clyne 1968) benannte Sprach‐ form bezeichnet, die von der ersten Generation von Arbeitsmigranten in Deutschland ab Mitte des 20. Jh. gesprochen wurde. Gastarbeiterdeutsch war das Ergebnis eines ungesteuerten Zweitsprachenerwerbs und blieb ohne weiteren Ausbau. Diesen Prozess der funktionalen und strukturellen Stagnation einer Sprache bezeichnet man auch als ›Pidginisierung‹ oder, im Falle der Stagnation der sprachlichen Entwicklung eines Einzelnen, als ›Fossilierung‹. Der Begriff der ›Pidginisierung‹ hat sich in Anlehnung an so genannte Pidginsprachen gebildet, bei denen es sich um meist in ehemaligen Koloni‐ algebieten entstandene sprachliche Varietäten mit starker funktionaler und struktureller Vereinfachung handelt. Übertragen auf die Sprachentwicklung der Arbeitsmigranten beschreibt er eine über längere Zeit stagnierende Lernersprache, die sich durch vereinfachte phonologische, morphologische und syntaktische Strukturen sowie durch einen stark reduzierten Wort‐ schatz und die Tendenz zur Umschreibung auszeichnet. Der Begriff der Pidginisierung ist negativ konnotiert und daher heutzutage nicht mehr gebräuchlich. Auch das Pseudopidgin (Foreigner Talk) deutscher Arbeiter gegenüber Gastarbeitern, das deren Lernersprache festigt, wird als pidgini‐ sierte Varietät beschrieben und kritisiert (Bodemann 1977, Stölting 1975). Der über die verschiedenen Gruppen und Herkünfte von Arbeitsmigran‐ ten hinweg Einheitlichkeit suggerierende Begriff des Gastarbeiterdeutsch ist begründet in den sprachlichen Parallelen der Lernersprachen, die sich unabhängig von der jeweiligen Herkunftssprache sprachsystematisch durch einen starken Akzent sowie eine reduzierte Lexik und reduzierte grammatische Struktur auszeichnen. Pragmatisch auffällig ist das gän‐ gige Duzen. Im Unterschied zu Lernersprachen (Lernervarietäten) im Zuge beispielsweise des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs ist das Gastarbeiter‐ deutsch kein Zwischenstadium, das sich noch weiterentwickelt, sondern ein stagniertes Stadium der Sprachentwicklung im Deutschen, das daher von außen als defizitäres Deutsch wahrgenommen wurde. Verantwortlich für diese fehlende sprachliche Weiterentwicklung (Fos‐ silierung) im Deutschen als Zweitsprache war nicht ausschließlich das biologische Alter der Migranten bei Beginn des Deutschlernens ( Jüngere lernen tendenziell leichter/ schneller), sondern hierzu zählten auch Faktoren 234 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="235"?> wie die soziale Integration in die Aufnahmegesellschaft, die Einstellung zur Sprache, kommunikative Bedürfnisse, Bildungshintergrund usw. (Ditt‐ mar/ Şimşek 2017: 197). Wie der Begriff ›Gastarbeiter‹ bereits andeutet, gingen die bundesrepublikanische Politik und Bevölkerung ebenso wie zum Teil die Arbeitsmigranten selbst davon aus, dass der jeweilige Arbeitsauf‐ enthalt einer als ›Gast‹ und damit ein vorübergehender sei, weshalb ein systematisches Lernen des Deutschen und eine dauerhafte Integration in die deutsche Gesellschaft nicht zwingend erforderlich seien. Die meisten Gast‐ arbeiter jedoch blieben in Deutschland und holten ihre Familien nach. Trotz dieser Umorientierung wurde der unsystematische, ungelenkte Erwerb des Deutschen als Zweitsprache nicht durch einen gesteuerten Deutsch-Erwerb ergänzt. Die deutsche (Sozio-)Linguistik reagierte auf dieses neue sprachliche Phä‐ nomen des Gastarbeiterdeutsch in drei Phasen (Hinnenkamp 1990: 284): In Phase I musste Gastarbeiterdeutsch als neu zu entdeckender Code zunächst einmal linguistisch in Abgrenzung zur deutschen Standardvarietät beschrie‐ ben werden. In Phase II wurde Gastarbeiterdeutsch als soziolinguistisches Phänomen untersucht und es wurde gefragt, welche außersprachlichen Fak‐ toren den ungesteuerten DaZ-Erwerb bedingen. Die dritte Phase schließlich erforschte aus pragmatischer und diskursanalystischer Sicht Gastarbeiter‐ deutsch als interaktionales Problem und Produkt und untersuchte, wie sich Kommunikationsprozesse zwischen Deutsch-Muttersprachlern und Gastar‐ beitern vollziehen und wie diese (z. B. Foreigner Talk als Pidgin-Verstärker) die Erwerbs- und Verständigungsprozesse der Gastarbeiter bedingen. Linguistisch-strukturell lässt sich, über die verschiedenen Herkunftsspra‐ chen hinweg, folgende Charakterisierung von Gastarbeiterdeutsch vornehmen (Keim 1984): ● Tendenz zu analytischer Wortbildung: kontroll machen anstatt kontrollieren, telefon machen anstatt telefonieren ● Verwendung der Negationspartikel nix vor dem Verb: ich nix arbeit anstatt ich arbeite nicht / ich habe keine Arbeit ● Verwendung des Zahladjektivs viel: aber des viel schwer anstatt aber das ist sehr schwer ● Verbendstellung: ich dir helfen anstatt ich helfe dir ● Verwendung des Verbs im Infinitiv (Ausfall der Verbflexion): du arbeiten viel anstatt du arbeitest viel 7.1 Gastarbeiterdeutsch der 1970er Jahre 235 <?page no="236"?> ● Ausfall von Subjekt, Verb, Artikel, Präposition, Personalpronomen, Tempusmarkierung: und bis jetzt 8 jahre diese firma arbeiten auch anstatt ich arbeite bis jetzt 8 Jahre bei dieser Firma; aber meine firma alles frau anstatt aber in meiner Firma arbeiten/ sind nur Frauen; ich chef rufen anstatt ich rufe den Chef; nur ausländer kommen die maschine anstatt nur Ausländer kommen an die Maschine Die Bezeichnung Gastarbeiterdeutsch und die hier vorgenommene linguis‐ tische Beschreibung gilt so lediglich für die erste Generation von Arbeits‐ migranten, für die das Gastarbeiterdeutsch tatsächlich das einzig verfügbare Kommunikationsmittel im Deutschen war. Bereits für die zweite Generation der Arbeitsmigranten, die Kinder der ersten Generation, verlagerte sich der Stellenwert des Gastarbeiterdeutschen im individuellen Kompetenz-Re‐ pertoire des Deutschen und es wurde zu einer Varietät unter anderen, die nur für ganz spezifische kommunikative Zwecke eingesetzt wird. Das Gastarbeiterdeutsch erfährt hier eine klar soziokulturelle Aufladung und Bedeutung (vgl. etwa Keim 2007a, b), wobei es eine stigmatisierte Varietät auch in der Verwendung durch Migranten der Folgegenerationen bleibt. Dass diese Gastarbeiterdeutsch mit dieser Funktion einsetzen (können), liegt daran, dass es für sie eben nicht mehr die einzige Kommunikationsmöglich‐ keit im Deutschen ist, sondern sie über ein weit größeres Repertoire des Deutschen im Standardwie Nonstandard-Bereich verfügen. Hieraus sollen im Folgenden insbesondere die mit den Folgegenerationen der Arbeitsmi‐ granten assoziierten ethnolektalen Sprechweisen in ihrer sozialen Funktion vorgestellt werden. 7.2 Ethnolekte und De-Ethnisierungen Die Soziolinguistik greift die speziellen Sprachgebrauchsweisen der zweiten und folgenden (zunächst v. a. türkischsprachigen) Generationen unter der Bezeichnung der ›Ethnolekte‹ auf und versucht, Interferenzen zwischen der Herkunftssprache und der Zielsprache aufzuzeigen. Allerdings stellt die Forschung fest: »Türkisch sprechen nicht nur die Türken« (Dirim/ Auer 2002) und analysiert die verschiedenen Transformationen von Ethnolekten (Auer 2003) und Prozesse der De-Ethnisierungen (Hewitt 1994, Erfurt 2003) hin zum polyethnischen Sprechstil. An Phänomenen des ›Multisprech‹, 236 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="237"?> der Sprachkreuzungen, der Stilisierung und der Hybridität, am ›Spiel mit Stil‹, z. B. in Jugendszenen und auch in satirischen Medienformaten, stoßen variations- und gar varietätenlinguistische Ansätze an ihre Grenzen und machen konstruktivistischen Platz, die der sozialsymbolischen Funktion des Sprachgebrauchs einen besonderen Stellenwert beimessen. In dieser Hinsicht tragen auch Projekte zur Stadtsprachenforschung (Kallmeyer 1994, Keim 2007 ff.; → Kap. II.2.4) zum Themenkomplex Sprache und Migration bei. Weitere Überschneidungen ergeben sich zur Jugendsprachforschung (Neuland 2018; → Kap. II.5.5). Die Beschreibung der Formen und Funktionen ethnolektaler Sprechweisen, die Entwicklung von Ethnolekten hin zur De-Ethnisierung sowie die Bezüge zu anderen Varietäten im Rahmen der individuellen Sprecherrepertoires und auch im europäischen Vergleich (vgl. Kern/ Selting 2011) werden im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Gehen wir aus von einer kurzen Definition: Ethnolekt »Ein Ethnolekt ist eine Sprechweise (Stil), die von den Sprechern selbst und/ oder von anderen mit einer oder mehreren nicht-deutschen ethnischen Gruppen assoziiert wird. Anders als im Falle der bekannten lexikalischen Innovationen der sog. Jugendsprache betrifft er im vorliegenden Fall (auch) die Grammatik.« (Auer 2003: 256) Ethnolekte sind damit formal eine mischsprachliche, mündlich gesprochene Kontaktvarietät aus Elementen des Deutschen und der Herkunftssprachen von ursprünglich Migrantenkindern der zweiten oder dritten Generation, die in multilingualen und multiethnischen urbanen Gruppen eine identi‐ tätsstiftende Funktion übernimmt. Sie sind jedoch keine Lernervarietäten, auch wenn einige Merkmale, wie z. B. Simplifizierungen und Übergenerali‐ sierungen, Ähnlichkeiten mit Lernervarietäten haben (Keim 2011: 158). In natürlichen Gesprächen hört sich das zum Beispiel so an: Beispiel: Kontaktvarietät Elif: Isch kann misch gut bewegen, wa? Ischwöre, Egal, was für ein Hiphopmusik isch höre, ey, mein Körper drinne tanzt voll, lan. […] Aymur: Was steht da auf ihre Hose? […] ›Melinda‹ oder so. Deniz: Melissa. Mann, die is ein Püppschen, lan. 7.2 Ethnolekte und De-Ethnisierungen 237 <?page no="238"?> Juri: Ihre Schwester is voll ekelhaft, Alter. Ischwöre. Sarah: Ey, weißte, Mann. Lara is ihre Schwester, wa. Die ähneln sisch bisschen. […] Juri: Die mit den Knutschfleck immer hier. Du kennst. Elif: Mann, die hat tausend. Jeden Tag nen neuen Freund, Mann. Aymur: Ja. Und die hat immer hier Knutschfleck. […] Juri: Manschmal, wenn isch tanze, isch geh an Spiegel, isch mach so. […] (Wiese 2012: 11 f.) Grammatische Besonderheiten gegenüber der Standardsprache betref‐ fen insbesondere systematische prosodische und phonetische (›gestoßenes Sprechen‹, Koronalisierung, apikales [r]) sowie syntaktische Besonderhei‐ ten (Ausfall der Artikel und Präpositionen, gehäufte Dativ-Verwendung). Le‐ xikalisch und pragmatisch auffällig ist die häufige Verwendung bestimmter Schlüsselwörter (krass, konkret, weißt du, ich schwör). Typisch für Ethnolekte ist aber auch das Code-Switching und -Mixing. Während Code-Switching (Code = Sprache, Varietät, Register oder Stil; → Kap. II.6.3) das zumeist funktionale oder thematisch bedingte, lokal bedeutsame oder einen neuen Kontext eröffnende Wechseln von einem Code A in einen andere Code B an bestimmten Stellen oder aufgrund bestimmter Auslöser bezeichnet, werden mit Code-Mixing Phänomene der fließenden Sprachbzw. Code-Mischung von auch mehr als zwei Codes innerhalb von Wörtern (Flexion) und Konstruktionen (feiern yaptım ‚ich feierte/ feiern machte ich‘; bilderlar ‚Bild + dt. Plural -er + türk. Plural -lar) oder Sätzen gemeint, die erheblich schneller und öfter wechseln, sodass sprachliche Grenzen verschwimmen und lokale Wechsel keine spezifische, konkrete Bedeutung mehr haben, sondern generell als symbolisches, soziolektales Mittel zum Ausdruck einer eigenständigen sozialen Identität der Sprecher zu sehen sind (z. B. in Abgrenzung zu Deutschen oder den türkischen Eltern). Code-Mixing kann im ethnolektalen Kontext die Normalform der Ingroup-Kommunikation sein: ME: o da konuşma die gan zeit ben=d=böyl=aptım Ü er hat auch nicht gesprochen die ganze zeit und ich hab so gemacht (Keim/ Cindark 2003: 384) 238 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="239"?> 05 TU: Ehrd ei“ne stunde gewartet →07 ME: - +kardeşim↓ * sen onu yazıp versene bana↓ 08 Ü - mensch schreibs du doch und gibs mir →09 ZE: isch ka“nn des net - isch bin im praktikum↓ * 10 ME: - niye↑ - 11 Ü - warum - 12 ZE: almayız derler↓ * was soll isch >dann machn<↓ ** wenn du <kommst>↑ * 13 Ü die sagen wir nehmen dich nicht 14 ZE: beş dakka Erhdın yanına gir↓ dann kriegst du alles was du willst↓ 15 Ü geh fünf minuten zu Erhd rein (Keim/ Cindark 2003: 389) Heutzutage werden Ethnolekte stark durch die Medien stilisiert und verbrei‐ tet (›Ghetto-Deutsch‹, ›Kanakisch-Deutsch‹) und von Deutsch-Erstsprach‐ lern übernommen (Dirim/ Auer 2002). Soziolinguistisch sind Ethnolekte dabei mit Härte, Agressivität, Coolness und Machotum konnotiert. Gesellschaftlich gelten Ethnolekte in der breiten und medialen Öffentli‐ chenkeit, ähnlich wie das Gastarbeiterdeutsch, als stigmatisiert und defizitär gegenüber der deutschen Standardsprache. Ethnolektale Sätze wie ›Machst Du rote Ampel? ‹ oder ›Die mit den Knutschfleck immer hier. Du kennst! ‹ werden Sprechern mit Migrationshintergrund tendenziell eher negativ als mangelnde Sprachkompetenz oder gar Integrationsverweigerung ausgelegt denn als sprachliche Innovation oder Identitätsausweis. Dass sie von den Sprechern zumeist gezielt und funktional sowie durchaus kreativ und nur in bestimmten Situationen - und hier funktional angemessen - eingesetzt werden und dass die Sprecher durchaus auch andere, prestigeträchtigere Varietäten des Deutschen beherrschen, wird von der Öffentlichkeit oft ignoriert (→-Kap. III.2). Generell trifft man auf ethnolektale Sprechweisen eher bei jüngeren Sprechern, weshalb Ethnolekte oft auch als eine Art multiethnische Jugend‐ sprache (Wiese 2012) bezeichnet werden, die an der Schnittstelle bzw. im Sprachkontakt verschiedener Sprachen und Varietäten des Deutschen entsteht: 7.2 Ethnolekte und De-Ethnisierungen 239 <?page no="240"?> Ethnolekt Standardsprache/ DaZ Jugendsprache Dialekt Herkunftssprache(n) Abb. II.7.1: Ethnolekte als Mischsprache im Sprachkontakt Ethnolekte sind demnach aus linguistischer Sicht ein Beleg für kreative Prozesse der Sprachmischung sowie ein Ort des sehr schnellen Sprach‐ wandels, was Wiese zur Bezeichnung als ›dynamischer Turbodialekt‹ (Wiese 2012: 17) verleitet. Die Kategorisierung und Bezeichnung als ›Dia‐ lekt‹ (Wiese 2012) ist jedoch aus (sozio-)linguistischer Sicht verwirrend und nicht haltbar, Dittmar (2013: 195) bezeichnet sie gar als ›naiv‹ und ›irreführend‹. Da sich neben der Wissenschaft auch die mediale Öffentlichkeit und insbesondere die Comedy-Szene (vgl. Kotthoff 2009) sehr früh des Phäno‐ mens der Ethnolekte zugewendet hat, verschwimmen die Grenzen zwischen realen ethnolektalen Sprechweisen und Sprechergruppen und fiktionalen, karikaturhaften medialen Inszenierungen dieser Sprechweisen und Spre‐ chermilieus sehr schnell, wobei Medienakteure einerseits zu Meinungsma‐ chern (vor allem bezüglich der Bewertung) und andererseits zu Verfälschern der authentischen Sprechweisen werden. Diese mediale, bisweilen (sprach-)ideologische Karikierung und klischeehafte Verzerrung der realen ethnolektalen Sprechweisen macht dabei nicht bei sprachlichen Merkmalen halt, sondern koppelt Sprache auf zum Teil gefährliche, manipulative Art an soziale und kulturelle Aspekte. Sprachlich finden sich in den medialen Inszenierungen etwa grammati‐ sche Phänomene (›Fehler‹), die keine Basis im authentischen Ethnolekt haben (dem als durchgängiger Definitartikel, gefahrt als Partizip). Hiermit 240 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="241"?> und parallel dazu schaffen die Medien sprachliche wie außersprachliche Stereotypen und koppeln Ethnolekte an gewisse, oft kriminelle soziale (und Bildungs-) Milieus. Genau diese Verzerrungen (statt authentischer Ver‐ wendungsbeispiele) in zudem unauthentischen und damit dysfunktionalen Kontexten werden dann nicht selten von Verlagen als Unterrichtsmaterial aufbereitet, was zu einer Verbreitung des verzerrten Bildes führt. Selbst seriöse Medien wie der SPIEGEL prägen ein verzerrtes Bild, indem sie ju‐ gendlich-ethnolektales Sprechen pauschal-undifferenziert mit Milieus und Herkunftskulturen assoziieren: Was soll der Scheiß? So reden die Bewohner dieser Welt. Ey Mann, ey. Nutte. Killer. Krass. Es gibt viele ›sch‹- und ›ch‹-Laute in dieser Sprache, kaum noch ganze Sätze. Dreckische Deutsche, so reden sie. […] Respekt bekommt, wer die eigene, also die türkische oder libanesische Schwester vor Sex und Liebe und diesem großen glitzernden Westen schützt und selbst deutsche Schlampe fickt. Ohne Artikel. Wie sie eben reden. (DER SPIEGEL 14/ 2006) Dass dieses Bild nicht der Wahrheit der Sprechergruppen, sprachlichen Formen und Funktionen entspricht, wird im Folgenden zu zeigen sein, wenn Ethnolekte soziolinguistisch beschrieben werden. Die Existenz von Ethnolekten - nicht nur als deutsches, sondern euro‐ päisches Phänomen - ist seit mindestens Mitte der 1990er Jahre bekannt. Als Hauptträger gelten männliche Jugendliche, die ursprünglich v. a. tür‐ kischstämmig waren, doch gilt dies so heute nicht mehr. Entstanden sind Ethnolekte im urbanen Umfeld der Großstädte, in sogenannten ›Großstadt‐ ghettos‹, in denen viele Migranten der zweiten oder dritten Generation wohnten. Deren Herkunftssprachen bestimmten u. a. durch Interferenzen die sprachlichen Merkmale der Ethnolekte mit. Der defizitären Sicht der Öffentlichkeit auf Ethnolekte setzt Heike Wiese (2013: 45) aus linguistischer Sicht eine bewusst positive Interpretation der sprachlichen Merkmale und Innovationen von Ethnolekten entgegen, wenn sie diese als v.-a. zwei Arten grammatischer Entwicklungen interpretiert: ● einerseits als quantitativen Ausbau bzw. Systematisierung von Non‐ standard-Konstruktionen anderer Varietäten gegenüber dem Sprachge‐ brauch in vergleichbaren, aber stärker monoethnischen/ monolingualen Gruppen (z. B. die Verwendung von voll: Das ist [voll, ganz, total, sehr] schön.); 7.2 Ethnolekte und De-Ethnisierungen 241 <?page no="242"?> ● andererseits als grammatische Innovationen, die auf vorhandenen Mus‐ tern des Deutschen aufbauen, diese aber qualitativ verändern und weiterentwickeln (z. B. ich weiß wo die gibs; es gibs nich mehr sowas wie früher; ich war gestern bauhaus und habe geguckt welche sorten gibs). Dabei muss letztlich ungeklärt bleiben, ob es tatsächlich, wie von Wiese dargestellt, die vorhandenen, vergleichbaren deutschen Konstruktionen (etwa Verzicht auf Präposition und Artikel beim Sprechen über Halte‐ stellen: Ich steig Alexanderplatz aus.) sind, die die Ethnolekte aufgreifen, in andere Kontexte setzen und verbreiten, oder ob es nicht doch auch andere Interpretationen - wie die der Interferenz, Sprachökonomie und grammatischen Vereinfachung - gibt. Sprachliche Merkmale für ethnolektales Sprechen können grob wie folgt zusammengefasst werden (vgl. u. a. Dirim/ Auer 2002, Auer 2003, Keim/ Knöbl 2007, Keim 2011: 163 f.): 1. phonetisch-phonologische Ebene - Koronalisierung: / ʃ/ statt / ç/ (isch statt ich) - Reduktion des / ts/ zu / s/ : swei statt zwei - Gerolltes / r/ - Nicht-Vokalisierung von auslautendem / r/ - Fehlen von Glottalverschlüssen - Kürzung langer Vokale - ›gestoßenes Sprechen‹ - Phonetische (segmentale und suprasegmentale) Interferenzen der Herkunftssprachen 2. morphologische und syntaktische Ebene - Fehlende Kongruenz in komplexen Nominalphrasen, fehlende Inversion - Nomen ohne Artikel und Präposition (fast nur in Ortsangaben! ) bzw. mit von der Standardsprache abweichender Präposition: Wenn wir überhaupt Hochzeit gehen; Sich von anderen Leuten wehren - Veränderung des Valenzrahmens/ von Subkategorisierungsregeln (selten): Mit dem du geheiratet hast statt den du geheiratet hast - Veränderung der Genera: gutes Gewinn; ein Ohrfeige geben - von der Standardsprache abweichende Kongruenzregelung in komplexen Nominalphrasen: schlechten Gewissen gehabt; steht einer Deutscher 242 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="243"?> - Häufiges Fehlen von (in)definiten Artikeln: da wird Messer gezo‐ gen; sonst bist du toter Mann; hast du Problem? - Umwandlung der Satzstellung in Subjekt-Verb-Objekt-Sätzen: Jetzt ich bin 18; wollte ich keine Hektik machen - Nicht-Setzen anaphorischer und suppletiver Pronomen: Als ich kennengelernt hab… statt als ich ihn/ sie kennengelernt habe 3. lexikalische und pragmatische Ebene - Türkische Anreden als Diskursmarker - Beschimpfungen (siktir lan ‚verpiss dich, Mann‘) - Einfluss des Türkischen und Arabischen - lan ‚Typ, Mann‘, moruk ‚Alter‘, yallah ‚los, schnell‘ - Anglizismen ( Jugendsprache) - Passe-Partout-Verben (gehen, machen - ich mach Dich Mes‐ ser/ Krankenhaus), Passe-Partout-Substantive (ding(s)) - Bereiche: Anrede, Redebeginn/ -schluss, Bekräftigung, ritualisierte Flüche und Beleidigungen (typisch Jugendsprache) - Häufige Verwendung von neuen Funktionswörtern (Fokus- und Diskursmarkern) (so, ischwör, lassma, musstu, kuxu) Vergleicht man die ethnolektalen Merkmale mit denen des Gastarbeiter‐ deutsch, fällt als Gemeinsamkeit vor allem der Ausfall von Artikeln und Prä‐ positionen auf. Es überwiegen aber die Unterschiede: Die Ethnolekt-Spre‐ cher flektieren (wenn auch zum Teil fehlerhaft) Nomen und Verben, sie befolgen weitgehend die Wortstellung in Haupt- und Nebensätzen gemäß den Normen der deutschen Standardsprache und sie beherrschen auch die Satzklammer. Vor allem zeigt sich das größere Repertoire der Ethno‐ lekt-Sprecher darin, dass sie nicht auf eine fossilierte Sprache beschränkt sind, sondern dass bei ein und demselben Sprecher eine große Variabili‐ tät der genannten Phänomene zu verzeichnen ist; d. h., dass ihnen die ›korrekten‹, standardsprachlichen Regeln bekannt sind und sie sie an die jeweilige Situation anpassen können. Ethnolekte sind demnach kein Beleg für mangelnde Sprachkompetenz im Deutschen, sondern funktional ein Ausdruck eines neuen deutsch-türkischen (oder anders-ethnischen) Selbstbewusstseins, einer neuen Identität der Sprecher. Nach Auer ist der (türkische) Ethnolekt demnach »zwar kompatibel mit natürlichen Vereinfachungsstrategien und lernertypischen Interferenzen«, doch sind die Sprecher in der Lage, diese Vereinfachungsstrategien gezielt, »selektiv 7.2 Ethnolekte und De-Ethnisierungen 243 <?page no="244"?> und situationsspezifisch zu Zwecken der Selbst-Stilisierung als ethnischer Gruppe ein[zu]setzen« (Auer 2003: 260). Das bedeutet, dass Ethnolekte, im Gegensatz zum Gastarbeiterdeutsch, bewusst, gezielt und damit funktional eingesetzt werden. Als Haupt-Funktionen des ethnolektalen Sprechens lassen sich, sich jeweils überlappend oder gegenseitig bedingend, nennen: ● Funktion der Selbst-Stilisierung (zu einer ethnischen/ sozialen Gruppe) als Ausdruck eines neuen deutsch-türkischen Selbstbewusst‐ seins, einer neuen Identität: der Ethnolekt wird zu einem We-Code gegenüber dem Deutschen als They-Code; hiermit verbunden ● Funktion als Jugendsprache (z. B. Provokation und soziale Abgren‐ zung; →-Kap. II.4.5); in diesem Zusammenhang insbesondere - Funktion der Gruppenstabilisierung nach innen durch Verwen‐ dung gegenüber und in Anwesenheit von peers, während die Verwendung von Standardsprache eine soziale Distanz aufmacht; - Funktion der Gruppenabgrenzung nach außen; - Nutzung in scherzhaften Situationen; - Nutzung hinsichtlich Aussagen, die man nicht mit der ›eigenen Stimme‹ tätigen will: Anmachsprüche, derbe Witze, Anzüglich‐ keiten etc. Zu diesen Funktionen, die ausschließlich für die primären Sprecher gelten, kommen weitere Funktionen hinzu, wenn Außenstehende, etwa Medien‐ akteure, sich ethnolektaler Sprechweisen bedienen und diese, partiell ver‐ gleichbar dem Foreigner Talk, imitieren und karikieren. Hier zu nennen wäre eine diskriminierende Funktion (Inszenierung, Verstärkung und an‐ gebliche Bestätigung von Stereotypen wie Dummheit oder Aggressivität) oder die Inszenierung eigener Medienkompetenz. Um den Unterschied zwischen diesen Sprecher-Gruppen und der Authen‐ tizität des jeweiligen Ethnolekts zu verdeutlichen, unterteilt Auer (2003) ethnolektales Sprechen in die drei Klassen eines primären, sekundä‐ ren und tertiären Ethnolekts: Den primären Ethnolekt sprechen die ursprünglichen, zunächst meist türkischstämmigen Sprecher. Deren Ethno‐ lekt wurde dann von Medienakteuren im Akt einer »Usurpierung […] durch Personen, denen er nicht ‚gehört‘« (Auer 2003: 256), aufgegriffen und karikierend verzerrt zu einem ›medial-sekundären‹ Ethnolekt. Über diese mediale Verbreitung (vgl. etwa Androutsopoulos 2001, 2007; Androut‐ sopoulos/ Lauer 2013) und Kontaktmöglichkeit begannen auch andere als 244 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="245"?> die ursprünglichen Sprecher, v. a. deutschstämmige Sprecher, ethnolektal zu sprechen: den tertiären Ethnolekt. Androutsopoulos (2000) referiert auf diesen Prozess der medialen Ausweitung der Sprechergruppe mit der Beschreibung «from the streets to the screens and back again». De-Ethnisierung zum Soziolekt (deutsche und drittethnische Sprecher) medial-sekundärer Ethnolekt (crossing I) primärer Ethnolekt (v. a. türkische Sprecher) tertiärer Ethnolekt (crossing ii) (v. a. deutsche Sprecher) Abb. II.7.2: Vom Ethnolekt zum Soziolekt (Auer 2003: 257) Da mit diesem Prozess der Weitergabe und Verbreitung von ethnolektalem Sprechen zwangsläufig dessen ethnische Verwurzelung verschwand und Ethnolekte andere, neue Funktionen übernahmen, spricht Auer hier von der ›De-Ethnisierung zum Soziolekt‹, die eine Ausbreitung des primären Ethnolekts unter nicht-türkischen Jugendlichen meint (→ Kap. III.3.2). Hiermit einher ging partiell eine Auflösung des Ethnolekts als männlich geprägter Genderlekt; de-ethnisierte ethnolektale Sprechweisen wurden auch durch Frauen/ Mädchen und sogar von bildungsnahen, aufstiegsorien‐ tierten Jugendlichen und auch in formelleren Situationen übernommen (vgl. Bleibtreu 1999, Keim/ Androutsopoulos 2000): Die Grenzen zwischen Alterität (fremder Ethnolekt) und Identität (eigener Stil) weicht [sic! ] auf und verschwinden teils ganz. Der Ethnolekt wird zu einem Soziolekt des Deutschen. (Auer 2003: 263) Ein typischer Verwendungskontext bleibt dabei die Nutzung in multieth‐ nischen Vierteln, jedoch ohne ethnische Eingrenzung der Sprechgruppe. Daher sind Ethnolekte auch keine Ausländer-, sondern eine Inländervarietät von in Deutschland geborenen jungen Menschen (zumeist) nicht-deutscher Erstsprache. Ethnolekte fungieren dabei für Migranten der zweiten oder dritten Generation als Ausdruck der multiplen Sprecheridentität, die oft eine 7.2 Ethnolekte und De-Ethnisierungen 245 <?page no="246"?> hybride aus Herkunfts-, deutscher und einer eigenen neuen Jugendkultur ist; für deutschstämmige Jugendliche stehen die Ethnolekte für ihre Peer-Kultur. 7.3 Mehrsprachigkeit Ethnolekte sind sicherlich das in der medialen Öffentlichkeit aktuell am stärksten diskutierte Thema der Mehrsprachigkeit, das in diesem Lichte (der Ethnolekte) aber oft als exotisch, subkulturell und defizitär dargestellt und wahrgenommen wird. Dabei ist Mehrsprachigkeit weltweit der absolute und zumeist nicht bewusst wahrgenommene Normalfall in den meisten Sprach‐ gemeinschaften und betrifft bis zu zwei Drittel der Weltbevölkerung - auch wenn man in Deutschland immer gerne nur auf die kleine, mehrsprachige Schweiz verweist. Dass auch in Deutschland Mehrsprachigkeit mittlerweile als Nor‐ malfall gelten kann, zeigen verschiedene Zahlen: 2019 hatten in Deutsch‐ land über 21 Millionen Personen einen Migrationshintergrund (26 % der Gesamtbevölkerung), und in der Gruppe der Kinder unter fünf Jahren hatten sogar 40,4 % einen Migrationshintergrund (bpb 2020). In Großstäd‐ ten über 500.000 Einwohnern leben 46 % der Kinder in einer potenziell mehrsprachigen Familie mit Migrationshintergrund (Wiese 2013: 41). Be‐ sonders relevant ist hier als Herkunftssprache neben dem Türkischen das Russische, zunehmend aber auch das Arabische. Laut Meyer (2011: 189) bzw. den von ihm zitierten soziodemografischen Daten müssen oder wollen in Deutschland »relevante Teile der Wohnbevölkerung anlassbezogen in anderen Sprachen als dem Deutschen kommunizieren«. Dies bedeutet neue Anforderungen an öffentliche Institutionen und Unternehmen, aber auch neue Möglichkeiten der Nutzung dieser herkunftssprachlichen Ressourcen, wobei es zu Problemen kommt, wenn die Herkunftssprachen nicht auf ausreichendem Niveau mit Blick auf die (z. B. beruflichen) Anforderungen ausgebildet sind. Das Thema Mehrsprachigkeit wurde von der Soziolinguistik, die tradi‐ tionell Variation innerhalb einer historischen Einzelsprache untersuchte, lange Zeit wenig beachtet. Doch der gesellschaftliche Wandel und fachliche Entwicklungen sorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in einer zunehmend globalen und mobilen Welt (vgl. Migration, Tourismus, Wirtschaft, digitales Medienangebot), dafür, »dass sich Mehrsprachigkeit vom Rand in den Mittelpunkt der Soziolinguistik bewegt«, die nun die »komplexe[n] Wech‐ 246 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="247"?> selwirkungen von Migration, Mobilität, Internationalisierung und Digitali‐ sierung« (Androutsopoulos 2017: 53; → Kap. II.8) untersucht. Dabei geht das Thema mittlerweile weit über Minderheiten- und Migrantengruppen hinaus (ebd.). Die wichtigsten Zugänge zu individueller wie gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit sind folgende (Androutsopoulos 2017: 54): ● psycholinguistisch: v. a. mit Blick auf sprachliche Kompetenzen von Bilingualen ● kontaktlinguistisch: zielt auf strukturelle Konsequenzen und Erschei‐ nungsformen des Sprachkontakts (Entlehnungen, Entstehung von Mischsprachen, grammatische Modelle des Code-Switching) ● sprachsoziologisch: erforscht gesellschaftliche Mehrsprachigkeit (And‐ routsopoulos 2018) auf ihre sozialen, juristischen und ökonomischen Rahmenbedingungen und modelliert Einflussfaktoren auf die Entwick‐ lung von mehrsprachigen Gemeinschaften Der soziolinguistische Zugang schließlich grenzt sich nach Androutsopoulos (2017: 55) zu diesen drei anderen empirisch, methodisch und theoretisch deutlich ab: Ihm geht es um alltägliche Praktiken der mehrsprachigen Kommunikation (z. B. Code-Switching; rezeptive Mehrsprachigkeit: jeder spricht jeweils die bevorzugte Sprache und versteht die vom Partner ge‐ wählte Sprache; in internationalen Arbeitsteams Reservierung bestimmter Sprachen für bestimmte Funktionen). Die Perspektive ist bottom up, ausge‐ hend nicht von der Sprachgemeinschaft (wie beim sprachsoziologischen Ansatz; → Kap. I.2.4.4), sondern von Sprecherinnen und Sprechern mit ihren Ressourcen und Praktiken, d. h. von kontextualisierten, situierten sprachlichen Umgangsformen zur kommunikativen Konstituierung von Gemeinschaft. Der soziolinguistische Zugang fragt, welche heterogenen semiotischen Ressourcen und Praktiken Sprecher zur Erreichung ihrer interaktionalen Ziele einsetzen, wenn sie in komplexen sozialen Räumen mit unterschiedlichen Machtverteilungen handeln und bewertet werden. Hier geht es um die Beobachtung fortwährender Prozesse der Selektion, Kombination und Aushandlung sprachlicher Mittel zur Erreichung inter‐ aktionaler Ziele (→ Kap. I.2.4.3). Statt eines Fokus auf Regelhaftigkeiten und Generalisierungen geht es um »eine Aufmerksamkeit für flexible, fluide, mitunter marginale und unerwartete Beziehungen zwischen Sprache, Raum und Gesellschaft« (ebd.: 55). Mehrsprachigkeit wird insgesamt als »Grundlage und Ergebnis interaktionaler Prozesse der Machtaushandlung« 7.3 Mehrsprachigkeit 247 <?page no="248"?> gesehen statt als »geordnetes Verhältnis zwischen Sprachen, Gruppen und Domänen« (ebd.). Es gibt mittlerweile viele verschiedene soziolinguistische Perspektiven auf Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit. Aktuell wird etwa viel zu Mehr‐ sprachigkeit und Raum (linguistic landscapes, vgl. etwa Der Deutschunter‐ richt 4/ 2018), d. h. etwa zu (u. a. visueller, Ziegler 2018; → Kap. II.2.4) Mehrsprachigkeit in der Stadt geforscht, aber auch zu Sprachinseln des Deutschen im Ausland (u.-a. Lenz 2016, Lenz/ Plewnia 2018). Aber was genau bedeutet eigentlich Mehrsprachigkeit? Eine vorwissen‐ schaftliche Fehlannahme, die an einem sinnvollen Anspruch und auch der Realität vorbeigeht, ist die Setzung, Zwei- oder Mehrsprachigkeit meine eine hundertprozentige sprachliche und kommunikative Kompetenz eines Individuums in zwei oder mehreren Sprachen auf Erstsprachler-Niveau. Eine »perfekte Ein- oder Mehrsprachigkeit« ist ein Mythos und »die Erwar‐ tung, dass sich mehrsprachige Menschen etwa in allen ihren Sprachen glei‐ chermaßen wortgewandt, differenziert und flüssig über beliebige Themen unterhalten können, ist unrealistisch« (Tracy 2011: 74). Als mehrsprachig gilt heute stattdessen »jede Person, die ›sich im Alltag zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und sofern notwendig auch von der einen in die andere wechseln kann, dies unabhängig von den Erwerbsmodalitäten, vom Grad der Beherrschung und von der sprachlichen Distanz zwischen den Varietäten‹ (Lüdi/ Py 2003)« (Lüdi 2006: 36 f.). Die Erwähnung von Varietäten statt Sprachen zeigt, dass der Begriff Mehr‐ sprachigkeit wissenschaftlich betrachtet komplex verstanden und verwendet wird, und zwar als ›Dachbegriff‹, unter welchem verschiedene Konzepte zusammengefasst werden. In der Literatur wird zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit unterschieden. Demnach ist eine Person individuell mehrsprachig, wenn sie ihr »vorhandene[s] mehrsprachige[s] Potential in der alltäglichen Kommunikation nutz[t]« (Kameyama/ Ödzil 2017: 71). Am Vorkommen verschiedener Sprachen im gesellschaftlichen Sprachhandeln wird auch die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit gemessen. Demzufolge kann eine Gesellschaft als mehrsprachig bezeichnet werden, wenn Sprecher verschiedener Sprachen dazu fähig sind, alltägliche Situationen zu bewälti‐ gen, indem sie miteinander kommunizieren (vgl. Kameyama/ Ödzil 2017: 71 f.). 248 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="249"?> Eine weitere Unterscheidung betrifft die in innere und äußere Mehr‐ sprachigkeit einer Person. Die innere Mehrsprachigkeit als eine situativ funktionale Mehrsprachigkeit bezieht sich dabei auf die Kompetenz, ver‐ schiedene Varietäten und Register innerhalb einer historischen Einzelspra‐ che funktional angemessen zu beherrschen. Die äußere Mehrsprachigkeit meint hingegen die individuelle Kompetenz in den Erst-, Herkunfts- und Fremdsprachen und reicht von einer rudimentären Kommunikationskom‐ petenz auf niedrigstem Niveau bis hin zu umfassender Sprachhandlungs‐ kompetenz in allen vier Fertigkeiten (Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen) und im Sprachmitteln (Hufeisen/ Efing 2017, vgl. auch Roche 2018: 67 f.). 7.4 Mehrsprachigkeit, Identität und Integration Während die öffentliche Diskussion mit der Forderung nach sprachlicher Integration oft implizit oder explizit das Ablegen der Herkunftssprachen und -identität und die Forderung nach sprachlichem Purismus statt Sprach‐ mischungen verbindet oder gar fordert, ist sich die sprachdidaktische wie soziolinguistische Forschung der Relevanz (des Ausbaus) der herkunfts‐ sprachlichen Kompetenz für die Sprachkompetenz im Deutschen und die individuelle wie die kulturelle (ggf. hybride) Identität der Sprecherinnen und Sprecher weitgehend einig. Dennoch dominiert bis in die Politik hinein oftmals ein »Integration-durch-Sprache-Diskurs« (Busch 2013: 113), in dem Sprache als alleiniger Schlüssel zur Integration (und Bildungssprache als Schlüssel zum Bildungserfolg) gesehen wird (→-Kap. II.1.3.2). Der Wissenschaft gilt ein Erhalt der Herkunftssprachen hingegen ebenso als erstrebenswert wie eine Sprachmischung (Code-Switching, Code-Mixing) als unbedenklich und relevant für die Identität gilt. Das Thema ›Mehrsprachigkeit‹ ist über die Funktion von Sprachen, iden‐ titätsstiftend zu sein, auch eng gekoppelt an die Frage nach dem Zusam‐ menhang von Sprachbeherrschung und Integration: z. B. als (Zuschreibung von Nicht-)Zugehörigkeit innerhalb einer Sprache (Dialektsprecher fühlen sich ausgegrenzt unter Standardsprechern) wie auch zwischen Sprachen (Sprache als ›Schlüssel zur Integration‹ für Geflüchtete und Zuwanderer). 7.4 Mehrsprachigkeit, Identität und Integration 249 <?page no="250"?> Zur Integration gehört dabei die gesellschaftliche Partizipation, die in letzter Zeit auch insbesondere in Zusammenhang mit beruflicher Integration (vgl. Daase 2018, Efing 2017) in den Blick genommen wird. Dabei geht es einerseits um konkrete objektive gesellschaftliche Sprachbedarfe (z. B. an Englischkenntnissen) in bestimmten Kontexten und Berufen, andererseits aber ist hier auch die Sprachideologie (vgl. Busch 2013: 84 ff.), Sprachein‐ stellung und die Bewertung des Prestiges von bestimmten Sprachen ganz generell relevant (→ Kap. III.3.2). Allein durch ein unterschiedliches und ggf. niedriges Prestige kann Mehrsprachigkeit zu einer Barriere für Integra‐ tion und Bildungserfolg werden bzw. ist dies die Ursache für »komplexe Probleme in Schule, Verwaltung, Nachbarschaft u.a.«: »Keine oder schlechte Sprachkenntnisse führen zur Isolation (Parallelgesellschaft), hohe sprachli‐ che Kompetenzen dagegen zur Integration in das Arbeits- und Alltagsleben« (Dittmar/ Şimşek 2017: 193). Mit Blick auf die in eine Gesellschaft zu integrierenden neu zugewan‐ derten Gesellschaftsmitglieder wird Mehrsprachigkeit mit Perspektive auf mangelnde Sprachkompetenz in der Ziel-, aber zum Teil auch in der Herkunftssprache demnach in der Öffentlichkeit oft als Hemmnis für die gesellschaftliche und berufliche Integration sowie für die individuelle Entfaltungsmöglichkeit, für Bildungschancen und die Karriere gesehen. Die Perspektive und das Plädoyer, Mehrsprachigkeit als individuelle und gesellschaftliche Ressource - auch z. B. im Beruf (Kontakte zu anderssprachigen Kunden; Wettbewerbsvorteil zum ökonomisch erfolgrei‐ chen Agieren auf internationalen Märkten usw.) oder für das gegenseitige kulturelle Verstehen bzw. ein gelingendes interkulturelles Miteinander (Roche 2006: 90) - zu sehen, ist eher in der Forschung und Didaktik verbreitet. Ein Individuum ist demnach gesellschaftlich dann erfolgreich, wenn es über ein breites mehrsprachiges Repertoire verfügt und dieses angemessen einzusetzen weiß - und wenn die beherrschten Sprachen und Varietäten gesamtgesellschaftlich oder in den einschlägigen Peergruppen, in denen das Individuum verkehrt, sprachideologisch mit ausreichend Prestige ausgestattet sind, um entweder sozial anerkannt oder beruflich erfolgreich zu werden (vgl. Androutsopoulos 2017: 57). Dennoch ist Mehrsprachigkeit bzw. eine andere Herkunftssprache selbst‐ verständlich keine automatische Qualifikation dafür, in dieser Herkunfts‐ sprache auch berufs- oder gar fachsprachlich angemessen kommunizieren zu können. Und natürlich sind empirische Ergebnisse von Schulleistungs‐ studien nicht zu ignorieren, die zeigen, dass mehrsprachige Kinder in der 250 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="251"?> Schule oft größere sprachliche Probleme (z. B. mit dem Wortschatz, beim Lesen und Zuhören sowie in der Orthographie; vgl. Merten/ Kuhs 2012: 11, Stanat et al. 2012: 217-223, Reiss et al. 2019: 10, Efing/ Roelcke 2021: 146) haben als monolinguale. Laut Wolff (2006: 54 ff.) ist Mehrsprachigkeit individuell (erst) dann vor‐ teilhaft für Sprachbewusstheit und Sprachenlernen, wenn die beherrschten Sprachen auf bildungssprachlichem Niveau beherrscht werden. Dies trifft v. a. auf ›elitär Mehrsprachige‹ (bilinguale Erziehung in der Familie von Geburt an), nicht aber auf ›erzwungen Mehrsprachige‹ (in Migrationskon‐ texten nötig werdende Mehrsprachigkeit) zu. Mit Bezug auf Steinig/ Huneke (2007: 214 f.) kann man für diese Diskre‐ panzen, die über Bildungsbzw. schulischen Erfolg entscheiden, vermutlich nicht nur die Anderssprachigkeit oder eine unterschiedliche Sprachfähigkeit je nach Herkunft - und auch nicht die verschiedenen Sprachsysteme sla‐ wischer und der Turksprachen -, sondern die unterschiedliche Herkunfts‐ kultur bzw. die »soziokulturelle […] Orientierung der eingewanderten Familien« (u. a. als Lernkultur, Bildungsaspiration, unterschiedlichen Bezug zur Buch-/ Schriftkultur, unterschiedliche Bildung der (Groß-)Eltern u. dgl.) verantwortlich machen. 7.5 Interkulturalität und Interkulturelle Kompetenz Auch Verständigungsprobleme und Missverständnisse resultieren oftmals weniger aus sprachlichen, sondern aus kulturellen Differenzen - wobei Sprache und Kultur nicht selten eng miteinander zusammenhängen (vgl. etwa Göbel 2018, Hu 2019). Unter Kultur wird hier ein System von Wertevor‐ stellungen, Denk- und Handlungsweisen sowie Lebensformen verstanden, an welchem sich Mitglieder einer Gemeinschaft orientieren. Auf Grundlage dessen bildet sich eine kulturelle Identität heraus. Sprache dient dabei als wichtigstes Medium der Verbreitung kultureller Praktiken, Sprache drückt Kultur aus, verkörpert sie und dient als ihr Symbol (Kramsch 1993: 3). Aber es reicht im interkulturellen Kontakt nicht aus, mehrsprachig zu sein, sondern man muss auch kultursensibel agieren, d. h. interkulturell kompetent sein. Und hier sind für eine gelingende interkulturelle Kommunikation nicht nur verbale, sondern auch nonverbale und paraverbale Mittel entscheidend (vgl. Broszinsky-Schwabe 2011: 88 f.). 7.5 Interkulturalität und Interkulturelle Kompetenz 251 <?page no="252"?> Mehrsprachigkeit und Interkulturalität hängen eng miteinander zu‐ sammen, da es bei beiden Aspekten darum geht, mit Angehörigen fremder Sprachen beziehungsweise Kulturen in Kontakt zu treten. Interkulturalität setzt voraus, dass die Beteiligten sich auf die andere Kultur einlassen und ein gegenseitiger Austausch stattfindet. Damit dieser Prozess gelingt, bedarf es interkultureller Kompetenz (vgl. Broszinsky-Schwabe 2011: 86-91), welche »die Fähigkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen konfliktfrei zu kommunizieren und sie auf der Grundlage ihres Wertesystems zu verste‐ hen«, bezeichnet (ebd.: 91). Hierfür bedarf es nach Neuland/ Peschel (2013: 41) der Einsicht in die Kulturalität sprachlichen Handelns, einer kulturellen und sprachlichen Bewusstheit sowie der Fähigkeit zum Fremdverstehen. Sprache dient als Hinleitung zur Kultur, was den gemeinsamen Austausch vereinfacht. Über die sprachlichen Äußerungen ist es den beteiligten Per‐ sonen möglich, kulturelle Denkweisen nachvollziehen zu können (vgl. Hu 2019: 21). Mit Bolten (2012: 69) kann man demnach unter interkultureller kommunikativer Kompetenz die folgenden Aspekte subsumieren: Mehrperspektivität, Perspektivwechsel, kulturelle und soziale Kompetenz (Angemessenheit), Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit, Ambigui‐ tätstoleranz, Frustrationstoleranz, Selbstvertrauen, Flexibilität, Empathie, Offenheit, Toleranz, Verständnis der Kulturunterschiede der Interaktions‐ partner sowie Verständnis der interkulturellen Handlungszusammenhänge. Interkulturelle (kommunikative) Kompetenz wird bildungspolitisch als »Kernkompetenz für das verantwortungsvolle Handeln in einer pluralen, global vernetzten Gesellschaft« aufgefasst, ihre Basis sei vor allem die Fähigkeit, sich selbstreflexiv mit den eigenen Bildern von Anderen auseinander und dazu in Bezug zu setzen sowie gesellschaftliche Rahmenbedin‐ gungen für die Entstehung solcher Bilder zu kennen und zu reflektieren. (KMK 1996: 2) Dies bedeutet, einen Einblick in die sprachlich-kulturelle Vielfalt und in die Verschränkung von Sprache und Kultur zu bekommen, interkulturelle Wertesysteme in Beziehung setzen und ethnozentrische Wertungen bzw. kulturellen Egozentrismus vermeiden und stattdessen die sprachlich-kultu‐ relle Gebundenheit und Prägung der eigenen Wahrnehmung, Werte, Sitten, Normen als Grundlage für eine erfolgreiche interkulturelle Kommunikation erkennen zu können. Diese Einsichten kann man mit Luchtenberg als ›lang‐ 252 7 Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität <?page no="253"?> uages and cultures awareness‹ und als »Kern interkultureller sprachlicher Bildung« (Luchtenberg 2002: 31) bezeichnen. Dies gilt etwa auch für alltägliche Sprechhandlungen wie das Grüßen, das sich je nach Kultur und Sprachgemeinschaft völlig unterschiedlich vollzieht. Während man in Europa gerne fragt, wie es dem Anderen geht (Wie geht es Dir? How are you? Ça va? ), wird in anderen Kulturen als Begrüßung, ohne damit also auf eine bedeutungsvolle Antwort im Sinne der wörtlichen Frage zu zielen, etwa gefragt, wohin man gehe, ob man schon reich geworden sei oder ob man schon gegessen habe oder im Internet gewesen sei. Es handelt sich hier um »de-semantisierte Wortverbindungen mit einer bestimmten kommunikativen Funktion« (Kühn 2006: 22). Hier liegt die interkulturelle Herausforderung im pragmatischen Bereich: »Die Deutung von nicht explizit Gesagtem ist in der Kommunikation mit Angehörigen einer fremden Kultur schwieriger als in der Kommunikation mit Angehörigen der eigenen Kultur« (Knapp 2013: 90). Wer nicht weiß, dass im Chinesischen nach der Gesprächsbereitschaft mit der Frage ›Haben Sie schon gegessen? ‹ gefragt wird, der wird sich zum Beispiel wundern, dass eine Verneinung dieser Frage den Gesprächsabbruch bedeutet (Heringer 2014: 169). Kultur zeigt sich demnach in Sprache nicht nur im Wortschatz (Semantik, Metaphorik …) und in der Grammatik, sondern auch und vor allem pragma‐ tisch in Sprechhandlungen sowie in kulturell geprägten kommunikativen Praktiken und Textsorten. 7.6 Zusammenfassung und weiterführende Literatur In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass Deutschland spätestens seit der Ankunft der Gastarbeiter in den 1960er/ 1970er Jahren ein mehrsprachiges Land ist, in dem es mehr Sprachen im Alltag als nur die Amtssprache Deutsch gibt und in dem viele Menschen leben, die Deutsch nicht als Erst‐ sprache sprechen. Dies führt zu sprachlichen Kontakten und Mischungen, die immer auch kulturelle Kontakte und Mischungen sind. Insbesondere an den Ethnolekten, die vom Gastarbeiterdeutsch differenziert wurden, wurden die neuen sprachlichen Formen (z. B. Code-Swichting/ -Mixing) wie auch die kulturellen Funktionen (z. B. der Selbst-Stilisierung) dieser Varietäten aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass Sprache und Kultur sowie Mehrsprachigkeit und Interkulturalität untrennbar zusammenhängen und dass für das Zusammenleben in einer mehrsprachigen Gesellschaft daher 7.6 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 253 <?page no="254"?> interkulturelle kommunikative Kompetenz auf allen Seiten unverzichtbar und Integration keine sprachliche Einbahnstraße ist. Sprachlicher Purismus, eine Abschottung des Deutschen vor anderssprachlichen Einflüssen, wäre so unrealistisch wie dysfunktional. Literatur (weiterführend) Androutsopoulos, Jannis (2017): Soziolinguistische Mehrsprachigkeit. Ressourcen, Praktiken, Räume und Ideologien mehrsprachiger Kommunikation. In: Der Deutschunterricht 4, 53-63. Busch, Brigitta (2013): Mehrsprachigkeit. Wien. Eichinger, Ludwig M./ Plewnia, Albrecht/ Steinle, Melanie (Hg.) (2011): Sprache und Integration. Über Mehrsprachigkeit und Migration. Tübingen. 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Marx und Weidacher (2020) führen als internetspezifische Merkmale auf: ● v.-a. domänenspezifische Neologismen ● Abkürzungen ● Bedeutungswandel ● hybride Formen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Wenn diese Merkmale auch besonders häufig auftreten dürften, so sind sie doch allesamt keineswegs exklusiv für die Internetkommunikation. Betrachten wir zunächst einige Nutzerdaten für Deutschland: Laut statis‐ tischer Daten hat der Anteil von Internetnutzern in Deutschland von 1997 bis 2021 von 4,1 bis 66,6 Millionen kontinuierlich zugenommen; der Anteil der Onliner in Deutschland lag im Jahr 2021 bei 94 %. Interessant ist die Tendenz, dass die Nutzung mit steigendem Bildungsniveau ansteigt: und zwar von 70 % mit niedrigem bis auf 98 % mit hohem Niveau (https: / / de.stati sta.com/ themen/ 2033/ internetnutzung-in-deutschland/ #topicHeader__wra pper). Auch das Alter ist eine entscheidende demographische Variable, besonders, wenn man es ins Verhältnis zur Art der genutzten Medien setzt: Der Anteil der 16bis 24jährigen Internetnutzer, die an sozialen Online-Netzwerken teilgenommen haben, lag bei 89 %. Nach neuesten Daten der JIM-Studie (https: / / www.mpfs.de/ fileadmin/ files/ Studien/ JIM/ 2021/ JIM -Studie_2021_barrierefrei.pdf) bleibt WhatsApp auch 2021 der wichtigste Dienst zur Kommunikation bei den 12bis 19-Jährigen. 92 % der Jugendli‐ chen nutzen WhatsApp mindestens mehrmals pro Woche, 85 % täglich. <?page no="262"?> Die darauffolgenden Plätze belegen mit rückläufigen Zahlen Instagram und Snapchat, während TikTok auf den dritten Platz aufholt. 8.1 Digitale Ungleichheiten Die Präsentation solcher Daten verführt jedoch leicht dazu, den soziolingu‐ istisch relevanten Aspekt sozialer Ungleichheit in Zugang, Umgang und Nutzen sozialer Medien zu übersehen. Daher sei an das erwähnte Thema der ›neuen‹ Sprach- und Kommunikationsbarrieren (→ Kap. II.1.3) erinnert und darauf verwiesen, dass die Beschäftigung unter dem Stichwort der Wissenskluft in den Sozial- und Medienwissenschaften behandelt wird. Marr und Zillien (2019: 301) fassen zusammen: Als zentrale These gilt, dass jene, die in ökonomischer, kultureller oder sozialer Hinsicht eine bessere Startposition einnehmen, das Internet jeweils so einsetzen, dass sie ihre Stellung festigen oder gar verbessern können, wodurch auf gesellschaftlicher Ebene soziale Ungleichheiten reproduziert beziehungsweise verstärkt werden. Für ihre Argumentation unterscheiden die Autoren drei relevante Kon‐ texte: ● Zugang ● Nutzung ● Wirkung Der Vergleich von Nutzungsraten zwischen Statusgruppen liefert zur An‐ nahme der digitalen Spaltung (digital divide) einen eher oberflächlichen Eindruck einer ›Defizithypothese‹ zugunsten der statushöheren Gruppen (s. die Diskussion bei Bonfadelli 1994). Vielmehr geht es auch um die Differenzierung des funktionalen Umgangs, der Nutzungskompetenzen und Inhalte sowie der längerfristigen Wirkungen der Ressourcenverteilung von Information, Sozialkapital und Partizipation. Demnach zeigen sich Nutzungsklüfte mehr noch im Hinblick auf die Kompetenzen im Umgang mit dem Internet sowie im Hinblick auf Internetinhalte: People with higher education use the Internet for informational and service-ori‐ ented purposes; people with lower education use the Internet significantly more for entertainment reasons. (Bonfadelli 2002: 79) 262 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="263"?> Entsprechende Forschungen für soziale Medien stellen jedoch immer noch Desiderate dar. 8.2 Funktionale Nutzungen Im Mittelpunkt soziolinguistischer Betrachtungen des Themas steht im Folgenden der individuelle Akteur mit seinen sozialen Bedürfnissen nach Interaktion und Partizipation, die ›vernetzte Individualität‹ als neues Muster der Vergesellschaftung (so Schmidt/ Taddicken 2017: 5). Vernetzte Individualität Kommunikativer Austausch und soziale Interaktion: Dazugehören wollen, dabei zu sein, als Gruppenmitglied bzw. Teil eines sozialen Netzwerks zu agieren (Eisewicht 2018), anerkannt zu werden, Teil‐ nahme und Teilhabe (Thimm 2017: 193) - das scheinen wesentliche Motive des Agierens in sozialen Medien für Jugendliche und abge‐ schwächt wohl auch für Erwachsene zu sein, die mit Hilfe technischer und sprachlich-kommunikativer Praktiken vollzogen werden. Dazu rechnen das Teilen, Weiterleiten, Bewerten, Kommentieren. Die so‐ zial- und medienwissenschaftliche Forschung betont, dass Selbstprä‐ sentation (impression management) und Beziehungsmanagement wesentliche Motive der Nutzung sozialer Medien darstellen (vgl. Thimm 2000, Krämer et al. 2017, Döring 2019). Schauen wir dazu auf die in der JIM-Studie erhobenen Selbstauskünfte von Jugendlichen: Manchmal werden Social Media-Apps aus einem Gefühl der Langeweile genutzt. 40 % der Zwölfbis 19-Jährigen geben an, in solchen Momenten am ehesten YouTube zu nutzen, 29 % würden sich in diesem Zusammenhang für TikTok entscheiden, 19-% für Instagram. Eine ähnliche Verteilung zeigt sich bei dem Nutzungsmotiv sich einfach unterhalten zu lassen und Spaß zu haben. Auch hier liegt YouTube mit 37 % vorne, gefolgt von TikTok (23 %) und Instagram (14 %) ( JIM Studie 2021: 40). In der statista-Umfrage wurde nach der Art des Nutzens sozialer Medien gefragt mit folgendem Ergebnis für Deutschland 2021: 8.2 Funktionale Nutzungen 263 <?page no="264"?> Private Nachrichten geschrieben 54% Beiträge von anderen Nutzern geliked 39% Beiträge kommentiert 38% Abb. II.8.1: Genutzte Funktionen in sozialen Netzwerken in Deutschland 2021 (statista 2022) An den drei häufigsten Nutzungsarten ist zu erkennen, dass soziale Netz‐ werke hauptsächlich zum Präsentieren eigener und Teilen und Bewerten fremder Beiträge, also insgesamt zum Austausch mit anderen genutzt werden. Dies verweist auch auf eine Domänenverschiebung von Privatheit zugunsten der Öffentlichkeit und auf eine veränderte Teilnehmerrolle von der passiven Rezeption zu einer aktiven (Mit)Gestaltung hin. Schmidt und Taddicken (2017: 32 f.) fassen Praktiken der Nutzung sozialer Medien unter drei Rubriken zusammen, die sich nicht trennscharf vonein‐ ander unterscheiden lassen: Praktiken der Nutzung sozialer Medien 1. Identitätsmanagement umfasst alle Nutzungsweisen, bei denen die Akteure Aspekte ihrer selbst für andere zugänglich machen (z.-B. personenbezogene Daten, aber auch Fotos oder Videos). 2. Beziehungsmanagement bezeichnet die Aktivitäten, mit denen bestehende Beziehungen gepflegt und neue Beziehungen aufge‐ baut werden. 3. Informationsmanagement betrifft alle Nutzungsweisen, mit denen Akteure Informationen über die Welt erstellen, auswählen, teilen und verbreiten. Damit sind nicht allein Nutzungsoptionen angesprochen, die sich auch überlappen können. Vielmehr handelt es sich um grundlegende Entwick‐ lungsaufgaben autonomer Individuen in zeitgenössischen Gesellschaften. 264 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="265"?> Praxis Tätigkeit Beispielhafte Funk‐ tionen Entwicklungsauf‐ gabe Identitäts‐ manage‐ ment Zugänglichma‐ chen von Aspek‐ ten der eigenen Person Ausfüllen einer Pro‐ filseite; Erstellen ei‐ nes eigenen Podcasts; Hochladen eines selbst erstellten Videos Selbstauseinanderset‐ zung „Wer bin ich? “ Bezie‐ hungsmanage‐ ment Pflege bestehen‐ der und Knüpfen neuer Relationen Kommentar zum Sta‐ tus-Update eines Kon‐ taktes; Ansprechen oder Annehmen von Kontaktgesuchen; Ver‐ linken von Web‐ log-Einträgen Sozialauseinanderset‐ zung „Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? “ Informati‐ onsma‐ nagement Selektieren, Fil‐ tern, Bewerten und Verwalten von Informatio‐ nen Taggen einer Website; Bewerten eines Vi‐ deos durch Punktever‐ gabe; Abonnieren eines RSS-Feeds Sachauseinanderset‐ zung „Wie orientiere ich mich in der Welt? “ Tab. II.8.1: Praktiken in sozialen Medien (Schmidt/ Taddicken 2017: 32) Angesichts der hohen Nutzerzahlen für Jugendliche stellen sich die Fra‐ gen, ob und wie sich solche Praktiken auf Erscheinungsweisen der com‐ putervermittelten Kommunikation auswirken und eventuell auf andere Kommunikationsformen übertragen werden, wie sich das Verhältnis von subjektiver Privatheit und Öffentlichkeit gestaltet und welche Folgen die Internetkommunikation für einen allgemeinen Sprachwandel haben kann (→ Kap.III.4). Das soll im Folgenden an Beispielen der Chat-Kommunikation näher beleuchtet und in zwei kontrastiven Unterkapiteln ausgeführt wer‐ den, die zugleich ›Licht- und Schattenseiten‹, Möglichkeiten und Gefahren der Kommunikation in sozialen Medien verdeutlichen. 8.3 Chat-Kommunikation Dabei muss zunächst betont werden, dass der Chat keine einheitliche Text‐ sorte oder kommunikative Gattung, sondern eine Kommunikationsform ist, die unterschiedliche Funktionen, z. B. des privaten Austauschs in der Frei‐ zeit, des fachlichen gegenstandsbezogenen Austauschs oder der Beratung erfüllen kann. Dürscheid (2005: 8) charakterisiert diese Kommunikations‐ 8.3 Chat-Kommunikation 265 <?page no="266"?> form z. B. im Unterschied zur E-Mail-Kommunikation oder zu einem face to face-Gespräch, wie folgt: ● Zeichentyp: geschriebene Sprache ● Kommunikationsrichtung: dialogisch ● Anzahl der Kommunikationspartner: variabel ● räumliche Dimension: Distanz ● zeitliche Dimension: quasi-synchron ● Kommunikationsmedium: Computer Das Internet ist per se ein Ort mehrdimensionaler Sprachvariation: Die Nutzung verschiedener Stile, einschließlich sozialer und regionaler Register wird in den folgenden Beispielen präsentiert (aus Spiegel 2017: 71 f.): Beispiel: Nutzung verschiedener Stile und Register Lukas: bin essen Lukas: bg Janosch: bg an gute Lukas: dankschee gel--: -D Janosch: bidde--; D Lukas: wd Janosch: ok Janosch: bin zoggn bd Lukas: bg have fun ^^ Janosch: wd Janosch: baay A: Sehen wir uns demnächst? B: Ja, ich hoffe doch 😃 A: 😃 😃 😃 A: Ich sag jetzt gute Nacht, mein Schatz B: Spätestens nächsten samstag bei see der sinne B: Gute Nacht, mama, schön, dass ihr wieder da seid 😃 (schülerVZ (Gysin 2016: 131) und WhatsApp (Korpus Spiegel); nach Spiegel 2017: 71) Beide Chat-Beispiele weisen typische Merkmale der Internetkommunika‐ tion auf: dialogische, medienvermittelte Kommunikation, Sequenzialität der Äußerungen, quasi-synchroner Austausch. Im Beispiel aus schülerVZ 266 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="267"?> zwischen zwei Jugendlichen erkennen wir domänentypische Abkürzungen (bg für bis gleich, wd für wieder da), Regionalismen (dankschee, bidde) und jugendsprachlich verwendete englische Ausdrücke (have fun, bay), der WhatsApp-Text zwischen Mutter und Tochter ist konventionell-standard‐ sprachlich und macht reichlich Gebrauch von Emoticons. Gysin hat in seinem Korpus von schülerVZ vielfältige Höflichkeits- und Konfliktmilderungsstrategien von Jugendlichen nachgewiesen, die die Bedeutung der freundschaftlichen Verbindung der Jugendlichen hervorhe‐ ben. Im folgenden Beispiel unternimmt Janosch verschiedene Versuche konfliktvermeidender Abmilderung bis zu einer expliziten Entschuldigung, das freundschaftliche Einvernehmen zwischen den Jugendlichen wieder herzustellen: Beispiel: Konfliktmilderung zw. Jugendlichen im schülerVZ Max: ich war heute schon burgerking und doner^^ Janosch: suss ich wm Max: wm? Janosch: weihnachtsmarkt Max: achso wa Janosch: heute xD Max: un du hasch gesagt wir gehn zu2 als erstes one jm anderes Janosch: ja gehn ma ja au noch depp Max: ja bevor wir mit jm anders gehen Janosch: aso hen mir des gesagt? : -D Max: hasch di gesagt Max: du* Janosch: ow: -D tut mir sorry… Janosch: karol muss bestraft werden (Gysin 2015: 224) Dürscheid (2005: 10) präsentiert noch ein Beispiel aus einem Kölner Frei‐ zeitchat: Beispiel: Kölner Freizeitchat (1) Pappnase: Kein Kölsch mehr (2) VOLLblut: dann ist das einfach da hab ich auch schon gewohnt lach (3) Nick: lol: voll 8.3 Chat-Kommunikation 267 <?page no="268"?> (4) VOLLblut: ich hab eine Idee (5) leeloo: ist uns strengstens verboten, leider (6) Nick: lass hören (7) Ole29: leeloo, kannst Du Spanisch? (8) MrBom: Hat einer »DANKE ANKE« gesehen? (9) monti: nein (10) Ole29: nee mrb (11) Pappnase: Keine Kölnerinnen mehr hier? (12) leeloo: ein winziges bißchen, hab mal einen Kurs gemacht (13) MrBom: Komisch wackel mit Kopf (Dürscheid 2005: 10) Die Tatsache mehrerer beteiligter Nutzer macht eine besondere Handlungs‐ koordination erforderlich: Die Antwort auf Oles Frage in (7) an leeloo erfolgt aus technischen Gründen erst in (12) und wird durch die Namensnennung kenntlich gemacht. Die Themenbehandlung in diesem Beispiel ist assoziativ, stichwortartig sprunghaft und nicht kohärent. Für den vorliegenden informellen Schreibstil verwendet Storrer den Terminus interaktionsorientiertes Schreiben, das in der Dichoto‐ mie der Pole von Nähe und Distanz (vgl. Koch/ Österreicher 1994) stärker auf eine Nähekommunikation der medialen Schriftlichkeit mit geringer Planung, mit Dialogizität und Emotionalität ausgerichtet ist. Storrer führt aus: Beim interaktionsorientierten Schreiben steht das aktuelle Kommunikationsge‐ schehen im Fokus der Aufmerksamkeit eines Netzwerk-Akteurs, der in der Interaktion mit anderen stets zwischen Produzenten- und Rezipientenrolle wechselt und auf die Beiträge anderer Akteure reagiert. Bestimmend für die Versprachlichungsstrategien ist der kommunikative Erfolg in der laufenden Interaktion; hierfür kann die Schnelligkeit der Interaktion wichtiger sein als die Prägnanz und sprachliche Elaboriertheit. Für das Interaktionsmanagement und die Beziehungsgestaltung bilden sich neue Formulierungstraditionen und 268 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="269"?> grafische Konventionen heraus, die paraverbale und körpergebundene Kommu‐ nikationssignale aufgreifen und medial realisieren. (Storrer 2013: 5 f.) Nach Storrer werden die Konzepte von Schreiben und Schriftlichkeit da‐ durch erweitert und neu ausdifferenziert. In obigem Beispiel wird die Nähe zu interpersonellen mündlichen Gesprächen offenbar und zugleich zu typischen Elementen der Internetkommunikation wie Emoticons, Akro‐ nyme und unflektierte Verbstämme. Vergleicht man deren Auftreten und Verteilung in unterschiedlichen Chattypen, zeigt sich in Freizeitchats eine deutliche Nähe zu Formen interaktionsorientierten Schreibens im Unter‐ schied zu textorientierten Formen, wie sie z. B. in Foren für fachliche und berufliche Kontexte üblicher sind. 8.4 Spiel mit Stil, Spiel mit Identitäten 8.4.1 Nicknamen Für den individuellen Nutzer eröffnen sich durch die Register- und Stilvaria‐ tion vielfältige Möglichkeiten sprachlicher bzw. multimodaler Selbstdarstel‐ lung, was schon durch die Wahl eines Nicknamens zum Vorschein kommen kann. Der Nickname Er fungiert sozusagen als ›Eintrittskarte‹ in den Chat. Im Unterschied zu Spitznamen sind diese selbstgewählt und drücken die virtuelle Persönlichkeit aus; sie dienen nicht nur der Anonymisierung, sondern verweisen zugleich auf die Art der gewollten Selbstrepräsentation (vgl. Schlobinski/ Siever 2018: 9; daneben Kaziaba 2013, 2016; Gkout‐ zourelas 2015), die anzeigen, wie man sich selbst sieht und wie man von anderen gesehen werden möchte. Das Spiel mit Stil kann somit zum Spiel mit Identitäten beitragen: die witzige Schlagfertige, der bedächtige Bedenkenträger, der eingefleischte Kölner etc. In der Chat-Kommunikation wird die persönliche Identität camoufliert, so Runkehl et al. 1998: 85); dennoch lassen sich aus der Selbstkonstruktion des 8.4 Spiel mit Stil, Spiel mit Identitäten 269 <?page no="270"?> Nicknamens mit aller Vorsicht gewisse Rückschlüsse auf Aspekte der realen Identität ziehen, z.-B. (Beispiele aus Kaziaba 2013: 336 f.) auf: ● alterstypische (z.-B. xy_95) ● und gendertypische Besonderheiten (z.-B. rockfrau) ● berufsbezogene (Metzger 2000 für einen Chirurgen) ● und regionale Merkmale (TeppSepp aus dem süddeutschen Raum) Damit kann allerdings auch eine bewusste Irreführung angestrebt sein. Mit Hilfe semiotischer Elemente wie Großschreibung, phonetische Schreibung, Iterationen, Einfügen von Smileys etc. (z. B. kill3r, kEkSmOnSteR) können Aufmerksamkeit und Emotionalität sowie Witz erzielt werden. Die Studien von Kaziaba und Gkoutzourelas klassifizieren drei Typen von Nicknamen: ● Autonyme bestehen aus realen oder Teilen von realen Eigennamen des Benutzers ● Pseudonyme bestehen aus aus einem oder mehreren Lexemen oder einem fremden Eigennamen ● Übergangs- oder Mischformen, sind eine kleinere Gruppe zwischen diesen beiden Typen Je nach untersuchtem Medium und seinem Publikum kann die Verteilung unterschiedlich ausfallen, wie Gkoutzourelas am Beispiel von Twitter und einem Chat- und Kontaktportal für schwule, bi- und transsexuelle Männer (PlanetRomeo) nachweist. Eine vergleichende Studie zur Namenwahl in 14 Sprachen haben Schlobinski/ Siever (2018) präsentiert, die zugleich die Schwierigkeit des Umgangs mit unterschiedlichen Schriftsystemen und kulturellen Besonderheiten verdeutlicht. 8.4.2 Virtuelle Identitäten zwischen Selbstmaskierung und Selbstenthüllung Döring (2000) formulierte aus sozialpsychologischer Sicht die Polarisierung zwischen Selbstmaskierungs-Kritik und Selbstenthüllungs-Lob in den medienskeptischen Diskussionen um virtuelle Identitäten am Beispiel von Online-Romanzen und kriminellen Identitätstäuschungen (Fake Identity), vor allem des Missbrauchs von Kindern (Cyber-Grooming), d. h. das gezielte 270 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="271"?> Ansprechen von Minderjährigen mit dem Ziel der Anbahnung sexueller Kontakte. Impression Management zielt in der Regel auf einen positiven Eindruck. Identitätsdarstellungen in sozialen Medien können gewissen technischen Prüfverfahren und Authentifizierungsmaßnahmen unterzogen werden. Doch zeigen einschlägige Forschungen weitgehend authentische Darstel‐ lungsweisen (Krämer et al. 2017: 44 f., Döring 2019: 175). Trotz der zweifellos vorhandenen Gefahren stellt Döring (2019: 182 ff.) die positiven Effekte von Online-Kommunikation als Mittel der Beziehungspflege und der Gemein‐ schaftsbildung im Netz heraus, wie es auch der Chat-Auszug von Gysin (→ Kap. II.8.3) belegt. Döring verweist aber auch auf die Relevanz des Schutzes der Privatsphäre und die Notwendigkeit von Online-Kontrollen. Die Digitalisierung verschiebt das Verhältnis von Privatsphäre und Öf‐ fentlichkeit. Privatheit in der Online-Kommunikation macht gerade in Hinblick auf Identitätsbildung und Selbstoffenbarung sowie Beziehungs‐ konstitution besondere Handlungskompetenzen erforderlich: Die multimodale und vernetzte Medienumgebung, die durch neue Medien bereitgestellt wird, begünstigt solche Privatheitsverletzungen, da sie geteilte Informationen grundsätzlich skalierbar macht, soziale Kontexte vermischt, und damit die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit aufweicht. (Masur et al. 2019: 58). Anonymität in der Netzkommunikation wird oft als besonderes Kennzei‐ chen und als eine Rechtfertigung für beleidigende und diffamierende Kom‐ mentare angesehen. Gallery (2017: 72) führt dagegen aus, »dass Anonymität aufgrund unterschiedlicher Faktoren in Chatkommunikationen sowohl her‐ gestellt als auch aufgehoben werden kann.« Die Auffindbarkeit und Wieder‐ erkennbarkeit ist bereits für die Wahl des Nicknamens wichtig. Verschiedene technische Prozeduren sowie Nutzungsbedingungen stehen zur Verfügung, um Graduierungen und Variabilität der Anonymität herzustellen. 8.5 Sprache und Gewalt Betrachten wir nun die auch in den öffentlichen Diskussionen präsenten ›Schattenseiten‹, und zwar der Hassrede und des Cybermobbings näher. 8.5 Sprache und Gewalt 271 <?page no="272"?> 8.5.1 Hassrede Hate Speech (Hassrede) bezeichnet nach Wikipedia: sprachliche Ausdrucksweisen von Hass mit dem Ziel der Herabsetzung und Verunglimpfung bestimmter Personen oder Personengruppen. Marx (2017: 12) definiert: Es handelt sich hierbei um eine Form psychischer Gewalt, die von Initiatoren vornehmlich verbal realisiert und über technologische Applikationen einem in der Größe variierenden Kreis von Zeugen zugänglich gemacht wird. Butler (2006) hat dieses Phäno‐ men verbaler Gewalt erstmals in ihrer Studie zur Performativität des politischen Diskurses aufgezeigt. Abb. II.8.2: Hate Speech im Internet (Quelle: istock/ asiandelight) Hassreden können sich prinzipiell gegen alle Personen und Gruppen richten. Meibauer (2013) unterscheidet folgende Erscheinungsweisen: ● mündlich und schriftlich ● direkt und indirekt ● offen und verdeckt ● mehr oder minder stark ● durch Macht und Autorität gestützt ● von Gewalt begleitet 272 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="273"?> Linguistische Realisierungen von Abwertungen bzw. Pejorationen fin‐ den sich in: ● Phonologie und Prosodie: ›abfällige Töne‹, ● Morphologie: Morpheme wie -ler, -ling z. B. Flüchling, -ant z.B. Asylant, ● Syntax: Du/ Sie x (Appellativum) ● Semantik: abwertende Klassifikationsausdrücke, z.B: Nationalstereo‐ type wie Kanake, Kartoffelfresser ● Pragmatisch lassen sie sich als Beleidigungen bzw. als Unhöflichkeit fassen. Sie gehören zum Gegenstandsfeld der Political Correctness (→-Kap. II.9.7). Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb.de/ 252396/ was-ist-hate-speech) führt auf: Hate Speech findet sich v. a. in folgenden Kontexten: ● Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (Diskriminierung aufgrund der Abstammung), ● Antisemitismus und Antimuslimischen Rassismus (Diskriminierung von Juden und Muslimen), ● Sexismus (Diskriminierung aufgrund des Geschlechts), ● Homo- und Transphobie (Diskriminierung aufgrund der geschlechtli‐ chen Identität oder sexuellen Orientierung), ● Antiziganismus (Diskriminierung von Sinti und Roma), ● Diskriminierung von Behinderten. Eine beispielhafte Zusammenstellung von Hate-Speech-Mustern findet sich in der Broschüre ›Hate Speech - Hass im Netz‹ der Landesanstalt für Medien NRW (lfm), klicksafe.de und der Arbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendschutz (AJS) Landesstelle NRW. In der öffentlichen Diskussion wird oft von Befürwortern das Argument der Meinungsfreiheit, von Gegnern werden Straftatbestände, v. a. der Volks‐ verhetzung, angeführt. Ein derzeit vieldiskutiertes Phänomen hat sich nach der Ermordung von zwei Polizisten in Rheinland-Pfalz am 2.2.22 eingestellt: Die Tat wird zum Entsetzen großer Teile der Öffentlichkeit in vielen Hass-Mails bejubelt, was nun strafrechtlich verfolgt wird. Zwar existieren Leitlinien im Netz, die regeln wollen, dass Beiträge, die zu Hass und/ oder Gewalt aufrufen, gelöscht und die Verfasser verwarnt oder gesperrt werden können, doch greifen solche website-internen Zensuren durchaus nicht immer. 8.5 Sprache und Gewalt 273 <?page no="274"?> Schlobinski erörtert Hass- und Hetzreden im Kontext der von Popitz eingeführten Beziehungen zwischen Sprache und Macht (2017) und erklärt solche verletzenden Reden als Manifestationen einer Aktionsmacht, durch die andere ausgegrenzt und ›mundtot‹ gemacht werden sollen. Abb. II.8.3: Pegida-Demonstration in Dresden am 2.11.2015 (Foto: Winfried Schenk) 8.5.2 Cybermobbing Dieses Phänomen von Hass und Gewalt hat durch Suizide jugendlicher Betroffener als Opfer von Verleumdungen im Netz traurige öffentliche Resonsanz erlangt. Aber auch Fälle von Lehrpersonen, z. B. mit gefakten Fotos ins Internet gestellt, wurden in der Presse dokumentiert. Dies kann bis zum Diebstahl von (virtuellen) Identitäten führen, die in fremdem Namen Beleidigungen aussprechen oder Geschäfte tätigen. Die Studie von Katzer (2014) dokumentiert und analysiert zahlreiche Beispiele, »wenn das Internet zur W@ffe wird« und stellt Präventionsmöglichkeiten für verschiedene Zielgruppen vor. Laut Wikipedia gehört Cybermobbing: »zu einer der zentralen Gefahren im Umgang mit Internet und neuen Medien.« (de.wiki‐ 274 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="275"?> pedia.org v. 30.7.22) Durch die größere Reichweite und den längerfristigen Zeitraum ist das Mobben im Internet besonders gefährlich. Aktuelle Umfragen belegen die Steigerung des Phänomens. Nach der Cyberlife III-Studie mit 4.400 Schülern im Alter von 6 bis 21 Jahren ist jeder fünfte bis sechste Schüler von Cybermobbing betroffen (https: / / www .lmz-bw.de/ aktuelles/ aktuelle-meldungen/ detailseite/ cybermobbing-versch aerft-sich-im-coronajahr-2020-studie-cyberlife-iii/ ). Dies entspricht einem Anstieg von 36 % gegenüber der Vorläuferstudie im Jahr 2017. Die Ergebnisse legen offen, dass Berufsschulen, Hauptschulen und Werkrealschulen am meisten von Cybermobbing betroffen sind. Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen, die eine dieser Schulformen besuchen, wurde schon einmal im Netz gemobbt. Am geringsten ausgeprägt scheint das Problem an Gym‐ nasien (12 %) und Grundschulen (8 %). Allerdings hat auch schon fast jede/ -r zehnte Grundschüler/ -in nach eigener Auskunft bereits Cybermobbingatta‐ cken erlebt. Eine repräsentative Studie mit Erwachsenen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus dem Jahr 2021 (www.buendnis-gegen-cyb ermobbing) zeigt einen Anstieg bei Cybermobbing um 25 % gegenüber der Vorläuferstudie von 2018. Über 30 % der Befragten bezeichnen sich als Opfer von Cyberattacken; Frauen und jüngere Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahre sind besonders betroffen. Als Erscheinungsformen von Cyber-Mobbing werden in der Fachli‐ teratur u.-a. unterschieden (vgl. Marx 2017: 54 ff.): ● Flaming (Beschimpfen, Beleidigen) ● Denigration (Gerücht verbreiten) ● Harassment (Belästigen) ● Exclusion (Ausgrenzung) ● Sexting (sexuelle Belästigung) Sofern diese sprachlich vollzogen werden, sind sie ein Gegenstand linguis‐ tischer Analyse. Seit 2017 liegt eine erste größere Studie von Marx vor. Marx diskutiert auch einige der in der interdisziplinären Literatur ge‐ nannten Definitionskriterien für das Cybermobbing, und zwar neben dem wiederholten Vorkommen drei auch linguistisch relevante Kriterien. 8.5 Sprache und Gewalt 275 <?page no="276"?> Definitionskriterien für Cybermobbing nach Marx 2017 1. Ungleichgewicht der Macht, wozu u. a. die häufige Anonymität der Täter, ihre Situationskontrolle und ihr Exklusivwissen über das Mobbingopfer beigetragen haben kann, 2. Intentionalität, die oft schädigende Absicht kann sich auch hin‐ ter angegebenen Motiven von Langeweile oder Spaß verbergen, 3. aggressive Handlungen, die von technischen Möglichkeiten des Ausschließens bis zu aggressiven Botschaften (s. o. Flaming, Denigration) reichen können. Aufgrund der Analyse eines umfangeichen, durch Methodenkombinationen erhobenen Datenkorpus kommt Marx zu dem Schluss, dass es keine ›Tä‐ tersprache‹ im Netz gibt, dass allerdings typische kollaborative Muster der Opferfigur-Konstruktion (z. B. das behindertste Mädchen der ganzen Schule) nach dem Prinzip der Gerichtsbarkeit erkannt werden können: »Personen werden angeklagt, ihre vermeintlichen Vergehen werden öffent‐ lich gemacht, eine Strafe wird ausgehandelt« (2017: 223), und dies oft in spielerischer Rahmung, vergleichbar der schon von Garfinkel beschriebenen Statusdegradations-Zeremonien (1956). Dafür werden die Opferfiguren meist zu Beginn der Mobbing-Episode zu ›Tätern‹ konstruiert, deren ver‐ meintlich verwerfliche Taten als Legitimation für das Mobbing dienen und Sanktionen praktisch herausfordern, die sprachlich u. a. in Form von pejorativer Lexik, dehumanisierenden Metaphern, Tiervergleichen, Personifikation von Körperteilen, sexuellen Anspielungen realisiert wer‐ den. Schwarz-Friesel/ Reinharz sprechen von Täter-Opfer-Umkehr-Strategie (2013: 348). Weitere Beispiele von Marx: jaeh … [Name des Lehrers] dieses miese fette schwein ist tot … de hurensohn hat meine Mutter beleidigt … er soll in der Hölle schmoren … fette mistsau Lenin? Marx? Egal kann auch Thälmann sein. Raus aus unserer Regierung. Sie beleidigen das deutsche Volk (aus Shitstorm gegen Renate Künast). (Marx 2017: 167) Wesentlich erscheint mir hier der kollaborative Charakter der ge‐ meinsamen Produktion als Internetspezifikum; Die Netzakteure 276 8 Sprachgebrauch und soziale Medien <?page no="277"?> agieren vor Gruppenpublikum, das sie unterstützt und anspornt, das ihnen Zustimmung und Anerkennung zollt. Zu den Kennzeichen posttraditionaler Vergemeinschaftung zählt neben Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit auch die Abgrenzung gegenüber einem Nicht-Wir (Eisewicht 2018: 23). Damit sind schließlich auch die aus der Kommunikation Jugendlicher bekannten Phänomene des Toppings verbunden (→ Kap. II.5.5). Mobbing erscheint als ein typisches interaktives Gruppensphänomen (→ Kap. II.6.4). Es bedarf weiterer empirischer Studien, um die bislang erarbeiteten Muster des Cybermobbings mit verschiedenen Akteursgruppen zu überprüfen. 8.6 Zusammenfassung und weiterführende Literatur Die Nutzung sozialer Medien hat insgesamt stark zugenommen, insbeson‐ dere bei Jugendlichen. Digitale Spaltungen machen sich bemerkbar im Hinblick auf Zugang, Nutzung und Wirkung. Sozialpsychologisch orien‐ tierte medienwissenschaftlichen Forschungen unterscheiden drei Ebenen des Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagements, die Nutzungs‐ motive von Internetakteuren und zugleich wesentliche Entwicklungsaufga‐ ben autonomer Individuen in zeitgenössischen Gesellschaften darstellen. An unterschiedlichen Beispielen von Chat-Kommunikation wurden solche Nutzungsoptionen veranschaulicht, ebenso wie die Bandbreite von Erschei‐ nungsformen, darunter das interaktionsorientierte Schreiben. Schließlich wurden in zwei kontrastiv-komplementären Kapiteln ›Licht- und Schatten‐ seiten‹ des Spiels mit Stil und Identitäten am Beispiel von Nicknamen und der Gewalt durch Sprache am Beispiel von Hassreden und Cybermobbing erörtert. Literatur (weiterführend) Marx, Konstanze/ Weidacher, Georg (2020): Internetlinguistik. 2. Aufl. Tübingen. Marx, Konstanze/ Lobin, Henning/ Schmidt, Axel (Hg.) (2020): Deutsch in Sozialen Medien: interaktiv, multimodal, vielfältig. Berlin/ Boston. Schweiger, Wolfgang/ Beck, Klaus (Hg.) (2019): Handbuch Online-Kommunikation. 2., vollst. überarb. Aufl. Wiesbaden. 8.6 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 277 <?page no="278"?> Literatur (gesamt) Androutsopoulos, Jannis (2014): Mediatization and sociolinguistic change. Ber‐ lin/ Boston. Androutsopoulos, Jannis (2020): Digitalisierung und soziolinguistischer Wandel. In: Marx, Konstanze/ Lobin, Henning/ Schmidt, Axel (Hg.): Deutsch in Sozialen Medien: interaktiv, multimodal, vielfältig. 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Abrufbar unter: htt ps: / / de.statista.com/ themen/ 2033/ internetnutzung-in-deutschland/ #topicHeader __wrapper (Stand: 16/ 02/ 2022) 8.6 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 281 <?page no="283"?> 9 Sprachliche Umgangsformen In diesem Kapitel wollen wir uns auf der Mikroebene der Kommunikation mit soziolinguistisch relevanten sprachlichen Umgangsformen im Alltag beschäftigen. Wir zeigen zunächst, welche Bedeutung Sprachnormen für den alltäglichen Austausch im privaten Alltag haben und wie die Spre‐ chenden und Schreibenden selbst an Normierungen beteiligt sind und Zweifelsfälle und Konflikte im Prozess der Kommunikation lösen müssen. Sodann wenden wir uns ausgewählten Höflichkeits- und Routineformeln zu und betrachten den Umgang mit (Un)Höflichkeit. 9.1 Sprachnorm und Sprachgebrauch im Alltag Normen und Konventionen regeln unseren Sprachgebrauch im Alltag und sichern die Verständigung. Oft werden sie den Interaktanten erst im Falle von Verstößen bewusst: Ein Rechtschreib- oder Grammatikfehler, der pein‐ lich berührt, eine Frage, die unbeantwortet bleibt, ein Gruß, der nicht erwi‐ dert wird. Manchmal müssen wir uns der Geltung von Normen vergewissern (Wie schreibt man das noch mal? Ist diese Schreibweise noch/ schon gültig? ), aber nur in den wenigsten Fällen können wir auf festgeschriebene Sprach‐ normen und Urteile von richtig/ falsch zurückgreifen; oft ist Angemessenheit von Bedeutung (War das Du wohl angebracht? Hätte man die Frau nicht zuerst nennen sollen? ). Solche Fragen spielen in der Soziopragmatik eine wichtige Rolle (vgl. dazu Leech 2014, Held 2017). Sprachnormen in der Soziolinguistik Die Diskussion um Sprachnormen hat die Soziolinguistik der deut‐ schen Sprache seit Anbeginn begleitet. Gegenüber der v. a. von Renate Bartsch (1985) vertretenen Auffassung von Sprachnormen als objektive empirische Gegebenheiten vertrat Gloy (1975, 1997, 1998) die These von Sprachnormen als sinnhafte, hermeneutisch zu rekonstruierende Größen, die sich als Erwartungshaltungen dem Sprachbewusstsein und den Spracherfahrungen verdanken und in der Interaktion soziale Geltung erlangen. Daraus entwickelte sich <?page no="284"?> die Debatte um Verdinglichung oder Vergeistigung von Sprachnormen. Der Blick auf Sprachnormen als mentale Größen ermöglicht zugleich den Einbezug von subjektiven Anteilen an Normierungsprozessen und der aktiven Rolle des Individuums als Subjekt des Normdiskurses (Neuland 1998). Der Rekurs auf das subjektive wie kollektive Sprach‐ gefühl und die sozialen Einstellungen spielt dabei eine bedeutende Rolle. 9.2 Statuierte und subsistente Normen Unterschiedliche sprachliche Normen und Normierungsprozesse prägen vermehrt das aktuelle gesellschaftliche Zusammenleben. Die heftig wieder‐ aufgelebten Debatten um das Gendern (→ Kap. II.4 sowie III.3.4) bieten dafür ein eindrückliches Beispiel. Dabei sind folgende begriffliche Unterscheidun‐ gen zu beachten: ● Normierung von oben - analog Labovs Unterscheidung des Drucks von oben - durch Institutionen der Sprachberatung und Sprachpflege sowie Expertenkommissionen. Solche statuierten Normen betreffen vor allem die Grammatik und die Orthographie, zum Teil auch die Stilratgeber mit ihren Empfehlungen zu Gebrauchskonventionen. ● Normierung von unten: Damit sind subsistente Normen gemeint, die nicht von normsetzenden Institutionen festgeschrieben sind, son‐ dern sich aus dem Sprachgebrauch heraus als Üblichkeiten verfestigt haben. Die Konstruktionen Normierung bzw. Normierungsprozesse sollen die Dynamik und Prozessualität solcher Entwicklungen besser er‐ fassen. Ein großes Beispielfeld stellt PC, der politisch korrekte Sprachge‐ brauch, dar (→ Kap. II.9.4), der sich oft von gesellschaftlich avancierten Gruppierungen ausgehend in weitere Gesellschaftsschichten verbreitet. Wengeler (1998) hat eine Typologie von Legitimationsargumenten für Normierungsversuche in öffentlichen Sprachdebatten entwickelt, dar‐ unter: Berufung auf Wortverwendungskonventionen (z.-B. der Remoti‐ vierungs-Topos) oder auf die referentielle Funktion von Ausdrücken (z.-B. der Richtigkeits-Topos). 284 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="285"?> 9.3 Zweifelsfälle, Spielräume und Normierungskonflikte Mit den subsistenten Normen eröffnet sich ein weites Feld von Zweifels‐ fällen, Spielräumen und Konflikten, und zwar nicht nur im Bereich der Schriftlichkeit und nicht nur für DaF-Lerner, sondern auch für routinierte Muttersprachler. Wer kennt sich schon so genau mit den zulässigen Schreib‐ weisen der Neuregelungen der deutschen Rechtschreibung aus? Nachfragen bei den Sprachberatungsdiensten der GfdS sind Anzeichen der Verunsi‐ cherung der Sprachnutzer. In den Rubriken: Fragen und Antworten sowie Zeit-Wort der DGfS-Broschüre: Der Sprachdienst finden sich dafür zahlrei‐ che Belege, z. B. zur Jahreszahl 2020 (Rüdebusch 2020: 105 ff.), und zwar hinsichtlich der Benennungen, Aussprache und Schreibung z.B.: »Während noch im 20. Jahrhundert die Jahreszahlen auf Neunzehnhundertlauteten, fuhr man im 21. Jahrhundert nicht so fort - statt Zwanzighundert sagen wir Zweitausend-.« (Rüdebusch 2020: 106) Und möchte man die Zwanzigerjahre abkürzen bzw. mit der Zahl schrei‐ ben, welche Schreibung ist dann korrekt: 20er Jahre oder 20er-Jahre? Beide Möglichkeiten, wodurch sich aus dem Zweifelsfall ein soziolingu‐ istisch bedeutsamer Spielraum ergibt (vgl. das DU-Themenheft: 1/ 2012: Orthographische und grammatische Spielräume). Die Duden-Redaktion hat einen ganzen Band: Zweifelsfälle der deutschen Sprache mittlerweile in 9. Auflage (2021) erschienen, herausgegeben, versehen mit dem Unter‐ titel: Richtiges und gutes Deutsch, von »anscheinend/ scheinbar« bis »zumin‐ dest/ mindestens«. Dabei stellt der Umgang mit gleich zulässigen Varianten für die Entscheidung einer Schreib- oder Sprechweise Sprachnutzer vor besondere Probleme: Wie lautet der Plural von Aas oder Abbau, schreibt man korrekt: Schänke (bezogen auf das Substantiv (Aus)Schank) oder Schenke (analog zu ein- und ausschenken), welchen Kasus erfordert die Präposition ab (ab letzten/ letztem Montag)? Selbst bei vermeintlich eindeutig statuierten Normen durch Regelwerke der Rechtschreibung und der Grammatik zeigen sich oft Spielräume für die individuelle und sozial akzeptierte Entscheidung für eine Variante: Was bedeuten so vage Formulierungen wie: mittlerweile, überwiegend, normaler‐ weise, manchmal etc. in Regelwerken oder Ratgeberliteratur? Es gilt zudem, unterschiedliche Akzeptabilitätsgrade zu unterscheiden, hauptsächlich zwischen geschriebener und gesprochener Sprache, aber auch zwischen verschiedenen Situationen und Adressatengruppen. 9.3 Zweifelsfälle, Spielräume und Normierungskonflikte 285 <?page no="286"?> Bezeichnungskonkurrenzen im politischen Sprachgebrauch Das bekannteste Beispiel für Normierungskonflikte stellen in der Linguistik die Bezeichnungskonkurrenzen im politischen Sprachge‐ brauch dar. Ob ich von Asylanten und Wirtschaftsflüchtlingen oder von Asylbewerbern oder Geflüchteten spreche/ schreibe, macht politisch einen großen Unterschied. Lesen wir von Krieg oder Friedensmission beim Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan? Das Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache von Stötzel und Eitz (2002) bietet zahlreiche weitere Beispiele, die semantische Kämpfe veranschaulichen. Dabei geht es zumeist um gesellschaftspolitisch umstrittene Sachverhalte, deren Bezeichnung die je eigene Deutung als subsistente Normierung durchsetzen soll. Hier sind nicht nur sprachlich-stilistische, sondern sprachpolitische Entscheidungen ge‐ fragt. Wir werden in Kapitel III.1.2 darauf zurückkommen. 9.4 Umgang mit Political Correctness Ein besonderes Problem stellt der Umgang mit politisch korrekten Aus‐ drucksweisen dar: Wer will sich nicht gern auch in politischer Hinsicht korrekt ausdrücken und niemanden verletzen? ● Dass man nicht mehr von Negern, sondern eher von Farbigen spre‐ chen/ schreiben sollte, ● nicht mehr Zigeuner, sondern besser Sinti und Roma verwenden sollte, ● die Bezeichnung Putzfrau mindestens durch Putzfee oder eben Raum‐ pflegerin ersetzen ● und niemanden mehr als Krüppel bezeichnen sollte, hat sich inzwischen schon verbreitet. Aber wie steht es mit Fräulein, ist das nicht auch schon verpönt? Ist Mohrenkopf akzeptabler als Negerkuss, oder sollte man gleich von Dickmann oder Schaumkuss sprechen? Und darf man eigentlich jemanden noch oder schon wieder schwul nennen? Wer entscheidet darüber, und welche Sanktionen sind bei Zuwiderhandlungen zu erwarten? Klug resümiert: PC wird in Deutschland also vor allem als sozialer, an Moral appellierender Druck unterschiedlicher Stärke wirksam, der sich mehr oder weniger dogmatisch 286 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="287"?> gegen die Verwendung bestimmter Ausdrucksformen richtet und meliorative Alternativbezeichnungen propagiert. (Klug 2020: 82) Die PC-Bewegung entstand erst in den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen von Antidiskriminierungsbestrebungen in den USA; Anfang der 1990er Jahre wurde PC durch die Presseberichterstattung in Deutschland publik gemacht. Kritische Stellungnahmen blieben nicht aus; Befürworter und Gegner der PC tragen heftige Debatten aus. Den Vorzügen nicht diskriminierender Ausdrucksweisen werden Nachteile durch Unklarheiten und Verständigungsprobleme bei Alternativbezeichnungen entgegengehal‐ ten. Die Vorwürfe reichen von Unwirksamkeit und Lächerlichkeit bis zu Verharmlosung gesellschaftlicher Probleme und Sprachzensur. Mitte der neunziger Jahre griffen auch sprachwissenschaftliche Beiträge die Debatte auf (u. a. Jung 1996). Bis heute beteiligen sich sprachkritische Beiträge daran (u. a. Heringer/ Wimmer 2015, Klug 2020). Diskutiert wird, ob PC mehr als ein Stigmawort ist (Frank 1996). Die Betonung einer dualistischen Gegensätzlichkeit von entweder - oder (richtig oder falsch, gut oder schlecht) kommt oft schon im Titel zum Ausdruck, z.B.: zwischen Sprachzensur und Minderheitenschutz (Hoffmann 1996), noch kürzlich bei von Münch (2017): Meinungsfreiheit gegen Political Correctness. Generell besteht die Gefahr einer isolierten Wortkritik ohne Berücksichtigung des Gebrauchskontextes. Klug (2020: 84) demonstriert dies am Beispiel der Bezeichnung Farbiger, die nichtweiße Menschen als Abweichung von der positiv bewerteten Norm des Weißseins darstellt. Allerdings kann man sich Kontexte vorstellen, in denen politisch unkor‐ rekte Begriffe positiv vor allem als Selbstbezeichnungen verwendet werden. Das bekannteste Beispiel bildet zweifellos die Selbstreferenz: Nigger als Kampfbegriff einer selbstbewussten Oppositionsbewegung. Eine ähnliche Entwicklung vom Schimpfwort zur positiven Selbstreferenz nimmt die Bezeichnung: Kanake, aber auch schon schwul und lesbisch. 9.5 Anredeformen Die pronominalen Anredeformen bilden ein zentrales Kapitel, das in den meisten Grammatiken des Deutschen zum Thema Höflichkeit behandelt wird. Wikipedia notiert unter dem gleichnamigen Eintrag: 9.5 Anredeformen 287 <?page no="288"?> Als pronominale Anrede bezeichnet man die Anrede von Personen mit einem Pronomen, z. B. du, ihr, Sie. Die Wahl des jeweils angemessenen Pronomens wird durch gesellschaftliche Normen bestimmt, die dem stetigen Wandel von Gesellschaft und Sprache ausgesetzt sind. […] Die pronominale Anredeform unterscheidet sich je nach Land und Volk, nach Sprache und Gesellschaftsgruppe, nach dem Verhältnis des Sprechenden zum Angesprochenen und nach der jeweiligen Situation. (Wikipedia o.-J.) Anredeformen bilden als personaldeiktische Ausdrücke Schnittstel‐ len zwischen Semantik, Pragmatik und Syntax (Ehrhardt/ Neuland 2021: 86 ff.). Je nach dem Du-Modus (in Grammatiken auch als Balan‐ ceform bezeichnet) oder Sie-Modus (Distanzform) wird eine bestimmte Distanz zum Ausdruck gebracht und dem Interaktionspartner dem‐ entsprechend Wertschätzung, Zuneigung oder Respekt bezeugt. An‐ redeformen sind wesentliche Mittel der Beziehungsgestaltung und des Beziehungsmanagements. Aber die Regeln bzw. Empfehlungen allein für die Verwendung des Du- oder Sie-Modus im Deutschen sind keineswegs so klar und eindeutig, wie man meinen möchte. Wie spreche/ schreibe ich jemanden an, zu dem nach meiner Ansicht kein einvernehmliches Vertrautheitsverhältnis besteht? Wird es als unhöflich empfunden, wenn ich einen flüchtigen Bekannten, der unser Verhältnis vielleicht anders deutet, sieze? Die Tendenz der Distanznahme durch die Wahl der dritten Person für die Hörerdeixis und die Plurali‐ sierung des Adressaten hat Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Kommunikation. Die Wahl der Ausdrucksselektion ist also ein soziolingu‐ istisch höchst bedeutsamer Akt. In manchen Szenen, z. B. in Sportclubs, gilt das »Genossen«-Du, aber vielen fällt es in Deutschland immer noch schwer, den aus Skandinavien üblichen Duz-Modus z. B. gegenüber dem Ikea-Personal zu übernehmen. Schwierig wird es auch bei symmetrischer versus asymmetrischer Verwendung der pronominalen Anredeformen (vgl. Lüger 1992: 70 ff.). Teilreziprozität herrscht etwa im Schulunterricht in der Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern unter einem gewissen Alter vor. Die Grammatik der deutschen Sprache folgert: Die Dubzw. Sie-Relation kann auf vielfältige Weise zustande kommen […] und umfasst eine Vielzahl institutioneller und gruppenspezifischer Besonderheiten. 288 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="289"?> Die Dichotomie du - Sie ist viel zu grob, als dass sie die vielgestaltigen interper‐ sonellen Beziehungen allein ausdrücken könnte. Dennoch markieren du und Sie jeweils eine gewisse Bandbreite interpersonaler Rollen und Statusverhältnisse. (Zifonun et al. 1997: 926) 9.6 Höflichkeits- und Routineformeln Mit festgefügten Formulierungen bewältigen wir im Alltag immer wieder‐ kehrende kommunikative Handlungen bzw. Routinen als Lösungsmuster für das Erreichen von Handlungszielen. Sie sind in der jeweiligen Sprach‐ gemeinschaft etabliert und werden in der sprachlichen Sozialisation tradiert. Im Vollzug der Realisierung dienen sie der sprachlichen und kognitiven Entlastung sowie der Beziehungsarbeit der Kommunizierenden (vgl. Ehr‐ hardt/ Neuland 2021: 103 ff., Stein 1995). Typen von Höflichkeitsformeln (nach Hyvärinen 2011: 181): ● Grußformeln ● Abschiedsformeln ● Vorstellungsformeln ● Dankesformeln ● Entschuldigungsformeln ● Ergehensfragen ● Beileidsformeln ● Wunschformeln (z.-B. Ich hätte gerne eine Gemüsesuppe.) ● verschiedene Typen von Entgegnungsformeln (z. B. Das wäre mir recht.) Wir wollen uns genauer den erstgenannten Begrüßungs- und Abschiedsfor‐ meln und ihrem kulturellen Wandel zuwenden. 9.6.1 Begrüßungsformen Grußformen gelten als besonderes Symptom höflichen Umgangs. Sie waren schon in früheren Zeiten Gegenstand von Anstandslehren, werden als Verhaltensstandards auch heute noch allgemein erwartet und in der 9.6 Höflichkeits- und Routineformeln 289 <?page no="290"?> familialen Spracherziehung und im Schulunterricht in Verbindung mit nonverbalem Verhalten eingeübt, z. B. »das schöne Händchen geben« und/ oder einen Knicks bzw. einen Diener machen. Solche Verhaltensweisen sind heute veraltet, ebenso das Aufstehen oder das Lüften des Hutes. Allenfalls ist heute der Blickkontakt erhalten geblieben. Neuland et al. folgern: Anrede- und Grußformen sind nicht nur Kultureme, sie sind zugleich auch Symptome kultureller Veränderungen von Gesellschaften und ihrer Sozialgefüge. Tendenzen der Informalisierung und der Ent-Distanzierung zeigen sich besonders auffällig im Bereich der Schriftlichkeit, wie aktuelle Studien zu E-Mail- und Internet-Kommunikation hinlänglich belegen; sie sind aber auch im Bereich der Mündlichkeit nachweisbar. (Neuland et al. 2020: 135) Dies lässt sich besonders gut am Beispiel der Grußformen belegen; wir werden das im Kapitel III.1 wieder aufgreifen. Heute scheint das: Hallo als einheitliche Passe-Partout-Formel im privaten wie im öffentlichen Verkehr die tageszeitliche Differenzierung im Deutschen abgelöst zu haben. Betrachten wir dazu einige empirische Belege aus den Wuppertaler Studien (Neuland 2015, Neuland et al. 2020). Nach Beispielen für sprachliche Höflichkeit befragt, verweisen auch heutige Jugendliche verschiedener Altersstufen, Schulformen und Klassenstufen (in Klammern angegeben) auf folgende Grußformeln (in Originalorthographie): Spontan genannte Beispiele für sprachliche Höflichkeit ● freundliche Begrüsung (HS, 7. Jg.) ● ich sage zu Menschne die ich treffe sage ich Guten Tag (HS, 7. Jg.) ● Einen wunderschönen Guten Tag! (HS, 7. Jg.) ● Guten morgen Frau X, wie geht es ihnen heute? (HS, 9. Jg.) ● Hallo und Tschüss sagen (GYM, 7. Jg.) ● Neue Leute höflich begrüßen (GYM, 9. Jg.) ● Guten Tag, Auf Wiedersehen (BS) (Neuland et al. 2020: 136) Auf die Frage, wie sie ihre Lehrer außerhalb des Unterrichts begrüßen, antworten jedoch 55 % der 1.138 Jugendlichen mit hallo, 47,6 % mit: gu‐ ten Tag, Herr/ Frau (Name), und zwar mit deutlichen Geschlechter- und 290 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="291"?> Altersdifferenzen: Das hallo wird von Mädchen und Muttersprachlern im Unterschied zu DaZ-Schülern präferiert und nimmt allgemein mit dem Alter zu. Die Routineformel: nach dem Befinden fragen (Ergehensfrage) wird immerhin zu 8-% der freien Antworten angegeben: Spontan genannte höfliche Ausdrücke im Gespräch mit Lehr‐ kräften ● guten morgen (Frau Meier), wie geht es ihn so? (HS, 7. Jg.) ● Herr Frau mit gut morgen (HS, 7. Jg.) ● Ja! Z.-B. Guten Tag Herr / Frau (HS, 7. Jg.) ● Guten Morgen, Herr (GYM, 9. Jg.) ● Guten tag, Wie geht es Ihnen (BS) (Neuland et al. 2020: 136) Spontan genannte höfliche Ausdrücke im Gespräch mit Gleich‐ altrigen ● Hey, was geht (HS, 7. Jg.) ● Was geht ab Bruder (HS, 7. Jg.) ● Hallo (HS, 9. Jg.) ● Du, Hallo (GYM, 7. Jg.) ● Na, was machst du? (GYM, 7. Jg.) ● Na, wie geht’s dir (GYM, 7. Jg.) ● He, Was geht, Hau rein (BS) (Neuland et al. 2020: 136) Die von den Jugendlichen vorgenommenen Differenzierungen offenbaren ein differenziertes Höflichkeitsverständnis, das sie den jeweiligen Adressaten unterstellen. Freunde werden zu 77,5 % der Fälle mit hey/ hi begrüßt, in knapp 39-% mit was geht? , und nur knapp 26-% mit hallo. In der Unterrichtskommunikation weisen die Daten auch ritualisierte Formen des chorischen Sprechens auf, wie z. B. in einer 10. Klasse einer Realschule (Neuland et al. 2020: 149): 9.6 Höflichkeits- und Routineformeln 291 <?page no="292"?> Beispiel: chorisches Sprechen LK: […] SCHÖNN guten morgen, zehn a SuS: ›singend‹ ! SCHÖ! nen guten morgen, Frau xy. Auch sind unterschiedliche Grußformen in den Aktantengruppen der Schü‐ ler und der Lehrkräfte zu beobachten, so in einer Pause im Oberstufenjahr‐ gang 12: Beispiel: unterschiedliche Grußformen S1: Mahlzeit; LK: Tach. Besonders aufschlussreich sind aber auch die Angaben zu den nonverbalen Grußformen: Hier zeigt sich, dass das traditionelle Händeschütteln nur mehr mit einer Häufigkeit von 16 % genannt wird; hingegen wird der Handschlag, mit offenen Handflächen gegeneinandergeschlagen, mit einer bedeutend höheren Frequenz der Fälle von 51 %. Umarmungen (knapp 67 %) und Wangenküsse (21 %) sind in Deutschland bisher eher unüblich und unter Erwachsenen auf enge freundschaftliche Kontakte beschränkt. Insgesamt zeigen sich dabei erheblich Geschlechterunterschiede: Umarmun‐ gen mit 93 % vs. 36 % und Wangenküsse (32 %vs. 8 %) eher bei Mädchen, Handschlag (84 % vs. 23 %) und Händeschütteln (28 % vs. 6 %) dagegen eher bei Jungen. Mit dem Alter nehmen Umarmungen und Wangenküsse zu, Handschläge dagegen ab. Wie sich die Corona-Pandemie mit der Devise des Social Distancing auf das Grußverhalten auswirkt, werden künftige Erhebungen zeigen. 9.6.2 Abschiedsformen Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Abschiedsformen: Als häufigste Abschiedsformel von Lehrkräften wird mit 59 % der Fälle tschüss genannt. Die ca. seit den 2000er Jahren etablierte Wunschformel: schönen Tag noch (nach einer Cosmas-Recherche) folgt in fast 57 % aller Fälle. Auch von Freunden verabschieden sich die befragten Jugendlichen mit einer hohen Frequenz mit der Formel tschüss auf dem zweiten Rangplatz; den ersten nimmt nach ihren Angaben die vom Italienischen übernommene Formulie‐ rung ciao/ tschau mit 52 % ein. Im Gegensatz zum Italienischen wird ciao 292 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="293"?> im Deutschen nur als Abschieds-, nicht aber auch als Begrüßungsformel verwendet Aufschlussreiche soziolinguistische Differenzen ergeben sich bei der Formulierung hau rein! zugunsten der männlichen Jugendlichen (63 % vs. 20 %), beim englischen byebye zugunsten der jüngsten Befragten (32 % vs. 16 bzw. 15-%). Wir werden im Kapitel III.3 die Frage diskutieren, welche Folgen die sich hier abzeichnenden Informalisierungstendenzen für einen Sprachwan‐ del haben können. 9.7 Umgang mit (Un)Höflichkeit Wir wollen im Folgenden noch einen Blick auf den Gebrauch von Pejorativa, Schimpfwörtern und Beleidigungen und resümierend auf den Umgang mit Höflichkeit und Unhöflichkeit im Alltag werfen. 9.7.1 Pejorativa, Schimpfwörter und Beleidigungen Das Vermeiden von verletzendem Sprachgebrauch gilt damals wie heute als eine unwidersprochene gesellschaftliche Konvention. »Sie Lümmel, Sie! « Ist das (heute noch) eine Beleidigung? Bei dem Ausruf »Sie Arschloch! « könnten wir schon eher sicher sein. Fällt ein eindeutiges Urteil im Falle von Schimpfwörtern als Lexeme noch relativ leicht, so gilt das kaum für pragmatische Verwendungen wie etwa im Falle einer nicht abgesprochenen Du-Anrede, eines Tadels unter gleichrangigen Erwachsenen, z.B.: »Sie dür‐ fen hier nicht sitzen! « oder einer Rückfrage wie z.B.: »Wissen Sie das nicht? « Hier sind die Grenzen zu verletzendem oder beleidigendem Sprachgebrauch - auch unabhängig von individueller Empfindlichkeit - schon fließend (vgl. Technau 2018, Finkbeiner et al. 2016, Herrmann et al. 2007). Dies verweist auf die Bedeutung der Hörerdeixis und auf die Wichtigkeit kontextbezogener Betrachtungen. Die Kategorien Sprecherintention und Hörerverständnis bzw. illokutiver Akt und perl‐ okutiver Effekt spielen daher auch eine wichtige Rolle in der ein‐ schlägigen Forschungsliteratur. Der Terminus: Beleidigung ist zwar eine Ethnokategorie, nicht aber ein wissenschaftlich klar definierter 9.7 Umgang mit (Un)Höflichkeit 293 <?page no="294"?> Begriff. Die neuere linguistische (Un)Höflichkeitsforschung verwen‐ det nach dem Brown/ Levinson-Paradigma eher die Bezeichnungen: gesichtsbedrohende oder -verletzende Akte (ftas). Culpeper et al. (2003: 1546) definieren Unhöflichkeit als: »communicative strategies designed to attack face, and thereby cause social conflict and dishar‐ mony.« Culpeper erweitert diese Definition (2005) um den Aspekt des Hörerver‐ ständnisses: Impoliteness comes about when: (1) the speaker communicates faceattack inten‐ tionally, or (2) the hearer perceives and / or constructs behavior as intentionally faceattacking, or a combination of (1) and (2). (Culpeper 2005: 38) So ist auch verständlich, warum angesprochene Jugendliche gegen die Begrüßungsformulierung einer Schülerin: »ih: r M: ISSgeburten« auf dem Sportplatz nicht protestieren. Sie wird in der intragenerationellen Kommu‐ nikation als mock politeness oder als cooperative rudeness in jugend‐ typischer Weise gemeint wie verstanden (Neuland et al. 2020: 103). Wir erinnern an Labovs Untersuchungen zu den ritual insults von Jugendlichen (→ Kap. I.2.2.2) und kommen im nächsten Absatz auf die Scherzkommuni‐ kation zurück. In der Rangfolge der Schimpfwörter unterscheiden sich Jugendliche den Wuppertaler Erhebungen nach nicht wesentlich von Erwachsenen, wie Tabelle II.9.1 zeigt: durch Gleichaltrige abs. % der Fälle Rang durch Erwachsene Abs. % der Fälle Arschloch 30 12,8 1 Arschloch/ Arsch 19 10,3 Hurensohn 27 11,5 2 doof/ dumm 14 7,6 Spasti 22 9,4 3 Idiot 11 5,6 Schlampe 16 6,8 4 … Kind (z. B. dummes Kind) 9 4,6 dumm 13 5,5 5 Spasti(ker) 7 3,8 Wixxer 13 5,5 6 asozial 5 3> 294 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="295"?> Opfer 11 4,7 7 faul 5 3> fick dich 9 3,8 8 dumme/ blöde Kuh 4 3> Idiot 8 3,4 9 Pisser 4 3> behindert 7 3 10 verpiss dich 7 3> Sonstiges 192 81,7 - - 113 58 Gesamt 348 148,1 Gesamt 195 101,4 Tab. II.9.1: Rangfolge der Schimpfwörter von Gleichaltrigen und von Erwachsenen gegen‐ über Jugendlichen nach Verwendungshäufigkeit (Neuland et al. 2020: 95 f.) Aus den genannten Beispielen geht hervor, dass Jugendliche die Attributi‐ onen: doof/ dumm, besonders in Kombination mit der Rollenzuschreibung: Kind als beleidigend empfinden. Im Rahmen einer Typologie sozialer Kategorisierungen hat Neuland (2018) die vier Bezeichnungen: Bengel, Flegel, Lümmel und Rüpel lexikographisch und korpusanalytisch miteinander verglichen. Bereits sprachgeschichtlich wur‐ den sie als pejorative Fremdbezeichnungen für einem Bauernknecht zugeschrie‐ bene Merkmale verwendet (vgl. dazu Finkbeiner et al. 2016). Dabei scheinen die Ausdrücke: Rüpel (mit knapp 46.000) und Flegel mit über 24.000 belegten Wortformen besonders produktiv. Wie die Korpusanalyse (Deutsches Referenz‐ korpus der geschriebenen Gegenwartssprache des Leibnitz-Instituts für deutsche Sprache DeReKo) des diachronen Verlaufs zeigt, ist der Ausdruck: Rüpel im Unterschied zu Lümmel bis heute aktuell: 9.7 Umgang mit (Un)Höflichkeit 295 <?page no="296"?> Rüpel 1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 1940-1949 1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1989 1990-1999 2000-2009 2010-2019 2020-2021 Abb. II.9.1: Auftretenshäufigkeit des Ausdrucks: Rüpel im DeReKo (Neuland 2018: 321, aktualisiert 20.5.2021) Die Kookkurenzen der beiden Ausdrücke: Flegel und Rüpel (mit einer Spannweite von 5 Wörtern und maximal einem Satz) werden in den beiden folgenden Wordle-Darstellungen präsentiert: Abb. II.9.2: Wordle-Darstellungen der Kookkurrenzen der Ausdrücke: Flegel und Rüpel (Neuland 2018: 322, 324; aktualisiert 20.5.2021) Während der Ausdruck: Flegel im Sinne von frechem, ungezogenem Be‐ nehmen verwendet wird und der Eigenname Rühmann auf den Kontext einschlägiger Filme verweist, wird der Ausdruck: Rüpel mit für die heutige Zeit besonders negativen Konnotationen von Rasern und rüpelhaften Sport‐ 296 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="297"?> lern wie dem Fußballspieler Rooney und dem Tennisspieler Ibrahimovic verbunden. Die Attribute: pubertierend und unreif im Bedeutungsspektrum von Flegel deuten darauf hin, dass dieser für jüngere Männer, Rüpel hingegen für Erwachsene verwendet wird. 9.7.2 Soziokulturelle Höflichkeitsstile Greifen wir abschließend eine soziolinguistische Differenzierung auf, die schon mehrfach in diesem Band angesprochen wurde (u. a. in den Kapiteln II.3 bis II.5): die soziokulturellen Sprachstile. Auch für den Umgang mit (Un)Höflichkeit lassen sich Unterschiede feststellen, und zwar zwischen konventionellen, eher bei Erwachsenen gebräuchlichen und jugendtypi‐ schen Stilen. Die Grenzen sind eher graduell als trennscharf zu bestimmen. Auch mögen gender- und alterstypische Unterschiede hinzutreten. Für den Umgang mit Höflichkeit bzw. Respekt kann hypothetisch das in Tabelle II.9.2 wiedergegebene Strukturmodell angenommen werden: - Aktanten Adressa‐ ten Modi Attri‐ bute Gültigkeit intergene‐ rationell Alters- und Rang‐ differenz statusinhärent Ernsthaftig‐ keit fixe Größe, Redewei‐ sen generell und individuell intragene‐ rationell Alters und Rangäqui‐ valenz zuge‐ schrieben, adhärent Modalitäts‐ wechsel zwi‐ schen Spiel und Ernst interak‐ tionale Größe gruppen- und subkul‐ turspezifisch Tab. II.9.2: Strukturmodell von Höflichkeit/ Respekt in jugendtypischem Verständnis (Neu‐ land et al. 2020: 61) Diesem Strukturmodell können verschiedene sprachlich-kommunika‐ tive Merkmale für den Umgang mit Höflichkeit bzw. Respekt zuge‐ schrieben werden: ● Rangdifferenz vs. Rangäquivalenz zwischen den Aktantengruppen wird etwa durch einen Dubzw. einen Sie-Modus und durch unterschied‐ liche Formalitätsgrade z.-B. der Grußformen ausgedrückt. 9.7 Umgang mit (Un)Höflichkeit 297 <?page no="298"?> ● Zuschreibung von Status in der gruppenspezifischen Interaktion kann sich besonders im Umgang mit Kritik, Pejorativa und Beleidigun‐ gen zeigen. ● Modalitätswechsel zwischen Ernsthaftigkeit und Scherzhaf‐ tigkeit bilden schließlich ein Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen konventionellen und spezifischen Sprachstilen einer community of prac‐ tice. Dieser Unterschied kann sich etwa in ausbleibenden Reaktionen auf konventionell unhöfliche Äußerungen manifestieren, die - im Scherz‐ modus geäußert und aufgefasst - ohne Reaktion, z. B. von Protest, Beleidigtsein, Gegenbeleidigungen bleiben können. 9.8 Zusammenfassung und weiterführende Literatur In diesem Kapitel haben wir einen Einblick in ausgewählte soziolinguistisch relevante sprachliche Umgangsformen gegeben. Vor allem ging es um die aktive Beteiligung von Sprechenden und Schreibenden beim Lösen kommunikativer Zweifelsfälle, Spielräume und Normierungskonflikte am Beispiel vom Umgang mit Political Correctness, Höflichkeits- und Routine‐ formen sowie vom Umgang mit (Un)Höflichkeit in konventioneller und soziokulturell differenzierter Weise. Literatur (weiterführend) Der Deutschunterricht (3/ 1998): Sprachnormen. hgg. v. Eva Neuland. Der Deutschunterricht (1/ 2012): Orthographische und grammatische Spielräume. hgg. v. Christa Dürscheid. Neuland, Eva/ Könning, Benjamin/ Wessels, Elisa (2020): Sprachliche Höflichkeit bei Jugendlichen. Frankfurt/ M. Literatur (gesamt) Bartsch, Renate (1985): Sprachnormen: Theorie und Praxis. Tübingen. Bonacchi, Silvia (2013): (Un)Höflichkeit. Eine kulturologische Analyse Deutsch - Italienisch - Polnisch. Frankfurt/ M. Culpeper, Jonathan/ Bousfield, Derek/ Wichmann, Anne (2003): Impoliteness revi‐ sited: with special reference to dynamic and prosodic aspects. In: Journal of Pragmatics 35, 1545-1579. 298 9 Sprachliche Umgangsformen <?page no="299"?> Culpeper, Jonathan (2005): Impoliteness and entertainment in the television quiz show: ‘The Weakest Link’. In: Journal of Politeness Research 1: 1, 35-72. Der Deutschunterricht (3/ 1998): Sprachnormen. hgg. v. Eva Neuland. Der Deutschunterricht (1/ 2012): Orthographische und grammatische Spielräume. hgg. v. Christa Dürscheid. Dieckmann, Walther (1975): Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. 2. 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In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 27: 2, 18-37. 9.8 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 299 <?page no="300"?> Klug, Nina-Maria (2020): Wortkritik im Zeichen der Political Correctness und aktuelle Formen antidiskriminierender Wortkritik. In: Kilian, Jörg/ Niehr, Tho‐ mas/ Schiewe, Jürgen (Hg.): Handbuch Sprachkritik. Berlin, 81-87. Leech, Geoffrey (2014): The Pragmatics of Politeness. Oxford. Lüger, Heinz-Helmut (1992): Sprachliche Routinen und Rituale. Frankfurt/ M. Neuland, Eva (1998): »Sprachnormen« - kein Thema mehr? Zur Neubelebung einer verschütteten Diskussion. In: Der Deutschunterricht 3, 4-14. Neuland, Eva (2015): »Hey, was geht? « Beobachtungen zum Wandel und zur Differenzierung von Begrüßungsformen Jugendlicher. In: IDS-Sprachreport 1, 30-35. Neuland, Eva (2018): »Sie Lümmel, Sie! « Kleine Typologie sozialer Kategorisie‐ rungen »frecher« Jugendlicher. 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Abrufbar unter: https: / / de.wikipedia.o rg/ wiki/ Pronominale_Anredeform (Stand: 18/ 02/ 2022) 9.8 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 301 <?page no="303"?> III Anwendungsfelder <?page no="305"?> 1 Schule und Deutschunterricht Die Auswirkungen der frühen Soziolinguistik in Deutschland finden ihren besonderen Niederschlag im Feld der Pädagogik, die sich in den 1970er Jahren zu einer Leitwissenschaft entwickelte, wie die Vielzahl der einschlä‐ gigen Publikationen zeigt (z. B. Dierks/ Zander 1975: Sprachgebrauch und soziale Praxis. Soziolinguistische Grundfragen pädagogischer Praxis). Insbe‐ sondere der Sammelband mit Gutachten des deutschen Bildungsrats zum Zusammenhang von Sprache und Lernen (hgg. v. H. Roth 1969, darunter auch ein Beitrag von Oevermann zu sozialer Schichtung, Begabung und Sprachgebrauch) hatte neue Perspektiven auf einen dynamischen Lern‐ begriff und auf soziale Einflussfaktoren auf kognitive und sprachliche Leistungsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen eröffnet. Soziolinguis‐ tische Entwicklungen im Bereich von Vorschule und Schule, speziell im Deutschunterricht und Sprachunterricht werden im Folgenden aufgezeigt. Abschließend wird resümiert, welche Spuren sich nach der anfänglichen Euphorie aktuell in Schule und pädagogischer Praxis finden lassen. 1.1 Schule und Sprachunterricht Man darf wohl mit Berechtigung behaupten, dass selten eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft so schnell und über das Maß an Einlösbarem hinaus auf die Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse für den Sprachunterricht befragt und in ihrer Entwicklung selbst beeinflusst worden ist wie die Soziolinguistik. (Neuland 1979: 240) So leitete Neuland den Beginn ihrer Darstellung: Soziolinguistik und Sprach‐ unterricht in dem von Boueke herausgegebenen Band: Deutschunterricht in der Diskussion (1979: 240) ein. In der Tat hatte die Entwicklung der Sozio‐ linguistik in der Bundesrepublik Deutschland eine Euphorie ausgelöst im Hinblick auf die Anwendung ihrer Ergebnisse für die pädagogische Praxis der Spracherziehung im Hinblick auf eine gesellschafts- und erfahrungswis‐ senschaftliche Rückbindung von Deutschdidaktik und Deutschunterricht, aber auch der Sprachwissenschaft selbst (→-Kap. I.1.2). <?page no="306"?> Ein spezifisches Theorie-Praxis-Missverhältnis war die problema‐ tische Folge mit der Gefahr einer Reduktion der empirischen Aspekte auf das vom Verwertungsinteresse her Erforderliche auf der einen Seite und der Gefahr einer übereilten Didaktisierung noch unzurei‐ chend geprüfter Ergebnisse auf der anderen Seite. Vor dem Hinter‐ grund der Bildungsdiskussionen der 1960er Jahre versprach man sich von der Soziolinguistik einen Begründungszusammenhang und eine Legitimationsbasis für erzieherische Maßnahmen zur Aufhebung sprachlich bedingter Bildungshindernisse und somit zur Herstellung von Chancengleichheit. Der Schlüssel zur Lösung von Problemen der Aufschließung von Begabungsreserven und der Nutzbarmachung verschiedener Begabungsformen schien im Sprachdefizit der Unter‐ schichtangehörigen zu liegen, deren unvollkommene sprachliche Leistungsfähigkeit sich als Sprachbarriere vor deren weitere Bildungs- und Aufstiegschancen erhob (→-Kap. II.1 sowie Kap. I.3.2). 1.1.1 Kompensatorische Sprachförderung im Vorschulalter Den größten Aufschwung erlebten vor diesem Hintergrund zweifellos die Bemühungen um eine kompensatorische Sprachförderung im Vor‐ schulalter, in Deutschland mit einer ca. zehnjährigen Verzögerung gegen‐ über den Vereinigten Staaten, wo namentlich das Head Start-Programm eine Vorreiterrolle eingenommen hatte (vgl. dazu z. B. Trouillet 1970, Du Bois-Reymond 1971, Gahagan/ Gahagan 1971, Iben 1971, Jäger 1971, Wiehle 1973, Meier et al. 1973). In Deutschland fanden die Arbeitsmap‐ pen zum Sprachtraining und zur Intelligenzförderung (Schüttler-Janikulla 1968/ 71) und die Anregungsmaterialien zu »Begabung-Sprache-Emanzipa‐ tion« (1972) starke Verbreitung in Kindergärten. Die Evaluationen von Erfolg und Misserfolg führten jedoch schon bald zu einer Ernüchterung der pädagogischen Hoffnungen und zu einer Rückbesinnung auf die zugrun‐ deliegenden wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Annahmen. Die relative Fruchtlosigkeit der kompensatorischen Bemühungen in der Praxis übte eine katalysatorische Wirkung im Hinblick auf eine Revision der konfliktprophylaktischen und symptomkurierenden Funktionen der Thesen von Sprachbarrieren und Sprachkompensatorik aus (vgl. Dittmar 1973: 107 f.). 306 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="307"?> 1.1.2 Sprachförderung in Gesamtschulen Auch im Schulbereich fanden soziolinguistische und auch kompensatori‐ sche Unterrichtskonzepte Eingang (so z. B. Heft 74/ 1970 der Zeitschrift alternative, Gutt/ Salffner 1971, M. Berg o. J., Dahle 1972), insbesondere im Rahmen der Gesamtschulen, bei deren Gründung der Gedanke des Ausgleichs von Chancenungleichheit ein zentrales Anliegen war. Als eines der allgemeinen Ziele formulierten Edelstein und Schäfer programmatisch in einer Publikation des deutschen Bildungsrats: Ausgleich der sprachlich vermittelten schichtenspezifischen Ungleichheit der Bildungschancen durch differenzierte und gezielte Förderung des sprachlichen Leistungsvermögens und Erweiterung des sprachlichen Verständnisbereiches. (Edelstein/ Schäfer 1969: 47 ff.) Als versuchsbegleitende Forschung Gesamtschule wurde in NRW eine Pro‐ jektgruppe Sprachkompensatorik eingerichtet, die verschiedene Modelle kompensatorischen Unterrichts vorstellte (1972-1974; vgl. auch Kaspar et al. 1975). Dabei stand zumeist ein Spannungsverhältnis zwischen den Ausgangssprachen der Schüler und den Normen der Hochsprache im Zentrum. Auch in Richtlinien und Lehrplänen verschiedener Schulformen und Bundesländer fand soziolinguistisches Gedankengut Eingang, wie Schlie‐ ben-Lange im Anhang ihrer 1973 erschienenen Einführung in die Soziolin‐ guistik dokumentiert: z. B. Baden-Württemberg: Entwurf zu einem Lehrplan Deutsch SII (Arbeitsbe‐ reich Reflexion über Sprache, Jahrgang 11): »Erörterung von Texten unter soziolinguistischen Gesichtspunkten zur Erschließung des Zusammenhangs von Sprachverhalten und sozialer Interaktion«. (S.-18) Niedersachsen: vorläufige Handreichungen für die Orientierungsstufe (1971): »Vorhandene Sprachbarrieren sollen abgebaut werden.« (S. VII) Das Ausbleiben tagespolitischer Erfolge führte Mitte der 1970er Jahre zu einem Nachlassen der bildungspolitischen Unterstützung. Wenn auch der gesellschaftskritische Impetus der frühen Soziolinguistik im deutschen Sprachraum verblasste und sich emanzipatorische Gegenkonzepte gegen die Kompensatorik nicht durchsetzen konnten, so blieben doch wichtige Impulse der Soziolinguistik im Deutschunterricht bestehen. Daran sollte bei der Diskussion um die Bildungssprache (→ Kap. II.1.3) erinnert werden, 1.1 Schule und Sprachunterricht 307 <?page no="308"?> die auch als Wiederbelebung der Sprachbarrierendebatte verstanden werden kann. 1.1.3 Soziolinguistische Impulse im Deutschunterricht 2017 resümierten die Herausgeber in der Einleitung in das Themenheft 4: Soziolinguistik der Zeitschrift Der Deutschunterricht: Soziolinguistische Forschungen haben eine besondere didaktische Relevanz, dadurch »dass es um Fragen des sozialen Ausgleichs und emanzipatorischer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht, um Abbau von Vorurteilen und um die Sicherung der sprachlichen Kommunikation zwischen sozialen Gruppen« (Neuland/ Schlobinski 2017: 1). Dabei kristallisierten sich insbesondere fol‐ gende Schwerpunkte heraus: Wichtigste Impulse für den Deutschunterricht 1. Kritik an Hochsprache und hoher Literatur als alleinigen Lernzielen im Deutschunterricht 2. Differenzierung von sozialen und regionalen Einflüssen auf den Sprachgebrauch 3. Anerkennung der Systematizität und Funktionalität von Sprach‐ varietäten Diese fanden im Rahmen der kritischen Didaktik in der Geschichte des Deutschunterrichts eine besondere Aufmerksamkeit. Die Frankfurter Didaktikergruppe um Autoren wie Ivo, Hebel, Merkelbach und C. Bürger hatten die vieldiskutierten Rahmenrichtlinien für das Fach Deutsch in Hessen 1972 entwickelt. Kritischer Deutschunterricht: »kann nur heißen, Schülern durch das Medium der Beschäftigung mit Sprache und Literatur zu helfen, sich selbst im Handlungszusammenhang gesellschaftspolitischer Vermitt‐ lungsprozesse zu verstehen.« (Ivo 1969: 5). Die Verabschiedung von einem »unzeitgemäßen Literaturunterricht« (1969), Kritik des Aufsatzunterrichts (Merkelbach 1972) und die Entwicklung eines wissenschaftlichen Handlungsfelds: Deutschunterricht (1975) mit den zentralen Lernzielen: Sprachkritik, Normreflexion und reflexiver Sprachge‐ brauch standen im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Wirkungsmächtiger als die kritische Didaktik erwies sich allerdings die nahezu parallele Ent‐ 308 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="309"?> wicklung der kommunikativen Didaktik im Deutschunterricht mit dem zentralen Lernziel der kommunikativen Kompetenz (vgl. dazu Neu‐ land/ Peschel 2013: 13-21). Mit explizitem Bezug auf Hymes formulierten Bünting/ Kochan: Ziel der Didaktik der sprachlichen Kommunikation ist die kommunikative Kom‐ petenz des Schülers. Darin fließen kritische Selbst- und Fremdeinschätzung kommunikativen Verhaltens und sprachlich-soziales Handeln als Erfahrung von kommunikativen Strategien zusammen. (Bünting/ Kochan 1973: 163) Die traditionelle Deutschdidaktik ging in der Mitte des 20. Jahrhun‐ derts grundsätzlich von einer Homogenität der deutschen Sprache und der Sprachgemeinschaft aus. Entsprechend der herkömmlichen Dichotomie der Sprachwissenschaft zur Bezeichnung von Sprachunterschieden innerhalb der Muttersprache wurden neben der Hochsprache, die als Spitze der Stilpy‐ ramide bildungswertig in sich und als alleiniges Bildungsziel galt, nur die Dialekte als überlieferte Kulturgüter unterschieden. Der Umgangssprache als dazwischenliegende Übergangszone galt dagegen besondere sprachpfle‐ gerische Aufmerksamkeit. Diese Vorstellung einer Pyramide prägte die präskriptive Stilistik des Deutschunterrichts bis in die 1970er Jahre und führte zu Zielvorstellungen wie grammatische Korrektheit, grammatisch richtiges, lautreines Sprechen und orthographisch richtiges Schreiben (so v.-a. in der Didaktik der deutschen Sprache von Helmers 1966). Dialekte „Gossensprachen“ Umgangssprache Hochsprache Abb. III.1.1: Stilpyramide (Neuland/ Peschel 2013: 197) 1.1 Schule und Sprachunterricht 309 <?page no="310"?> Die Verabschiedung des alleinigen Bildungswerts der Hochsprache, wie von der Neuformulierung der Hessischen Rahmenrichtlinien gefordert (1972), löste daher heftige Kontroversen aus. Eine Abbildung aus dem Diesterweg Sprachbuch der 1970er Jahre veranschaulicht die sozialen Differenzen in der Semantik besonders nachdrücklich: WE.NN ME.1N VAT VON DERMA� l<.OHMT,/ <;rt::RIM So KAl'uTCPA">S i<E.IN' 0 Abb. III.1.2: Beispiel Maloche (aus Sprachbuch 6, 1977, S.-58f.) Die Diskrepanz zwischen den kodifizierten standardsprachlichen Normen und dem tatsächlichen Sprachgebrauch konnte die kommunikative 310 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="311"?> Sprachdidaktik mit ihrem zentralen Lernziel der kommunikativen Ange‐ messenheit jedoch auch nicht lösen. Die kritische und die kommunikative Didaktik hatten zwar durch eine Neubewertung von Dialekten, Soziolek‐ ten und Gruppensprachen die präskriptive Stilpyramide der traditionellen Deutschdidaktik grundlegend erschüttert, doch konnte eine spezifische varietätenorientierte Sprachdidaktik in ihrem Rahmen noch nicht ent‐ wickelt werden (→-Kap. III.1.2). Heute finden sich in den meisten Richtlinien und Bundesländern nicht nur für die gymnasiale Oberstufe Varietätendifferenzierungen der deutschen Sprache, deren Strukturen und Funktionen Schülern bewusst gemacht werden sollen. Auch dies kann als Wirkung der soziolinguistischen Unter‐ scheidungen und der Relativierung der Standardsprachnormen angesehen werden. Lenken wir den Blick nochmals zurück auf eine alte, aber immer noch aktuelle Forderung nach einer differentiellen Deutschdidaktik: In dem 1995 erschienenen Band: Herkunft, Geschlecht und Deutschunterricht: oben - unten, von hier - von anderswo, männlich - weiblich plädieren die Heraus‐ geberinnen Linke und Oomen-Welke mit sieben Thesen für den Umgang mit Vielfalt (320 ff.), darunter: Thesen zum Umgang mit Vielfalt 1. Vielfalt wahrnehmen und thematisieren 2. Normen aufdecken - Erwartungen bewusst machen 3. differenzierende Unterrichtsziele und Lernerfolge 4. sprachliche Differenz und Individuelles Diese Zielvorstellungen gelten heute noch fort. 1.2 Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht Christian Efing Im Folgenden wird beschrieben, wie und warum das Thema der sozialen Sprachvariation im Sprachunterricht aufgegriffen werden kann und sollte. Dabei wird vor allem auf die Ziele dieser Thematisierung eingegangen, 1.2 Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht 311 <?page no="312"?> insbesondere auf die Normenreflexion und Sprachkritik sowie das Ziel einer kommunikativen und speziell: Registerkompetenz. Sozial bedingte Sprachvariation ist in mehrfacher Hinsicht ein Thema für einen sprachreflexiven Sprachunterricht. Nachdem die sprachliche Va‐ riation, die die Lernenden als eigene Sprachverwendung in den Klassenraum mitbringen, wie gesehen (→ III.1.1, in Deutschland v. a. in den 1970er Jahren am Beispiel der Dialekte) zunächst als Sprachbarriere diskutiert wurde, die durch einen kompensatorischen Sprachunterricht zu minimieren sei, wurde im Rahmen eines stärker sprachreflexiv ausgerichteten Deutschunterrichts sprachliche Variation generell zum Reflexionsgegen‐ stand von Deutschunterricht. Hierbei bieten sich insbesondere Soziolekte zur schulischen Sprachreflexion an. Im Rahmen einer solchen soziolingu‐ istischen Perspektive auf Sprachvariation werden Sprecher und Schreiber als Akteure in den Blick genommen, die sprachliche Mittel zumeist sehr bewusst aus ihrem Repertoire auswählen und im Sinne eines individuellen oder gruppentypischen Sprachgebrauchs einsetzen. Am Beispiel von Sozio‐ lekten kann Schule den Schülerinnen und Schülern dabei deutlich machen, dass sie als Individuen und Gruppen einen aktiven Beitrag zu Prozessen des Sprachgebrauchs- und Sprachnormwandels leisten. Damit liefert diese The‐ matik einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für »die didaktische Reflexion der Variation im heutigen Deutsch« (Neuland 2006a: 12), die weit über rein grammatische Besonderheiten hinausgehen sollte. Bei solch einer Reflexion ist vielmehr die »emanzipatorische Einsicht in die soziale Gebundenheit und Ideologiehaltigkeit von Sprache« (Neuland/ Peschel 2013: 135) das zentrale, spezifische Ziel der unterrichtlichen Thematisierung. Generell hat sich die germanistische Sprachdidaktik des Themas ›Va‐ riation und Varietäten‹ in der Vergangenheit nicht gerade ausführlich angenommen. Neuland jedoch hat sich kontinuierlich sowohl auf theore‐ tisch-allgemeiner (Geschichte, Ziele und Vorgehen bei der Behandlung sprachlicher Varietäten im Deutschunterricht, vgl. etwa Neuland 1994, 2004, 2006a, b) als auch auf konkreter Ebene (etwa Jugendsprache als Gegenstand des Deutschunterrichts, vgl. etwa Neuland 2003, 2006c, 2018) intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum, wozu und wie andere Varietäten als die Standardsprache innerhalb des Deutschunterrichts thematisiert werden sollten. Dabei stellt sich neben der Frage nach dem Lernbereich und der Klassenstufe, in dem/ der Sprachvarietäten behandelt werden, die essentielle Frage nach den exemplarisch zu wählenden Nonstandardvarietäten, die zum Gegenstand des Sprachunterrichts werden. 312 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="313"?> Ein Blick auf die sprachdidaktischen Publikationen und auch Schulbücher der letzten Jahre zeigt, dass hier als exemplarischer Lerngegenstand gängi‐ gerweise immer wieder dieselben Varietäten und Register gewählt und diskutiert werden: ● Jugendsprache (Baurmann 2003, Hoppe et. al. 2003, Bekes/ Neuland 2006: 517, Dürscheid 2008, Baradaranossadat 2011) ● Männer- und Frauensprachen (Bekes/ Neuland 2006: 517) ● Fachsprachen (Fluck 2006, Roelcke 2002, 2009) ● Werbesprache (Rastner 1998, Janich 2005, Oomen-Welke 2006, 2012) ● Dialekte und andere regionale Varietäten (Bücherl 1994, Mattheier 1994, Rosenberg 1994, Macha 2004, 2006, Neuland/ Hochholzer 2006, Volmert 2010, Tophinke 2019), ● nationale Varietäten (Ammon 2004) und Ethnolekte Immer wieder wird in der didaktischen Literatur der zentrale Wert der Thematisierung von Soziolekten (tendenziell in der Sekundarstufe II) betont, und auch die Curricula erwähnen Gruppensprachen als zu thematisierende Varietät, jedoch finden sich hierzu - außer Beiträgen von Neuland (2011) zu Gruppensprachen und Efing (2015) zu Sondersprachen - kaum Publika‐ tionen und konkrete (Schulbuch-)Vorschläge. Dabei sind das Potenzial und die verschiedenen Gründe offensichtlich, warum und mit welchen Zielen der Deutschunterricht soziolektale Substan‐ dardvarietäten behandeln sollte, auch wenn die Zielvarietät des Deutschun‐ terrichts die Standardsprache ist und bleibt. 1.2.1 Gründe und Ziele Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über Gründe und Ziele der Behand‐ lung von Nonstandardvarietäten gegeben (nach Neuland 2004: 4 ff., Neuland 2006a: 15 f., 24, Neuland 2006b: 61, Neuland/ Peschel 2013: 211): ● Motivation durch das Anknüpfen an die eigenen Spracherfahrungen und Interessen der Lernenden oder aber gerade durch die Andersartig‐ keit ● Einblick in die innere Heterogenität und Komplexität der deutschen Sprache ● Einsicht, dass - zumindest im Bereich des Mündlichen - auch non‐ standardsprachliche Varietäten unter bestimmten Kommunikationsbe‐ 1.2 Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht 313 <?page no="314"?> dingungen eine kommunikativ, sozial und funktional angemessene Wahl darstellen können (funktionale Angemessenheit und stilistische Wirkung der Varietäten) ● Ausbau der Stilkompetenz der Lernenden im Kontext von Sprachviel‐ falt und Sprachwandel. Hierin enthalten ist das Ziel des Verstehens intrakultureller Differenzen (Sprach- und Kulturbewusstheit) zwischen verschiedenen Dialekten und Soziolekten, Fachsprachen und sozialen Stilen ● Vertiefte Kenntnisse der mehrdimensionalen Normen und Gebrauchs‐ weisen der deutschen Sprache, Entwicklung eines nicht nur normgebun‐ denen, sondern normreflektierenden »Sprachdifferenzbewusstseins« (Neuland 2004: 5) Zusammenfassend lassen sich als Ziele die Entwicklung folgender Kom‐ petenzen auf Seiten der Lernenden anführen: ● sprachreflexive Kompetenzen (Sprachnormbewusstsein, Sprachdiffe‐ renzbewusstsein, Stilkompetenz) ● sprachanalytische Kompetenzen ● sprachproduktive Kompetenzen Dabei ist die Grundlage aller drei anzustrebenden Kompetenzen eine rezep‐ tive Kompetenz (als passive Kenntnis) in der jeweiligen Varietät. Rezeptive, reflexive und analytische Kompetenzen sind dabei weitaus wichtiger als die produktiven Kompetenzen, da die Schülerinnen und Schüler nicht vordergründig die Verwendung der thematisierten Varietäten lernen sollen, sondern anhand der Varietäten »vielmehr etwas über die deutsche Sprache gelernt werden [soll]« (Neuland/ Peschel 2013: 211). An Soziolekten lässt sich hervorragend zeigen, dass die Sprachnormen, die die Schülerinnen und Schüler kennen und oft für generell verbindlich halten, keine absoluten Normen, sondern Normen nur der standardsprach‐ lichen Varietät sind und dass Soziolekte einen anderen Normengeltungsbe‐ reich darstellen, in dem eigene Normen gelten, die einen Sprachgebrauch ermöglichen oder verlangen, der eventuell standardsprachlich sanktioniert würde, während umgekehrt die Befolgung standardsprachlicher Normen im Normengeltungsbereich eines Soziolekts einen Verstoß darstellen würde, mit dem man die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe in Frage stellen würde. Hinzu kommt, dass Soziolekte mit dem ihnen eigenen Normensys‐ tem und ihrer eigenen Semantik und Pragmatik einen interessanten Einblick 314 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="315"?> in die auch außersprachlichen Werte, Normen und spezifische Weltsicht der Gruppe als »Mikrogemeinschaft mit eigenem Wertesystem« (Möhn 1985: 2012) vermitteln können. Diese Normen, Werte und Weltsicht werden dabei durch Sprache nicht nur ausgedrückt, sondern auch bestätigt und verfestigt (Möhn 1980: 386). Über die semantischen und pragmatischen Besonderheiten sowie die Sprachnormen eines Soziolekts zu reflektieren, führt dabei gleichzeitig auch zu einer Reflexion der (Gültigkeit und Beschränktheit der) standardsprach‐ lichen Normen sowie zu einer Reflexion der Funktion, Entstehung und des Wandels von Sprachnormen (→ Kap. II.9). Lernende sollen dadurch nicht nur »Verständnis für die Funktionen der Standardvarietät«, sondern »auch der soziolektalen, ethnolektalen und dialektalen Varietäten« entwickeln, indem »Normen vermittelt, aber auch problematisiert werden« (Bittner/ Köpcke 2008: 76), was kontrastiv oft leichter fällt. Der Lehrkraft kommt in einem normreflektierenden Deutschunterricht demnach nicht nur die Rolle zu, (standardsprachliche) Norminhalte prä‐ skriptiv zu vermitteln und die Norm-Anwendung/ -Einhaltung zu kontrollie‐ ren, sondern sie soll Normierungsprozesse und Normlegitimationen durch‐ sichtig machen, kommunikative Geltungsbereiche von Normen aufzeigen, Normwandel im Rahmen von Sprachwandel zu erklären versuchen und vor allem die Normenvielfalt des und Normenkonkurrenzen im Deutschen sichtbar und bewusst machen. So wird Lernenden deutlich, dass Normen kein Selbstzweck sind, sondern dass die souveräne Beherrschung der sprach‐ lich-kommunikativen Normen Grundvoraussetzung für kommunikativen und sozialen Erfolg ist und dass Sprachwandel und Sprachvielfalt nicht als Sprachverlotterung und -niedergang zu gelten haben, sondern als (oft funktionaler) Reichtum anzusehen sind und dass Sprache mehr als ein reines Mittel des Informationsaustauschs ist, nämlich zum Beispiel auch ein Mittel der Identitätskonstruktion und -demonstration. In diesem Zusammenhang sollen zwei der Lernziele bzw. Kompetenzbe‐ reiche gesondert hervorgehoben werden. 1.2.2 Sprachnormenkritik und Sprachkritikkompetenz Hier ist das Konzept einer didaktischen Sprachkritik mit dem Ziel der Aus‐ bildung einer Sprachkritikkompetenz (Kilian 2020, Kilian et al. 2016: 114- 173) zu verorten, das sehr ähnliche Aspekte aufgreift und den ›mündigen Bürger‹ zum Ziel hat, der fähig zu linguistisch begründeten Entscheidungen 1.2 Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht 315 <?page no="316"?> und Positionierungen in Bezug auf die kommunikativen und kognitiven Leistungen von Sprache, Sprachnormen und Sprachgebrauch ist (Kilian et al. 2016: 114 f.). Auch wenn im folgenden Kapitel (→ III.2) noch genauer auf das Thema ›Sprachkritik (und Gesellschaft)‹ eingegangen wird, soll vorab an dieser Stelle bereits auf Sprachkritik als Teil und Aufgabe eines sprachreflexiven Deutschunterrichts im Kontext sozial bedingter Sprachvariation eingegan‐ gen werden. Dabei bestehen zwangsläufig enge Verbindungen auch zum Thema und Kapitel ›Soziolinguistik und Sprachwandel‹ (→ III.3). Es sind nämlich oft neuere Entwicklungstendenzen der Gegenwartssprache und (daraus resultierende) Zweifelsfälle - sozusagen ein im Entstehen befindli‐ cher Sprachwandel, von dem man noch nicht absehen kann, ob er sich durchsetzt -, die öffentliche Sprachkritik auslösen, mit der sich Schule dann auseinandersetzen sollte. Diese Auseinandersetzung sollte einerseits mit ei‐ nem selbstkritischen Blick auf das eigene Sprachverhalten der Schülerinnen und Schüler, andererseits mit Blick auf ihre Sprachbewusstheit und Fähig‐ keit erfolgen, sowohl sprachliche Variationsphänomene selbst wie aber auch den öffentlichen Diskurs um Sprache und ihre gesellschaftliche und mediale Bewertung einschätzen und beurteilen - oder gar mitgestalten - zu können. So ist es beispielsweise sinnvoll und wünschenswert, wenn Jugendliche, die jugendspezifische oder ethnolektale Sprachstile sprechen, sich einerseits reflexiv damit auseinandersetzen (können), wie diese Sprechweisen von älteren Sprechern des Deutschen wahrgenommen und auf die Sprecher‐ identität projiziert werden (z. B. als Indiz für fehlende Sprachkompetenz, fehlende Intelligenz und eine aggressive und ggf. integrationsunwillige Grundhaltung); und wenn sie sich andererseits auch explizit mit Argumen‐ ten verbal gegen die öffentliche Verunglimpfung ihrer Sprechweise wehren können. In diesem Sinne definiert Kilian (2020: 413) didaktische Sprachkritik als »die Analyse und (positive wie negative) Bewertung sprachlicher Mittel und sprachlicher Leistungen zum Zweck der Förderung sprachlichen Wissens und Könnens bei Lernenden«. Sprachkritischer Deutschunterricht setzt dabei als Beurteilungshinter‐ grund und ›Maßstab‹ tendenziell die Leitnorm der geschriebenen Stan‐ dardsprache, die als Ausgangs- und Zielpunkt diachroner, diatopischer, diaphasischer und diastratischer Variation vorgelagert bleibt (Kilian et al. 2016: 117), voraus. Dabei ist das Ziel eine Sprach(kritik)kompetenz sowie Sprachreflexionskompetenz, d. h. nicht einfach die (ggf. unreflektierte, 316 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="317"?> blinde) Normkenntnis und -befolgung, sondern die »Befähigung einer jeden Lernerin/ eines jeden Lerners zur bewussten und intentionalen Befol‐ gung (z. B. sprachliche Korrektheit und funktionale Angemessenheit) oder bewussten und intentionalen Durchbrechung (z.-B. situativ, ästhetisch oder ideologisch) dieser Normen« (Kilian 2020: 413, Hervorhebung C.E.). Erst vor dem Hintergrund der Existenz und Kenntnis verschiedener sprach‐ licher Variationsmöglichkeiten entstehen der Bedarf und die Möglichkeit einer bewussten Reflexion und Entscheidung für das eigene Sprachverhal‐ ten und die funktional und situativ angemessene Auswahl aus dem eigenen Repertoire. Ziel ist letztlich nicht die einzelne konkrete Bewertung (als Produkt), sondern der Weg dorthin: die Erarbeitung der Entscheidung, Begründung und Positionierung (Kilian et al. 2016: 163). Schüler lernen, dass nonstandardsprachliche Varianten und Varietäten nicht pauschal abzuwer‐ ten sind, sondern vor dem Hintergrund der Frage nach ihrer funktionalen Angemessenheit mit Blick auf die Leistungen ihrer sprachlichen Mittel bei der Lösung kommunikativer und kognitiver Aufgaben zu bewerten und zu beurteilen sind (Kilian et al. 2016: 128). Ziele der sprachkritischen Auseinandersetzung mit Sprach‐ variation 1. (v.-a. standardsprachliche) Normenkenntnis 2. Sprachreflexionskompetenz (Sprachbewusstheit) 3. Sprachkritikkompetenz (Kilian 2020: 413) In der unterrichtlichen Realität jedoch scheinen empirischen Untersuchun‐ gen zufolge Lehrkraft-Bewertungen immer noch einem normativen Konzept von Standardsprache zu folgen, das keine Varianten zulässt und Abwei‐ chungen als Fehler deklariert (Kilian 2020: 418). Schülerinnen und Schüler hingegen sollen lernen, Sprachnormen und eigenen wie fremden Sprachge‐ brauch zu reflektieren, zu hinterfragen und zu bewerten. Solch kritische Reflexionen in einem sprachreflexiven Deutschunterricht wurden erst mög‐ lich durch sozio- und varietätenlinguistische Ansätze im Deutschunterricht (Kilian 2020: 415). Basis einer solchen kritischen Reflexion ist dabei jedoch immer als nicht automatisch gegebene Voraussetzung ein sicheres Sprach‐ gefühl, um Angemessenheitsurteile fällen zu können. Aktuelle Themen, für die solch eine Sprachkritikkompetenz relevant ist, gibt es zahlreich, etwa: 1.2 Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht 317 <?page no="318"?> Themen für die Entwicklung von Sprachkritikkompetenz 1. Sprachverfallsdebatten (wegen mit Genitiv/ Dativ, weil mit Verb-Zweit- oder -Letztstellung →-Kap. III.2.1) 2. gendergerechter Sprachgebrauch (→-Kap. II.3) 3. Political Correctness (vgl. die Debatten um die Verwendung des Z- oder des N-Wortes) 4. politischer Sprachgebrauch (insbesondere von Parteien wie der AfD) (→-Kap. II.8) 5. manipulativer Sprachgebrauch im Kontext von Verschwörungs‐ theorien 6. satirischer Sprachgebrauch (→-Kap. II.4) Kriterien für die begründete Beurteilung von Sprachgebrauch sind dabei am Maßstab der funktionalen Angemessenheit auszurichten. Methodisch ist mit den Schülerinnen und Schülern jeweils eine fundierte linguistische, ggf. auch sprachhistorische Analyse unter Berücksichtigung der ko- und kontex‐ tuellen Situierung der jeweiligen Phänomene/ Verwendungsbeispiele durch‐ zuführen, an deren Schluss im Sinne einer »sprachkritisch-sprachdidakti‐ schen Werteerziehung« eine Erklärung und Bewertung sowie Entscheidung bezüglich des Zweifelsfalls bzw. der fraglichen Konstruktion/ Wortwahl bzw. des Normenkonflikts stehen sollte (Kilian 2020: 417; vgl. Kilian et al. 2016: 152-157 für konkrete unterrichtliche Schritte, wie man mit Lernenden bei einer linguistisch fundierten sprachkritischen Analyse vorgeht). Die Bildungsstandards geben dabei ausreichend Anknüpfungspunkte in Kompetenzformulierungen (»sprachliche Mittel gezielt einsetzen« (KMK 2004: 12), »Wirksamkeit und Angemessenheit sprachlicher Gestaltungs‐ mittel prüfen« (KMK 2004: 13), »verbale, paraverbale und nonverbale Gestaltungsmittel in unterschiedlichen kommunikativen Zusammenhängen analysieren, ihre Funktion beschreiben und ihre Angemessenheit bewerten« (KMK 2012: 21)). Und auch aktuelle Ländercurricula haben sprachkritische Betrachtungen z.T. sehr explizit berücksichtigt (Kilian et al. 2016: 168 f.). Nur gibt es bislang noch wenig Wissen zu linguistisch fundierter didakti‐ scher Sprachkritik unter Lehrkräften, denen laienlinguistische Sprachkritik offenbar besser vertraut ist als sprachdidaktische, sodass hier Nachholbedarf in der ersten und zweiten Ausbildungsphase besteht (Osterroth 2015: 115 ff., 134). 318 1 Schule und Deutschunterricht <?page no="319"?> 1.2.3 Kommunikative und Register-Kompetenz Die Aspekte der flexiblen, funktionalen Sprachvariation und Angemessen‐ heit sowie der Normengeltungsbereiche sind auch Bestandteil des Konzepts der kommunikativen Kompetenz. Kommunikativ kompetent ist eine Person in dieser Perspektive dann, wenn sie im Rahmen ihrer soziolinguistischen Register- und Varietätenkompetenz (Efing/ Sander 2022) über eine breite Normenkenntnis in verschiedenen Varietäten verfügt, wenn sie in der Lage ist, diese Normen im jeweiligen Normengeltungsbereich bzw. in der jeweiligen Situation grundsätzlich einzuhalten - und wenn sie aber gegebe‐ nenfalls auch dazu in der Lage ist, in bestimmten Situationen und auf Basis der Einsicht in die geltenden Normen diese Normen(grenzen) flexibel zu variieren, d. h. sie funktional (etwa zum Erregen von Aufmerksamkeit, zum Hervorheben …), spielerisch-kreativ, provokativ usw. zu überschreiten/ ver‐ letzen. Eine Person, die hierzu in der Lage ist, verfügt im Einzelnen insbesondere über: ● Sprachbewusstheit ● individuelles Repertoire ● innere Mehrsprachigkeit ● Stil- und Registerkompetenz als situativ funktionale Mehrsprachigkeit Diese genannten Kompetenzen sind elementare Teilkompetenzen des Kon‐ zepts der kommunikativen Kompetenz (Efing 2014), das schon lange ein übergeordnetes Leitziel des Deutschunterrichts ist. Im Fokus der Reflexion über Soziolekte sollte dabei v. a. die Frage der kommunikativen Angemes‐ senheit der Verwendung mit Bezug auf die Adressaten, das Ziel und die Situation von Kommunikation stehen. Hierbei geht es vornehmlich um rezeptive (Verstehen und soziostilistisches Interpretieren von Äußerungen) und analytische Fähigkeiten, die ausgebildet werden sollen. Gleichzeitig wird die »vielleicht wichtigste Eigenschaft« der Standardsprache herausge‐ arbeitet, nämlich die, »situations-, kontext- und weitgehend identitätsneut‐ ral« zu sein und dabei über »die größte lokale, situative und personelle Reichweite unter den Varietäten des Deutschen« zu verfügen und immer dann genutzt zu werden, »wenn nicht besondere Bedingungen für den Gebrauch einer Nonstandardvarietät vorliegen. Der Standard gilt somit als Default (Normalfall).« (Bredel/ Pieper 2015: 71 f.) 1.2 Soziale Sprachvariation im Sprachunterricht 319 <?page no="320"?> Die Lehrkraft sollte darüber hinaus über solide Kenntnisse über sozio‐ lektalen Sprachgebrauch in Deutschland verfügen, »und zwar für die Beur‐ teilung von Sprachgebrauch und Sprachleistungen von Schülern, für die Analyse und Kritik sprachlicher Lehrwerke sowie für die Konstruktion und Evaluation von Unterricht« (Neuland 2004: 2). 1.3 Zusammenfassung und weiterführende Literatur In diesem Kapitel wurde zunächst gezeigt, dass mit der frühen Soziolin‐ guistik in Deutschland überzogene Erwartungen einer pädagogischen Ver‐ wertung verbunden waren. Diese betrafen vor allem eine Anwendung der Sprachbarrierenforschung in den 1970er Jahren, insbesondere in Form einer kompensatorischen Sprachförderung im Vorschulbereich sowie in der Gesamtschule. Zu Lernzielen der Sprachkritik und der Normreflexion konnten soziolinguistische Erkenntnisse im Rahmen der kritischen Didaktik beitragen. Eine varietätenorientierte Didaktik entwickelte sich erst um die Jahrtausendwende, verbunden mit einer Aufwertung von Mündlichkeit und substandardsprachlichen Varietäten im kommunikativen Sprachunterricht. In diesem Kapitel wurde weiterhin gezeigt, dass Sprachunterricht nicht nur der Standard- und Bildungssprache verpflichtet ist, sondern dass auch die Thematisierung von Nonstandard-Varietäten insbesondere aus dem Bereich der Soziolekte ein wertvolles Thema ist. Dabei steht weniger im Vordergrund, dass die Schülerinnen und Schüler befähigt werden, diese Varietäten produktiv zu nutzen, sondern dass mittels der Reflexion von So‐ ziolekten im Vergleich zur Standardsprache Einsichten in die Berechtigung, Funktion und Grenzen von Varietäten und ihren Normen gewonnen und die Sprachbewusstheit und Sprachkritikfähigkeit geschärft werden. 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In diesem Kapitel wollen wir uns mit Schwerpunkten sprach‐ kritischer Einstellungen von Laien beschäftigen, und zwar wie Menschen in Deutschland über Sprache denken (→-Kap. 2.1) und demgegenüber Grundzüge der linguistisch begründeten Sprachkritik vorstellen (→-Kap. 2.2). Die Stärkung der sprachkritischen Kompetenzen in der Gesellschaft bildet eine wichtige Anwendungsperspektive für die Soziolinguistik. 2.1 Wie Menschen über Sprache denken: Schwerpunkte laienlinguistischer Sprachkritik 2.1.1 Umfrageergebnisse zu Spracheinstellungen Wie Menschen in Deutschland über Sprache denken, ist eine Themenstel‐ lung repräsentativer Umfragen nach der Jahrtausendwende zur Ermittlung derzeitiger Spracheinstellungen in der Gesellschaft. Einige bemerkens‐ werte Befunde sollen hier zur Diskussion gestellt werden (in Orientierung an: Projektgruppe Spracheinstellungen, Eichinger et al. 2009): 1. Bemerkenswert ist zunächst einmal, dass sich viele Bürger für die deutsche Sprache interessieren, und zwar zunehmend im zeitlichen Vergleich 1997/ 98 und 2008 (Abb. III.2.3). Nach Eichinger u. a. (2009) geben mehr als ein Drittel der Befragten (34,8 %) an, sich allgemein ›(sehr) stark‹ für sprachliche Fragen zu interessieren, abhängig vom Geschlecht (Frauen mehr als Männer), Alter (am stärksten die Jahrgänge 60+), Bildungsabschluss (je höher, desto größer). Auffällig häufig wird ein hohes Sprachinteresse bekundet von Befragten mit einer anderen Muttersprache als Deutsch (50,6 % ›(sehr) stark‹) und auch von <?page no="328"?> Personen mit Deutsch als Muttersprache, die einmal für längere Zeit im Ausland gelebt haben (63,7-% ›(sehr) stark‹). Eher unerwartet ist der hohe Prozentsatz (87 %) derjenigen, denen die deutsche Sprache (sehr) gut gefalle. Allerdings muss beachtet werden, dass die Fragen meist implizite Thesen beinhalten und die Antworten damit eher Zustimmungen suggerieren als freie Formulierungen (Abb. III.2.4). 2. Die meisten Befragten bekunden positive Gefühle wie Liebe (47 %) und Stolz (56 %) gegenüber der deutschen Sprache, während nur sehr wenige negative Gefühle wie Gleichgültigkeit (10 %) und Abneigung (5 %) äußern. Ältere Befragte empfinden mehr Liebe; Personen mit geringerem Bildungsabschluss empfinden mehr Stolz, aber auch mehr Abneigung und Gleichgültigkeit. 3. Die Frage, ob ihnen in den letzten Jahren Veränderungen in der deut‐ schen Sprache aufgefallen seien, bejaht die große Mehrheit der Befrag‐ ten (84 %); darunter insbesondere Personen mit höherem Bildungsab‐ schluss (95 % mit Abitur und Hochschulabschluss gegenüber 77 % der Befragten mit Hauptschulabschluss) sowie Personen mit höherem Sprachinteresse. Die Zahl ist insgesamt gegenüber der Erhebung von 1997/ 98 stark angestiegen. 4. Die aufgefallenen Veränderungen beziehen sich auf den Einfluss frem‐ der Sprachen (28 %), vor allem des Englischen (21 %), die (neue) Rechtschreibung (25 %), die Sprache der Jugend (15 %), mangelnde Sprachsorgfalt (12 %) und Weiteres. 5,4 % sprechen von einer Verküm‐ merung der Sprache (Abb. III.2.5). Viele dieser Ansichten kehren seit Jahren immer wieder. 5. Als Auslöser der Veränderungen werden die Medien genannt (37 %), Ausländer bzw. Migranten (26 %) sowie die Jugend (22 %) und weitere, darunter neue Medien (16-%) und Globalisierung (13-%). 6. Die Befragten bewerten diese von ihnen wahrgenommenen Entwick‐ lung überwiegend unentschieden (53 %: teil-teils), jedoch zu 30 % als (eher/ sehr) besorgniserregend und 16 % als (eher/ sehr) erfreulich. Die beiden letztgenannten Zahlen haben sich gegenüber der Erhebung von vor zehn Jahren leicht erhöht. 7. Eine große Mehrheit der Befragten (78 %) bejaht die Frage, ob mehr für die deutsche Sprache getan werden solle. 73 % derjenigen meinen, dass sich besonders Lehrkräfte, Schulen und Jugendeinrichtungen um solche Sprachpflege kümmern sollten. Erst an dritter Stelle, nach der 328 2 Sprachkritik und Gesellschaft <?page no="329"?> Politik (39 %), werden Eltern genannt (28 %). Diese Einstellung einer Verschiebung von Verantwortlichkeit auf andere stimmt nachdenklich. Abb. III.2.1: Interesse an Sprache (nach Eichinger et al. 2009: 8) Abb. III.2.2: Gefallen an der deutschen Sprache (ebd. 2009: 7) 2.1 Wie Menschen über Sprache denken: Schwerpunkte laienlinguistischer Sprachkritik 329 <?page no="330"?> Abb. III.2.3: Wahrgenommene Veränderungen (ebd. 2009: 37) 2.1.2 Populistische Sprachkritik und Sprachverfallsthese Wie sind solche Befunde aus soziolinguistischer Sicht zu deuten? Vieles verwundert nicht und deutet eingefahrene Tendenzen an. Die These eines Sprachverfalls (vgl. Denkler 2008, DU 5/ 2009) oder einer Verkümmerung der Sprache lebt immer wieder auf, ebenso wie die Besorgnis vor einer Überfremdung der Sprache und die Ansicht, dass der Sprachgebrauch Jugendlicher dafür einen Auslösefaktor bilde. Ob die Selbstaussagen über ein gestiegenes Sprachinteresse und eine ge‐ wisse Sprachsensibilität in der Öffentlichkeit Anlass für Optimismus bieten oder gar auf einen entemotionalisierenden Einfluss öffentlicher Stellung‐ nahmen wissenschaftlicher Institutionen verweisen, muss offenbleiben und bedarf weiterer Studien. 330 2 Sprachkritik und Gesellschaft <?page no="331"?> Schließlich wird die Verschlechterungsthese auch durch eine populisti‐ sche und medienwirksame Sprachkritik von Vereinen wie dem Verein Deutsche Sprache (VDS, ursprünglich Verein zur Wahrung der deutschen Sprache, gegr. 1997) und Einzelpersonen wie v. a. dem Journalisten Sick gefördert. Der Verein Deutsche Sprache verleiht alljährlich einen ›Kultur‐ preis Deutsche Sprache‹ (von der Schriftstellerin Kirsten Boie wurde er 2020 mit der Begründung rechtspopulistischer Tendenzen im VDS abgelehnt) sowie eine Negativauszeichnung ›Sprachpanscher des Jahres‹ (er kam 2021 der (mehrsprachigen) EU-Vorsitzenden von der Leyen zu). Er bekämpft Anglizismen und Gendergerechtigkeit im Sprachgebrauch und praktiziert eine aggressive Mitgliederwerbung. Niggemeier (2016) bescheinigte in ei‐ nem Kommentar die ›Pegidahaftigkeit‹ der vom VDS herausgegebenen Sprachnachrichten, in denen etwa gegen den »aktuellen Meinungsterror unserer weitgehend linksgestrickten Lügenmedien« gewettert wird. Seit seiner sprachpflegerischen Zwiebelfisch-Kolumne (2003) publiziert Sick laufend: So erschienen im Zeitraum 2004-2015 bislang sechs Bände von: Der Dativ ist dem Genetiv sein Tod; seit 2008 die ebenfalls bislang sechsbän‐ dige Reihe: Happy Aua - Ein Bilderbuch aus dem Irrgarten der deutschen Sprache. Seine Vermarktungsmaschinerie reicht von Jahreskalendern, CDs und Tourneen bis hin zu Fernsehshows. Von sprachwissenschaftlicher Seite werden seine im unterhaltsamen Witz vorgetragenen ›Sprachkuriositäten‹ als vereinfachend, normativ und teilweise auch fachlich falsch kritisiert, u. a. von Agel (2008) und Meinunger (Sick of Sick, 2008). Die öffentliche populistische Sprachkritik bemüht sich teilweise um einen wissenschaftlichen Anstrich, doch weist sie stets noch die kardinalen Fehlleistungen laienlinguistischer Sprachkritik auf, wie sie Schneider (2008) pointiert zusammenfasst: ● die Vermischung von Synchronie und Diachronie ● die weitgehende Ausblendung der Pragmatik ● die Verkennung des metaphorischen Sprachgebrauchs ● die Vernachlässigung medialer Unterschiede, insbesondere der Unter‐ schiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ● die starre Trennung zwischen ›Dialekt‹ und ›Hochsprache‹ 2.1 Wie Menschen über Sprache denken: Schwerpunkte laienlinguistischer Sprachkritik 331 <?page no="332"?> 2.1.3 Öffentliches Sprachbewusstsein Die populistische Sprachkritik übt einen problematischen Einfluss auf das öffentliche Sprachbewusstsein aus, wie es sich z. B. in Leserbriefen und Kommentaren und in Anfragen an Sprachberatungsstellen niederschlägt. Die geäußerte Kritik bezieht sich auf: ● die Rechtschreibreform: »Das ß als individueller und geschätzter deut‐ scher Buchstabe sollte das bleiben, was er immer war, sonst wird RECHTSCHREIBERISCHER Rückschritt bewirkt! « ● die Verwendung von »englischen Wörtern, die in irrsinnig großer Zahl in den deutschen Medien, wie auch in Funk und Fernsehen, tagtäg‐ lich verwendet und propagiert werden, obwohl sie zu einer besseren Verständigung wenig beitragen«. (authentische Zuschriften an den Vorstand des deutschen Germanistenverbands, s. Neuland 1996: 110). Mit Fleiß werden Beispiele mit deutschen ›Entsprechungen‹ zusammen‐ getragen: Strandverein für Beach Club, kleiner Rempler für Bodycheck, Anrufdirne für Callgirl, kühl für cool usf. Schließlich noch eine selbsterlebte Erfahrung; Aha, Sie beschäftigen sich mit der deutschen Sprache? Da haben Sie aber eine wichtige Aufgabe, dafür wird doch viel zu wenig getan! Heute kann doch kaum mehr einer richtiges Deutsch: Konjunktiv, Genitiv … Lernen die eigentlich in der Schule noch Grammatik? Aber das beherrschen die Deutschlehrer auch nicht mehr wie früher … Wissen Sie, was ich neulich gelesen habe? Der Düsseldorfer Delikatessenhändler kann sich bei den von ihm entdeckten vermeintlichen Symptomen des Sprachverfalls in Rage reden. In seinem Laden hängt ein handgeschriebenes Schild: Abb. III.2.4: ›Knabberein‹? Die eigenen Fehler, hier der Pluralbildung und Orthographie, werden nicht erkannt. 332 2 Sprachkritik und Gesellschaft <?page no="333"?> Sprachthematisierungen von Laien sind im Alltag oft zu hören und zu lesen. Aus sprachpflegerischen Motiven und der Sorge um den ›Sprachverfall‹ werden von Fachleuten sprachnormierende Eingriffe gefordert, über die meist schon genaue Vorstellungen vorherrschen: Die ›richtige‹, nämlich gewohnte Sprache als Sinnbild der Kultur zu bewahren. Ein solch vortheoretisches, alltagsweltliches Sprachbewusstsein, von Lingu‐ isten als »Wahn vom Sprachverfall und andere Mythen« bezeichnet (Klein 1986), führt zu Vorurteilen und Fehlschlüssen wie: ● Sprachkompetenz wird auf die zumeist schriftsprachliche Beherrschung von Grammatik und Orthographie reduziert. ● Diese werden nach vermeintlich allgemeingültigen und unveränderba‐ ren Normen geregelt. ● Systematische Abweichungen in Dialekten und Soziolekten werden als ›Fehler‹, diese wiederum als Zeichen für Intelligenz- und Bildungsmän‐ gel angesehen. ● Sprachentwicklung wird im Rahmen einer Dekadenzvorstellung als ›Sprachverfall‹ gewertet. ● Sprache selbst wird nicht als Summe von Konventionen oder Gebräu‐ chen angesehen, sondern als ein ›Haus‹ oder ›Gebäude‹ vergegenständ‐ licht, das ohne pflegendes und reinigendes Bemühen verkomme und verwildere. Neuland hat das hinter solchen Meinungen über Sprache stehende Sprachbe‐ wusstsein ein ›Sprachdefizit- und Sprachmängelbewusstsein‹ genannt, demzufolge es um die Kritik der Sprache anderer, der heutigen Jugend, der Presse, der Politiker und um das Bewahren einer ›richtigen‹ Sprache geht. Kulturanalytisch gesehen kann sich eine solche Bewusstseinsbildung auch als eine Folge der individuellen wie kollektiven Verarbeitung von konkreten, historisch-gesellschaftlichen Veränderungen der Sprachanforderungen und Kommunikationsgewohnheiten einstellen: ● Die restriktive Vorstellung von Sprachkompetenz und hohe Wertschät‐ zung von grammatischer und orthographischer Korrektheit als eines vermeintlich leicht identifizierbaren Maßstabs für Sprachleistungen können also gerade mit dem Beharren auf der Differenzierungs- und 2.1 Wie Menschen über Sprache denken: Schwerpunkte laienlinguistischer Sprachkritik 333 <?page no="334"?> Selektionsfunktion von Sprachnormen für Sprachleistungen erklärt werden. ● Ebenso kann die Kritik an Normverstößen Jugendlicher auch als Folge einer Verunsicherung über die ins Wanken geratene Geltungskraft und Orientierungsfunktion von Sprachnormen angesehen werden. Ähnliche Motive mögen den heftigen Abwehrreaktionen auf Vorschläge zur Rechtschreibreform zugrunde liegen. ● Nicht zuletzt leistet aber der linguistisch wie didaktisch äußerst frag‐ würdige Markt der sogenannten ›Sprachratgeber‹ der allgemeinen Verunsicherung und der Bildung eines Sprachnorm- und Sprachmän‐ gelbewusstseins Vorschub. Die populistische Sprachkritik übt indirekt eine problematische Sprachberatung aus, indem sie von einem besserwisserischen Stand‐ punkt aus Urteile über Sprache vorwegnimmt. Als eine ›Sprachkritik von oben‹ geht es ihr weniger um eine Urteilsbildung linguistischer Laien und die Schaffung eines sprachkritischen Bewusstseins als um eine Pflege der Sprache selbst und um deren Bewahrung vor einem vermeintlichen Sprachverfall. Damit wenden wir uns nicht gegen eine ›Laienlinguistik‹, doch sollte diese möglichst wissenschaftlich begründbar sein, wie im Folgenden gezeigt wird. Sprachberatung kann damit als eine wichtige Aufgabe einer anwendungs‐ orientierten Linguistik angesehen werden, wodurch auch das problemati‐ sche Verhältnis von Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit in Deutschland verbessert und falsche Erwartungen korrigiert werden könnten (s. Stickel 1998). 2.2 Sprachkritik aus linguistischer Perspektive 2.2.1 Sprachreflexion und Sprachkritik Laienäußerungen über Sprache sind von jüngeren Entwicklungen einer pragmatisch orientierten Sprachwissenschaft und Sprachkritik in ein neues Licht gerückt worden. In Abwandlung des Goethe-Zitats: »Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch über Sprache sprechen zu können.« stellte von Polenz 334 2 Sprachkritik und Gesellschaft <?page no="335"?> das Postulat auf: »Ein jeder, weil er spricht, darf und soll auch über Sprache sprechen können.« und führt aus: Das Reflektieren über Sprache, die Metakommunikation, ist durchaus nicht ein Privileg von Sprachwissenschaftlern, sondern gehört zur hinreichend entwickel‐ ten Sprachbeherrschung aller Sprachbenutzer dazu, die einen großen Teil ihrer gesellschaftlichen Arbeit auf relativ ausdrückliche sprachliche Weise zu bewälti‐ gen haben. Das gilt nicht nur für die berufliche Arbeit von Wissenschaftlern aller Fachrichtungen, sondern auch für die von Lehrern, Journalisten, Schriftstellern, Juristen, Geistlichen, Vorsitzenden von Gremien, Moderatoren und nicht zuletzt von Müttern, Vätern und anderen Erziehern. (von Polenz 1980: 9) Von Polenz hat im Rückgriff auf Saussure und Coseriu wichtige Bereiche einer wissenschaftlichen Sprachkritik unterschieden und damit den Grundstein einer durch die kommunikative Ethik linguis‐ tisch begründeten Sprachkritik gelegt (1982/ 1973), die später von Heringer, Keller, Stötzel, Wimmer et al. (1982) sowie Heringer und Wimmer (2015) in ihrer Einführung mit vielen Beispielen veranschau‐ licht wurde. Heringer resümiert in seinem einführenden Beitrag: Sprachkritik - die Fortsetzung der Politik mit besseren Mittel: Sprachkritik ist nichts für Experten, Sprachkritik ist etwas für alle. Jeder muss qua Teilhaber kritisch sein gegenüber seinem Sprechen, reflektierter reden und zuhören. (Heringer 1982: 31) Durch die linguistisch begründete Sprachkritik wird diese ehemals wegen ihrer subjektiven Kriterien von Gefallen und Geschmack verpönte Richtung der Sprachwissenschaft wieder und neu in ihr Recht gesetzt. Die Geschichte der Sprachkritik zeichnet Schiewe (1998) nach, Dieck‐ mann verfolgt Wege und Abwege der Sprachkritik (1992, 2012), Kilian, Niehr und Schiewe charakterisieren Ansätze und Methoden kritischer Sprachbe‐ trachtung und stellen das Kriterium der funktionalen Angemessenheit des Sprachgebrauchs zur Diskussion (2016). Das Handbuch Sprachkritik dieser Autorengruppe informiert über den aktuellen Forschungsstand des weiten Feldes der modernen Sprachkritik mit einer Systematik der Ord‐ nungsfelder von der Kritik am Wort über Text und Stil, Diskurs und kom‐ 2.2 Sprachkritik aus linguistischer Perspektive 335 <?page no="336"?> munikatives Handeln (2020). Neue Perspektiven für die Sprachkritik werden auch mit dem Sprachgebrauch in sozialen Medien eröffnet: Hassreden, Cyber-Mobbing, Shitstorms im Internet sind neue Gegenstandsfelder der Sprachkritik (Dürscheid 2020, Marx 2017; →-Kap. II.8). 2.2.2 Sprachkritik von unten Nach der Devise: »Sprachkritiker sind wir doch alle« sei ein letztes Wort zu einer aufklärerischen Sprachkritik angeschlossen, das auch die Bedeutung von Sprachunterricht betonen soll (vgl. Neuland 1993; → Kap. III.1): Als ›Sprachkritik von unten‹ ist sie durch ein normkritisches Sprachdiffe‐ renz- und Sprachselbstbewusstsein gekennzeichnet: Neuland kontras‐ tiert die beiden weiter oben erwähnten Sichtweisen einer Sprachkritik von oben und einer Sprachkritik von unten von Sprachkritik wie folgt (1996: 117): Sprachkritik von oben Sprachkritik von unten eher normbezogen eher normkritisch Grundlage: Hochbzw. Standardspra‐ che Grundlage: muttersprachliche Mehr‐ sprachigkeit d.-h. der Standard und die Varietäten Thema: fremder Sprachgebrauch mit seinen (oft nur vermeintlichen) Män‐ geln Thema: die eigene Sprache und deren soziale Bedeutung Zielrichtung: eher objektivistisch auf die ›Sprache an sich‹ Zielrichtung: eher identifikatorisch und selbstreflexiv auf den eigenen Sprach‐ gebrauch Orientierung: sprachpflegerischsprachbewahrend Orientierung: innovativ, Sprachent‐ wicklung und Sprachwandel auslösend Tab. III.2.1: Sprachkritik von oben vs. Sprachkritik von unten Die soziolinguistische Deutung legt nahe, dass im Prozess des derzeitigen kulturellen und sprachlichen Wandels der Faktor des Bewusstseins von Sprachunterschieden und von eigenen Sprachen als Symbole sozialer Iden‐ titäten für die Wahl des eigenen und die Wertung fremden Sprachgebrauchs zunehmend relevant wird (Neuland 1996: 117). 336 2 Sprachkritik und Gesellschaft <?page no="337"?> Indikatoren für ein Sprachdifferenzbewusstsein lassen sich heute zu‐ nehmend in Prozessen eines ›Sprachwandels von unten‹ in Form von Neuem Substandard, regionalen Umgangssprachen, jugendlichen Gruppen‐ sprachen und gendergerechtem Sprachgebrauch finden (→-Kap. III.3). 2.3 Zusammenfassung und weiterführende Literatur In diesem Kapitel wurden zunächst Schwerpunkte laienlinguistischer Sprachkritik, wie sie in Umfrageergebnissen zu Spracheinstellungen und in populistischer Sprachkritik zutage tritt und das öffentliche Sprachbewusst‐ sein beeinflusst, vorgestellt. Solchen auf Abweichungen von der Standard‐ sprache und auf Sprachdefizite und Sprachmängel fokussierten Einstellun‐ gen wurden Positionen der Sprachkritik aus linguistischer Perspektive und eine Sprachkritik von unten entgegengestellt, die eine Reflexion auch des eigenen Sprachgebrauchs und eine Orientierung an Variation des Standards einschließt. Literatur (weiterführend) Denkler, Markus (Hg.) (2008): Frischwärts und unkaputtbar. Sprachverfall oder Sprachwandel im Deutschen. Münster. Der Deutschunterricht 5 (2006): Sprachkritik: Neue Entwicklungen. hgg. u. eingel. von Eva Neuland. Heringer, Hans Jürgen/ Wimmer, Rainer (2015): Sprachkritik. Eine Einführung. Pa‐ derborn. Literatur (gesamt) Agel, Vilmos (2008): Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleiches Duell. In: Info DaF 35, 64-84. Böke, Karin/ Jung, Matthias/ Wengeler, Martin (Hg.) (1996): Öffentlicher Sprachge‐ brauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Opladen. Der Deutschunterricht 5 (2009): Sprachverfall. hgg. v. Peter Schlobinski. Dieckmann, Walther (1992): Sprachkritik. Heidelberg. Dieckmann, Walther (2012): Wege und Abwege der Sprachkritik. Bremen. Dürscheid, Christa (2020): Internet-Sprachkritik. In: Niehr, Thomas/ Kilian, Jörg/ Schiewe, Jürgen (Hg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart, 326-332. 2.3 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 337 <?page no="338"?> Eichinger, Ludwig/ Gärtig, Anne-Kathrin/ Plewnia, Albrecht/ Rothe, Astrid (2009): Wie Menschen in Deutschland über Sprache denken: Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentationserhebung zu aktuellen Spracheinstellungen. Mannheim. Heringer, Hans Jürgen (Hg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. Heringer, Hans Jürgen/ Wimmer, Rainer (Hg.) (2015): Sprachkritik. Eine Einführung. Paderborn. Kilian, Jörg/ Niehr, Thomas/ Schiewe, Jürgen (2016): Sprachkritik. Ansätze und Me‐ thoden der kritischen Sprachbetrachtung. Berlin/ Boston. Klein, Wolfgang (1986): Der Wahn vom Sprachverfall und andere Mythen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 62, 11-28. Krämer, Walther (2000): Modern Talking auf Deutsch. Ein populäres Lexikon. Mün‐ chen. Marx, Konstanze (2017): Diskursphänomen Cybermobbing. Ein internetlinguistischer Zugang zu [digitaler] Gewalt. Berlin/ Boston. Meinunger, André (2008): Sick of Sick. Ein Streifzug durch die Sprache als Antwort auf den Zwiebelfisch. Berlin. Neuland, Eva (1993): Sprachbewusstsein und Sprachvariation. Zur Entwicklung und Förderung eines Sprachdifferenzbewusstseins. In: Klotz, Peter/ Sieber, Peter (Hg.): Vielerlei Deutsch. Umgang mit Sprachvarietäten in der Schule. Stuttgart. Neuland, Eva (1996): Sprachkritiker sind wir doch alle! Formen öffentlichen Sprach‐ bewusstseins. Perspektiven kritischer Deutung und einigen Folgerungen. In: Böke, Karin/ Jung, Matthias/ Wengeler, Martin (Hg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Opladen, 110-121. Niehr, Thomas/ Kilian, Jörg/ Schiewe, Jürgen (Hg.) (2020): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart. Polenz, Peter von (1980): Wie man über Sprache spricht. Über das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher und natürlicher Beschreibungssprache in Sprachwissenschaft und Sprachlehre. Mannheim. Polenz, Peter von (1973/ 1982): Sprachkritik und Sprachnormenkritik. In: Heringer, Hans Jürgen (Hg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprach‐ kritik. Tübingen, 70-94. Projektgruppe Spracheinstellungen (2009): Aktuelle Spracheinstellungen in Deutsch‐ land. Erste Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage. Mannheim. Schiewe, Jürgen (1998): Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München. 338 2 Sprachkritik und Gesellschaft <?page no="339"?> Schneider, Jan Georg (2005): Was ist ein sprachlicher Fehler? Anmerkungen zu populärer Sprachkritik am Beispiel der Kolumnensammlung von Bastian Sick. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 2, 154-177. Schneider, Jan Georg (2008): Das Phänomen Zwiebelfisch. Bastian Sicks Sprachkritik und die Rolle der Linguistik. In: Sprachdienst 4, 172-180. Schneider, Jan Georg (2020): Grammatische Normen in populärer Sprachkritik und linguistisch fundierter Zweifelsfall-Beratung. In: Niehr, Thomas/ Kilian, Jörg/ Schiewe, Jürgen (Hg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart, 376-383. Sick, Bastian (2016): Der Dativ ist dem Genetiv sein Tod. Ein Wegweiser durch den Irrgarten der deutschen Sprache. Folge 4-6. Köln. Sick, Bastian (2021): Wie gut ist Ihr Deutsch? Dem großen Test sein dritter Teil. Köln. Stickel, Gerhard (Hg.) (1998): Sprache - Sprachwissenschaft - Öffentlichkeit. Ber‐ lin/ New York. Internetquelle Niggemeier, Stefan (2016): Über die Pegidahaftigkeit des Vereins Deutsche Sprache. Abrufbar unter: https: / / uebermedien.de/ 7099/ die-pegidahaftigkeit-des-vereins-d eutsche-sprache/ (Stand: 01/ 01/ 2022) 2.3 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 339 <?page no="341"?> 3 Soziolinguistik und Sprachwandel Die folgenden Kapitel gehen von einem weiten Begriff von Sprachge‐ brauchswandel aus (→ Kap. I.2.3). Wir verfolgen damit einige der in Kapitel II ausgeführten Aspekte und wollen Anregungen für vertiefte Auseinander‐ setzungen bieten. Bereits in der Tradition der deutschen Sondersprachforschung wurde der Einfluss von Fach- und Sondersprachen auf die Gemeinsprache verfolgt. Diese wurden als Quelle der Erneuerung positiv bewertet, was insbeson‐ dere für die Jugendsprache galt, wie es mit folgendem Zitat von John Meier für den Einfluss der historischen deutschen Studentensprache auf die Gemeinsprache veranschaulicht und später bei von Polenz (1999: 466 f.) konkretisiert wird: (Meier 1894, S. 1) Zitat John Meier 1894: 1 Die soziolinguistische Analyse von Sprachwandel ist noch heute ein theore‐ tisch wie empirisch schwieriges Unterfangen. Folgt man Kellers Auffassung (1990: 80 ff.), dass natürliche Sprachen als »Phänomene der dritten Art« weder reine Naturphänomene noch Artefakte darstellen und der Sprach‐ wandel ein invisible hand-Phänomen ist, unabhängig von menschlicher Intention, so können wir Sprachwandel weder als intendiert noch als in ir‐ gendeiner Weise bewusst beeinflussbar ansehen, wie etwa die Sprachpolitik. Dem wollen wir soziolinguistische Auffassungen von Sprachwandel, aber <?page no="342"?> auch von Sprachkritik, Sprachplanung und Sprachunterricht entgegenstel‐ len. Greifen wir die Labov’sche Unterscheidung des Wandels aufgrund des Drucks von oben und des Drucks von unten (→ Kap. I.2.4.2). auf, so liegt bei den von uns vorgesehenen Schwerpunkten der Jugend- und Gruppensprachen ein Wandel von unten vor, da Innovationen im Sprach‐ gebrauch ungesteuert und unbeabsichtigt durch Gruppen von Sprachbe‐ nutzern eingeführt werden und sich verbreiten. Bei den Maßnahmen der Einführung geschlechtergerechten Sprachgebrauchs sind es umgekehrt bewusst eingeleitete Prozesse des Wandels von oben, die durch Richtlinien und behördliche Vorgaben gelenkt werden. 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen Es gehört zu den weitverbreiteten Vorurteilen über Sprache in der Öffent‐ lichkeit (→ Kap. III.2), dass Jugendliche mit ihrem spezifischen Sprach‐ gebrauch die Standardsprache negativ beeinflussen. So schlussfolgert die repräsentative Umfrage der Gesellschaft für deutsche Sprache: »Die Mehrheit der Bevölkerung (65 %) ist der Ansicht, dass Jugendliche heute die deutsche Sprache schlechter beherrschen als Gleichaltrige vor 10, 20 Jahren.« (2008: 11) Unter den Gründen, warum die deutsche Sprache immer mehr zu verkommen droht, wird genannt, dass-… ● »viele Eltern heute weniger Wert darauflegen, dass ihre Kinder gut Deutsch können (41-%); ● in der Schule weniger darauf geachtet wird, den Kindern die deutsche Sprache beizubringen (22-%)«; ● »beim Austausch von SMS oder E-Mails wenig auf eine gute Ausdrucks‐ weise geachtet wird« (48-%). Es ist allerdings ausgesprochen schwierig, den Einfluss von Jugend- oder Gruppensprachen statistisch einwandfrei nachzuweisen. Welche Kriterien können zugrunde gelegt werden, ab welcher Auftretenshäu‐ figkeit und welcher Auftretensverteilung kann man von einem Wan‐ del sprechen? Dies stellt ein generelles Problem einer empirisch basierten Sprachwandelforschung dar. 342 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="343"?> Die Ansicht, dass der Sprachgebrauch Jugendlicher heute schlechter ge‐ worden ist, wird auch von Lehrkräften vertreten, wie die Studien von Neuland et al. (2020) belegen: Hat sich Ihrer Ansicht nach das Höflichkeits‐ verhalten der Schüler in der Vergangenheit geändert? Wenn ja, in welcher Hinsicht [N-= 129] Kategorie Rang Antworten % der Fälle abs. % Ton ist rauer geworden (z.-B. Zunahme von Beleidigungen) 1 28 27,5 21,71 Schüler sind respekt- und distanzloser geworden 2 22 21,6 17,05 Sprachverhalten hat sich verändert (z.-B. Unhöfliches wird nicht mehr als solches wahrgenommen) - 22 21,6 17,05 Türen werden nicht aufgehalten 4 3 2,9 2,33 Lehrer werden seltener gegrüßt - 3 2,9 2,33 Sonstiges - 24 23,5 18,61 Gesamt - 102 100 79,09 Tab. III.3.1.1: Meinungen von Lehrkräften über Höflichkeitswandel bei Schülern (Neuland et al. 2020: 128) Beispieläußerungen: ● »Es wird schnell beleidigt, geschlagen, Beleidigungen gehen häufig unter die Gürtellinie. Türen werden nicht aufgehalten, SuS missachten gezielt die Regeln, man wird als Lehrer schnell beschimpft« (Lehrerin, Gesamtschule, 0-5 Dienstjahre) ● »Die Höflichkeit gegenüber Lehrkräften hat ein wenig nachgelassen, die Höflichkeit der SuS untereinander stärker« (Lehrer, Gesamtschule, 0-5 Dienstjahre). Weiteren Fragen ist zu entnehmen, dass Höflichkeit ein relatives Moment in der Kommunikation ist: Schüler äußern sich klar, wenn Lehrkräfte sich höflich ihnen gegenüber verhalten, würden sie sich auch so gegenüber den Lehrkräften verhalten. Viele Schüler (32 %) gaben an, von Lehrkräften schon 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen 343 <?page no="344"?> einmal unhöflich angesprochen worden zu sein. Und Lehrkräfte gestehen auch, sich in Situationen von Stress Schülern gegenüber unhöflich verhalten zu haben (Neuland et al. 2020: 101), z.B.: ● Ohnmacht angesichts ununterbrochener Regelbrechung innerhalb meh‐ rerer aufeinander folgender Stunden (Lehrerin, Gymnasium) ● aus Wut, Verzweiflung (Lehrer, Realschule). Schließlich ist hervorzuheben, dass sich Schüler und Lehrkräfte in der Ein‐ schätzung der Bedeutsamkeit von Höflichkeit kaum unterscheiden: Höflichkeit wird in beiden Probandengruppen mit Respekt und gutem Benehmen gleichgesetzt. Einer gewählten Ausdrucksweise wird sogar von den Schülern hochsignifikant eine größere Rolle zugeschrieben als von den Lehrkräften. Die Kategorie Etikette steht an letzter Stelle der Auswahlant‐ worten; der Begriff ist den Schülern oft unbekannt (Neuland et al. 2020: 44). Kategorie Schüler Lehrkräfte Sig. M SD M SD Respekt 2,62 0,71 2,4 1,55 ,68 Gutes Benehmen 2,45 0,81 2,14 1,59 ,16* Gewählte Aus‐ drucksweise 1,94 1,15 1,04 1,5 <,001** Etikette 1,61 1,29 -0,07 1,9 <,001** Tab. III.3.1.2: Bedeutung von Höflichkeit bei Schülern und Lehrkräften (Neuland et al. 2020: 44) 3.1.1 Beispiele aus Pragmatik, Lexik und Semantik Wie aber hat sich die Jugendsprache genauer auf die Gemeinsprache ausge‐ wirkt? Dazu greifen wir auf Erhebungen zurück, die in den Wuppertaler Studien zur deutschen Schülersprache (Neuland 2016) durchgeführt wurden. Generell lässt sich konstatieren, dass der Einfluss der Jugendsprache in der Öffentlichkeit weit überschätzt wird. Dabei wird zwar auf Einzel‐ beispiele verwiesen, doch empirische Belege fehlen weitgehend. Folgende wissenschaftlich zuverlässige Möglichkeiten stehen zur Verfügung: 344 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="345"?> ● Man kann die Indizierungen: jugendsprachlich in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache und ihre Entwicklungen in den verschie‐ denen Neuauflagen vergleichen. ● Weiterhin kann man das Auftreten jugendsprachlicher Ausdrücke in verschiedenen Korpora der deutschen Gegenwartssprache und ihre Ver‐ änderung zu bestimmten Zeiten überprüfen. Jedes Mal stellt sich aber zunächst schon die Frage, ob die jugendsprach‐ lichen Ausdrücke und ihre Bedeutungsbeschreibungen und Verwendungs‐ kontexte authentisch erhoben und zuverlässig erfasst wurden. Der Rückgriff etwa auf die Jugendwörter des Jahres ist absolut unzulässig, da diese Beispiele oft eigens für diesen Zweck erst konstruiert wurden und Jugendlichen selbst nicht bekannt sind, geschweige denn von Jugendlichen benutzt würden. Ähnliches gilt für die jugendsprachlichen Markierungen der Lexikogra‐ phie. Sie erfolgen zumeist intuitiv, zumal die stilistischen Unterscheidungen von umgangssprachlich, salopp oder Jargon ebenso willkürlich sind. Und eine Korpusanalyse kann stets nur so gut sein, wie es das Korpus ermöglicht: Liegen geschriebene oder gesprochene Texte zugrunde, belle‐ tristische, wissenschaftliche oder populärwissenschaftliche Texte, regionale oder überregionale Zeitungen u. a. m., konnten alle Jahrgänge und damit diachrone Entwicklungen kontinuierlich erfasst werden? Und nicht zuletzt: Aussagen über pragmatische Wendungen und sprachliche Umgangsformen, wie sie z. B. beim Begrüßen und Verabschieden, gerade auch im außer‐ sprachlichen Bereich (z. B. Umarmungen, Wangenküsse) zumindest vor der Corona-Pandemie zunehmend zu beobachten waren, können auf diese Weisen natürlich nicht erfasst werden, ebenso wenig phonetische und paraverbale Bestandteile der Kommunikation. Abgesehen von diesen einschränkenden Bemerkungen sind in den Wup‐ pertaler Studien folgende Ergebnisse zu Vorkommenhäufigkeiten und Verwendungstypen jugendsprachlicher Ausdrucksformen mit Hilfe einer Cosmas II-Analyse des Deutschen Referenzkorpus der geschriebenen Sprache des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache erarbeitet worden, und zwar im Hinblick auf: ● die Vorkommenhäufigkeit des Simplex und die Produktivität der Flexi‐ onsformen und der Wortbildung ● die Erstverwendung in jugendsprachlicher Markiertheit ● die diachronen Veränderungen der Vorkommenhäufigkeit 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen 345 <?page no="346"?> Das sei an ausgewählten Beispielen verdeutlicht, die aus den im Korpus enthaltenen Tageszeitungen stammen, und zwar die Wertungsausdrücke cool und geil, der Klassifikationsausdrucks Tussi und der Anglizismus chillen. Item Simplizia (tokens) Wortformen (types) Vorkommens‐ häufigkeit in al‐ len Wortformen cool 117.271 6.886 246.625 geil 35.684 5.330 105.315 Tussi 1.739 1.676 16.036 Tab. III.3.1.3: Jugendsprachliche Ausdrücke nach Auftretenshäufigkeit im DeReKo (gekürzt, Stand 5/ 2021) Betrachtet man das Verhältnis von Frequenz und Produktivität, so lässt sich im Fall Tussi eine hohe Wortbildungsaktivität (z. B. Dorftussi, belegt 1993) bei vergleichsweise geringer Vorkommenshäufigkeit nachweisen. Dies ent‐ spricht dem Befund, dass der Gebrauch dieses Ausdrucks bei Jugendlichen als relativ gering angegeben wurde (m = 2.65 auf einer Skala von 1 bis 5), obwohl Tussi in der Öffentlichkeit als eine der markantesten jugendsprach‐ lichen Neuerungen gelten mag. Hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeit als auch der Wortbildungsaktivität weist der Ausdruck cool die höchsten Werte auf, was als Indiz für die häufigere Verwendung von cool als Simplex gelten kann. Cool kann übrigens auch als ein Internationalismus bezeichnet werden, da er für viele Sprachen mit nationaltypischer Schreibung/ Lautung belegt wird. Betrachten wir die belegte Erstverwendung der Ausdrücke im DeReKo in ihrer substandardsprachlichen Verwendung: ● cool: Erstbeleg im Mannheimer Morgen 4.1.1985: Dies entspricht durch‐ aus dem Streben von Jugendlichen, besonders »cool« zu wirken. ● Tussi: Erstbeleg in der Süddeutschen Zeitung 4.4.1992: Der androgyne Schauspieler (…) schlüpft in die unterschiedlichsten Frauentypen: Domina, Showstar, Tussi, Heimchen oder Ballerina. ● Chillen: Erstbeleg: Rhein-Zeitung 19.8.1996: Gefallen hat mir besonders der Ambient-/ Goa- Garden mit richtig guter Musik zum chillen. 346 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="347"?> Die Analyse demonstriert zudem, dass frühe Verwendungen substandard‐ sprachlicher Ausdrücke häufig mit Anführungszeichen markiert werden, was schon von Zimmermann (2003) und von Androutsopoulos (2005) als Zitat- und Distanzierungsfunktion einer Fremdperspektive gewertet wurde, die später in eine unmarkierte Eigenperspektive übergehen kann. Werfen wir abschließend noch einen Blick auf diachrone Entwicklungen der Ausdrücke im Korpus. Das soll hier am Beispiel von Tussi gezeigt werden: 0 0,5 1 1,5 2 1990er 2000er 2010er 2020er Tussi Abb. III.3.1.1: Entwicklung der Verwendungshäufigkeit von „Tussi“ im DeReKo (Stand 5/ 21) Entwicklung jugendsprachlicher Ausdrücke Viele jugendsprachliche Ausdrücke weisen die Tendenz auf, im Zeit‐ raum der frühen 2000er Jahre den Zenit ihrer Nennungshäufigkeit erreicht zu haben und danach in ihrer Präsenz im Korpus wieder abzunehmen. Nach diesem Höhepunkt scheinen die Innovationen in den öffentlichen Texten etabliert. Dazu mag die Popularisierung des Themas Jugendsprache in den öffentlichen Diskussionen ebenso beigetragen haben wie die Kommerzialisierung des Themas durch die Verbreitung von Jugendsprache- und Szenelexika auf dem Buchmarkt. Cool ist der in den Wuppertaler Studien meistgenannte und am flexibelsten verwendete jugendtypische Ausdruck ohne standardsprachliche Entspre‐ 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen 347 <?page no="348"?> chung im Deutschen. Fast alle befragten 1.200 Jugendlichen gaben an, den Ausdruck zu kennen, der Gebrauch wurde auf einer Spanne von 0 (nie) bis 5 (immer) mit m = 3.69 mit einer besonderen Präferenz der jüngsten Altersgruppe von 10 bis 14 Jahren angegeben. Das Lexem cool scheint auch in geschriebenen Texten nicht nur eine hohe Produktivität zu besitzen, sondern darüber hinaus zur Konstruktion von Okkasionalismen und ad hoc-Bildungen verwendet zu werden. Bei ca. der Hälfte der Korpusbelege handelt es sich um singuläre Vorkommen (z. B. buschmanncool, belegt in der taz 1989). Auch wird das Simplex in mehreren graphischen Varianten geschrieben, darunter die Versalienalternative COOL. Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die Aufnahme und Markie‐ rung jugendsprachlicher Ausdrücke in Wörterbüchern der deutschen Standardsprache. Im Gegensatz zur Verwendung jugendsprachlicher Le‐ xik in belletristischen und journalistischen Texten kommt der Neuaufnahme eines Ausdrucks in wissenschaftlichen Wörterbüchern eine weit höhere Bedeutung und Verbindlichkeit zu: Durch ihre Kodifizierung werden sie zum offiziellen Bestandteil des Wortschatzes der deutschen Standard- und Schriftsprache. Im Folgenden wird dokumentiert, welche diachrone Entwicklung aus‐ gewählte jugendsprachliche Ausdrücke, darunter cool und Tussi in unter‐ schiedlichen Auflagen des Duden Universalwörterbuchs in den 30 Jahren von 1983 bis 2011/ 13 durchlaufen haben. Beide Ausdrücke waren seit den achtziger Jahren (cool: seit 1983, Tussi: seit 1989) im Duden (s. duden.de) verzeichnet mit dem Index: salopp; andere jugendtypische Ausdrücke auch mit dem Index: jugendsprachlich, wie Prolo, ätzend, geil, krass, chillen. Daneben stellt sich die Frage nach den Bedeutungszuschreibungen. Während zunächst eine neutral wertende Bedeutung angegeben wurde: weibliche Person, mit der ein Mann befreundet ist, ist heute die negative Einschränkung zu lesen: (auf ihr Äußeres sehr bedachte, oberflächliche, selbstbezogene) weibliche Person. Diese einschrän‐ kende Bedeutung trägt den empirischen Gebrauchsfeststellungen der Ju‐ gendsprachforschung Rechnung. Aufschlussreich ist auch die Bedeutungsveränderung des Ausdrucks schwul. Während in den Wörterbüchern noch auf die Bedeutung: männlicher Homosexueller Bezug genommen wird und auch die als jugendsprachlich angegebene Bedeutung: in Verdruss, Ärger, Ablehnung hervorrufender Weise schlecht, unattraktiv, uninteressant (s. duden.de), treffen solche Zuschreibun‐ gen die authentische Wertungsäußerung: »Voll schwul, die Kappe! « schon 348 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="349"?> nicht mehr - allenfalls im übertragenen Sinne: abwertend als weibisch. Die Umwertung eines ursprünglich negativ besetzten Ausdrucks in einen positiven wird auch als Reklamation bezeichnet. Auch als Schimpfwort oder in der Scherzkommunikation konnotiert der Ausdruck schwul oft noch fragwürdige diskriminierende Einstellungen gegenüber Homosexualität und konnotiert ›weibisch‹ quasi immer. 3.1.2 Tendenzen der Destandardisierung und Informalisierung Den Zusammenhang von Jugendsprache und Standardsprache im Prozess des Sprachwandels hat Neuland in folgendem Modell veranschaulicht: Jugendliche erschaffen kaum völlig neue Ausdrucksweisen; vielmehr grei‐ fen sie auf den Bestand und die Regeln der Gemeinsprache zurück. Ihre Innovationen entstehen: ● entweder durch Veränderung von Wortformen bzw. deren Bestand‐ teile, die in der Standardsprache bereits existieren, z. B. Tussi aus Thusnelda, ● oder sie entstehen aus inhaltlichen, semantischen Veränderungen, z. B. geil mit einer Bedeutungserweiterung von geschlechtlich erregt zu einer allgemein positiven Wertung. ● Schließlich nutzen Jugendliche viele Anglizismen wie cool oder chillen, die über die Jugendsprache Eingang in die Standardsprache finden. Sprachwandel vollzieht sich nach diesen Modellvorstellungen in einem Kreislauf mit zwei gegenläufigen Prozessen der Stilbildung und Stilverbrei‐ tung (vgl. J. Clarke 1979). Die Stilbildung Jugendlicher entsteht in linguis‐ tischer Sicht in einem Prozess der Destandardisierung durch jugendtypi‐ sche Momente, die Stilverbreitung der Jugendsprache dagegen in einem Prozess der Restandardisierung, d. h. des Verlustes der soziokulturellen Spezifika durch die Verwendung anderer Gruppen von Sprachbenutzern oder gar durch die Aufnahme in Wörterbüchern der deutschen Standard‐ sprache. Das sei an einem weiteren Beispiel demonstriert: Beispiel: De- und Restandardisierung Braut: 1. Jugendtypische Verwendung: Dieser Ausdruck wurde von der Stan‐ dardsprache übernommen, allerdings mit dem jugendtypischen 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen 349 <?page no="350"?> Spezifikum: nicht anwesende Freundin eines Jungen, oft mit abfälli‐ gem Beiklang. 2. Jugendsprachliche Variante, Bedeutung laut DUW (2007 bis 2011/ 13): Mädchen (als Objekt sexueller Begierde), Wir haben tolle Bräute in unserer Klasse. In der jüngsten Auflage des DUW 2019 immerhin mit dem Hinweis: Jugendsprache (veraltet) versehen. (gekürzt nach Neuland 2018: 115) Abb. III.3.1.2: Modell Sprachwandel (Neuland 2018: 116) Insgesamt aber wird der Einfluss jugendsprachlicher Ausdrucks‐ weisen auf die deutsche Gegenwartssprache als gering zu beurteilen sein (Kunkel-Razum 2003). Viele der ursprünglich als: jugendsprach‐ lich markierten Einträge dürften zudem mittlerweile als: umgangs‐ sprachlich aufgefasst werden. Die Grenze zwischen Umgangs- und Standardsprache ist in der Sprachwissenschaft nicht exakt zu definie‐ ren. 350 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="351"?> Noch komplizierter dürfte der Einfluss bestimmter Gruppensprachen zu erfassen sein: Dies hängt schließlich auch von der Definition der sozia‐ len Gruppe ab (vgl. Neuland/ Schlobinski 2018). Ob ein Ausdruck einer formellen Sekundärgruppe (z. B. einem Sportverein) oder einer informellen Bezugsgruppe (z. B. Straßensport-Freunde) oder einer Netzgemeinschaft (z. B. eines Blogs über Straßensportarten) entstammt (→ Kap. II.6), spielt für möglichen Sprachwandel keine so bedeutsame Rolle. Die Beispiele werden sich auf einige wenige Fahnen- und Schlüsselwörter beschränken, wie z. B. für die: ● Öko-Szene: bio-, natur-, Körnerfresser, Müslimann ● Musikszene: freestyler, jams ● HipHop-Szene: battle etc. Sie stellen zugleich auch fachsprachliche Einflüsse dar (Androutsopoulos 1997). Ob sie aber jemals Verbreitungen über die Szenen hinaus finden, mag zurecht bezweifelt werden. Auch einzelne Generationen, die als »sprachprägend« angesehen wer‐ den, können unter dem Aspekt soziolinguistischen Sprachwandels betrach‐ tet werden. Während von frühen Jugendgenerationen der deutschen Nach‐ kriegszeit, z. B. der Halbstarken oder der Teenager (Neuland 2018) nur wenige schriftliche Zeugnisse überliefert sind, wird eine solche sprachprä‐ gende Wirkung insbesondere der 68er-Generation nachgesagt (→ Kap. II.5), von deren ›APO‹-Sprache eine Reihe neuer Ausdrucksweisen in die Gemeinsprache übergegangen ist. Neue sprachliche Ausdrucksformen und Wortbildungen wurden für neue Verhaltensweisen geschaffen (Hinterfra‐ gen, Unterwandern, Umfunktionieren, Decouvrieren bürgerlicher Charakter‐ masken). Kennzeichnend waren auch feste Wendungen wie herrschaftsfreier Raum, subversive Aktionen, Potential antiautoritärer Kräfte. Auch neue Wortbildungsformen waren üblich (z. B. Happening, Hearing, Go-in), die in die Gemeinsprache übergegangen sind. Eine solche ›ing-Epidemie‹ wurde neben den vielen Anglizismen von der damaligen sprachpflegerischen Sprachkritik scharf kritisiert (Neuland 2018: 160 ff.). Natürlich lässt sich auch hier nicht im einzelnen kausalanalytisch ein Einfluss des gruppen- und generationstypischen Sprachgebrauchs exakt belegen. Vielmehr spielen in den Verbreitungsprozessen viele verschiedene Faktoren eine Rolle. Unbestritten ist allerdings der Einfluss der Medien, die neue Ausdrucksweisen übernehmen, in verschiedenen Formaten prä‐ sentieren und als Promotoren sprachlichen Wandels den eben beschriebenen 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen 351 <?page no="352"?> Kreislauf von Stilbildung und Stilverbreitung beschleunigen (Neuland 2018: 110 ff.). Beispiele dafür bieten der Markt der Jugend- und Szenewörterbü‐ cher, die Werbung (Feiern, tanzen, chillen - der Festivalsommer mit Melitta), aber auch Aktionen wie das Jugendwort des Jahres. Warum lebensältere Menschen jugendsprachliche Ausdrücke überneh‐ men, lässt sich mit dem Sozialprestige der Jugendsprache erklären: Jugend‐ lichkeit genießt in der heutigen Gesellschaft ein hohes Prestige, und das wiederum differenziert auch die Labov’sche These des sozialen Sprachwan‐ dels von unten und einer sprachlichen Unsicherheit der Mittelschicht. Dabei wird stets eine Orientierung nach oben an den Prestigemerkmalen höherer Schichten unterstellt - und das sieht in den vorliegenden Fällen genau anders aus: Liegt hier etwa eine Orientierung nach unten vor, gelten Merkmale des Nonstandards als neue Richtschnur? Im kulturellen Wandel muss - zumindest für manche Gruppen der Gesellschaft - ein solches Pres‐ tige des Substandards als Einflussfaktor berücksichtigt werden. Trudgill hatte es einmal als covert prestige bezeichnet (1972), dessen Konsequenz für die Theorie des Sprachwandels eine neue Aktualität erlangt hat. Coupland (2014) bezieht sich auf ein vergleichbares Konzept der Vernakularisierung bzw. der Destandardisierung im Kontext von medienbedingtem soziolin‐ guistischem Wandel. Er diskutiert das als Zeichen von »soziolinguistic change in progress« (2014: 84 ff.), verbunden mit einer Aufwertung der so‐ zialen Spracheinstellungen gegenüber nonstandardlichem Sprachgebrauch seit den Studien von Labov, und führt dazu Belege aus verschiedenen europäischen Ländern an. Im Rahmen übergeordneter Erklärungsmuster kann man davon aus‐ gehen, dass die genannten Einflüsse auf Tendenzen einer Informa‐ lisierung des öffentlichen Sprachgebrauchs, vor allem im Bereich von Lexik und Pragmatik hinweisen. So vermuteten bereits Dosdrowski/ Henne 1980 eine Tendenz der lexikali‐ schen Popularisierung der deutschen Standardsprache durch den Einfluss jugend- und schülersprachlicher, z.T. jargonaler Wörter. Von Polenz formu‐ lierte 1983 seine These einer Nivellierung bzw. eines innersprachlichen Transfers durch die Übernahme von Wörtern »aus sogenannten tieferen sprachsoziologischen Schichten in die offizielle Standardsprache«. Auch Pe‐ 352 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="353"?> ter Braun (1998) hatte in seinen Analysen der Neuaufnahme von Lemmata in verschiedenen Duden-Auflagen eine zunehmende Anzahl umgangssprach‐ licher Wörter konstatiert. Neuland veranschaulicht die zunehmende Informalisierung in den von ihr untersuchten Begrüßungs- und Verabschiedungsformen Jugendlicher mit folgendem Diagramm (2020: 155): adressantentypisch - neutral - jugendtypisch guten Morgen/ guten Tag > Morgen/ Tag > hallo > hi > was geht Tab. III.3.1.4: Förmlichkeitsgrade und Verwendungsbereiche frequenter Grußformeln Ju‐ gendlicher (Neuland et al. 2020: 155) Als neutrale Passe-partout-Formel wird gegenüber Erwachsenen mit über 55 % der Fälle: Hallo verwendet, gegenüber einem Freund/ einer Freundin mit über 48 %: hey, hi. Tabelle III.3.1.5 zeigt die Ergebnisse, die für über 1.100 Jugendliche und konstant über Altersstufen und Geschlecht, Schulformen und Deutsch als Mutter- und Zweitsprache gesichert werden konnten (Neuland et al. 2020: 137 ff.): Kategorie Rang Antworten % der Fälle - - abs. % - hallo 1 642 42 55,4 guten Tag, Herr/ Frau (Name) 2 542 35,4 47,6 Morgen, Tag, n’Abend 3 259 16,9 22,7 ich sage nichts 4 87 5,7 7,6 gesamt - 1530 100 133,4 Tab. III.3.1.5: Genannte Grußformeln Jugendlicher in der Begegnung mit Lehrkräften außerhalb des Unterrichts (Neuland et al. 2020: 137) 3.1 Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen 353 <?page no="354"?> 3.2 Sprachkontakt Christian Efing Deutschland verändert sich, unter den Bedingungen von Mobilität, Migra‐ tion, Mediatisierung und Globalisierung, von einem offiziell einsprachigen zu einem de facto mehrsprachigen Land, was auf verschiedenen Ebenen zu einem Wechselspiel aus sprachlichen Entwicklungen und ihrer (massen‐ medialen) Thematisierung im öffentlichen Diskurs führt (Androutsopoulos 2007: 114 f.; → Kap. II.7 und III.2.1). Dabei werden sprachliche Neuerungen bzw. fremdsprachliche Einflüsse - zumeist als angstbesetzt - auf der Folie sprachideologischer Positionen beurteilt. »Sehr viele sehen auch im stark wachsenden Einfluss anderer Sprachen eine wichtige Ursache für einen drohenden Sprachverfall« (Institut für Demoskopie Allensbach 2008: 9). Unter Sprachideologien kann man gesellschaftlich geteilte meta‐ sprachliche Aussagen (explizit oder implizit in diskursiven Prozessen) bzw., nach Silverstein 1979, »sets of beliefs about language articulated by the users as a rationalization or justification of perceived language structure and use« verstehen. » Sprachideologien beziehen sich nicht auf Sprache an sich, sondern auf Relationen zwischen Sprachstruktur bzw. -gebrauch und Sozialstruktur.« (Androutsopoulos 2007: 122 f.) Verschiedene Sprachen haben ein unterschiedliches Prestige im Sinne von Einstellungen gegenüber diesen Sprachen und ihren Sprechern. Und hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Sprachen, die in keinem Verhältnis zur Funktionalität und zum Sprachsystem der jeweiligen Herkunftssprachen stehen. Die Einteilung der Sprachen in mehr oder we‐ niger prestigereiche hängt eng zusammen mit der Bewertung der fremden Sprecher und ihrer jeweiligen Kultur sowie mit der (gefühlten) Nähe zur eigenen Kultur. So sind etwa Französisch und Italienisch ›traditionelle Prestigesprachen‹, da sie »signalhaft für kulturelle Attraktivität« stehen (Plewnia/ Rothe 2011: 217). Eine bundesweit durchgeführte repräsentative Befragung und eine Erhe‐ bung unter Neunt- und Zehnt-Klässlern ergab, dass Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch überwiegend positiv beurteilt wurden, »während insbesondere Migrantensprachen von der Mehrheit der Sprecher distanziert 354 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="355"?> bewertet werden« (Plewnia/ Rothe 2011: 215). Besonders negativ beurteilt wurden Russisch und Türkisch als die Sprachen der zahlenmäßig größten Sprachminderheiten, wobei nicht nur die Sprachen selber, sondern bereits die Akzente der jeweiligen Sprecher im Deutschen negativ beurteilt wurden und kaum jemand diese Sprachen als Sprachen wünschte, die man perfekt beherrschen möchte (ebd.: 219, 221, 232). Die Befragung belegt zudem die Kopplung der Bewertung der Sprache an die Bewertung der Sprecherinnen und Sprecher (›Sprecherstereotype‹) (→ Kap. I.3.3 und II.1.4). ›Typische‹ Deutsche wurden demnach als leicht freundlicher und als deutlich gebildeter als ›typische‹ Türken und Russen wahrgenommen bzw. beschrieben (ebd.: 244 f.), während Türkischwie Russischsprachige in Deutschland sich selbst in der Eigenwahrnehmung sehr gut und besser bewerten als sich die Deutschen selbst bewerten; sie ha‐ ben eine deutlich »höhere Eigengruppenloyalität als die Nur-Deutsch-Spre‐ cher« (ebd.: 250). Dass Sprachkontakt zu sprachlichen Einflüssen anderer Herkunftsspra‐ chen auf das Deutsche führt, wurde bereits gezeigt (→ Kap. II.7). Diese sprachlichen Einflüsse können zu Sprachwandel - sprachsystematisch (lexikalisch-semantischer Einfluss: Entlehnungen, Lehnbedeutungen usw.) wie pragmatisch (z. B. Code-Switching) - innerhalb des Deutschen bzw. innerhalb von Varietäten des Deutschen führen, wenn sie, zumindest in bestimmten Gruppen, übernommen und systematisch verwendet werden. Hierbei spielen das (ggf. auch subgruppenspezifische) soziale Prestige der entsprechenden Kontaktsprache und Sprechergruppe, die berufliche und ökonomischen Relevanz oder auch die Funktion eines spezifischen sprach‐ lichen Phänomens für eine bestimmte Sprechergruppe eine große Rolle, da sprachliche Elemente einer prestigereichen, ökonomisch relevanten Sprache und Gruppe bzw. Phänomene mit einer erwünschten Funktion eher übernommen werden als andere. Prinzipiell lassen sich verschiedene Sprachkontaktsituationen unter‐ scheiden, wobei hier nicht die innere, sondern die äußere Mehrsprachigkeit (→ Kap. II.7) fokussiert wird. In Kontakt treten können hier aber keineswegs nur die Standardvarietäten einer historischen Einzelsprache, sondern auch verschiedenste Substandardvarietäten. Grundsätzlich kann man mindestens folgende räumliche Konstellationen des Sprachkontakts unterschei‐ den: 3.2 Sprachkontakt 355 <?page no="356"?> 1. Kontakt zu Sprachen der Nachbarländer - in Deutschland z. B. Nie‐ derländisch, Polnisch usw. (Diese Kontakte haben aktuell einen eher geringen Einfluss auf die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion.) 2. Kontakt zu Minderheitensprachen in den eigenen Sprachgebieten: in Deutschland z. B. zu Sorbisch, Dänisch, Jenisch. (Diese Kontakte haben aktuell einen eher geringen Einfluss auf die öffentliche und wissen‐ schaftliche Diskussion.) 3. Kontakt zu Herkunftssprachen von Migranten: Türkisch, Russisch, Arabisch … (Diese Kontakte haben aktuell einen hohen Stellenwert in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion.) 4. Kontakt zu Sprachen in Ländern, in denen es deutsche Sprachinseln gab und gibt: Ungarn, Russland, Brasilien, USA, Namibia … Hier entstehen bisweilen Pidgins. (Diese Kontakte spielen in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle, wurden und werden in der Linguistik aber kontinuierlich erforscht.) 5. Kontakt zu lokalen und globalen linguae francae sowie schulischen Prestige-Fremdsprachen (v. a. Englisch, Spanisch, Französisch), u. a. durch schulischen Fremdsprachenunterricht und die Medien (Internet, TV-…). (Hier spielt lediglich der Kontakt zum Englischen in Öffentlich‐ keit wie Wissenschaft eine größere Rolle.) In der Bewertung von Sprachkontaktphänomenen und ihres potenzi‐ ellen Einflusses auf das Deutsche treffen mindestens zwei verschiedene Einstellungen aufeinander: Während die eine, oft aus jüngeren Sprechern und Wissenschaftlern bestehende, Gruppe Kontaktsprachen als Ressource für die Bereicherung der eigenen (z. B. Jugend-)Sprache sieht, gibt es eine große Gruppe, die die deutsche Sprache durch fremdsprachliche Einflüsse bedroht sieht und deren Sorgen sich einerseits auf den Einfluss des Engli‐ schen (z. B. in Form von Anglizismen), andererseits auf den Einfluss eines ›Türken- oder Russendeutsch‹ von Jugendlichen mit Migrationshintergrund richten. Die zweite Gruppe reagiert auf Sprachkontakt oft mit dem Bedürfnis nach ›Reinhaltung‹ der deutschen Sprache (Sprachpurismus) und der Forderung nach aktiver Sprachpflege des Deutschen, damit dieses nicht ›verlottere‹ oder gar, insbesondere durch das Englische, verdrängt werde. Diese Diskussionen spielen sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen ab. Im Folgenden werden vor allem drei Aspekte an der Schnittstelle von Sprachkontakt und (potenziellem) Sprachwandel untersucht, mit denen sich die Öffentlichkeit und die Linguistik beschäftigen: der Einfluss des 356 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="357"?> Englischen auf das Deutsche, türkischdeutsche Ethnolekte sowie das Russ‐ landdeutsche, das Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Re-Migration von (Spät-)Aussiedlern aus deutschen Sprachinseln in Russland zurück nach Deutschland in den Fokus geriet. 3.2.1 Der Einfluss des Englischen auf das Deutsche Der Einfluss des Englischen als »dominante[…] Gebersprache« (Eisenberg 2013: 62) auf das Deutsche (wie auf viele andere Sprachen) wurde viele Jahre an der Existenz und der steigenden Anzahl von Anglizismen im Deutschen festgemacht und in der Öffentlichkeit, insbesondere durch den Verein Deutsche Sprache (https: / / vds-ev.de/ ), mit zumeist unwissenschaftlichen Argumenten bekämpft (→-Kap. III.2.1). Der Anglizismendiskurs (Niehr 2002, Spitzmüller 2005) ist außerhalb der Linguistik geprägt von einer generell ablehnenden Haltung und regel‐ rechten (Überfremdungs-)Angst vor einem »Denglisch oder Germeng« (Hoberg 2000) als Sprachmischung und vor einer Verarmung, Unverständ‐ lichkeit oder gar dem Untergang der deutschen Sprache (»Englisch rules the world. Was wird aus Deutsch? «, Hoberg 2002) oder zumindest deutscher Wörter, die sich in die lange Tradition des Fremdwortpurismus einreihen und Sprache mit der nationalen Identitätsfrage verknüpfen. Die Sorge vor einem zu großen Einfluss des Englischen auf das Deutsche zeigte nicht zu‐ letzt eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (2008). Negativbeispiele eines exzessiven Anglizismen-Gebrauchs sind oft kon‐ struiert, finden sich allerdings auch in der (konstruierten? ) Realität: Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß. Meine Idee war, die hand-tailored-Ge‐ schichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, daß man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann die Sachen, die refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht eben nicht bei Jil Sander. Man muß Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils ( Jil Sander, Frankfurter Allgemeine Magazin, 22.3.1996) 3.2 Sprachkontakt 357 <?page no="358"?> Dieses Beispiel zeigt, dass ursächlich für die Verwendung von Anglizismen keineswegs immer eine neue Bezeichnungsnotwendigkeit sein muss, für die es kein deutsches Wort gibt, oder aber die internationale Verständlichkeit. Vielmehr geht es um Prestige, um eine verbale Selbstinszenierung und die stilistische, konnotative bzw. assoziative Wirkung der Anglizismen - so etwa auch häufig in der Werbung (Come in and find out. - Douglas) -, die einer Sprecherin oder einer Marke Modernität, Internationalität, Glanz und Glamour verleihen sollen. Anglizismen gelten nicht als englische Wörter, sondern als deutsche, potenziell Englisch-stämmige (Fremd-)Wörter. Diese sind zum Teil bereits voll ins Deutsche integriert und daher kaum mehr als Fremdwort zu identifizieren; dem Wort Keks zum Beispiel sieht und hört man seine englischsprachige Herkunft (< cakes) nicht mehr an. Nicht nur hieran sieht man, wie eigenständig die deutsche Sprache mit dem Englischen als Ressource umgehen kann. Dies wird auch an den oftmals so genannten Pseudoanglizismen (Scheinentlehnungen) deutlich, die wie ein englisches Wort aussehen bzw. sich anhören, die es aber im Englischen oft gar nicht - oder zumindest nicht in derselben Bedeutung - gibt. Populäre Beispiele sind die Lexeme Handy, das es im Englischen nur als Adjektiv in anderer Bedeu‐ tung gibt (›handlich, praktisch, geschickt‹), oder Showmaster und Dressman, die erst innerhalb des Deutschen gebildet wurden. Eisenberg (2013) schlägt daher vor, den Anglizismusbegriff nicht mehr diachron-etymologisch aufzufassen, also nach der Herkunft eines Wortes (aus dem Englischen) zu gehen, sondern synchron-systematisch. Demnach wären überhaupt nur (aber alle) die Wörter Anglizismen, die »erkennbar Eigenschaften des Eng‐ lischen« (z. B. phonetische wie in Jazz oder Dschungel oder graphematische wie in Deal) tragen, auch, wenn es sie so im Englischen gar nicht gibt. Ein Wort wie Keks, das vollauf integriert ist und den Regularitäten des Deutschen entspricht, wäre demnach ebenso wenig ein Anglizismus wie Lehnübersetzungen oder Lehnübertragungen aus dem Englischen wie z.-B. der Ausdruck Das macht Sinn. (zu engl. It makes sense.) oder der berühmte Wolkenkratzer (zu engl. sky scraper). Jenseits der Bewertungsfrage (Bedrohung für das Deutsche oder nicht) ist in der Tat zu konstatieren, dass die bereits seit langem im Deutschen vorhandenen Wortübernahmen aus dem Englischen (Streik zu engl. strike wurde z. B. bereits um 1840 entlehnt) in den letzten Jahrzehnten quanti‐ tativ zunehmen - und zwar in allen Bereichen der deutschen Sprache: Anglizismen befinden sich »buchstäblich überall, von der Jugendsprache 358 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="359"?> bis zur Informatik, vom Bankeridiom bis zur Werbung« (Eisenberg 2013: 57). Typische Domänen sind ›Wirtschaft/ Beruf‹ (Commercial, Marketing, Team, Job), ›Mode/ Lebensart‹ (shoppen, Lifestyle, Wellness, Outfit), der Sport (Hattrick), Informationstechnologien/ Neue Medien (Scanner, Browser, twit‐ tern), generell Fachsprachen oder auch Jugendkommunikation (sorry, easy, so what? , Peace, Joke, Selfie). Eine klare, empirisch nachweisbare Tendenz, die hier zwischen 1905 und 2004 auszumachen ist, ist rein quantitativ die deutliche Zunahme der Aufnahme von Anglizismen ins Deutsche (nicht zuletzt in Folge des Aufstiegs der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zur Weltmacht) sowie qualitativ ein zunehmender Verzicht auf eine phonologische, graphemati‐ sche und flexionsmorphologische Integration der Anglizismen ins Deutsche (Eisenberg 2013: 101). Während die Anglizismen im Deutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts »so etwas wie einen Worthaufen mit wenig Struktur« bildeten, weisen sie heutzutage »eine hohe interne Strukturiertheit auf« (ebd.: 114 f.), d. h., die Mechanismen der Integration und der weiteren Wortbildung (insb. von Komposita) innerhalb des Deutschen laufen sehr vorhersagbar und systematisch ab. Die Entlehnungen folgen dabei einer so genannten ›Entlehnbar‐ keitshierarchie‹: Quantitativ werden am ehesten Substantive, dann Adjektive, Verben, Präpositionen und andere Funktionswörter ent‐ lehnt und nur selten Derivations- oder Flexionsformen oder Laute. Der strukturelle Einfluss der Anglizismen ist demnach marginal. Doch mittlerweile ist es um die öffentliche Anglizismenkritik deutlich ruhiger geworden. Stattdessen beschäftigen sich die Politik und Wissen‐ schaft mit einem anderen Einfluss des Englischen auf die deutsche Spra‐ che. Es geht nicht mehr darum, dass sich englische Fremdwörter in die deutsche Sprache ›drängen‹, sondern darum, dass das Englische generell in bestimmten Domänen des öffentlichen Lebens das Deutsche verdrängt (Efing/ Hoberg 2019, Ammon 2015), sodass einige Politiker schon fürchten, das Deutsche verkomme zur ›Feierabendsprache‹ (Günther Oettinger 2006 in der ARD), da alles Wichtige nur noch auf Englisch kommuniziert würde. Für zentrale Domänen trifft dies sicherlich bereits zu: In der Wirtschaft und im Bankenwesen wie etwa auch in modernen deutschen Start-ups ist die 3.2 Sprachkontakt 359 <?page no="360"?> Firmensprache (in oft internationalen Teams) bereits Englisch oder es wird zumindest überwiegend auf Englisch kommuniziert, da dies die internatio‐ nale Kommunikation in einer globalisierten Welt vereinfacht und Englisch als Arbeitssprache einen neuen Arbeitsmarkt erschließt, wo in Deutschland ohnehin Fachkräftemangel herrscht. In der Wissenschaft (vgl. Ammon 2015: 519-698), insbesondere in den Technik- und Naturwissenschaften, ist Eng‐ lisch bereits, je nach Fach, zur einzigen ernst zu nehmenden Tagungs- und Publikationssprache geworden, wenn man international wahrgenommen werden möchte, und selbst die universitäre Lehre wird immer stärker, z.T. ideell und finanziell gefördert, zur Domäne des Englischen. Die deutschen Fachsprachen drohen hier den Anschluss zu verlieren und mit dem wissen‐ schaftlichen Fortschritt sprachlich nicht mithalten zu können. In der EU ist trotz aller anderslautenden politischen Ansätze Englisch de facto die dominante Arbeitssprache, die andere Sprachen wie Französisch - und bereits abgeschlagen Deutsch, Italienisch und Spanisch - verdrängt. Das Prestige von Englisch als lingua franca wertet zwar einerseits andere Sprachen zu niederen Varietäten ab, aber auf der anderen Seite wird auch Englisch modifiziert zu einem vereinfachten ›Euro-English‹ (Lüdi 2006: 35). Auch die modernen Kommunikationstechnologien, die die weltweite Kommunikation weiter vereinfachen, ebnen dem Englischen als notwendige und einzig sinnvolle lingua franca für breite Verständigung den Weg. Auf Dauer könnte dies in Sprachgemeinschaften zu einem Kommunikationstyp der national-englischen Zweisprachigkeit führen, wie Haarmann skizziert: das Image des Englischen ist im Umbruch begriffen, nämlich von dem eines Fremdkörpers oder Störfaktors für die nationalsprachliche Identität zu dem eines integralen Bestandteils im Modernisierungsprozess nationaler Gesellschaften. Über diesen Wandel in der Wertung wird die Präsenz des Englischen letztlich zur Selbstverständlichkeit. (Haarmann 2002: 169) Im Gegenzug entstehen Überlegungen, wie das Deutsche auch international zu fördern ist (Ammon/ Schmidt 2019). 3.2.2 Der Einfluss der Ethnolekte auf das Deutsche Mit Blick auf das Prestige liegt mit den Kontaktsprachen Türkisch und Arabisch ein anderer Fall als beim Englischen vor, auch wenn hier ebenfalls lexikalische Einflüsse (von Fremdwörtern wie lan, moruk) wie Sprachmi‐ 360 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="361"?> schungen (Code-Switching, Code-Mixing) und partiell - aber in gänzlich anderen Domänen und von anderen Sprechergruppen - der Ersatz des Deutschen durch das Türkische oder Arabische zu beobachten sind. Wäh‐ rend das Englische generell als Fremd- und Weltsprache mit Prestige gilt, gilt das Türkische in Deutschland zumeist nicht als Prestigesprache - und bezeichnenderweise auch nicht als schulische Fremdsprache. In spezifischen Jugendgruppen hingegen erfreut sich das Türkische (und das Arabische) durchaus eines subkulturellen Prestiges, das, wie gesehen (→ Kap. II.7.2), zur Verwendung türkischer Einsprengsel und Einflüsse auch bei Deutsch-Erstsprachlern führt. Mittler sind hier die Ethnolekte bzw. ethnolektalen Sprechweisen, die in multiethnischen Großstadtvierteln entstanden sind und gesprochen werden und deren sprachliche Merkmale überindividuell systemhaft sind. Polyethnische Sprechstile oder Multi-Ethnolekte sind ein gesamt‐ europäisches Phänomen multiethnischer Großstädte (Berlin, Ham‐ burg, München, Stockholm, Kopenhagen, London, Amsterdam), das den Sprechern dazu dient, sich selbst sprachlich - oft in einer Minder‐ heitenrolle - zu stilisieren (vgl. Clyne 2000: 87). Die (mediale) Öffentlichkeit sieht diese Ethnolekte oft als Gefahr für die Sprachkompetenz Jugendlicher (›gebrochenes Deutsch‹, ›doppelte Halb‐ sprachigkeit‹, vgl. Wiese 2011) oder gar als Gefahr generell für das Deutsche als Sprachsystem und die deutsche Kultur. Diese Kultur- und Sprachver‐ fallsklagen resultieren einerseits aus dem geringen ›sozialen Marktwert‹ der Sprechergruppen (sozial Schwächere), der auf die Sprache übertragen wird (vgl. Wiese 2011: 79), und andererseits aus dem einseitigen Blick auf Ethnolekte, der diese »als stark reduzierte Sprachform ohne Grammatik und Regeln« (ebd.: 74) wahrnimmt und dabei ignoriert, dass die Sprecher‐ innen und Sprecher in ihren Repertoires (innere Mehrsprachigkeit) auch über die korrekten Vollformen verfügen und ethnolektal nur bewusst und situativ mit spezifischen Funktionen sprechen: Deutsch wird mit Deutschen, Türkisch mit den Eltern und Ethnolekt als etwas Eigenes der Jugendlichen mit den Peers gesprochen. Jeder Sprecher beherrscht und verwendet dabei auch (und mehrheitlich! ) standardnahe Formen - z. B. Auer 2013 für die 3.2 Sprachkontakt 361 <?page no="362"?> Koronalisierung (nur in 6 % der Fälle) und den Ausfall von Präpositionen (9-%) und des indefiniten (13-%) und definiten Artikels (16-%). Die Medien hingegen skizzieren das Bild eines sich in Deutschland aus‐ breitenden ›Migrantenslangs‹, oft abfällig als Ghettodeutsch oder Kanak‐ sprache bezeichnet (wobei beides auch Eigenbezeichnungen der Sprecher sind), der sich wie ein Virus oder eine fremde Macht ausbreite und dessen Opfer das Deutsche sei (Androutsopoulos 2007: 143 ff.). Androutsopoulos (2007: 113, 116, 121, 148) spricht hier von einer »massenmediale[n] Kon‐ stitution sprachlicher Ideologien über deutsche Ethnolekte« bzw. einer »massenmediale[n] Inszenierung und Ideologisierung von Ethnolekten«, die diese aus Perspektive einer standardsprachlichen Ideologie sozialinde‐ xikalisch auflade mit Fremdheit, Normferne, gesellschaftlicher Negativität, Härte und Aggressivität, aber auch street smartness. In der massenmedialen Öffentlichkeit wird die Angst artikuliert, dass sich diese ethnolektalen Sprechweisen auch auf das Deutsche als Sprachsystem auswirken und zu einer Sprachvereinfachung (Artikel- und Präpositionsaus‐ fall) und damit einem Sprachverfall führen. Grund hierfür ist unter anderem die empirisch nachweisbare Tatsache, dass ethnolektale Sprechweisen in bestimmten Milieus durch die mediale Stilisierung im Zuge einer De-Ethni‐ sierung als tertiärer Ethnolekt auch von Jugendlichen mit Deutsch als Erstsprache gesprochen werden (→ Kap. II.7.2). Wird der sekundäre Ethno‐ lekt in den Medien noch als Symbol ethnischer Stereotypisierung genutzt und stilisiert, konnotiert mit Kontext-Merkmalen wie Aggression, Krimina‐ lität und Macho-Kultur, erhält der tertiäre Ethnolekt, durchaus getrieben durch die mediale Anerkennung, ein ganz eigenes (Subgruppen-)Prestige und eine erweiterte Identitätsfunktion auch für nicht ethnisch definierte Gruppen. Vor allem männliche Jugendliche, die Deutsch als Erstsprache sprechen, eignen sich den Ethnolekt an, denn es wird ›cool‹, »wie ein Ausländer Deutsch zu sprechen« (Bleibtreu 1999). Durch diesen Prozess der medialen Verbreitung und Aufnahme durch neue Sprechergruppen bilden sich sprachliche Gemeinsamkeiten im de-ethnisierten Ethno‐ lekt über verschiedene Regionen hinweg aus. Als diese gelten v. a. die bereits für den primären Ethnolekt genannten (nach Auer 2003: 263, der betont, dass alle folgenden Beispiele von Jugendlichen mit rein deutschem Familienhintergrund stammen): 362 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="363"?> ● Wegfall des Artikels: Möchte Ausbildung machen; was macht Fußball? ● Wegfall von Präpositionen (und Artikeln)/ veränderte Präpositionen: Die geht so Laden rein; wenn ich jetzt Bäckerei arbeite ● Fehlen von Pronomen: Weil ich hör die und die haben [es] mir beigebracht ● Variation der Kongruenz: Weil manche türkische Leuten, die können überhaupt kein Deutsch ● Genusabweichung: Aber der eine wollte doch deutsche Geld haben Trotz der De-Ethnisierung behält bzw. erhält das Türkische ein besonderes (verdecktes) Prestige, das sich darin zeigt, dass es auch zur Übernahme län‐ gerer Sequenzen auf Türkisch durch Nicht-Türken (Deutsche, Iraner usw.) kommt, etwa bei Begrüßungssequenzen oder dem Fragen nach der Uhr‐ zeit. Auch pragmatische Elemente des Türkischen wie Interjektionen und Routineformeln werden übernommen, was die hervorgehobene Bedeutung des Türkischen unterstreicht. Parallel zu diesem sprachlichen Einfluss des Türkischen kommt es auch zur Übernahme anderer türkischer Kultureme wie der Musik. Dies kann aber nicht, wie es in den Medien bisweilen passiert, übergeneralisiert werden als ein Einfluss auf das Deutsche oder auch nur die Umgangssprache oder die deutsche Jugendsprache im Allgemeinen. Ethnolektale Sprechweisen bleiben stilistisch deutlich markierte Varianten. 3.2.3 Das Russische in Deutschland Neben dem Türkischen (und Arabischen) hat das Russische in Deutschland seit der Re-Migration vieler (Spät-)Aussiedler aus deutschen Sprachinseln in Russland zurück nach Deutschland ab den 1990ern eine gewisse quanti‐ tative Präsenz in Deutschland. Diese Re-Migranten brachten einerseits das Russische, andererseits aber vor allem ihre russisch-deutschen Sprachinseldi‐ alekte als eine »Migrationsvarietät zweiten Grades« (Berend 2012b: 89) mit nach Deutschland, die linguistisch intensiv beforscht wurden (etwa Berend 2009, 2012a/ b, 2013). Dabei ist die Perspektive allerdings weniger die einer Frage nach einem potenziellen Einfluss des Russischen auf das Deutsche, son‐ dern die nach Sprachwandelerscheinungen innerhalb der russisch-deutschen Sprachinseldialekte, die vor der Re-Migration durch das Russische und da‐ nach durch das Standarddeutsche überdacht wurden. Die russisch-deutschen Sprachinseldialekte, die in Russland der Ingroup-Kommunikation vorbehalten waren, erfuhren unter dem Dach des Standarddeutschen eine Funktions- und Domänenerweiterung und flossen auch in die Outgroup-Kommunika‐ 3.2 Sprachkontakt 363 <?page no="364"?> tion mit Deutschen ein (Berend 2012a: 613 f.), mit denen man versuchte, »intendiertes Hochdeutsch« (Berend 2013: 84) zu sprechen. Hierdurch rückte das Russlanddeutsche näher an das Standarddeutsche heran und es entstan‐ den neue (phonetische, morphologische, lexikalische …) Varianten (z.T. in Koexistenz innerhalb einer Äußerung), die einen Zuwachs der inneren Mehr‐ sprachigkeit (Russlanddeutsch, Saarländisch, Standarddeutsch, Russisch) und Code-Switching-Kompetenzen der Sprecher bedeuteten. Russische Anteile wurde in diesem Zuge reduziert, zumal bei jüngeren Familien, die Deutsch als Familiensprache etablierten, sodass man von einer Entwicklung vom Sprachinseldialekt hin zu einem binnendeutschen Regionaldialekt sprechen kann (ebd.: 619), auch wenn es noch keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Entstehung einer neuen Regionalvarietät gibt (Berend 2013: 108). Der deutsche Dialektanteil (hier: Saarländisch) an der Kommunikation hingegen steigt deutlich an (Berend 2013: 84). Generell ist jedoch eine Unterscheidung nach Sprecheralter und Generation zu treffen: Die ältere Generation hat ihren Sprachinseldialekt in der Regel im Alltag beibe‐ halten und lediglich leichte Anpassungen ans Hochdeutsche vorgenommen. Die mittlere Generation hat dagegen den Sprachmodus (Grosjean 1995) verändert und statt ›Russisch‹ auf den Modus ›Russisch-Deutsch‹ gewechselt. Durch die Anwendung der Mischstrategien entsteht eine russisch-deutsche Mischsprache, die weder von echten Russischsprechern im Herkunftsland noch von Deutsch‐ sprechern in Deutschland verstanden wird. Es handelt sich hier um eine Art ›russlanddeutsche Migrantensprache‹, die nur in der ingroup-Situation der zwei‐ sprachigen Aussiedler gebräuchlich ist. (Berend 2009: 377) Angesichts der dynamischen Sprachwandelsituation durch den intensiven Sprachkontakt kann der intrasituativen Variation aber keine konversatio‐ nelle Funktion zugeschrieben werden, d. h.: die Variationen sind nicht als Indiz für eine sozial-symbolische Funktion der Variation zu verstehen (Be‐ rend 2013: 108). Das Russische, dessen lexikalischer Einfluss zwar deutlich zurückgeht, bleibt auf allen anderen Ebenen (Aussprache, Prosodie, Syntax, auch als Lehnübersetzungen: auf der Erde stehend für ›bodenständig‹, planiert für ›geplant‹) erhalten, auch als Teil der neuen Migrationsvarietät, die nicht mehr dem Sprachinseldialekt entspricht. Hinzu kommen standard‐ sprachliche Elemente und Merkmale des Saarländischen sowie Merkmale des westmitteldeutschen Herkunftsdialekts (Berend 2012b: 100 ff.), doch generell ist im Zuge einer deutlichen Standardkonvergenz ein weiterer Abbau der Migrationsvarietät erwartbar. 364 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="365"?> 3.3 Sprachliche Gleichstellung In einem Katalog zu einer Ausstellung des Goethe-Instituts Brüssel zum Thema: Emanzipation von 1980 wird einschlägige Populärgraphik aus vier Jahrhunderten präsentiert, darunter die beiden folgenden Darstellungen auf der Rückseite und auf dem Titelblatt. Wir wollen in diesem Kapitel der Frage nachgehen, ob und wie die sprachliche Gleichstellung der Frau anders als ein bloßer Rollenwechsel gestaltet werden kann. Abb. III.3.3.1: Die Frau hawt dem Mann ab - Der Mann hawt dem Weib ab, zu Augs‐ purg/ bey Abraham Bach Brieffmaler/ auffm Creutz (o. J.) (Katalog des Goethe-Instituts Amsterdam/ Brüssel zur Ausstellung Emanzipation, 1980) Forderungen der sprachpolitischen Gleichberechtigung begleiteten die soziolinguistische Genderlinguistik seit ihren Anfängen (→ Kap. II.4). Neben den Schriften der frühen feministischen Forscherinnen Trömel-Plötz und Pusch hatten die Germanistin Guentherodt und die Anglistin Hellinger 1980 Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs mitverfasst. Zwei Themenhefte der Zeitschrift Linguistische Berichte widmeten sich dem Thema: Sprache, Geschlecht und Macht (69/ 1980 und 71/ 1981). Die Verfasserinnen unterscheiden verschiedene Arten frauenfeindlichen Sprachgebrauchs: Sprache ist sexistisch, wenn sie Frauen und ihre Leistungen ignoriert, wenn sie Frauen nur in Abhängigkeit von und Unterordnung zu Männern beschreibt, wenn sie Frauen nur in stereotypen Rollen zeigt und ihnen so über das Stereotyp hinausgehende Interessen und Fähigkeiten abspricht, und wenn sie Frauen durch herablassende Sprache demütigt und lächerlich macht. (Guentherodt/ Hellinger 1980: 15) 3.3 Sprachliche Gleichstellung 365 <?page no="366"?> Listenmäßig werden Beispielen sexistischen Sprachgebrauchs Alternativen gegenübergestellt, z.-B. (Guentherodt/ Hellinger 1980: 16 ff.): ● Sehr geehrte Herren - Sehr geehrte Damen und Herren ● Steuerpflichtiger/ Ehemann - der/ die Steuerpflichtige ● Thomas Mann mit Frau Katja - Thomas und Katja Mann Schon bald fanden solche Empfehlungen Eingang in verschiedene Textsor‐ ten der öffentlichen und privaten Kommunikation. Behördliche Sprachre‐ gelungen wurden erlassen, juristische Texte und ministerielle Erlasse sowie Verzeichnisse von Berufsbenennungen auf sprachliche Ungleichbehandlun‐ gen überprüft. Auf den Ebenen von Bundesländern und Kommunen werden Leitfäden zu geschlechtergerechten Formulierungen verabschiedet: Dazu ein Beispiel von Braun (1991): Abb. III.3.3.2: Beispiel aus dem Frauenministerium des Landes Schleswig-Holstein (Braun 1991: 47) 366 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="367"?> Weitere Broschüren folgten, u. a. von Häberlin et al. (1992): Übung macht die Meisterin mit Ratschlägen für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch. Die Verfasserinnen gehen von folgendem Grundprinzip aus: Frauen werden in gesprochenen und geschriebenen Texten als eigenständige, gleichberechtigte und gleichwertige menschliche Wesen betrachtet. Sie werden mit Respekt, Würde und Ernsthaftigkeit dargestellt. Frauen werden sichtbar gemacht. Frauen werden explizit, symmetrisch und an erster Stelle genannt. (Häberlin et al. 1992: 12) 1993 folgten beispielreiche Texte: Vater Staat hat keine Muttersprache von der Juristin Grabrucker und das Handbuch zur nichtsexistischen Sprachver‐ wendung in öffentlichen Texten von Fuchs/ Müller (1993), von Kargl et al.: Kreatives Formulieren (1997) sowie einschlägige Tagungen und öffentliche Diskussionen. Auch in Schulen und Hochschulen und speziell im Deutsch‐ unterricht hatte das Thema Hochkonjunktur, bis die Schüler protestierten, weil sie der Ansicht waren, das Thema habe sich doch mittlerweile erledigt. Männlich - weiblich - divers Dem immer stärkeren Druck zur Wahl geschlechtergerechter Formulierungen kann sich mittlerweile kaum jemand mehr entzie‐ hen Verändert hat sich aber in den seit einigen Jahren wieder hefti‐ geren Diskussionen das gesellschaftliche Geschlechterkonzept: Gegenüber dem vorherrschenden Modell der Zweigeschlechtlichkeit hat sich eine dritte Option geöffnet, die mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 2017 und dem Beschluss des Bundestags im Dezember 2018 mit der Eintragung des Personen‐ stands: divers sanktioniert wurde (Diewald 2020). In der Textsorte der Stellenanzeigen wird wegen der Vorgabe des Allge‐ meinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) seit August 2006 strikt auf die entsprechend nötigen Angaben geachtet: 3.3 Sprachliche Gleichstellung 367 <?page no="368"?> Abb. III.3.3.3: (Stellen-)Anzeigen (Süddeutsche Zeitung v. 16./ 17.7.2022) Allein in der Rubrik: Urlaubs- und Freizeitbekanntschaften werden undiffe‐ renziert »kultivierte Leute« gesucht. Zwei Möglichkeiten des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs werden im Deutschen hauptsächlich praktiziert, wie bei Wikipedia aufge‐ führt (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Geschlechtergerechte_Sprache): 1. Sichtbarmachung der Geschlechter - zweigeschlechtlich: Lehrerinnen und Lehrer, Lehrer/ -innen, Leh‐ rerInnen - mehrgeschlechtlich: Lehrer*innen, Lehrer: innen, Lehrer_innen 2. Neutralisierung (geschlechtlich unbestimmt) - Bezeichnungen: Lehrpersonen, Lehrende, Lehrkräfte 368 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="369"?> - Umformulierung: lehrend tätig sein; alle, die unterrichten; Es ist zu beachten; Ihre Unterschrift. Empfohlen wird allerdings, sich nicht strikt an eine Norm zu halten, sondern inhaltlich korrekt und kontextangemessen zu formulieren (Diewald/ Stein‐ hauer 2020). Dies gilt auch für mögliche Schreibweisen der Mehrgeschlecht‐ lichkeit: Schreibweisen für Mehrgeschlechtlichkeit 1. Genderstern: Lehrer*innen, ein*e Lehrer*in 2. Gender-Gap: Lehrer_innen, ein_e Lehrer_in 3. Doppelpunkt: Lehrer: innen, ein: e Lehrer: in Diese sind im öffentlichen Dienst, ebenso wie das Binnen-I, weitgehend untersagt, weil sie nicht Bestandteil der amtlichen Regelung sind. Dennoch setzen sich manche Institutionen, Stiftungen und Presseorgane darüber hinweg. Dazu ein Beispiel: Beispiel: Genderstern-Verwendung Unser Aufruf richtet sich an jede Generation - an Kolleg*innen und Arbeitgeber*innen, an Eltern und Nachbar*innen, an Kolleg*innen und Angestellte, an Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen, Sportler*in‐ nen und Arbeitssuchende, Kreative und Auszubildende - an alle ___________________________ https: / / fridaysforfuture.de/ allefuersklima/ (nach Diewald 2020: 10) Es verwundert nicht, dass die Fülle und teilweise Unklarheit bestehender Gendermöglichkeiten auch Anlass für Missverständnisse und Fehlschrei‐ bungen bieten, z.B.: Beispiel: Missverständnisse beim Gendern Mit heute öffnet eine temporäre Kostüm-Ausstellung in den ehema‐ ligen Räumlichkeiten des Arcadia-Shops, gestern wurde die 10.000. Besucherin des Kunst- und Architekturrundgangs begrüßt und al‐ len künftigen Rundgang-BesucherInnen winkt eine süße Osterüberra‐ schung am Palmsonntag. (28. März 2021 - Sonntag Online Merker). 3.3 Sprachliche Gleichstellung 369 <?page no="370"?> Kotthoff (2020) verweist auf vier Schreibstile, die zugleich symbolische Wertungen dokumentieren, und zwar: Schreibstile mit symbolischer Wertung ● Typ 1: die traditionelle Schreibpraxis mit einem generisch ge‐ meinten, geschlechtsübergreifenden Maskulinum ● Typ 2: eine feministisch inspirierte personenreferentielle Praxis mit Beidnennungen, Binnen-I und Neutralisierungen ● Typ 3: eine queere Schreibpraxis mit Neutralformen und neuen Zeichenintegrationen ● Typ 4: Stile flexiblen Genderns ohne vorgegebene Leitlinien. Die Auseinandersetzungen um Pro und Contra werden derzeit wieder heftig geführt, wie z. B. in der Süddeutschen Zeitung im Frühjahr 2021 verfolgt werden konnte. Dabei weist die Diskussion Bezüge zur aktuellen Thematik von Political Correctness und Identitätspolitik auf (→ Kap. II.9). Auch zeigen sich inzwischen Verwirrungs- und Ermüdungserscheinungen in der öffentlichen Diskussion, zumal Leitfäden nicht immer klar verdeutlichen, was die wechselnden Zeichen an der Morphemgrenze anzeigen sollen. Eisenberg lenkt den Blick auf die Sprachkorpora: Im Deutschen Refe‐ renzkorpus der geschriebenen Sprache (DeReKo) des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache werden für die Jahre 2010 bis 2016 liegt mit über 150.000 Vorkommen das generische Maskulinum: Studenten vorn, nur mit 30.000 Vorkommen folgt die Partizipialform: Studierende, und Studentinnen kom‐ men gar nur auf 9.000 Vorkommen (Eisenberg 2020: 29 f.) (Abb. III.3.3.4). Im Korpus der geschriebenen Sprache, vor allem Zeitungstexte, herrscht auch 2016 mit Abstand noch das generische Maskulinum vor; in der Sprach‐ einstellungsbefragung (Abb. III.14) von Laien werden dagegen die Partizipi‐ alform mit 46 %, die Doppelformen und das generische Maskulinum mit je 17 % genannt, und zwar mit einem hochsignifikanten Alterseffekt zugunsten der ältesten Befragten der über 60Jährigen. Die Verfasser schließen: Festzuhalten bleibt, dass es offenkundig unter den Sprachteilhaberinnen und Sprachteilhabern durchaus ein gewisses Bewusstsein dafür gibt, dass sich hier eine gewisse gesellschaftliche Problemstellung auftut, für die es aber auch keine einfache Lösung zu geben scheint. (Adler/ Plewnia 2019: 153) 370 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="371"?> 0 20.000 40.000 60.000 80.000 100.000 120.000 140.000 160.000 180.000 1990-1999 2000-2009 2010-2016 Studenten Studierenden Studentinnen Studentinnen und Studenten StudentInnen Student_innen Abb. III.3.3.4: Genderformen im DeReKo (Adler/ Plewnia 2019: 151) 4% 0,5% 1% 1% 2%4% 8% 17% 17% 46% keine Angabe den Student_innen andere Variante den Student*innen Student(innen) den StudentInnen den Student/ -innen den Studenten den Studentinnen und Studenten den Studierenden Abb. III.3.3.5: Vorläufige Ergebnisse der Spracheinstellungstestung (Adler/ Plewnia 2019: 151) Mit den einzelnen Argumenten der Befürworter und Gegner des sprachli‐ chen Genderns können wir uns hier nicht ausführlicher auseinandersetzen 3.3 Sprachliche Gleichstellung 371 <?page no="372"?> (vgl. dazu: Der Sprachdienst 1-2/ 2020). Zwar können für den öffentlichen Sprachgebrauch Regeln erlassen werden, doch eben nicht für den privaten, wie schon die Gesetzgebungsversuche der Académie Française belegen. Wie ausgeführt (→ Kap. I.2.3), können Sprecher/ Schreiber nur sehr begrenzt auf Sprachwandel Einfluss nehmen und Druck von unten auslösen. Sie können aber ihren eigenen Stil wählen, und darin liegt eine Chance, auch für den Sprachunterricht (→-Kap. III.1). 3.4 Einflüsse der sozialen Medien Die Frage, welche Folgen mit der Digitalisierung von Sprache und Kom‐ munikation verbunden sind, besser: sein werden, wurde seit Beginn der einschlägigen technologischen Entwicklungen gestellt, und zwar in der Öffentlichkeit wie im Fach selbst, u. a. von Haase et al. 1997, Weingarten (Hg.) 1997, Runkehl/ Schlobinski/ Siever 1998, auch Kallmeyer 2000. Auf einige dieser Positionen wollen wir im Folgenden mit der Konzentration auf soziale Medien näher eingehen. Der Journalist Zimmer betitelte sein 1997 erschienenes Buch: Deutsch und anders - Die Sprache im Modernisierungsfieber, in dem er kulturpes‐ simistisch verschiedene Neuerungstendenzen ins Lächerliche zieht. Die Meinungsumfragen zum Zustand der deutschen Sprache (→ Kap. III.2.1) belegen, dass das Internet als Quelle des Unbehagens und Ursache für vermeintlichen Sprachverfall im Blickpunkt steht. Die wissenschaftlichen Positionen versuchen demgegenüber, mit dem Argument der Vergrößerung der sprachlich-kommunikativen Ausdrucksweisen die Befürchtungen der Öffentlichkeit zu entkräften (u.-a. Storrer 2014, 2017). In den Publikationen der neunziger Jahre wurde die Frage allgemein nach einem ›Sprachwandel durch Computer‹ gestellt und der Blick auf Verände‐ rungen der Schriftsprache und auffällige Gemeinsamkeiten mit Strukturen gesprochener Sprache gelenkt, so Weingarten (1997: 8). Auch Haase et al. (1997: 81) betonten die Sprecher-Hörer-Nähe durch die sprechsprachliche Konzeption der Internet-Kommunikation und folgerten eine ›neue Schrift‐ lichkeit‹. Runkehl et al. (1998: 15) formulieren zurückhaltender die These einer Entstehung ›neuer Schreibstile‹, und auch Kallmeyer (2000) fasst die Ergebnisse der IDS-Tagung von 1999 (→ Kap. II.8) mit dem Verweis auf soziale Stilbildungen im kommunikativen Haushalt von Internet-Nutzern sowie auf eine Ausdifferenzierung kommunikativer Gattungen zusammen: 372 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="373"?> Die mediale Wahl ist auch ein Stilmerkmal und eine Ressource für soziale Diffe‐ renzierung, die zur Ausprägung von sozio-kulturell spezifischen Umgangsweisen mit den Medien führen. (Kallmeyer 2000: 293 ff.) Nach der Jahrtausendwende wurden dann Ergebnisse von empirischen Studien veröffentlicht, die sich die Aufgabe gestellt hatten, die befürchteten Einflüsse der Internet-Kommunikation auf das Schreiben, besonders von Jugendlichen, mit gesicherten Daten zu überprüfen. 2010 erschien die Studie von Dürscheid, Wagner und Brommer: Wie Jugendliche schreiben zum Einfluss und neuer Medien auf die Schreibkompetenz Jugendlicher. Dabei sollte das private computervermittelte Schreiben mit dem schulischen Schreiben verglichen und auf mögliche Interferenzen überprüft werden. Die Verfasser gingen u. a. von der Hypothese aus, dass die in den neuen Medien (SMS-, Chat- und E-Mail-Texte) auftretenden Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit und spezieller Verschriftungstechniken auf stilistischer und graphischer Ebene in den normgebundenen schulischen Textproduktionen nicht auftreten. Dazu wurden umfangreiche Korpora sog. Freizeit- und Schultexte sowie Fragebögen erhoben und vergleichend mittels eines diffe‐ renzierten Textanalyseverfahrens überprüft. Die Verfasser schließen: Das Schreiben in den neuen Medien ist kein Faktor, der das Schreiben in der Schule beeinflusst. Je nach Schreibsituation gelten andere Schreibkonventionen, und die Schüler sind sich dessen durchaus bewusst. (Dürscheid et al. 2010: 263) In einer weiteren Studie von 2016 stellen Dürscheid/ Frick vor: Schreiben digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das digitale Schreiben, sei es in der Eins-zu-Eins- oder in der Eins-zu-Viele-Kommunikation, in der Zwischenzeit stark zugenommen hat, bis hin zur Partnersuche und Trauer‐ kommunikation. Es werden neue und alte Kommunikationsformen (z. B. Briefe, Faxe) miteinander verglichen und spezielle Merkmale des digitalen Schreibens hervorgehoben, darunter - entgegen öffentlicher Annahmen - einige mit abnehmender Häufigkeit, wie Kurzschreibungen, Anglizismen, Inflektivkonstruktionen. Emojis und einige graphische Merkmale, z. B. der Groß- und Kleinschreibung haben sich dagegen besonders für informelle Kommunikationssituationen durchgesetzt. Allerdings wird auch betont, dass Emojis eher zur Illustration und nicht als Wortersatz dienen. Insgesamt plädieren die Verfasserinnen für eine Entemotionalisierung der öffentlichen Debatten und für weitere linguistische Beobachtungen. 3.4 Einflüsse der sozialen Medien 373 <?page no="374"?> So argumentiert auch auch Dürscheid (2018) in der Auseinandersetzung mit kritischen Argumenten einer Handysucht und Cyberkrankheit von Jugendlichen. Als Internetakteure haben diese in der Regel auch ein Be‐ wusstsein für unterschiedliche Schreibregister, Kontexte und Adressaten entwickelt. Das bedarf gleichwohl der Unterstützung durch Schule und Elternhaus. Wie groß und welcher Art schließlich der Einfluss sozialer Medien und der Mediatisierung allgemein auf einen Sprachwandel sind, darüber gehen die fachlichen Annahmen sehr auseinander. In einem Sammelband von 2014 hat Androutsopoulos internationale Beiträge zu Mediatisierung und sozio‐ linguistischem Sprachwandel in fünf Themenkreisen zusammengetragen, darunter Medieneinfluss auf Sprachwandel, auf interaktionale Praktiken, Wandel des mediatisierten, digitalisierten Sprachgebrauchs. Dabei geht es weitgehend um einen allgemeinen (Massen)Medienbegriff, und die Ein‐ flüsse werden breit gespannt von der Standardisierung zur Informalisierung und Destandardisierung, einschließlich der Einflüsse auf Spracheinstellun‐ gen oder Sprachideologien. Dabei zeigt sich die Fruchtbarkeit der Fokussie‐ rung auf soziolinguistischen Wandel, ein noch lange nicht ausgeschöpftes Forschungsfeld. 3.5 Zusammenfassung und Literatur Sprachwandel ist ein der Soziolinguistik genuin inhärentes Thema, insbe‐ sondere unter dem Aspekt eines Drucks von unten (Labov). Das Kapitel fasst zunächst wesentliche Einflüsse von Jugend- und Gruppensprachen an ausgewählten Beispielen der Pragmatik, Lexik und Semantik zusammen, die für die These einer übergreifenden Destandardisierung und Informali‐ sierung des Sprachgebrauchs sprechen. Deutschland hat als mehrsprachiges Land zu gelten: Es steht in intensivem Sprachkontakt, insbesondere zum Englischen wie zum Türkischen. Dieser Sprachkontakt wird in der medialen Öffentlichkeit sprachideologisch deutlich negativ bewertet: Es herrscht Angst vor Sprachverfall durch Sprachkontakt (Anglizismen, Ethnolekte). Kontakterscheinungen lassen sich funktional erklären: Sprachkontakt stellt Ressourcen für das Spiel mit oder den stilistischen und funktionalen Einsatz von fremdsprachlichen Elementen bereit, der das Deutsche nicht bedroht. Ausgehend von den sprachpolitischen Forderungen der feministischen Lin‐ guistik nach Alternativen zum sexistischen Sprachgebrauch wurde sodann 374 3 Soziolinguistik und Sprachwandel <?page no="375"?> die starke Verbreitung von Leitfäden zu geschlechtergerechten Formulie‐ rungen vorgestellt. Mit der Einführung der dritten Option: divers und der Erprobung verschiedener Schreibweisen für Mehrgeschlechtlichkeit ist die Debatte um das Gendern derzeit wieder heftig aufgelebt, hat aber auch schon zu Ermüdungserscheinungen geführt. Der private Sprachgebrauch rückt damit in den Bereich von Stilentscheidungen. Schließlich wurde auf die laufenden Diskussionen der mit der Digitalisierung allgemein verbundenen Folgen verwiesen, die sich auf die Frage nach einer neuen Schriftlichkeit konzentrieren. Vorliegende Studien verneinen jedoch einen negativen Ein‐ fluss auf das schulische Schreiben von Jugendlichen und heben deren Bewusstsein für unterschiedliche Schreibregister, Kontexte und Adressaten hervor. Dieses bedarf gleichwohl der Unterstützung durch Schule und Elternhaus. Eine Entemotionalisierung der öffentlichen Debatten ist nötig. Literatur (weiterführend) Androutsopoulos, Jannis (2007): Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs. In: Fand‐ rych, Christian/ Salverda, Reinier (Hg.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen. Tübingen, 113-155 Diewald, Gabriele (2020): »Alles ändert sich, aber nichts von allein.« Eine Standort‐ bestimmung zum Thema geschlechtergerechte Sprache. In: Der Sprachdienst 1-2, 1-15. Dürscheid, Christa/ Frick, Katharina (2016): Schreiben digital. Wie das Internet unsere Alltagkommunikation verändert. Stuttgart. Neuland, Eva/ Peschel, Corinna (2013): Einführung in die Sprachdidaktik. Stuttgart. (→-Kap. I.1, II.1, II.2) Literatur (gesamt) Adler, Astrid/ Plewnia, Albrecht (2019): Die Macht der großen Zahl. Aktuelle Sprach‐ einstellungen in Deutschland. In: Eichinger, Ludwig/ Plewnia, Albrecht (Hg.): Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch - methodisch - theoretisch. Berlin/ Boston, 141-162. Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin. Ammon, Ulrich/ Schmidt, Gabriele (Hg.) (2019): Förderung der deutschen Sprache weltweit. Vorschläge, Ansätze und Konzepte. Berlin. Androutsopoulos, Jannis (1997): Mode, Medien und Musik. Jugendliche als Sprach‐ experten. In: Der Deutschunterricht 6, 10-21. 3.5 Zusammenfassung und Literatur 375 <?page no="376"?> Androutsopoulos, Jannis (2005): »…und jetzt gehe ich chillen«: Jugend- und Szene‐ sprachen als Erneuerungsquellen des Standards. 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Kulturgeschichtlich konnten soziolinguistische Themen‐ schwerpunkte mit soziokulturellen Entwicklungen und mit soziokulturel‐ lem Wandel in Deutschland verbunden werden. Die sechs einleitend genannten zentralen Aspekte für einen soziolingu‐ istischen Zugang (→ Kap. I.4) haben sich insbesondere für die neuen Forschungsgebiete als hilfreich, wenn auch nicht immer als ausreichend er‐ wiesen. Dies konnte besonders für die Aspekte von Mehrdimensionalität der sprachlichen Variation, für die Bedeutung subjektiver Faktoren, Einflüsse auf gegenwärtiges Deutsch und empirische Vorgehensweisen, vor allem in interaktionalen Kontexten, zweifellos als zielführend für soziolinguistische Forschungen aufgezeigt werden ebenso wie der Einbezug soziokultureller Bedingungskontexte. Der Fokus auf soziale Differenz im Sprachgebrauch war hingegen nicht immer sofort einsichtig und musste manchmal erst mit Hilfe einer noch schwachen Forschungslage (→ z.B. Kap. II.8) rekonstruiert werden. Hier ist weitere Forschung im Kontext von Sprachvariation nötig. Es ist bedauerlich, dass die Frage nach einer sozialen Differenz nach dem frühen Aufschwung der Soziolinguistik in Deutschland im Verlauf der Forschungsentwicklung stellenweise wieder in Vergessenheit zu geraten scheint. Dies ist die Kehrseite konjunktureller Schwankungen in der Sprach‐ forschung, doch muss sich das nicht zwangsläufig ergeben. Vielmehr eröff‐ nen sich hiermit neue Forschungsfelder im Rahmen einer Soziopragmatik. Mit dem soziokulturellen Wandel in Deutschland ist auch die Soziolinguistik der deutschen Sprache in Bewegung geraten: Es bleibt also noch viel zu tun! <?page no="384"?> Register 68er-Generation-184f., 190 Adressatenorientierung-190 Ageismus-186 Agentivität-169 Akkomodationstheorie-187 Akronym-195, 202 Akzeptabilitätsgrad-285 Altersbilder-184, 186, 202, 204 Altersdiskriminierung-186 Altershomogenität-216 Alterslinguistik-183 Androzentrismus-169 Anglizismus-195, 356 Anspielung-196f. Anstandslehre-289 antiautoritär-191 apparent time-Querschnittstudie-54 Appell- personaler-97 positionaler-97 Äquivalenz- funktionale-49 Areallinguistik-127 Ästhetisierung-220 Auftretensfrequenz-83, 342, 346 Auftretensverteilung-342 Aufwärtsmobilität-52 Ausdrucksselektion-288 Ausgangssprache-307 Ausgleichsprozess-121f., 133 außerparlamentarische Opposition-191 Austriazismen-152 Balanceform-288 Basisdialekt-122, 124 Bedeutung- partikularistische-99 universalistische-99 Bedeutungskonstitution-35 Bedeutungsverengung-196 Begabungsreserven-18 Beidnennung-168 Beleidigung-177, 273f., 293, 298 Beliebtheitsskala-125 Beobacher-Paradoxon-75 Beschimpfung- rituelle-52 Best Ager-203 between-method-Triangulation-89 Bewerbungsgespräche-149 Bezeichnungskonkurrenz-286 Beziehungsarbeit-289 Beziehungsdefinition-35 Beziehungsmanagement-263f., 288 Bezugsgruppe-351 Bildungsbenachteiligung-105 Bildungskatastrophe-18 Bildungskrise-25 Bildungsnotstand-18, 26 Bildungsreform-19 Bildungssprache-107f., 111 Bildungs- und Wissenschaftsreform-19 Binnen-I-168 Blödeln-197 Bricolage-196f., 218 Brückensprache-157 <?page no="385"?> Code- elaborierter-44, 99 restringierter-44f., 99 Theorie der linguistischen -s-98f., 103 We--193 Code-Mixing-238 Code-Switching-238 Codewechsel- metaphorischer-57 situativer-57 cooperative rudeness-294 critical incident-88, 176 cross over-Effekt-52 Daten- metapragmatische-78 pragmatische-78 qualitative-78 quantitative-78 Defizithypothese-103 Defizitkonzeption-45 Demo-Sprüche-149 Derivation-195 Destandardisierung-349 Diachronie-331 Dialekt-57f. Dialektgeographie-21 Dialekt-Renaissance-124 diastratisch-211 Didaktik- kommunikative-309 kritische-308, 320 Didaktisierung-306 Differenzhypothese-103 Differenzthese-170 digitale Spaltung-262, 277 digital immigrant-109 Digitalisierung-25, 372, 375 digital native-109 Diglossie-58 direkte Kritik-177 Direktheitsgrad-174 Diskriminierung-163 Dissen-197f., 201 distal-173 Distanzform-288 distinktiv-vergemeinschaftend 197, 201 Doing Dominance-172 Doing Gender-172 Domäne-58, 189f., 195 Domänenpräferenz-189 Domänenverschiebung-124 Dominanz-165, 169, 171 Doppelrollen-Technik-40, 87 Doppelsprachigkeit-145 doppelte Halbsprachigkeit-106 doppelter Standard-175 draw a map-Aufgabe-127 Druck von unten-42, 372 Du-Modus-288 Dyade-174 Elizitierungstechnik-80 Emoji-373 Enregisterment-110 Entkontextualisierung-222 Erfahrungsgemeinschaft-184 Erinnerungsgemeinschaft-184 Erlebnisgesellschaft-193 Ernsthaftigkeit-298 Ethnolekt-218, 236, 357 ethnolektale Sprechweise-236 Etikette-344 Evaluation-103 Expressivität-196 Register 385 <?page no="386"?> face to face-Kontakt-216 Fachwortschatz-107 Fehlergeographie-121 Fehlertypologie-116 feine Unterschiede-65 Feldforschung-21, 61 feministische Linguistik-164f. Fiktionalisierung-198 Flugblätter-192 Foreigner Talk-233 Formalitätsgrad-297 Förmlichkeit-74 Forschungsdesiderat-165 Fossilierung-234 Frauenbewegung-23, 25 Frauenforschung-163 Freizeitgruppe-217 Fremdwortpurismus-357 Frequenz-168, 346 Freundschaftsskalen-40 Frikativ-35, 42, 51 Frotzeln-201 funktionale Angemessenheit-283, 318, 335 Funktionalstil-145 Gastarbeiterdeutsch-233 Gebrauchskonvention-284 Gegenwartssprache-18 Gender-171f. Genderlect-169 Gendern-284 Generationenlage-184 Generation Facebook-185 Generation Gold-203 Generationsbilder-25 Generationsgemeinschaft-216 Generationsgestalten-190 Generationskonflikte-185, 187 Generationsstereotyp-186, 202, 204 generisches Maskulinum-163, 166, 168, 178, 370 Germanistentag-18 Germanistik- Neubestimmung der-18 Gesamtschule-307 Geschlechterdominanz-168 Geschlechtergerechtigkeit-168 Geschlechterstilisierung-172 Geschlechtsidentität-172 Geschlechtsrollenstereotyp-172 geschlechtsübergreifend-166 Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS)-285 Gesellschaftsveränderung-19 gesichtsbedrohender Akt-294 gesichtsverletzender Akt-294 Gesinnungsgenossenschaft-220 Gesprächsanalyse-32 Gesprächsarbeit-164f. Gesprächskulturen-169 Gesprächslinguistik-36 Gesprächsstil-170 Gesprächsstilistik-171 gesprochensprachlich-78 Gleichberechtigung-365 Gleichstellung-171 Grundmundart-122 Gruppenidentität-219 Gruppeninterviews-85 Gruppensoziologie-212 Gruppensprache-193 Gütekriterium-76 Habitus-65, 203 Handlungspraxis-215 386 Register <?page no="387"?> Head Start-Programm-306 heimlicher Lehrplan-175 Helvetismen-152 Hochlautung-35 Hochsprache-20, 307-310 Höflichkeitsformel-289 Homogenitätsvorstellung-18 homophon-167 Hörerdeixis-288, 293 H-Varietät-60 Hyperkorrektheit-42, 52 Hyperkorrektur-103 Identitätsmanagement-264 Ideologie- standardsprachlich-362 illokutiver Akt-293 Imperative-97 (In)Definitheit-168 Indirektheit-149 Inflektivkonstruktionen-373 Informalisierung-43, 352f. Informalisierungstendenz-293 Informantenbefragung-17 Informationsmanagement-264, 277 inhaltsbezogene Sprachbetrachtung-209 Interaktantenkonstellation-198 Interaktionslinguistik-36 interaktionsorientiertes Schreiben-268f., 277 Interferenzfehler-103, 117 Interkulturalität-252 intervenierende Variable-78 Introspektion-73 invisible hand-Phänomen-341 Involviertheit-171 Jugendbewegung-25 Jugendlichkeit-352 Kiezdeutsch-202 Klassifikationsausdruck-195 Klatschen-201 Kleingruppenforschung-212 ko-konstruiert-171 kollektives Gedächtnis-150 Kommunikation- Angebots--196 Eltern-Kind--173 Ethnographie der-17 herrschaftsfreie-19 Internet--202 mündliche-20 Peergruppen--186 Kommunikationsgemeinschaft 215, 222 Kommunikationspräjudiz-187 kommunikative Dialektologie-116 kommunikative Gattungen-372 kommunikative Handlungsmuster-37 kommunikative Partizipation-222 kompensatorische Sprachförderung-306 Kompetenz- Argumentations--105 interkulturelle-252 kommunikative-56, 309 linguistische-56 Register--312, 319 sprachanalytische-314 Sprachkritik--315 sprachliche-65 sprachproduktive-314 Sprachreflexions--314, 317 Stil--314 Varietäten--319 Register 387 <?page no="388"?> Kompliment-174 Komposition-195 konditionelle Relevanz-37 Kontext-31, 38, 40f., 48, 50, 57, 64, 66 Kontextstil-37, 50f. Kontextualisierung-57 Kontextualisierungshinweis-223 kontrastive Analyse-121 Kontrolltechniken-97 konversationelle Erzählung-52 konversationelle Handlungsmuster 198 Konversationsanalyse-32 konzeptionelle Mündlichkeit-223 konzeptionelle Schriftlichkeit-107 Kookkurenz-296 Kooperationsverstoß-37 kooperativ-vergemeinschaftend-197, 201 Kopräsenz-222 Körperstrategien-165 Korpusanalyse-76, 345 korrelative Soziolinguistik-50 Korrespondenzdatenanalyse-90 Kurzwortbildung-195 Laienlinguistik-334 Laienwissen-127 Lästern-175, 201 Lautwandel-17 Lebensstil-216, 221 Lebenstreppen-183 Lehrpläne-307 Lemma-155 Lernersprache-234 Lernervarietät-234 lexikalische Vorhersagbarkeit-99 linguistische Pragmatik-20 Losungen-146, 148f. Lückentest-168 L-Varietät-60 Macht- symbolische-65 Männlichkeit-172 matched guise-Technik-40, 87 Medialisierung-222 Mediatisierung-354, 374 Mehrgeschlechtlichkeit-369, 375 Mehrkomponentenansatz-38 Mehrsprachigkeit-25, 39, 43, 246 äußere-249, 355 funktionale-319 gesellschaftliche-248 individuelle-248 innere-249, 319, 361 rezeptive-247 Meinungsumfragen-372 mental map-127 metaphorisch-331 middle class bias-19, 49, 99, 103 Migration-22, 25f. Migrationsvarietät-363 Minderheitensprache-141, 154 Minimalbestätigung-165 Minimalisierungsstrategie-177 mixed methods-Verfahren-88 Mobben-201 mock politeness-294 Modalitätswechsel-298 motherese-173 Movierung- Feminin--168 funktionale-169 Maskulin--169 relationale-169 multimodales Ausdrucksfeld-78 388 Register <?page no="389"?> Multimodalität-35, 58, 222 Musterhaftigkeit-83 Nähekommunikation-268 Nationalvarietät-144 Netzgemeinschaft-351 Netzwerk-220f. Netzwerkanalyse-130 neuer Substandard-122, 337 neue Schriftlichkeit-372, 375 Neutralformen-168 Neutralisierung-368 Nicknamen-269ff., 277 Nonstandardvarietäten-312 nonverbal-78, 292 Normdiskurs-284 Normengeltungsbereich-314 Normenreflexion-312 Normierung-283f. Normsprache-31 Notation-35 Objektivität-76, 78, 82 Okkasionalismus-348 Operationalisierung-76 Orthographie-35 Ortsloyalität-130 Ost-West-Differenzen-25 paraverbal-78 Parole-192 partikularistisch-47 Partizipialform-370 PASCH-Initiative-156 Passe-Partout-Formel-290 patronisierend-187 PC-→ political correctness Peergruppe-215f., 220, 223 Pejoration-273 Pejorativum-293, 298 Performance-201 perlokutiver Effekt-293 personaldeiktisch-288 personale Referenz-163 Phraseologismus-202 Pidgin-Deutsch-233 Pidginisierung-234 pluriareal-151 plurizentrisch-147, 151 political correctness-143, 284 Popularisierung-347, 352 Postadoleszenz-191 postmodern-221 posttraditional-222 Prestigeformen-163 Privilegierung-49 Produktivität-345f., 348 proximal-173 Pseudoanglizismus-358 Pseudopidgin-234 real time-Längsschnittvergleiche-54 Rechtschreibreform-142, 332 Redekonstellationskonzept-32 Referenzialität-166f. Referenzkorpus-370 Regionaldialekt-74 Register-37, 56 Reliabilität-76, 82 Repräsentativität-76, 80 Restandardisierung-349 Rezeptionssignale-171 Richtlinie-307, 311 Rollentheorie-20 Rosenthal-Effekt-175 Routineformel-291 Register 389 <?page no="390"?> Rückversicherungspartikel-171 Ruhrgebietsdeutsch-35 Runenschrift-225 Salienz-127 Scheinentlehnung-358 Scherzhaftigkeit-298 Schibboleth-152 Schimpfwort-177 Schlüsselwörter-147 Schreibprinzip-225 Schreibregister-374f. Schreibstil-171, 223 schriftsprachlich-78 Sekundärgruppe-351 Selbstdarstellungsfunktion-201 Selbstdegradierung-174 Selbstpräsentation-263 Selektivität-87 self-fulfilling prophecy-110 Semantischer Kampf-286 Sexismus-163, 165, 178 Sexus-172 Sie-Modus-288, 297 skriptural-223 Social Distancing-292 Sondersprachforschung-209 Sozialdialekt-210 soziale Deprivation-19 Soziale Dialektologie-17, 50, 61 soziale Distinktion-193 soziale Identität-97f., 133 soziale Kategorisierung-175 soziale Positionierung-37 sozialer Stil-132f. soziale Topik-35 soziale Ungleichheit-19 soziale Welt-132 Sozialisation-97f., 110 Sozialisationsagentur-220 Sozialisationsforschung-20, 172 Sozialisationsregister-173 sozialkonstruktivistisch-172 Sozialstilistik-37, 191 Soziolekt-58, 312 soziolinguistische Stile-37 Soziolinguistische Variable-50 Soziopragmatik-283 SPEAKING-Modell-55 Spirantisierung-35 Sprachbarriere-17, 97, 99, 105, 109, 111 Sprachberatung-147, 332, 334 Sprachbewusstsein-38, 174, 283 Sprachbiographie-147 Sprachbiographisch-183 Sprachdiagnostik-103 Sprachdidaktik- kommunikative-311 varietätenorientierte-311, 320 Sprachdifferenzbewusstsein-314, 337 Sprache- Ammen--173 APO--190 Bildungs--307 Fach--210 formale-44 Geheim--210 Gemein--209, 341, 344, 349, 351 gesprochene-20f. Gruppen--209ff. Internet--261 Jugend--21 Kinder--186 Kontra--210 leichte-108 öffentliche-44 390 Register <?page no="391"?> Pidgin--234 Prestige--354 Stadt--194 Standard--312 Straßen--194 Szene--194 Umgangs--309 Verlautbarungs--145 Spracheinstellung-31, 37f. Spracherhalt-38, 40 Spracherwerb-38f. Sprachfunktion-55 Sprachgebrauch- schichtspezifischer-17 Sprachgefühl-38, 284 Sprachgemeinschaft-18, 20, 52, 58, 64 Sprachideologie-354 Sprachinsel-356 Sprachkompensatorik-97, 99, 110, 306f. Sprachkonflikt-38 Sprachkontakt-240, 355 Sprachkorpus-370 Sprachkritik-164, 166, 312 didaktische-316 populistische-330ff., 334, 337 von oben-334 von unten-336f. Sprachkultur-21 Sprachlage-130 Sprachlenkung-141, 143 sprachliche Höflichkeit-176 Sprachmängelbewusstsein-333 Sprachmoralismus-143 Sprachnormbewusstsein-314 Sprachnormen-20 Sprachnormenkritik-315 Sprachpflege-21 Sprachplanung-141f. Sprachpolitik-25, 141f., 165f. Sprachpurismus-356 Sprachreflexion-312 Sprachselbstbewusstsein-336 Sprachsensibilität-192, 330 Sprachsoziologie-17 Sprachspaltung-144 Sprachstil-297 Sprachunterricht-312 Reform des -s-18 Sprachverfallsthese-330 Sprachverlust-38 Sprachwandel 20, 24, 31, 38, 40ff., 44, 49, 52, 54, 65, 355, 372 computervermittelt-373 von unten-337 Sprachwitz-145 Sprechereignis-55 Sprecherwechsel-165 Sprechkontrolle-50 Sprechsprache-35 Sprüche-192 Sputnik-Schock-19 staatliche Varietät-147 Stadtentwicklung-25 Standardisierung-78, 80, 85f. standardsprachliche Normen-315 statuierte Norm-284f. Statusdegradation-276 Statusplanung-142 Statustransmission-108 Stellenanzeigen-367 Stichprobenziehung-80f. Stigma-40 Stigmatisierung-49 Stil-37 Stilbastelei-196 Stilisierung-172, 178, 220 Register 391 <?page no="392"?> Stilmischung-202 Stilpräferenzen-149 Stilpyramide-309, 311 Stilratgeber-284 Stilwechsel-74 Strukturiertheit-82f., 85 subjektive Reaktionstests-42, 52 subjektive Theorie-175 subsistente Norm-284 Substandardvarietäten-313 Suffix-169 Symbolischer Interaktionismus-132 Synchronie-331 syntaktische Komplexität-48 syntaktische Vorhersagbarkeit-99 Szene-216, 221, 223 Tafelberg-183 Teach-In-192 Teilhabechance-105, 110 teilnehmende Beobachtung-55 Teilreziprozität-288 Testverfahren-77, 81, 86f. Teutonismen-152 thematisches Ereignis-198 Themenkontrolle-165 Themenpräferenz-175 Topping-Prinzip-196 Transkription-31, 78 tutorisierend-174 typographisch-79 Überlappung-171 Umgangsform-283, 298 Umgangssprache-21, 35 unechtes Lob-177 Unernst-196 Unhöflichkeit-273, 293f. universalistisch-47 Unterbrechung-171 Validität-76, 82, 90 Variablenregel-52 Variationslinguistik-17, 22, 25 Variationsspektrum-219 Varietät-58 Varietätenlinguistik-25, 61, 211 Verfahrensweisen- qualitative-74 quantitative-74, 78, 80 Vergemeinschaftung-212, 220 Vergesellschaftung-212, 221 vernetzte Individualität-263 Vorhersagbarkeit-47 Vorkommenhäufigkeit-345 vorlinguistische Tradition-17 Weiblichkeit-172 Wende-Generation-185 Wertungsausdruck-196 Wir-Gefühl-184 Wissensgemeinschaft-222 Wissenskluft-262 Wordle-Darstellung-296 written language bias-31 Zugänglichkeit-77 Zugehörigkeitskategorien-42 Zweigeschlechtlichkeit-169, 367 Zwei-Kulturen-These-169 Zwei-Welten-Texte-190 392 Register <?page no="393"?> Abbildungsverzeichnis Abb. I.2.1: Auswirkung der Sozialstruktur auf linguistische Codes (Bernstein 1972/ 1959: 249) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Abb. I.2.2: Linguistische Variable als Funktion von Kontextstilen und sozialen Schichten nach Labov (UUS/ LWC = untere Unterschicht; OUS/ UWC-= obere Unterschicht; UMS/ LMC-= untere Mitelschicht; OMS/ UMC-= obere Mittelschicht (Dittmar 1997: 59) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abb. I.2.3: Soziale und stilistische Stratifizierung der Variable (/ th/ ) nach Labov (Dittmar 1997: 59) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abb. I.2.4: Soziale Stratifikation von postvokalem / r/ für vier Altersstufen in zwangloser Rede in New York City nach Labov (1971: 177) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Abb. I.2.5: Prozentuale Verteilung der / r/ -positiven Antworten auf subjektive Reaktionstests nach Altersstufen in New York City nach Labov (1971: 177) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Abb. I.2.6: Prozentuale Verteilung von fünf sozialen Gruppen der höheren Einschätzung eines ›Mittelklassesprechers‹ gegenüber einem ›Unterklassesprecher‹ in Bezug auf die drei Merkmale . . . . . . . . . . . . . . 54 Abb. I.2.7: Kommunikationsprozess in ethnographischer Perspektive nach Gumperz (Dittmar 1997: 84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Abb. I.2.8: Beziehungen zwischen den Konstrukten der Makro- und Mikroebene von Fishman (1975: 60) nach Dittmar (1997: 76) . . . . . . . . . 59 Abb. I.3.1: Forschungsphasen (nach Friedrichs 2003: 22) . . . . . . . . . . . . . 76 Abb. I.3.2: Ablaufdiagramm (Bubenhofer 2006-2015) . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Abb. I.3.3: Stichprobenziehung (nach Schlobinski 2018: 40) . . . . . . . . . . 81 Abb. I.3.4: Verhältnis von Strukturiertheit, Standardisierung und Art der Fragestellung (nach Atteslander 2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Abb. I.3.5: Beispiel-Item aus dem Wuppertaler DFG-Projekt zur Jugendsprache (Neuland 2016: 46 sowie 2018: 82) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Abb. I.3.6: Soziale Situation im Experiment (nach Atteslander 2010: 199) 87 Abb. I.3.7: Methodentriangulation und Mixed Methods (https: / / studi-lek tor.de/ tipps/ qualitative-forschung/ triangulation-mixed-methods.html) 89 Abb. II.1.1: Symbolisierungen der Defizit- und der Differenzkonzeption schichtspezifischen Sprachgebrauchs (nach Neuland 1975: 219 ff.) . . . . 104 Abb. II.1.2: Begriffliches Umfeld der Bildungssprache (Feilke 2012: 6) . . 107 <?page no="394"?> Abb. II.1.3: Beispiel aus Netzwerk Leichte Sprache (Bock 2018: 17) . . . . 109 Abb. II.2.1: Idealtypische sprachliche Lebensläufe eines Dialektsprechers und einer Dialektsprecherin (nach Mattheier 1980: 54) . . . . . . . . . . . . . . 116 Abb. II.2.2: Dialektgebrauch (GfdS 2008: 30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Abb. II.2.3: Beispiel für eine kontrastive Analyse im Rheinischen (nach Klein et al. 1978: 24, zit. nach Neuland/ Hochholzer 2006: 180) . . . . . . . . 121 Abb. II.2.4: Umgangssprachen zwischen Standardsprache und Mundart (nach Eichhoff, zit. nach Macha 2006: 154) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Abb. II.2.5: Verbreitung und Entwicklung der Sprachvarietäten im mittleren Deutschland (Dingeldein 1997: 130) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb. II.2.6: Beispiel für mental map (nach: Der deutsche Sprachraum aus der Sicht linguistischer Laien, https: / / www.wahrnehmungsdialektologi e.uni-kiel.de/ de/ bilder/ ki116.jpg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Abb. II.3.1: Sprachpolitische Kernbegriffe (Marten 2016: 27) . . . . . . . . . . 142 Abb. II.3.2: Titelblatt von Reiher/ Läzer (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Abb. II.3.3: Aus dem Gelöbnis für die Jungen Pioniere (aus: Reiher et al. 1995: 43) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Abb. II.3.4: Plakate und Spruchbänder der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989 im Deutschen Historischen Museum in Berlin (picture-alliance | THILO RÜCKEIS TSP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Abb. II.3.5: Die Sprachmauer (Dittmar/ Bredel 1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abb. II.3.6: Protokoll über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union (Nr. L 30/ 4 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften) . . . . . . . . . . . . 153 Abb. II.3.7: Weltweite Verteilung der Deutschlernenden nach Regionen (Auswärtiges Amt 2020: 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abb. II.5.1: Lebenstreppe aus dem 19.-Jahrhundert (Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kunstgeschichte, Münster) . . . . . . . . . . . 183 Abb. II.5.2: Kommunikationspräjudiz des Alters (Ryan/ Kwong See 1998: 61 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Abb. II.5.3: Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Generationen? (Titelseite von Müller-Thurau 1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Abb. II.5.4: Häufigkeitseinschätzungen der Verwendung von Jugendsprache in den Domänen von Freizeit, Schule und Familie (Neuland 2016: 156) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Abb. II.5.5: Revolutionslexikon (Titelseite von Weigt 1968) . . . . . . . . . . . 192 Abb. II.5.6: Was heißt hier alt? (Titelblatt aus Focus 51/ 2007) . . . . . . . . . . 203 Abb. II.6.1: Klassifikation der Sondersprachen (Hirt 1921/ 1909) . . . . . . . 210 394 Abbildungsverzeichnis <?page no="395"?> Abb. II.6.2: Funktionen der Sondersprachen (Bausinger 1972: 124) . . . . 211 Abb. II.6.3: Einteilung der Soziolekte (Löffler 2016: 115) . . . . . . . . . . . . . 212 Abb. II.6.4: Gruppen in Szenen, Milieus und Subkulturen (erweitert nach Hitzler et al. 2001: 25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Abb. II.6.5: Bandlogos I (Busch 2015: 206) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Abb. II.6.6: Bandlogos II (Busch 2015: 112) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Abb. II.6.7: Beispiel für Nichtlinearität von Graffiti (Piece <SAK> (aus: Papenbrock et al. 2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Abb. II.7.1: Ethnolekte als Mischsprache im Sprachkontakt . . . . . . . . . . 240 Abb. II.7.2: Vom Ethnolekt zum Soziolekt (Auer 2003: 257) . . . . . . . . . . . 245 Abb. II.8.1: Genutzte Funktionen in sozialen Netzwerken in Deutschland 2021 (statista 2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Abb. II.8.2: Hate Speech im Internet (Quelle: istock/ asiandelight) . . . . . 272 Abb. II.8.3: Pegida-Demonstration in Dresden am 2.11.2015 (Foto: Winfried Schenk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Abb. II.9.1: Auftretenshäufigkeit des Ausdrucks: Rüpel im DeReKo (Neuland 2018: 321, aktualisiert 20.5.2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Abb. II.9.2: Wordle-Darstellungen der Kookkurrenzen der Ausdrücke: Flegel und Rüpel (Neuland 2018: 322, 324; aktualisiert 20.5.2021) . . . . . . 296 Abb. III.1.1: Stilpyramide (Neuland/ Peschel 2013: 197) . . . . . . . . . . . . . . . 309 Abb. III.1.2: Beispiel Maloche (aus Sprachbuch 6, 1977, S.-58f.) . . . . . . . . . 310 Abb. III.2.1: Interesse an Sprache (nach Eichinger et al. 2009: 8) . . . . . . . 329 Abb. III.2.2: Gefallen an der deutschen Sprache (ebd. 2009: 7) . . . . . . . . . 329 Abb. III.2.3: Wahrgenommene Veränderungen (ebd. 2009: 37) . . . . . . . . 330 Abb. III.2.4: ›Knabberein‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Abb. III.3.1.1: Entwicklung der Verwendungshäufigkeit von „Tussi“ im DeReKo (Stand 5/ 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Abb. III.3.1.2: Modell Sprachwandel (Neuland 2018: 116) . . . . . . . . . . . . . 350 Abb. III.3.3.1: Die Frau hawt dem Mann ab - Der Mann hawt dem Weib ab, zu Augspurg/ bey Abraham Bach Brieffmaler/ auffm Creutz (o.-J.) (Katalog des Goethe-Instituts Amsterdam/ Brüssel zur Ausstellung Emanzipation, 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Abb. III.3.3.2: Beispiel aus dem Frauenministerium des Landes Schleswig-Holstein (Braun 1991: 47) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Abb. III.3.3.3: (Stellen-)Anzeigen (Süddeutsche Zeitung v. 16./ 17.7.2022) 368 Abb. III.3.3.4: Genderformen im DeReKo (Adler/ Plewnia 2019: 151) . . . 371 Abb. III.3.3.5: Vorläufige Ergebnisse der Spracheinstellungstestung (Adler/ Plewnia 2019: 151) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Abbildungsverzeichnis 395 <?page no="396"?> Tabellenverzeichnis Tab. I.2.1: Bernstein-Thesen zur öffentlichen und formalen Sprache (1972/ 1959: 88 f.) (gekürzt und kontrastiv geordnet v. E.N.) . . . . . . . . . . . 46 Tab. I.2.2: Defizitvs. Differenzkonzeption (Dittmar 1973: 129 f., gekürzt v. E.N.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Tab. I.2.3: SPEAKING-Modell nach Hymes (Dittmar 1997: 82) . . . . . . . . 55 Tab. I.2.4: Beispiel: Domänen nach Fishman und Greenfield 1970 (Fishman 1975: 53) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Tab. I.2.5: Soziolinguistische Paradigmen im Vergleich (ergänzt und modifiziert v. E.N. nach Dittmar 1997: 99 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Tab. I.3.1: Quantitative vs. qualitative Methoden (nach Dittmar 1997: 101 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tab. I.3.2: Warum gebrauchst Du Jugendsprache? Häufigkeitsverteilung. *-Items aus Formulierungen Jugendlicher in Voruntersuchungen gewonnen; **-angegeben wurden Mittelwerte (m) und Standardabweichungen (SD) der Einschätzungen von 1 (trifft nie zu) bis 5 (trifft immer zu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Tab. I.3.3: Korpustypen und Arten von Sprachgebrauch (nach Neuland et al. 2020: 45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Tab. II.2.1: Beliebte und unbeliebte Dialekte (Gärtig 2010 et al., gekürzt nach Löffler 2016: 139) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Tab. II.2.2: Zusammenhang von situativen Varietäten und Arten sozialer Netzwerke im Erp-Projekt (nach Mattheier 1982: 102) . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tab. II.3.1: West-Ost-Wortschatzvergleich (DIE WELT, NEUES DEUTSCHLAND 1949-1974), Fälle mit mind. 95,5 % Belegzahldifferenz, in Klammern weitere Wortbildungen (Hellmann 1992, Bd.-2: 3 ff., hier nach von Polenz 1999: 424) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Tab. II.3.2: Lexikalische Varianten in beiden deutschen Staaten (Ammon 1995: 390) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Tab. II.4.1: Zusammenhang von Referenzialität und Relevanz von Geschlecht (Kotthoff/ Nübling 2018: 93) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Tab. II.4.2: Asymmetrie der Kennzeichnung von Geschlechterdifferenzen (Kotthoff/ Nübling 2018: 97) . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Tab. II.4.3: Beurteilung sprachlicher Höflichkeit nach Geschlechtern (Neuland et al. 2020: 47) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 <?page no="397"?> Tab. II.4.4: Beleidigungen Gleichaltriger nach Geschlechtern (Neuland et al. 2020: 99) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Tab. II.5.1: Strukturelle und inhaltliche Merkmale konversationeller Handlungsmuster Jugendlicher (! -= unbedingt; (x)-= tendenziell) (Neuland 2016: 245) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Tab. II.5.2: Funktionale Merkmale konversationeller Handlungsmuster (! -= unbedingt; (x)-= tendenziell) (vgl. Neuland 2016: 246) . . . . . . . . . . . . 200 Tab. II.8.1: Praktiken in sozialen Medien (Schmidt/ Taddicken 2017: 32) 265 Tab. II.9.1: Rangfolge der Schimpfwörter von Gleichaltrigen und von Erwachsenen gegenüber Jugendlichen nach Verwendungshäufigkeit (Neuland et al. 2020: 95 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Tab. II.9.2: Strukturmodell von Höflichkeit/ Respekt in jugendtypischem Verständnis (Neuland et al. 2020: 61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Tab. III.2.1: Sprachkritik von oben vs. Sprachkritik von unten . . . . . . . . 336 Tab. III.3.1.1: Meinungen von Lehrkräften über Höflichkeitswandel bei Schülern (Neuland et al. 2020: 128) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Tab. III.3.1.2: Bedeutung von Höflichkeit bei Schülern und Lehrkräften (Neuland et al. 2020: 44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Tab. III.3.1.3: Jugendsprachliche Ausdrücke nach Auftretenshäufigkeit im DeReKo (gekürzt, Stand 5/ 2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Tab. III.3.1.4: Förmlichkeitsgrade und Verwendungsbereiche frequenter Grußformeln Jugendlicher (Neuland et al. 2020: 155) . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Tab. III.3.1.5: Genannte Grußformeln Jugendlicher in der Begegnung mit Lehrkräften außerhalb des Unterrichts (Neuland et al. 2020: 137) . . . . . 353 Tabellenverzeichnis 397 <?page no="398"?> BUCHTIPP Höflichkeit ist ein wichtiges Thema laienlinguistischer Überlegungen zu Sprache und Kommunikation. Seit einiger Zeit hat es sich auch zu einem zentralen Gegenstand linguistischer Ansätze entwickelt. Der Band gibt einen Überblick über die wichtigsten sprachwissenschaftlichen Ansätze zur Höflichkeit und stellt diese in ihrer interdisziplinären Verflechtung mit Nachbardisziplinen dar. Die Autor: innen entwickeln einen theoretisch fundierten und empirisch angemessenen Blick auf Höflichkeit. Sie gehen davon aus, dass Höflichkeit kommuniziert wird, d.h. einen von den Sprechenden intendierten Effekt einer Äußerung darstellt. Sprachliche Höflichkeit kann daher im Rahmen eines pragmatischen Kommunikationsmodells behandelt werden, das auf handlungsleitenden Prinzipien und Maximen aufbaut. Sprachliche Höflichkeit wird dabei als zentrales Element der Beziehungskommunikation erklärt. Claus Ehrhardt, Eva Neuland Sprachliche Höflichkeit 1. Auflage 2021, 346 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-5541-1 eISBN 978-3-8385-5541-6 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="399"?> BUCHTIPP Der Band erläutert die vielfältigen Ursachen von Geschlechterstereotypen und zeigt Möglichkeiten auf, im Alltag, in verschiedenen Lehr- und Lernsituationen oder bei der Beurteilung der Kinder gendersensibel zu agieren, um aktiv Chancengleichheit für alle Kinder herzustellen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist im Grundgesetz verankert. Mit Frauenquoten für DAX-Vorstände oder Elternzeit für Väter versucht die Politik diese Vorgabe umzusetzen. Der langfristige Erfolg solcher Maßnahmen setzt allerdings ein Umdenken voraus, das Erwachsene vorleben und Kindern weitergeben. Der Fokus liegt auf dem Einfluss der Sprache: Sie behandelt die Geschlechter nicht gleich. Kinder werden durch Sprache frühzeitig mit Geschlechterstereotypen konfrontiert, die ihr Verhalten, ihre Berufswahl und damit ihren gesamten Lebensweg steuern und Geschlechterunterschiede zementieren. Unser Sprachgebrauch beeinflusst unser Denken, unsere Wahrnehmung und damit unser Handeln. Lehrkräfte und Betreuungspersonen finden in diesem Band Anregungen, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu werden und in Kita, Schule oder Universität einen gendersensiblen Umgang miteinander zu praktizieren. Hilke Elsen Gender - Sprache - Stereotype Geschlechtersensibilität in Alltag und Unterricht 1. Auflage 2020, 281 Seiten €[D] 25,90 ISBN 978-3-8252-5302-8 eISBN 978-3-8385-5302-3 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="400"?> mehr Bücher zum Thema | bequem online bestellbar | Print- und eBooks www.narr.de/ service Wirtschaft Theologie Literaturwissenschaft Medien- & Kommunikationswissenschaft Tourismus Linguistik Politik & Soziologie Unsere Top-Themen für Sie Technik Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="401"?> ,! 7ID8C5-ceeffc ISBN 978-3-8252-4455-2 Dieser Band bietet einen breiten Überblick über die Soziolinguistik der deutschen Sprache. Er behandelt anhand aktueller Fragestellungen, Forschungsliteratur und Beispiele schwerpunktmäßig herkömmliche und neue Forschungsfelder, die für die Lehre von besonderem Interesse sind, und eignet sich ideal als Seminar-Grundlage sowie als Überblickslektüre mit Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Forschungsentwicklungen. Dabei werden zentrale soziale Faktoren (wie soziale Gruppe, soziale und regionale Herkunft, Gender, Generation und Soziale Medien) und Prozesse (wie Migration, Mehrsprachigkeit und Sprachwandel) in ihrem Einfluss auf den Sprachgebrauch im Deutschen berücksichtigt. Auch subjektive Faktoren von Sprachbewertungen und Spracheinstellungen sowie der Einfluss der Soziolinguistik auf Schule und Sprachunterricht werden einbezogen. Sprachwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel
