Kritisches Denken und Argumentieren
Eine Einführung für Studierende
0923
2024
978-3-8385-5503-4
978-3-8252-5503-9
UTB
Otto Kruse
10.36198/9783838555034
Kritisches Denken ist mehr als das Sahnehäubchen auf der akademischen Bildung. Es ist ihr Kern und zudem Ziel jedes Hochschulstudiums. Otto Kruse macht verständlich, was darunter zu verstehen ist und wie man es lernen kann. Er zeigt, wie man das Denken organisiert, wie man Meinungen begründet, Wissen prüft und Denkmedien einsetzt. Das berührt zentrale Fragen einer angewandten Erkenntnistheorie wie Wahrheit, Logik, Kausalität, Wissen, Fakten, Schreiben, Sprache und Argumentieren.
Neu in der zweiten Auflage sind drei Kapitel: eines zum Denken im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, ein zweites zur Selbststeuerung der intellektuellen Entwicklung und ein drittes über die zehn wichtigsten Arten des Denkens in den Wissenschaften.
Kritisch denken - so die Essenz des Buches - heißt nicht, andere zu kritisieren, sondern Verantwortung für die Qualität des eigenen Denkens zu übernehmen. Das zu erreichen sollte der Lernertrag aus der Lektüre sein.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-5503-9 Otto Kruse Kritisches Denken und Argumentieren 2. Auflage Kritisches Denken ist mehr als das Sahnehäubchen auf der akademischen Bildung. Es ist ihr Kern und zudem Ziel jedes Hochschulstudiums. Otto Kruse macht verständlich, was darunter zu verstehen ist und wie man es lernen kann. Er zeigt, wie man das Denken organisiert, wie man Meinungen begründet, Wissen prüft und Denkmedien einsetzt. Das berührt zentrale Fragen einer angewandten Erkenntnistheorie wie Wahrheit, Logik, Kausalität, Wissen, Fakten, Schreiben, Sprache und Argumentieren. Neu in der zweiten Auflage sind drei Kapitel: eines zum Denken im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, ein zweites zur Selbststeuerung der intellektuellen Entwicklung und ein drittes über die zehn wichtigsten Arten des Denkens in den Wissenschaften. Kritisch denken - so die Essenz des Buches - heißt nicht, andere zu kritisieren, sondern Verantwortung für die Qualität des eigenen Denkens zu übernehmen. Das zu erreichen, sollte der Lernertrag aus der Lektüre sein. Schlüsselkompetenzen 2. A. Kruse Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Kritisches Denken und Argumentieren Studieren, aber richtig 2024-08-21_5503-9_Kruse_M_4767_PRINT.indd Alle Seiten 2024-08-21_5503-9_Kruse_M_4767_PRINT.indd Alle Seiten 21.08.24 10: 34 21.08.24 10: 34 <?page no="1"?> utb 4767 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. em. Otto Kruse war lange Zeit als klinischer Psychologe an zwei Berliner Universitäten tätig, dann als Professor für Psychologie der sozialen Arbeit in Erfurt und zuletzt als Dozent für Angewandte Linguistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er hat sich auf wissenschaftliches Schreiben in Zusammenhang mit kritischem Denken spezialisiert und unterrichtete dieses Fach in mehreren Studiengängen. Er ist weiterhin an Projekten zum digitalen Schreiben beteiligt. Studieren, aber richtig Herausgegeben von Michael Huter, Huter & Roth, Wien Die Bände behandeln jeweils ein Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das gesamte Paket versetzt Studierende in die Lage, die wesentlichen Aufgaben im Studium zu erfüllen. Die Themen orientieren sich an den wichtigsten Situationen und Formen des Wissenserwerbs. Dabei werden auch das scheinbar Selbstverständliche behandelt und die Zusammenhänge erklärt. Weitere Bände: Otto Kruse: Lesen und Schreiben (utb 3355) Theo Hug, Gerald Poscheschnik: Empirisch Forschen (utb 3357) Gerlinde Mautner: Wissenschaftliches Englisch (utb 3444) Jasmin Bastian, Lena Groß: Lernen und Wissen (utb 3779) Melanie Moll, Winfried Thielmann: Wissenschaftliches Deutsch (utb 4650) Sabine Dengscherz, Michèle Cooke: Transkulturelle Kommunikation (utb 5319) Steffen-Peter Ballstaedt: Wissenschaftliche Bilder: gut gestalten, richtig verwenden (utb 6031) Gerlinde Mautner, Christopher Ross: English Academic Writing (utb 6028) Klaus Niedermair: Recherchieren, Dokumentieren, Zitieren (utb 3356) <?page no="3"?> Otto Kruse Kritisches Denken und Argumentieren Eine Einführung für Studierende 2., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838555034 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2024 1. Auflage 2017 © UVK Verlag 2024 ‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4767 ISBN 978-3-8252-5503-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5503-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5503-9 (ePub) Umschlagabbildung: © iStock - peopleImages Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi‐ bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 I 15 1 16 2 18 3 21 4 22 5 31 6 34 7 36 II 39 1 39 2 45 III 51 1 52 2 57 3 61 4 63 5 65 6 69 Inhalt Worum es in diesem Buch geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? . . . . . Denkfähigkeit aufbauen - Was bedeutet das? . . . . . . . . . . . . . . . . An den elementaren Denkoperationen ansetzen . . . . . . . . . . . . . . Stärken und Schwächen des eigenen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigene Meinungen bewusst gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkmedien gezielt einsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was macht das Denken kritisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Denken zum kritischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Feinde des kritischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist ein Gedanke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedanke und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheitswert und Geltungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedanken präzisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geltungsansprüche modifizieren: Heckenausdrücke . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 7 71 8 72 9 73 10 74 IV 85 1 86 2 88 3 89 4 92 5 113 6 119 V 127 1 128 2 131 3 133 4 136 5 141 6 148 VI 153 1 154 2 160 VII 165 1 166 Gedanken miteinander verbinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Aussage negieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logisches Schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu argumentieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum argumentieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumentieren in den Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesenbezogenes Argumentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumentieren und hypothetisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren . . . . . . . . . Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daten, Fakten und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faktenbezug im eigenen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fakten und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätskriterien für Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . Arten wissenschaftlichen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien und ihre Qualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität: Analytisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität und kausales Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur, System, Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrheitskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2 172 3 174 VIII 177 1 178 2 180 3 184 IX 191 1 192 2 193 3 195 4 197 5 198 6 200 7 202 8 204 9 205 10 207 11 209 X 211 1 212 2 222 XI 231 1 232 Die Bewährung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicheres, unsicheres und fehlendes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz . . Digitalisierung: Wohin geht die Reise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generative KI - was ist neu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technologien für das wissenschaftliche Arbeiten . . . . . . . . . . . . . Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeptuelles/ konzeptionelles Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Argumentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflektieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothetisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluatives Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anleiten und Instruieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese der Denkarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritisches Denken, Schreiben und Lesen . . . . . . . . . . . Schreiben als Mittel Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstseinserweiterung: Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation mit sich selbst: Das Denktagebuch . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 2 235 3 238 4 244 5 252 6 262 XII 271 275 294 305 306 Bestandsaufnahme: Stärken und Schwächen des eigenen Denkens Epistemische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Denkprozess navigieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? . . . . . . . . Die soziale Seite des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzes Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Worum es in diesem Buch geht Dieses Buch bietet Ihnen Gelegenheit, sich mit dem eigenen Denken aus‐ einanderzusetzen und es mit dem abzugleichen, was als „kritisches Denken“ bezeichnet wird. Es geht zunächst auf das ein, was „Denken“ allgemein bedeutet und erläutert dann nach und nach, wie man vom Denken zum kritischen Denken gelangt. Rezepte dürfen Sie dabei nicht erwarten, denn es gibt keine einfachen Regeln für das Denken und für das kritischen Denken schon gar nicht. Wohl aber hat das Denken auch eine handwerkliche oder methodische Seite, die darin besteht, gekonnt mit Gedanken umzugehen, und das ist ein lernbares Gewerbe. Das Denken ist kein beliebiges Thema, sondern es betrifft eine Gattungs‐ eigenschaft der Menschheit. Wir definieren uns unter anderem darüber, dass wir denkende Wesen sind. Entsprechend groß ist auch das Wissen, das über das Denken existiert, und entsprechend lang ist der historische Vorlauf, den das Thema hat. Mindestens ebenso groß ist aber auch das Unwissen, das das Denken umgibt. Das Denken ist keine zeitlose Aktivität, sondern es ist an die vorhandenen Medien gebunden, die das Denken unterstützen und seine Ergebnisse kommunizieren. Mit den digitalen Transformationen stecken wir mitten in einem medialen Umbruch, wie er nur alle tausend Jahre einmal vorkommt. Die Auswirkungen auf das Denken sind noch nicht ausgelotet und können dementsprechend nur angedeutet, nicht wirklich ausgeführt werden. Sie werden sich aber damit arrangieren müssen, dass von Ihnen mehr intellektuelle Mobilität verlangt wird als früher. Wenn Sie zu studieren beginnen, ist Ihre Denkfähigkeit das wichtigste Kapital, das Sie ins Studium mitbringen. Eine erheblich verbesserte Denk‐ fähigkeit sollte das wichtigste Resultat sein, das Sie aus dem Studium in die nächste Ausbildungsstufe oder in den Beruf mitnehmen. Fachwissen ist zwar eine notwendige Grundlage für jeden Beruf, aber das Denken behält seinen Wert auch dann noch, wenn das Wissen längst veraltet ist. In diesem Buch geht es darum, wie Sie das Studium nutzen können, um einen möglichst hohen Gewinn für Ihre Denkfähigkeiten daraus zu ziehen. Und es geht darum, dass Sie diesen Entwicklungsprozess bewusst erleben und gestalten. Damit erreichen Sie intellektuelle Selbstständigkeit. Kritisches Denken ist nicht einfach das i-Tüpfelchen auf Ihrer akademi‐ schen Ausbildung, das irgendwann zu den fachlichen oder beruflichen <?page no="10"?> Lerninhalten noch dazukommt, sondern im Gegenteil: Es ist ihr Kern. Heute gibt es kaum ein anderes Bildungsziel, das mehr Akzeptanz fände als das kritische Denken und kaum eines, das angesichts der großen gesellschaft‐ lichen Herausforderungen nötiger wäre. Es lohnt sich für Sie also, etwas Zeit zu investieren, um herauszufinden, worum es dabei geht. Es verbirgt sich nämlich mehr dahinter als das oft zitierte Hinterfragen von Wissen und genaue Begründen von Meinungen. Es geht auch nicht um die Kritik von anderen, sondern um ein Verständnis davon, wie das eigene Denken funktioniert und wie man für die Qualität der eigenen Denkergebnisse einstehen kann. Von dieser Warte aus lassen sich dann auch die Positionen anderer einschätzen und kritisieren. Ihr Denken ist etwas Privates, zu dem nur Sie selbst Zugang haben und das Sie nur selbst entwickeln können. So sehr Sie es auch mit den Denkmustern Ihres Faches abzugleichen versuchen oder sich beim Denken mit anderen kurzschließen - es behält immer Ihre persönliche Prägung, Ihren Eigensinn und widersetzt sich nicht selten auch Ihrer Selbstbeeinflussung. Erwarten Sie also bitte nicht von Ihrem Studiengang, dass er Ihnen sagt, wie Denken geht, auch wenn er Ihnen Gelegenheit gibt, Ihr Denken anzuwenden und auszuprobieren. Sie müssen seine Entwicklung selbst in die Hand nehmen. Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, Ihr eigenes Denken auch von außen betrachten zu lernen, damit Ihnen seine Beschaffenheit verständlicher und seine Steuerbarkeit zugänglicher werden. Über das eigene Denken nachzudenken ist etwas, das man vor allem dann tut, wenn etwas mit dem Denken schiefgeht, wenn man also etwas nicht versteht, wenn man etwas falsch eingeschätzt hat, eine Klausur verhauen hat oder die Statistik nicht begreift, die mit schönen bunten Balken verziert vor einem liegt. Oder auch dann, wenn man generell das Gefühl hat, andere denken besser, schneller, ertragreicher, genauer. Wer Schach spielt, hat oft dieses Gefühl, denn dort wird ungenaues Denken schnell bestraft. Wer wissenschaftliche Texte schreiben muss, erlebt das auch, denn der Kampf mit den Inhalten und Formulierungen produziert viel Ratlosigkeit in Bezug auf das eigene Denken. Auch dieses Gefühl, dass Ihr Denken verbesserbar ist, ist wichtig dafür, dass Sie mit dem Buch etwas anfangen können. Wenn Sie glauben, Ihr Denken sei perfekt und besser als das aller anderen, stellen Sie das Buch bitte zurück ins Regal oder machen das PDF zu. Sie brauchen es nicht. Wer am eigenen Denken nicht zweifelt und mitunter auch verzweifelt, wird es in dieser Kunst nicht weit bringen. 10 Worum es in diesem Buch geht <?page no="11"?> Auch angesichts der immer weiter um sich greifenden populistischen Strömungen ist eine Besinnung darauf nötig, was rationales, reflektiertes und faktenbezogenes Denken ist. Kritisches Denken braucht plurale und liberale Gesellschaftsstrukturen mit offenen Diskursen, um sich entfalten zu können. Kritisches Denken ist nur in demokratischen Kontexten ein relevantes Bildungsziel und gerät in autoritären Gesellschaftsstrukturen schnell unter Beschuss, zusammen mit der Meinungs- und Pressefreiheit. Kritisches Denken ist also auch etwas, das nicht selbstverständlich als ge‐ geben angenommen werden kann, sondern etwas, das von demokratischen Gesellschaften verteidigt werden muss. Denken im Studium heißt zuerst einmal, mit Fachwissen umgehen zu lernen, denn Sie müssen das Denken am Umgang mit dem Stoff Ihres Fachs schulen. Denken kann man nicht abstrakt lernen, es braucht einen Gegenstand, an dem es sich abarbeiten kann, und es lässt sich nur erweitern, wenn Sie neue Denkmöglichkeiten an neuen Themen erproben. Dies wie‐ derum erfordert neues Wissen, das mit den entsprechenden Konzepten und Fachbegriffen unterlegt ist. Denken, Lernen und Wissen gehören zusammen und stellen die wichtigsten Ressourcen des Studiums dar. Das Denken daraus herauszulösen, wie das in diesem Buch geschieht, ist etwas artifiziell, aber nötig, um seinen Beitrag für das Studieren zu spezifizieren. Die anderen beiden sollten aber nicht vergessen werden. Über den Umgang mit Fachwissen hinaus geht es aber auch darum, über Ihr eigenes Leben nachzudenken und sich selbst darin zu positionieren. Das betrifft Ihre Identität, Ihre Meinungen, Ihre politischen Ambitionen, Ihre kulturellen Affinitäten, Ihre Beziehungen zu anderen Menschen, Ihre beruflichen Vorstellungen und einiges mehr. Sie können Ihren Verstand nicht entwickeln, ohne herauszufinden, wer Sie selbst sind und was Sie auf dieser Welt zu tun haben. Was mir dabei am Herzen liegt, sind die zusätzlichen Freiheitsgrade, die Sie im Denken brauchen, damit es Sie selbst und Ihr Leben einschließen kann. Wenn sich Ihr Denken weiterentwickelt, verändern sich auch Ihre Beziehungen zur Welt und zu sich selbst. Das Persönliche sollte bei der Thematisierung Ihrer intellektuellen Entwicklung deshalb nicht ausgeklammert werden. Der Schritt vom Denken zum kritischen Denken steht naturgemäß im Vordergrund des Buches. Dieser Schritt geht nicht vom Einfachen zum Komplexen, sondern eher umgekehrt vom Komplexen zum Einfachen. Es geht darum, hinter der Flut an Wissen und Denkmöglichkeiten die Worum es in diesem Buch geht 11 <?page no="12"?> elementaren Fragen zu finden, die ein bewusstes, reflektiertes Nachdenken aufwirft, wie etwa die folgenden: ● Was tue ich, wenn ich denke? ● Was ist ein Gedanke? ● Wie kann ich meinen Gedankenfluss steuern? ● Was macht eine Behauptung glaubwürdig? ● Was ist ein Urteil, und wie kann ich Urteile wissenschaftlich fundiert fällen? ● Wie stütze ich meine Meinung mit Argumenten? ● Was tue ich, wenn ich etwas analysiere? ● Wofür brauche ich ein Konzept von Kausalität? ● Warum orientieren wir uns an Wahrheit, obwohl es keine absoluten Wahrheiten gibt? ● Wie verändert sich ein Gedanke, wenn ich ihn aufschreibe? ● Was passiert mit meinem Denken, wenn ich digitale Tools einsetze, die mir Denkarbeit abnehmen? Ziel dieses Buches ist es, Ihnen einige Antworten zu diesen Fragen vorzu‐ schlagen, um damit das Denken einfacher zu machen. Es geht dabei vor allem um das Zentrieren des Denkens: Weg von den vielen Details und hin zu den essenziellen Fragen, die die Welt des Intellekts beherrschen. Den Hauptteil des Buches machen Themen aus, die man einer praktischen Erkenntnistheorie zuordnen kann. Dazu gehören Fragen wie etwa die, was Gedanken, Denkformen, Logik, Argumentieren, Fakten, analytisches Denken und Wahrheit sind. Dann kommen Punkte dazu, die Sie mit der Realität des Studierens heute verbinden, und das hat nicht nur mit dem Lernen, sondern auch mit Digitalität und künstlicher Intelligenz zu tun. Zudem erhalten Sie einen Überblick über die grundlegenden Denkarten, die es in den Wissenschaften gibt. Im letzten Kapitel wird das Buch wieder persönlicher, und Sie erhalten genauere Hinweise darauf, wie Sie Ihre intellektuelle Entwicklung selbst in die Hand nehmen können. Es könnte sein, dass Sie dieses Kapitel früher lesen wollen, denn es enthält einige praktische Hinweise darauf, was Sie konkret tun können, um Ihr Denken zu entwickeln. Von der Logik her schien es mir besser zu den Schlussfolgerungen zu passen, deshalb steht es jetzt am Ende. Ich zähle aber auf Ihre Flexibilität. Gegenüber der ersten Auflage sind alle Kapitel dieses Buches überarbeitet, aktualisiert und, wo nötig, korrigiert worden. Zudem sind einige Kapitel 12 Worum es in diesem Buch geht <?page no="13"?> stark gekürzt worden, vor allem im Einleitungsteil und gegen Ende. Ak‐ tualisiert wurde der Bezug des Denkens zu den digitalen Technologien, die sich durch die neue künstliche Intelligenz gerade noch einmal radikal wandeln. Neu dazugekommen sind die Kapitel IX und XI, die vor allem Konkretisierungen vornehmen und die erkenntnistheoretischen Aspekte des Hauptteils wieder auf das herunterbrechen, was Ihr Studium und Ihre konkrete Denkentwicklung betrifft. Zu Dank verpflichtet bin ich Gabriela Ruhmann und Michael Huter, die die Entstehung dieses Buches begleitet haben. Für wertvolle Unterstützung bedanke ich mich bei Paola Gilardi, Onur Erdur, Eckhard Giese, Richard Rosenberger, Uta Preimesser und Nadja Hilbig. Worum es in diesem Buch geht 13 <?page no="15"?> I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? 1 Denkfähigkeit aufbauen - Was bedeutet das? 2 An den elementaren Denkoperationen ansetzen 3 Stärken und Schwächen des eigenen Denkens 4 Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen 5 Denken und Verstehen 6 Eigene Meinungen bewusst gestalten 7 Denkmedien gezielt einsetzen Beginnen wir mit einer Einführung in das, was allgemein unter „Den‐ ken“ zu verstehen ist und rekapitulieren, was Sie über das Denken vermutlich bereits wissen, bevor wir uns ans kritische Denken machen. Wie alle Menschen kennen Sie das Denken vor allem aus der Innen‐ sicht. Sie erhalten z. B. eine Aufgabe oder müssen ein Problem lösen, und es entstehen Gedanken in Ihrem Kopf, die Sie auf irgendeine Weise „sehen“. Wo kommen sie her? Wie nimmt man sie wahr? Was kann man mit ihnen machen? Denken ist eine abgrenzbare mentale Aktivität, aber keine homogene oder einheitliche Sache. Es ist wichtig, verschiedene Arten des Denkens und unterschiedliche Anforderungen an gedankliche Aktivitäten zu verstehen. Das Kapitel soll dabei helfen, das eigene Denken in den Blick zu nehmen und seine verschiedenen Bestandteile wahrzunehmen, um sie der Reflexion und Steuerung zugänglicher zu machen. Seine Verbindungen zum Erkennen, Lesen, Schreiben, Lernen, Mediengebrauch und wissenschaftlichen Arbeiten sollen sichtbar werden, auch wenn wir diese Themen erst später vertie‐ fen. Es geht dabei um nichts weniger als um den Zugang zur bewussten Steuerung Ihres Verstandes und Ihrer intellektuellen Entwicklung. <?page no="16"?> 1 Denkfähigkeit aufbauen - Was bedeutet das? Denkräume schaffen Weit verbreitet ist das Denkmuster der Intelligenzforschung, dem zufolge man ein bestimmtes Niveau an Intelligenz besitzt, das lebenslang in etwa gleich bleibt. Man wird demnach als Genie oder als Dummchen geboren und bleibt darauf lebenslang sitzen. Zwar beschreibt das Intelligenzkonzept einige globale Parameter des Denkens, z. B. die Geschwindigkeit des Den‐ kens oder die Präferenzen zu verschiedenen Arten des Denkens (sprachlich, abstrakt, räumlich), aber Zugang zum Denken findet man darüber nicht. Das Denken ist im Gegensatz zur Intelligenz nämlich immer konkret, so konkret, wie man einzelne Züge in einer Schachpartie prüft, wie man beim Schreiben einer Seminararbeit Argumente durchdenkt oder beim Lösen einer mathematischen Gleichung algebraische Operationen ausführt. Keine dieser Denkarten ist einfach auf Intelligenz aufgebaut, für alle drei muss man mühsam spezifische Denkoperationen lernen und Wissen bereitstellen. Und von allen drei Denkarten gibt es wenig Transfer zu den anderen. Wer Mathe kann, kann deshalb noch lange nicht Schach spielen, und wer gut Schach spielt, mag beim Schreiben einer Hausarbeit wie der Ochs vorm Berg stehen. Hier entscheidet nicht das Niveau an Intelligenz über den Erfolg, sondern das aufgabenbezogene Denken. Wenn das nicht stimmt, geht die Schachpartie verloren, ergibt die Seminararbeit keinen Sinn und lässt die Gleichung sich nicht lösen. Es ist eine Sache von Zeit und Energie, um jedes der drei genannten Kompetenzfelder aufzubauen. Alles Denken hat Voraussetzungen, und diese Voraussetzungen haben wir durch früheres Denken geschaffen, ebenso wie wir das, was wir im Augenblick denken, für spätere intellektuelle Leistungen bereitstellen. Wir müssen das Gleiche nicht immer wieder neu denken, sondern automatisieren es, damit höhere Denkleistungen darauf aufbauen können. Um diesen Aufbau von Denkfähigkeiten geht es hier. Denken lernt man nicht in einem Rutsch, sondern Schritt für Schritt und das, was „Intelligenz“ genannt wird, ist nur der eher unspezifische Hintergrund konkreter Denkleistungen. Für die Entwicklung jedes der drei eben genannten Denkfelder ist ein beträchtlicher Trainingsaufwand notwendig. Das können Hunderte oder sogar Tausende von Stunden sein, wie etwa im Schach, wenn man über das Anfangsniveau hinauskommen will. Noch mehr Zeit ist im Schach anzuset‐ zen, wenn man es zur Meisterschaft bringen will. In Schachvereinen wird 16 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="17"?> geschätzt, dass der Aufwand dafür, es zu Bundesligaqualität zu bringen, etwa dem Äquivalent eines Bachelor-Studiengangs entspricht. Gladwell (2008) verweist in seinem lesenswerten Buch „Outliers. The Story of Success“ auf Forschung, die belegt, dass zehntausend Stunden und mehr Training nötig sind, um Leistungen auf Spitzenniveau zu erbringen, egal in welchem Bereich. Spitzenleistungen entstehen nie aus dem Stand heraus und sind nie ohne umfangreiche Übung zu erreichen. Es geht dabei auch nicht einfach um Wissen, sondern um konkrete Denkoperationen und automatisierte Denkroutinen. Auch das besagt, dass mit Intelligenz allein noch nichts getan ist, solange das Denken nicht in die richtigen Bahnen gelenkt wird. Wer kritisch denken lernen will, sollte sich für das Üben nicht zu schade sein. Für Ihr Studium müssen Sie entscheiden, an welchen Stellen Sie wie viel Energie investieren wollen, um Routinen für komplexe Denkprozesse aufzubauen und an welchen Stellen nicht. Im Studium geht es nicht primär um Ihre allgemeine Intelligenz- oder Wissensentwicklung, sondern vor allem um Spezialisierung und Expertise, wie zum Beispiel ● die Entwicklung von Formulierungs- und Analyseroutinen bei Litera‐ turinterpretationen, ● das Anwenden einer Programmiersprache, ● das Planen und Durchführen von Experimenten, ● die Entwicklung von Unterrichtssequenzen, ● das Diagnostizieren von Krankheiten, ● die Kalkulation von Wahrscheinlichkeiten und Risiken, ● die Einschätzung und Bewertung politischer Prozesse, ● das Übersetzen von einer Sprache in eine andere. Jede wissenschaftliche Disziplin selbst ist bereits eine Wissens- und Denk‐ spezialisierung, und in jeder Disziplin gibt es wiederum Unterdisziplinen, Forschungsfelder, Wissensgebiete und methodische Kompetenzen für wei‐ tere Spezialisierungen. Glücklicherweise gibt es heute auch computerge‐ stützte Trainingsprogramme (wie beim Schach), die man zum Training einsetzen kann. Letztlich aber müssen Sie, wie die Schachspielerinnen und Schachspieler, das Training selbst in die Hand nehmen, sonst kommen Sie nicht auf die benötigten Trainingsstunden. Sie müssen Ihren Verstand und Ihre Denkfähigkeit selbst entwickeln. Ihr Fach gibt nur die Richtung vor; je schneller Sie sich selbstständig machen, desto weiter werden Sie es bringen (und desto mehr Freude werden Sie daran haben). 1 Denkfähigkeit aufbauen - Was bedeutet das? 17 <?page no="18"?> 2 An den elementaren Denkoperationen ansetzen Viele elementare Denkoperationen sind Ihnen geläufig, da Sie bereits in der Schule thematisiert wurden. Genau genommen denken Sie ohnehin den ganzen Tag, egal, ob Sie das gezielt tun oder ob Sie Ihren Gedanken freien Lauf lassen. Ich will verschiedene Denkoperationen hier kurz auflisten, um sie als Grundlage für kritisches Denken bereitzustellen. Die Liste ist nicht erschöpfend, sondern orientiert sich an dem, was Ihnen bereits vertraut ist. Kritisches Denken heißt unter anderem, das eigene Denken in den Blick zu nehmen und bewusst zu praktizieren. Viele der genannten Denkoperationen werden wir an späterer Stelle noch einmal genauer unter die Lupe nehmen, um zu sehen, wie sie sich methodisch oder erkenntnistheoretisch begründen und optimieren lassen. Hier erst einmal der Überblick: Einen Gedanken ins Auge fassen. Gedanken sind so alltäglich, dass wir uns gar nicht Rechenschaft darüber ablegen, woraus sie eigentlich bestehen. Sie tauchen vor unserem inneren Auge auf, wir „haben“ plötzlich einen Gedanken, auch wenn er nicht gleich sehr prägnant sein mag. Gedanken wahrzunehmen, zu fokussieren, zu präzisieren und in Sprache zu fassen sind die wichtigsten Aktivitäten des Denkens. In Kapitel III wird noch mehr darüber zu sagen sein. Etwas durchdenken. Auch das Durchdenken von Themen oder Proble‐ men ist Ihnen aus dem Alltag oder dem Studium geläufig, wenn Sie z. B. über politische Ereignisse oder fachliche Fragen nachdenken. Es heißt, sich nicht mit dem erstbesten Denkergebnis zufriedenzugeben, sondern das Gleiche mehrfach, vielleicht aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Durchdenken heißt so viel wie rekapitulieren, was man über eine Sache weiß, um herauszufinden, wie sie beschaffen oder einzuschätzen ist. Der Griff zu Google oder Wikipedia, um weiteres Wissen heranzuziehen, ist heute geläufig. In den Wissenschaften gibt es weitere Informationsquellen. „Durchdenken“ heißt, haltzumachen im gewohnten Denkprozess, um eine Sache etwas tiefer zu durchdringen. Oft reden wir dabei mit uns selbst, wenn auch nicht laut. Etwas hinterfragen. Man kann Fragen an Themen oder Ereignisse stellen, wenn man skeptisch ist und über die Oberflächen eines Themas hinausgelangen will. Fragen sind ein gutes Mittel, um das eigene Denken zu steuern, so z. B. „Stimmt das? “, „Wie lässt sich das verstehen? “, „Ist das glaubwürdig? “, „Wer behauptet das “, „Was hat das zu bedeuten? “, „Warum ist das geschehen? “, „Sind die genannten Fakten haltbar? “ Solche W-Fragen 18 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="19"?> steuern das Denken und richten es auf zusätzliche Informationsgewinnung oder weiteres Nachdenken aus. Ein Problem lösen. Das ganze Leben ist eine Aneinanderreihung von Problemen, und die Fähigkeit zum Problemlösen ist ein ganz entscheidender Faktor für Erfolg in allen Bereichen des Lebens. Problemlösen heißt zu‐ nächst, ein Problem zu erkennen und es zu definieren oder zu spezifizieren, damit man suchen kann, welche Schritte sinnvoll und notwendig sind, um zu einer Lösung zu gelangen. Eine Schlussfolgerung ziehen. Aus einem Gedanken, den wir für wahr halten, ergeben sich oft weitere Gedanken, die dann ebenfalls wahr sind. Wenn es wahr ist, dass alle Sterne rund sind, dann darf ich daraus schließen, dass es keine eckigen Sterne gibt. Hier sind wir also bei der Logik angelangt. Sie ist Grundlage des Denkens, egal ob wir explizit etwas über Logik wissen oder nicht. Sterne können nicht rund und zugleich nicht-rund sein, deshalb ist der Schluss gerechtfertigt. Etwas generalisieren. Oft schließen wir von einigen wenigen Erfahrun‐ gen auf eine Gesamtheit. Das nennt man Generalisieren oder Verallgemei‐ nern. Wenn ich drei Folgen einer Serie bei Netflix gesehen habe, die mir nicht gefallen, dann halte ich mich für berechtigt zu sagen, dass das eine schlechte Serie ist. Das ist natürlich problematisch, weil es Ausnahmen geben oder sich die Serie ändern kann. Dennoch läuft der Erfahrungsaufbau im Leben in der Regel über das Generalisieren, auch wenn solche induktiven, verallgemeinernden Schlüsse immer mit Unsicherheit behaftet sind. Ein Argument anführen. Wenn man eine Behauptung aufstellt, dann ist man gehalten, Gründe anzugeben, warum man sie für wahr hält. Sol‐ che Gründe - man nennt sie „Argumente“ - sind eine Grundlage des Argumentierens, wie auch der Wissenskonstruktion und, wie sich zeigen wird, auch eine wichtige Grundlage des kritischen Denkens. In sozialen Kontexten muss man ständig argumentieren, um das zu bekommen, was man möchte, um politische Ereignisse einzuschätzen oder um gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Nach den Ursachen suchen. Ereignisse, die wir nicht verstehen oder die wir beeinflussen wollen, zwingen uns regelmäßig, nach den Ursachen zu fragen, warum sie eingetreten sind. Hier wenden wir Wissen an, um kausale Zusammenhänge zu erschließen. Kausale Annahmen sind für das Handeln wichtig, da sie zum Verstehen führen und Lösungen ermöglichen. Etwas interpretieren. Der Sinn von Ereignissen, Werken, sozialen Strukturen, Forschungsergebnissen etc. erschließt sich oft nicht unmittelbar, 2 An den elementaren Denkoperationen ansetzen 19 <?page no="20"?> sondern es braucht Deutungen, um sie zu verstehen. Interpretieren ist eine alltägliche Handlung, ebenso wie ein beliebtes Thema von Schulaufsätzen und Seminararbeiten, mit dem wir Sinn in Zusammenhänge bringen und sie uns (und anderen) verständlich machen. Etwas berechnen. Haben wir Zahlen vorliegen, dann können wir Kal‐ kulationen anstellen. Wie lange brauche ich von A nach B, wenn ich 50 km/ h fahre? Auch im Schach kann man etwas berechnen, allerdings nicht etwas Numerisches, sondern Züge, die aufeinanderfolgen können. Handlung planen. Ein Plan sagt, was ich tun muss oder will, um zu einem bestimmten Ziel oder Ergebnis zu gelangen. Es geht um die Wahl, Abfolge, Beschaffenheit und Wirkung von Handlungsschritten, die man nacheinander auszuführen gedenkt. Der Blick auf Eventualitäten, Unerwar‐ tetes und Mögliches sollte dabei eingeschlossen sein, damit der Plan flexibel und adaptiv ist. Abstrahieren. Wenn man von konkreten Ereignissen, Objekten und Handlungen absieht, und das Allgemeine dahinter betrachtet, nennt man das Abstrahieren. Denken vollzieht sich oft im Wechsel von Abstraktem und Konkretem. Strategisch denken. Das Nachdenken über Handlungsoptionen in der Zukunft ist eine eigene Art des Denkens, die weniger die unmittelbaren Aufgaben oder taktischen Operationen im Blick hat als vielmehr die lang‐ fristigen Entscheidungen. Strategisches Denken ist in allen kompetitiven Bereichen gefragt, wie z. B. in der Ausrichtung von Wirtschaftsunterneh‐ men, beim Militär, im Schach oder in der Politik Kreatives Denken. Ein wichtiger Modus unseres Denkens bezieht sich darauf, Neues zu entwickeln. Kreatives Denken erfordert, sich vom Vorge‐ gebenen zu lösen und neue Zusammenhänge, Formen, Vorgehensweisen, Ausdrucksmöglichkeiten etc. zu finden. Spielerischer Umgang mit Objekten, Gedanken und Ereignissen ist dabei meist wichtiger als funktionales Den‐ ken. Wie im Spiel ist bei kreativen Aktivitäten die temporäre Auflösung des Rationalitätsdrucks nötig, dem das Denken sonst unterliegt. Grübeln. Manchmal grübeln oder brüten wir über einer Sache. Dabei ziehen wir Energie von den äußeren Angelegenheiten ab und richten alle Energie auf diese mentale Aktivität. Grübeln geschieht besonders bei Fragen oder Problemen, die komplex, relevant, persönlich, emotional oder schwer lösbar sind. Sie sind manchmal mit unangenehmen Emotionen oder depressiven Stimmungen verbunden. Aber auch über sachliche Fragen kann man brüten, wenn man sich in dem Thema engagiert. 20 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="21"?> An diesen Denkvorgängen können und müssen Sie ansetzen, und wir werden die meisten von ihnen später noch vertiefen (Kapitel IX). Die gute Nachricht an dieser Stelle ist, dass Sie mit diesen Denkarten für das kritische Denken schon gut gewappnet sind. Es wird nichts prinzipiell Neues verlangt, wohl aber ein tieferes Verständnis davon. 3 Stärken und Schwächen des eigenen Denkens Probleme mit dem Denken gibt es genug im Studium. Eine Zusammenstel‐ lung aus Kursen zum kritischen Denken, in denen ich die Teilnehmenden anfangs oft frage, was für Schwierigkeiten sie mit dem Denken kennen, bringt Punkte wie die folgenden zutage: ● Flüchtigkeit der Gedanken überwinden und Gedanken festhalten ● Nervosität, Ungeduld beim Denken ● Fehler machen und Ungenauigkeiten bei unliebsamen Denkaktivitäten ● bleierne Müdigkeit überfällt mich bei manchen Denkaufgaben ● externen Auftrag zum Denken erhalten: Nachdenken ohne intrinsische Motivation ● in fremden Konzepten denken, fehlende Vertrautheit mit Begriffen und Ausdrücken ● fehlende Intuition zu einem Thema, an den Begriffen kleben ● fehlende Anschauung zu einem Thema ● Angst und Drucksituationen, sie blockieren das Denken wie in Prüfun‐ gen ● Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen beim Denken ● aus eingefahrenen Denkrillen nicht ausbrechen können und immer wieder von vorne anfangen ● Denkeuphorie und nachher stelle ich fest, dass ich nichts von dem Geschriebenen brauchen kann ● Unlust am Thema, das Denken ist träge, stockt ● Unsicherheit, wieweit andere meine Denkergebnisse nachvollziehen können. Diese Antworten legen nahe, dass das Denken ein fehleranfälliger Prozess ist, der nicht immer gelingt. Manche Aussagen zeugen auch von einer ge‐ wissen Ratlosigkeit dem eigenen Denken gegenüber. Ein Indikator für viele Denkprobleme liegt offensichtlich darin, dass der Denkfluss unterbrochen 3 Stärken und Schwächen des eigenen Denkens 21 <?page no="22"?> wird und das Gefühl einer kontinuierlichen Bewältigung anstehender Denk‐ aufgaben beeinträchtigt ist. Viele Punkte berühren die Energetisierung des Denkens, die nicht immer gleichmäßig erfolgt, weil sie von der jeweiligen Aufgabe und von Ihrer Motivation abhängt. So lästig solche Probleme sind, sie sind letztlich auch nur ein Anzeichen dafür, dass Ihr Gehirn kein Computer ist, sondern eine organische Materie, die ein gewisses Eigenleben hat und auch immer behalten wird. Die Aktivität Ihres Gehirns ist abhängig von vielen biochemischen Substanzen, die es am Laufen halten, von Energie und genug Schlaf. Ihr Gehirn ist zudem nicht nur ein Arbeitstier, sondern auch ein bequemes Wesen, das verspielt, verträumt, genusssüchtig und einiges mehr ist. Es will zwar arbeiten, aber es will auch mitbestimmen, woran es arbeitet und es will weder übernoch unterfordert sein. Vermutlich sind Ihnen Verhandlungen mit diesem bockigen Wesen vertraut und Sie haben gelernt, mit ihm umzugehen, auch wenn es Sie immer wieder mit unerwarteten Verweigerungshaltungen ärgern mag. Denken lernen heißt immer auch, sich mit den Unzulänglichkeiten des ei‐ genen Verstandes auseinanderzusetzen und seine Eigenwilligkeiten kennen und beherrschen zu lernen. Nicht nur die Denkinhalte sind also beim Lernen des kritischen Denkens zu berücksichtigen, sondern auch das Gestalten eines konstruktiven Binnenklimas in der Selbstkommunikation, damit Ihnen Ihr Verstand keine Streiche spielt, sondern Ihnen zuarbeitet. 4 Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen Denkfähigkeiten bauen sich langsam und Schritt für Schritt auf. In diesem Abschnitt schauen wir uns die unterschiedlichen Hebel an, die man dazu bewegen kann. Um die Logik des Denkens zu verstehen ist eine Unter‐ scheidung von Kahneman (2011) wichtig, der zwei Arten des Denkens unterschieden hat: das schnelle und das langsame Denken. ● Schnelles Denken heißt automatisches Denken, es tritt von alleine auf, kostet keine Anstrengung, ist nicht zu unterdrücken und ist sehr schnell. Dazu gehören beispielsweise das Bereitstellen von passenden Wörtern für einen Ausdruck, das Schätzen von Größen, die Unterscheidung von Formen, das Empfinden von Sympathie für ein Gesicht oder das Berechnen von 3-x-3. ● Langsames Denken ist das Schritt-für-Schritt-Denken, das wir praktizie‐ ren, wenn wir ein Problem lösen oder den nächsten Geburtstag planen. 22 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="23"?> Es kostet Aufmerksamkeit, Energie und Anstrengung. Dazu gehören Aufgaben wie ein Stellungsproblem im Schach zu lösen, den Begriff „Kultur“ zu definieren, Argumente für eine These zu finden oder das Berechnen von 24-x-36. Wichtig für das Denkenlernen ist es, dass wir mehrfach Durchdachtes als automatische Denkroutinen bereitstellen können, sodass späteres, lang‐ sames Denken darauf aufbauen kann. Im Schach muss man zuerst die grundlegenden Regeln, dann die Bewegungen und das Schlagen der Fi‐ guren lernen, dann kann man anfangen, über Kombinationen, taktische Wendungen etc. nachzudenken. Erst wenn diese einigermaßen sitzen, kann man strategische Erwägungen anstellen und über Bauernstrukturen, offene Linien, Königsstellung etc. nachdenken. Die höheren Denkleistungen setzen die niedrigeren voraus, die dann in der Regel von dem System des schnellen Denkens automatisch bereitgestellt werden. Training Es gibt Lernformen, die vorwiegend auf die gezielte Automatisierung von Denkoperationen ausgerichtet sind, also auf eine Verbesserung des schnellen Denkens. Dabei sind Wahrnehmungsleistungen, Handlungen und Mediengebrauch meist gleichermaßen involviert. Vertraut sind wir mit Trainings vor allem im Sport, die Prinzipien lassen sich jedoch in allen Feldern verwenden, so auch im Denken. Der Kern dieser Lernform ist Übung. Dabei sind Durchführung einer Denkoperation, Wiederholung, Er‐ folgskontrolle, Anpassung und Optimierung die Kernelemente. Für Kinder gibt es heute im Schach Trainingsformen, bei denen sie mit wenigen Figuren zu spielen anfangen, um deren elementare Bewegungen zu verstehen, bevor weitere Figuren aufs Brett kommen. Erwachsenen steht Trainingssoftware für Taktik, Eröffnungen und Endspiele zur Verfügung, und niemand spielt heute mehr ernsthaft Schach, ohne sie zu nutzen. Viele Themengebiete und Kompetenzfelder an der Hochschule erfordern ähnliche trainingsartige Lernformen, die meistens in fachliche Lernarran‐ gements integriert sind. Sie lassen sich leider nicht immer so angenehm spielerisch über ein Computerprogramm lernen. Das Üben allein ist natür‐ lich keine sinnbildende, wohl aber eine leistungssteigernde pädagogische Strategie. Sie ist oft mit der Vermittlung von Regeln, mit der Reflexion der Lernerfahrungen, mit Feedback und sozialem Lernen verbunden. In vielen 4 Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen 23 <?page no="24"?> Feldern im Studium muss man sich das Training selbst organisieren, so wie es auch die ambitionierten Schachspielerinnen tun. Energetisieren und Motivieren Jeder kennt das Phänomen, dass das Gehirn schlaff, unbereit und unmoti‐ viert ist und keine Lust hat, sich mit einem Thema zu beschäftigen. Man erlebt sich selbst als denkfaul, schiebt Denkaufgaben vor sich her, und es hat den Anschein, als schalte sich der Verstand ab, wenn er bestimmte Aufgaben lösen soll. Es gibt psychologische Gründe, warum Denkblockaden auftreten. Selbst Sigmund Freud geriet in eine solche Denkblockade, als er sich zu tief in eine Selbstanalyse verstrickte. Die zwei gewöhnlichsten Ursachen der Denkblockade bestehen aber einfach darin, dass man kein Interesse für etwas aufbringen kann oder dass man nicht weiß, wie man eine Aufgabe angehen soll. Dazu kommen Probleme, die mit der tatsächlichen Versorgung des Gehirns mit Energie (sprich: Glukose) zu tun haben, denn Denktätigkeit ist energieintensiv. Darüber können Ihnen die Ernährungswissenschaften mehr sagen. Für uns wichtig ist Motivation: Unserem Gehirn ist es nicht, wie dem Computer, gleichgültig, welche Information es verarbeitet, sondern es funk‐ tioniert nur mit entsprechender intrinsischer Stimulanz. Darunter versteht man ein (selbst generiertes) Gefühl der Bedeutsamkeit und Relevanz von dem, was man tut oder womit man sich gedanklich beschäftigt. Nun mag es durchaus Themen geben, die nicht auf Anhieb interessant sind, sondern dies erst langsam werden, wenn man ihnen die Chance dazu gibt und sich eingehender mit ihnen beschäftigt. Andere Themen muss man in Kauf nehmen, damit man zu den wirklich interessanten Inhalten kommt. Solcher Motivationsaufschub ist durchaus möglich und auch nötig, nur sollte er in einem Feld stattfinden, das insgesamt interessant genug ist, um auch langfristig interessant genug zu sein, d. h. die entsprechende Energie fürs Denken zu liefern. Regeln des Denkens Denkabläufe nach vorgegebenen Schemata zu organisieren ist ein weiterer Weg, um Denken zu lernen. Diese Art des Ausrichtens von Denkabläufen erwirbt man oft durch Training, jedoch gibt es auch allgemeine Regeln ohne komplexes Training, ebenso wie es Schritt-für-Schritt-Anleitungen für be‐ stimmte Denkleistungen gibt, die wir nachlesen oder mental rekapitulieren 24 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="25"?> können. Im Schach beziehen sich solche Regeln sowohl auf die strategischen Aspekte des Spiels als auch auf die taktischen. Für das kritische Denken könnte man Regeln aufstellen wie „Beachte beide Seiten eines Problems! “ oder „Suche nach der Tiefenstruktur des Problems! “, wie Willingham (2007) bemerkte. Willingham wies aber auch darauf hin, dass solche Regeln zwar hilfreich sein mögen, aber ein allein kritisches Denken nicht ausrichten können. Regeln können aber, wenn spezifisch genug, Sicherheit im Denken geben und das Gefühl vermitteln, dass es steuerbar ist. Dörner (2003) führte in seinen Untersuchungen zum strategischen Denken aus, dass „Großmut‐ terregeln“ wie „Denk nach, bevor du handelst! “, „Mach dir deine Ziele klar! “, „Beschaffe dir möglichst viel Information über eine Sache, bevor du handelst! “ etc. zwar nützlich sein können, aber: „Das Arge an ihnen ist, dass sie nicht immer stimmen. Es gibt Situationen, in denen es besser ist, zu handeln als nachzudenken, manchmal sollte man mit der Informationsbeschaffung […] frühzeitig aufhören, usw.“ (Dörner, 2003, S.-317) Was kluge von weniger klugen Menschen unterscheidet, scheint ihm des‐ halb „in der Fähigkeit zu liegen, die jeweiligen Probleme in der angemessenen Weise zu behandeln.“ (S. 317 f., Hervorhebung im Original). Regeln sind also nützlich und zielführend, wenn man weiß, wann sie anzuwenden sind und wann nicht. Kritisches Denken definiert sich also nicht durch die Anwendung von Regeln, sondern dadurch, dass es flexibel im Umgang mit ihnen ist und sie auch zu brechen oder zu ignorieren gewillt ist, wenn es die Sachlage erfordert. Dazu allerdings muss man die Regeln kennen. Innere Stimme Um bewusst zu denken, setzen wir eine Art inneres Sprechen ein, ein leises Sprechen, meist ohne Schall und ohne Mundbewegungen, wie Vygotskij (1934/ 2002) dies bereits in den 1930er-Jahren beschrieben habt. Wir können mit einer solchen Stimme zu uns selbst sprechen und uns Instruktionen geben, uns Regeln vorsagen oder mit uns selbst streiten. Manchmal scheint die Stimme gar nicht bewusst produziert zu sein, sondern geschieht einfach, sodass man sie nur anhören muss. Fernyhough (2017) glaubt sogar, dass mehrere Stimmen am Werk sein können, sodass eine dialogische innere Kommunikation zustande kommen kann. Auch beim Schreiben gibt es eine innere Stimme, wenn nicht sogar mehrere, und es lohnt sich, sie einmal laut 4 Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen 25 <?page no="26"?> auszusprechen (wenn niemand in der Nähe ist), um zu sehen, was sie jeweils sagt. Innere Stimmen können nämlich daran beteiligt sein, negative Gefühle hervorzurufen, wenn sie mit Aussagen wie „Das schaffst du nie“, „Das ist viel zu schwer“ etc. verbunden sind. Es kann dann nützlich sein, sie mit neuen Sätzen zu überschreiben, die man am besten als Fragen formuliert wie „Was will ich eigentlich sagen? “, „Wie gehe ich jetzt vor? “, „Wie begründe ich diese Aussage? “, „Welche Belege habe ich? “, „In welcher Reihenfolge muss ich das sagen? “ und so weiter. Aus diesen steuernden Fragen lassen sich konstruktive Selbstinstruktionen entwickeln, die dann auch für weitere Aufgaben bereitstehen und schließlich irgendwann automatisiert werden. Fehlervermeidung Kein Denken ohne Fehler und kein kritisches Denken ohne Fehlervermei‐ dung. Das Verhältnis von Denken und Irren ist jedoch komplex und viel‐ fältig. Im Schach gibt ein klares Kriterium für erfolgreiches Denken: Man gewinnt oder verliert bzw. verbessert seine Stellung oder verschlechtert sie. Denkfehler werden oft unmittelbar bestraft (wenn der Gegner sie bemerkt) und Spielerinnen werden somit unsanft darauf gestoßen, dass sie etwas falsch gemacht haben. In der Mathematik geht die Gleichung nicht auf, wenn man Fehler macht. Das Schreiben wiederum ist eine relativ fehlerfreundliche Aktivität, denn es erlaubt, alles Geschriebene zu überarbeiten, gleich oder zeitverzögert, bis alle Fehler eliminiert sind. Erst mit Abgabe des Textes endet diese Frist. In Klausuren allerdings haben Sie diesen Komfort nicht, da die Zeit beschränkt ist. Unterscheiden sollte man mit Oser & Spychiger (2005) zwischen Fehlern (bei denen man es besser weiß) und Irrtum (bei dem Unwissen im Spiel ist). Aus beiden Fehlerarten kann man lernen. Das Lernen aus Versuch und Irrtum hat in der Lerntheorie eine lange Tradition als heuristische Strategie der Selbstoptimierung. Um aus Fehlern lernen zu können, braucht man eine fehlerfreundliche Lernkultur wie Oser & Spychiger (2005) weiter bemerken, damit Fehler nicht als etwas Belastendes und Verletzendes erlebt werden. Für das kritische Denken ist ein offener Umgang mit eigenen Fehlern eine wichtige Entwicklungsbedingung, ebenso wie auch der Wille zur Vermeidung von Fehlern. Gute Schachspielerinnen werden nicht selten Genauigkeitsfanatikerinnen, die beim Spiel mögliche Varianten mehrfach durchrechnen, ehe sie einen Zug auswählen, und die dann, bevor sie den 26 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="27"?> Zug tatsächlich ausführen, noch einmal prüfen, ob sie nichts übersehen haben. Auch die Wissenschaften kennen die Fehlersuche und den Kampf um das Eliminieren von Ungenauigkeiten und Unbestimmtheiten. Dort werden zum Beispiel beim Schreiben und Publizieren ähnliche Prüfroutinen wie im Schach eingesetzt, wenn Wissen auf den Begriff gebracht werden muss und die gedankliche, sprachliche und kommunikative Genauigkeit eines Textes auf dem Spiel steht. Für das Denken ist es wichtig, prozessorientiert vorzugehen und die Fehlervermeidung nicht an den Anfang zu setzen. In einem schrittweisen Vorgehen wird man zunächst die kreativen Aspekte des Denkens erledigen, dann eher die strukturellen und kommunikativen Bezüge, ehe man in einem letzten Schritt mit der Fehlersuche einsetzt. Kreativität entwickeln Denken erfordert oft kreative Leistungen. Darunter sind solche Denkvor‐ gänge (und Aktivitäten) zu verstehen, die zu neuen Inhalten, Zusammen‐ hängen, Produkten etc. führen. Kreativität ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine Menschheitseigenschaft und besteht in der Fähigkeit, Neues zu schaffen und sich an neue Bedingungen anzupassen. Es ist keine einfache und keine einheitliche Fähigkeit, sondern ergibt sich aus dem Zusammenwirken vieler einzelner Fähigkeiten und Aktionen. Kreativität ist durch die Arbeit von Wallas (1926) erstmals methodisch zugänglich geworden. Wallas postulierte eine typische Vier-Phasen-Struktur kreativer Prozesse, die er „Präparation“ (Vorbereitung), „Inkubation“ (Ansteckung), „Illumination“ (Erleuchtung) und „Verifikation“ (Verwirklichung) benannte. Spätere Arbeiten (z. B. Cawelti et al., 1992) nannten dies eine zu starke Vereinfachung, die für künstlerische Leistungen nicht ausreiche. Kreativ zu werden ist etwas, das wir eher mit künstlerischen als mit wissenschaftlichen Aktivitäten in Verbindung bringen, aber jeder wissen‐ schaftliche Text verlangt ebenfalls eine Portion Kreativität, allerdings eine Kreativität, die immer an der Kette des rationalen Denkens liegt, das Grenzen setzt. In Fächern, die mit Gestaltung zu tun haben, ist Design naturgemäß eine Fähigkeit, die weit im Vordergrund steht. Sie ist in der Regel mit der Preisgabe oder Überwindung von Denkroutinen verbunden, da sonst nichts Neues entstehen kann. 4 Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen 27 <?page no="28"?> Reflexives Denken Selbstreflexion bezeichnet das Nachdenken über sich selbst und ist u. a. eine Voraussetzung für soziales Lernen wie auch für die Identitätsentwicklung. Wird das Denken auf das eigene Denken gerichtet und in einen Dialog mit sich selbst eingebunden, sprechen wir von „reflexivem Denken“. Die Kognitionswissenschaften bezeichnen das als „Metakognition“. Dieses auf sich selbst gerichtete Denken ist ein wichtiger Teil der Denksteuerung. Es ist nötig, um Resultate des eigenen Denkens beurteilen zu lernen und die Abhängigkeiten des Denkens von eigenen Emotionen, körperlichen Zuständen und materiellen Interessen kennen und beherrschen zu lernen. Selbstreflexion stellt sich nach jeder verlorenen Schachpartie fast automa‐ tisch ein. Was habe ich falsch gemacht? Warum ist mir dieser Fehler passiert? In den Blick kommen dabei auch die Abhängigkeiten unseres Denkens von der eigenen Person und ihren Interessen, Motiven und Gefühlen, die sich nur langsam als Bestandteile des Denkens erkennen lassen. Habe ich meine Handlungsmöglichkeiten richtig eingeschätzt? War ich zu defensiv? Zu ehrgeizig? Zu ungeduldig? Zu nachlässig in meinen Berechnungen? Aber auch die Abhängigkeiten des Denkens von Faktoren wie Ermüdung, Ablenkung, Nachlassen der Aufmerksamkeit und Stimmungseinbrüchen kommen dabei in den Blick. Gedanken dieser Art sind nichts, was man extra lernen müsste, wohl aber kann man etwas Methodik in die Selbstreflexion bringen, wie später gezeigt wird (Kapitel IV, 4). Selbstreflexion ist der wichtigste Motor dazu, das Denken auszurichten und zu optimieren und es damit zu kritischem Denken werden zu lassen. Feedback und Wissensaustausch Alles Denken verlangt, sich mit dem Wissen und den Meinungen anderer Menschen auseinanderzusetzen. Dies geschieht gemeinhin über einen Wis‐ sensaustausch oder aber, wenn Meinungen strittig sind, über das Argumen‐ tieren und Streiten, das der Klärung von Meinungsunterschieden und der Begründung eigener Ansichten dient. Im Schach findet der Streit während der Partie statt, während die Kontrahenten nachher ihre Partien gerne gemeinsam analysieren. Auch Feedback von Unbeteiligten ist hilfreich. Diese Art nachträglicher Reflexion ist ein wesentlicher Faktor für die Weiterentwicklung vor allem des strategischen Spielverständnisses. Es hilft dabei, aus eigenen Erfahrungen zu lernen, wie auch aus den Erfahrungen 28 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="29"?> anderer und unterstützt das Gewinnen von abstraktem Wissen. Auch Regeln werden oft in der nachträglichen Partieanalyse vermittelt oder gewonnen. In den Wissenschaften und im Studium gilt Ähnliches. Wenn Sie eine Hausarbeit geschrieben haben, dann müssen Sie anschließend darüber reden, damit Sie die Schreiberfahrungen verarbeiten und konservieren kön‐ nen. Es gibt sehr wenig Transfer von einer Schreibsituation zur nächsten, wenn man nicht bespricht und reflektiert, was man getan hat. Wir werden später sehen, dass Feedback eine der wichtigsten Erfordernisse für die Entwicklung von kritischem Denken ist. Schreiben als Mittel des Denkens Schreiben ist Veräußerung von Gedanken. Das, was Sie im Kopf haben, können Sie beim Schreiben auf dem Papier oder Bildschirm sichtbar machen. Gedanken werden damit besser kontrollierbar. Wenn es um Haus- oder Ab‐ schlussarbeiten geht, sind wir bei einer der intensivsten Arten des Denkens im Studium angelangt, bei dem man zusammentragen muss, was an Wissen, Gedanken, Fakten etc. zu einem Thema im eigenen Fach vorhanden ist. Dafür ist sowohl kreatives wie auch normbewusstes Denken erforderlich, das, wie beim Schach, eine ganze Menge an Training benötigt, bis es flüssig abläuft. Die wichtigste Eigenschaft des Schreibens aber liegt darin, dass Sie Denkprozesse damit verlangsamen können. Das Registrieren der Wörter in einem Medium, was Schreiben ja bedeutet, lässt nur eine verzögerte Produktion von Gedankenketten zu, die sich aber mit etwas Training gut mit dem etwas schnelleren Denken koordinieren lässt. Beim Schreiben können Sie Pausen machen, die dem Nachdenken dienen, ohne dass Sie dabei den Faden verlieren, denn der bereits entstandene Text zeigt Ihnen immer wieder, wo Sie stehengeblieben sind. Auch können Sie größere Gedankenmengen in den Blick nehmen als nur durch Denken allein. Mit den heutigen digitalen Schreibwerkzeugen sind Sie zudem völlig flexibel bei der Auswahl und Korrektur von Zeichen und Wörtern. Viele erfahrene Denkerinnen und Denker nehmen automatisch ein Schreibtool zur Hand, wenn es darum geht, eine Sache zu durchdenken. Sie haben gelernt, dass die eigenen Gedanken wesentlich besser kontrolliert werden können, wenn man sie aufschreibt, als wenn man sie nur im Kopf bewegt. Mehr darüber finden Sie in Kapitel X. 4 Denken lernen: verschiedene Hebel nutzen 29 <?page no="30"?> Vorstellungs- und Imaginationstraining Ihre Vorstellungskraft systematisch zu stärken, ist eine lohnende Aufgabe, die Ihnen erlaubt, neue Denkkapazität zu gewinnen und Denkräume be‐ wusst anzulegen. Mentales Training ist eine Technik, die vor allem mit Imagination arbeitet. Sie ist im Sport entwickelt worden und wird eingesetzt, um Leistungen gedanklich vorauszunehmen und der mentalen Kontrolle zu unterwerfen, ehe man sie wieder real ausführt. Heute wird mentales Training unter Begriffen wie „Imaginationstraining“, „guided imagery“ und „Visualisierungstraining“ auch in Feldern der Psychotherapie, Physiothera‐ pie und Rehabilitation eingesetzt. Komplexe motorische Bewegungsfolgen lassen sich besser ausführen, wenn man sie in Imaginationsübungen vor‐ wegnimmt. Wie kann man intellektuelle Leistungen durch Vorstellung trainieren? Dazu macht man die Augen zu und versucht, sich etwas vorzustellen (die Be‐ wegungen der Schachfiguren, die Handlung eines Romans, die Bewegungen des Planetensystems, die Struktur der Doppelhelix, die Kette der Primzahlen, die Glieder einer mathematischen Gleichung, die Gliederung eines Textes, die Muster einer geometrischen Figur etc.). Dann beginnt man, in Gedanken die Strukturen zu durchwandern oder, wenn sie auf dem inneren Monitor nicht gleich sichtbar sind, zu konstruieren. Visuelle Typen können hier sehr viel schneller innere Bilder erzeugen und in Bewegung setzen als logisch-abstrakte Typen, die oft Strukturen durch Wissen konstruieren müssen, ehe sie sie vor dem inneren Auge „sehen“. Das Imaginationstraining kann im Gegensatz zum Visualisierungstraining mehr Sinne in den Blick nehmen als das Sehen allein. Versuchen Sie probeweise und mit geschlossenen Augen, sich einen Zylinder (nicht den Hut) oder eine Pyramide vorzustellen und in Gedanken die Konturen nachzuverfolgen. Ebenso können Sie einen Würfel nachzu‐ vollziehen versuchen und in Gedanken die Anzahl der Punkte auf die Flächen verteilen, die normalerweise auf einem Spielwürfel enthalten sind. Sie können in Gedanken Wege zu einem Ziel durchlaufen, Lösungsketten einer Gleichung durchwandern, Gliederungen für Texte durchsehen usw. Dadurch wird der Aufbau von Denkräumen unterstützt, die der Beherr‐ schung von definierten Handlungsfeldern dienen. 30 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="31"?> Visualisieren Die umgekehrte Denkrichtung nimmt das Visualisieren ein. Es heißt nicht, Bilder im Kopf, sondern auf dem Papier oder Bildschirm zu entwickeln, um sich bestimmte Zusammenhänge besser vor Augen führen zu können. Immer dann, wenn man viele Elemente im Kopf hat, die geordnet und in ihren Bezügen verstanden werden müssen, ist es nützlich, sie auf dem Papier zu arrangieren und die Beziehungen zwischen ihnen zu spezifizieren. Dazu gibt es verschiedene eingefahrene Möglichkeiten, allen voran das von Buzan entwickelte „Mind-Map“ (Buzan & Buzan, 2002), das darin besteht, verschie‐ dene Aspekte eines Gegenstandes, Themas oder Problems zu benennen. Dazu schreibt man das Kernwort in die Mitte des Blattes, umrahmt es mit einem Viereck und lagert daran die einzelnen Dimensionen oder Aspekte des Themas als „Äste“ an, die man beschriftet. An die Äste wiederum kann man „Zweige“ anbringen, die Unteraspekte benennen. Heute gibt es gute Software, mit deren Hilfe man Mind-Maps (und ähnliche graphische Denk-Tools) gestalten kann, wiewohl ein Blatt Papier und ein Stift dasselbe leisten. Im Internet finden Sie viele Beispiele dazu. Fühlen Sie sich aber frei, Ihre eigenen Arten der Visualisierung in Flowchart-Diagrammen, Clustern oder freien Zeichnungen auszuprobieren. 5 Denken und Verstehen Lernen mag zwar auf Fakten oder Detailwissen ausgerichtet sein, es erfor‐ dert aber immer auch Zusammenhänge zu verstehen. „Verstehen“ kann sich dabei auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, Funktionsweisen von technischen Geräten, Sinndimensionen von Texten und die Bedeutung von Begriffen beziehen. Ammon (2009, S. 87) betont als Vorteile des Verstehensgegenüber dem Wissensbegriff, dass er vielseitiger ist und sich als Prozess zu erkennen gibt, der immer einen Wandel in den eigenen Einsichten impliziert. „Wenn wir verstehen, dann verbinden, strukturieren, ordnen wir, wir gleichen an, unterscheiden, exemplifizieren, fassen zusammen, gehen ins Detail und betonen.“ „Verstehen“ ist in dieser Begriffsdefinition allerdings nicht mehr genau von „Denken“ zu unterscheiden und es ist sinnvoll hervorzuheben, dass „Verstehen“ eher das Resultat des Denkens bezeichnet als den Denkprozess selbst. Wichtig ist Ammons Hinweis darauf, dass es beim Verstehen auch immer um eine Veränderung der eigenen 5 Denken und Verstehen 31 <?page no="32"?> Einstellungen und Einsichten geht. Verstehen heißt damit auch Umlernen, und das ist mitunter schwieriger, als ganz neue Einsichten zu gewinnen. Der Satz „Ich hab‘s verstanden“ ist oft das Resultat langer gedanklicher Arbeit an einem Thema und die meisten Menschen freuen sich, wenn es so weit ist. Schwierig ist es zu sagen, wann wir etwas verstanden haben. Wir können diesem Moment etwa folgende Ereignisse (als Anzeichen für Verstehen) zuordnen: ● Zusammenhänge erschließen sich. ● Kausale Beziehungen zwischen zwei oder mehr Ereignissen oder Varia‐ blen werden offenbar. ● Die Antwort auf eine Frage ist gefunden. ● Selbstständiges Weiterdenken mit bestimmten Kategorien wird mög‐ lich. ● Eine Anwendung des Wissens auf weitere Kontexte oder neue Gege‐ benheiten ist erfolgreich. ● Das Wissen lässt sich verständlich mitteilen. Auch wenn es nicht vollends aufschlüsselbar ist, so hat Verstehen eine große Bedeutung in den Wissenschaften wie auch im Alltag, denn alle Denkenden sind auf das Gefühl des Verstehens angewiesen. Es treibt sie an und belohnt sie gleichermaßen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben allerdings gelernt, nicht vorschnell der Plausibilität einer Einsicht zu folgen, sondern etwas kritische Distanz zu bewahren und ein intuitives Verständnis zunächst einmal als Vermutung zu klassifizieren, bevor sie einen tieferen Wahrheitsanspruch dafür reklamieren. In der Regel gibt es immer Einwände, Gegenmeinungen und Fakten, die Zweifel an der Wahrheit einer Einsicht rechtfertigen. Diesen skeptischen Blick gegenüber den eigenen Denkresultaten zu entwickeln verhindert Verstehen nicht, sondern fördert es und sorgt dafür, dass wir uns nicht mit dem erstbesten Denkergebnis zufriedengeben. 32 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="33"?> Was bedeutet es, etwas zu verstehen? ● Verstehen ist nie voraussetzungsfrei: Es baut auf dem auf, was andere (und ich selbst auch) bereits gedacht, gelesen und gelernt haben. ● Verstehen ist Konstruieren: Es geht nicht einfach um die Repro‐ duktion oder Abbildung von Wirklichkeit, sondern um das Herstel‐ len von mentalen Konzeptionen, die das Verstehen der Wirklichkeit bewirken. ● Verstehen vollzieht sich schrittweise: Es gelingt nie auf Anhieb, etwas Komplexes zu verstehen, und manche Themen erfordern Jahre und Jahrzehnte an Arbeit, bevor man sie ergründet hat. Es gibt Vorstufen des Verstehens und Tiefendimensionen, die nachfolgen. ● Verstehen ist dialektisch: Es entwickelt sich immer in Ausein‐ andersetzung mit Gegenmeinungen und alternativen Denkweisen. Respekt vor Positionen, die man selbst nicht unbedingt für richtig hält, ist dabei wichtig, denn sie helfen, eigene Gedanken durch Abgrenzung zu schärfen. ● Verstehen erfordert Zugang zu Fakten, Daten und Quellen: Das Denken muss immer an das angebunden sein, was empirisch geprüft, erhärtet und durch Quellen belegt ist. Nur so kann Reali‐ tätsbezug entstehen und Rationalität beibehalten werden. ● Verstehen erweist sich oft darin, dass man Wissen anwenden kann: Dabei muss man Wissen auf die Gegebenheiten eines Pro‐ blems oder einer Aufgabe beziehen und es zeigt sich, ob man über seine abstrakten Bestandteile auch die Konkretisierungsbedingun‐ gen versteht. Hier sind oft Transformationsleistungen nötig, wie sie in den angewandten Wissenschaften üblich sind. ● Verstehen ist Teil der großen Konversationen der Mensch‐ heitsgeschichte: Viele Themen werden seit Jahrtausenden disku‐ tiert und entwickeln sich immer weiter. Es ist wichtig, sich passiv (durch Lesen und Zuhören) und aktiv (durch Reden und Schreiben) in diese Konversationen einzuschalten. „Verstehen“ bekommt dabei die Bedeutung von „mitreden“ und „mitdenken können“. „Verstehen“ ist also etwas, das alle, die an Erkenntnis interessiert sind und alle, die kritisch denken wollen, kultivieren müssen. Verstehen ist nicht nur 5 Denken und Verstehen 33 <?page no="34"?> ein kognitiver Akt, sondern auch ein wichtiges Motiv dafür, sich überhaupt mit interessanten Dingen zu befassen. Für Sie im Studium ist es wichtig, das Verstehen zur Aufgabe zu machen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann Sie etwas verstanden haben. Sie haben richtig gelesen: ein Gefühl davon, wann Sie etwas verstanden haben. Paradoxerweise können wir Verstehen nicht objektivieren (das mag in der Mathematik gehen, wenn eine Ableitung aufgeht oder in der Informatik, wenn ein Programm fehlerfrei funktioniert), obwohl es viele einzelne Kriterien dafür gibt (wie im Kasten „Was bedeutet es, etwas zu verstehen? “ dargestellt). Es ist Ihre Aufgabe her‐ auszufinden, wann Sie mit der Differenziertheit Ihres Wissens zufrieden sind und überzeugt davon sind, dass Sie bestimmte Zusammenhänge verstehen. Für Denkerinnen und Denker, die es ganz genau nehmen, beginnt nach dem Verstehen noch eine neue, genauere Prüfung des Denkresultats. 6 Eigene Meinungen bewusst gestalten Die Sicht auf das eigene Denken wird auch durch das bestimmt, was wir als „Meinungen“ („Ansichten“, „Positionen“, „Standpunkte“ sind äquivalente oder ähnliche Begriffe dafür) ansehen. Meinungen sind eher statische Bestandteile des Bewusstseins im Gegensatz zum flüssigen, beweglichen Denken, das immer ein Prozess ist. Meinungen sind fixierte Muster von Erkenntnissen, denen wir vertrauen und Annahmen, die wir über die Wirklichkeit treffen. Sie sind sowohl Teil unseres Wissens über die Welt als auch Resultate vorhergehenden Denkens. Wenn wir immer wieder über etwas nachdenken und Gedanken zu Deutungen und Weltbildern zusammenzufügen, dann gelangen wir zu einer eigenen Meinung. Manche Menschen glauben, kritische Denkerinnen oder Denker zu sein, weil sie ungewöhnliche Meinungen haben, die nicht dem Mainstream angehören. Das hat leider nichts mit kritischem Denken zu tun, sondern steht eher im Verdacht intellektueller Eitelkeit oder Besserwisserei. Nicht die Konventionalität der Meinung zählt, sondern ihre Durchdachtheit und Begründetheit. Für kritisches Denken müssen Sie außerdem lernen, Mei‐ nungen so zu äußern, dass Sie sich mit anderen über sie auseinandersetzen können, nicht einfach dafür, um Recht zu behalten. Meinungsstreit ist zwar belebend, führt aber nur weiter, wenn man auch zuhören kann. Meinungen sind deshalb wichtig, weil sie die Brücke vom Denken zur Persönlichkeit bilden. Meinungen sind für eine eigene Identität wichtig, 34 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="35"?> und es ist ein Gebot unserer liberalen und individualisierten Gesellschaften, dass wir eigene Meinungen besitzen und bereit sind, sie zu vertreten. Wir tendieren dazu, uns über unsere Meinungen zu definieren und positionieren uns im sozialen Gefüge mit ihnen. Sie unterscheiden uns von einigen und verbinden uns mit anderen Menschen. Meinungen können in ihrer Form dem Wissen ähneln, nur ist Wissen in der Regel emotional eher neutral, es tangiert die Persönlichkeit nicht direkt. Auf unsere eigenen Meinungen sind wir hingegen stolz und lassen nichts auf sie kommen. Für das kritische Denken ist es nicht einfach wichtig, eigene Meinungen zu bilden und zu verteidigen, sondern es zählt noch mehr, ob bereit man ist, eigene Meinungen zu hinterfragen, zu relativieren oder zu korrigieren. Manche Menschen halten an ihrer Meinung fest, als wäre sie ein Goldschatz. Andere finden sie beliebig und trennen sich von ihr, wie man ein Hemd wechselt. Die ersteren tendieren dazu, dogmatisch zu sein, die letzteren dazu, opportunistisch ihre Meinung anzupassen. Ein Mittelweg scheint hier angebracht zu sein. Leider kann man sich heute in einer Welt superschneller Veränderungen nicht mehr lebenslang auf einem Bestand von Meinungen ausruhen, sondern ist dazu verurteilt, sie laufend anzupassen. Meinungen beruhen mindestens auf zwei distinkten Grundlagen. Sie enthalten einerseits Wissen und Deutungen von relevanten Realitätsberei‐ chen, andererseits Werte oder Wertungen. Deutungen bestehen in Zusam‐ menhangsvermutungen, über die man diskutieren kann. Sie sind leichter revidierbar als Werte, die essenzielle Anliegen verkörpern, die nicht einfach verhandelbar oder revidierbar sind. Werte sind die stabileren Anteile von Meinungen, die wir nicht gerne der Aktualität opfern. Das ist gut so, allerdings ist auch die persönliche Moral nicht statisch, sondern sie muss sich wandeln, wenn man neue Einsichten gewinnt. Kritisches Denken bedeutet, nicht nur den Denkprozess zu steuern, son‐ dern auch, die Verbindung zu den eigenen Meinungen zu reflektieren und die Bereitschaft aufzubauen, sie zur Disposition zu stellen. Meinungen sind nämlich oft so in die persönliche Weltsicht integriert, dass man zwischen Realität und Meinung gar nicht genau unterscheiden kann. Zudem schleppt jede Meinung eine Kette an Werten hinter sich her, die nicht so einfach wahrzunehmen und noch schwerer zu modifizieren sind. Im Studium wer‐ den Sie eine Menge eingefahrener Werte prüfen und in neue, meist fachlich besser fundierte Meinungen transformieren müssen. Meinungen sind in den Wissenschaften sehr viel enger an fachliches Wissen gekoppelt als im Alltag. Glücklicherweise haben Sie genügend Mitstudierende, mit denen Sie Ihre 6 Eigene Meinungen bewusst gestalten 35 <?page no="36"?> Meinungen austauschen und kurzschließen können. Da tun sich regelmäßig neue Denkmöglichkeiten und Wertmaßstäbe auf. 7 Denkmedien gezielt einsetzen Ohne Computer, Internet und Künstliche Intelligenz (KI) geht heute gar nichts mehr. Nach mehr als 50 Jahren Digitalisierung sind wir so an die digitalen Medien gewöhnt, dass wir sie schon kaum mehr wahrnehmen, besonders dann, wenn man mitten in eine digitalisierte Welt hineingeboren wurde und die Schreibmaschine nur noch vom Hörensagen kennt. Es ist eine Aufgabe des kritischen Denkens, Denkmedien sowohl gezielt zu nutzen als auch kritische Distanz zu ihnen zu bewahren. Mehr darüber findet sich in Kapitel VIII. Hier sei so viel vorweggenommen, dass es heute praktisch für jede Aktivität im wissenschaftlichen Arbeiten, Schreiben und Denken ein entsprechendes digitales Tool gibt. Das betrifft Handlungen wie das Re‐ cherchieren, Zitieren, Lesen und Zusammenfassen, Gliedern, Formulieren, Ideengenerieren, Überarbeiten und mehr. Und von der Verwendung digitaler Tools in Mathematik, Ingenieurwesen und Statistik müssen wir erst gar nicht zu reden anfangen, dort geht nichts mehr ohne sie. Es ist dabei nicht einfach so, dass es sehr viele Tools gibt, sondern es kom‐ men auch ständig neue dazu, und die vorhandenen ändern sich periodisch. Es reicht deshalb nicht, sich das eine oder andere Tool anzueignen. Für die intellektuelle Entwicklung ist es eine zentrale Lebensaufgabe geworden, den Fluss digitaler Innovationen zu verfolgen und navigieren zu lernen. Mit der generativen KI, also Modellen wie ChatGPT, Googgle Bard bzw. Gemini und anderen, ist eine ganz neue Technologie entstanden, die das Verhältnis von Schreiben und Denken derzeit noch einmal komplett umwandelt. Wie mit dieser Technologie zu verfahren ist, wird derzeit noch ausgelotet. Es wird vermutlich darauf hinauslaufen, dass wir Texte in Zukunft in Interaktion mit solchen Tools herstellen, aber nicht nur das. Wir werden auch Bilder von ihnen gestalten lassen, sie als Tutoren benutzen und uns von ihnen die Welt erklären lassen. Sie werden uns Programmierarbeit abnehmen und unsere Texte gliedern, Diagramme malen und Texte zusammenfassen. Es wird darauf ankommen zu spezifizieren, was Aufgabe des Menschen, was Aufgabe des Computers ist. Rechtlich gesehen können Maschinen keine Autoren sein. Das Recht an einem KI-generierten Text liegt immer bei der Person, die den Text in Auftrag gegeben hat. Die 36 I Annäherungen: Was tue ich, wenn ich denke? <?page no="37"?> Rolle von Co-Autoren haben die Computer trotzdem bereits eingenommen. Die Teile von Texten, die von der KI geschrieben oder mitverfasst wurden, werden in Zukunft zu identifizieren sein, ähnlich wie dies mit fremden Textbestandteilen (Zitate und Verweise) der Fall ist. Das Besondere von ChatGPT und ähnlicher Software liegt nicht einfach darin, dass sie sehr gut formulieren und argumentieren können, sondern darin, dass sie dies interaktiv tun. Man kann mit ChatGPT über die Texte (Programme, Diagramme etc.) verhandeln, die es produziert hat und kann sie dazu bewegen, sie weiterzuentwickeln, zu modifizieren oder anders klingen zu lassen. ChatGPT und ähnliche Software ist allerdings nicht in der Lage, verbindliche Qualitätskriterien einzuhalten, da die Programme nicht wissenschaftlich denken können. Es ist auch fraglich, ob das je geschehen kann. Es bleibt Ihre Aufgabe zu garantieren, dass ChatGPT keine Literaturangaben erfunden hat, dass es Argumente richtig gewichtet und keine Fakten erdichtet. Google Bard behauptet auch kess, dass es Schach spielen könne, kann dann aber selbst einfache Stellungen nicht verstehen und kopiert willkürlich Stellungsbilder aus dem Internet, die es dann als Spielstand einblendet. Nicht, dass es das Spiel nicht versteht, ist dabei das Problem, sondern dass es nicht weiß, dass es das nicht weiß. Es besitzt keine Schach-Engine wie die Schachcomputer, sondern rekombiniert, was es aus seinen großen Textkorpora entnommen hat, ohne zu ahnen, dass das bei einem Regelspiel wie Schach nicht geht. Was es aber in der Zukunft alles noch dazulernt, das wissen wir wiederum nicht. Kapitel IX wird auf Digitalität und Künstliche Intelligenz noch differenzierter eingehen. 7 Denkmedien gezielt einsetzen 37 <?page no="39"?> II Was macht das Denken kritisch? 1 Vom Denken zum kritischen Denken 2 Die Feinde des kritischen Denkens Dieses Kapitel beleuchtet den Schritt vom Denken zum kritischen Denken. Warum brauchen wir einen speziellen Begriff für diese Art des Denkens? Das ist die erste Frage, die sich stellt. Und die zweite: Wie unterscheidet es sich vom normalen Denken? Es sind fünf Aspekte, die bei dieser Unterscheidung eine besondere Rolle spielen, wobei neben der sorgfältigen Prüfung von Behauptungen auch eine gewisse Selbstständigkeit im Denken, eine skeptische Grundhaltung, Rationa‐ lität und ein gewohnheitsmäßig sorgfältiger Umgang mit Information angeführt werden. Wichtig ist auch, die Gegenspieler des kritischen Denkens zu kennen, wie sie u. a. im Populismus, Dogmatismus und Fundamentalismus vorliegen. Sie verkörpern Denkpraktiken, die nicht dem Gewinn von Erkenntnis oder Verständnis gewidmet sind, sondern anderen Interessen dienen. 1 Vom Denken zum kritischen Denken Natürlich gibt es nicht den einen Schritt, der das Denken zum kritischen Denken erhebt, und ebenso wenig gibt es eine fest markierte Grenze zwischen beiden. Dennoch gibt es Unterschiede, die bedeutsam sind: Zunächst einmal liefert uns das Konzept „kritisches Denken“ eine andere Perspektive, aus der wir das Denken betrachten. Es befasst sich nicht einfach mit gegebenen Denkabläufen, sondern darüber hinaus auch mit den erforderlichen und erwünschten Qualitäten des Denkens. Diese Perspektive ist eng an die wissenschaftlichen Bemühungen um gültige Erkenntnis angelehnt, aber nicht mit ihnen identisch, da Erkenntnis von den konkreten Denkvorgängen abstrahiert und die Ergebnisse des Denkens oder der For‐ <?page no="40"?> schung in den Vordergrund stellt. Kritisches Denken ist dennoch an gültiger Erkenntnis orientiert, nur bezieht es die Entwicklung der Denkenden mit ein. Zweitens spricht kritisches Denken die reflexive Seite des Denkens an, die in der Bereitschaft besteht, das eigene Denken wahrzunehmen, zu optimieren, kontrollieren und auszurichten. Dabei richtet sich die Kontrolle sowohl auf den Ablauf des Denkprozesses als auch auf dessen Inhalte und Ergebnisse. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es neben der Bereitschaft zur Reflexion auch des erkenntnistheoretischen und heuristischen Wissens, das zeigen kann, wie man Denkprozesse ausrichtet und Denkergebnisse bewertet. Drittens sind neue Fähigkeiten angesprochen, die mit einem genauen Umgang mit Informationen, Wissen und Meinungen verbunden sind. Das kritische Denken braucht immer den Bezug auf das, was sich objektivieren lässt. Es ist also auf geprüfte Fakten und verlässliches Wissen angewiesen, sonst stimmen seine Prämissen nicht. Denken und Wissen können nicht ohne einander existieren, und die Prüfung des verwendeten Wissens ist Voraussetzung für genaues und kritisches Denken. Viertens schließlich ist kritisches Denken immer an soziale Kontexte gebunden, in denen es praktiziert werden kann - oder aber verhindert wird. Es verlangt also danach, sich mit den Gewohnheiten einer fachlichen Denkgemeinschaft vertraut zu machen. „Denkkollektiv“ ist ein Begriff, den Fleck (1980) in den 1930er-Jahren eingeführt hat, um eine soziologische Sicht auf die Wissensgewinnung geltend zu machen. „Denkkollektiv“ heißt dabei nicht, dass alle das Gleiche denken, sondern dass bestimmte Denkstile das Denken leiten. Mitglieder solcher Kollektive beziehen sich in ihrem Denken aufeinander und prüfen das verfügbare Wissen, allerdings teilen sie auch die Irrtümer ihrer Zeit miteinander. Kontroversen und Auseinandersetzungen sind notwendiger Teil dieser Denkkulturen, soweit und solange sie das gemeinsame Ziel der Erkenntnisgewinnung im Auge behalten. Autoritäre Gesellschaften tendieren dazu, kritisches Denken zu blockieren oder gar zu sanktionieren, da es mit deren doktrinären Vorgaben kollidieren würde. Es gibt also keine einfache Definition von kritischem Denken und es gibt keine einheitliche Erscheinungsform davon. Darin finden sich Ähn‐ lichkeiten zu vielen anderen der großen wissenschaftlichen Begriffe wie „Kreativität“, „Gesellschaft“, „Kultur“, „Ästhetik“. Sie alle sind schillernde Begriffe, die jeweils mehrere Begriffskerne haben, nicht nur einen. Auch der 40 II Was macht das Denken kritisch? <?page no="41"?> Begriff „kritisches Denken“ hat mehrere Facetten, die Sie im Blick haben sollten. Fünf davon scheinen mir besonders relevant: Kritisches Denken als sorgfältiges Prüfen von Behauptungen und Schlussfolgerungen Der Begriff „kritisches Denken“ hat mehrere Vorläufer und wurde wohl erstmals von Glaser (1941) im Zusammenhang mit Problemlösefähigkeiten ins Spiel gebracht. Dewey (1910/ 2002), einer der einflussreichsten ameri‐ kanischen Pädagogen des 20. Jahrhunderts, hatte sich schon früher für „reflektierendes Denken“ stark gemacht und es folgendermaßen definiert: „Reflektierendes Denken besteht in einem regen, andauernden, sorgfältigen Prüfen von etwas, das für wahr gehalten wird, und zwar im Lichte der Gründe, auf die sich die Ansicht stützt, und der weiteren Schlüsse, denen sie zustrebt.“ (Dewey, 2002, S.-11) Auch wenn Dewey den Begriff „kritisches Denken“ vermieden hat, hat er einen wichtigen Kern davon recht genau ausgedrückt. Ihm geht es dabei um „etwas, das für wahr gehalten wird,“ also um Behauptungen oder Gedanken, die durch „sorgfältiges Prüfen“ zu begründen sind und aus denen ebenso sorgfältig Schlüsse zu ziehen sind. Eine Kurzdefinition von kritischem Denken stammt von Ennis (1991, S. 6, eigene Übersetzung), der es auf die Formel gebracht hat, es sei ein „vernünftiges, reflektiertes Nachdenken darüber, wie man entscheidet, was zu glauben oder zu tun ist“. Auch hier steht die Metaperspektive auf das Denken im Vordergrund (Nachdenken über das, was zu glauben oder zu tun ist). Weitere definitorische und konzeptuelle Vorschläge finden sich bei Behar-Horenstein und Niu (2011), Lai (2011), Kruse (2022), Kurfiss (1988) sowie Pithers & Sodern (2000). Kritisches Denken als selbstgesteuertes Denken Eine zweite Bedeutung des Begriffs „kritisches Denken“ ist eng mit der Selbstständigkeit im Denken verbunden und dem Anspruch, nicht einfach nachzuvollziehen, was andere für richtig halten, sondern sich selbst ein Urteil zu erarbeiten. Der Kern dieses Anspruchs ist wohl am klarsten von Kant (1784) ausgedrückt worden, der in seiner Definition von „Aufklärung“ den Mut zum selbstständigen Denken hervorhob: 1 Vom Denken zum kritischen Denken 41 <?page no="42"?> „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Der Anspruch auf Selbstständigkeit im Denken ist leider nur eine notwen‐ dige aber noch keine hinreichende Voraussetzung für kritisches Denken. Selbstständigkeit allein ist noch kein Garant für genaues oder gar kritisches Denken. Paul und Elder (2003, 1) akzentuieren genau diesen Aspekt: „Kritisches Denken heißt in Kürze: selbstgesteuertes, selbstdiszipliniertes, selbst‐ überwachtes und selbstkorrigierendes Denken. Es setzt die Bejahung und Beherrschung strenger Qualitätskriterien voraus. Es führt zu wirkungsvollen Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten und zur Dauerverpflichtung, den angeborenen Egoismus bzw. Gruppenegoismus zu überwinden.“ (Paul & Elder, 2003, S.-1) Impliziert ist in dieser Definition, dass die Selbstständigkeit des Denkens gerade darin bestehen sollte, es zu präzisieren und gegen Fehler oder Irrtümer abzusichern. Zur Selbststeuerung des Denkens kommt dabei nicht nur dessen Optimierung durch Verwendung von Qualitätskriterien hinzu, sondern auch die Fähigkeit zur Kommunikation sowie die Überwindung von egoistischem Denken. Allerdings sollte man sich fragen, ob Paul und Elder wirklich das Denken und nicht den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess damit beschrieben haben. Das Denken, egal wie stark wir es kontrollieren, ist immer auch ein wenig chaotisch, es kann zirkulär, widersprüchlich, repetitiv, von falschen Annahmen verleitet etc. sein. Was stimmen muss, das sind schlussendlich nur die Resultate des Denkens. Kritisches Denken als rationales Denken Eine dritte Definition verknüpft kritisches Denken mit rationalem Denken und Handeln, und zwar rationalem Vorgehen angesichts von fehlendem Wissen. Kurfiss (1988, S. 2) hat im Rahmen einer zusammenfassenden Über‐ sicht über den Forschungsstand der amerikanischen Diskussion folgende Definition von Kritischem Denken gegeben: 42 II Was macht das Denken kritisch? <?page no="43"?> „Kritisches Denken ist eine rationale Reaktion auf Fragen, die nicht definitiv beantwortet werden können und für deren Beantwortung vermutlich nicht alle Informationen vorhanden sind (eigene Übersetzung - OK).“ Bemerkenswert an dieser Definition ist, dass Kurfiss kritisches Denken nicht aus einem reflektierten Umgang mit Wissen erklärt, sondern aus der Tatsache, dass wir viele Fragen mit dem vorhandenen Wissen gerade nicht beantworten können. Sie definiert kritisches Denken also als vernünftigen Umgang mit unserem Unwissen. Nicht das Wissen verlangt nach kritischem Denken, sondern das Nichtwissen. Damit rückt sie kritisches Denken wieder nahe an Forschungshandlungen, mit denen Unwissen beseitigt und unklares Wissen geklärt werden können, wie ihre zweite Definition zeigt, die direkt an die erste anschließt. Kritisches Denken wird dort „als eine Untersuchung definiert, die den Zweck hat, eine Situation, ein Phäno‐ men, eine Frage oder ein Problem zu untersuchen, um zu einer Hypothese oder Schlussfolgerung zu gelangen, die alle verfügbaren Informationen einschließt und deshalb überzeugend gerechtfertigt werden kann (eigene Übersetzung - OK).“ (Kurfiss, 1988, S.-2) Kritisches Denken scheint ihr dort nicht notwendig zu sein, wo klare Hypothesen vorhanden sind und getestet werden können, sondern dort, wo schlecht definierte Probleme („ill-defined nature of problems“, S. 2) vorliegen und wo man mit Denkroutinen oder Standardmethoden allein nicht weiter‐ kommt. Ein Kern des kritischen Denkens ist demnach also die Überwindung von konventionellem, schematischem Denken, das bei schlecht definierten Problemen nicht ausreicht, um zu Lösungen zu gelangen. Kritisches Denken als skeptisches Denken Viertens ist kritisches Denken auch ein Ausdruck davon, dass es in den Wis‐ senschaften geboten ist, dem vorhandenen Wissen mit einer Portion Skepsis gegenüberzutreten und es kontinuierlich auf seine möglichen Schwachstel‐ len hin abzuklopfen. Carroll (2000, S. 4) charakterisiert die Einstellung von kritischen Den‐ kerinnen und Denkern zum Wissen als offen, skeptisch und vorsichtig („open-minden, skeptical, and tentative“). Schon in der Antike war der Skeptizismus eine wichtige Haltung gegenüber Erkenntnis, die darauf be‐ ruhte, dass man Täuschung nie grundsätzlich ausschließen kann und zudem zu allem auch das Gegenteil mit ähnlicher Plausibilität behaupten kann. 1 Vom Denken zum kritischen Denken 43 <?page no="44"?> Eine empirische Prüfung von Wissen gab es damals noch nicht. Shermer (2009) weist darauf hin, dass in heutiger Zeit Skepsis schon in der Natur wissenschaftlicher Methoden angelegt ist. So sehr ein bestimmtes Maß an Skeptizismus nötig ist, so wenig kann man einen prinzipiellen Skeptizismus als Grundlage der Erkenntnis verwenden, denn wenn man allem gegenüber skeptisch ist, wird man kein verlässli‐ ches, verwendbares Wissen konstruieren können. Versteht man skeptisches Denken aber als Mittel der Selbstvergewisserung, der Bereitschaft also, etablierte Grundsätze immer wieder zu überprüfen, so ist es sicherlich ein Kernelement kritischen Denkens. Kritisches Denken als Persönlichkeitseigenschaft und Habitus Schließlich geht es beim kritischen Denken auch immer um die Persön‐ lichkeiten der Denkerinnen und Denker. Kritisches Denken ist Teil eines Habitus, also einer gewohnheitsmäßigen Haltung im Umgang mit Fakten, Daten und Theorien, die von Genauigkeit, Sorgfalt und Umsicht geprägt ist. Kritische Denkerinnen und Denker sind nicht auf schnellen Erfolg in der Diskussion, auf Selbstbestätigung oder materiellen Gewinn aus, sondern auf begründete und reflektierte Positionen und Meinungen. Eine Befragung von Mitgliedern der American Philosophical Association APA (Facione 1990, S. 2) hat gezeigt, dass die Philosophinnen und Philosophen zwar kritisches Denken auch als Prozess betrachten, es jedoch lieber als einen Satz von Gewohnheit ansehen, der das Denken in bestimmte Bahnen lenkt. Kritische Denkerinnen und Denker werden dort folgendermaßen beschrieben: „Der ideale kritische Denker [wie auch die Denkerin] ist gewohnheitsmäßig wissbegierig, gut informiert, vernunftorientiert, flexibel, ausgewogen bei Bewer‐ tungen, ehrlich im Umgang mit persönlicher Voreingenommenheit, genau im Urteilen, bereit sich zu korrigieren, klar in seinen Absichten, systematisch in kom‐ plizierten Angelegenheiten, gewissenhaft bei der Informationssuche, vernünftig bei der Auswahl von Kriterien, fokussiert bei Untersuchungen, und hartnäckig beim Erzielen von Ergebnissen, die so präzise sind wie Gegenstand und Umstände es nur erlauben (Facione, 1990, S.-2; eigene Übersetzung - OK).“ Unschwer zu erkennen ist, dass sich aus den Antworten der Befragten so etwas wie eine ideale Forscherpersönlichkeit ergeben hat, deren Kerneigen‐ schaften Genauigkeit, Umsicht, Fairness, Hartnäckigkeit, Reflektiertheit, Offenheit und Zielbezogenheit sind. Alles scheint dem einen Zweck unter‐ 44 II Was macht das Denken kritisch? <?page no="45"?> geordnet: So genau, systematisch, umsichtig und vorurteilsfrei wie nur irgend möglich an die Untersuchung eines Gegenstandes heranzugehen. Diese fünf verschiedenen Lesarten des Begriffs verankern kritisches Denken in unterschiedlichen Bereichen. Die erste Lesart verankert es im Umgang mit Gedanken und Behauptungen und der Verpflichtung, diese genau zu begründen. Die zweite Lesart verankert es in dem Anspruch auf intellektuelle Autonomie und Genauigkeit in der eigenen Erkenntnis, anstatt Meinungen aus zweiter Hand ungeprüft zu übernehmen. Die dritte Lesart verankert es in der Rationalität wissenschaftlichen Vorgehens, was wir mit leichter Vereinfachung als argumentative oder methodische Begründetheit übersetzen können. Die vierte Lesart verankert es in einer skeptischen Haltung gegenüber scheinbar sicherem Wissen und die fünfte in den Urteils- und Denkgewohnheiten einer Wissensgemeinschaft samt entsprechenden Denkfähigkeiten. Fünf Seiten derselben Medaille, möchte man dazu sagen, auch wenn noch niemand eine so vielseitige Medaille gesehen hat. Weitere Aspekte zur Definition habe ich an anderer Stelle beschrieben (Kruse, 2022). 2 Die Feinde des kritischen Denkens Kritisches Denken ist nicht immer erwünscht, und es ist nicht schwer, Länder oder gesellschaftliche Bereiche zu entdecken, in denen kritisches Denken nicht nur ganz offensichtlich fehlt, sondern auch sanktioniert wird. Herausgefordert wird kritisches Denken am meisten von denen, die glauben, ihr Handeln nicht rational begründen zu müssen und stattdessen auf Vorurteile, Ideologien, Dogmatismus, Korruption oder blanke Macht setzen. Im Zeitalter „postfaktischer Wahrheit“ und „alternativer Fakten“ finden sich mehr und mehr gezielte Aktionen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren und kritischem Denken den Boden zu entziehen. Rabin-Havt und Media Matters (2016) und Mayer (2016) beschreiben in den USA eine regelrechte Lügenindustrie, die nicht einfach Falschmeldungen in Umlauf bringt, sondern gemeinnützig klingende Organisationen gründet, um Medien gezielt mit glaubwürdig klingenden Lügen versorgen zu können. Chatbots versorgen die Social Media mit falschen Nachrichten und fake News, oft mit der Intention, die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren. Mittlerweile ist noch die KI dazugekommen, die visuelles Material nach Belieben modifizieren kann und dabei hilft, gefälschte Bilder in Umlauf zu bringen. Zwar haben sich als Gegenreaktion in den Medien „Fakten 2 Die Feinde des kritischen Denkens 45 <?page no="46"?> Checker“ etabliert, die Politikerbehauptungen (und eigene Nachrichten) unter die Lupe nehmen, jedoch ist die Suche nach verlässlicher Information schwerer geworden. Kessler et al. (2020), drei Faktenprüfer der Washington Post, haben Donald Trumps Reden und Tweets unter die Lupe genommen und bis 2020 nicht weniger als 16.000 Falschheiten identifiziert und doku‐ mentiert. Bis heute dürfte sich das vervielfacht haben. Nun lügen auch andere Politikerinnen und Politiker gelegentlich, aber sie wissen es und bedauern es nachträglich auch. Trump hingegen lügt mit praktisch jedem zweiten Satz und scheint es überhaupt aufgegeben zu haben, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Er ist nicht an rationalen Lösungen interessiert, sondern gehört zu den Kräften in unseren Gesellschaften, die an Desinformation, Verwirrung und einer Zerstörung rationalen Denkens interessiert sind, weil sie anders ihre Interessen nicht durchsetzen können. Kritisches Denken muss man also auch danach bestimmen, wogegen es sich richtet. Es hat eine ganze Reihe von natürlichen Feinden, mit denen es sich auseinandersetzen muss, weil diese das Gegenteil von dem intendieren, was wir in kritischem Denken realisiert sehen wollen. Im Folgenden werden diese Gegner kurz beschrieben. Weitere denkerische Untugenden habe ich an anderer Stelle beschrieben (Kruse, 2023). Dogmatismus Schon in der Antike richtete sich der Skeptizismus (eine Lehre, die feste Wahrheiten verabscheute) gegen den Dogmatismus (dessen Vertreter feste Wahrheiten liebten). Der Skeptizismus weigerte sich, unhinterfragte Wahr‐ heiten anzunehmen und religiöse, politische oder wissenschaftliche Setzun‐ gen als verbindlich zu akzeptieren. Dogmatismus hingegen legitimierte sich aus unhinterfragten Grundwahrheiten, zu denen alternative Denkweisen nicht entwickelt oder akzeptiert wurden. Leider sind auch die Wissenschaften (um nicht zu sagen: wir alle) nicht frei von Dogmatismus, nur ist alles Dogmatische dort genauso regelmäßig Gegenstand von Auseinandersetzungen, in denen es wieder infrage gestellt oder aufgelöst wird. Praktische Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass feste Meinungen nicht immer ganz einfach von dogmatischen Meinungen unterschieden werden können und mithin alle Menschen auch ein gewisses Maß an Dogmatismus brauchen, um handlungsfähig zu sein. Der Kampf zwischen Dogmatismus und kritischem Denken ist also nicht nur eine innerwissenschaftliche Sache, sondern auch eine individuelle, die man 46 II Was macht das Denken kritisch? <?page no="47"?> beständig mit sich selbst ausfechten muss. Für den Dogmatismus ist die Unantastbarkeit bestimmter moralischer und inhaltlicher Setzungen das, was ihn von festen Meinungen unterscheidet. Fundamentalismus Gegen Fundamentalismus richtet sich kritisches Denken insofern, als es sich grundsätzlich der Rationalität verpflichtet fühlt, also von der prinzipiellen Erkennbarkeit der Welt ausgeht, während fundamentalistische Anschauun‐ gen Denkverbote verhängen und unhinterfragbare Wahrheiten ins Zentrum ihres Weltbildes setzen, die meist auf kanonisierten Schriften beruhen. Das expliziteste Strickmuster für den Fundamentalismus finden wir jedoch nicht im Nahen Osten und auch nicht in Rom, sondern bei den Evangelikalen in den USA, die sich in den „Chicagoer Erklärungen“ von 1978 zu einer kritiklosen Bibelinterpretation bekannten, was man auf Deutsch in der Übersetzung des Bibelbundes e. V. (2008) nachlesen kann. Dazu verfassten sie ein „Manifest der biblischen Irrtumslosigkeit“, das vorschreibt, der Bibel in allem, was sie sagt, was sie fordert und was sie verspricht zu folgen. Der Fundamentalismus klammert sich an invariante Glaubenssätze, die memorisiert und repetiert, aber nicht reflektiert werden. Er ist in verschiedener Weise wohl die prinzipielle Gegenposition zu kritischem Denken, da er auch den Anspruch auf individuelle Erkenntnis negiert und das Individuum vollständig den Lehren einer Doktrin unterwerfen will. Dadurch wird selbstständigem Denken jeglicher Art die Legitimität entzogen. Fundamentalismus geht nicht selten in Fanatismus über, den man als ein übersteigertes, blindes und aggressives Engagement für eine bestimmte Idee oder Institution charakterisieren kann. Populismus Gegenwärtig stellt der Populismus das bedrohlichste Gegenstück zum kri‐ tischen Denken dar, und zwar nicht deshalb, weil Populisten sich auf Volkes Meinung berufen (was legitim ist), oder konservative Meinungen äußern (was ebenfalls legitim ist), sondern weil der Populismus den Anspruch auf Rationalität aufgeben hat oder sogar offen bekämpft. Populistische Bewegungen definieren sich selbst wahlweise als Gegner einer entarteten Demokratie (deren Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse sie verach‐ ten), einer verlogenen Presse (die sie prinzipiell als parteiisch ansehen), einer der Political Correctness (heute eher Wokeness) verfallenen intellektuellen 2 Die Feinde des kritischen Denkens 47 <?page no="48"?> Elite (die sich die ideologische Macht erschlichen hat), einer schleichenden Islamisierung (der Vorschub leistet, wer nicht nationalistisch denkt), oder einer durch Flüchtlinge überfremdeten Gesellschaft (die von den Multikultis verraten wurde). Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus, Para‐ noia und Verschwörungstheorien gehen oft Hand in Hand mit populistischer Politik, müssen aber nicht notwendigerweise deren Kern sein. Einige ihrer Vertreter sehen sich selbst sogar als kritisch an, weil sie sich mit ihren autoritären Ideen gegen den Konsens der gesellschaftlichen Mehrheit zu Offenheit, Pluralität und Toleranz auflehnen. Andere haben den Begriff „Querdenker“ gekapert, um ihren Meinungen einen kritischen Anstrich zu geben. Eine ergebnisoffene Diskussion mit Populisten ist schwer, wenn nicht unmöglich, weil sie Rationalität nicht als Grundlage politischer Diskurse ansehen und sich nicht einer Konsensfindung verpflichtet fühlen. Manche ihrer Vertreter haben das Lügen zum System erhoben (man lese dazu Schumatskys, 2016, Analyse von Putins Herrschaftssystem). Andere, wie Donald Trump, sind so in ihre eigenen Größenideen verstrickt, dass sie Einwände gegen ihre Ideen gar nicht mehr wahrnehmen können (eine Dokumentation von Putins Lügen findet sich bei Kessler et al., 2020). Im Hintergrund des Populismus lauert immer die Drohung einer autoritären, wenn nicht gewaltsamen Lösung von Meinungsunterschieden, wie es der‐ zeit im Ukrainekrieg geschieht. Deshalb sind populistische Bewegungen heute auch eine reale Bedrohung nicht nur für das kritische Denken, sondern auch für Freiheit und Selbstbestimmung. Ethnozentrismus, Nationalismus und Rassismus Diese Dreieinigkeit beschreibt ebenfalls prinzipielle Feinde des kritischen Denkens, weil sie dem eigenen Denken (bzw. dem Denken einer ethnischen Gruppe, Klasse, eines Geschlechts oder einer vermeintlichen Rasse) einen höheren Wert beimessen als dem anderer. Kolonialismus war vermutlich der drastischste Ausdruck einer politischen Haltung, die diese drei Untugenden zum Prinzip erhob, sie finden sich aber auch in faschistischen und natio‐ nalsozialistischen Ideologien. Kritisches Denken muss im Gegensatz dazu darauf gerichtet sein, allen Menschen gleiche Rechte bei der Interpretation der Welt zuzubilligen und die Wissensentwicklung in einem offenen, gleich‐ berechtigten Diskurs aller zu ermöglichen. Was als wahr angenommen wird, darf nicht davon abhängen, auf welchem Kontinent jemand lebt, welche Religion, Hautfarbe oder Geschlecht jemand hat, sondern nur vom Resultat 48 II Was macht das Denken kritisch? <?page no="49"?> offen geführter Aushandlungen in wissenschaftlichen Medien und Veran‐ staltungen. Natürlich ist das eine ideale Forderung, die gerade angesichts großer ökonomischer Unterschiede zwischen Ländern und Kontinenten nicht immer gegeben, aber umso mehr einzufordern ist. Parawissenschaften, Aberglaube und Pseudomedizin Besucht man die Webseite der Skeptikerinnen und Skeptiker, die sich in der „Gesellschaft zur Untersuchung der Parawissenschaften e. V.“ zusam‐ mengeschlossen haben (http: / / www.gwup.org/ infos/ themen), so findet man Beschreibungen einer Reihe von mehr oder weniger aggressiv auftretenden scheinwissenschaftlichen Unternehmungen, die den Widerspruch kritischer Denkerinnen und Denker verlangen. Dazu gehört z. B. die Homöopathie, die behauptet, dass ihre „Globuli“ (Pillen) auch dann noch heilsam sind, wenn ein Molekül Wirkstoff in der Wassermenge eines ganzen Ozeans aufgelöst wird. Die ganze Liste obskurer Phänomene auf der Webseite der Skeptiker‐ gesellschaft reicht von Aberglauben und Astrologie über Kreationismus, Okkultismus bis zu UFOs und Wahrsagerei. Von einigen, wie dem Krea‐ tionismus, geht dabei eine direkte Konfrontation mit wissenschaftlichem Denken aus, bei der religiöse Glaubensinhalte mit scheinwissenschaftlichen Argumenten gegen wissenschaftliche Theorien ins Feld geführt werden. Andere hingegen, wie die Astrologie, Esoterik und Hellseherei haben gedul‐ dete Nischen in der Gesellschaft gefunden, in der sie mit Augenzwinkern wahrgenommen oder gar konsumiert werden. Versteckte Interessen Ein weiterer Feind des kritischen Denkens sind unreflektierte Interessen im wissenschaftlichen Handeln und Denken, die die Zielsetzungen wissen‐ schaftlicher Arbeit in die Bahnen von Interessengruppen lenken. Wissen‐ schaft, ebenso wie kritisches Denken dürfen sich nicht vereinnahmen lassen und müssen frei bleiben in der Bewertung ihrer Gegenstände, denn solche Vereinnahmungen, etwa durch Wirtschaftsinteressen, politische Verbände oder Religionen führen zu Einseitigkeiten im Denken, wenn nicht gar Blindheit. Nun gibt es Forschung, die an Wirtschaftshochschulen, von gewerkschaftsnahen Einrichtungen und religionsgebundenen Hochschulen praktiziert wird. Sie ist nicht automatisch blind, steht aber unter dem schwierigen Verdikt, die wissenschaftlichen Grundsätze von den jeweiligen außerwissenschaftlichen Interessen trennen zu müssen und im Konfliktfall 2 Die Feinde des kritischen Denkens 49 <?page no="50"?> den wissenschaftlichen Prinzipien vor den Interessen von Wirtschaft, Poli‐ tik oder Religion den Vorzug zu geben. Engagement in wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Kontexten ist also unter gewissen Bedingungen mit kritischem und wissenschaftlichem Denken verträglich, vorausgesetzt die Prioritäten im Konfliktfall sind klar. Bequemlichkeit und Feigheit im Denken Ein letzter Feind des kritischen Denkens ist die Bequemlichkeit, und die sitzt bekanntlich in uns selbst. Eine eigene, durchdachte Position zu entwickeln ist allemal mühsamer, als eine Position einfach zu übernehmen. Glaube (nicht nur religiöser) erscheint oft als sichere Basis in einer Welt voller Ungewissheit, und da wir nicht alles kritisch prüfen können, nehmen wir manchmal ganz gerne das als gegeben an, was die Mehrheit meint oder die Medien sagen. Kant (1784) fügte zur Bequemlichkeit noch die Feigheit hinzu, wie er in seiner Schrift „Was ist die Aufklärung“ sagte: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u. s. w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“ Heute sind es nicht Buch, Seelsorger und Arzt, die uns vom eigenen Denken abhalten, sondern Google, Wikipedia, Zeitung und Fernsehen, die uns mit Meinungen versorgen. Auch Ideologien sind ein bequemer Weg, sich das Denken zu ersparen, indem man alles einem Konzept unterwirft. Ideologien mögen nützlich sein, wenn es um das Verständnis größerer Zusammenhänge geht, aber der Zweifel sollte immer bei der Hand sein, wenn man sich eine Ideologie zu eigen macht. Besonders dann, wenn Ideologien sich selbst zum Besten aller Denksysteme erklären, beginnt eine Vereinnahmung, die das kritische Denken außer Kraft setzt, aber nicht stärkt. 50 II Was macht das Denken kritisch? <?page no="51"?> III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken 1 Was ist ein Gedanke? 2 Gedanke und Sprache 3 Wahrheitswert und Geltunsanspruch 4 Denkformen 5 Gedanken präzisieren 6 Geltungsansprüche modifizieren: Heckenausdrücke 7 Gedanken miteinander verbinden 8 Eine Aussage negieren 9 Umgang mit Werten 10 Logisches Schließen Denken ist keine Glücksache, zeigt dieses Kapitel. Es führt direkt zum Kernbegriff des bewussten Denkens, dem Gedanken. Gedanken sind die wichtigste mentale Größe, die Denkinhalte transportieren können. Außerdem können wir sie wahrnehmen und steuern, was sie zu einer Art Fenster in unser Bewusstsein macht. Was noch wichtiger ist: Wir können Gedanken Wahrheitswerte zuschreiben, und erst dadurch entsteht die Möglichkeit, logisch zu denken und zu argumentieren. Vier Dinge stehen danach im Vordergrund: Erstens die Frage, was Denkformen sind und wie wir Gedanken überhaupt in Form bringen können. Zweitens, wie wir Gedanken wahrheitsfähig machen können, d. h. in eine Form bringen, in der sie eindeutig verstanden und auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden können. Drittens, mit welchen sprachlichen Mitteln wir Wahrheitsansprüche modifizieren können. Viertens, mit welchen sprachlichen Mitteln wir Gedanken miteinander verbinden können. Ein Zwischenschritt behandelt den <?page no="52"?> Unterschied zwischen Wahrheit und Werten aus dem Spektrum von Gut und Schlecht, die unterschiedlich behandelt werden müssen. All dies bildet die Grundlage für das Verständnis des logischen Schließens, dem letzten Thema dieses Kapitels, das sich mit der Übertragung von Wahrheitswerten zwischen Aussagen befasst. 1 Was ist ein Gedanke? Gedanken, so können wir etwas vereinfacht sagen, sind der Stoff, aus dem das Denken besteht, jedenfalls das lineare, bewusst gesteuerte Denken. Denken können wir uns zunächst als einen Vorgang vorstellen, bei dem Gedanken aneinandergereiht werden, sodass eine Kette von miteinander verbundenen Gedanken entsteht. Damit ist das Denken eng verwandt mit dem Sprechen, mit dem wir ebenfalls eine solche Linearität erzeugen, wenn wir Satz an Satz reihen. Denken und Sprechen sind aber nicht identisch, auch wenn wir mit dem Denken das Sprechen vorbereiten und mit dem Sprechen den Gedanken eine Form geben. Es gibt aber auch Gedanken, die wir kaum aussprechen können (weil uns die Worte fehlen), und Aussagen, hinter denen kein Gedanke steht (weil sie aus Wörtern bestehen, die keine Bedeu‐ tung haben oder unzureichend verknüpft sind). Das Denken erschöpft sich nicht in Sprache, sondern es hat auch kognitive Mittel der Schematisierung, Klassifizierung, Veranschaulichung und visuellen Vergegenständlichung zur Verfügung, die parallel zum sprachgebundenen Denken ablaufen. Der erste Schritt, den wir hier tun müssen, ist, den Begriff „Gedanke“ zu präzisieren. Dafür müssen wir uns etwas Zeit nehmen, denn das Ver‐ ständnis des Denkens hängt vom Verständnis dieses Begriffs ab. Alles, was wir bewusst denken können, so kann man zunächst sagen, besteht aus Gedanken. In den Kognitionswissenschaften werden Gedanken gerne als mentale Repräsentationen oder als kognitive Konzepte bezeichnet, was jeweils einen interessanten Aspekt hervorhebt. Der Begriff „Gedanke“ wird dort allerdings eher selten verwendet, und wenn, dann weitgehend synonym mit „Kognition“, so in Pinkers (2007) Buch „The stuff of thought“ oder in Sternberg & Funkes (2019) Sammelband „The psychology of human thought“. Beide Bücher geben leider keine Definition davon, was sie unter einem Gedanken verstehen und beschreiben nicht, was Gedanken von anderen mentalen Phänomenen (Vorstellungen, Konzepten, Imaginationen, Wahrnehmungen etc.) unterscheidet. Gedanken erscheinen in beiden Wer‐ 52 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="53"?> ken einfach als komplexe Kognitionen. Diese Reduktion auf Kognitionen ist aus einem Grund nicht tragfähig: Sie schließt die sprachlichen Anteile des Denkens aus, ebenso wie die Gefühle. Wir brauchen im Gegensatz dazu einen offenen Zugang zu dem, was Gedanken sind. Vorläufig können wir „Gedanke“ als Sammelbegriff für mentale Inhalte mit erkennbaren Konturen definieren, die im Bewusstsein wahrnehmbar sind und manipuliert werden können. Versuchen wir, uns dem Begriff mit ein wenig Introspektion zu nähern, denn kaum etwas ist uns vertrauter als unsere eigenen Gedanken. Sie beschäftigen uns nämlich den ganzen Tag, fast ununterbrochen und das ein Leben lang. Warum also nicht das eigene Vorwissen über den Umgang mit Gedanken nutzen? Ein Blick nach innen kann uns helfen, die Sichtbarkeit und Steuerbarkeit der Gedanken zu verbessern. Folgende Erfahrungen mit den eigenen Gedanken dürften die meisten von uns schon einmal gemacht haben. ● „Ein Gedanke kommt mir in den Sinn“, sagen wir. Wir wissen nicht genau, woher er kommt; er scheint eine freischwebende Einheit zu sein, die irgendwo in unserem Bewusstsein ihren Platz einnimmt. Aber irgendwann werden wir uns seiner bewusst, und der Gedanke ist da. ● Wenn wir Gedanken wahrnehmen, geschieht dies auf eine ganz eigene Weise, die nicht der Wahrnehmung entspricht, die wir von unseren Sinnesorganen kennen. Man könnte an eine Art inneres Auge denken, mit dem wir Gedanken „sehen“ können, aber das ist metaphorisch zu verstehen, nicht wörtlich, denn ein solches Organ gibt es nicht. Das Sehen ist uns angeboren, das Wahrnehmen von Gedanken müssen wir lernen und trainieren. ● Ein Gedanke kann sich andeuten, d. h., er kann zunächst vage, unbe‐ stimmt, unklar sein, bevor wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten. Wir fokussieren einen Gedanken, wenn wir ihn erfassen wollen, so wie wir einen Gegenstand genauer betrachten. Diese Aufmerksamkeit ist mit Anstrengung, Energie und manchmal auch mit Unlust verbunden. ● Gedanken können auch wieder aus dem Bewusstsein rutschen („der Gedanke ist mir gerade entfallen“). Wir können nur hoffen, dass er uns wieder einfällt. Es ist dann meist unklar, wo man nach dem Gedanken suchen muss oder wo er sich gerade aufhält. Mit etwas Glück bequemt sich der Gedanke, wieder aufzutauchen. 1 Was ist ein Gedanke? 53 <?page no="54"?> ● Manchmal müssen wir auch Gedanken aus einem größeren Pool von mentalen Größen des Bewusstseins herausfiltern. Wir müssen also Ge‐ fühle, Erinnerungen, Wissen, Wahrnehmungen usw. beiseiteschieben, um einen Gedanken zu isolieren und ihn von anderen Elementen des Bewusstseins zu trennen. Wie beim Sehen sagen wir dann, dass wir den Gedanken „scharfstellen“ oder „fokussieren“ müssen. ● Wie alles im Leben nehmen auch Gedanken schnell eine emotionale Färbung an (unangenehm, erfreulich, amüsant, peinlich, ärgerlich, ek‐ lig, erschreckend, beängstigend). Diese emotionale Färbung ist es, die Gedanken auf unterschiedliche Weise angenehm oder unangenehm macht. Angenehme oder erfreuliche Gedanken denken wir gerne weiter, peinliche Gedanken verdrängen wir nach Möglichkeit aus dem Bewusst‐ sein, ängstigende und schuldbeladene Gedanken monopolisieren das Denken, amüsante Gedanken machen uns spielerisch usw. Emotionen scheinen also mitzubestimmen, wie wir Gedanken wahrnehmen und mit ihnen umgehen. Es ist wichtig, den Wahrheitsgehalt eines Gedan‐ kens von seiner emotionalen Valenz unterscheiden zu lernen, denn Gedanken, die uns erfreuen, möchten wir gerne als wahr ansehen, ebenso wie wir unangenehme lieber in der Kategorie falsch eigeordnet sähen. ● Gedanken können sich aufdrängen, was ihnen ein gewisses Eigenleben gibt. Sie können dominant, penetrant, hartnäckig oder sogar unabschüt‐ telbar sein. Manchmal springt uns ein Gedanke regelrecht an oder beißt sich im Bewusstsein fest. Zwangsgedanken zum Beispiel haben diese Eigenschaft und sie können die denkende Person weitgehend entmachten und ihr Handlungen aufzwingen, die sie selbst unvernünftig findet. Wir dürfen annehmen, dass auch hier die Emotionalität des Gedankens eine große Rolle spielt. ● Gedanken kommen selten allein, sondern ziehen bald andere Gedanken nach sich. Sie tun das auch dann, wenn man sich nicht besonders darum bemüht. Die Regeln, nach denen Gedanken auftauchen und andere nach sich ziehen, sind unklar. Die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Gedanken scheinen manchmal logisch, manchmal emotional, manchmal handlungsbedingt und manchmal einfach assoziativ zu sein. Die Psychologie und später die Literatur sprachen von einem Gedanken- oder Bewusstseinsstrom als kontinuierliche Folge von Gedanken. Klares Denken heißt auch, diesen Strom steuern zu lernen und die Beziehungen zwischen den Gedanken selbst zu bestimmen. 54 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="55"?> ● Gedanken unterscheiden sich in ihrer Komplexität. Es gibt einfache und zusammengesetzte Gedanken. Auch können sie abstrakt und konkret sein, d. h. sich auf einzelne Objekte oder Gegebenheiten beziehen, oder auf ganze Klassen von Objekten bis hin zu abstrakten Gesetzen oder mathematischen Formeln. ● Manchmal erinnern wir uns daran, dass wir einen Gedanken hatten, haben aber vergessen, wie er lautete. Wir haben keine verlässliche innere Registratur für Gedanken und kein Verzeichnis. Wir dürfen aber vermuten, dass Gedanken umso besser abrufbar sind, je öfter wir sie denken und je besser sie in bestimmte Handlungs- oder Denkzusam‐ menhänge eingebettet sind. ● Gedanken können sich auf andere Gedanken richten und damit als Gedanken höherer Ordnung fungieren. Das Denken wird dadurch reflexiv. Es bedenkt sich selbst. Voraussetzung dafür ist, dass sich Gedanken wahrnehmen lassen, denn nur was wir wahrnehmen, können wir auch bedenken und bewerten („das ist ein nützlicher, neuer, interes‐ santer, passender, radikaler, widersprüchlicher etc. Gedanke“). Wenn wir Gedanken bewerten, beginnen wir, den Denkprozess zu steuern, indem wir Kriterien für die Auswahl passender Gedanken ins Spiel bringen. Wenn man diese Liste von Erfahrungen betrachtet, sieht man, dass die Gedanken einen Zugang zum Denkprozess bieten. Im Bewusstsein finden wir zwar mehr Information über innere Zustände wie Gefühle, Wahrneh‐ mungen, Schmerz etc., aber nur die Gedanken können Denkinhalte aus‐ drücken und wir haben eine gewisse Kontrolle darüber, wie die Inhalte darin wahrgenommen und bewertet werden. Wir können Gedanken also manipulieren und steuern, auch wenn sie immer einen gewissen Eigensinn behalten, der uns die Steuerung erschwert. Weitere Eigenschaften von Gedanken, die sich aus der eben dargestellten Liste ergeben, sind folgende: Multimodalität: Gedanken sind multimodal. Sie bestehen nicht aus ei‐ nem homogenen Element wie etwa den Kognitionen oder der Sprache, son‐ dern sind zusammengesetzte mentale Einheiten. Sie können mit optischen Eindrücken und anderen Wahrnehmungen verbunden sein; sie enthalten in der Regel konzeptuelle Elemente und können numerische Anteile haben; sie können auch mit einer Formidee, einer Klangvorstellung oder einer Bewegungsempfindung verbunden sein. Und sie haben emotionale Anteile. Mit wachsender Bildung dürften die sprachlichen Anteile von Gedanken zunehmend an Gewicht gewinnen, da dann immer mehr Gedanken eng mit 1 Was ist ein Gedanke? 55 <?page no="56"?> Begriffen verbunden sind. Das Denken entwickelt sich am nachhaltigsten über Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen, mithin über das Medium Sprache, die wiederum die Gedanken formt. Externalisierung von Gedanken: Indem wir Gedanken aufschreiben und damit in einem Medium wie dem Papier oder dem Bildschirm de‐ ponieren, können wir sie besser präzisieren, als wenn wir sie nur im Kopf bewegen, denn sie stehen uns dann dort stabil vor Augen. Auch durch Aussprechen werden sie externalisiert, bleiben aber flüchtig. Beim Aufschreiben verlieren sie ihre Flüchtigkeit, und das gibt uns Gelegenheit, sie anzuschauen, zu durchdenken, zu ergänzen und zu verändern. Allerdings sind auf Papier oder Bildschirm festgehaltene Gedanken auf Sprache redu‐ ziert, sie sind damit gewissermaßen in einen anderen Aggregatzustand übergegangen, in dem alles Mentale wie Gefühle, Kognitionen, Vorstel‐ lungen, Wahrnehmungen etc. verschwunden ist. Übriggeblieben sind nur aneinandergereihte Wörter, in die wir beim Lesen wieder Sinn bringen müssen. Produktion von Inhalten: Die Interaktion mit den selbst geschriebe‐ nen, in einem Medium deponierten Gedanken hilft dabei, längere Gedan‐ kenketten zu bedenken, als wir das allein im Kopf können. Wir können Gedanken, wenn sie niedergeschrieben sind, inspizieren, revidieren, begra‐ digen und erweitern. Damit können wir das innere Bild, das wir von einem Sachverhalt haben, effektiv modifizieren. Wir lernen durch Schreiben unsere Gedanken besser kennen und können sie damit bewusst gestalten. Das Schreiben ist die wichtigste Denkhilfe, die wir zur Verfügung haben. Wir lernen auch, dass Gedanken einen rein mentalen Zustand haben und einen sprachgebundenen, wenn sie ausgesprochen oder niedergeschrieben sind. Kulturelle Prägung: Der Umgang mit Gedanken ist kulturell geprägt und wird wesentlich durch Bildung (oder deren Fehlen) bestimmt. Bewusster und kompetenter Umgang mit Gedanken erfordert eine lange Ausbildung und intensives Training. Es erfordert für Kinder erhebliche Lernschritte, über ein Objekt nachzudenken, das nicht mehr in ihrem Blickfeld ist oder vergangene Ereignisse zu rekapitulieren, um sie z. B. zu einer Geschichte zusammenzusetzen. Auch Gedanken aus den existierenden Wissensbestän‐ den der Fächer aufzunehmen, in das eigene Wissen zu integrieren und in der Prüfung zu reproduzieren (was gewöhnlich „Lernen“ genannt wird) ist mühsam. An der Hochschule müssen Sie nicht nur die Gedanken kennen‐ lernen, die in Ihrem Fach bereits existieren, sondern auch herausfinden, wie man bewusst und kreativ mit ihnen umgeht. 56 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="57"?> Projektive Wirkung von Gedanken: Gedanken verschmelzen oft mit dem, was sie bezeichnen. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist unter anderem über unsere Gedanken vermittelt. Der Gedanke, mein Land sei korrupt beispielsweise, lässt mir dies als Wirklichkeit erscheinen, ebenso wie der Gedanke, im besten aller Länder zu leben. Gedanken haben also eine projektive Eigenschaft, und das umso mehr, je stärker sie emotional besetzt sind. Denken lernen heißt, sich die Freiheit zu erarbeiten, den Gedanken vom Gegenstand, den er bezeichnet, zu trennen und alternative Gedanken in Erwägung zu ziehen. Damit sind wir schon mitten im kritischen und wissenschaftlichen Denken angelangt: Es geht bei beiden darum, Distanz zu den eigenen Gedanken zu finden, um sie bewusst zu prüfen und kontrolliert mit der Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. 2 Gedanke und Sprache Eine kritische Frage, die man an eine Theorie der Gedanken stellen muss, ist, wie bereits angedeutet, deren Nähe zur Sprache. Da wir Gedanken oft mühelos aussprechen oder niederschreiben können, und da wir viele Gedanken beim Lesen und Zuhören aufnehmen oder beim Schreiben und Reden von uns geben, liegt der Schluss nahe, dass Gedanken auch sprachlich verfasst sein müssten. Andere halten dagegen, dass wir sehr wohl Gedanken haben können, die nicht sprachlich ausdrückbar sind, insbesondere dann, wenn sie in den Bereich der Automatismen des Denkens fallen. Blicken wir auf die einschlägigen wissenschaftlichen Konzepte dazu, so finden wir beides. Es gibt Theorien, die im weitesten Sinne aus der Tradition der Linguistischen Relativität (Whorf, 1963) stammen. Sie sehen Sprachen als eine Art mentalen Rahmen für Wahrnehmung und Denken. Auf der anderen Seite gibt es die kognitiven Theorien, die durchgängig der Meinung sind, dass natürliche Sprachen sich nicht zum Denken eignen. Wenn Sprache für das Denken eine Rolle spielen sollte, so sagen sie, dann gäbe es eine spezielle Denksprache (Language of Thought), die dafür genutzt werde (z. B. Pinker, 1995, 2007). Sie aber sei kognitiver, nicht linguistischer Natur. Wenn man sich mit wissenschaftlichem und kritischem Denken beschäf‐ tigt, erscheint es nicht ratsam, gerade die natürlichen Sprachen vom Denken auszuschließen. Zu vielfältig sind die Rollen, die die Sprachen bei der Entwicklung des kindlichen Denkens einnehmen. Zu unabdingbar ist ihr 2 Gedanke und Sprache 57 <?page no="58"?> Beitrag zur Konstruktion von Gedanken und zur Gestaltung von Sinn, als dass man die natürlichen Sprachen von den Gedanken trennen sollte. Der offensichtlichste Verbindungspunkt zwischen Sprache und Gedanken sind die Wörter. Alle Sprachen haben ausdifferenzierte Lexika, deren Um‐ fang bei den großen Sprachen bei einer halben bis zu anderthalb Million Wörtern liegen (je nachdem, wie man „Wort“ definiert). Lexika enthalten die in einer Sprachgemeinschaft existierenden Konzepte und Denkmöglichkei‐ ten, die für das individuelle Denken übernommen und eingesetzt werden können. Wie groß der Wortschatz sein muss, den man zum Studieren braucht, ist nicht genau bekannt. Wir können annehmen, dass der aktive Wortschatz Erwachsener bei rund 50.000 Wörtern liegt, es gibt aber auch höhere Schätzungen (z. B. Trautwein 2019). Der passive Wortschatz über‐ ragt dabei den aktiven. Wörter und Begriffe im Studium sind gleichzeitig Grundlage von Fachsprachen wie auch von Fachwissen. Ohne sie kann man wissenschaftliches Wissen nicht verstehen und nicht über es nachdenken. Fachbegriffe bilden die Klammer zwischen fachlichem Lernen, Denken und Verstehen. Um den Wortschatz zu verwenden, den eine Sprache zur Verfügung stellt, brauchen wir ein individuelles mentales Lexikon (z. B. Kersten, 2010). Jedes neu gelernte Wort kann man als einen Eintrag in das mentale Lexikon verstehen. Dort wird jedoch nicht einfach der Wortlaut plus Bedeutung gespeichert, sondern sehr viel mehr. Für das Wort „Reptil“ beispielsweise enthält so ein Eintrag Informationen in Bezug auf die Phonetik (Ausspra‐ che), Orthographie (Rechtschreibung) und Semantik (Bedeutung). Aber das genügt noch nicht. Auch das Gender eines Wortes muss, zumindest im Deutschen, zusätzlich gespeichert werden, was im Fall des Reptils ein „das“ ist. Zur Spezifizierung der Bedeutung eines Wortes (Semantik) können wiederum sehr unterschiedliche Elemente im Lexikon enthalten sein, z. B. ein Schema (typisches Aussehen des Reptils), ein Konzept (Wirbeltier, legt Eier, landgebunden, vier Beine etc.), eine Aufzählung von zugehörigen Items, (zu den Reptilien gehören Echsen, Krokodile, Schildkröten, Schlangen). Für jedes Wort im mentalen Lexikon muss vermerkt sein, zu welcher Wortart es gehört: Substantiv, Adjektiv, Artikel, Verb, Präposition etc., denn davon hängt seine grammatische Einbettung ab. Wichtige Elemente jedes Lexikoneintrags sind auch Kollokationen: Mit welchen anderen Wörtern taucht ein bestimmtes Wort bevorzugt auf ? Ein Risiko z. B. „machen“ wir nicht, wir „konstruieren“ oder „erzeugen“ es auch nicht, sondern wir „gehen es ein“ oder „tragen“ es. Auch kann im mentalen Lexikon vermerkt werden, 58 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="59"?> in welchen Kontexten Wörter verwendet und in welchen sie vermieden werden. Zudem können auch persönliche Erfahrungen und fremdsprachige Ausdrücke dazukommen. Am ehesten Eingang in das individuelle, mentale Lexikon finden geläu‐ fige, d. h. häufig benutzte Wörter. Selten wird ein Wort beim ersten Hören oder Lesen gelernt, sondern erst die wiederholte Begegnung mit ihm be‐ wirkt, dass es ins Lexikon aufgenommen wird. Wortwissen ist nicht einfach eine Sache von kennen oder nicht kennen, sondern hat Tiefendimensionen, die mit der Vertrautheit des Wortes und einem subtilen Verständnis seiner Bedeutung zusammenhängen (z. B. Nation, 2019; Trautwein, 2019; Webb, 2019). Der Wortschatz ist also eng mit dem Denken bzw. kritischem Denken verbunden. Es ist unwahrscheinlich, dass man über Reptilien nachdenken kann, ohne das Wort zu kennen, das eine ganze Klasse von sehr unterschied‐ lichen Tieren zusammenfasst, von denen viele ebenfalls durch ihre Namen mental repräsentiert sind. Pinker würde vermutlich argumentieren, dass es nicht das Wort selbst ist, das beim Denken eingesetzt wird, sondern das mit ihm verbundene Konzept. Darüber lässt sich reden. Aber: gäbe es das Wort nicht - wo fände man die Information darüber, dass so ein Konzept im Kopf vorhanden ist? Wörter und Begriffe sind die Chiffren, unter denen die konkreten Informationen auffindbar und gleichzeitig kommunizierbar sind. Die kognitiven Konzepte sind den sprachlichen Zeichen nachgeordnet und zwar nicht, weil sie von geringerer Bedeutung für das Denken wären, sondern weil die Begriffe gewissermaßen die Registratur darstellen, über die die Konzepte mental auffindbar sind. Und noch etwas Wichtiges ist zu bedenken, wenn man den Zusammen‐ hang von Sprache und Denken thematisiert: Wörter kann man miteinan‐ der verbinden, und das tun wir, wenn wir Sinn herstellen. Wörter sind damit nicht nur die Grundeinheiten des Wissens und der Textproduktion, sondern auch des Denkprozesses. Wie wir aber Wörter zusammenfügen, das geschieht einerseits über inhaltliche Kriterien, andererseits auch über linguistische Regeln. Sprachen bieten uns unterschiedliche Wortarten an, mit denen man wie in einem Baukastensystem Sinn herstellen kann. Die Substantive bezeichnen - grosso modo - so etwas wie die Grundelemente des Seins, die sich von anderen unterscheiden lassen. Sie können konkret (Salamander) oder abstrakt (Reptil, Wirbeltier) sein. Adjektive dienen dazu, die Substantive näher zu qualifizieren (kleiner, niedlicher, giftiger Salaman‐ der). Mit Verben kann man ausdrücken, was Salamander tun können oder 2 Gedanke und Sprache 59 <?page no="60"?> was mit ihnen getan werden kann (weglaufen, fangen). Die Hilfsverben und modalen Hilfsverben (sein, haben, werden, dürfen, müssen, sollen, mögen, möchten) modifizieren die Verben (der Salamander darf weglaufen oder kann gefangen werden) oder helfen, sie in verschiedene Tempora (der Salamander wird weglaufen, ist weggelaufen) oder Modi wie Indikativ und Konjunktiv (der Salamander könnte weglaufen) zu transformieren. Die Konnektoren (z. B., dass, weil, dann, deshalb, sofern) dienen dazu, (Teil-) Sätze miteinander zu verbinden und damit verbinden sie auch die in ihnen ausgedrückten Gedanken. Das ist beileibe keine vollständige Aufzählung sprachlicher Mittel und auch nur andeutungsweise eine Erklärung der Wortarten, aber als Darstel‐ lung des Prinzips der Sinnkonstruktion durch Sprache sollte es genügen. Auch die Grammatik hat verbindende Natur für mentale Inhalte, auch wenn wir beim Denken Abstriche an grammatische Genauigkeit machen können, anders als beim Schreiben oder Reden. Allerdings ist die Grammatik selbst nicht sinnbildend, sondern sie stellt nur Strukturen her, in deren Bahnen die Sinnbildung verlaufen kann. Sinn ist eine semantische Kategorie, keine grammatische. Gedanken, so ein Zwischenfazit, sind nicht einfach innere Bilder oder Schemata, wie es beispielsweise die Wahrnehmung oder Vorstellung eines Salamanders wäre, sondern sie sind bereits Verbindungen mehrerer menta‐ ler Inhalte miteinander wie beispielsweise „Der Baum ist rot“ oder „Die Wiese ist feucht“, „Salamander können nicht fliegen“ usw. Natürlich kann man einen roten Baum oder eine feuchte Wiese ohne den Gebrauch von Sprache wahrnehmen, aber ein identitätsherstellendes „ist“ geht schon über eine Wahrnehmung hinaus, denn es ist ein Symbol, das logische Bedeutung hat. Das wird im dritten Beispiel („Salamander können nicht fliegen“) noch deutlicher, denn ohne Sprache können wir keine generalisierenden Aussagen treffen, da die Wahrnehmung keine Pluralform kennt und keine Allaussagen. Auch die Negation „kein“ ist ohne Sprache nicht denkbar. Die Beispiele zeigen, dass Gedanken eine enge Anbindung an die jeweilige Sprache haben und sich aus dem Wortschatz bedienen, den eine Kultur zur Verfügung stellt. Gedanken rekombinieren die mit den Wörtern verbunde‐ nen Inhalte und benutzen grammatische Regeln und Ausdrücke dafür, die Inhalte zu verbinden. Solange Gedanken noch mental verarbeitet werden, sind die Wörter noch mit den entsprechenden Vorstellungen, Wahrneh‐ mungen und kognitiven Schemata verbunden, was ihnen eine gewisse 60 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="61"?> Mehrschichtigkeit und Anschaulichkeit verleiht. Sind sie niedergeschrieben, bleibt nur die Sprache übrig. 3 Wahrheitswert und Geltungsanspruch In unserem Zusammenhang ist eine bestimmte Eigenschaft des Gedankens besonders wichtig: seine Fähigkeit, als wahr oder falsch zu erscheinen. Sie ist deshalb so wichtig, weil sie logische Schlüsse ermöglicht. Wenn ein Gedanke wahr ist, kann er nicht gleichzeitig falsch sein. Wenn es wahr ist, dass die Welt eine Kugel ist, kann sie nicht gleichzeitig eine Scheibe sein. Außerdem können logische Schlüsse gezogen werden, die den Wahrheitswert eines Gedankens auf andere Gedanken übertragen. Wenn es wahr ist, dass die Erde eine Kugel ist, dann muss es auch wahr sein, dass man wieder am gleichen Punkt ankommt, wenn man sich immer geradeaus bewegt, wie Kolumbus seinerzeit argumentierte. In der Logik ist die Zuordnung von Wahrheitswerten zu Aussagen seit der Antike die Grundlage für logische Schlüsse. Doch wie verbindet sich Wahrheit mit einem Gedanken? Denken wir auch mit Wahrheitswerten? Zunächst ist zu bedenken, dass es nicht die Wahrheit an sich ist, die mit einem Gedanken verbunden wird, sondern ein Wahrheitswert. Wenn es wahr ist, dass die Welt eine Scheibe ist, dann ist es auch wahr, dass man irgendwann an das Ende der Scheibe gelangen muss. Ob das mit der Scheibe tatsächlich wahr ist, steht auf einem ganz anderen Blatt, denn um das herauszufinden, bedarf es einer Prüfung oder anderer absichernder Aktivitäten. Der Wahrheitswert kommt bereits mit der Versprachlichung des Gedankens auf die Welt. Ein versprachlichter Gedanke wie „Die Wiese ist nass“ impliziert bereits, dass die Aussage als wahr anzusehen ist. Das liegt daran, dass Wahrheits‐ werte bereits in der sprachlichen Form einer jeden Aussage enthalten sind. Wird dieser Anspruch bewusst gegenüber anderen erhoben, sprechen wir von einer Behauptung, der ein Wahrheitsanspruch zugrunde liegt. Das, was behauptet wird, also der Inhalt der Aussage (unabhängig von der sprachlichen Formulierung) wird als „Proposition“ bezeichnet. Die Frage, wie Gedanken mit dem Wahrheitsbegriff zusammenhängen, wurde am differenziertesten von Gottlob Frege (1918/ 19), einem der Begrün‐ der der modernen Logik, behandelt. Für uns wichtig ist Freges Aufgliederung des Gedankens in drei verschiedene Aspekte: 3 Wahrheitswert und Geltungsanspruch 61 <?page no="62"?> ● Das Fassen des Gedankens ‒ das Denken ● Die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens ‒ das Urteilen ● Die Kundgebung dieses Urteils ‒ das Behaupten. Der erste von Freges Punkten ist das Auftauchen des Gedankens im Be‐ wusstsein und damit das Begreifen seines Inhalts. Dabei handelt es sich selten um eine Neuschöpfung des Gedankens, sondern eher um ein Nach‐ denken darüber, wie ein existierender Gedanke genau zu verstehen ist, was Frege mit dem etwas ungebräuchlichen Ausdruck „Fassen des Gedankens“ bezeichnet. Frege war überzeugt, dass die meisten unserer Gedanken aus der sozialen Umwelt stammen und nicht von uns selbst kreiert sind. Es können komplexe Denkprozesse notwendig sein, bis ein Gedanke klar und präzise im Bewusstsein steht. Wenn ein Gedanke mit einer bewussten Wahrheitszuschreibung einher‐ geht, so Frege weiter, wird er zum Urteil. Die Wahrheitszuschreibung versieht einen Gedanken gewissermaßen mit einem Etikett oder, wie wir im Computerzeitalter lieber sagen würden, mit einem „tag“, das ihm die Qualität „wahr“ zuschreibt. Diese Zuschreibung geht über die bereits in der Aussagenform des Gedankens liegende Wahrheitsdeklaration hinaus. Es ist eine bewusste Zuschreibung, die wir beim Denken vornehmen, die Frege als „Urteil“ bezeichnet. Wird ein Gedanke ausgesprochen, so Freges dritter Punkt, wird er zur Behauptung. Hier deutet Frege die Bedeutung der Versprachlichung und Kommunikation von Gedanken an. Aus der Wahrheitsannahme wird ein Sprechakt, mit dem das Bekenntnis zu dem entsprechenden Gedanken ge‐ genüber Dritten fixiert wird. Das Urteil über die Wahrheit eines Gedankens wird dadurch zu einer Behauptung oder einem Postulat. Für Freges Denksystem ist es also zentral, dass man einem Gedanken einen Wahrheitswert zuordnen kann. Das unterscheidet den Gedanken von einer Wahrnehmung oder einer Kognition, die beide existieren können, ohne je ein Wahrheitsetikett zu erhalten. Auch Fragen oder Aufforderungen schloss er aus dem Kreis der Gedanken aus. Sie transportieren keine Wahr‐ heitsannahme, sondern erfüllen andere Funktionen für das Denken und Kommunizieren. Allerdings ist es nicht schwer, eine Frage in eine Aussage (und damit in Freges Sinn in einen Gedanken samt Wahrheitszuschreibung) zu transformieren, wie man auch umgekehrt aus einem Gedanken („Papa‐ geien sind Reptilien“) eine Frage machen kann („Sind Papageien Reptilien? “). Mit Aufforderungen geht das nicht, („Vergiss den Papagei! “) da sie das 62 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="63"?> Handeln adressieren und nicht die Gedanken selbst, sondern den Umgang mit ihnen. Wir können festhalten, dass die Wahrheitszuschreibung (a) integraler Bestandteil des Denkens ist und nicht etwa nachträglich dem Denkergebnis angehängt wird, (b), dass die Wahrheitszuschreibung an Sprache (genauer: an Aussagen) gebunden ist, ohne die sie nicht vorgenommen werden kann. Dazu kommt (c), dass Gedanken immer dann, wenn sie in Aussagen ausge‐ drückt werden, automatisch ein Wahrheitsetikett besitzen und (d), dass es verschiedene sprachliche Möglichkeiten gibt, einer Wahrheitszuschreibung Nachdruck zu verleihen, sodass sie als Urteil oder Behauptung in Freges Sinne auftritt. Dass Gedanken an Sprache gebunden sind, ist also eine kritische Behaup‐ tung an dieser Stelle. Sie schließt vorsprachliche Gedanken aus, nicht aber vorsprachliche Anteile von Gedanken. Erst wenn Bewusstseinsinhalte eine Aussagenform angenommen haben, finden sie einen Wahrheitswert und erst damit beginnt das, was wir als „menschliches Denken“ bezeichnen. Menschenaffen sind zu erstaunlichen Denkleistungen imstande, die aber auf kognitive Prozesse beschränkt sind. Sie entsprechen in etwa dem Denkver‐ mögen von dreijährigen Kindern, einem Alter, in dem sich die Integration der Sprache in das Denken vollzieht. 4 Denkformen Um kompetent mit Gedanken und mentalen Inhalten umzugehen, muss man lernen, sie in Form zu bringen. Der Begriff „Denkform „kennzeichnet in der Philosophie das Formale an Gedanken oder Gedankenverbindungen im Gegensatz zu ihren Inhalten“ (Regenbogen & Meyer, 2013). Der Begriff leis‐ tet uns gute Dienste, wenn elementare und standardisierte Denkeinheiten bezeichnet und voneinander abgegrenzt werden müssen. Wir erarbeiten uns damit ein Grundverständnis davon, was methodisches Denken ist, und wie es als Arbeitsmittel eingesetzt werden kann. Wer die philosophische Sicht vertiefen will, sei auf Tugendhat & Wolf (1983), Hoyningen-Huene (1998), Pfister (2013) oder das von Regenbogen und Meyer (2013) herausgegebene Wörterbuch der philosophischen Begriffe verwiesen. Denkformen sind statisch, sie beschreiben keine Abläufe, sondern sprach‐ lich-gedankliche Muster, die auf verschiedene Weise Denkinhalte transpor‐ tieren können. Gedanken finden sozusagen Halt in solchen sprachlichen 4 Denkformen 63 <?page no="64"?> Strukturen. Denkformen lassen sich nicht in Kognitionen auflösen oder transformieren, wohl aber bedarf es kognitiver Aktivität, um z. B. das Konzept hinter einer Denkform zu verstehen. Welche Mittel bietet uns die Sprache an, um Denkinhalte zu formen? Es wurde bereits gesagt, dass Aussagen eine Standardform darstellen, um Gedanken so auszudrücken, dass sie uns als wahr erscheinen („Der Salaman‐ der ist ein Reptil“). Aussagen lassen sich ohne Informationsverlust in eine zweite Denkform, die Frage, transformieren. Fragen haben keinen Wahr‐ heitsanspruch, sondern im Gegenteil, sie vermeiden Wahrheitszuschreibun‐ gen zugunsten einer Suche nach Information oder nach dem passenden Wahrheitswert („Ist der Salamander ein Reptil? “). Als dritte Denkform haben wir die Aufforderung bereits erwähnt, die nicht etwas behauptet, sondern zu etwas auffordert („Rettet die Salamander! ). Nicht jede Aussage ist in eine Aufforderung transformierbar. Alle drei Denkformen sind sprachliche Mittel, die dem Gedachten eine jeweils andere Form verleihen. Diese Formen gibt es, weil die Sprachen sie verfügbar machen. Neben diesen drei grundlegenden, schon in der Sprache angelegten Denk‐ formen gibt es weitere, die alle als Variationen von Aussagen angesehen werden können. Dazu gehören: ● Behauptung: Aussage, die mit einem deutlichen Wahrheitsanspruch vertreten wird. ● Urteil: Aussage mit klarem Wahrheitsanspruch, die als Resultat eines komplexen, bewusst vorgenommenen Bewertungsprozesses entstanden ist. Pointiert die Abgeschlossenheit des Denkvorgangs. ● Hypothese: Probeweise geäußerter Gedanke von unklarem Wahrheits‐ wert, über den erst später entschieden werden soll. ● These: Behauptung, die zum Zweck der Diskussion ausgesprochen und argumentativ begründet wird. ● Argument: Aussage, die die Glaubwürdigkeit oder Wahrheit einer Be‐ hauptung oder These begründen soll. ● Annahme: Aussage über etwas, das als gegeben oder wahr voraussetzt, aber nicht weiter begründet wird. ● Meinung: Set von Behauptungen, die subjektiv als gültig angesehen und deren Wahrheit gegenüber anderen Menschen verteidigt wird. ● Vermutung: Behauptung, deren Wahrheitsgehalt explizit als unbestätigt deklariert wird, wenn auch subjektiv als wahr empfunden. 64 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="65"?> ● Konzept(ion): Set von aufeinander bezogenen Aussagen, die in einem stabilen Verhältnis zueinanderstehen und Gültigkeit für den postulier‐ ten Zusammenhang beanspruchen. ● Plan: Sequenz von Aufforderungen und Regeln, die Handlungs- oder Denkschritte benennen, mit deren Hilfe man ein Ziel erreichen kann (zum Beispiel: „Tu X, um Y zu erreichen, vermeide dabei Z, beachte A! “). ● Fakt, Tatsache: Sachverhalt, von dem wir glauben, dass er durch empi‐ rische Daten oder solide Erfahrung gestützt wird, sodass wir Aussagen über ihn als glaubwürdig bzw. seine Existenz als gegeben ansehen können. Diese Denkformen geben den Gedanken jeweils einen eigenen Status, den man wie eine Meta-Information über deren jeweilige Natur verstehen sollte. Keine Frage, dass sie sowohl für das kritische, wie auch das wissenschaftli‐ che Denken von hoher Bedeutung sind. Sie geben einem Text so etwas wie ein epistemisches Profil, indem sie den Status jeder Aussage qualifizieren. Im Studium ist es wichtig, diese Statuszuschreibungen sowohl in gelesenen Texten als auch beim Schreiben von Hausarbeiten zu berücksichtigen. Schließlich sollten Sie sie auch bereits im Denken vornehmen, damit dieses ebenfalls epistemisches Profil erhält. 5 Gedanken präzisieren Gedanken haben wir bisher als das kennengelernt, was das Denken in Bewegung setzt. Sie verschaffen uns Zugang zum Denkprozess und geben Denkinhalten ein Wahrheitsetikett mit. Mit den Unzulänglichkeiten von Gedanken hingegen haben wir uns noch nicht beschäftigt, aber das müssen wir, denn Gedanken sind von Natur aus alles andere als präzise Denkinstru‐ mente. Sie sind sogar notorisch ungenau und unscharf. Für die meisten Situationen im Leben reicht es, dass Gedanken ungefähr das ausdrücken, was wir meinen. Für die Wissenschaften dagegen ist das Ungefähre ein Feind, denn ihr Markenzeichen ist Genauigkeit. In den Wissenschaften verlangen wir, dass Gedanken eindeutig verstanden werden können und dass ihr Wahrheitsgehalt spezifizierbar und prüfbar ist. Die Arbeit am Gedanken ist deshalb eine wichtige Grundlage des wis‐ senschaftlichen Denkens. Drei Quellen für die Unzulänglichkeiten von Gedanken sind für uns bedeutsam: Ungenaues Durchdenken, fehlendes oder oberflächliches Wissen und unscharfe sprachliche Mittel. 5 Gedanken präzisieren 65 <?page no="66"?> Ungenaues Durchdenken Solange wir Gedanken allein im Kopf bewegen, müssen wir nicht sehr genau und vor allem nicht explizit sein. Es reicht, einige Denkinhalte grob zueinander in Beziehung zu setzen. Den Rest müssen wir nicht aus‐ buchstabieren, da wir ja wissen, worüber wir nachdenken. Erst mit der schriftlichen oder mündlichen Kommunikation eines Gedankens, müssen wir die grammatischen Bezüge und die verwendeten Begriffe explizieren. Ist ein Gedanke in Worte gefasst und ausgesprochen oder niedergeschrieben, kann man sehen, ob er trägt. Dann stellt man oft fest, dass der verschriftlichte Gedanke mit dem Gedanken, der noch im Kopf vorhanden war, nicht ganz übereinstimmt. Man muss also noch einmal über die Bücher und den Gedanken tiefer durchdenken. Fehlendes oder oberflächliches Wissen Präzise Gedanken erfordern präzises Wissen. Für viele alltägliche Dinge reicht oberflächliches Wissen. Man muss nicht wissen, wie der Automotor funktioniert, wenn man mit dem Auto herumfahren will, sondern nur das, was man zum Bedienen braucht. Im fachlichen Denken hingegen braucht es Tiefenwissen, das auch die latenten Dimensionen einer Sache zugänglich macht. Gedanken speisen sich aus den individuellen Wissensressourcen. Wenn man über die EU spricht, macht es einen Unterschied, ob man im Kopf hat, wie die EU strukturiert ist, wie dort Entscheidungen getroffen werden und welche Hebel es gibt, Veränderungen herbeizuführen. Ist dieses Wissen nicht vorhanden, kommen globale Gedanken wie „Europa ist am Ende“ zustande, die zwar Unmut transportieren, aber keine nachvollziehbaren Inhalte. Unscharfe sprachliche Mittel Die Binnenstruktur von Aussagen wird stark von den tragenden Begriffen geprägt. Darunter verstehen wir Wörter (meist Substantive) oder zusam‐ mengesetzte Ausdrücke, die für die Benennung definierter Objekte oder Konzepte verwendet werden. Nicht jedes Wort ist ein Begriff, nur definierte und in ihrer Bedeutung festgelegte Wörter bezeichnen wir als Begriffe. Der Zusammenhang zum Begreifen (etwas mit den Händen anfassen) ist im Wort „Begriff “ noch sichtbar, ebenso wie der Zusammenhang zum Begreifen im Sinne von „Verstehen“. Zur Präzisierung von Begriffen verwenden wir 66 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="67"?> gemeinhin Definitionen, also konventionelle Setzungen, die einen Begriff explizieren (was soll mit dem Begriff bezeichnet werden) oder seine Ver‐ wendung umschreiben (wie wird der Begriff in einem bestimmten Kontext verwendet). Erst dann ist fachlich präzises Denken möglich. Wir müssen also, wenn wir genau denken wollen, die Gedanken expli‐ zieren, sie sachlich fundieren und sprachlich präzisieren. Wir müssen ent‐ scheiden, ob das, worüber wir nachdenken, mit den Worten, die wir gewählt haben, übereinstimmt. Dabei erlauben unterschiedliche Formulierungen jeweils unterschiedliche Näherungsgrade an das, was wir sagen wollen. Es gibt nicht nur einen sprachlichen Ausdruck für einen Gedanken, meist aber einen, der ihn am genauesten trifft. Deshalb ist es auch gerechtfertigt zu sagen, dass sich Gedanken erst beim schriftlichen Formulieren oder beim Aussprechen formen und festigen. Das Formulieren ist, wie Wrobel (2002) sagt, nicht einfach das Niederschreiben, sondern das Konstruieren von Gedanken. Bewegen wir Gedanken nur im Kopf, können wir nie sicher sein, ob sie vollständig durchdacht und optimal versprachlicht sind. Versuchen wir es mit einer Präzisierung der Aussage. Europa ist am Ende. So mag denken, wer mit der EU unzufrieden ist. Solange dieser Satz nur im Kopf existiert, ist es gleichgültig, ob die denkende Person Europa oder die EU meint, da sie sich selbst ja darüber im Klaren ist. Wird die Behauptung jedoch schriftlich geäußert, so wird schnell sichtbar, dass das Subjekt falsch benannt ist und dass unklar ist, was „am Ende“ bedeutet, denn das ist eine Metapher, die nicht klar benennt, worauf sie sich bezieht. Eine Revision des Satzes könnte z.-B. zu der Formulierung führen: Die EU muss sich erneuern. Damit haben wir schon ein wenig mehr Präzision ins Spiel gebracht. Aber wir erkennen schnell, dass der Satz eher eine Aufforderung ist (hinter die man ein Ausrufezeichen setzen möchte) als eine Aussage, wiewohl man den Satz auch als Darstellung einer Notwendigkeit auffassen kann, sodass ihm ein Wahrheitswert zugeschrieben werden kann. Und was soll „erneuern“ heißen: Neue politische Strukturen, neue Mentalitäten, neue Anstrengungen auf politischer Ebene? Auch fällt auf, dass der Satz reflexiv ist: Europa soll sich selbst erneuern. Wie genau soll das gehen? Jetzt liegt die 5 Gedanken präzisieren 67 <?page no="68"?> Vermutung nahe, dass es sich eher um einen Wunsch handelt als um eine analytische Aussage. Eine Präzisierung des Gedankens würde also erfordern: ● Den Gegenstand, über den etwas ausgesagt wird, klar zu benennen: Hier ist „EU“ immer noch zu unscharf, es sollte benannt werden, ob die administrative, institutionelle, politische, geographische oder ideologische Verfassung der EU gemeint ist. ● Das handelnde Subjekt klar zu definieren: Wer soll die EU verändern? Die Bürgerinnen und Bürger, Parteien, Politikerinnen und Politiker, Landesregierungen, das europäische Parlament, der europäische Rat, alle zusammen? ● Den Vorgang zu präzisieren: Was heißt „erneuern“? Die Einstellungen der Menschen verändern, die Institutionen umbauen, eine neue Staats‐ form kreieren, die Wirtschaft dynamisieren? ● Die Behauptung zu kontextualisieren: Wer sagt, dass die EU sich verän‐ dern muss? Die Autorin oder der Autor des Satzes? Die Institutionen der EU? Die Zeitungen? Die populistischen Parteien? ● Die Begriffe zu klären und definieren: Welche Länder fallen unter den Begriff „EU“? Was bedeutet „erneuern“ in der entsprechenden Disziplin? Eine Aussage zu präzisieren heißt in der Regel, einen Gedanken genauer zu fokussieren und ihn damit auch einzugrenzen, also einen engeren und klarer benannten Wirklichkeitsausschnitt zu betrachten. Nehmen wir also eine neue Aussage, die diese Forderungen erfüllt: Die gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Herausforderun‐ gen verlangen nach einer neuen Verfassung der EU. Diese Aussage präzisiert einen Aspekt des globalen Gedankens, „Die EU muss sich erneuern“, indem sie ihn differenziert und eingrenzt. Sie verändert aber auch seinen Gehalt damit. Die Aussage ist in der neuen Form wissen‐ schaftlich begründbar und läßt sich auf prüfbare Informationseinheiten herunterbrechen - vorausgesetzt, man spezifiziert, welcher Art die Heraus‐ forderungen sind.. 68 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="69"?> 6 Geltungsansprüche modifizieren: Heckenausdrücke Für die Formulierung von Wahrheitsansprüchen in den Wissenschaften ist noch eine weitere Regel zu beachten, die mit der Präzisierung des Geltungsanspruchs zu tun hat. Dabei geht es nicht einfach um wahr oder falsch, sondern um den Grad an Sicherheit des Anspruchs. Man kann sich einer Behauptung sicher sein oder sie bezweifeln, man kann gute Gründe oder wacklige Gründe, eindeutige oder widersprüchliche Belege für ihre Richtigkeit haben. Man kann mit der herrschenden Meinung argumentieren oder gegen sie. Das alles kann man subtil in seine Aussagen einfließen lassen und den Behauptungen neben dem Wahrheitsetikett eine weiteres Statusetikett beigeben, das aussagt, wie sicher oder unsicher man sich seiner Behauptung ist. Die Dichotomie von wahr und falsch ist zu eng, als dass sie für die Wissenschaften ausreichen würde. Die Aussage: Die EU-Integration wird fortschreiten. verlangt nach einem Nachdenken darüber, ob sie in dieser Form gerecht‐ fertigt ist. Und da tauchen Fragen auf. Ist es unausweichlich, dass dies geschehen wird? Kann es nicht auch Rückschritte geben oder Desintegra‐ tion? Das Mindeste, was man an Präzisierung überlegen sollte, wäre ein „ist zu vermuten“ oder „es scheint so, dass …“ oder auch „nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand“. Damit würden wir sagen, dass wir uns zwar recht sicher sind, aber auch nicht ganz hundertprozentig. Alle drei Ausdrücke würden einräumen, dass es unter bestimmten Umständen doch eine andere Entwicklungsdynamik in der EU geben könnte, diese jedoch am wahrscheinlichsten ist. Die Mittel, die wir dazu verwenden, nennt man „Heckenausdrücke“, englisch „Hedges“ (Salager-Meyer 1995; Hyland 1998). Anfangs dachte man in der Linguistik, dass solche Ausdrücke einfach eine Art Weichmacher für wissenschaftliche Texte sind, mit denen sich die Autorinnen vor Kritik schützen (hinter einer Hecke). Heute tendieren wir zu der Ansicht, dass sie Aussagen zu präzisieren erlauben und allesamt der Tatsache Rechnung tragen, dass Aussagen mit vollem Geltungsanspruch selten zu treffen sind. Ausdrücke wie „vermutlich“, „möglich“ oder „offensichtlich“ helfen uns, den Grad an Sicherheit zu dosieren, mit dem wir eine Aussage vorbringen und damit ihren Geltungsanspruch modifizieren (Hyland 1998). Die meisten 6 Geltungsansprüche modifizieren: Heckenausdrücke 69 <?page no="70"?> Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler würden also eine Formulierung wählen wie: Vermutlich wird die EU-Integration fortschreiten. Es ist anzunehmen, dass die EU-Integration weitergeht. In der Politikwissenschaft gilt es als sicher, dass die EU-Integration weitergeht. Weitere typische Heckenausdrücke habe ich an anderer Stelle aufgelistet (Kruse 2015, S. 148). Während die Logik zweiwertig ist, differenziert das wissenschaftliche Denken de facto sehr viel genauer und ordnet die Wahr‐ heitsansprüche auf einem Kontinuum zwischen wahr und falsch an. Das heißt nicht, dass das Wahrheitskonzept aufgegeben wird, sondern nur, dass das Bekenntnis dazu differenzierter artikuliert wird. Die sprachlichen Mittel, die unter dem Begriff „Heckenausdrücke“ zu‐ sammengefasst sind, können von konjunktivischer Verwendung von Mo‐ dalwörtern („Die Integration der EU dürfte weiter voranschreiten“) und Modalphrasen („Die weitere Integration der EU ist keineswegs sicher“) bis zu bedingenden Einleitungsphrasen („Wie wir vermuten dürfen, wird die Integration der EU weiter voranschreiten“) oder hypothetischen For‐ mulierungen („gesetzt den Fall, dass die Integration weiter fortschreitet“) reichen. Wir werden auf diese sprachlichen Mittel später noch einmal im Zusammenhang mit hypothetischen Argumentationen zurückkommen (Kapitel IV/ 5). Es gibt auch Ausdrücke, die den Wahrheitsanspruch einer Aussage beto‐ nen. Man nennt sie „Verstärker“ oder „Booster“: Ohne Zweifel wird die Integration der EU weiter fortschreiten. Es ist unausweichlich, dass die Integration der EU weiter fortschrei‐ tet. Die EU-Integration wird sicherlich weiter fortschreiten. Solche Verstärker legen Nachdruck auf den Wahrheitsgehalt einer Aussage, verstärken also deren Geltungsanspruch und signalisieren ein Bekenntnis der sprechenden Person zur Richtigkeit ihres Inhalts. Andere Verstärker wie „mit Sicherheit“, „gewiss“, „unausweichlich,“, „definitiv“, „ist ein Fakt“, „durchaus“ verrichten einen ähnlichen Dienst. 70 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="71"?> Wichtig ist es wiederum zu berücksichtigen, dass die sprachlichen Mittel, die wir zur Präzisierung des Wahrheitsanspruchs einsetzen, nicht die Mittel sind, die wir nutzen, um zu einer Einschätzung des Wahrheitsgehaltes zu kommen. Ob sich die EU am Ende weiter integrieren wird, muss sich aus einer Analyse der Sache und aus einer Bewertung der vorhandenen Daten und Fakten ergeben. Mit den gerade genannten sprachlichen Mittel können wir nur ausdrücken, zu welchem Ergebnis eine solche Analyse gekommen ist. Sie ersetzen die Analyse nicht. 7 Gedanken miteinander verbinden Haben wir einen elementaren Gedanken geäußert, so stellen wir schnell fest, dass er allein nicht weit trägt. Fast jeder Gedanke braucht Gesellschaft, da er sonst einen Sachverhalt nicht angemessen repräsentieren oder der Realität nicht gerecht werden kann. Gedanken müssen miteinander verbunden werden. Dazu verwenden wir Wörter, „Konnektoren“ genannt, wie „und“, „oder“, „sowohl … als auch“, „weil“, „folglich“, „deshalb“, „sofern“. Mit ihrer Hilfe können wir komplexe Gedanken und Gedankenketten herstellen und z. B. kausale, konditionale, temporale, räumliche, finale oder argumentative Beziehungen zwischen den Gedanken herstellen. So zum Beispiel: Mit einem „und“ verbinde ich zwei gleichwertige Aussagen: „Die EU-skeptischen Parteien verlangen eine Umwandlung der politischen Ver‐ fassung der EU in einen Staatenbund und wollen mehr direkte Demokratie.“ Mit einem „aber“ kann ich gegenläufige oder einschränkende Gedanken anfügen: „Die EU-skeptischen Parteien verlangen eine Umwandlung der politischen Verfassung der EU in einen Staatenbund, sind sich aber nicht darin einig, wie das geschehen soll.“ Mit einem „obwohl“ kann ich einen Gegengedanken anfügen, der dem ersten Gedanken zuwiderläuft: „Die EU-skeptischen Parteien verlangen eine Umwandlung der politischen Verfassung der EU in einen Staatenbund, obwohl sie am liebsten zu unabhängigen Nationalstaaten zurückkehren würden.“ Mit „jedoch“ kann ich eine Einschränkung eines Gedankens vornehmen: Die EU-skeptischen Parteien verlangen eine Umwandlung der politischen Verfassung der EU in einen Staatenbund, lehnen jedoch jede Stärkung der Zentralgewalt ab. 7 Gedanken miteinander verbinden 71 <?page no="72"?> Mit einem „sofern“ kann ich die Wahrheit meiner Aussage an eine Bedin‐ gung knüpfen: „Die EU-skeptischen Parteien verlangen eine Umwandlung der politischen Verfassung der EU in einen Staatenbund, sofern dies zu völliger Souveränität der Mitgliedsstaaten führt.“ Mit einem „weil“ kann ich einen Grund angeben: „Die EU-skeptischen Parteien verlangen eine Umwandlung der politischen Verfassung der EU in einen Staatenbund, weil sie die EU hassen.“ Probieren Sie aus, welche Erweiterungen der Gedankenverbindungen mit Konjunktionen wie „um zu“, „und zwar“, „wenn nicht“, „seit“, „indem“ „so‐ lange“, „sobald“, „nachdem“, „bis“, „wodurch“, „weshalb“, „sodass“, „indem“, „damit“ zu erreichen sind. Jede entwickelte Sprache besitzt einige Hundert Konjunktionen oder Konnektoren, die uns erlauben, Gedanken zusammenzufügen und dabei auch noch anzuzeigen, in welchem Verhältnis die beiden Gedanken jeweils zueinanderstehen. Kritisches Denken ist darauf angewiesen, diese Konnek‐ toren genau einzusetzen und mit ihrer Hilfe die Art der gewünschten Verbindung zwischen Gedanken zu präzisieren. Es gibt einige Hundert davon in der deutschen Sprache und sie enthalten das Wissen unserer Kultur über Gedankenverbindungen. 8 Eine Aussage negieren Eine trivial erscheinende, aber immens wichtige Grundlage des Denkens besteht darin, dass wir ausnahmslos jede Aussage negieren können. Durch Einfügen eines Wortes wie „nicht“ oder „kein“ können wir den Wahrheits‐ wert einer Behauptung in ihr Gegenteil verkehren: Die EU braucht (k)eine neue Politik. Eine Negation können wir auch durch den Zusatz „Es stimmt nicht, dass …“ oder „Es ist falsch, dass …“ erreichen. Negationen uns so geläufig sind, dass wir uns nicht bewusst sind, dass sie einen wesentlichen Unterschied der menschlichen Kommunikation zu Kommunikationsformen in der Natur ausmachen, bei denen Negationen nicht vorhanden sind. Wahrnehmungen und Kognitionen kann man nicht negieren. Wir brauchen definierte Symbole, damit wir etwas negieren können. Wir können nicht die Realität selbst negieren, nur etwas, das wir 72 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="73"?> über sie aussagen. Das „nicht“ ist also ein außerordentliches starkes Zeichen, das selbst keine Bedeutung hat, jedoch die Aussage, mit der es verbunden wird, annihilieren oder ihren Wahrheitswert ins Gegenteil verkehren kann. Die Negation ist auch der Schlüssel zu den logischen Wahrheitswerten, mit denen wir in jedem Moment unseres Denkens umgehen. Denn wenn wir eine Aussage („die EU braucht eine neue Politik)“ negieren („die EU braucht keine neue Politik“), so wird klar, dass nur eine Aussage von beiden wahr sein kann. In der Logik bedeutet der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, dass es neben einem wahren Satz und seiner Negation keine dritte Größe geben kann, während der Satz vom Widerspruch bedeutet, dass nicht beide Sätze gleichzeitig wahr sein können. Diese beiden Gesetze bilden seit Aristoteles eine der Grundlagen der zweiwertigen Logik, auf die wir uns in den Wissenschaften berufen. Mehr darüber im letzten Abschnitt dieses Kapitels. 9 Umgang mit Werten Wir haben bis hierher gesehen, dass Wahrheit das zentrale Kriterium für die Beurteilung von Gedanken ist und dass wir im kritischen wie auch im wissenschaftlichen Denken den Wahrheitsstatus von geäußerten Gedanken genau markieren und begründen müssen. Bevor wir weitergehen, müssen wir einen Zwischenschritt einlegen, um eine weitere Bewertungsart vorzu‐ stellen, die alternativ zum Kriterium der Wahrheit steht. Denn wir haben neben der Wahrheit noch eine Vielzahl weiterer Werte, die Relevanz für das Denken und Handeln haben. Werte beruhen auf einem Gütemaßstab, und wenn dieser nicht „Wahrheit“ ist, so entstammt er dem Wertespektrum von Gut und Schlecht. In den Wissenschaften ist es ein ehernes Gebot, Behauptungen über die Wahrheit von Aussagen von solchen über deren Bewertung auf der Dimension Gut-Schlecht zu unterscheiden und beide getrennt zu behandeln. Dabei ist die Unterscheidung nicht immer ganz einfach zu leisten. Ist die Aussage, „Die Integration der EU wird weiter fortschreiten“, per se eine wertneutrale Aussage, die nur einen Zustandsbericht gibt über etwas, das jemand für wahr hält? Oder schwingt darin schon eine positive Wertung oder wenigstens eine Hoffnung mit? Umgekehrt: Heißt „Die EU ist am Ende“ nur, dass ein Sachverhalt beschrieben wird oder schwingt darin schon eine gewisse Befriedigung oder ein Wunsch über deren Untergang mit? Explizieren 9 Umgang mit Werten 73 <?page no="74"?> können wir Wertungen durch einen Zusatz wie „Es ist gut (wünschenswert, notwendig, zu hoffen), dass …“ anzeigen. Wichtig in den Wissenschaften ist es, Wertungen explizit zu verwen‐ den, und sie nicht, wie in der Aussage „Die EU ist am Ende“ im Tonfall mitschwingen zulassen. Klare Wertungen machen eine Aussage zu einem Werturteil, das zu einem Thema gefällt wird, wie etwa in diesem Urteil: „Eine weitere Integration der politischen Strukturen der EU halten die Autoren für wünschenswert“. Wichtig für unseren Kontext ist es, dass Werte nicht wahr oder falsch sein können. Wertbereiche wie Gesundheit, Sicherheit, Nützlichkeit, Relevanz, Gerechtigkeit, Leistungsfähigkeit, Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit stellen jeweils eine eigene Kategorie des Urteilens dar. Das Urteil über die Wahrheit eines Satzes („Es ist wahr, dass die Integration der EU fort‐ schreitet“) darf nicht mit der Wünschbarkeit der Aussage („Es ist gut/ nütz‐ lich/ politisch erforderlich, dass die Integration fortschreitet“) verwechselt werden. Über Wahrheit und über Wünschbarkeit zu urteilen erfordert unterschiedliche Analyse- und Prüfhandlungen. 10 Logisches Schließen In den letzten Abschnitten haben wir den Weg vom Gedanken zur sprach‐ lichen Form und von dort zur kontrollierten Denkoperation betrachtet. Jetzt folgen wir dem Weg von der Aussage zur Logik. Damit ist ein weiterer Schritt der Abstraktion verbunden, der nicht nur von den konkreten Inhal‐ ten, die wir beim Denken wie auch beim Aussprechen vor Augen haben mögen, sondern auch von den sprachlichen Ausdrucksmitteln und Inhalten absieht und sich abstrakten Darstellungsformen der Mathematik nähert. Zu beachten ist dabei, dass der Begriff „Logik“ unterschiedlich verwendet wird, darunter auch in einer Weise, die den Begriff eng an theoretische Erwägungen heranrückt, wie zum Beispiel bei Poppers (1945/ 2013) „Logik der Forschung“, die eigentlich eine erkenntnistheoretische Grundlegung darstellt. Wir betrachten Logik hier nur im engeren Sinne als Lehre des logischen Schließens. Logik betrifft den wahrheitserhaltenden Umgang mit Aussagen, nicht mit Gedanken oder Vorstellungen. Wenn man vom gegenständlichen Denken zum formallogischen Argumentieren übergeht, dann verwendet man oft nur noch Buchstaben statt Wörter, da die Schlussschemata für alle Inhalte gelten. 74 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="75"?> Gegenstand der Logik sind Aussagen, denen Wahrheitswerte zugeordnet werden können. Ausgeschlossen sind dabei Sätze wie: Gib mir die Hand! Was für ein schöner Hund! Wo ist das Rathaus? Ich würde gerne Koch werden. Von allen vier Sätzen können wir nicht sagen, ob sie wahr oder falsch sind. Der erste ist eine Aufforderung zum Handeln, der zweite ein emotionaler Ausruf, der dritte eine Frage, der vierte ein persönlicher Wunsch, der allenfalls sinnvoll oder angemessen ist. Ebenfalls ausgeschlossen werden zusammengesetzte Sätze wie „Amerika ist bedeutsam, weil es die größte Wirtschaftsmacht der Erde ist.“ Das würde in der Logik in zwei Ersatze zerlegt „Amerika ist bedeutsam“ und „Amerika ist die größte Wirtschafts‐ macht“. Infrage kommen Sätze wie diese: Der Mond umkreist die Erde. Marie ist Schneiderin. Die Erde ist eine Scheibe. Salamander sind Reptilien. Die Erderwärmung kann gestoppt werden. Julius Caesar hat am 13. Juli Geburtstag. Was uns in diesem Abschnitt weiterhin nicht beschäftigen wird, ist die Frage, was uns überhaupt berechtigt, solche Aussage als wahr oder falsch anzusehen. Dieser Frage gehen die nächsten Kapitel dieses Buches nach, die sich um Erkenntnisprozesse und um die Begründung von Wissen kümmern. Im Moment gehen wir einfach weiter davon aus, dass wir Aussagen Wahr‐ heitswerte zuschreiben können. Die folgende Darstellung der Grundlagen der Logik wird eher kurz ausfallen, da wir nur im Prinzip wissen müssen, wie logische Schlussope‐ rationen beschaffen sind, und welchen Wert sie für das Denken haben. Hilfreiche Einführungen in die Logik aus philosophischer Sicht finden Sie bei Hoyningen-Hüne (1998) und Zoglauer (2016). 10 Logisches Schließen 75 <?page no="76"?> Aussagenlogik Kern der Logik, der bereits von Aristoteles herausgearbeitet wurde, ist das Schlussfolgern, also die Lehre davon, wie wir logische Operationen auf der Basis von Wahrheitszuschreibungen ausführen können. Die Aussagenlogik, die wir hier zunächst betrachten, ist ein Teilgebiet davon und beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen elementaren Aussagen unter der Annahme, dass es ausschließlich „wahr“ und „falsch“, aber nichts dazwischen oder daneben gibt. Darüber hinaus sind in der Philosophie auch mehrwertige Logiken entwickelt worden, die neben wahr und falsch eine dritte (oder be‐ liebig viele) Wahrheitskategorie haben wie „unbestimmt“ oder „unbekannt“. Sie ziehen ihre Existenzberechtigung daraus, dass wir oft nicht wissen, was genau wahr und falsch ist, und trotzdem argumentieren müssen. Das haben wir bereits im Abschnitt über die Heckenausdrücke gesehen. Mit der Verwendung von Heckenausdrücke stellt man allerdings nicht in Frage, dass wahr und falsch dichotome Kategorien sind, sondern schränkt nur das Bekenntnis zu einem Wahrheitswert ein, also den Wahrheitsanspruch. Was an der Aussagenlogik für uns wichtig ist, ist die Tatsache, dass sie mehrere Operatoren zur Verfügung stellt, mit denen man Aussagen verbinden kann. Diese Operatoren kennen wir auch aus den natürlichen Sprachen, die, wie dargestellt, Konnektoren wie „und“, „oder“, „wenn … dann“ und „ist gleich“ besitzen. Logik verfügt über ähnliche Konnektoren, die jedoch eindeutiger definiert sind. Sie werden dort „Junktoren“ oder „Operatoren“ genannt. „Aussage“ wird dabei definiert als ein Satz, der als wahr oder falsch bezeichnet werden kann. In der Formalen Logik setzt man für konkrete Sätze Buchstaben ein, um das Allgemeine des Schließens sichtbar zu machen und mit Sätzen ähnlich formal umgehen zu können wie die Mathematik mit Zahlen. Für allgemeine Termini ohne Bezug zu konkreten Sätzen werden hingegen Kleinbuchstaben verwendet. George Boole (1847) hat eine spezielle Algebra entwickelt, mit der man die logischen Operatoren „und“, „oder“, „nicht“ zum Kalkulieren verwenden kann. Er verband das zusätzlich mit einer Wahrscheinlichkeitstheorie, die Grundlage der heutigen Schaltalgebra und damit auch des Computers wurde. Wir wiederum nehmen zum Denken lieber unsere natürliche Sprache, die uns erlaubt, Aussagen anschaulich zu gestalten und Wahrheitswerte entlang unserer Vorstellung zu vergeben, wobei wir die sprachlichen Konjunktionen nehmen, die wohl weniger präzise aber vertrauter sind. Nehmen wir die beiden Sätze 76 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="77"?> „ Steinpilze wachsen in Mischwäldern.“ ‒ Aussage A „Steinpilze sind essbar.“ ‒ Aussage B Beide Sätze können wahr oder falsch sein. Sie zu verbinden scheint etwas willkürlich, aber das ist für die Logik gleichgültig, ihre Gesetze gelten für alle Arten von Aussagen. Wenn wir sie mit den logischen Junktoren verbinden, dann lassen sich auch Wahrheitswerte für die Kombination der beiden Aussagen vergeben. Dafür stehen folgende Junktoren zur Verfügung, die in der Regel mit den voranstehenden Symbolen ausgedrückt werden: v Disjunktion oder Adjunktion: A v B. Der Ausdruck ist nur wahr, wenn sowohl A als auch B wahr sind. Beispiel „Steinpilze wachsen in Misch‐ wäldern“ und „Steinpilze sind essbar“. Da beide Aussagen wahr sind, ist auch die Diskunktion war. ᴧ Konjunktion: A ᴧ B. Der Ausdruck ist wahr, wenn entweder A oder B wahr ist. Sind beide falsch, ist auch der Gesamtausdruck falsch. → Implikation (oder konditional): A→B. B ist wahr, immer wenn A wahr ist (aber nicht nur dann). Umgekehrtes gilt nicht: Wenn B wahr ist, kann A falsch sein. Die Implikation wird oft interpretiert, als „wenn A, dann B“; allerdings muss man mit kausalen Interpretationen vorsichtig sein, denn es ist kein „A verursacht B“. Die Implikation entspricht der hinreichenden Bedingung, der zufolge dem A immer ein B folgt, d. h. dem B kann auch etwas anderes als das A vorausgehen. Sie ist falsch, wenn A eintritt oder wahr ist und B nicht. ← Replikation: A←B. In diesem Ausdruck ist A dann wahr, wenn B wahr ist. Das entspricht der Implikation, nur mit vertauschten Gliedern. Wir brau‐ chen dieses Symbol nicht unbedingt, da wir es auch bedeutungsgleich als Implikation B→A darstellen können. ↔ Äquivalenz oder bikonditional: Dieses Zeichen zeigt eine wechselseitige Abhängigkeit an. Äquivalenz heißt, dass der Gesamtausdruck A↔B ge‐ nau dann wahr ist, wenn A und B den gleichen Wahrheitswert haben. Ist eines von beiden Aussagen falsch, ist der Ausdruck insgesamt falsch. Sind beide Aussagen falsch, ist der Gesamtausdruck wahr. A ist damit eine notwendige und hinreichende Bedingung für B, wie auch umgekehrt. - Negation: Setzt man das Zeichen „-“ vor einen Ausdruck, wechselt man dessen Wahrheitswert. -A bedeutet, dass A falsch oder nicht der Fall ist. Man kann auch zusammengesetzte Ausdrücke negieren wie z. B. -(AvB), was alle resultierenden Wahrheitswerte dieser Disjunktion umkehren würde. Die Junktoren sind präzisere Verbindungen zwischen den Aussagen als die weiter oben darstellten sprachlichen Konjunktionen, die wir als sprachli‐ 10 Logisches Schließen 77 <?page no="78"?> che Bindemittel zwischen Aussagen bzw. Sätzen bezeichnet haben. Deren Bindungskraft ist nämlich nicht auf Wahrheitswerte beschränkt, sondern sie können auch kommunikative, inhaltliche, argumentative und zeitliche Verbindungen zwischen Aussagen herstellen. So signalisiert ein Konnektor wie das „aber“ z. B., dass der angefügte Gedanke, einen Gegensatz, eine Einschränkung oder einen Einwand zu dem vorhergenannten Gedanken darstellt. Das „aber“ hilft damit beim Argumentieren, die Gerichtetheit von Gedanken zu ordnen (was spricht für, was gegen eine Behauptung). Um die Wahrheitswerte, die man mithilfe von Junktoren bilden kann, festzulegen, nimmt man Wahrheitstafeln. Sie sagen sowohl, unter welchen Voraussetzungen ein Gesamtausdruck wahr ist, als auch welche Schlussfol‐ gerungen man daraus ziehen kann. So sagt die Disjunktion, die dem sprachlichen „oder“ am nächsten kommt aus, dass ein Ausdruck dann wahr ist, wenn einer der beiden Aussagen wahr ist. A B A ᴠ B wahr wahr wahr wahr falsch wahr falsch wahr wahr falsch falsch falsch Tab. 1: Wahrheitstafel für Disjunktion A ᴠ B Die Wahrheitstafel aus Tabelle 1 liest man zeilenweise. Sie besagt (erste Zeile): Wenn A wahr ist und B wahr ist, dann ist auch A v B wahr. Wenn A wahr und B falsch ist (zweite Zeile), dann ist der Gesamtausdruck immer noch richtig, wie auch umgekehrt, wenn A falsch und B wahr ist. Wie die vierte Zeile zeigt, ist eine Disjunktion dann nur dann falsch, wenn beide Glieder falsch sind. Wenn wenigstens eines der beiden Glieder richtig ist, ist die Disjunktion wahr. Es ist zu bedenken, dass die logische Disjunktion anders funktioniert als das sprachliche Zeichen „oder“, das doppelte Bedeutung haben kann, einmal als inklusives „entweder … oder“ und zum anderen als exklusives „nur eines von beiden“. Das Symbol „ᴧ“ für die Konjunktion bedeutet zwar „und“, ist aber etwas präziser als das sprachliche Symbol „und“, denn der Ausdruck, der mithilfe 78 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="79"?> der Disjunktion hergestellt wird, ist nur dann wahr, wenn beide Aussagen, A und B wahr sind. Es ist deshalb im Sinne eines „sowohl als auch“ zu verstehen. A B A ᴧ B wahr wahr wahr wahr falsch falsch falsch wahr falsch falsch falsch falsch Tab. 2: Wahrheitstafel für Konjunktion. Die Wahrheitstafel in Tabelle 2 zeigt, dass der Ausdruck dann und nur dann wahr ist, wenn beide Aussagen wahr sind. Immer dann, wenn ein Satz falsch ist, ist auch der zusammengesetzte Ausdruck falsch. Auch dann, wenn beide falsch sind. Wenn wir also sowohl A als auch B negieren, kommt nichts Wahres dabei heraus. Werfen wir noch einen Blick auf die Negation, die sich als Umkehrung des Wahrheitswertes definieren lässt. Sie ist, genau genommen, kein Junktor, oder wenn doch, dann nur ein einstelliger. A -A wahr falsch falsch wahr Tab. 3: Negation. Die Negation in Tabelle 3 dreht also Wahrheitswerte von wahr in falsch und von falsch in wahr um. Die Negation erlaubt auch, eine Kontradiktion darzustellen: A ᴧ -A Dieser Ausdruck ist immer falsch, da etwas nicht gleichzeitig mit seiner eigenen Negation wahr sein kann (es schneit und es schneit gleichzeitig nicht). Immer wahr ist dagegen der Ausdruck, 10 Logisches Schließen 79 <?page no="80"?> A v -A denn eines von beiden - die Aussage oder ihrer Negation - muss wahr sein (entweder es schneit oder es schneit nicht). Man nennt diesen Ausdruck deshalb auch „Tautologie“. Wohin bringt uns die Aussagenlogik? Hilft sie uns beim Denken? Die Antwort ist ein klares „jein“. Wir dürfen nicht gegen ihre Gesetze verstoßen, und es ist für das kritische Denken wichtig, ihre Bedeutung zu verstehen. Aber wir können die Aussagenlogik nur bedingt „anwenden“, da sie - ähnlich wie die Mathematik - nicht dazu geschaffen ist, inhaltliche Zusam‐ menhänge zu durchdenken. Beide, Logik wie Mathematik, abstrahieren von den Inhalten. Glücklicherweise können, wie Hoyningen-Huene (1998) bemerkt, fast alle Menschen intuitiv logisch denken, ohne dass sie die entsprechenden Schemata kennen. Eine gewisse Ausnahme bilden dabei Implikation und Replikation, für deren Gültigkeit ein inhaltlicher Zusammenhang bestehen muss. Wenn wir die Aussagen „Die Gesundheitsversorgung wird verbessert (A) und „die Sterblichkeit sinkt“ (B) als Implikation nach dem Muster A → B definieren, so können wir daraus schließen, dass die Sterblichkeit immer dann sinken muss, wenn sich die Gesundheitsversorgung bessert. Die Verbesserung der Gesundheitsversorgung wäre dann ein hinreichender Grund für die Senkung der Sterblichkeit ist. Es bliebe aber offen, ob es nicht andere Mittel gäbe, um die Sterblichkeit zu senken. Falsch wäre der Ausdruck nur dann, wenn A (Verbesserung der Gesundheitsversorgung) wahr wäre und B (Senkung der Sterblichkeit) falsch wäre. Wäre A hingegen falsch und B richtig, wäre der Gesamtausdruck immer noch wahr, denn es könnten andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Auch wenn A und B beide falsch sind, wäre die Schlussfolgerung immer noch richtig. Die Aussage, dass keine Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu keiner Senkung der Sterblichkeit führt, ist ungefähr so wahr wie die Aussage, dass Nichts zu Nichts führt. Induktion und Deduktion Logische Schlüsse verbinden Annahmen (Prämissen) mit einer Schlussfol‐ gerung (Konklusion). Dabei können beliebig viele Prämissen formuliert 80 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="81"?> werden, jedoch nur eine Konklusion. Das bekannteste Beispiel dafür ist Aristoteles’ Syllogismus: Prämisse Alle Menschen sind sterblich. Prämisse Alle Griechen sind Menschen. Konklusion Also sind alle Griechen sterblich. Prämissen und Konklusion werden dabei durch einen waagerechten Strich getrennt. Sind beide Prämissen wahr, so kommt es zu einem Wahrheitstrans‐ fer von den Prämissen zur Konklusion, d. h., dass diese auch wahr ist. Ist eine der Prämissen falsch, ist auch die Konklusion falsch. Der Schluss ist paradoxerweise auch dann richtig, wenn die Prämissen (im empirischen Sinne) falsch sind, da nur die Form, nicht aber der Gehalt der Aussagen betrachtet wird: Alle Hühner können singen. Adele ist ein Huhn Also kann Adele singen. Eine solche Schlussweise lässt sich abstrakt darstellen. Alle A sind B. C ist ein A. Also ist auch C ein B. Der Schluss ist gerechtfertigt, weil die C eine Teilklasse der A ist, sodass Eigenschaften, die für alle A gelten, auch für die C gelten müssen. Nicht gültig hingegen wäre der Schluss: Alle Hühner können singen. Adele kann singen. Also ist Adele ein Huhn. 10 Logisches Schließen 81 <?page no="82"?> Der Schluss wäre gültig, wenn es hieße: „Alle, die singen können, sind Hühner“. Dann wäre Adele mit Sicherheit auch ein Huhn. Den Schluss vom Allgemeinen zum Einzelnen (oder zur Teilklasse) nen‐ nen wir „deduktiv“. Der Schluss ist gültig, solange die Prämissen wahr sind, ohne dass wir dabei auf die Inhalte achten müssen. Vorausgesetzt ist in dem Schema, dass C ein Element (oder eine Teilklasse) von A ist, so wie Adele ein Element der Klasse der Hühner ist. Wichtig an deduktiven Schlüssen ist, dass keine zusätzlichen Informatio‐ nen nötig sind, um ihre Richtigkeit zu bestätigen. Die Konklusion geht allein aus den Prämissen hervor. Alle Schlüsse, die im Rahmen der Aussagenlogik stattfinden, sind deduktiv. Anders ist es bei induktiven Schlüssen, die vom Einzelnen zum Allgemei‐ nen verlaufen, also von der Beobachtung einzelner oder weniger Gegeben‐ heiten zur Allaussage. Solche Schlüsse enthalten eine Generalisierung. Sieht man nur weiße Schwäne, so glaubt man schließen zu können, dass alle Schwäne weiß sind. Es gibt aber keine Gewähr für die Richtigkeit dieses Schlusses, solange man nicht alle Schwäne gesehen hat. Die Richtigkeit der Generalisierung lässt sich durch einen einzigen schwarzen Schwan er‐ schüttern. Es gibt eine lange Debatte darüber, ob induktive Schlüsse deshalb überhaupt möglich sind und welche Bedeutung sie für die Wissenschaften spielen (siehe Wiltsche 2013, S.-54 ff. dazu). Induktive Schlüsse würden also nur dann auf sicheren Füßen stehen, wenn man alle Individuen einer Gattung gesehen hat. Dann aber ist ein Schluss nicht mehr nötig, denn man kann einfach die Gesamtheit beschreiben. Trotz dieser logischen Schwierigkeit ist die Induktion ein wichtiges Prinzip des täglichen Lernens, genauso wie auch der Forschung. Der Ungenauigkeit des Schlusses tragen wir in der Regel wiederum durch Heckenausdrücke Rechnung, wenn wir sagen, dass „die meisten“, „vermut‐ lich alle“, „alle uns bekannten“ etc. Schwäne weiß sind. Empirie kann induktive Schlüsse insofern noch besser absichern, als sie uns mit einer quantitativen Aussage helfen kann (z. B.: 78 % aller beobachteten Schwäne sind Weiß, 12 % schwarz, 10 % grau). Voraussetzung für solche Aussagen ist natürlich, dass wir das mit einer Stichprobe aus der Gesamtheit aller Schwäne überprüft haben. Logik ist fundamental, weil sie den Umgang mit den Kategorien “wahr“ und „falsch“ regiert. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass unser Denken im Gegensatz zur formalen Logik darauf ausgerichtet ist zu verstehen, was die Dinge bewegt und was sie verursacht. Das zeigt uns die Logik nicht, 82 III Gedankenführung: Präzises und folgerichtiges Denken <?page no="83"?> denn sie dient nur dazu, die Beziehungen zwischen wahrheitsrelevanten Aussagen zu verstehen. Wir können festhalten: ● Die Logik sagt uns zwar nicht, was wahr oder falsch ist, aber sie erlaubt uns auf den Grundlagen von Wahrheitsannahmen Beziehungen zwischen Aussagen herzustellen, gegen die das Denken nicht verstoßen darf. ● Verbindungen zwischen Aussagen lassen sich durch Junktoren präzisie‐ ren, die im Vergleich zu den sprachlichen Konjunktionen eindeutig sind. Schlussweisen lassen sich formal in Schlussschemata organisieren, um sie verständlich zu machen. ● Die Logik zwingt uns, genaue Wahrheitszuschreibungen vorzunehmen. Dazu müssen die Sätze hinreichend präzise und somit wahrheitsfähig sein. ● Die Wahrheitstafeln geben Schlussweisen an, die sich zwingend aus den Ausdrücken ergeben. Sie gelten unabhängig von den Inhalten der Sätze und sind für jede Darstellung verbindlich. Wir dürfen gegen sie nicht verstoßen. Sie eignen sich zur Grundlegung mathematischer Theoreme und werden mit leichten Abwandlungen als Grundlage digitaler Schal‐ tungen eingesetzt. ● Die Sprache hat mehr Verbindungsmöglichkeiten zwischen Sätzen an‐ zubieten als die Logik. Dies liegt daran, dass Verknüpfungen zwischen Sätzen nicht nur logischer, sondern auch begründender, deskriptiver, explikativer oder kommunikativer Natur sein können. 10 Logisches Schließen 83 <?page no="85"?> IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen 1 Wozu argumentieren? 2 Warum argumentieren? 3 Argumentieren in den Wissenschaften 4 Thesenbezogenes Argumentieren 5 Argumentieren und hypothetisches Denken 6 Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren Bisher haben wir das Denken hauptsächlich als einen mentalen Pro‐ zess betrachtet. Mit dem Argumentieren kommt die soziale Seite des Denkens (oder die denkerische Seite des Sozialen) mit ins Spiel. Beim Argumentieren geht es im Kern um das Aushandeln von Wahrheits‐ ansprüchen. Zudem wird die intentionale Seite des Denkens sichtbar (wer argumentiert, verfolgt eine Absicht und will beeinflussen) und zugleich seine reziproke Natur, d. h. die Intentionen der Akteure ver‐ schränken sich (wer argumentiert, muss Gegenargumente antizipieren oder beantworten). Im wissenschaftlichen Denken und Kommunizie‐ ren nimmt das Argumentieren eine Schlüsselstelle ein. Es wird aber nicht einfach zum Durchsetzen von eigenen Ideen genutzt, sondern auch zur Prüfung der Stichhaltigkeit und Genauigkeit von Gedanken. Gleichzeitig dient es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum Positionieren, also dazu, sich in der Fachöffentlichkeit zu bestimmten Meinungen, Haltungen oder Theorien zu bekennen. Das Argumentie‐ ren macht aus Gedanken Positionen oder Thesen und verknüpft sie somit mit den wissenschaftlichen Intentionen der Denkenden. Die wichtigste Aufgabe des Argumentierens in den Wissenschaften ist das Begründen von Behauptungen oder Urteilen, denn damit wird Wissen aufgebaut. <?page no="86"?> 1 Wozu argumentieren? In den Wissenschaften, wie auch im Studium ist das Argumentieren eine allgegenwärtige Aktivität, die aber - vor allem im deutschsprachigen Raum - zu wenig gelehrt wird und wenn, dann meist in indirekter Form. Deshalb haben Sie, wenn Sie an einer deutschsprachigen Hochschule studieren, in Bezug auf die Kunst des Argumentierens vermutlich Nachholbedarf. Fünf wichtige Aspekte, die nachfolgend weiter ausgeführt werden, verbindet das Denken mit dem Argumentieren: ● Das Denken ist an den Gebrauch von Argumenten gebunden, um Aussagen zu begründen, d. h., sie als plausibel, glaubwürdig oder wahr erscheinen zu lassen. ● Das Argumentieren verbindet das Denken mit dem Kommunizieren und zeigt uns dadurch, wie man sich mit eigenen Behauptungen in einer (Fach-) Gemeinschaft positionieren, oder sich zur Positionierung anderer verhalten kann. ● Das Argumentieren verbindet das Denken mit der Wissensproduktion, besonders mit dem Aushandeln von Wissen. Argumentieren ist dann notwendig, wenn Wissen neu oder strittig ist und somit der Klärung bedarf. ● Das Argumentieren dient der Strukturierung von wissenschaftlichen Textgenres, indem es hilft, Intention des Textes mit dem Inhalt zu ver‐ binden. Der Essay ist ein Textgenre, das besonders eng an argumentative Schemata angebunden ist. ● Das Argumentieren bietet Zugang zu Diskursen und schriftlich geführ‐ ten Disputen über fachliche Themen. Wer Zugang dazu finden will, muss argumentative Strukturen in Diskursen erkennen und sich selbst argumentativ in Diskursen verorten können. Kritisches Denken in den Wissenschaften ist weniger mit argumentativer Raffinesse oder geschliffener Rhetorik verbunden, wie das die klassische Rhetorik vermittelte. Vielmehr geht es mit einem Verständnis von Genau‐ igkeit im Begründen von Aussagen einher. Davon hängt ab, ob andere von dem dargestellten Wissen Gebrauch machen können und es akzeptieren. Drei verschiedene Arten des Argumentierens werden in diesem Kapitel behandelt. Sie alle haben den gleichen Kern, unterscheiden sich jedoch in Bezug auf Aufgaben, Rhetorik und Zielsetzung. 86 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="87"?> ● Thesenbezogenes Argumentieren. Hier geht es um eine einzelne These, die im Zentrum des Argumentierens steht und die eingeführt, begründet und expliziert wird. Diese Art des Argumentierens ist zwar nicht der Regelfall in den Wissenschaften, aber sie eignet sich gut dazu, Grundelemente des Argumentierens zu verdeutlichen. ● Hypothetisches Argumentieren. Wie argumentiert man, wenn Wis‐ sen fehlt und man auf Mutmaßungen angewiesen ist? Hypothetisches Argumentieren ermöglicht es, sinnvolle Argumente in Bezug auf Un‐ wissen aufzustellen und in die Diskussion zu bringen. ● Begründung von neuem Wissen. Wenn Forschungsergebnisse einer Fachöffentlichkeit vorgestellt werden, geschieht dies fast immer in Form eines Forschungsartikels. Dort wird begründet, warum ein Thema ausgewählt, eine bestimmte Forschungsfrage formuliert, ein bestimmtes methodisches Vorgehen konzipiert wurde. Auch die Bedeutung der Ergebnisse muss argumentativ gestützt werden. Diese Art des Argu‐ mentierens wird auch in Seminar- und Abschlussarbeiten gebraucht. Argumentieren heißt, den Geltungsanspruch einer Behauptung durch an‐ dere Aussagen zu begründen. Das Argumentieren lernt man in der Familie und im Freundeskreis, wenn es darum geht, was getan werden soll oder wie Dinge verteilt werden. In der Schule wird es etwas systematischer gelehrt, vor allem als Grundlage für Deutschaufsätze, aber auch als Mittel des Fachunterrichts. Argumentieren hat sehr unterschiedliche Funktionen in sozialen Gemeinschaften (siehe Kasten) und ist eine zentrale Kompetenz in demokratischen Kontexten. Bayer (2007) nennt das Argumentieren als wünschenswert, weil es ● das Äußern von Kritik an unseren Institutionen ermöglicht ● Weltbilder aufzubauen und zu adjustieren hilft ● der Unsicherheit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis Rechnung trägt ● hartnäckige Irrtümer und Vorurteile aufzubrechen hilft ● friedliche und gewaltfreie Lösungen für Konflikte ermöglicht ● Begründungen anderer nachzuvollziehen erlaubt. 1 Wozu argumentieren? 87 <?page no="88"?> Verschiedene Konzeptualisierungen des Argumentierens Argumentieren ist eine Grundform menschlicher Interaktion, die dem Verhandeln und dem Interessensausgleich zwischen Partnern dient. Dabei gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, das Argumentieren zu konzeptualisieren (Kopperschmidt 2000): ● Überzeugen. Die klassische Rhetorik der Antike stellte das Argu‐ mentieren als Durchsetzen von Meinungen und Interessen in einem sozialen Zusammenhang dar. Ein Argument wäre dementsprechend dann passend, wenn die Adressaten es als überzeugenden Grund akzeptieren würden. ● Vernunftgebrauch. Angeben vernünftiger (gebilligter, moralisch akzeptabler, nachvollziehbarer) Gründe als Basis der Verständigung zwischen Menschen. Hier wäre ein gutes Argument eines, das allen als vernünftig erscheint. ● Logik. Schlüssige Verknüpfung zwischen Behauptung und Argu‐ ment nach den Gesetzen der Logik. Hier tritt die Behauptung als Schlussfolgerung auf, die zwingend aus der Prämisse hervorgeht. Argumente wären also dann gültig, wenn sie logisch schlüssig sind. ● Diskurs. Aushandeln von Geltungsansprüchen und Interessenspo‐ sitionen durch Argumente in demokratischen Kontexten. Hier wird nicht mehr das einzelne Argument, sondern der Kontext oder das System betrachtet, in dem Argumente vorgebracht und wirksam werden. ● Gerichtsmodell. Anführen normativer Setzungen (Gesetze, Richt‐ linien, Verordnungen, moralische Verpflichtungen) zur Entschei‐ dung über Konflikte. Hier sind Argumente dann gültig, wenn sie den etablierten Rechtsnormen am besten entsprechen. 2 Warum argumentieren? Kommunikation war von Anfang an elementarer Bestandteil des Wissen‐ schaftssystems und ist nicht etwa, wie es heute manchmal den Anschein hat, erst nachträglich angefügt worden. Das Argumentieren dient auch dem Umgang mit dem Wissen anderer. Zitierkonventionen und Zitationsrichtli‐ nien sind ein Ausdruck davon, dass der Umgang mit dem Wissen anderer 88 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="89"?> streng reglementiert ist. Wissenschaftlich denken lernen heißt deshalb auch, auf eine bestimmte Art kommunizieren und publizieren zu lernen. Dieses Kapitel wird sich damit befassen, wie in verschiedenen Foren (wissenschaft‐ lichen Artikeln, Seminararbeiten, Essays, Büchern, Blogs, Zeitungsartikeln) argumentativ ausgehandelt wird, was als verlässliches Wissen angesehen werden soll und was nicht. 3 Argumentieren in den Wissenschaften Was in den Wissenschaften ausgehandelt wird, ist die Gültigkeit von Wissen bzw. der Geltungsanspruch, der dem Wissen beigemessen wird. In diesem Prozess sind die Beteiligten gleichzeitig Gegner und Partner. Sie bauen auf den Positionen anderer auf, und indem sie deren Wissen übernehmen, stimmen sie ihnen gleichzeitig zu. Sie akzeptieren aber auch die Positionen anderer als Korrektiv der eigenen Meinung, bestehen aber darauf, selbst Korrektiv für die Positionen anderer zu sein. In den Wissenschaften lässt sich die Funktion des Argumentierens mit vier Konzepten umschreiben: ● Gedanken auf den Prüfstand stellen: Durch Argumentieren stellt man Gedanken gewissermaßen öffentlich auf den Prüfstand, indem man eine Behauptung aufstellt und Gründe angibt, warum sie akzeptiert werden sollte. Dies geschieht vor allem dann, wenn man neue Gedanken in die Welt setzt und begründen will, warum man sie für glaubwürdig hält. Andere sind dann aufgefordert, sich damit auseinanderzusetzen. ● Aushandeln der Gültigkeit von Wissen: Dieses Konzept betont den sozialen Charakter der Wissenskonstruktion. Aushandeln impliziert dabei offene Diskussionen, die so lange weitergeführt werden, bis sich ein Konsens einstellt. Im Vergleich zum zielbezogenen Verhandeln (das zu einem beiden für beide Seiten akzeptablen Kompromiss kommen muss) ist das Aushandeln nicht unmittelbar ergebnisorientiert und nicht auf wenige Verhandlungspartner begrenzt. ● Positionieren: Das Argumentieren erlaubt, sich mit eigenen Meinun‐ gen in einem Diskurs zu positionieren und damit auch von anderen abzugrenzen. Das Positionieren ist begründungspflichtig und muss mit nachvollziehbaren, rationalen Argumenten erfolgen. Verweise auf objektivierte Daten und Forschungsergebnisse sind dabei die stärksten Argumente. 3 Argumentieren in den Wissenschaften 89 <?page no="90"?> ● Kritisieren: Wissenschaftliches Argumentieren erlaubt auch, sich kri‐ tisch mit anderen Positionen auseinanderzusetzen. Das ist ein Grund‐ anliegen aller Wissenschaften und zudem ein wichtiges Anliegen des kritischen Denkens. Zudem gibt es Genres wie Rezensionen und Re‐ views, die dem Kritisieren einen besonderen Raum bieten. Kritik in den Wissenschaften hat bestimmte Konventionen einzuhalten, um Ausein‐ andersetzungen in konstruktive Bahnen zu lenken. Argumentieren in den Wissenschaften findet heute vor allem auf dem Papier statt. Die in den früheren Universitäten dominierenden mündlichen Formen wie das Disputieren oder das Kolloquium sind heute nicht mehr üblich. Die wichtigsten Aushandlungsformen in den Wissenschaften sind schriftlicher Natur und das Schreiben von Seminararbeiten im Studium hat die Funktion, sich in dieser Kunst zu üben. Der Vorteil des schriftlichen Argumentierens gegenüber dem mündlichen Disputieren liegt darin, dass wir beim Schreiben in aller Ruhe die beste und das heißt, die am besten begründete Argumen‐ tation entwickeln können. Niemand redet uns dazwischen oder versucht uns aufs Glatteis zu führen, wie in mündlichen Disputationen. Allerdings: Mit der Schriftlichkeit ist auch ein wichtiger Teil des interak‐ tiven Charakters des Argumentierens verloren gegangen oder wenigstens verwischt worden. Schriftlich geführte Konversationen reißen Sender und Empfänger einer Botschaft auseinanderreißen. Die Adressaten sind beim Schreiben abwesend und kennen, wenn sie den Text lesen, den Kontext nicht, in dem die Botschaft entstanden ist. Man muss also in Bezug auf ima‐ ginierte, nicht anwesende Adressaten argumentieren. Damit fehlen auch die Einwände einer kritischen Zuhörerschaft, sodass wir deren Gegeneinwände und alternative Meinungen selbst bedenken und im Voraus berücksichtigen müssen. Egal, ob mündlich oder schriftlich, Argumentieren heißt immer auch, sich auf die Meinungen anderer zu beziehen, und sie nicht nur zu kritisieren, sondern auch von ihnen zu lernen, um dadurch eigene Ansichten besser begründen zu können. Das gilt auch dann, wenn man sich von den Meinungen anderer abgrenzt oder sie zu widerlegen versucht. In den Wissenschaften setzt man sich mit gegensätzlichen Meinungen nur dann auseinander, wenn es auch eine gemeinsame Verständnisgrundlage gibt. 90 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="91"?> Argumentieren - die wichtigsten rhetorischen Elemente im Überblick Behauptung, Proposition oder These Benennt die Kernbehauptung, um die es in der Argumen‐ tation geht. Argument Sagt, welchen Grund es dafür gibt, eine Behauptung oder These als glaubwürdig anzusehen. Kontextualisie‐ rung Ist als Einleitung der Argumentation in der Regel vorange‐ stellt und sagt, warum überhaupt argumentiert wird, was das Ziel ist und an wen sich die Argumentation richtet. Begründung Gibt an, warum das Argument die Glaubwürdigkeit der These erhöht. Beleg (evidence) Stützt das Argument und belegt seine Gültigkeit, indem es auf Quellen verweist, die die Information bestätigen. Hintergrundwis‐ sen Unterstützt die Begründung durch Rückgriff auf weiteres wissenschaftliches Material (Theorien, Modelle). Gegenthese Formuliert eine plausible gegenteilige Ansicht zur vorge‐ brachten These. Gegenargument Formuliert ein plausibles alternatives Argument, das eine Gegenthese stützen oder die These widerlegen würde. Entkräften des Ge‐ genarguments Gibt einen Grund an, warum das Gegenargument nicht plausibel ist. Konzession Räumt ein, dass das Gegenargument berücksichtigens‐ werte Aspekte enthält, die aufgegriffen werden sollen. Spezifizierung des Geltungsbereichs Beschränkt oder spezifiziert die Gültigkeit der These. Schlussfolgerun‐ gen Benennt, welche Bedeutung der Argumentation hat, ggf. unter Rückgriff auf Gesichtspunkte der Kontextualisie‐ rung (Einleitung) und führt, wenn vorhanden, praktischen Konsequenzen an. Um das Argumentieren verständlich zu machen, beginnen wir mit seiner einfachsten Form, in der man die Glaubwürdigkeit einer Aussage durch die Angabe eines Grundes belegt. Von dieser elementaren Basis aus führen wir weitere rhetorische Elemente ein, die komplexere Argumentationen zulassen (siehe Kasten „Argumentieren - die wichtigsten rhetorischen Elemente im Überblick“ für eine Übersicht). 3 Argumentieren in den Wissenschaften 91 <?page no="92"?> 4 Thesenbezogenes Argumentieren Behauptung oder These Nicht alles Argumentieren ist thesenbezogen, jedoch erlauben Thesen am besten, die Grundformen des Argumentierens sichtbar zu machen. Im Argumentieren gibt es immer ein Textelement, das im Vordergrund steht und das sich wahlweise „Behauptung“, „Proposition“, „These“ oder „Konklusion“ nennt. Im Englischen finden sich die Begriffe „claim“, „thesis“, „main point“ oder „conclusion“ dafür. All dies sind Bezeichnungen für den einen Gedanken, der begründet und damit gewissermaßen auf den Prüfstand gestellt werden soll. Wenn Sie Argumentationen anderer nachvollziehen, müssen Sie dementsprechend nach dieser Kernaussage Ausschau halten. Die finden Sie mit der Frage: Worum geht es der Autorin oder dem Autor eigentlich? Betrachten wir die folgende Aussage: Die Schweizer Wirtschaft wird in eine Rezession geraten. Unschwer zu erkennen ist, dass die Aussage prognostischer Natur ist. Das behauptete Ereignis wird erst in der Zukunft eintreten. Was wir aber nicht sofort erkennen können, ist, welche Sprecherabsicht hinter der Aussage steckt. Ist sie vom Sprachakt her eine Behauptung, die im Weiteren begründet werden soll? Oder ist sie lediglich eine Beschreibung von etwas, das unvermeidlich eintreten wird (weil z. B. gewisse Indikatoren darauf hinweisen oder sich alle Ökonomen einig sind)? Auch eine Erklärung wäre denkbar, die nach einer Analyse der Wirtschaftslage zu diesem Schluss kommt. Will man sichergehen, dass eine Aussage als Kern einer Argumentation erkannt wird, dann hat man mehrere Formeln dafür, die ihr den unverwech‐ selbaren Charakter einer Behauptung geben: Ich behaupte, dass … Ich vermute (glaube, befürchte, nehme an), dass … Meine These (Behauptung, Überzeugung, Ansicht) ist, dass … Um ins Argumentieren zu kommen, leisten alle drei Formulierungen gute Dienste, denn sie erlauben, (1) den Sprechakt, um den es geht, genau zu markieren (ich will etwas zur Diskussion stellen und behaupte, dass es wahr ist), (2) den Fokus auf eine einzige Behauptung zu legen (darum geht es mir 92 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="93"?> und alles andere lasse ich deshalb erst einmal beiseite), und (3) das eigene Bekenntnis zu der Aussage zu signalisieren (ich bin überzeugt von ihrer Richtigkeit). Niemand wird übersehen können, dass Sie eine Argumentation in Gang setzen, wenn Sie eine dieser Formeln wählen. Dennoch werden sie meist weggelassen, da kompetente Sprecherinnen und Sprecher sie auch so erkennen. Man kann auch deskriptive oder erklärende Formulierungen verwenden, um eine Behauptung in einen Text einzubringen, wird dann aber Probleme haben, ins Argumentieren zu kommen. Vorurteile sind eine Ursache vieler sozialer Konflikte. Das ist eine Aussage, wie sie oft in Einleitungen zu finden ist. Die Lesenden wissen nicht auf Anhieb, ob das als gegeben angenommen wird oder ob es Gegenstand der Argumentation sein soll. Die Formel „Ich behaupte, dass“ würde sofort Klarheit schaffen. Argumentationen können natürlich auch mit einer negativen Behaup‐ tung anfangen, etwa „Ich bezweifle, dass …“ „Ich glaube nicht, dass …“ „Ich halte es für unwahrscheinlich (falsch, unmöglich, unglaubwürdig, unsinnig), dass …“ Mit einer solchen Formulierung stellt man eigentlich eine Gegenbehauptung an den Anfang und widerlegt sie, ehe man dann gegebenenfalls zu einer positiv formulierten, eigenen These kommt. Die Makrostruktur von Argu‐ mentationen wird später noch eingehender behandelt. In manchen Disziplinen sind persönlich gehaltene, ich-bezogene Formu‐ lierungen verpönt, und objektivierende Darstellungen werden bevorzugt. Für diesen Fall können Sie jede Formulierung einfach transformieren, etwa wie folgt: „Diese Arbeit stellt die Behauptung auf, dass …“ „In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass …“ „Es gilt als sicher, dass …“ „Niemand würde glauben, dass… 4 Thesenbezogenes Argumentieren 93 <?page no="94"?> „Es gilt als unwahrscheinlich (falsch, unmöglich, unglaubwürdig, un‐ sinnig), dass …“ Die weiteren Beispiele werden aber in der ich-bezogenen Formulierungs‐ weise gehalten sein, da sie die Grundform darstellt und zudem das Argu‐ mentieren persönlicher macht. Das Argument Eine Argumentation setzt man dadurch in Gang, dass man zur These eine zweite Aussage einführt, die begründet, warum man die erste für glaubwürdig (wahr, sinnvoll, vernünftig, geboten) halten soll. Diese zweite Aussage, meist durch ein „weil“ mit der ersten verknüpft, gibt den Grund an, warum wir die erste für wahr halten sollen. Man nennt sie „Argument“. Behauptung und Argument ergeben zusammen die Grundelemente einer Argumentation. Es wird schlechtes Wetter geben (Behauptung), weil die Schwalben tief fliegen (Argument). Bitte beachten Sie, dass Behauptung und Argument nicht notwendigerweise kausal verknüpft sein müssen. Die Schwalben sind nicht die Ursache des schlechten Wetters, allenfalls ein Anzeichen dafür. Das „Weil“ schließt kausale Zusammenhänge aber nicht aus: Es gibt schlechtes Wetter, weil eine starke Tiefdruckwetterlage herrscht. Wir können die beiden Aussagen auch umdrehen und kommen dann zu einer anderen Art von Verknüpfung, in der das, was vorher die Behauptung war, jetzt als „Konklusion“ (Schlussfolgerung) auftritt, während das Argu‐ ment jetzt unter dem Titel „Prämisse“ (Voraussetzung) fungiert. Die Schwalben fliegen tief (Prämisse). Deshalb wird es schlechtes Wetter geben (Konklusion). Zu beachten ist, dass der Konnektor sich verändert hat. Das „deshalb“ zeigt, wie schon vordem das „weil“ einen Grund an, nur signalisiert es, dass der 94 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="95"?> Grund in der erstgenannten Aussage enthalten ist. Wir könnten aber statt des „deshalb“ auch das äquivalente „daraus schließe ich, dass …“ einsetzen, womit der Charakter des Argumentierens wieder deutlicher ersichtlich würde. Die meisten Argumentationen lassen sich durch eine Negation so umfor‐ mulieren, dass aus einer Begründung eine Widerlegung wird: Es wird kein schlechtes Wetter geben, weil die Schwalben nicht tief fliegen. Sofern das „Weil“ als logische Äquivalenz interpretierbar ist (wie im letzten Kapitel dargestellt), gelten die Wahrheitstransformationen aus der entspre‐ chenden Wahrheitstafel, sodass die doppelt negierten Aussagen wieder wahr sind. Allerdings beurteilen wir begründende Satzverbindungen nicht nach ihren Wahrheitswerten, sondern nach ihren Inhalten. Die Behauptung, dass es regnen wird, muss in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der Begrün‐ dung stehen. Begründende Konjunktionen sind nicht notwendigerweise wahrheitserhaltend. Weitere Beispiele für Argumente sind: Ich brauche mehr Taschengeld, weil ich mir ein neues Handy kaufen muss. In Mittelamerika allein zu reisen ist gefährlich, weil die Kriminalitäts‐ rate sehr hoch ist. Die Schweizer Wirtschaft wird in eine Rezession geraten, weil der Franken überbewertet ist. Der Dreißigjährige Krieg gilt zu Unrecht als ein Religionskrieg, weil er in Wirklichkeit ein Kampf um die Machtverteilung in Europa war. Natürlich müssen sich weder Behauptung noch Argument auf einen Satz beschränken. Wenn wir jedoch den Kern einer Argumentation herausarbei‐ ten wollen, dann ist die Reduktion auf zwei (Halb-)Sätze sinnvoll. Als Konjunktion ist bisher immer das „Weil“ eingesetzt worden, obwohl die deutsche Sprache sehr viel mehr Konnektoren besitzt, die die gleiche Funktion erfüllen. Für die begründende Aussage nennt Bayer (2007, S. 90) zusätzlich folgende Alternativen zum „Weil“: da, denn, als, ja, doch, in Anbetracht der Tatsache, dass … 4 Thesenbezogenes Argumentieren 95 <?page no="96"?> Für die Form des Schlussfolgerns, bei dem weiter oben das „Deshalb“ als naheliegende Konjunktion vorgeschlagen wurde, nennt Bayer an gleicher Stelle als Alternativen u. a.: folglich, also, ergo, infolgedessen, daher, daraus folgt, daraus ergibt sich, kann es gar nicht anders sein als, zwingt zu der Annahme. Für Bayer sind diese Konnektoren auch deshalb wichtig, weil sie in Texten Argumente aufzuspüren erlauben. Sie sind sprachliche Zeichen, die eine argumentative Begründung oder eine Schlussfolgerung signalisieren. Schlussfolgern: Argumente voranstellen Gehen wir noch einmal kurz auf die schlussfolgernde Argumentation ein, da ihr Verlauf andere Formen annimmt als das begründende Schema. Im schlussfolgernden Argumentieren wird die Behauptung oder These nicht voran-, sondern hintangestellt. Sie erscheint deshalb als Schlussfolgerung und wird durch ein „deshalb“ oder „folglich“ mit der Prämisse verknüpft. Hier einige Beispiele: Die Schwalben fliegen tief. Deshalb wird Regen kommen. Der Frankenkurs ist zu hoch. Deshalb wird die Schweizer Wirtschaft in eine Rezession geraten. Die Erzählung ist langweilig. Deshalb muss etwas mehr Spannung in der Handlung erzeugt werden. Alle drei Beispiele haben eine Prämisse, die eine Informationsbasis schafft, also eine Gegebenheit benennt oder einen Ausgangspunkt darstellt, der eine zweite Aussage als gerechtfertigt erscheinen lässt. Auch wenn dies nur eine Umformulierung des begründenden Schemas ist, hat die Schlussfolgerung eine andere Funktion für die Praxis des Argumentierens. Stellt man die These nämlich voran, so sind die Adressaten über die Stoßrichtung der Argumentation von Anfang an voll im Bilde. Sie wissen, worum es geht. Verwende ich hingegen ein schlussfolgerndes Muster, dann habe ich Gele‐ genheit, meine Informationsbasis darzustellen, ehe ich deutliche mache, worauf ich eigentlich hinauswill. Hier ist zu bedenken, wie schon im thesenbezogenen Argumentieren, dass der Schritt von der Prämisse „Der Frankenkurs ist zu hoch“ zur 96 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="97"?> Schlussfolgerung „Deshalb wird die Schweizer Wirtschaft in eine Rezession geraten“ erläuterungsbedürftig ist. Er setzt einige Annahmen (stilles Wis‐ sen, Begründungswissen, Bewertungen) voraus, die in wissenschaftlichen Argumentationen expliziert werden sollten (wie das geht, wird weiter unten ausführlich gezeigt). Welche Annahmen wären das im Fall der Bewertung des Schweizerfrankens? Es gibt eine richtige oder angemessene Parität des Schweizer Frankens zu anderen Währungen. Die richtige Höhe des Frankens ist für die Konjunktur förderlich. Eine Rezession ist nicht gut. Oft müssen solche Annahmen nicht ausgesprochen werden, da sie allen bekannt sind. Sie sind kulturelles oder fachliches Wissen, das man beim Argumentieren voraussetzen kann und nur dann explizieren muss, wenn man z. B. zu Laien spricht oder wenn man neue, den Adressaten nicht bekannte Zusammenhangsvermutungen anspricht. Beispiel: Die Präzisierung einer These Nehmen wir ein Beispiel aus der Praxis, das uns zeigen kann, dass auch Profis sich nicht immer einfach damit tun, Thesen optimal aufzustellen. In einem Artikel von Jens Schmitt (2015) in der NZZ heißt es im Lead (dem Vorspann zu dem Artikel, der oft nicht vom Autor, sondern von der Redaktion verfasst wird): „Wissenschaftler, die in Österreich öffentliche Forschungsgelder bean‐ tragen, dürfen sich seit einiger Zeit nur noch der englischen Sprache bedienen. Das ist, zumal für die Geisteswissenschaften, fatal - und führt zu Niveauverlusten.“ Obgleich man versteht, worum es dem Autor geht, hat man einige Fragen, wenn man genau hinschaut. Warum sind die Niveauverluste durch einen Gedankenstrich abgetrennt? Sind die Niveauverluste Teil der angesproche‐ nen „Fatalität“ oder etwas, das zusätzlich auftritt? Und was bedeutet das „zumal“? Wird die Argumentation auf die Geisteswissenschaften einge‐ schränkt? Oder gilt sie nur in besonderer Weise für die Geisteswissenschaf‐ ten? Immerhin können wir die zweigliedrige Form von These und Argument 4 Thesenbezogenes Argumentieren 97 <?page no="98"?> noch erkennen. Würden wir sie - mit leichten sprachlichen Anpassungen - in die Standardform bringen, dann würde sie wohl lauten: [Ich behaupte], „es ist fatal, dass in Österreich Anträge auf öffentliche Forschungsgelder nur noch in Englisch gestellt werden können, weil das - besonders für die Geisteswissenschaften - zu Niveauverlusten führt.“ Damit haben wir die Niveauverluste deutlicher als Kern des Arguments deklariert und die beiden Glieder, These und Argument, sichtbarer gemacht. Es bleibt aber auch in dieser Version offen, ob die Argumentation tatsächlich für alle Wissenschaften gelten soll, auch wenn das „zumal“ hier durch das eindeutigere „besonders“ ersetzt wurde. Es wäre, das lässt sich erkennen, für die Argumentation einfacher, wäre die Einschränkung auf die Geistes‐ wissenschaften schon in der These und nicht erst im Argument erfolgt, da dann klarer wäre, worum es geht. Also: [Ich behaupte], „es ist fatal, dass Anträge auf Forschungsmittel in den Geisteswissenschaften in Österreich nur noch auf Englisch gestellt werden können, weil das zu Niveauverlusten führt.“ Damit wären die Zweifel in Bezug auf den Geltungsbereich der These aus‐ geräumt und die These wäre nicht minder relevant. Die gedankliche Struktur wäre klarer, wenn auch stilistisch nicht unbedingt besser. Es ist nicht nötig, die Argumentation auf alle Wissenschaften auszudehnen. Der Autor (oder die Redaktion der NZZ) wollte dadurch vermutlich dem Argument mehr Gewicht geben, verwässerte es aber eher, da Englisch in den Naturwissen‐ schaften eine andere Funktion hat und er damit mögliche Gegenargumente von dieser Seite provoziert. Das dramatisch klingende „fatal“ ist geblieben, jetzt aber klar begründet durch das eigentliche Argument, nämlich den befürchteten Niveauverlust. Man könnte jetzt anfangen, darüber nachzu‐ denken, ob „fatal“ die richtige Umschreibung für Niveauverlust ist. Setzte man für „fatal“ probeweise eines der Synonyme wie „verhängnisvoll“ oder „schlimm“ ein, dann fände man schneller heraus, welche Behauptung am besten zum Argument passt, d. h., welches Verhängnis die österreichischen Geisteswissenschaften aufgrund des Zwanges zum Englischen zu erwarten haben. 98 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="99"?> Kontextualisierung einer Argumentation Selten beginnt man einen argumentativen Text mit der These selbst. Die eigentliche Argumentation braucht einen Vorspann, der die Lesenden an‐ spricht und sie mit dem Kontext vertraut macht. Kontextualisierungen dienen auf verschiedene Weise der Verankerung eines Themas und können Auskunft darüber geben, warum bzw. mit welchem Ziel argumentiert wird. Sie setzen auch den Tenor der Argumentation und legen die Adressaten fest. Im Einzelnen kann die Kontextualisierung auf Folgendes eingehen: ● Diskursiver Zusammenhang: In welche Diskussion greift die Argumen‐ tation ein? ● Adressaten: Für wen ist der Text von Interesse? ● Vorherige Beiträge von eigener Hand oder von anderen: Argumenta‐ tionen können direkte Entgegnungen auf fremde Texte oder Weiterfüh‐ rungen eigener Texte sein. ● Verweis auf eine Theorie oder gängige Ansicht: Hier knüpft die Kontex‐ tualisierung an vorhandene Meinungen an. ● Motivation: Warum wird die Argumentation ins Spiel gebracht? Wel‐ ches Anliegen hat sie bzw. die Autorin oder der Autor? Welche persön‐ liche Erfahrung oder fachliche Notwendigkeit steckt dahinter? Diese Zusammenstellung zeigt, dass vieles, was gewöhnlich als Einleitung oder Einführung geschrieben wird, auch der Kontextualisierung einer Ar‐ gumentation dienen kann. Erfüllt werden damit Anforderungen an Texte, die nicht nur für das Argumentieren gelten, sondern für jeden Text, wie zum Beispiel: Ansprechen der Adressaten, Klären des Anspruchs, Vorausschau auf den Text. Mehrfachbegründungen Prinzipiell können wir zu jeder Behauptung mehrere Argumente angeben. Allerdings wird die Argumentation dadurch nicht notwendigerweise stär‐ ker, denn mehr als eines glaubwürdigen Arguments bedarf es in der Regel nicht, um zu überzeugen, jedenfalls in den Wissenschaften. Es wird schlechtes Wetter geben, (a) weil die Schwalben tief fliegen, (b) weil schon so lange schönes Wetter ist und (c) weil der Wetterdienst es so vorhergesagt hat. 4 Thesenbezogenes Argumentieren 99 <?page no="100"?> Das Problem, das hier entsteht, liegt darin, dass die schwächeren Argumente dem stärksten Argument eher die Luft wegnehmen, als dass sie zu dessen Glaubwürdigkeit beitragen. Wenn man den Wetterdienst befragt hat, dann sind die Schwalben eigentlich unnötig und drängen auf Widerspruch. Dennoch finden wir in den Wissenschaften oft Begründungen der Art: Es gibt mehrere Gründe, die dafür sprechen, dass … Und es kann auch sinnvoll sein, mehrere Argumente anzuführen, wenn dies nicht gerade die Argumente sind, die man in einer Abhandlung auf den Prüfstand stellen will, sondern solche, die allgemein als unstrittig angesehen und dem gesicherten Wissen zugeordnet werden können. Wenn wir also gültiges Wissen darstellen, ist diese Formel perfekt. Für das Argumentieren zu strittigen Punkten hingegen ist es sinnvoller, dass jedes Argument einzeln abgehandelt und für sich belegt wird. Hier ein Beispiel: Die Schweizer Wirtschaft wird in Turbulenzen geraten, und zwar aus drei Gründen. Der erste liegt in einer Überbewertung des Fran‐ ken, der zweite in der zu geringen Binnennachfrage, der dritte in der politischen Unsicherheit bezüglich des zukünftigen Zugangs zum EU-Binnenmarkt. Damit werden drei voneinander unabhängige Argumente vorgebracht, von denen jedes für sich alleine stehen kann. Die jeweils angesprochenen Risiken oder Einflussfaktoren können sich jedoch aufsummieren, sodass sie zusam‐ mengenommen eine gravierendere Bedrohung der Schweizer Wirtschaft darstellen würden als jeder einzelne allein. Deshalb ist hier eine komplexe Argumentation wirkungsvoller als eine einfache. Nimmt man es genau, dann sollte das Argument jedoch lauten: Die Schweizer Wirtschaft wird in Turbulenzen geraten, weil gleich drei ungünstige Bedingungen derzeit zusammenwirken: Die Überbewer‐ tung des Frankens, die niedrige Binnennachfrage und die Unklarheit über den EU-Binnenmarkt. Damit läge das Gewicht des Arguments jetzt auf der Verschränkung und dem gemeinsamen Auftreten der drei Faktoren, von denen jeder einzelne vielleicht mühelos kompensiert werden könnte. 100 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="101"?> Hintergrundwissen anführen Ein Argument haben wir als eine Aussage bezeichnet, die eine Behauptung begründet. Das Duo von Behauptung und Argument ergibt bereits den Kern einer Argumentation, die jedoch erweitert werden muss, um wirksam zu sein, denn eine Argumentation wie, Ich behaupte, dass die Schweizer Wirtschaft in eine Rezession geraten wird, weil der Franken überbewertet ist, braucht eine etwas tiefere Begründung, da der Zusammenhang zwischen Behauptung und Argument nicht so einfach auf der Hand liegt. Hier wäre also der Verweis auf wissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse zur vertiefenden Begründung angebracht. Im Fall des überbewerteten Fran‐ ken sollte also eine Begründung angefügt werden, die besagt, wie der Kurs einer Währung mit der Konjunktur zusammenhängt. Hier sind theoretische Hintergründe, Erläuterungen, Modelle oder Daten gefragt, die uns erläutern, wie These und Argument kausal verknüpft sind. Der hohe Frankenkurs wird die Exporte erschweren. Dies wird zu ge‐ ringerem Auftragsvolumen, dann zu Ertragseinbußen und schließlich zu Beschäftigungsabbau führen. Das sind die häufigsten Ursachen für eine Rezession. Beim Argumentieren in Fachgemeinschaften kann man erwägen, ob man auf diese Erläuterung verzichten will, wenn man annehmen kann, dass dies fachliches Allgemeinwissen ist. Oft wird dann lediglich auf Literatur ver‐ wiesen, in der die Zusammenhänge aufgeführt und belegt werden. Toulmin (1996), auf den sich Booth et al. (1995) beziehen, nennt den Zusammenhang zwischen These und Argument auch „warrant“, was im Deutschen so etwas wie „Vollmacht“, „Berechtigung“, oder „Garantie“ heißt, aber auch die Bedeutung von „stiller Annahme“ hat (weil oft nicht ausgesprochen). Ins Deutsche hat man es auch als „Schlussregel“ übersetzt. Den deutsch‐ sprachigen Denktraditionen entspricht es wohl eher, hier von „erweiterter Begründung“ oder „Hintergrundwissen“ zu sprechen. Das Argumentieren muss nicht notwendigerweise (wie in allen hier gegebenen Beispielen der Fall) auf Einzelfälle bezogen sein muss, sondern 4 Thesenbezogenes Argumentieren 101 <?page no="102"?> auch mit generalisierten Aussagen arbeiten kann. So könnte man auch mit einer Allaussage argumentieren: Ich behaupte, dass die Überbewertung einer Währung zu einer Rezes‐ sion führt, weil der Außenhandel beeinträchtigt wird. Hier hat man die vertiefende Begründung, die vorher auf den Fall Schweiz angewendet wurde, selbst auf den Prüfstand gestellt. Allerdings muss man sich wiederum fragen, ob dies nicht Standardwissen der Volkswirtschaft ist, sodass man es nicht neu begründen muss. Begründen muss man etwas nur, wenn es neu, unklar oder strittig ist. Eine These wäre hier dann sinnvoll, wenn sie gegen den Konsens in der Fachgemeinschaft gerichtet ist oder eine Ausnahme betrifft: Ich behaupte, dass die Überbewertung einer Währung nicht notwen‐ digerweise zu einer Rezession führen wird, weil es in der Regel genug kompensatorische Faktoren gibt. Hier könnte man nun weiteres Wissen anführen, das in allgemeiner Weise den Zusammenhang zwischen Rezession, Außenhandel und kompensatori‐ schen Faktoren erläutert und begründet, warum es Ausnahmen von der Regel gibt. Argumente belegen In den Wissenschaften haben Argumente dann Gewicht, wenn sie nicht nur plausibel, sondern darüber hinaus durch Hinweise auf Daten, Fakten und Quellen gestützt werden. Diese Belege stellen gewissermaßen Garanten für die Richtigkeit der Argumente dar, wiewohl dies nur eine Metapher ist. Genau genommen sind sie wieder nur weitere Aussagen, die den Argumen‐ ten mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Belegen kann man Argumente auf verschiedene Weise: ● durch Verweis auf (akzeptierte) Theorien oder Modelle ● durch Verweis auf fachlichen Konsens ● durch Verweis auf Meinungen führender Vertreterinnen oder Vertreter des Fachs ● durch Verweise auf Normen, Regeln oder Werte ● durch Verweis auf ein Beispiel 102 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="103"?> ● durch Verweis auf Fakten oder empirische Forschung. Diese Belege genießen unterschiedlich hohe Autorität in den Wissenschaf‐ ten und müssen zudem rhetorisch unterschiedlich eingeführt werden. In den meisten Disziplinen besitzen Belege durch Fakten und Daten aus empi‐ rischer Forschung die höchste Autorität. In manchen Kontexten können aber auch Verweise auf Rechtsnormen, mathematische Funktionen, bekannte Sachverhalte (Beispiele), Dokumente oder Rahmentheorien einen höheren Stellenwert haben. Manche Disziplinen verweisen gerne auf Theorien, was allerdings dann nicht günstig ist, wenn es mehrere Theorien gibt, die zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen. Fachlicher Konsens kann vor allem dann wirkungsvoll sein, wenn die Argumentation an eine weitere Öffentlichkeit gerichtet ist. Innerhalb einer fachlichen Gemeinschaft ist ein Verweis auf fachlichen Konsens vor allem dann wirkungsvoll, wenn man Voraussetzun‐ gen für eine Argumentation schaffen will, also Annahmen trifft, die selbst nicht zur Diskussion stehen. Führende Vertreter eines Fachs können sehr viel Autorität besitzen und entsprechend legitim ist es, auf sie zu verweisen. Es verlangt aber kenntlich zu machen, dass es sich nur um eine Meinung, nicht um faktisches Wissen handelt. In den Wissenschaften verlangen alle spezifischen Aussagen einen Beleg. Hier ein paar prinzipielle Beispiele (fiktiver Art), wie das gehen kann: … wie die Bundesbank in ihrem Jahresbericht hervorgehoben hat … wie man am Beispiel von Norwegen sehen kann … wie die Untersuchung von Müller & Meier (2007) gezeigt hat, in der die Folgen einer Aufwertung für mehrere Länder analysiert worden sind … wie die Keynesianische Theorie vorhersagen würde. Nicht alle dieser Belege wären in einem wissenschaftlichen Artikel zufrie‐ denstellend. Das Beispiel von Norwegen verlangt nach einer Quelle (wo ist das dargestellt? ) Die Keynesianische Theorie müsste präzisiert werden, der Bundesbankbericht genauer zitiert werden usw. Das Belegen von Argu‐ menten kann in wissenschaftlichen Darstellungen deshalb wesentlich mehr Raum einnehmen, als diese kurzen Beispiele suggerieren. Aber es geht hier um die Prinzipien des Argumentierens, nicht um die Details des Zitierens. 4 Thesenbezogenes Argumentieren 103 <?page no="104"?> Gegenbehauptung und Gegenargument Wichtig für das Argumentieren ist es, Gegenpositionen anzuführen, und zwar aus drei Gründen. Erstens verdeutlicht eine Gegenposition noch einmal die Stoßrichtung der eigenen Argumentation. Die These sagt, wofür ich argumentiere, die Gegenbehauptung sagt, wogegen ich mich richte. Zweitens gibt uns die Gegenposition Gelegenheit, auf das Wissen anderer zurückzugreifen oder daran anzuschließen, auch wenn man zu anderen (sogar entgegengesetzten) Schlussfolgerungen kommt. Damit schließt man drittens die Argumentation gleichzeitig an vorhandene Diskurse an. Voraus‐ setzung für das Anführen von Gegenmeinungen ist in den Wissenschaften immer ein fairer Umgang mit ihnen und eine genaue Wiedergabe, die ihre innere Begründung und Sinnhaftigkeit unterstreicht. Gehen wir noch einmal von folgender Argumentation aus: Ich behaupte, dass die Überbewertung des Franken zu einer Rezession führt, weil dadurch der Außenhandel beeinträchtigt wird. Diese Behauptung ist nicht unwidersprochen geblieben, und dies hier wäre eine Form, eine Gegenthese anzuführen. Müller & Meier (2016) behaupten, dass die Überbewertung des Fran‐ kenkurses die Schweizer Konjunktur nicht beeinträchtigen, sondern beflügeln würde. Diese Gegenbehauptung ist der ursprünglichen Argumentation tatsäch‐ lich fundamental entgegengesetzt, und sie würde deshalb gut illustrieren, worum es in der Argumentation geht. Jedoch ist gegen eine Gegenbehaup‐ tung schwer etwas einzuwenden, solange kein Argument angegeben ist. Deshalb wäre es sinnvoll, folgendermaßen zu argumentieren: Es gibt auch die Behauptung von Müller & Meier (2016), dass die Überbewertung des Frankenkurses die Wirtschaft beflügelt, weil sie unerschlossene Rationalisierungsreserven freisetzt. Jetzt kann man sich gezielt mit der These auseinandersetzen, weil man das Argument kennt. Eine These allein kann man nicht widerlegen, denn sie ist ja nur eine Meinung (der man wohl eine andere Meinung entgegenstellen 104 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="105"?> kann, wonach aber einfach Meinung gegen Meinung steht). Widerlegen kann man nur die Begründung einer Meinung. Im letzten Beispiel könnte man darauf eingehen, ob Rationalisierungsreserven die Konjunktur tat‐ sächlich beflügeln würden (anstatt lediglich einen Konjunktureinbruch zu verhindern) oder darauf, dass vielleicht gar keine Reserven mehr vorhanden sind. In der Praxis des Argumentierens dient also das Aufführen von Gegenthe‐ sen vor allem der Illustration der eigenen These, während Gegenargumente aufgeführt werden, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gegenargu‐ mente lassen sich beispielsweise auf folgende Weise einführen: Gegen meine Behauptung wird eingewendet, dass die Schweizer Wirt‐ schaft robust genug sei, um eine Aufwertung von bis zu 20 Prozent durch Rationalisierung zu kompensieren. Im Zusammenhang mit der Frankenaufwertung wird von Meier und Schulze (2016) das Argument vertreten, dass durch sinkende Import‐ preise die Kaufkraft gestärkt wird, sodass die Inlandsnachfrage die entgangenen Exporte kompensiert. In den Wissenschaften kann das Anführen von Gegenargumenten auch die Funktion haben, sich gegen mögliche Kritik abzusichern, indem man sie selbst aufgreift und entkräftet. Das ist vor allem in Qualifikationsarbeiten nützlich. Entkräften von Gegenargumenten und konzessives Argumentieren Eine Gegenbehauptung zu widerlegen oder zu entkräften erfordert ähnliche Schritte, wie die, die zur Begründung einer Behauptung nötig sind. Es ist ein Gegenargument erforderlich mit einer Äußerung wie: Ich halte diese Meinung für nicht stichhaltig (falsch, unbegründet, gegenstandslos, unpassend, widersprüchlich), weil … Auch hier ist im Kern nur ein einziges Argument nötig, das aber möglicher‐ weise selbst weiter belegt und tiefer begründet werden muss. Nehmen wir noch einmal folgendes Gegenargument: 4 Thesenbezogenes Argumentieren 105 <?page no="106"?> Gegen meine Behauptung wird eingewendet, dass die Schweizer Wirt‐ schaft robust genug sei, um eine Aufwertung durch Rationalisierung zu kompensieren. Dann könnte eine Entkräftung des Gegenarguments folgendermaßen aus‐ sehen: Ich halte dieses Argument nicht für stichhaltig, weil es zwar für ein geringes Währungsungleichgewicht zutreffen mag, aber bei einer Disparität von mehr als 25-% nicht mehr trägt. Es ist nicht nur die Fairness, die uns gebietet, den rationalen Kern von Gegenbehauptungen zu würdigen, sondern vor allem die Notwendigkeit des Anschließens an vorhandenes Wissen. Der Umgang mit Gegenargumenten sollte immer zweiteilig sein, einerseits würdigend, andererseits ablehnend. In wissenschaftlichen Texten (vor allem in Rezensionen) finden wir oft zuerst die Würdigung, dann die Entkräftung: Diese Position ist sicherlich richtig (nachvollziehbar, plausibel, nahelie‐ gend, vernünftig, weithin akzeptiert), aber (jedoch, dennoch, trotzdem) sie vergisst (verkennt, ignoriert, schätzt falsch ein, missachtet, überbe‐ wertet) , dass … Das argumentative Schema lässt sich auch umdrehen, um die Argumenta‐ tion pointierter zu gestalten. Die Position ist nicht stichhaltig (gültig, richtig, akzeptabel, durch‐ dacht), weil … Sie fußt aber auf der richtigen (plausiblen, naheliegen‐ den, allgemein akzeptierten etc.) Erkenntnis, dass … Im gegebenen argumentativen Kontext könnte man also sagen: Es ist sinnvoll, in die Diskussion um die Folgen der Frankenaufwertung den Gesichtspunkt kompensatorischer Faktoren einzubeziehen. Jede Aufwertung führt nicht nur zu Beeinträchtigungen, sondern auch zu konjunkturförderlichen Folgen, die jedoch alle nur bis zu einer gewissen Aufwertungshöhe wirksam sind. 106 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="107"?> Sie sehen, dass das, was wir in den Wissenschaften als Argumentieren ver‐ stehen, erst durch diese differenzierten Bezugnahmen auf Gegenpositionen wirklich zum Tragen kommt. Jede Gegenposition führt auch neue Gedanken ein, die zu berücksichtigen sind. Einschränkungen des Geltungsbereichs einer These Eine Argumentation ist nicht dazu gezwungen, am Wortlaut einer anfangs formulierten These festzuhalten, sondern kann die These modifizieren, einschränken oder präzisieren. Meist wird dies in Abhängigkeit von den Konzessionen an Gegenargumente geschehen, es kann aber auch durch Rückgriff auf kontextuelle Bedingungen geschehen, in denen eine Argu‐ mentation steht. Wenn wir also Gegenargumente anführen und ihren positiven Gehalt aufgreifen, so führt das oft dazu, dass wir die eigene These modifizieren müssen. Booth et al. (1995) weisen darauf hin, dass man in argumentativen Kontexten durchaus mit einer absolut gehaltenen These beginnen kann, um sie dann im Verlauf der Argumentation einzuschränken. Zudem wird eine These wie „Die Schweizer Wirtschaft ist in Gefahr“ eher ihre Leserinnen und Leser finden als die blassere, aber wissenschaftlich exaktere Feststellung „Bei weiterer Aufwertung des Franken muss die Schweizer Wirtschaft mit einer Rezession rechnen“. Die Wissenschaften würden zwar immer zu letzterer Formulierung greifen, da ihnen Präzision wichtiger ist als spektakuläre Aufhänger, aber Argumentieren kann man ja auch in anderen Kontexten. Wie auch immer man vorgeht, es wird in einer guten Argumentation immer darauf ankommen, den Geltungsbereich der These genauer zu spe‐ zifizieren. Dies kann am Anfang geschehen oder dann, wenn man aus Gegenargumenten berechtigte Einwände aufgreift, etwa auf folgende Art geschehen: ● Es ist mit einer Rezession zu rechnen, jedenfalls dann, wenn die Auf‐ wertung eine bestimmte Höhe übersteigt. ● Dies gilt nicht, wenn die Aufwertung nur temporär ist. ● Solange die kompensatorischen Faktoren wirksam sind, kann die Rezes‐ sion vermeiden werden. ● Erst wenn die kompensatorischen Faktoren wegfallen, wird eine Rezes‐ sion unausweichlich. ● Mit einer Rezession wird also erst zu rechnen sein, wenn … 4 Thesenbezogenes Argumentieren 107 <?page no="108"?> Schlussfolgerungen ziehen Jede Argumentation wird bestrebt sein, über das Argumentieren hinaus zu sagen, welche Bedeutung die Ergebnisse des Argumentierens haben. Es können also Schlussfolgerungen gezogen werden, die besagen, was zu tun ist, wenn die Argumentation als gültig akzeptiert würde. Im Fall der Aufwertung des Franken könnten also Schlussfolgerungen z. B. auf die zu‐ künftige Währungs- oder Wirtschaftspolitik, auf die Theoriebildung in der Konjunkturforschung oder auf das individuelle Verhalten bei Geldanlagen gezogen werden. Die Schlussfolgerung wird in der Regel aufgreifen, was eingangs in der Kontextualisierung bereits angesprochen worden ist, um so eine textuelle Klammer um die eigentliche Argumentation herzustellen. Sie transportiert wichtige Ergebnisse des Argumentierens und enthüllt oft die eigentliche Absicht des Textes. Die Schlussfolgerung kann selbst zum Ausgangspunkt einer neuen Ar‐ gumentation werden, die die begründete These als Argument für einen Handlungsvorschlag nimmt, etwa folgender Art: Die drohende Rezession ist also ein realistisches Szenario für die Schweiz. Deshalb sind unverzüglich konjunkturfördernde Maßnahmen zu ergreifen. Eine solche Argumentation kann als Abschluss dienen oder aber einen Neuanfang für eine nächste Argumentation nach dem bereits beschriebenen Muster bilden und damit eine Anschlussargumentation darstellen. Als konjunkturfördernde Maßnahmen bieten sich vor allem Innovati‐ onsanreize an, weil sie am nachhaltigsten die Produktivität fördern. Damit wäre die Basis für eine neue Argumentation gelegt. Ein Beispiel für strukturiertes Argumentieren Ein etwas idealisiertes Grundmuster wissenschaftlicher Argumentation haben Booth et al. (1995) vorgelegt, die sich dabei auf die grundlegenden Arbeiten von Toulmin (1996) beziehen. Toulmin hatte das Argumentieren aus seiner unmittelbaren Verbindung mit dem logischen Schließen gelöst, wie die aristotelische Logik das vorgab, und es stattdessen enger mit dem 108 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="109"?> Denken und Kommunizieren verbunden. Booth et al. gehen davon aus, dass die Form des Argumentierens eher aus dessen dialogischer Natur als aus der formalen Logik zu verstehen ist. Sie machen das daran deutlich, dass die einzelnen rhetorischen Elemente des Argumentierens auf (implizite) Fragen der Adressaten eingehen und nicht einfach einer logischen Grundstruktur folgen. Sie rücken es damit wieder näher an das, was einst in der Disputation geschehen ist, bei der die argumentierende Person mit den Adressaten und Kritikern in der Aula beisammensaß. Es zeigt sich, dass die eben dargestell‐ ten Elemente des Argumentierens sich gut in dieses Schema integrieren lassen (Tab. 4). Das Schema in Tabelle 4 beginnt mit einer These (erste Zeile), gefolgt von einem Argument (zweite Zeile), das durch ein „Weil“ mit der These verbun‐ den ist. Die Fragen in der linken Spalte helfen dabei, die Argumentation auszurichten und sich an ihrer sozialen Funktion zu orientieren, nicht nur an ihrer sachlichen Logik. Die mittlere Spalte zeigt typische (und günstige) Formulierungen, mit denen man die jeweiligen Fragen gut beantworten kann. Natürlich besteht keinerlei Pflicht, genau diese Phrasen zu verwenden. Sie sind aber insofern gut geeignet, als sie die Sprecherintention optimal ausdrücken und den Adressaten genau signalisieren, worum es gerade geht. Wenn Sie also das Schema ausprobieren, dann ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt genau diese Formulierungen zu wählen und den Impuls zu unterdrücken, sie zu umschreiben. Das können Sie in einem späteren Überarbeitungsschritt tun. Die rechte Spalte nennt das jeweilige rhetorische Element bei seinem Namen. 4 Thesenbezogenes Argumentieren 109 <?page no="110"?> Fragen der Lesen‐ den oder Zuhö‐ renden Antworten Rhetorisches Ele‐ ment 1 Was ist Ihre Behaup‐ tung? Ich behaupte, dass … Behauptung, These 2 Was spricht für Ihre Behauptung? weil … Argument (Beleg) 3 Warum glauben Sie, dass das Argument Ihre Behauptung un‐ terstützt? Ich biete als Erklä‐ rungsprinzip dafür an … Begründung, Schluss‐ regel (Engl.: warrant), 4 Gibt es keine Vorbe‐ halte gegen diese Be‐ hauptung Es wird auch behaup‐ tet, dass … Anführen von Gegen‐ position 5 Was sagen Sie zu die‐ ser Meinung? Ich halte diese Mei‐ nung nicht für stich‐ haltig, weil … Entkräften der Gegen‐ position 6 Sind Sie ganz sicher? Meine These gilt nur, wenn … und so lange, wie … Präzisierung des Gel‐ tungsbereichs; 7 Keine Einschränkun‐ gen? Ich muss zugeben, dass … Konzession 8 Wie sicher ist dann Ihre Behauptung? Ich beschränke meine These auf … Präzisierte, einge‐ schränkte These Tab. 4: Schema des wissenschaftlichen Argumentierens nin Anlehnung an Booth et al. (1995, S.-89), um die dritte Spalte erweitert. In Tabelle 5 wird als Beispiel das Schema noch einmal anhand der Schweizer Konjunktur durchexerziert. Wie Sie sehen, sieht das Schema vor, dass der Gang der Argumentation durch die Gegeneinwände beeinflusst wird, sodass der letzte Schritt darin besteht, die Ausgangsthese zu modifizieren. 110 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="111"?> Fragen der Lesen‐ den/ Zuhörenden Antworten 1 Was ist Ihre Behaup‐ tung? Ich behaupte, dass die Schweiz in eine Rezession geraten wird … 2 Was spricht für Ihre Behauptung? … weil der Franken überbewertet ist. 3 Warum glauben Sie, dass diese Belege Ihre Behauptung un‐ terstützen? Eine überteuerte Währung erschwert den Außen‐ handel und führt in der Folge zu Ertragseinbußen, Entlassungen und Wachstumsschwäche. 4 Gibt es keine gegentei‐ lige Meinung? Es wird auch behauptet, dass die Schweizer Wirt‐ schaft robust genug ist, das zu kompensieren. 5 Was sagen Sie zu die‐ ser Meinung? Ich halte diese Meinung nicht für stichhaltig, weil bereits mehrere Aufwertungen erfolgt sind und keine Rationalisierungsreserven mehr vorhanden sind. 7 Sind Sie da ganz si‐ cher? Ich muss einräumen, dass die Schweizer Wirtschaft in der Tat sehr robust ist. 8 Keine Einschränkun‐ gen? Eine Rezession ist also zu erwarten, wenn weitere Aufwertungen erfolgen und wenn es keine zusätz‐ lichen konjunkturellen Anreize gibt. 9 Wie sicher sind Sie sich dann Ihrer Be‐ hauptung? Ich beschränke meine These darauf, dass eine Re‐ zession eine realistische, aber nicht unabwendbare Gefahr darstellt. Tab. 5: Schema des Argumentierens angelehnt an Booth et al. (1995, S. 89), konkretisiert an einem Beispiel. Auf Konzessionen kann man dann verzichten, wenn sie allen ohnehin klar sind, z. B., weil die Gegenargumente in einem bestimmten rhetorischen Kontext gerade vorgebracht worden sind. Auf Konzessionen kann man natürlich auch dann verzichten, wenn es einem nur um Kritik geht und man sich gerne Feinde machen möchte. Variationen in der Struktur Wenn Sie eine Argumentation nach dem Schema von Booth, Wayne & Colomb ausprobieren, dann ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt auch 4 Thesenbezogenes Argumentieren 111 <?page no="112"?> die vorgegebene Reihenfolge zu übernehmen. Sie ist sehr bewusst gewählt und hat nicht nur die Funktion, das Denken mit dem Argumentieren zu koordinieren, sondern auch die, den Adressatinnen und Adressaten genaue Hinweise zu geben, welchen Stellenwert eine bestimmte Aussage für die Argumentation hat. Ansonsten sehen Argumentationen in den Wissenschaften insofern an‐ ders aus, als sie nicht immer der gleichen Sequenz folgen, die das Schema vorgibt, und es auch keinen Grund gibt, sich sklavisch daran zu halten. Abbildung 1 zeigt Ihnen andere mögliche Argumentationsketten, die Sie einsetzen können. Als Erstes sehen Sie eine systematisch aufgebaute Argumentation nach dem Muster von Booth et al. Die zweite Argumentationskette geht nicht von der These aus, sondern von der Begründung, z. B. also mit einer Darstellung, warum Volkswirtschaften, mit einer überbewerteten Währung Probleme mit Rezession und Stagnation bekommen werden, einschließlich der Belege dazu. Daraus wird das Argument begründet und anschließend die These formuliert (sie könnte prinzipiell lauten: „Da dies auf die Schweiz zutrifft, behaupte ich, dass sie in eine Rezession geraten wird.“). Anschließend kön‐ nen Gegenargumente benannt und widerlegt werden. Nicht alle möglichen argumentativen Schritte sind hier eingesetzt. Die dritte Art würde mit den Gegenargumenten beginnen („Es gibt Wäh‐ rungspolitiker, die behaupten, dass die Schweizer Wirtschaft eine längere Zeit mit einem überbewerteten Franken leben kann, ohne dass es zu einer Rezession kommt. Sie begründen das mit …“), ehe das widerlegt wird und dann mit einer eigenen These die Gegenbehauptung formuliert wird. Die kann wiederum begründet und dann belegt werden, ehe gegebenenfalls noch Schlussfolgerungen für die Währungs- oder Wirtschaftspolitik gezo‐ gen werden. Eine solche Argumentation stellt die Gegenmeinung in den Vordergrund, weshalb sie hier als „konfrontativ“ bezeichnet wird. 112 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="113"?> 112 eine bestimmte Aussage hat. Ansonsten sehen Argumentationen in den Wissenschaften insofern anders aus, als sie nicht immer der gleichen Sequenz folgen, die das Schema vorgibt, und es gibt auch keinen Grund, sich sklavisch daran zu halten. Abb. 1 zeigt Ihnen andere mögliche Argumentationsketten, die Sie einsetzen können. Als erstes sehen Sie eine systematisch aufgebaute Argumentation nach dem Muster von Booth et al. Die zweite Argumentationskette geht nicht von der These aus, sondern von der Begründung, z. B. also mit einer Darstellung, warum Volkswirtschaften, mit einer überbewerteten Währung Probleme mit Rezession und Konfrontativ Gegenargument Widerlegung These Argument Begründung Schlussfolgerungen Theoriezentriert Begründung Argument These Gegenbehauptung Widerlegung Systematisch These Argument Begründung Gegenbehauptung Widerlegung Konzession Reformulierung Abb. 1: Argumentationsketten, unterschiedliche Reihenfolgen Abb. 1: Argumentationsketten, unterschiedliche Reihenfolgen. 5 Argumentieren und hypothetisches Denken Nachdenken über das Nichtwissen Wissenschaft und kritisches Denken legitimieren sich, so wurde bereits gesagt, weniger aus dem Wissen, das sie in Besitz haben, als aus dem Nichtwissen, das sie zugänglich machen können. Naturgemäß übersteigt das Nichtwissen die Menge unseres Wissens um ein Vielfaches, wiewohl das schwer nachzuweisen ist, denn das Nichtwissen ist als solches nicht unmittelbar sichtbar. Wäre es messbar, beschreibbar und darstellbar, dann wäre es bereits Wissen oder wenigstens bekanntes Unwissen. Typisch für unser Nichtwissen war bis vor Kurzem die Frage, ob es Gra‐ vitationswellen gibt, wie Einstein 1916 behauptet hatte. Zwar hat Einstein plausibel beschrieben, wie er sich Gravitationswellen und ihre Bedeutung für die Bewegungen der Sterne vorstellt, aber solange es keine direkte Möglichkeit gab, sie auch zu messen, blieb ihre Existenz ein hypothetisches Konstrukt: Denkbar, aber weder beobachtbar noch direkt belegbar. Erst 2016 wurde eine eindeutige empirische Bestätigung ihrer Existenz erreicht (Abbott et al., 2016). 5 Argumentieren und hypothetisches Denken 113 <?page no="114"?> Was wir daraus lernen: Das Nichtwissen muss zunächst denkbar werden, damit wir es benennen, untersuchen und dann belegen können. Solange Wissen nicht belegbar ist, müssen wir in einer Sprache darüber sprechen, die wir „hypothetisch“ nennen. Nehmen wir hierzu ein Beispiel von Einsteins Vorlesung zur Speziellen Relativitätstheorie von 1921, so sehen wir, wie man über eine offene Frage nachdenken kann. Einstein diskutiert hier die Frage, ob die Lichtgeschwindigkeit konstant ist oder nicht. Hervorgehoben sind Aussagen, die hypothetisches Denken kennzeichnen: Bei dieser theoretischen Sachlage scheint man gezwungen zu sein, entweder das Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit oder das Relativitätsprinzip fallen zu lassen. Beide Möglichkeiten haben jedoch der Erfahrung gegenüber versagt, wie sogleich kurz gezeigt werden soll. Zunächst könnte man denken, der Satz von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gelte nicht. Dies war auch der Ausweg, den die Wissenschaft zunächst versuchte (Heinrich Hertz).[5] Geht man nämlich von der Hypothese aus, dass das Licht in einer Wellenbewegung im Aether bestehe, so wird man annehmen, dass das Licht sich allenthalben mit derselben Geschwindigkeit fortpflanze, aber nicht relativ zum Raum (bez. relativ zum Koordinatensystem), sondern relativ zum Lichtäther. Wie sich das Licht relativ zum Koor‐ dinatensystem ausbreitet, hängt dann von der Frage ab, wie sich der Äther in mechanischer Beziehung verhält. Die von Hertz benutzte Hypothese war die, dass der Äther allenthalben an den Bewegungen der Materie teilnehme, oder m. a. W., dass der Äther allenthalben relativ zur Materie ruhe. Diese Auffassung hat schon begrifflich große Schwierigkeiten. Denkt man nämlich die Materie als Kontinuum, so müsste es nach dieser Hypothese möglich sein, aus einem Raume den Äther herauszupumpen, was der Erfahrung gegenüber nicht auf‐ rechtzuerhalten ist. Nimmt man hingegen die Materie als atomistisch konstituiert an und setzt man voraus, dass das Atom nur in seinem Innern den Äther mitnehme, so bedeutet dies, ein Aufgeben der Hertz’schen Hypothese, da dann für die makroskopische Betrachtung der Aether an den Bewegungen der Materie nicht teilnimmt. (Einstein, 1921) Wir sehen, dass Einsteins Art des Argumentierens nicht konfrontativ angelegt ist, wie das im thesenbezogenen Argumentieren der Fall ist, in dem 114 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="115"?> für eine Aussage ein Anspruch auf Richtigkeit reklamiert wird. Einstein verwendet rhetorische Mittel des hypothetischen Denkens, indem er die Lesenden mitnimmt und versucht, mit ihnen gemeinsam eine Frage oder ein Themenfeld zu erkunden. Deshalb kann er auf das trompetenartige „Ich behaupte, dass …“ verzichten und betont weniger die sachlichen Notwen‐ digkeiten, als die denkerischen Möglichkeiten. Dabei spricht er das Denken direkt an: Denkt man nämlich … so müsste es … Geht man nämlich von der Hypothese aus, …so wird man annehmen, dass Zunächst könnte man denken, der Satz von der Konstanz … … hängt dann von der Frage ab, wie … … die … Hypothese war die, dass … Nimmt man hingegen … an und setzt man voraus, dass … so bedeutet dies … Indem Einstein sein eigenes Denken transparent macht, lädt er die Lese‐ rinnen und Leser zum Mitdenken an. Er verbindet dabei das Faktische mit den Denkmöglichkeiten, die es erklären können. Wir werden später noch sehen, dass hypothetisches Argumentieren eng mit dem Interpretieren zusammenhängt und dass das, was Einstein hier praktiziert, eigentlich in jeder Forschungsarbeit nötig ist, und zwar dann, wenn es darum geht, zu sagen, welche Bedeutung die Ergebnisse haben könnten. Interpretieren ist immer ein Spiel mit Möglichkeiten, die gegeneinander abgewogen werden und mit deren Hilfe die Bedeutung von Fakten und Daten ergründet wird. Hypothetisches Argumentieren steht also nicht im Gegensatz zu empiri‐ scher Forschung, sondern baut gleichermaßen auf ihr auf, wie es sie auch bedingt. Reflektieren als bewusste Denktätigkeit Hypothetisches Denken ist nicht den Einsteins vorbehalten, sondern bietet sich auch im Studium als eine Sprache des Reflektierens und tentativen Argumentierens an. Fangen wir an mit dem Reflektieren als einer Art des Nachdenkens (mündlich oder schriftlich), bei dem es mehr auf das Denken selbst als auf das Ergebnis ankommt. Reflektieren bedeutet dann, die eigenen 5 Argumentieren und hypothetisches Denken 115 <?page no="116"?> Gedanken und noch genauer: das eigene Unverständnis zum Thema zu machen. Will man „Reflektieren“ von „Denken“ abgrenzen, so kann man vorsichtig sagen, dass das Reflektieren ein Denken probehalber ist. Man erkundet Gedanken und gedankliche Zusammenhänge, ohne dass man unbedingt zu einem Ergebnis kommen will. Dadurch unterscheidet es sich vom pro‐ blemlösenden Denken, das zwingend die Lösung eines Problems anstrebt. Reflektierendes Denken hingegen ist eher lösungsverzögerndes, explorie‐ rendes Denken, das den Zweck hat, mehr Aspekte, Gedanken, Zusammen‐ hänge einbeziehen zu können, als man eigentlich braucht. Man erprobt denkerische Möglichkeiten oder exploriert einen Sachverhalt dadurch, dass man gedanklichen Überschuss produziert. Reflektierendes Denken ist kein stringentes Argumentieren wie im letz‐ ten Abschnitt und operiert mehr mit Vermutungen und Überlegungen als mit Gewissheiten und zwingenden Schlüssen. Im reflektierenden Denken stehen nicht Belege im Vordergrund (wiewohl sie auch dort eingesetzt wer‐ den, wenn vorhanden), sondern plausible Zusammenhangsvermutungen. Anders als das überzeugende Argumentieren macht es den Lesenden Denk‐ angebote, die zum Nachvollziehen einladen, ohne überzeugen zu wollen. Oft überzeugen sie allerdings gerade dadurch, dass sie das Urteil den Lesenden überlassen. Reflexion bezieht sich zwar immer auf einen Gegenstand, aber im Vor‐ dergrund steht das, was man selbst über den Gegenstand denkt, die eigenen Meinungen, Haltungen, Einstellungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, Werte und Gefühle also. Dadurch wird das Reflektieren auch ein Meta-Denken: ein Nachdenken über das eigene Denken. Und insofern ist Reflektieren auch ein Kern des kritischen Denkens. Es hilft, den Blick auf die eigenen Gedanken zu richten und sie dadurch in neue Bahnen zu lenken, zu flexibilisieren oder zu verflüssigen. Wer zu viel Standardwissen lernen muss, kann durch Reflektieren wieder Bewegung in das eigene Denken bringen und damit auch die Wissensintegration beschleunigen. Es lohnt sich, etwas Zeit zu investieren, um dieser Art des Schreibdenkens auf die Spur zu kommen und etwas Routine darin zu entwickeln. Wer in der Jugend Tagebuch geschrieben hat, wird wenig Mühe damit haben, denn das Tagebuch ist die Urform aller reflexiven Texte. Wer darin ungeübt ist, wird anfangs möglicherweise wenig Freude am Reflektieren haben und sich etwas überwinden müssen, um zu passablen Resultaten zu kommen. Der Gedanke, wie für ein Tagebuch zu schreiben, kann dabei helfen, dem 116 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="117"?> Schreiben eine gewisse Leichtigkeit zu geben. Kapitel XI wird noch einmal darauf zurückkommen. Anregungen zum reflektierenden Schreiben Es gibt verschiedene Arten von Reflexionen. Es gibt wissenschaftlich gehal‐ tene Reflexionen, die in einer eher formalen Sprache gehalten sind und dem Austausch von Gedanken mit anderen dienen. Solche Reflexionen ähneln schon dem Stil wissenschaftlicher Texte wie in Einsteins Text (man vermeidet den Gebrauch des „Ich“, bewegt sich in einer etablierten Wis‐ senschaftssprache, verwendet Fachbegriffe), und sie sind gut überarbeitet, sodass sie der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Persönlich gehal‐ tene Reflexionen, im Gegensatz dazu, sind Texte, die man primär für sich selbst schreibt und die der Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken dienen. Hier kann man das „Ich“ verwenden, so oft man will und muss nicht auf die sprachliche Form achten. Persönliche Reflexionen sind keine normierte Textsorte. Man darf Alltagssprache oder Wissenschaftssprache verwenden und beide mischen, wenn es sinnvoll erscheint. Es kommt nicht so sehr darauf an, genau zu kommunizieren, denn man nutzt das Schreiben vorwiegend zum Erkunden von Gedanken, nicht zum Äußern durchdachter Urteile. Mehr noch als sonst beim Schreiben geht man davon aus, dass durch das Schreiben ein Klärungsprozess in Gang kommt, der irgendwann auch zu neuen Einsichten führt. Wenn man schriftlich reflektiert, kann man sich anfangs an einige Schritte halten, die dabei helfen, in den Fluss zu kommen. Schritt 1. Sagen, worüber man reflektieren will: Hier kann man einen Sachverhalt kurz darstellen, man kann etwas rekapitulieren, das man weiß, man kann etwas erzählen oder berichten, man kann jemanden zitieren oder Aufzeichnungen aus einer Vorlesung wiedergeben. Man muss also zunächst einen Bezugspunkt herstellen und ein Thema formulieren. Schritt 2. Einen Punkt fokussieren und ihn der Reflexion zugänglich machen: Nicht alles, was man in Schritt 1 aufgegriffen hat, lohnt sich zu diskutieren und oft sind auch mehrere unterschiedliche Aspekte dabei, die man nicht alle auf einmal aufgreifen kann. Es ist also nötig auszuwählen, und es ist sinnvoll, dabei auf das zu achten, was nicht ganz klar ist oder auf andere Weise zum Denken herausfordert. Schritt 3. Fragen stellen, um reflektierendes Denken in Gang zu setzen: Man stellt dazu Fragen, die primär an das eigene Denken gerichtet sind und erst in zweiter Linie an den Gegenstand selbst: 5 Argumentieren und hypothetisches Denken 117 <?page no="118"?> ● Was finde ich bemerkenswert an einem der Themen? Warum? ● Was berührt mich persönlich? Warum? ● Was irritiert mich? ● Was leuchtet mir ein, was nicht? ● Welches Argument gefällt mir? ● Wo fehlt mir Wissen? ● Was habe ich dazugelernt, was ist neu für mich? ● Was habe ich gedacht, bevor ich diesen Text gelesen (diese Erfahrung gemacht) habe ? ● Wie hat sich meine Meinung geändert? ● Was geht mir gegen den Strich? ● Was ist das für ein Gegenstand (Thema, Sachverhalt, Zusammenhang etc.)? ● Aus welcher Perspektive habe ich dieses Thema bisher immer gesehen? Wie Sie an diesen Fragen sehen, geht es beim Reflektieren besonders darum, schwach definierte Meinungen (Empfindungen, vage Gedanken, Unbehagen an etwas, gefühlmäßige Wertungen, Intuitionen) zu Papier zu bringen und ihnen Worte zu geben. Sie werden damit zu besser definierten Meinungen, die man in die Diskussion einbringen oder zu denen man gezielt recherchieren kann. Schritt 4. Sich mit diesen Punkten gedanklich auseinandersetzen: In diesem Schritt ist es wichtig, eine Sprache zu wählen, die zwei Dinge erlaubt: (1) ohne große Anstrengung nachzudenken (d. h. einfach zu schreiben und alltagsnahe Dinge zu sagen) und (2) hypothetisch, zu Denken. Wir haben in allen Sprachen Mittel, die uns dabei helfen, mögliche Wahrheiten zu beschreiben, wie eben anhand Einsteins Vorlesung demonstriert. Dazu verwenden wir oft den Konjunktiv II. Aber auch andere Heckenausdrücke (siehe Abschnitt III.6) helfen dabei, Behauptungen als mögliche, nicht sichere Denkinhalte zu qualifizieren. Verwenden Sie also Formulierungen wie diese: ● Es könnte auch sein, dass … ● Ich könnte mir vorstellen, dass … ● Es würde sicherlich einen Unterschied ausmachen, wenn … ● Ich habe den Verdacht, dass … ● Wenn man überlegt, dass …, dann erhält man den Eindruck, dass … ● Vielleicht verhält es sich ja so, dass … ● Was wäre denn, wenn … 118 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="119"?> ● Ist es eigentlich sicher, dass … ● Woher weiß man eigentlich, ob … ● Als alternative Erklärung fällt mir ein … ● Ich würde gerne einmal prüfen, ob … ● Meine bisherigen Erfahrungen sagen mir, dass … Mithilfe hypothetischer Formulierungen ist es Ihnen möglich, neue Gedanken zu entwickeln oder vorhandene Gedanken zu erweitern, präzi‐ sieren und sie in Bezug zu den bereits vorhandenen Gedanken zu setzen. Sie müssen sich dabei nicht darum kümmern, ob Ihre Gedanken wahr oder falsch sind, sondern müssen sie nur denkbar machen und damit auch zur Sprache bringen. Schritt 5. Abschluss finden. Dabei geht es darum, ein Ende des Nachden‐ kens zu erreichen und sich zu überlegen, was aus dem Gedachten folgt. Folgt scheinbar nichts daraus, ist es auch nicht schlimm. Man lässt es stehen, wie es ist. Vielleicht drehen sich die Gedanken morgen noch einen Schritt weiter. Das Reflektieren ist also eine Art individuell verordnetes Denktraining, mit dem Sie Ihr Denken auf ein selbst gewähltes Thema oder eine Erfahrung richten können. Durch die Niederschrift Ihrer Gedanken und durch steu‐ ernde Bemerkungen (Fragen, Vorschläge, Zwischenzusammenfassungen) halten Sie das Denken in Gang und gehen sicher, dass es sich nicht im Kreis dreht. Durch mehrmalige Draufsicht auf Ihr Thema können Sie zu einem späteren Zeitpunkt neue Gedanken zu dem bereits Gesagten hinzufügen und so über es hinausgehen. 6 Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren Eine dritte Art des Argumentierens und Denkens finden wir in Forschungs‐ artikeln und verwandten Textsorten, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ergebnisse ihrer Arbeit darstellen und begründen. Dabei stehen sie in mehrfacher Hinsicht unter Druck: Sie müssen ihre Forschung als sinnvoll und gut strukturiert erscheinen lassen. Sie müssen ihre For‐ schung an das anschließen, was andere bereits erforscht haben. Sie müssen begründen, dass ihre Forschung der Menschheit etwas bringt. Sie müssen die methodische Schlüssigkeit ihrer Ergebnisse belegen und schließlich auch noch selbst interpretieren, was ihre Ergebnisse für die Wissensentwicklung in ihrem Fach bedeuten. All das macht den Forschungsartikel zu einem wich‐ 6 Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren 119 <?page no="120"?> tigen Feld des Argumentierens, das seine eigene rhetorische Verpackung besitzt. Da gibt es kein „Hurra Leute, wir haben zwar Tolles erforscht! “, sondern da zählen penible Genauigkeit, Neutralität und Objektivität in der Darstellung. Auch im Studium werden bereits ähnliche Textarten verlangt, denn Semi‐ nar- und Abschlussarbeiten lehnen sich immer mehr an die Grundstruktur des Forschungsartikels an. Was aber noch wichtiger ist: Der Forschungsar‐ tikel prägt wissenschaftliches Denken in hohem Maße. Forschende sind in fast allen Fächern gezwungen, ihre Gedanken in die sperrige Struktur dieser Textart zu zwängen. Das ist nicht nur im Studium, sondern auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei jeder Forschungspublikation wieder eine herausfordernde Aufgabe. Der Forschungsartikel Der Forschungsartikel ist mit Abstand die wichtigste Textsorte in den Wissenschaften und dient dazu, neue Forschungsergebnisse einer Fachge‐ meinschaft mitzuteilen. Seine Entstehungsgeschichte hat Bazerman (2000) bis zu den ersten Publikationen der ersten experimentell arbeitenden Wissenschaftlergemeinschaft, der Royal Society of London, Ende des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt und gezeigt, wie eng der experimentelle Forschungsartikel mit naturwissenschaftlichem Denken und Publizieren zusammenhängt. Heute wird er in fast allen Disziplinen verwendet. Er hat eine invariante Grundform, die in praktisch allen Wissenschaften ak‐ zeptiert und verstanden wird (siehe Swales 1990, 2004). Forschungsartikel sind als Resultat wissenschaftlichen Denkens entstanden und organisieren wissenschaftliches Denken gleichzeitig - indem sie es dem Sinn empirischer Forschung unterordnen. Das ist anders als bei den rein argumentativen Textgenres, in denen Fakten und Forschungsergebnisse der Gedankenfüh‐ rung untergeordnet werden. Im Forschungsartikel ist die Darstellung der Ergebnisse das primäre Ziel und Argumente werden zur Rechtfertigung ihrer Relevanz, Methodik, Validität und zur Interpretation ihrer Ergebnisse eingesetzt. Forschungsartikel haben eine Struktur, die dem IMRD-Schema folgt, manchmal auch IMRaD genannt. Hinter diesem Kürzel verbergen sich die Begriffe „Introduction“, „Method“, „Results“, „Discussion“. Das „a“ kann für das „and“ oder für das „Abstract“ stehen. Das Abstract ist eine Kurzzu‐ sammenfassung auf maximal einer halben Seite, die dem Text vorangeht. 120 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="121"?> Abbildung 2 zeigt die konventionelle Darstellung des IMRD-Schemas, an‐ gelehnt an Swales (1990) und ergänzt durch Hinweise auf Inhalte, die häufig an dieser Stelle vermittelt werden. 122 Diskurs) • muss einen methodischen Weg angeben, wie valide Ergebnisse erzielt wurden und wie die Ergebnisse interpretiert werden können (Bewährung in der Empirie). Berichtende Darstellungsformen wie der Forschungsartikel haben eine Struktur, die dem IMRD Schema folgt, manchmal auch IMRaD genannt. Hinter diesem Kürzel verbergen sich die Begriffe »Introduction«, »Method«, »Results«, and »Discussion«, die die wichtigsten Bestandteile des Forschungsartikels darstellen. Dem Artikel vorangestellt ist ein Abstract, eine Kurzzusammenfassung auf maximal einer halben Seite, die eine Inhaltsübersicht gibt. Eine Gliederung fehlt. Abb. 2 Abstract Method Results Introduction Discussion Einführung ins Thema/ Problem Untersuchungsdesign und Vorgehen Datenerhebung Auswertung Ergebnisse in tabellar. Form Ausblick Interpretation der Ergebnisse Forschungsstand und -lücke Fragestellung Überblick Abbildung 2: IMRD Schema mit Hinweisen auf Inhalte Abb. 2: IMRD-Schema nach Swales (1990) mit Hinweisen auf Inhalte. Viele wissenschaftliche Zeitschriften verlangen in ihren Autorenhinweisen das IMRD-Schema explizit als Grundlage für empirische Publikationen. Nach innen kann es durch Unterpunkte beliebig differenziert werden. Das Schema legt nahe, dass die Methode und der Ergebnisteil die Kernelemente darstellen, während die Einleitung Forschungsstand und Relevanz darlegt und die Diskussion die Ergebnisse interpretiert und sie wieder auf die in der Einleitung dargestellte Wissensbasis rückbezieht. Die rhetorische Struktur des Forschungsartikels Die Kürze dieses IMRD-Schemas ist sowohl seine Stärke, da es an die Forschung in unterschiedlichen Kontexten angepasst werden kann, als auch seine Schwäche, weil es die innere Logik von Forschungsdarstellungen nur unzureichend abbildet. Deshalb haben wir ein etwas ausführlicheres Schema entwickelt, genannt „Forschungskreislauf “ (Kruse, 2007), das an das IMRD-Schema angelehnt ist (Abb. 3). „Kreislauf “ heißt es deshalb, weil es in der Forschung immer wieder durchlaufen wird und der Schlusspunkt oft wieder den Ausgangspunkt für neue Forschung darstellt. Es ist weniger ein 6 Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren 121 <?page no="122"?> Handlungsals ein Darstellungsschema, auch wenn sich hinter dem Bericht immer noch die Handlungen erkennen lassen. Die Logik des Schemas ergibt sich aus dem, was gesagt werden muss, damit andere die Forschungsergeb‐ nisse verstehen, ihre Entstehung nachvollziehen und in ihr vorhandenes Wissen einordnen können. Es ist also letztlich eine rhetorische Struktur, angepasst an die Bedürfnisse und Lesegewohnheiten der Adressatinnen und Adressaten. Die Anwendung des Schemas setzt ein Thema voraus, das selbst noch außerhalb des Darstellungszusammenhangs liegt und deshalb nicht im Kreis selbst aufgeführt ist. Die einzelnen Elemente lassen sich dann wie folgt darstellen, wobei am Schluss jedes Punktes eine mögliche Argumentations‐ weise in Klammern angefügt ist: Thema und Fragestellung. Dargestellt wird hier, wie das Thema ein‐ gegrenzt ist und worauf die Arbeit eine Antwort geben soll. Auch hier wird also ein Gedanke auf den Prüfstand gestellt, jedoch wird die Antwort nicht argumentativ gegeben, sondern empirisch. Die Fragestellung ist dabei durch das bestimmt, was die Arbeit durch ihre Methodik auch beantworten kann. Die Fragestellung selbst muss nicht begründet werden. Sie ergibt sich aus der Themenformulierung und bildet den Übergang zum methodischen Teil (Beispiel: „Wie entstehen und verfestigen sich Vorurteile von Kindern zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr? “). Relevanz. Hier wird dargestellt, welche Bedeutung das Thema für einen weiteren Kontext (Wissenschaft, Berufsfeld, Gesellschaft etc.) hat. Die Re‐ levanz kann sowohl aus dem Thema selbst (z. B. aus den Problemen, die mit ihm assoziiert sind) als auch aus der Forschungslücke (was bedeutet es, dass bestimmtes Wissen fehlt? ) begründet werden. Die Relevanz geht jedoch in der Regel über das rein fachliche Interesse an einem Thema hinaus und begründet, warum eine Gesellschaft Interesse an der entsprechenden Forschung oder der Auseinandersetzung mit einem Thema haben sollte. 122 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="123"?> 124 IV Argumentieren, begründen und reflektieren gehen liefern kann. Die Fragestellung selbst muss nicht begründet werden. Sie ergibt sich aus der Themenformulierung und bildet den Übergang zum methodischen Teil (Beispiel: »Wie entstehen und verfestigen sich Vorurteile von Kindern zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr? «). Relevanz. Hier wird dargestellt, welche Bedeutung das Thema für einen weiteren Kontext (Wissenschaft, Berufsfeld, Gesellschaft etc.) hat. Die Relevanz kann sowohl aus dem Thema selbst (z. B. aus den Problemen, die mit ihm assoziiert sind) als auch aus der Forschungslücke (was bedeutet es, dass bestimmtes Wissen fehlt) begründet werden. Die Relevanz geht über das rein fachliche Interesse an einem Thema hinaus und begründet, warum eine Gesellschaft Interesse an der entsprechenden Forschung oder Auseinandersetzung mit einem Thema haben sollte. Fragestellung Schlussfolgerungen Forschungskreislauf Diskussion/ Interpretation Wissenslücke Wissensstand Thema Relevanz Ergebnisse Methode und Vorgehen 3: Forschungskreislauf. Aus: Kruse (2007) Abb. 3: Forschungskreislauf. Aus: Kruse (2016). Dazu werden Gründe angeführt und kurz belegt (Beispiel: „Vorurteile sind ein gesellschaftlich relevantes Thema, das in allen sozialen Kontexten auftreten und Ursache vieler sozialer Konflikte sein kann“). Forschungs- oder Wissensstand. Bezieht sich auf das vorhandene fachliche Wissen, das über Thema und Fragestellung bereits existiert. Idealerweise soll dies das fachliche Wissen sein, das durch die Forschung er‐ weitert wird. Dazu wird ein Literaturbericht angefertigt, der die wichtigsten Forschungslinien und ihre Ergebnisse darstellt. Zudem können Argumente vorgebracht werden, die bestimmte Sichtweisen, Theorien oder Vorgehens‐ weisen anderen vorziehen (Beispiel: „die vorliegende Arbeit bevorzugt einen sozialkognitiven Ansatz, weil dieser eine mehrschichtige Interpretation erlaubt“). In Master- und Doktorarbeiten wird dieser Punkt oft durch ein eigenes Theorie-Kapitel ergänzt, da in den Forschungsartikeln nur wenig Platz für den Literaturbericht vorhanden ist. 6 Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren 123 <?page no="124"?> Forschungslücke. Hier wird benannt, warum bestimmtes Wissen un‐ zureichend ist, d. h. in sich widersprüchlich, ungenügend expliziert oder schlicht nicht existent ist („die bisherige Forschungslage zur Entstehung von Vorurteilen ist unbefriedigend, weil beinahe ausschließlich weiße Kinder in Mittelschichtkontexten untersucht wurden“). Ebenfalls können Argumente vorgebracht werden, die begründen, welche Bedeutung das Fehlen des Wissens haben mag („ohne entsprechendes Wissen kann eine Vorschul- und Grundschulerziehung nicht begründet werden.“) Methodik. Hier wird dargestellt, wie die Untersuchung vonstattenging und welche Methoden eingesetzt wurden. Dazu kann bzw. sollte alles benannt werden, was nötig ist, um das Vorgehen zu verstehen und ggf. zu reproduzieren (Materialien, Datenerhebung und -auswertung, Untersu‐ chungsdesign, Stichproben etc.). Argumente dienen hier der Begründung der Methodik und Rechtfertigung ihrer Schlüssigkeit und Validität („eine Spielsituation wurde als Grundlage für die Datenerhebung gewählt, weil sie für die Kinder weniger durchschaubar und zudem lustvoller ist als eine Un‐ terrichtssituation“). Der Begriff „Methodik“ sollte in diesem Zusammenhang weit aufgefasst werden. Es gehören nicht nur quantitative oder experimen‐ telle Methoden dazu, sondern alle forschungsrelevanten Vorgehensweisen. Je nach Disziplin und Forschungsfeld können darunter also auch qualitative, interpretative, argumentative, rein theoretische, gestalterische, konstruk‐ tive oder metaanalytische Vorgehensweisen verstanden werden. Ergebnisse. Hier werden die Ergebnisse präsentiert, nach Möglichkeit in tabellarischer Form. Es wird angesprochen, wie die Ergebnisse zu lesen sind. Eine Interpretation sollte hier noch nicht erfolgen, da das Aufgabe des nächsten Abschnitts ist. In der Praxis aber sind viele Ergebnisse nicht darstellbar, ohne schon auf ihre Bedeutung einzugehen. Interpretation und Diskussion. Hier wird die Bedeutung der Ergeb‐ nisse dargelegt. Argumente, die zur Interpretation von Forschungsergebnis‐ sen verwendet werden, sind hier zu finden. Das Argumentieren geht dabei oft ins Interpretieren und hypothetische Argumentieren über. Es werden Denkmöglichkeiten und Sichtweisen aufgezeigt. Es wird begründet, warum eine bestimmte Lesart (Interpretation, Bedeutungszuschreibung) der Daten gegenüber anderen präferiert werden sollte. Es werden auch Argumente angeführt, die begründen, warum die Gültigkeit der Ergebnisse aufgrund des methodischen Vorgehens möglicherweise eingeschränkt ist („eine mögliche Interpretation für dieses Ergebnis liefert die Selbstwerttheorie, die Vorurteile als Mittel zum Erhalt eines positiven Selbstwertes erklärt“). 124 IV Argumentieren: Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen <?page no="125"?> Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Hier wird dargelegt, was aus der Interpretation für die weitere Forschung, Praxis oder Weltsicht folgt. Hier werden oft Empfehlungen und Vorschläge für weitere Forschung gemacht oder Umsetzungsmöglichkeiten für die Praxis benannt und argu‐ mentativ begründet („die Ergebnisse legen nahe, Toleranz bereits sehr früh zum Unterrichtsthema zu machen, um den Aufbau von Vorurteilen zu verhindern“). Es ist auch darauf hinzuweisen, dass es Alternativen zur IMRAD-Struktur gibt und gerade umfangreiche monographische Forschungsdarstellungen wie Masterarbeiten, Dissertationen und Habilitationen oft einen anderen Aufbau wählen. Die grundlegenden argumentativen Muster, auf die es hier ankommt, ändern sich jedoch dadurch nicht wesentlich. Über solche Strukturen informieren z.-B. Paltridge (2002) und Swales (2004, S.-99 ff.). 6 Forschung darstellen, rechtfertigen und interpretieren 125 <?page no="127"?> V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen 1 Daten, Fakten und Quellen 2 Faktenbezug im eigenen Denken 3 Fakten und Forschung 4 Qualitätskriterien für Forschungsergebnisse 5 Arten wissenschaftlichen Wissens 6 Theorien und ihre Qualitäten Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Verbindungen des Denkens mit der Realität. Es sind vor allem Fakten und Tatsachen, die als Brücken zwischen der Welt der Gedanken und der Wirklichkeit herhalten müssen. Dargestellt wird, wie Fakten durch Forschung oder andere Methoden der Objektivierung entstehen, wie sie begründet werden und in ihrer Qualität zu beurteilen sind. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels richtet den Blick auf das, was wir unter „Wissen“ verstehen, ein Begriff, den jeder reflektiert haben sollte, der in den Wissenschaften mitreden möchte. Schließlich kommt die Bedeutung von Theorien als Makroorganisatoren des Wissens zur Sprache. Mit diesen Themen geht der Darstellungszusammenhang dieses Buches weitgehend zu einer erkenntnistheoretischen Ebene über. Erkenntnis ist immer eine kollektive Leistung, während das Denken ein individueller Prozess ist. Trotz ihrer vielen Bezüge zueinander können wir das eine nicht aus dem anderen erklären. <?page no="128"?> 1 Daten, Fakten und Quellen Für unser Denken spielen Fakten insofern eine besondere Rolle, als sie das Denken mit der Wirklichkeit verbinden. Zwar haben wir über unsere Sinnes‐ organe direkten Zugang zu Daten der Welt, aber dieser Zugang ist begrenzt, selektiv, fehleranfällig und täuschbar. Zudem ist nur noch ein Bruchteil unseres Wissens tatsächlich über die eigene Wahrnehmung vermittelt. Das meiste, was wir über die Welt wissen, stammt - über Medien oder Menschen vermittelt - aus zweiter und dritter Hand. Fakten sind also nicht einfach das, wovon wir uns selbst überzeugen können, sondern Gegebenheiten, über deren Existenz und Eigenschaften sich andere Menschen verständigt haben. Es sind Gegebenheiten, die „objektiviert“, d. h. dokumentiert, archiviert, gemessen, geprüft oder experimentell getestet worden sind. Fakten sind damit in gewisser Weise von dem Misstrauen befreit, dem persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen immer ausgesetzt sind. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass auch Fakten nicht einfach sichere und zuverlässige Zeugnisse der Welt sind. Jede Messung enthält Fehler, jedes Dokument kann gefälscht sein, jedes Bild kann durch ein Bild‐ bearbeitungsprogramm gegangen sein usw. Fakten enthalten zudem auch immer Interpretationen, denn Messungen, Dokumente, Bilder etc. verstehen sich nicht von selbst, sondern müssen in ein kommunizierbares Konzept eingebunden und gedeutet werden. Auch daran können Zweifel auftreten. Wir dürfen Fakten also nicht mit der Wirklichkeit selbst gleichsetzen und sie ebenso wenig einfach als wahr annehmen. Fakten sind gedankliche Konstruktionen, die uns der Wirklichkeit und der Wahrheit näherbringen, aber mit keiner von beiden identisch sind. Das Misstrauen gegenüber der Verlässlichkeit von Faktenwissen ist in den erkenntnistheoretischen Schulen der Postmoderne und des Konstruk‐ tivismus so stark geworden, dass diese teilweise gar keine Fakten mehr an‐ erkennen wollten. Der Mediziner und Medizintheoretiker Fleck (1935/ 1980, S. 1) hatte schon vor langer Zeit den Glauben daran erschüttert, dass Fakten und Tatsachen etwas „Feststehendes, Bleibendes, von subjektiven Meinungen des Forschers Unabhängiges“ seien. Er zeigte stattdessen, dass es eher Denkstile und Denkgewohnheiten sind, die entscheiden, was als Fakt wahrgenommen und wie eine Tatsache interpretiert wird. Fleck explizierte dies an der Entstehung des Syphilisbegriffs und den Wandlungen, denen die Deutungen ihrer Symptome im Lauf der Zeit unterworfen waren. 128 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="129"?> Wissenschaftliche Entwicklung sah er folglich eher als Entwicklung dieser Denkmuster als einen linear fortschreitenden Weg zu objektiver Erkenntnis. Flecks Problematisierung des Tatsachenbegriffs hatte ein langfristiges Echo und hat in den postmodernen und konstruktivistischen Strömungen so weit geführt, dass sie schlussendlich alles Faktische in Interpretation auflösten, wie Ferraris (2013) diese Strömung interpretiert. Der Zusammen‐ hang von Fakten und Wirklichkeit wurde radikal bezweifelt und schließlich wurde die Wirklichkeit selbst nur noch als eine Konstruktion angesehen. Wer die langen erkenntnistheoretischen Diskussionen um den Faktenbegriff nachvollziehen will, sei auf die immer noch aktuelle Zusammenstellung von Chalmers (2007) verwiesen. Es war nicht zuletzt Donald Trump, der uns aufs Neue die Bedeutung von Fakten vor Augen geführt hat. Nach 36 Tagen seiner Präsidentschaft hat die Washington Post (am 24.2.2017) nicht weniger als 140 falsche oder irreführende Behauptungen von ihm dokumentiert. Ende August 2017 waren es bereits 1000 und am Ende seiner Präsidentschaft solide 30.573 (Kessler et al., 2021). Am häufigsten (493-mal) verbreitete er die Lüge, dass unter seiner Präsidentschaft die amerikanische Wirtschaft die stärkste aller Zeiten geworden wäre. Egal, welches Maß man dafür anlegt, lässt sich diese Behauptung nicht mit Zahlen belegen. Eine seiner seltsamsten Tatsachenbehauptungen war die, dass Hillary Clintons Mehrheit bei der Wahl 2016 (sie erhielt, wie erinnerlich, etwa 3 Millionen Stimmen mehr als er, unterlag ihm aber in der Anzahl der Wahlmänner-Stimmen) durch Betrug zustande gekommen sei. Außer anekdotischen Verweisen hat Trump nie einen substantiellen Beleg für diese Behauptung erbracht. Ähnliches äußerte er nach seiner Wahlniederlage 2020, als er versuchte, dies als Ergebnis von großangelegtem Wahlbetrug hinzustellen, obwohl es keine belastbaren Indikatoren dafür gab. Er scheint nicht nur kein Verständnis dafür zu haben, was Fakten sind, sondern auch nicht zu wissen, wie man sich darüber einigen kann, was Fakt ist und was nicht. Wir verdanken Trump und den populistischen Bewegungen also eine Rückbesinnung auf das, was Fakten sind, und haben begonnen, sie wieder stärker als Voraussetzung für genaues Denken und solides Wissen über die Welt wertzuschätzen. Zudem sind sie Voraussetzung dafür, dass wir uns über die Welt verständigen können. Akzeptiert man, dass es Fakten gibt, kann man sie bezweifeln und diskutieren. Trump hingegen ersetzt Fakten durch ungedeckte Behauptungen, die er einfach so lange wiederholt, bis sie - 1 Daten, Fakten und Quellen 129 <?page no="130"?> zumindest von seinen Anhängerinnen und Anhängern - als wahr akzeptiert werden. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass mit Fakten-Checks der Realitätsgehalt von Politikeraussagen täglich geprüft und dokumentiert wird. Im Blick bleibt dabei, dass Fakten nicht einfach wahr sind, wohl aber auf verschiedene Weisen abgesichert und durch belastbare Daten belegt sind. „Fakten sind nicht beliebig“, sagt Sarasin (2016). Sie „sind […] an das menschliche Erkenntnisvermögen gebunden, variieren historisch, und sie bewegen sich nicht außerhalb unserer Sprache.“ Trotz ihrer sozialen Konstruiertheit seien Fakten nicht beliebig, fährt Sarasin fort, denn „Argu‐ mente und Behauptungen über die Wirklichkeit müssen nachvollziehbar und überprüfbar sein, sie müssen andere Diskussionsteilnehmer_innen überzeugen, und sie müssen an bisherige Diskussionen und Erklärungsmo‐ delle anschließen können.“ Vereinfacht können wir sagen, dass Fakten Gegebenheiten sind, deren Existenz wir belegen können und über deren Existenz wir uns auseinander‐ gesetzt haben. Damit verschiebt sich die Frage natürlich zu einem anderen Punkt: Was heißt „belegen“? Immerhin sind wir damit zu einem besser handhabbaren Konzept gelangt, das uns ermöglicht zu sagen, was wir tun müssen, damit wir Tatsachen dingfest machen können. Denn die Tatsache ist nicht einfach die Sache an sich, sondern die Art, wie Menschen sich mit einer Sache auseinandersetzen. Dazu gehören: ● Objektivierung: Beobachtung, Messung, Dokumentation oder andere Forschungsergebnisse ● Kommunikation: Auseinandersetzung über den infrage stehenden Sa‐ cherhalt und einschlägige Diskurse ● Deutung: theoretische Darstellung, Erklärung oder interpretative Ein‐ ordnung. Das Vertrauen auf Fakten und empirische Belege hat erst mit der Renais‐ sance und dem Aufkommen der Naturwissenschaften Eingang in das wissenschaftliche Denken gefunden. Damals begannen Wissenschaftler wie Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton den Himmel mit Fernrohren zu betrachten und stellten erstaunt fest, dass es mit dem Fernrohr sehr viel mehr Sterne zu sehen gibt, als mit dem bloßen Auge. Allein durch Kontemplation oder logische Deduktion war also der Himmel nicht zu erkunden. Die Verankerung erfahrungsbasierter, experimenteller Methoden in den Wissenschaften war ein Prozess, der wesentlich durch die Gründung 130 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="131"?> erster wissenschaftlicher Gesellschaften gefördert wurde, wie der 1660 ins Leben gerufenen Royal Society of London und anderer Akademien der Wissenschaft. Erst mehr als ein Jahrhundert später fand die empirische Forschung Eingang in die Universitäten. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde in der Humboldt’schen Universitätsreform dann Forschung zum Programm erhoben und die Fakultäten wurden mit Laboren, Sternwarten, botanischen Gärten, mechanischen Werkstätten usw. ausgestattet, damit sie ihrem neuen Auftrag zu originärer Forschung gerecht werden konnten. Heute ist die Gewinnung von empirischen Daten und quellenbasierten Erkenntnissen als primäres Ziel der Forschung an allen Hochschulen fest etabliert. Wenn von Fakten und Forschung die Rede ist, dann sind nicht allein die Naturwissenschaften gemeint. Auch die Sozial-, Sprach- und Geisteswissen‐ schaften müssen belegen, was sie behaupten, nur können sie ihre Daten seltener experimentell gewinnen als die Naturwissenschaften. Ihre Quellen sind anders geartet, erfordern aber nicht minder aufwändige Verfahren, um aus einer Bearbeitung von historischen Quellen beispielsweise sichere Aussagen treffen zu können. 2 Faktenbezug im eigenen Denken „Fakt“ ist also keine ganz einfache wissenschaftstheoretische Kategorie. Fakten können wir als Ereignisse oder Gegebenheiten bezeichnen, die nach Lage der Dinge nicht bezweifelt werden müssen, auch wenn man sich mit dem Begriff „wahr“ hier wie überall schwertut. Dass die Antarktis von Eis überzogen ist, darf als Fakt gelten, auch wenn die wenigsten von uns das selbst gesehen haben. Dass das Eis darauf schmilzt, darf ebenfalls als Fakt gelten, sodass eines Tages kein Eis mehr vorhanden sein mag. Glücklicher‐ weise kann auch die Eisschmelze eines Tages vorbei sein. Gegebenheiten können sich also ändern und somit kann sich auch das, was wir für Fakten gehalten haben, schlussendlich als Irrtum erweisen oder auf Täuschungen beruhen. Dennoch haben wir keine besseren Indikatoren über den Zustand der Welt als Fakten, und brauchen sie, um uns in der Welt zu orientieren. Die meisten Fakten, die wir über die Welt wissen, sind nicht unverän‐ derbar. Rosling (2018) zeigt, welche Probleme entstehen, wenn Menschen an überholtem Faktenwissen aus vergangenen Zeiten festhalten. Er hat dazu das, was verschiedener Gruppen zu globalen Fragen wie Armut, medizinische Versorgung, Ernährung, Bildung, Bevölkerungswachstum, 2 Faktenbezug im eigenen Denken 131 <?page no="132"?> Energieversorgung, Wasser etc. annehmen, erfragt und dann mit den aktu‐ ellen Statistiken konfrontiert. Bei Befragungen an sehr großen Stichproben weltweit stellte er fest, dass es den hartnäckigen Glauben gibt, dass die Welt in zwei Hälften, in Reiche und Arme aufgeteilt ist, dass die Mehrheit der Menschen in extremer Armut lebt, und dass den Menschen der ärmeren Länder kaum Bildung, Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser zugänglich ist. Dem steht als Fakt gegenüber, dass es die Kluft in dieser Ausprägung nicht mehr gibt, sondern sich die Mehrheit der Weltbevölkerung heute im Bereich des mittleren Einkommens bewegt, während sich die extreme Armut auf der Welt in den letzten 20 Jahren halbiert hat. Ähnliche Fehlurteile fand er in Bezug auf den Impfstatus von Kindern, den Bildungsgrad von Frauen, die Kindersterblichkeit usw. Fakten verändern sich und es ist eine lebenslange Aufgabe, ihre Veränderungen nachzuverfolgen. Rosling sieht mehrere Ursachen für diese Fehlinterpretationen der Welt. Zum einen stammen sie, wie gesagt, daher, dass sie auf Zahlen aus früheren Zeiten beruhen, die einmal wahrgenommen, aber nie korrigiert wurden. Zum anderen bestünden sie aus „Instinkten der Informationsverarbeitung“, etwa der Annahme, alles werde immer schlimmer, der Annahme einer Kluft zu anderen Kulturen, der Vermutung, dass sich alles linear weiterent‐ wickelt, dem Bedürfnis nach Schuldzuweisungen usw. Wer an chronischem Pessimismus über den Zustand der Welt leidet, kann aus Roslings Daten tatsächlich neue Hoffnung schöpfen, besonders aus den Seiten 78‒81, auf denen im Detail aufgelistet wird, was auf der Welt in den letzten hundert Jahren alles besser geworden ist. Wenn Fakten Anker für das Denken und für die Gestaltung von Weltbil‐ dern sind, dann ist es lohnenswert, Informationsquellen zu konsultieren, die die Welt in Zahlen abbilden. Die erste, die ich empfehle, ist die US-basierte NGO www.humanprogress.org, die erklärtermaßen ein positives Bild von „Fortschritt“ aufbauen will und dazu aus den unterschiedlichsten Quellen Daten zusammenstellt. Hier einige exemplarische Einträge der Webseite: ● Im Jahr 1950 lag die Lebenserwartung bei der Geburt bei 48.5 Jahren, 2019 hingegen bei 72.8 Jahren. Eine Steigerung von über 50-Prozent. ● Von 1.000 Lebendgeburten starben 1950 noch 20.6 Kinder vor dem 5. Lebensjahr. Das reduzierte sich auf 2.7 im Jahr 2019. Eine Reduktion von 87-Prozent. 132 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="133"?> ● Zwischen 1950 und 2018 stieg das Durchschnittseinkommen pro Person von 3.296 Dollar auf 15.138 Dollar. Inflationsbereinigt ist das eine Steigerung von 359-Prozent. ● Im Jahr 1950 lag die zu erwartende Schuldauer pro Kind bei 2.59 Jahren, 2017 hingegen bei 8 Jahren. Das macht eine Steigerung von 209 Prozent. (Alle Angaben aus: www.humanprogress.org/ ylin/ ). Ähnliche Angaben findet man für einige Tausend weitere Variablen, die jeweils nach Ländern aufgeschlüsselt sind und über längere Zeitverläufe dokumentiert sind. Unter https: / / ourworldindata.org/ findet sich eine ähnliche gemeinnüt‐ zige Unternehmung, die in England stationiert ist und mit der Universität Oxford zusammenarbeitet. Sie ist, anders als humanprogress.org, mehr auf Probleme als auf positive Entwicklungen ausgerichtet und verfolgt den Ver‐ lauf von globalen Problemen wie Armut, Krankheit, Hunger, Klimawandel, Krieg, existentielle Risiken und soziale Ungleichheit. Auch hier finden sich einige Tausend Diagramme zur Entwicklung verschiedenster Indikatoren für die jeweilige Entwicklung. Sowohl um den Fortschritt der Welt, als auch um die hartnäckigsten globalen Probleme zu verstehen, bieten diese beiden Webseiten statistische Grundlagen. Über die Probleme, die mit der Erhebung von Statistiken und deren Verarbeitung verbunden sein können, sind sich die Gestalterinnen und Gestalter dieser Webseiten nur zu bewusst. Alle Daten sind in gewisser Weise fragwürdig, aber es gibt auch keinen Zweifel daran, dass die vorhan‐ denen Daten eine bessere Grundlage sind, um Urteile zu fällen, als dies ohne sie möglich wäre. 3 Fakten und Forschung Die Gewinnung von Daten und verlässlichem Wissen kann sehr unter‐ schiedliche Formen annehmen, und es ist unmöglich, dies hier umfänglich darzustellen. Eine kurze, typisierende Übersicht (ohne Gewähr auf Vollstän‐ digkeit) ist jedoch sinnvoll, um den Bogen vom Denken zu den Fakten zu spannen und um klar zu machen, dass kritisches Denken ohne Verständ‐ nis von Forschungsprozeduren und Verwendung von forschungsbasiertem Wissen nicht möglich ist. Die wichtigsten Unterscheidungen, die wir in Bezug auf verschiedene Arten von Forschung treffen können, sind folgende: 3 Fakten und Forschung 133 <?page no="134"?> Experimentell vs. naturalistisch Diese Unterscheidung fußt darauf, dass eine bestimmte Art von Forschung in den Gegenstand (oder in die Bedingungen, unter denen der Gegenstand existiert) eingreift, andere aber nicht. Will ich Unterrichtsforschung ma‐ chen, so kann ich beobachten, was in gegebenen Unterrichtsprozessen passiert (naturalistische Forschung). Ich kann aber auch den Unterricht variieren oder ein neues Unterrichtselement einführen und dann verglei‐ chen, welcher Unterschied sich zu einem nicht beeinflussten Unterricht ergibt (experimentelle oder quasi-experimentelle Forschung). Ich kann als Geologe in die Berge gehen, um mir Gesteinsformationen anzuschauen, sie zu prüfen, zu dokumentieren und zu beschreiben (naturalistisch). Ich kann aber auch Gesteinsproben verschiedener Art sammeln und dann im Labor unter kontrollierten Bedingungen auf ihre Festigkeit oder Beschaffenheit prüfen (experimentelles Vorgehen). Experimentelle Forschung wird in vielen Disziplinen unter Laborbedin‐ gungen betrieben, wo bestimmte Effekte ohne die in der Natur immer vor‐ handenen Störgrößen hervorgerufen werden können. Bei experimenteller Forschung braucht man mindestens zwei Beobachtungsgrößen („Variablen“ genannt), die in Bezug auf ihren Wert variieren. Das können physikalische Parameter (wie Größe, Gewicht, Geschwindigkeit, Dichte etc.) sein, aber auch psychologische oder soziologische Größen (wie Alter, Intelligenz, so‐ zialer Status, Ausmaß an Depressivität etc.). Beim Experimentieren variiert man eine Variable systematisch, d. h., man erhöht z. B. den Druck auf ein bestimmtes Material systematisch in definierten Stufen (unabhängige Variable) und misst in Abhängigkeit davon, dessen Dichte, Biegsamkeit, Bruchfestigkeit etc. (abhängige Variable). In komplexeren Untersuchungen kann man mehrere unabhängige oder auch mehrere abhängige Variablen einsetzen, um deren Wechselwirkungen zu untersuchen. Experimentelle Untersuchungstechniken sind die einzigen, die zu sicheren kausalen In‐ terpretationen berechtigen, z. B. über die Verursachung von Brüchen in bestimmtem Material oder die Wirkung von Hitze auf die Festigkeit von Material. Auch naturalistische Forschung ist empirisch ausgerichtet. Sie registriert, beobachtet, beschreibt, inventarisiert oder sammelt Dinge, Ereignisse oder Gegebenheiten. Oft werden die gesammelten Objekte auch bearbeitet, kon‐ serviert und aufbereitet. Sammlungen waren anfangs in der Biologie und Medizin sehr wichtig und sind es auch heute noch in den historischen 134 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="135"?> oder archäologischen Wissenschaften. Naturalistische Forschungsansätze sind im Kern deskriptiv und erlauben keine sicheren Aussagen über kau‐ sale Beziehungen, wohl aber Schlüsse darauf. Die wichtigsten Tugenden naturalistischer Forschungen liegen im Bereich der Extension: Sie geben Auskunft über die Breite eines Phänomens und seine Variabilität: Welche Erscheinungsformen nimmt eine Krankheit an, welche Romane hat eine Autorin publiziert, welche Unterarten hat eine bestimmte Tiergattung etc. Quantitativ vs. qualitativ Diese Unterscheidung dreht sich darum, ob die Datenerhebung quantitati‐ ver Art ist oder nicht. Quantitative Forschung verlangt genaues Messen, Registrieren oder Auszählen. Qualitative Forschung hingen beruht auf nicht quantifizierten Daten, die in der Regel sprachlicher oder symbolischer Natur sind (Texte, Aussagen, Bilder, Kulturzeugnisse). Am häufigsten findet man in den qualitativen Ansätzen Interviews, die Informationen aus den Aussagen anderer Menschen gewinnen. Auch Gruppenbefragungsmethoden (Fokus‐ gruppen) sind geeignet. Interpretative Verfahren wie das der teilnehmenden Beobachtung können ebenfalls zu den qualitativen Verfahren gezählt wer‐ den, solange sie interpretativ, nicht quantifizierend vorgehen. Qualitative Verfahren funktionieren nicht unabhängig vom Urteil der Beobachter, sondern verlangen nach Interpretation, die begründet und nachvollziehbar sein muss. Qualitative Ansätze erlauben es, Tiefendimensionen anzuspre‐ chen, die rein quantitativen Ansätzen nicht zugänglich sind. Quantitative Vorgehensweisen können, müssen aber nicht experimentell sein. Typisch für sie ist die Transformation von Gegebenheiten in Maßeinheiten, was sie für statistische und mathematische Zugänge öffnet. Theoretisch vs. empirisch Zur theoretisch ausgerichteten Forschung gehören Ansätze, die Ergebnisse allein mit gedanklichen Mitteln erzielen. Auch sie generieren in der Regel Daten (z. B. aus Auswertungen von primärer Forschung, aus dem Vergleich von Theorien, durch Systematisieren oder das Gewinnen von Argumenten). Sie können zu Theorieentwicklungen oder Modellierungen führen, ebenso wie zum Vergleichen von Theorien oder zur sekundären Auswertung von Forschungsergebnissen (Meta-Analysen). Auch das Argumentieren in Form von Abwägen, Vergleichen und Begründen von Meinungen, wie das etwa in der Philosophie oder den Rechtswissenschaften geschieht, gehört zu diesen 3 Fakten und Forschung 135 <?page no="136"?> Verfahren. Bei den Fragen, wie ein bestimmtes Gesetz anzuwenden, wie ein Sachverhalt strafrechtlich zu beurteilen oder eine Rechtsnorm zu inter‐ pretieren sei, wie ein bestimmter philosophischer Standpunkt zu bewerten oder welche von zwei Meinungen zu bevorzugen sei, sind argumentative Lösungen zu finden. Solche Ansätze sind hochgradig diskursiv angelegt, d. h., sie müssen immer die Gesamtheit der (relevanten) Meinungen in Rechnung ziehen und deren jeweilige Begründungsapparate untersuchen, ehe sie zu Lösungen kommen. Nicht zu vergessen sei hier die Mathematik, die Wissen allein mit logisch-mathematischen oder geometrischen Mitteln generiert. Entwicklung und Design vs. Forschung In diesem letzten Gegensatzpaar wird Forschung (egal in welcher der eben angeführten Varianten) in Gegensatz zu Entwicklungsprozessen gesetzt, wie sie traditionell in den Ingenieurwissenschaften üblich sind. Zum Ent‐ wickeln zählen wir alles, was mit dem Gestalten, Konstruieren, Prüfen, Implementieren oder Erfinden zu tun hat. Auch in der Informatik und ihren Anwendungsfeldern ist die Entwicklung (z. B. von Programmen) wichtig, ebenso wie in der Architektur oder den Designwissenschaften. Die Forschungslogik ist in Entwicklungs- und Designprojekten eine andere als in der Forschung, da es nicht um das Füllen einer Wissenslücke, sondern eher um das Beheben einer technologischen Lücke geht. Entsprechend muss man den Stand der Technologie darstellen, nicht den Wissensstand. Es wird etwas Neues hergestellt (konstruiert, erprobt), um die technologische Lücke zu schließen. Auch Implementierungen (Umsetzungen, Anwendungen), Gestaltung (Design und Formschöpfung) sowie die Prüfung von Technik (Funktionsprüfungen, Leistungsmessung, Fehlerbeseitigung, Usability) ge‐ hören zu diesem Forschungsbereich. Seine Stärke liegt naturgemäß darin, dass etwas Neues und Nützliches produziert oder geprüft wird. Funktiona‐ lität, Effizienz, Verwendung („use“) und Usability sind Kriterien, die zu den in den Wissenschaften üblichen Wahrheitskriterien hinzukommen. 4 Qualitätskriterien für Forschungsergebnisse Die Frage, die sich im Umgang mit Forschungsergebnissen stellt, ist: Was ist ein guter Beleg? Womit kann man wissenschaftliche Argumente und Aussagen am besten begründen? Genau betrachtet, verwenden wir unend‐ 136 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="137"?> lich viele unterschiedliche Belegarten, die in jedem wissenschaftlichen Fach anders ausfallen, und es ist unmöglich, auch nur halbwegs eine Übersicht zu geben. Es haben sich jedoch einige fachübergreifende Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe man die Zuverlässigkeit von Daten und Forschungsergebnissen beurteilen kann. Etliche von ihnen sind statistischer Natur, sodass man sie numerisch ausdrücken kann. Hier sind die wichtigsten von ihnen: Validität Forschung muss Rechenschaft darüber ablegen, in welcher Weise ihre Ergebnisse generalisiert werden können, d. h., wie weit sie Gültigkeit für das besitzen, was erklärt werden soll. In der Regel spricht man in dem Zusammenhang von Validität, womit gemeint ist, ob das, was gemessen oder erhoben wurde, mit dem, was erklärt werden sollte, identisch ist, ob also beispielweise von einer empirisch gewählten Stichprobe auf eine Gesamtheit von Objekten oder Ereignissen geschlossen werden kann. Bei stichprobengebundenen Arbeiten kommt es darauf an, ob die Stichprobe repräsentativ ist, d. h. eine Art Abbild der Grundgesamtheit darstellt und dementsprechend einen Schluss auf sie zulässt. Von Validität spricht man aber auch in Bezug auf einzelne Messinstrumente, deren Validität dann gegeben ist, wenn sie genau das messen, was sie zu messen vorgeben. Objektivität Die Objektivität von Forschung ergibt sich daraus, ob die Ergebnisse unab‐ hängig vom Wirken der forschenden Personen erzielt wurden. Paradebei‐ spiel für mangelnde Objektivität sind pharmakologische Untersuchungen, bei denen die Wirkung des Medikaments von der Erwartung der Forscherin oder des Forschers abhängig sind. Wissen diese nämlich, wer den Wirkstoff und wer das Placebo erhält, dann kann ihr Verhalten diesen Versuchsper‐ sonen gegenüber den Krankheitsverlauf beeinflussen. Deshalb macht man Doppelblindversuche, in denen weder die Patienten noch die Forscherinnen wissen, wer das eine und wer das andere erhalten hat. Gleiches gilt für die pädagogische Forschung, in der das Wissen von Versuchsleiterinnen und Versuchsleitern wie auch von den Unterrichtenden die Ergebnisse nachhaltig beeinflussen kann. 4 Qualitätskriterien für Forschungsergebnisse 137 <?page no="138"?> Reliabilität Mit „Reliabilität“ fassen wir Aussagen über die Zuverlässigkeit von Daten zusammen. Nehmen wir an, wir hätten Schulkinder Aufsätze schreiben lassen, weil wir ihre Textproduktionsfähigkeiten erfassen wollen. Um ihre Texte zu beurteilen, müssen wir ein Ratingverfahren einsetzen, d. h. eine Beurteilung der Textqualität vornehmen. Als Maßstab für die Zuverlässig‐ keit der Daten ließe sich der Prozentsatz an Übereinstimmung definieren, den Rater bei der Einschätzung der Aufsätze erzielen. Eine hohe Überein‐ stimmung impliziert, dass die Beurteilungen von den Ratern unabhängig sind (sie werden nur von den Aufsätzen bestimmt, nicht vom subjektiven Urteil der Rater). Andere Maße für Reliabilität entstehen aus der Intra-Rater Reliabilität (Wiederholung der Einschätzung durch die gleiche Person), aus Messwiederholungen (Mehrfachanwendung eines Messinstruments bei den gleichen Ereignissen) oder aus der inneren Konsistenz der Messungen (wenn ein Gesamtwert sich aus mehreren separaten Messwerten zusammensetzt, sollte jede beliebige Hälfte zu annähernd gleichen Gesamtwerten führen). Konfidenzintervall und Messfehler Ein anderes Konzept, um die Genauigkeit statistischer Aussagen zu messen, beruht auf der Annahme, dass die Genauigkeit der Schätzungen von Werten nicht nur von der Stichprobengröße, sondern auch von einem Messfehler abhängen, der der Ungenauigkeit des Messinstruments geschuldet ist. Der Messfehler wird in der Statistik als Größe angesehen, die sich umgekehrt proportional zur Reliabilität verhält. Ist ein Messverfahren hundert Prozent reliabel, so sind keine Fehler zu erwarten. Die Reliabilität wäre 1.0 und der Messfehler 0. Wenn der Messfehler bekannt ist, dann kann man für eine Messung auch ein Vertrauensintervall (auch Konfidenzintervall oder Vertrauensbereich genannt) angeben, in das mit gewisser Wahrscheinlich‐ keit der wahr Wert fällt. Häufig gewählt werden Konfidenzniveaus von 95 % oder 99 %. Würde man beispielsweise bei einer Wahlumfrage erfahren, dass die X-Partei 20 % erhalten würde, so könnte ein Konfidenzintervall aussa‐ gen, dass mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit das wirkliche Ergebnis zwischen 18,5% und 21,5% liegen wird. Je genauer das Erhebungsverfahren und je größer die Stichprobe, desto kleiner wird das Konfidenzintervall ausfallen (was heißt, dass die Vorhersage genauer sein wird). 138 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="139"?> Signifikanz Statistische Signifikanz ist eines der wichtigsten Konzepte, um die Gültigkeit von Ergebnissen aus stichprobengebundenen Untersuchungen zu beurtei‐ len. In der Regel werden damit Unterschiede zwischen Mittelwerten geprüft, und zwar danach, ob ein Unterschied noch durch Zufall erklärt werden kann oder auf reale Gegebenheiten in der Grundgesamtheit zurückzuführen ist. Ein Signifikanztest prüft, genau genommen, wie groß die Wahrschein‐ lichkeit für das Zustandekommen eines Ergebnisses ist unter der Annahme, dass die Nullhypothese gilt. Hätten wir beispielsweise in zwei Stichproben von je 50 Kindern aus zwei unterschiedlichen Kindergärten (die vielleicht mit unterschiedlichen Konzepten arbeiten) einen Mittelwertsunterschied von 10 Punkten in einem Test zur sozialen Intelligenz gefunden, so würden wir uns fragen, ob dieser Unterschied tatsächlich auf die unterschiedlichen Konzepte zurückzuführen ist, oder nur ein Zufallsergebnis darstellt. Ein Signifikanztest würde nun kalkulieren, wie wahrscheinlich es wäre, den gefundenen Wert zu erhalten, wenn die Nullhypothese (d. h., es gibt keinen Unterschied) wahr wäre. Als untere Grenze für eine Akzeptanz der Prüfung wurde ein Wert von 0.05 % angenommen, was bedeutet, dass in einem von 20 Fällen das Ergebnis noch durch Zufall zustande gekommen sein könnte. Entsprechend wäre ein Signifikanzniveau von 0.01 nur noch in einem von hundert Fällen durch reinen Zufall (bei Gültigkeit der Nullhypothese) zu erklären. Ein signifikantes Ergebnis sagt dementsprechend nichts über die Wahr‐ heit von Ergebnissen aus, sondern hilft nur, Ergebnisse gegen Zufallsbe‐ funde abzusichern. Ein signifikanter Mittelwertunterschied ist ein Hinweis darauf, dass es sich um einen tatsächlichen Unterschied handelt. Es gibt aber keine absolute Sicherheit und immer bleibt eine Restwahrscheinlichkeit, die gegen die Gültigkeit des Ergebnisses spricht. Ein hoch signifikantes Ergebnis ist dabei „belastbarer“ als ein schwach signifikantes. Effektstärke Die Effektstärke ist ein statistisches Maß, das die Wirksamkeit von In‐ terventionen ausdrückt. Es sagt uns also, wie groß der Einfluss einer Intervention wie z. B. einer Behandlung oder eines Unterrichtprogramms auf eine Zielvariable ist. Während Signifikanz nur die Absicherung eines Ergebnisses gegenüber dem Zufall bedeutet, drückt die Effektstärke die Größe der Wirkung in vergleichbarer Weise aus. Will man also wissen, 4 Qualitätskriterien für Forschungsergebnisse 139 <?page no="140"?> ob eine neue Leselernmethode Auswirkungen auf die Lesekompetenz von Grundschulkindern hat, so würde man vielleicht zwei Klassen teilen, und je eine Hälfte mit der neuen Methode unterrichten. Die Effektstärke würde die relative Wirksamkeit der neuen Methode gegenüber der traditionellen in einer statistischen Kennzahl ausdrücken. Die bekannteste Formel zur Berechnung von Effektstärken stammt von Cohen (1988), der den Wert d als Maß für Effektstärke eingeführt hat. Eine Effektstärke von 0 würde bedeuten, dass kein Effekt vorhanden ist. Unter 0.2 gelten Effektstärken als gering oder vernachlässigbar, über 0.5 als bedeutsam und über 0.8 als hoch. Der Wert kann über 1.0 steigen. Die Berechnung von Effektstärken ist vor allem in den angewandten Disziplinen von Bedeutung, wenn es um die Wirkung von Interventionen geht, wie das in der Medizin, Psychologie oder Pädagogik der Fall ist. So lässt sich sagen, ob eine Trainingsform einen positiven Effekt auf die Leistung hat, eine Unterrichtsform wirksamer als andere ist oder ein Medikament eine Wirkung auf den Krankheitsverlauf hat. In Metaanalysen können die Ergebnisse aus mehreren Untersuchungen zu durchschnittlichen Effektstärken zusammengefasst werden. Viele An‐ sätze, die sich „evidenzbasiert“ nennen, bauen auf dieser Vorgehensweise auf und unterstützen wirkungsvolles fachliches Handeln entlang solcher Effektstärkestatistiken. Funktionalität und Usability Technologische Forschung generiert nicht einfach Wissen, sondern kon‐ struiert, gestaltet, implementiert oder testet Technologien oder technische Produkte. Diese Art der Forschung zielt darauf ab, herauszufinden, ob technische Produkte ihren Zweck optimal erfüllen und von Nutzerinnen und Nutzern als solche auch akzeptiert und verwendet werden können. Erkenntnis bezieht sich hier nicht auf Feststellung von Wahrheit, sondern im weitesten Sinne auf Funktionalität von Technik. Als wichtigste Qualitäts‐ kriterien für technische Produkte nennt Czichos (2000, S.-3 f.): ● Funktionalität: Zuverlässige Wirkungsweise, Einfachheit, Robustheit, Genauigkeit und hohe Gebrauchsdauer ● Sicherheit: Minimierung von Risiken ● Wirtschaftlichkeit: Sparsamkeit und optimales Verhältnis von Nutzen zu Aufwand 140 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="141"?> ● Umweltverträglichkeit: Sparsamer Umgang mit Ressourcen, rohstoff‐ arme Konstruktion, hohe Lebensdauer, geringe Emissionen und gesi‐ cherte Abfallversorgung Technologische Forschung reflektiert diesen Wertekanon und kann jeden von ihnen zum Zentrum von Forschungsbemühungen machen. Etwas an‐ ders gelagert sind die Dinge in den Fächern Design und Architektur, die neben der funktionalen auch noch die ästhetische Dimension von Produkten berücksichtigen, was einen eigenen Wertekanon impliziert. Reflektierte Subjektivität Viele Forschungsarbeiten aus dem qualitativen Bereich erfordern subjek‐ tive Einschätzungen der Untersuchenden, wie z. B. bei der Auswertung von Interviews oder teilnehmenden Beobachtungen. Hier geht es nicht um reproduzierbare Daten, sondern darum, einmalige Gegebenheiten zu erfassen (Erfahrungen, Meinungen, Erzählungen, biographische Prägungen von Menschen). Entsprechende Forschungsmethoden müssen also auf Be‐ gegnung aufbauen und müssen sowohl die Interaktion selbst als auch die Verarbeitung der Begegnung durch die Forschenden reflektieren, um sie damit nachvollziehbar zu machen. Reflektiertheit der Eigenbeteiligung ist dabei ein Mittel, um den Einfluss der Subjektivität der Forschenden, wenn nicht auszuschalten, so doch wenigstens transparent zu machen. 5 Arten wissenschaftlichen Wissens In Wissenschaft, Gesellschaft und Studium hat man es nicht einfach mit geprüften Fakten zu tun, sondern mit einer sehr viel breiteren Klasse von Erscheinungen, die wir „Wissen“ nennen. „Wissen“ ist ein Schlüsselbegriff nicht nur für die Wissenschaften selbst, sondern auch für eine ganze Epoche. Wir leben, so hören wir immer wieder, in einer „Wissensgesellschaft“, und Wissen sei der „Rohstoff “, aus dem Wert geschaffen werde, nicht mehr Erz, Kohle und Kupfer. Wenn wir individuell mit Wissen umgehen, so geht es nicht nur um das, was wir mit Forschungsdaten unmittelbar belegen können, sondern auch um das, was uns aus Fach- und Lehrbüchern, Ratgebern, Wikipedia, Hand‐ büchern und Zeitungen entgegenkommt: Eine Vielfalt von Publikationen und Darstellungen zu Themen, die alle den Anspruch haben, uns etwas zu 5 Arten wissenschaftlichen Wissens 141 <?page no="142"?> berichten, das Substanz hat und nicht einfach ausgedacht ist. Im Studium haben Sie es heute in jedem Fach mit einem ganzen Meer an Wissen zu tun, in dem Faktenbezug mit Theorie, Meinung, Illustration und Interpretation bunt gemischt ist. Heute löst man sich davon, zu glauben, dass es eine universelle Definition geben kann, die alle Arten des Wissens abdeckt (z. B. Ammon 2007). Wissen ist ein summarischer Begriff für alle Aussagen, die sich besser begründen lassen, als das durch bloße Spekulation möglich wäre. Wissenschaftliches Wissen verlangt über empirische Fundierung hinaus begriffliche Klärung, kollegiale Begutachtung, sorgfältige Analyse und praktische Erprobung. Zwei Dinge verlangen besondere Beachtung: Erstens drückt der Be‐ griff „Wissen“ aus, dass uns Fakten nicht alleine entgegentreten, sondern dass sie immer im Verbund auftreten, das heißt, dass sie in Theorien, Forschungsdarstellungen, Handbüchern, Übersichtsartikeln, Karten, Com‐ puterprogrammen, technischen Geräten etc. miteinander verbunden sind. Der wichtigste Schritt, der von der Tatsache zum Wissen führt, besteht in der Syntheseleistung, die aus Fakten Wissenssysteme macht und zur Integration vieler einzelner Fakten und Forschungsergebnisse in konsistente theoreti‐ sche (oder auch technische) Strukturen führt. Zweitens ist Wissen nur als kollektives Phänomen darstellbar. Wissenschaftliches Wissen ist nicht im Besitz einzelner Personen, sondern ist Produkt und in gewisser Weise auch Eigentum von (nicht ganz einfach zu definierenden) Fachgemeinschaften, die sich die Arbeit in der Wissenskonstruktion teilen und sich in der Darstellung von Wissen aufeinander beziehen. Diese Fachgemeinschaften können wissenschaftlicher Art sein, sie können aber auch im Journalismus, NGOs, Vereinen, oder digitalen Netzwerken bestehen. Bleiben wir aber hier bei den wissenschaftlichen Kontexten. Was wir in den Wissenschaften konkret als „Wissen“ bezeichnen, ist naturgemäß in jeder Disziplin etwas anderes, und es wird in der folgenden Aufzählung vermutlich nicht möglich sein, allen Disziplinen gerecht zu werden. Wenn in der Geographie eine Landkarte erstellt wird, so enthält diese ein anders geartetes Wissen, als wenn in den Religionswissenschaften ein neu gefundener historischer Text (wie z. B. die Qumran- Schriften) interpretiert wird oder wenn in der Verfahrenstechnik ein Patent zu einer neuen Herstellungsmethode von Batterien angemeldet wird. Zunächst müssen wir zwischen Wissen und Wissensdarstellung unter‐ scheiden. In den drei gerade genannten Beispielen ist das Wissen in unter‐ schiedlichen Medien enthalten, einmal in einer Landkarte (Geographie), 142 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="143"?> im zweiten Fall in einem wissenschaftlichen Text über einen historischen Text (Religionswissenschaft) und im dritten Fall als technisches Gerät, des‐ sen Konstruktion einer Patentschrift anvertraut wird. Andere Medien, die Wissen transportieren können, sind Verzeichnisse, Computerprogramme, Tabellen, Webseiten oder Formeln. Sprache ist in der Regel an allen Wissens‐ darstellungen beteiligt, da sie das primäre sinnbildende Medium ist, jedoch gibt es sehr viel mehr Symbolsysteme mathematischer oder graphischer Art, die zusätzlich eingesetzt werden können. Wenn Wissen im Text und in anderen Medien nur dargestellt ist, wo befindet es sich dann eigentlich? Wir müssen annehmen, dass das Wissen selbst etwas ist, das nur in unseren Köpfen existiert. Wissen ist immer an denkende Menschen gebunden, die es verstehen, verarbeiten, verwenden und kommunizieren. Außerhalb menschlicher Diskurse gibt es niemanden, der davon Gebrauch machen könnte. Wissen wird also nur dadurch leben‐ dig, dass wir es denken, diskutieren oder einsetzen. Auf dem Papier oder in einem Computerprogramm ist es nur zwischenzeitlich deponiert. Nicht zuletzt deshalb sind die Fachdiskurse so wichtig, da die Menschen, die sie führen, in Wissens- und Interpretationsgemeinschaften eingebunden sind, in denen Wissen nicht nur gemeinsam entwickelt und vermittelt wird, sondern in denen es die Basis seiner Existenz hat. Das Wissen sitzt also nicht in den Büchern und Computern, sondern beide dienen nur dem Transport und der Aufbewahrung von Wissen. Das soll die Rolle der Medien nicht schmälern, die in vielfacher Weise bestimmte Wissensarten erst ermöglichen. Geographisches Wissen wird zwar erst durch Landkarten konstituiert, aber durch Menschen geschaffen, interpretiert und verwendet. Jedes neue Medium erlaubt komplexere und differenziertere Darstellungsweisen und trägt damit auf eine neue Weise dazu bei, Wissen zu konstruieren. Das Medium wird aber - gleichgültig wie differenziert, dynamisch, vielschichtig es sein mag - nie das Wissen selbst konstruieren, interpretieren oder verwenden können, gleichgültig wie viel KI es enthält. Es wird immer nur Erfüllungsgehilfe für menschliche Erkenntnisanstrengungen sein. Wichtiger als eine definitorische Bestimmung ist eine konkrete Aufzäh‐ lung von Arten des Wissens, die wir in den Wissenschaften schätzen. Hier eine kurze, typisierende Zusammenstellung. Die folgende, ist nicht um der Details willen wichtig, sondern um der Vielfalt willen. 5 Arten wissenschaftlichen Wissens 143 <?page no="144"?> Forschungsergebnisse Oft werden Forschungsergebnisse vereinfacht und etwas vorschnell bereits als Wissen ausgegeben. Das ist ungenau. Zwar stellen sie die wichtigste Wissensbasis dar, jedoch müssen Forschungsergebnisse immer erst interpre‐ tiert, in einen theoretischen Kontext eingebunden und mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen abgeglichen werden, ehe sie zu Wissen werden. Forschungsergebnisse selbst werden meist in Tabellenform dargestellt und die darin enthaltenen Zahlen müssen interpretativ eingeordnet werden. Wichtig für das Verständnis von Forschung sind Synthesen in Form von systematischen Literaturberichten, die Forschungsergebnisse nach vorge‐ fassten Kriterien sammeln und auswerten. Fakten Fakten oder Tatsachen (die beiden Begriffe werden hier synonym verwen‐ det) stellen geprüfte oder erwiesene Sachverhalte, Gegebenheiten oder Ereignisse dar. Bestimmte Gegebenheiten lassen sich schon aus dem Au‐ genschein als Fakten erhärten (jeder kann sehen, dass ein Auto einen beschädigten Kotflügel hat), andere werden erst dadurch zu Fakten, dass sie dokumentiert, geprüft, vermessen, gesammelt oder experimentell unter‐ sucht sind. Fakten sind also nicht einfach Gegebenes, sondern sie setzen Erkenntnistätigkeit und Kommunikation voraus. In den meisten Wissen‐ schaften werden Fakten durch empirische Prozeduren erhärtet, wie z. B. systematische Beobachtungen, Befragungen, Messverfahren, Experimente oder andere Arten der kontrollierten Datengewinnung. Auch schriftliche Dokumente, historische Zeugnisse, Grabungen oder Photographien können dazu herangezogen werden, die Faktizität eines Ereignisses zu erhärten. In Abschnitt V/ 2 ist ausführlich dazu berichtet worden. Statistiken Systematische Datensammlungen, die zähl- oder messbare Aspekte der Realität repräsentieren, stellen eine Art von quantitativem (oder quantifi‐ ziertem) Wissen dar. Daten werden heute an vielen Stellen systematisch gesammelt und unter bestimmten Bedingungen der Öffentlichkeit zur Ver‐ fügung gestellt. Ohne sie wäre die heutige Welt nicht mehr zu verstehen. Wer statistische Daten nutzen will, sollte elementarere mathematische und wahrscheinlichkeitstheoretische Operationen kennen, um ihren Gehalt 144 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="145"?> zu verstehen und sie nicht falsch zu interpretieren. Die Wissenschaften produzieren selbst statistische Daten, verarbeiten aber auch Statistiken, die von anderen hergestellt wurden. Beispiele dafür finden sich unter www.hu manprogress.org und https: / / ourworldindata.org/ , die umfangreiche Daten zu Lebensbedingungen in allen Kontinenten vergleichend darstellen (siehe auch Kapitel V/ 2). Ideen Ideen stellen im Gegensatz zu Fakten gedankliche Einheiten dar, die nicht empirisch geprüft sind. Während sich Fakten in irgendeiner Weise kon‐ kretisieren lassen müssen, sind Ideen oft abstrakter Natur. Sie müssen sich lediglich denken lassen, um ihren Namen zu verdienen. Trotz ihres subjektiven Charakters dürfen wir sie als „Wissen“ bezeichnen, wenn sie unsere Vorstellung beflügeln und in die Zukunft weisen. Viele Ideen nutzen Fakten als Ausgangspunkt und basieren auf verlässlichem Wissen. Fast alles, was später Realität wurde, wie das Uboot, der Flug zum Mond, der Computer oder das Smartphone war als Idee bereits vorhanden, ehe es realisiert wurde. Ideen werden zu Plänen, Konzepten, Projekten verdichtet, ehe sie realisiert werden können. Theorien, Konzeptionen Strukturierte und präzisierte Ideengebilde nennen wir „Theorien“. Als „Kon‐ zeptionen“ oder „Konzepte“ bezeichnen wir sie, wenn sie von geringerer Reichweite oder nur vorläufig ausgearbeitet sind. Theorien bestehen in der Regel aus genau definierten Begriffen (oft mit Verweis auf empirisch erfasste oder erfassbare Sachverhalte) und Aussagen dazu, wie die mit den Begriffen bezeichneten Sachverhalte zusammenhängen. Der gewöhnliche Zweck der Theorie ist die Erklärung von Sachverhalten, und sie zielt deshalb auch meist darauf ab, kausale Zusammenhänge (spezifiziert in Ursachen, Bedingungen, Wahrscheinlichkeiten) zu explizieren. Theorien sind das wichtigste Mittel der Formalisierung und Tradierung von komplexen wissenschaftlichen Zusammenhangsvermutungen. Forschungsstand, Literaturbericht, Meta-Analysen Weniger verpflichtend als Theorien sind Forschungsdarstellungen, die ak‐ tuelles Wissen systematisieren und es für die Forschung oder für bestimmte 5 Arten wissenschaftlichen Wissens 145 <?page no="146"?> Adressaten zugänglich machen. Der Unterschied zu den Theorien besteht vor allem darin, dass sie keinen Anspruch auf Dauer haben. Sie stellen zusammen, was sich im Augenblick als verlässliches Wissen bezeichnen lässt. Systematische Literaturberichte geben dazu an, welche wissenschaft‐ lichen Zeitschriften nach Literatur durchkämmt wurden, welche Art von Forschung ausgewertet wurde, welche Ergebnisse den Forschungsberichten entnommen wurden, und wie die Ergebnisse dann aufbereitet wurden, damit sie verwertbar sind. Meta-Analysen sind methodisch geleitete Auswertun‐ gen für Forschungsergebnisse, die zu synthetisierten oder integrierten Kennwerten (wie z.-B. Effektstärkestatistiken) verdichtet werden. Methoden Sicherheit in Handlungsfeldern erhält man durch Methodenwissen. Metho‐ den im Allgemeinen sind Handlungsanleitungen, deren typische sprachliche Form die Regel darstellt. Eine Regel sagt, was zu tun ist, um von einem de‐ finierten Ausgangspunkt zu einem bestimmten Ziel zu gelangen. Methoden sind Systeme von Regeln, die das Handeln über mehrere Zwischenziele auf ein Produkt oder Ergebnis zusteuern. Meistens sind solche Methodenfelder mit Fach-, Technologie- und Realisierungswissen gepaart, damit sie flexibel ein- und umsetzbar sind. Neben Regeln enthalten Methoden also auch Vorschriften, Anweisungen, Warnhinweise, Erklärungen, Beschreibungen von Wirkungen, Einsatzgebieten und Verwendungszwecken. Stehen meh‐ rere, miteinander kombinierbare Methoden zur Verfügung, spricht man von Methodologie, also einer Vielfalt von Verfahrensweisen, die in einem bestimmten Feld zur Anwendung kommen können. In den Wissenschaften sind dies naturgemäß vor allem Untersuchungsmethoden, die oft selbst eigene Wissensgebiete geworden sind (man denke an gentechnische oder nanotechnologische Arbeitsfelder, aber auch an die umfangreichen Statis‐ tikprogramme oder korpuslinguistischen Methoden). Angewandte Wissen‐ schaften besitzen und entwickeln neben Untersuchungsmethoden auch Methoden, die in beruflichen Feldern zur Anwendung kommen, wie bei‐ spielsweise in der Sozialarbeit, der Kriminologie oder den Wirtschaftswis‐ senschaften. Technologisches Wissen Technologisches Wissen umfasst Methoden und Fachkenntnisse im techni‐ schen Bereich, die sich um die Herstellung, Prüfung, Verwendung oder 146 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="147"?> Wartung von technischen Geräten und Anlagen drehen. Wissen konkreti‐ siert sich hier in einem technischen Produkt, nicht einfach auf Papier oder Bildschirm, auch wenn für technologisches Wissen genauso wie für andere Arten des Wissens gilt, dass es versprachlicht und dokumentiert sein muss. Viel technologisches Wissen wird in Patentschriften dokumentiert und da‐ mit vor dem Gebrauch durch andere geschützt. Technologisches Wissen ist angewandtes Wissen und unterliegt deshalb auch in größerem Maße einem ökonomischen Verwertungsdruck. Es sind vor allem die ingenieurwissen‐ schaftlichen Fächer, die für die innovative Entwicklung technologischen Wissens verantwortlich sind. Sammlungen, Inventare, Systematiken Viele Arten des Wissens bestehen allein in der Bestandsaufnahme von Gegebenheiten, wie in Werksverzeichnissen, Sprachatlassen, Verbreitungs‐ karten für Pflanzen oder Tiere, Wörterbüchern, Grammatiken etc. Solche Sammlungen sind oft Resultat vieler einzelner Forschungshandlungen und realisieren sich in Lexika, Handbüchern, Gesamtausgaben, Verzeichnissen, Thesauri, Atlassen etc. Trotz ihrer scheinbar deskriptiven Ausrichtung sind solche Sammlungen vor allem in den Formierungsphasen von Wissenschaf‐ ten (man denke an die Biologie oder die Sprachwissenschaften) wichtige Forschungsgebiete, die mit der Sammlung, Beschreibung, Klassifikation und Systematisierung von Sachverhalten verbunden sind. Praxiswissen Mit dem Siegeszug der angewandten Wissenschaften, wie sie an den Tech‐ nischen Universitäten und Fachhochschulen angesiedelt sind, hat die Wis‐ senschaft begonnen, sich sehr viel enger als früher mit allen Bereichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu beschäftigen, als das früher der Fall war. Wir finden hier Wissenschaften, die sich mit Themen wie sozialen Beziehungen, Kleinkinderziehung, Ernährung, Gartenarbeit, Altenpflege, Obstbau usw. beschäftigen - alles Themen, die vor fünfzig Jahren noch weitgehend traditional, also allein durch Alltagswissen bewäl‐ tigt wurden. Die Verwissenschaftlichung des Alltags ist auch Teil dessen, was man „Wissensgesellschaft“ nennt, und sie ist auch die Basis für viele neue wissenschaftsbasierte Ausbildungen und Berufe. Wissenschaftlich entwickeltes Praxiswissen löst dabei immer mehr das Alltagswissen ab, kann aber auch mit ihm in Konflikt geraten. 5 Arten wissenschaftlichen Wissens 147 <?page no="148"?> Persönliche Erfahrung Damit wird eine Art des Wissens charakterisiert, die nicht primär objek‐ tivierte und theoretisch formalisierte Kenntnisse umfasst, sondern aus eigenem Erleben stammendes Bedingungswissen umfasst, wie z. B. Perso‐ nenkenntnisse und Handlungserfahrungen. Für diese Art von Wissen ist es wichtig, nicht nur die Normen und Regeln, sondern auch die Abweichungen von Normen oder die Ausnahmen von den Regeln zu kennen. Erfahrungs‐ wissen lässt sich zwar nicht in Konzepten oder Theorien formalisieren, da es individuell ist, es ist aber - gerade dann, wenn es um die Wissensanwendung geht - oft ebenso bedeutsam wie das formalisierte Wissen. 6 Theorien und ihre Qualitäten Theorien werden in der Regel dazu verwendet, auf eine allgemeine Weise zu erklären, warum und wie bestimmte Ereignisse zustande kommen, wie sie zusammenhängen und wie sie sich entwickeln. Das schließt strukturelle Theorien nicht aus, denen es mehr um die Beschaffenheit und Systematik als um Prozesse und Wirkungen geht. Auch sie erklären uns etwas von der Welt. Während der analytische Ansatz, den wir im nächsten Kapitel betrachten, dynamisch auf Erkenntnisgewinnung ausgerichtet ist, erhalten Theorien etwas Statisches. Sie sind gewissermaßen die Bauwerke des Den‐ kens, gedankliche Gebäude, die wir errichten, um komplexere Aspekte der Wirklichkeit in den Blick nehmen zu können. Wenn wir mit Theorien umgehen, müssen wir immer beides im Blick haben: Den Wirklichkeitsausschnitt, auf den wir schauen, und die Beschaf‐ fenheit der Theorie, in deren Licht wir diesen Ausschnitt zu verstehen versuchen. Beide sind nicht identisch, obwohl sie aufeinander bezogen sind. Da jede Theorie abstrahieren muss, kann sie nur bestimmte Aspekte der Wirklichkeit in den Blick nehmen und muss andere außer Acht lassen. Jede Theorie ist eine Abstraktion, die bestimmte Aspekte hervorhebt, andere außer Acht lässt. Das heißt auch, dass es zu jeder Theorie eine Alternative gibt, die möglicherweise eine bessere Erklärung liefert. Kritisches Denken heißt hier, sich der Abhängigkeit unseres Denkens von den theoretischen Annahmen bewusst zu sein und die theoretische „Brille“ nicht mit der Realität zu verwechseln. In vielen Studiengängen trainiert man solche Blick‐ weisen, etwa wenn man in den Wirtschaftswissenschaften die Unterschiede zwischen einer Friedman’schen und einer Keynesianischen Sichtweise auf 148 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="149"?> Konjunktur- und Wirtschaftsentwicklung ausprobiert oder wenn man in der Soziologie einen Theorievergleich anstellt. Erklären: Der Anspruch jeder Theorie Theorien sind Zusammenhangsvermutungen, in denen unterschiedliche sprachliche (und andere symbolische) Elemente zu komplexen Einheiten zusammengefügt werden. Von Konzeptionen unterscheiden sie sich nur dadurch, dass sie besser ausgearbeitet, komplexer strukturiert und nachhal‐ tiger kommuniziert sind, was sie stabiler und damit auch änderungsresis‐ tenter macht. Viele Theorien haben einen Namen, was ihre Identifikation erleichtert. Theorien sind lange Zeit das wichtigste Thema der Wissen‐ schaftstheorie gewesen und haben überproportional viel Diskussion auf sich gezogen. Das muss hier nicht alles nachvollzogen werden, zumal es alternative Synthetisierungen von Wissen gibt, die einfacher zu handhaben sind (dazu weiter unten mehr). Der gewöhnliche Zweck der Theorie ist das Erklären. Wollen wir wissen, warum sich Objekte in bestimmter Weise verhalten, warum bestimmte Ereignisse eintreten oder bestimmte Entwicklungen zu erwarten sind, dann ist es gut, Zusammenhangsvermutungen aufzustellen, die über den Einzel‐ fall hinausgehen und uns Ereignisse oder Entwicklungen der gleichen Art erklären. Theorien helfen uns zu verstehen, warum sich z. B. Länder in einer bestimmten Weise entwickeln, warum manche Säuglinge mehr schreien als andere, warum Zeit und Raum keine unabhängigen Dimensionen sind, oder warum eine Volkswirtschaft in Schwierigkeiten gerät (oder auch Vorteile hat), wenn ihre Währung überbewertet ist. Wissen erhält durch die Einbindung in Theorien Stabilität, wird allerdings auch zu einem gewissen Grad unbeweglich und starr. Wiltsche (2013, S. 101) nennt drei Eigenschaften von Theorien: ● Sie sind sprachliche Gebilde, die der Erklärung dienen. ● Sie lassen sich unabhängig von anderen Theorien, Theoriesystemen oder Methodenanweisungen analysieren. ● Sie sind statisch, d.-h., sie entwickeln sich nicht. Verschiedene wissenschaftstheoretische Konzeptionen, allen voran die Fal‐ sifikationstheorie Poppers (1945/ 2013), sind, wie Wiltsche weiter zeigt, u. a. an dieser Statik gescheitert, denn sie zwingt zu komplizierten Annahmen 6 Theorien und ihre Qualitäten 149 <?page no="150"?> über einen harten Theoriekern, zu dem flexible, explizierende oder peri‐ phere Theorieteile dazukommen müssen. Popper (1945/ 2013) hatte in seiner „Logik der Forschung“ die Auffassung entwickelt, dass sich wissenschaftliche Theorien nicht verifizieren, sondern nur falsifizieren lassen. Diese Annahme hat trotz der vielen Kritik für unser heutiges Wissenschaftsverständnis immer noch eine hohe Bedeutung. „Verifizieren“ einer Theorie anhand von Forschungsergebnissen, so Popper, wäre letztlich nur über induktive Schlüsse möglich und die sind prinzipiell unsicher. Das Problem, das am meisten an Poppers Konzeption kritisiert wurde, liegt darin, dass es schwer ist zu sagen, wie eine Falsifizierung tatsächlich gelingen kann und ob jede Falsifizierung gleich den Tod der ganzen Theorie bedeutet. Unterscheidungen in Theoriekern und periphere Elemente der Theorie helfen dabei, bei falsifizierenden Daten Änderungen an einer Theorie vorzunehmen, ohne sie ganz über Bord werfen zu müssen. Alternative Konzeptionen für die Beschreibung der Makro-Organisation wissenschaftlichen Wissens wie Lakatos’ (1974) Begriff „Forschungspro‐ gramm“, und Kuhns (1967/ 2002) Begriff „Forschungsparadigma“, bieten offenere und dynamischere Konzepte für die wissenschaftliche Theorieent‐ wicklung an. Für unseren Zusammenhang ist eine Relativierung der Bedeutung von Theorien insofern wichtig, als viele Wissenschaften heute der Theorie‐ bildung nicht mehr viel Raum zubilligen, sondern offenere Formen der Wissenssynthese bevorzugen. Die wohl konventionellste und verbreitetste Form ist der „Stand der Forschung“, eine Wissensdarstellung, die in vielen Forschungsartikeln und -berichten vorkommt. „Stand der Forschung“ ist ein eher schwach definierter Begriff, der aber flexible Darstellungen der For‐ schungslage zu einer Fragestellung oder einem Problem zusammenzustellen erlaubt. Eine andere Art von Wissenssynthese entsteht aus systematischen Literaturberichten, die eine Zusammenstellung vorhandener Forschung zu einem definierten Thema ermöglichen. Beide gelten nur für den Augenblick und dienen weniger der Festschreibung von Wissen, als dem Erkennen von Tendenzen, Trends und Lösungsmustern zu einem gegebenen Zeitpunkt. Kriterien zur Beurteilung von Theorien Theorien, so kann man sagen, ordnen Fakten, Erfahrungen, Gedanken und Vorstellungen. Sie gehen damit aber auch immer über das Faktische hinaus, über das Wissen also, das wir derzeit empirisch belegen können. 150 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="151"?> Theorien können wir sowohl von ihrer gedanklichen Struktur (Konsis‐ tenz, Erklärungsanspruch, Art der postulierten Determination), ihrer Aus‐ dehnung über Wirklichkeitsbereiche (Geltungsbereich, Vorhersagekraft, Abstraktionsniveau) als auch von ihrer empirischen Fundiertheit (Anker im Faktischen, Belege, Daten, Quellen) beurteilen. Die wichtigsten dieser Kriterien sind folgende: Konsistenz. Die innere Stimmigkeit einer Theorie wird meist unter dem Begriff ihrer „Konsistenz“ beschrieben. Darunter verstehen wir die begriffliche Schärfe und konzeptuelle Genauigkeit, mit der eine Theorie Zusammenhänge postuliert. Wichtigstes Kriterium für die Konsistenz ist die Widerspruchsfreiheit, die verhindert, dass eine Theorie zu unterschied‐ lichen Aussagen über ihren Gegenstand oder zu divergierenden Schlussfol‐ gerungen führen kann. Faktenbezug. Der Faktenbezug von Theorie kann sehr unterschiedlich beschaffen sein. Manche Theorien sind direkt um Fakten (d. h. empirisch erhärtetes Wissen oder Daten) herum aufgebaut. Sie dienen in dem Fall zunächst der Erklärung der Daten, können darüber hinaus aber die Bedeu‐ tung der Daten für einen weiteren Realitätsbereich erklären. Naturwissen‐ schaftliche Theorien sind dabei enger an die verfügbaren Fakten geknüpft und haben weniger theoretischen Überschuss als sozial- und geisteswissen‐ schaftliche Theorien. Das hängt z. T. mit der besseren Messbarkeit und der besseren Interpretierbarkeit naturwissenschaftlicher Daten zusammen. Ein einziges Experiment kann hier oft über die Akzeptanz einer Hypothese entscheiden, während es in den Sozialwissenschaften, wie auch in vielen angewandten Disziplinen meist mehrerer Wiederholungen einer Untersu‐ chung bedarf, ehe das Ergebnis als gültig akzeptiert wird. Sparsamkeit. Hat man zwei Theorien zur Auswahl, so sollte derjenigen der Vorzug gegeben werden, die sparsamer mit Erklärungen umgeht und mit weniger Elementen den gleichen Erklärungswert erzielen kann. Determinationsannahmen. Theorien postulieren Zusammenhänge zwischen verschiedenen Objekten oder Ereignissen. Dabei kommen Fragen der Kausalität, Struktur, Abhängigkeit, Einwirkung, Regelmäßigkeit, Wahr‐ scheinlichkeit und Gesetzmäßigkeit ins Spiel, die wir alle unter dem Über‐ begriff „Determination“ zusammenfassen können (siehe dazu das nächste Kapitel). Damit wird spezifiziert, wie einzelne Objekte oder Ereignisse Einfluss auf andere nehmen. Prüfbarkeit und Falsifizierbarkeit. Von Theorien wird verlangt, wie Popper (1945) forderte, dass ihre Behauptungen prüfbar sind. Das heißt, dass 6 Theorien und ihre Qualitäten 151 <?page no="152"?> Prozeduren denkbar sind, mit deren Hilfe die Theorie empirisch widerlegbar ist (Falsifizierbarkeit). Theorien, die dies nicht erlauben und mithin immun gegen Erfahrungsdaten sind, gelten als nicht rational und werden in den Wissenschaften mit Skepsis betrachtet. 152 V Fakten und Wissen: Realitätsbezug im Denken herstellen <?page no="153"?> VI Kausalität: Analytisches Denken 1 Kausalität und kausales Denken 2 Struktur, System, Dynamik Dieses Kapitel stellt Überlegungen dazu an, mit welchen Vorannahmen wir an eine Untersuchung der Wirklichkeit herangehen können. Kern‐ punkt dabei ist die Frage der Kausalität, die sich damit beschäftigt, wie die Dinge der Welt aufeinander einwirken und sich gegenseitig beeinflussen. Die Frage nach der Kausalität bringt uns zu einem weiteren Punkt, nämlich den Kontexten und Systemen, in die kausale Beziehungen eingebettet sind. Wir brauchen eine Vorstellung davon, was Systeme sind, welche Dynamik sie entfalten können, wie sie sich entwickeln und wie sie nachhaltig beeinflusst werden können. Als Denkmethodik kommt das analytische Vorgehen in den Blick, das komplexe Systeme durch Reduktion auf elementare Teilsysteme zu ergründen versucht. Dabei geht es im gleichen Masse um die Anwendung von Wissen auf ein Problem wie auch um das Gewinnen von neuem Wissen über ein Problem. <?page no="154"?> 1 Kausalität und kausales Denken Die Frage nach Ursache und Wirkung ist sowohl für das Erklären, als auch für alle Fragen der Anwendung von Wissen fundamental. Hüttemann (2013. S.-5) nennt vier Gründe, warum Kausalwissen wichtig ist: ● Es ist Grundlage des Erklärens: Wollen wir wissen, wie Erdbeben zustande kommen oder was den Zusammenbruch der Sowjetunion hervorgerufen hat, brauchen wir kausale Annahmen. Sie machen uns verständlich, warum etwas geschehen ist. ● Es ist Grundlage der Vorhersage von Prozessen oder Abläufen: Prognosen über zukünftige Ereignisse sind nur möglich, wenn wir Wissen über die kausale Struktur von Abläufen haben. Wird die EU erfolgreich sein oder irgendwann zusammenbrechen? Wie entwickelt sich das Wetter in einer Region über die verschiedenen Jahreszeiten? ● Es ist Grundlage für das Eingreifen in Prozesse: Wollen wir Krank‐ heiten beeinflussen, den Konjunkturverlauf vor Krisen schützen oder das Schicksal der EU beeinflussen, müssen wir wissen, wie unsere Aktionen sich auf ablaufende Entwicklungsprozesse auswirken. ● Es ist Grundlage für Verantwortungszuschreibung: Handlungen haben Folgen, für die die Handelnden verantwortlich gemacht werden können. Wollen wir wissen, wer schuld ist, was nicht nur in Rechtsfällen von Bedeutung ist, so müssen wir uns mit Fragen der Verursachung beschäftigen. Der übergeordnete Begriff, der kausale Beziehungen zwischen verschie‐ denen Größen beschreibt, ist „Determination“. Von einer vollständigen Determination spricht man, wenn eine Größe eine andere vollständig vorherzusagen erlaubt oder die Bewegung einer Sache aus ihren Gesetzen eindeutig bestimmbar ist. Deterministische Systeme wie das Newtonsche Weltbild beruhten auf der Annahme einer vollständigen Determination der physikalischen Welt durch die Naturgesetze. Das aber wirft die Frage auf, wie ein Gesetz sich die Materie unterwerfen kann, deren Bewegungen es bestimmt. Wir müssen uns also in diesem Kapitel damit beschäftigen, welche Arten von Determination zu unterscheiden sind und wie wir sie wissenschaftlich untersuchen können. Dabei geraten wir in erhebliche philosophische Turbulenzen, zumal ein großer Teil der Debatte auf dem Feld der physikalischen Metaphysik oder Metatheorie geschieht, was wir hier 154 VI Kausalität: Analytisches Denken <?page no="155"?> nur sehr bedingt nachvollziehen können. Übersichten bieten Scheibe (2006) und Hüttemann (2013). Die Suche nach kausalen Beziehungen ist eng mit einem methodischen Vorgehen verbunden, das wir „analytisch“ nennen. Corry (2009) versteht darunter ein Vorgehen, bei dem wir ein komplexes System zu verstehen versuchen, indem wir dessen einfachere Teilsysteme studieren. Analytisches Vorgehen „zergliedert“ einen Gegenstand also und versucht, aus seinen Be‐ standteilen dessen Funktionsweisen, Dynamik oder Störungen zu verstehen. Die Annahme einer Stabilität der Bestandteile oder Subsysteme ist Voraus‐ setzung dafür, dass dies zu sinnvollen Ergebnissen führt. Beispiele dafür sind Schadensanalysen, bei denen eine Ingenieurin versucht, aus verschiedenen Informationen einen Unfallhergang zu verstehen, oder Wahlanalysen, in denen ein Wahlforscher versucht, die Ergebnisse der Wahl aus verschiede‐ nen statistischen Indikatoren, sozialen Entwicklungen und Interessenslagen zu erklären. Beide Beispiele verweisen auf Vorgänge, die in stabile Systeme eingebettet sind, so dass kausale Zusammenhangsvermutungen legitimiert sind. Auch im Alltag haben Kausalitätsannahmen eine tragende Bedeutung für unser Denken, da sie uns rationales, effektives Handeln ermöglichen. Ohne eine Vorstellung davon, was Wirkung ist, ließe sich instrumentelles Handeln weder begründen noch praktizieren. Kausalität als Bedingung für Rationalität Das Denken in Ursache-Wirkungs-Beziehungen ist etwas, das wir von Kindesbeinen an trainieren. Vermutlich haben schon Säuglinge kognitive Fähigkeiten, um kausale Beziehungen in einfachen Schemata zu erkennen. Kausales Denken bei Kindern entsteht zudem direkt aus den Wahrnehmun‐ gen ihrer Handlungen. Sie sehen, dass ein Keks bricht, wenn man ihn zu biegen versucht oder dass ein Luftballon platzt, wenn man mit der Nadel hineinsticht. Sie lernen, dass das Auge brennt, wenn Seife hineinkommt und dass ein Kartenhaus zusammenbricht, wenn man pustet. Kausales Denken scheint also direkt aus dem Handeln und Beobachten hervorzugehen und noch auf vorsprachlichen Wurzeln zu beruhen. Kant hielt kausales Denken für etwas Angeborenes und einfache Formen kausa‐ len Denkens fand Köhler bei Schimpansen, die entdeckten, wie man Stöcke ineinanderstecken kann, damit man an das Futter kommt. Krähen lernen, dass man Nüsse knacken kann, indem man sie aus großer Höhe auf den Bo‐ den wirft. Katzen lernen, dass man Futter bekommt, wenn man schön bettelt. 1 Kausalität und kausales Denken 155 <?page no="156"?> Allerdings müssen wir mit der Deutung solcher Beobachtungen vorsichtig sein. Die Wahrnehmung oder das Ausnutzen eines Effektes ist noch nicht gleichbedeutend mit der Einsicht in einen kausalen Zusammenhang. Wir müssen also gewahr sein, dass Kausalität nicht eine Eigenschaft der Sache an sich, sondern auch eine Zuschreibung ist (die eine Krähe nicht vornehmen kann). Kausalität ist ein Schlüsselkonzept für das Verständnis nicht nur von Wissenschaft, sondern von Rationalität überhaupt. Oerter (2014, S 199) nennt drei Dinge, die kausales Denken kennzeichnen: ● Jedes Ereignis hat eine Ursache (deterministische Annahme). ● Die Ursache (bedingendes Ereignis) muss der Wirkung vorausgehen. ● Der Mechanismus, mit dem das ursächliche Ereignis die Wirkung hervorruft, muss bekannt sein. Dies sind Annahmen, die ein rationales Weltbild begründen, weil sie darauf beruhen, dass keine unfassbaren, außersinnlichen Größen das Leben in unserer Galaxie bestimmen und dass wir deren Bewegungsgesetze erkennen können. Jedes Ereignis hat Voraussetzungen, die es hervorgebracht haben und diese Voraussetzungen sind prinzipiell verstehbar. So formuliert, ist kausales Denken also auch eine Grundlage von kriti‐ schem Denken. Würden wir annehmen, dass es Ursachen gibt, die nicht feststellbar sind (übersinnliche Kräfte, Magie, Schicksal, Gottes Wille), dann hätten wir eine unerklärliche Welt vor uns, die keinen nachvollziehbaren Gesetzen folgt. Daraus würde folgen, dass wir sie nicht verstehen können. Und wenn sie nicht verstehbar wäre, wäre systematische Forschung ent‐ sprechend sinnlos und kritisches Denken Glückssache. Das Schicksal würde machen, was es will und sähe sich nicht genötigt, bei gleichen Ursachen auch gleiche Wirkungen hervorzurufen. Diese Annahme von kausaler Re‐ gelmäßigkeit brauchen wir aber, wenn wir etwas erklären oder vorhersagen wollen. Auf der anderen Seite wurde der Gedanke der Kausalität auch überstrapaziert und führte zu deterministischen Weltmodellen, in denen die Natur durch Gesetze völlig festgelegt war. Verwandte Konzepte Es ist sinnvoll, Kausalität vorab von einigen verwandten Phänomenen abzu‐ grenzen, um die Spezifik des Konzepts besser zu verstehen. Die verwandten Konzepte bauen alle darauf auf, Zusammenhänge zwischen zwei oder mehr 156 VI Kausalität: Analytisches Denken <?page no="157"?> Phänomenen, Ereignissen, Variablen etc. zu finden. Im Folgenden werden einige beschrieben und ihr Zusammenhang mit Kausalität wird abgegrenzt. Kontiguität: Bezeichnet Gleichzeitigkeit im Auftreten von Ereignissen. Viele Ereignisse treten zusammen auf, ohne aber kausal verbunden zu sein. In einer Großstadt treten viele Erscheinungen gleichzeitig auf: Soziale Dichte, Menge an Abfall, Kriminalität, Kultur, Bildungsinstitutionen etc. Wir können also statistische Zusammenhänge sehen, ohne dass kausale Bezie‐ hungen im Spiel sind. Kausalität ist immer von Kontiguität abzugrenzen. Korrelation: Ist ein statistisches Maß für Kontiguität, also für einen Zusammenhang zwischen Variablen, die kovariieren. Kovariation bedeutet, dass sich die Werte, die die Variablen annehmen, ähnlich verhalten. Dass „Korrelation“ nicht „Kausalität“ bedeutet, lernt man in jedem Statistikkurs. Das Paradebeispiel dazu ist die Korrelation zwischen Geburtenraten und der Anzahl der brütenden Störche in verschiedenen Ländern, die hoch korrelieren, aber nicht kausal verbunden sind. Gesetz(mäßigkeit): Auch Naturgesetze wurden lange kausal interpre‐ tiert, in dem Sinne, dass das Gesetzt die Ursache für die Naturbewegungen ist. Das wird heute infrage gestellt (dazu weiter unten mehr). „Gesetzmäßig‐ keit“ hingegen ist ein Begriff, der zunächst nur Regelmäßigkeit impliziert, wobei Kausalität im Spiel sein kann oder auch nicht. Determination: Bezeichnet die Bestimmtheit, mit der eine bestimmte Sache oder Gegebenheit sich entwickelt oder auf eine andere einwirkt. Oft sind es mehrere Determinanten, die Einfluss auf ein zu erklärendes Phänomen nehmen. Ob dabei Kausalität im Spiel ist, ist zunächst unwichtig. Der Begriff „Determination“ erlaubt, graduelle Wirkungen auf ein Objekt oder Zielvariable zu bestimmen und quantitativ festzulegen. Wirksamkeit: Hier wird ein regelmäßiger Wirkzusammenhang postu‐ liert, dem meistens auch ein kausaler Mechanismus unterstellt wird, wie etwa in der Pharmazie oder in der Psychotherapie, wo Mittel oder Methoden ihre Wirksamkeit erweisen müssen. Wechselwirkung: Ereignisse oder Variablen können sich gegenseitig beeinflussen. In der Statistik spricht man von einer Wechselwirkung, wenn der Einfluss einer Variable auf eine andere von der Höhe einer dritten Variable abhängt. Zwei Variablen interagieren dabei, kann man auch sagen. Auch der Begriff „Moderatorvariable“ wird verwendet, wenn z. B. der Einfluss des Alters (unabhängige Variable) auf das Gewicht (abhängige Variable) von einer dritten Variable wie z. B. dem Geschlecht oder Beruf (Mo‐ deratorvariable) abhängt. Bei der Untersuchung von Pharmaka spricht man 1 Kausalität und kausales Denken 157 <?page no="158"?> dann von einer Wechselwirkung, wenn die Wirkung eines Medikaments von der Einnahme eines anderen Medikaments beeinflusst wird. Effekt: Bezeichnet die Wirkungen, die ein Ereignis oder eine Variable auf eine andere erzielt. Effekte werden in der Regel kausal interpretiert. Effektstärke ist ein Maß, das die Wirkung einer Intervention auf eine Zielvariable beschreibt. Bedingung: Bedingungen sind nicht die eigentlich determinierenden Faktoren, von ihnen kann aber abhängen, ob eine Wirkung eintritt oder nicht. Sie werden in notwendige und hinreichende Bedingungen unterschie‐ den. Notwendig sind Bedingungen, ohne die die Wirkung nicht eintreten kann (ohne Strom brennt die Glühbirne nicht, aber sie braucht noch mehr, z. B. eine Fassung). Hinreichend sind Bedingungen, die immer zu einem be‐ stimmten Effekt führen (die Karotte ist hinreichend, um das Kaninchen satt zu machen, aber auch verzichtbar, denn es kann auch etwas anderes futtern), der allerdings auch anders hervorgerufen werden kann. In der Logik wird die notwendige Bedingung als Replikation A←B, die hinreichende Bedingung als Implikation B→A und die notwendige und hinreichende Bedingung als Äquivalenz A↔B dargestellt (siehe Abschnitt III/ 10). Was Ursache und Wirkung verbindet Während Kausalität als Grundannahme eines rationalen Weltbildes unum‐ stritten ist, ist es sehr schwer zu sagen, was Ursachen eigentlich mit Wirkungen verbindet und ob die Annahmen, die wir über den kausalen Mechanismus treffen (Oerters dritte Bedingung für Kausalität) jeweils gerechtfertigt sind. Russel (1912/ 13, zit. nach Heidelberger 1989) plädierte sogar dafür, das Wort „Ursache“ gar nicht mehr in der Philosophie zu verwenden. Er hielt das Kausalprinzip für ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das - ähnlich wie die Monarchie - nur deshalb überlebt hat, „weil man es irrtümlicherweise für unschädlich hielt“. Also doch Götter und Dämonen statt Ursache und Wirkung? Das war nicht Russels Problem, sondern ihn trieb die Frage um, ob man Naturgesetze kausal interpretieren kann, ob also z. B. die Fallgesetze die Ursache dafür sind, dass ein Apfel auf den Boden fällt. Wenn es nicht die Gesetze sind, die die Welt bewegen, was ist es dann? Bevor eine vorsichtige Antwort darauf möglich ist, sollten verschiedene Arten von Kausalität unterschieden werden. Relativ einfach zu verstehen ist Kausalität, wenn es um einmalige Ereignisse geht. Hier zunächst zwei wichtigste Arten: 158 VI Kausalität: Analytisches Denken <?page no="159"?> ● Rechtswissenschaften: Dort ist eine Ursache ein Ereignis, ohne das eine Folge (Schaden, Delikt) nicht eingetreten wäre. Ein Schuss aus einer Pistole lässt sich so eindeutig als Ursache einer Verletzung feststellen, die ohne den Schuss nicht entstanden wäre. Ebenso lässt sich ein Schaden als Folge eines Verkehrsunfalls begreifen, da das Auto ohne Unfall noch unversehrt wäre. ● Medizin: Hier kann eine Ursache ein Ereignis sein, das eine Krank‐ heit oder eine Schädigung zur Folge hat. Möglich sind hier allerdings mehrere Ursachen, und eine Unterscheidung in Ursachen (spezifisch) und Bedingungen (unspezifisch) ist sinnvoll. Zwischen Ursache und Wirkung schiebt sich oft ein längerer Krankheitsverlauf, in dem sekun‐ däre Ursachen auftreten können. Schwieriger sind die Diskussionen um Behandlungsfehler, wenn sie als Ursachen für Schädigungen eines Patienten eingeklagt werden. Hier verquicken sich medizinische und juristische Argumentationslinien. In den Wissenschaften geht es allerdings oft um generalisierte kausale Prinzipien. Das heißt, dass Kausalität nicht für einen Einzelfall, sondern für eine ganze Klasse von Ereignissen reklamiert wird. In den Angewand‐ ten Wissenschaften geht es oft um kausale Wirkungen von Pharmaka, Therapien, Technologien und sozialen Techniken. Wirkung wird hier als „Wirksamkeit“ verstanden, einem Begriff, der einer Sache oder einer Be‐ handlung generell das Potenzial für Wirkungen gemäß einem bestimmten Wirkprinzip unterstellt. Die Forschung hat hier die Aufgabe zu belegen, dass die eingetretenen Wirkungen auf eine spezifische Ursache (Medikament, Behandlung, Toolgebrauch, soziale Intervention) zurückzuführen sind und nicht auf unspezifische (ungeplante, zufällige, suggestive oder fehlerhafte) Bedingungen. Wirksamkeit wird deshalb nach Möglichkeit an größeren Stichproben und durch Blindversuche getestet. In den Naturwissenschaften gilt Kausalität nach wie vor als wichtigstes Prinzip der Naturerklärung, allerdings gibt es hier auch die heftigsten De‐ batten darüber, wie Kausalität zu verstehen ist (siehe Scheibe, 2006, für einen Überblick). Die Physik hat zeitweilig den Begriff ganz aufgegeben. Ursachen und Wirkungen werden eher gemeinsam als Teil eines übergeordneten Systems gesehen, das die Bewegung beider determiniert oder zumindest bedingt. Statt eine deterministische Kausalität anzunehmen, geht die Physik lieber davon aus, dass die Bewegung der Materie sich nur stochastisch ver‐ stehen lässt, wobei die (z. B. in einer mathematischen Formel festgehaltenen) 1 Kausalität und kausales Denken 159 <?page no="160"?> Gesetze nur Durchschnittswerte der enthaltenen Messungen sind, aber nicht Determinanten, die die Bewegungen des untersuchten Objekts festlegen. 2 Struktur, System, Dynamik Was sind Systeme? Ursachen und Wirkungen finden sich in der Regel nicht zwischen zwei isolierten Ereignissen oder Objekten, sondern zwischen einer Vielzahl von Größen, die wechselseitig aufeinander einwirken. Für die Modellierung der Wirklichkeit ist es deshalb wichtig, Systeme zu betrachten, in die diese Größen eingebunden sind. Systemische Betrachtungsweisen haben sich seit den 50er-Jahren auf den Grundlagen von Bertalanffys (1949, 1950) allgemeiner Systemtheorie in den Wissenschaften rasant verbreitet und sind in allen Disziplinen heimisch geworden. Einen Überblick gibt Ropohl (2012). Die wichtigsten Aspekte von Systemen in heutiger Sicht: ● Systeme bestehen aus einzelnen Elementen, die aufeinander einwirken und insgesamt eine Struktur ergeben, die sich aus den Elementen und Teilsystemen zusammensetzen. ● Das System ist dabei mehr als die Summe seiner Elemente, sprich: Keines der einzelnen Elemente kann die Bewegungen des Gesamtsystems erklären. ● Systeme können nach außen geschlossen oder offen für Einflüsse von außen (offene Systeme) sein. ● Offene Systeme kennen Gleichgewichtszustände, die Bertalanffy (1950) als dynamisches oder Fließgleichgewicht bezeichnete; sie erlauben es, die Binnenbedingungen des Systems gegenüber Außeneinflüssen kon‐ stant zu halten. ● Systeme sind zur Selbstregulation fähig und tendieren zur Selbstorga‐ nisation. ● Wirkungen innerhalb von komplexen Systemen sind nichtlinear, d. h. jede Aktion eines Elements oder Teilsystems wird durch andere Ele‐ mente oder Teilsysteme verstärkt oder modifiziert, sodass kleine Ein‐ flüsse große Wirkungen und große Einflüsse kleine Wirkungen erzielen können. ● Ein Verständnis der Bewegungen einzelner Elemente kann nur im Lichte des ganzen Systems erreicht werden. 160 VI Kausalität: Analytisches Denken <?page no="161"?> Beispiel für ein System ist das Herz-Kreislauf-System, das sich aus Herz (sorgt für die Zirkulation), Lunge (versieht Blut mit Sauerstoff), Gefäße (transportieren das Blut) zusammensetzt und insgesamt die Energiever‐ sorgung der Organe sowie den Abtransport von Schadstoffen sorgt. Die Hauptelemente eines Systems stehen in verschiedenen physischen, infor‐ mationellen und funktionalen Beziehungen zueinander. Ein anderes Beispiel finden wir in den Finanzmärkten, die sich durch regelmäßige Krisen im‐ mer wieder ins Bewusstsein bringen und deren Akteure (Anleger, Börsen, Banken, Zentralbanken, Aktiengesellschaften) in enger Wechselwirkung miteinander den Verlauf des Handels mit Wertpapieren bestimmen. Ursachen zu isolieren ist in dynamischen Systemen immer schwierig, da oft zwischen Auslöser (etwa einer zufällig ausgelösten Panik an einer Börse) und Ursachen (z. B. Spekulationsblasen) nicht immer ganz einfach unter‐ schieden werden kann. Eine Analyse auf der Basis einer Systembetrachtung wird deshalb immer erst die Struktur oder Architektur des Systems isolieren und die relative Bedeutung der einzelnen Elemente verstehen müssen, ehe sich dynamische Regulations- und Steuerungsmechanismen erschließen lassen. Entwicklung und Dynamik Dass alles im Fluss ist und sich entwickelt, war bereits in der Antike bekannt. Mit Darwins Evolutionstheorie hat die Entwicklung als Prinzip wissenschaftlicher Erklärungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts einen großen Aufschwung genommen und bis heute fasziniert Darwins Mut, Prozesse, die Hunderte von Millionen Jahren in Anspruch nehmen, durch einige wenige Wirkprinzipien zu erklären. Mehrere seiner Nachahmer, wie Marx (gesellschaftliche Entwicklung), Freud (psychosexuelle Entwicklung), Piaget (kognitive Entwicklung) waren mit ihren Entwicklungstheorien ähnlich erfolgreich wie Darwin. Entwicklungstheorien sind heute in praktisch alle Wissenschaften einge‐ schlossen und spezielle Themengebiete wie die Entwicklungspsychologie, Wirtschaftsentwicklung, Entwicklungszusammenarbeit, Regionalentwick‐ lung sind eigene Forschungsfelder, wenn nicht eigene Disziplinen gewor‐ den. Sie betrachten Veränderungen in der Zeit und haben dabei speziell die Aufgabe, das zu ergründen, was die Dynamik der Entwicklung ausmacht. Eine einheitliche Metatheorie für Entwicklungsprozesse gibt es nicht, jedoch finden sich in vielen Einzelwissenschaften entwicklungsbezogene 2 Struktur, System, Dynamik 161 <?page no="162"?> Ansätze. Bei der Konzeption von Entwicklungsmodellen spielen folgende Aspekte eine Rolle: ● Verlaufseinteilungen wie Phasen oder Stadien ● Differenzierungen eines Systems und strukturelle Veränderungen ● Zuwächse, Leistungssteigerungen, Funktionserweiterungen ● Transformationen und Übergänge ● Diskontinuitäten, Sprünge und unerwartete Ereignisse (Disruptionen) ● Widersprüche, Konflikte, Krisen ● Pathologien, Dysfunktionen, Funktionsstörungen Längsschnittuntersuchungen sind der wichtigste Forschungsansatz, um Einsicht in Entwicklungsdynamiken zu erhalten. Ebenfalls eine Rolle spie‐ len Interventionen in Entwicklungsprozessen, bei denen künstlich neue Entwicklungsbedingungen induziert werden, um ihre Einwirkung auf den weiteren Verlauf zu studieren. Komplexität und Nachhaltigkeit Eine andere Sachlage entsteht, wenn Menschen versuchen, wirtschaftliche und ökologische Entwicklungsprozesse zu beeinflussen oder sie in eine andere Bahn zu bringen, wie das z. B. in vielen Entwicklungsländern oder bei größeren Dammbauten geschehen ist. Die meisten dieser Verände‐ rungsprozesse geschehen innerhalb von komplexen Systemen und jeder Eingriff hat ökologische, ökonomische und soziale Folgen, die nicht vollends vorhersehbar und oft nicht umkehrbar sind. Viele dieser Vorhaben führten zu kurzfristigem Gewinn, bei unklaren Nebenwirkungen und nachteiligen langfristigen Folgen. Die Klimaentwicklung ist eines der Felder, in denen unerwünschte Nebenwirkungen des Gebrauchs fossiler Energieträger sogar so gravierend sind, dass sie die Lebensbedingungen des ganzen Planeten radikal zu verändern drohen. Ein Schlüsselkonzept, das erlaubt, Eingriffe in komplexe Systeme besser zu verstehen, ist Nachhaltigkeit. Es wurde erstmals im 18. Jahrhundert in der Holzwirtschaft verwendet und zielte darauf ab, dass nur so viel Holz geschlagen werden sollte, wie wieder nachwächst, sodass nachfolgende Generationen immer noch einen intakten Wald und gleiche Bewirtschaf‐ tungsbedingungen vorfinden. Durch den Brundtland-Bericht der UN wurde der Begriff erstmals konsistent definiert und entwickelte sich bald zur Grundlage für ökologische, ökonomische und soziale Entwicklung (UN 162 VI Kausalität: Analytisches Denken <?page no="163"?> Documents, 1987). Die Agenda 2000 der UN baute auf dem Brundtland-Be‐ richt auf und schlug ein Entwicklungsprogramm großen Stils auf Basis der Nachhaltigkeit für alle Mitgliedsländer der UN vor. Definiert wird Nachhaltigkeit im Brundtland-Bericht als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu mindern, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen können“ (eigene Übersetzung). Die Agenda 2030 der UN (2016) erweiterte diesen Ansatz noch einmal und stellt unter insgesamt 17 Zielen die wichtigsten Aufgaben der globalen und lokalen Entwicklung zusammen. Nachhaltigkeit ist durch die Arbeit der UN zu einem übergeordneten Ziel für die ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung aller Gesellschaf‐ ten und der Menschheit insgesamt erklärt worden, sodass diesem Begriff heute tatsächlich eine übergeordnete Rolle nicht nur im Denken, sondern auch in der politischen Wertehierarchie zukommt. Praktisch alle Diszipli‐ nen, die in irgendeiner Weise angewandt sind und Veränderungsprozesse irgendeiner Art in Gang setzen, sind entsprechend mit Nachhaltigkeitser‐ wägungen konfrontiert. Mehrere Gedanken haben sich als Kern des Begriffs „Nachhaltigkeit“ her‐ ausgeschält. Sie sollte verstehen, wer dieses Konzept konstruktiv einsetzen möchte. Systementwicklung. Es geht immer um die Entwicklung eines Systems, in das eingegriffen werden soll. Hier kommt noch einmal der Gesichtspunkt zum Tragen, dass es in Systemen keine isolierten Ursache-Wirkungs-Bezie‐ hungen gibt, sondern fest verbundene Bündel von miteinander interagie‐ renden Variablen. Natürliche Regeneration und Verhinderung von Raubbau. Die ursprüngliche Zielrichtung von Nachhaltigkeit war auf die Verhinderung von Raubbau und den Erhalt natürlicher Regenerationsfähigkeit des Waldes bezogen. Wirtschaftliche und ökologische Gesichtspunkte spielten dabei wohl beide eine Rolle. Dieser Gedanke lässt sich auf viele Kontexte anwen‐ den. Stabilität und Ultra-Stabilität. Als zentral für Nachhaltigkeit hat sich der Erhalt der System-Stabilität erwiesen. Die anfängliche Stoßrichtung des Erhalts eines ökologischen Gleichgewichts ist jedoch erweitert worden, da Gleichgewicht nicht gleich Erhalt der erwünschten Systemqualitäten ist. Ein abgeholzter Wald wird auch als verkarstete Landschaft ein ökologisches Gleichgewicht finden. Es kommt darauf an, Systeme so zu stärken, dass sie sich selbst erhalten, wenn nicht gar weiterentwickeln können. 2 Struktur, System, Dynamik 163 <?page no="164"?> Erhalt von Ressourcen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist der Erhalt von Ressourcen, die einem System für die Entwicklung zur Verfügung stehen. Konsum von Ressourcen (wie etwa der fossilen Energieträger) führt irgendwann zu einem Kollaps der Versorgung. Erneuerbarkeit ist deshalb ein wichtiges Ziel der Energieversorgung. Das Ressourcenprinzip gilt aber genauso für soziale Systeme, deren Entwicklung von verfügbaren, eigenen Ressourcen abhängig sein sollte, nicht von solchen, die von außen zugeführt werden. Potentialentwicklung. Potentiale sind ein wichtiger Faktor, der Sys‐ teme dynamisch und stabil macht. Investitionen in Potentiale bringen größeren Gewinn für die Entwicklung als solche, die lediglich in den Konsum gesteckt werden. Resilienz. Wichtige Grundlage für Nachhaltigkeit sind Faktoren, die Systemen zu überleben erlauben - trotz Stressfaktoren und Krisen - und die ihnen dabei helfen, ihre Funktionen trotz widriger Bedingungen auf‐ rechtzuerhalten. Solche Faktoren zu stärken ist ein wichtiger Beitrag zur Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit gilt heute auch als moralisches Prinzip des Handelns, zu dem sich immer mehr Länder, Institutionen und Personen verpflichten. Es ist überdies ein Denkprinzip, das kennen muss, wer sich heute beruflich engagiert, studiert oder forscht. Seine unangefochtene Akzeptanz in allen politischen Feldern und allen angewandten Disziplinen macht es zu einem verbindlichen Element des kritischen Denkens. 164 VI Kausalität: Analytisches Denken <?page no="165"?> VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen 1 Wahrheitskonzeptionen 2 Die Bewährung von Wissen 3 Sicheres, unsicheres und fehlendes Wissen Dieses Kapitel widmet sich einem Thema, das zwar den Hintergrund für alle bisher behandelten Fragen bildete, aber nicht abschließend behandelt worden ist: Dem Wahrheitskonzept und der Frage, ob und gegebenenfalls wie wir erkennen können, was wahr ist. So zentral diese Frage für das Denken ist, so schwer tun sich Philosophie und Wissenschaften damit, Wahrheit dingfest zu machen. Für kritische Denkerinnen und Denker ist es aber nötig, eine klare, konsistente Position zu diesem fundamentalen Thema zu gewinnen und Sie sollen auch nicht ohne eine praktikable Lösung bleiben, wenn Sie das Kapitel gelesen haben. Nach der Diskussion um den Wahrheitsbegriff wird das Thema „Wissen“ noch einmal aufgerollt und eine verwendbare, realitätsnahe Deutung dazu angeboten, was Wissen ist und wann man es als verlässlich oder gar als wahr ansehen kann. <?page no="166"?> 1 Wahrheitskonzeptionen Unterschiedliche Bedeutungen des Wahrheitsbegriffs Das Thema „Wahrheit“ haben wir bereits mehrfach gestreift, aber eine systematische Behandlung bisher aufgeschoben. Der Grund dafür liegt darin, dass wir uns damit schwertun zu sagen, was Wahrheit ist (d. h., wir haben keine praktikable Definition), und wir tun uns genauso schwer damit, herauszufinden, wann etwas wahr ist. Alle Wahrheitskonzeptionen, die dafür zur Verfügung stehen (sie werden später noch erläutert), können nicht wirklich befriedigen, und es kann sogar sein, dass die beste Lösung wäre, ganz ohne Wahrheitsbegriff auszukommen. Für ambitionierte Denkerinnen und Denker wäre das natürlich keine befriedigende Aussicht. Woran, bitte, soll man denn dann das Denken orientieren, wenn nicht an wahr und falsch? Wie kommt man zu Erkennt‐ nis, wenn man Wahrheit nicht als Zielkriterium annimmt? Um hier zu einer Lösung zu kommen, müssen wir noch einmal etwas grundlegender untersuchen, was Wahrheit bedeutet und einige zusätzliche Aspekte in die Diskussion einbringen. Wahrheit ist das ultimative Wertekriterium der Wissenschaften. Es geht immer darum, wie man die Wahrheit von Behauptungen feststellen kann, wie man sie durch Forschung begründet, argumentativ zugänglich und in Texten kenntlich macht. Allerdings ist es schwierig, wenn nicht unmöglich zu sagen, was Wahrheit ist. Mit Wahrheit, so können wir vorläufig sagen, ist zunächst einfach ein Wertebereich angesprochen, den wir zur Beurteilung von Gedanken (und den entsprechenden Aussagen) heranziehen können. Alternativ könnten wir etwas danach beurteilen, ob es z. B. nützlich, schön, moralisch, funktional oder nachhaltig ist. An dieser Stelle ist es zunächst wichtig, zwischen verschiedenen Aspekten im Umgang mit Wahrheit zu unterscheiden. ● Wahrheitswert: Er wird bereits durch die Formulierung einer Aussage dem Inhalt zugeschrieben, vorab jeder Prüfung. Wahrheitswerte sind Grundlage der Logik und ermöglichen Schlussfolgerungen (Kapitel III/ 3). ● Wahrheitszuschreibung: Damit entscheidet man sich bewusst für einen bestimmten Wahrheitswert im Rahmen einer Aussage, die wir dann „Behauptung“ nennen. Hier zählt, dass man sich von der Wahrheit überzeugt hat oder von ihr überzeugt ist (Kapitel III/ 3). 166 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen <?page no="167"?> ● Wahrheitsbegründung: Damit gibt man an, was einen bewogen hat, einen Wahrheitsanspruch für eine Behauptung oder These aufzustellen. Das führt ins Argumentieren, mit dem man Argumente oder Belege anführt, die den Wahrheitsanspruch stützen (Kapitel IV). ● Wahrheitsanspruch: Damit positioniert man sich in einem sozialen Zusammenhang mit einer Behauptung oder These, indem man dekla‐ riert, dass man sie für wahr anzunehmen gewillt ist. „Ich behaupte, dass …“ ist die sprachlich prägnanteste Formulierung, um einen solchen An‐ spruch geltend zu machen, es gibt aber viele alternative Formulierungen dafür, die den Anspruch einschränken oder verstärken können (Hedges und Booster) (Kapitel 3 und 7). ● Wahrheitsempfinden: Dies bezieht sich auf die subjektive Wahrneh‐ mung von wahr oder falsch während des Denkens. Dieses Empfinden variiert von einer schwachen Wahrheitsannahme bis zu einer völligen Überzeugtheit von der Wahrheit. Darauf wird zurückzukommen sein. Wichtig für Sie im Studium ist es, sich klarzumachen, dass wir es in den Wissenschaften nicht einfach mit wahr und falsch zu tun haben, sondern der Regel mit Wahrheitsansprüchen und -begründungen. Es geht darum, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler behaupten, etwas sei wahr oder falsch. Wahrheitsansprüche aufzustellen ist immer ein sozialer Vorgang, und er wird immer mit einer ganzen Reihe von Begründungen und Sicherheits‐ vorkehrungen vorgebracht. Die entsprechende Fachgemeinschaft erhält damit Gelegenheit, jede Behauptung samt ihren Begründungen zu studieren und sich zu ihrem Wahrheitsgehalt zu äußern. Die Ablehnung einer absoluten Wahrheitsvorstellung muss aber nicht pessimistisch stimmen. Wir haben im Verlauf der Darstellung schon meh‐ rere Ansätze gefunden, mit denen wir die Glaubwürdigkeit wissenschaftli‐ cher Aussagen erhöhen können. Auch dort haben wir jeweils unterschied‐ liche Zuschreibungen vorgenommen: ● Logik, so hatten wir gesagt, hilft uns beim Wahrheitstransfer in Schluss‐ folgerungen, kann allerdings selbst nicht sagen, ob die Prämissen, von denen aus wir auf die Wahrheit der Konklusion schließen, wahr sind oder nicht. Wahrheit ist dort eine Annahme über eine Aussage und wir können nur Aussagen mit Aussagen in Beziehung setzen. Mit der Realität kommen logische Schlüsse nie in Kontakt. ● Das Argumentieren, so haben wir gesehen, erlaubt uns, Behauptungen zu begründen und gegen Gegenbehauptungen abzusichern. Argumente 1 Wahrheitskonzeptionen 167 <?page no="168"?> erhöhen die Glaubwürdigkeit von Aussagen, können aber nicht als Beweis für deren Wahrheit gelten. Wir könnten jedoch argumentieren, dass eine Aussage, an deren Begründung niemand mehr zweifelt, als wahr angesehen werden sollte. Dann hätten wir Wahrheit letztlich über einen Konsens definiert, was einem eher schwach definierten Wahrheitskonzept entsprechen würde. Dazu später noch mehr. ● Mit empirisch gewonnenen Objektivierungen (Beobachtung, Experi‐ ment, Quelle, Befragung, Dokumente) können wir die Existenz von Fakten glaubwürdig belegen. Wir können damit unter Umständen auch eine Einigung darüber herstellen, ob etwa ein Ereignis wie der Wahlbe‐ trug bei der letzten US-Wahl (im Jahr 2020) stattgefunden hat oder nicht. Alle Zweifel ausräumen werden wir allerdings auch damit nicht können. Fakten können zudem nicht wahr oder falsch sein, sondern sie sind existent oder nicht. Allenfalls können Aussagen über Fakten wahr oder falsch sein. Viele Gegebenheiten der Welt akzeptieren wir als Fakten, da sich seit langer Zeit kein Widerspruch dagegen mehr geregt hat. Auch hier wäre neben der Belegbarkeit eines Faktums der Konsens die entscheidende Bestätigung für seine Existenz. ● Belege aus der Forschung können wir nach Qualitätskriterien wie Validität, Reliabilität, Signifikanz etc. beurteilen und zur Absicherung von Fakten oder Behauptungen heranziehen. Auch das erhöht die Glaub‐ würdigkeit des Wissens und dessen Zuverlässigkeit. Der Bezug zur Wahrheit bleibt aber auch hier allenfalls ein Verhältnis der Annäherung, aber keines der Identität. Alle diese gedanklichen und empirischen Mittel sind schon ein Gewinn gegenüber einem Wissen, das intuitiv gewonnen wird. Sie alle geben Behauptungen, Fakten oder Wissen Gewicht und erhöhen seine Glaubwür‐ digkeit. Uns fehlt aber immer noch die Brücke zu dem, was Wahrheit ist. Der nächste Abschnitt soll uns dem näherbringen. Wahrheitskonzeptionen Es gibt mehrere Wahrheitskonzeptionen in der Philosophie, die alle zu rekapitulieren hier unmöglich ist. Eine Einteilung von Müller (2011) kann uns helfen, die Vielfalt auf drei prinzipielle Lösungen zu reduzieren, die nicht nur von philosophischer, sondern auch von praktischer Bedeutung sind. Die Korrespondenztheorie ist wohl der im Alltag und auch im (naiven) Wissenschaftsverständnis wichtigste Lösungsvorschlag. Der Ursprung die‐ 168 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen <?page no="169"?> ser Theorie wird Thomas von Aquins Schrift „Quaestiones disputatae de ve‐ ritate“ zugeschrieben. Sie setzt Ideelles (Gedanke, Aussage, Theorie) in Be‐ ziehung zu einem Ausschnitt der Wirklichkeit und behauptet, dass Wahrheit aus einer Korrespondenz zwischen beiden besteht. Das ist nachvollziehbar, da wir im Alltag einen Satz wie „Es schneit“ dann für wahr halten, wenn wir aus dem Fenster schauen und Schneeflocken sehen. Auch empirische Forschungsmethoden scheinen diesem Wahrheitsmuster zu folgen, wenn wir prüfen, ob sich eine Hypothese mit Daten aus der Wirklichkeit belegen oder zurückweisen lässt. So plausibel der Grundgedanke allerdings sein mag, so schwierig ist es zu sagen, was man eigentlich womit in Beziehung setzt. Welcher Ausschnitt der Realität kann zu einer Aussage wie „Die Integration der EU wird weiter fortschreiten“ in Beziehung gesetzt werden? Insbesondere bei abstrakten Begriffen wie „Integration“ ist das Herstellen einer Korrespondenzbeziehung schwierig. Der gewichtigste Einwand ist jedoch, dass wir die Realität nirgends an sich zu fassen bekommen. Alles, womit wir unsere Gedanken konfrontieren können, ist bereits selbst ge‐ danklich durchdrungen, sprachlich begründet oder methodisch erschlossen. Wir konfrontieren somit Gedanken eher mit anderen Gedanken als mit der Wirklichkeit. Dennoch dürfte die Vorstellung einer Korrespondenz zwischen Gedanken und Realität der Motor aller empirischen Forschung sein. Wir können diese Konzeption nicht gänzlich verwerfen. Die Kohärenztheorie sieht, ich folge immer noch der Darstellung von Müller (2011), Wahrheit als etwas an, das aus einer Übereinstimmung von Gedanken mit Gedankensystemen entsteht. Richtig wäre ein Gedanke dann, wenn er in ein größeres Theoriesystem hineinpasst. Diese Definition bringt Wahrheit mit theoretischer Rechtfertigung zusammen, geht also davon aus, dass die Wahrheit eher durch Argumentieren als durch ihre Übereinstimmung mit irgendeinem Aspekt der Wirklichkeit hergestellt werde. Der rationale Kern dieser Ansicht besteht darin, dass es tatsächlich immer theoretischen Wissens bedarf, um Wahrheit beurteilen zu können. Was aber, wenn konkurrierende, miteinander unvereinbare Theoriesysteme vorhanden sind, sodass ein Gedanke im einen wahr und im anderen falsch erscheint? So wichtig Kohärenz im Denken sein mag, es scheint die Brücke zu außertheoretischen Sphären nicht herstellen zu können und wird sich letztlich in einen Begründungsregress begeben müssen. Die Konsenstheorie geht auf den intersubjektiven Charakter von Wahrheit ein und sieht Wahrheit aus der Auseinandersetzung über einen Sachverhalt entstehen. Habermas (1984), der diese Theorie maßgeblich 1 Wahrheitskonzeptionen 169 <?page no="170"?> ausgearbeitet hat, interpretiert Wahrheit über einen „Geltungsanspruch“, der mit einer Behauptung verbunden wird. Wahrheit tritt dann ein, wenn dieser Anspruch sich durchsetzt und von einer Gemeinschaft akzeptiert wird. Habermas (2004) trägt der Tatsache Rechnung, dass die Welt, in der wir leben, immer schon sprachlich konstituiert und symbolisch vermittelt ist, sodass eine Konfrontation von Gedanken mit der Realität, wie es die Korrespondenztheorie fordert, gar nicht möglich ist. Müller (2011) fragt sich allerdings, was geschieht, wenn alle im Irrtum über eine Sache sind - könnte ein Konsens dann wahr sein? Auch müsste man entsprechend der Konsenstheorie annehmen, dass eine Behauptung falsch ist, solange sie nicht zum Konsens geworden ist. So wichtig man also aus der Praxis der Wissenschaft die Bedeutung von Diskursen für die Wissensentwicklung einschätzen mag, so unbefriedigend wäre eine Wahrheitstheorie, die allein auf Konsens aufbaut. Wir werden hier nicht zu einer Entscheidung über die Angemessenheit dieser drei Theorien gelangen und es wäre vermutlich auch unsinnig, zwei der drei über Bord zu werfen, da jede von ihnen einen relevanten Aspekt von Wahrheit zu erfassen scheint. Die Praxis wissenschaftlichen Denkens, scheint sich vielmehr auf alle drei Kriterien zu stützen und wird immer zum Teil empirisch, zum Teil theoretisch und zum Teil diskursiv sein. Wir werden in einem der nächsten Abschnitte darauf zurückkommen, dass es sich anbietet, Wissen als etwas zu verstehen, das genau diese drei Forderungen erfüllt: Es ist empirisch erschlossen, theoretisch eingebettet, und diskursiv geprüft. Der kurze Blick auf Wahrheitstheorien sollte gezeigt haben, dass wir eine naive Vorstellung absoluter Wahrheit vermeiden müssen und dass wir heute kein konsistentes und akzeptiertes Wahrheitskonzept zur Verfügung haben. Stattdessen haben wir aber eine Reihe sekundärer Kriterien gefunden wie Begründetheit, Belegtheit, logische Konsistenz, diskursive Bestätigung, Gütekriterien usw., die uns Hinweise auf die Glaubwürdigkeit von Aussagen geben. Soll man dann den Begriff von Wahrheit weiterverwenden? Aber natür‐ lich. Poser (2007) schlägt vor, man solle Wahrheit als ein übergeordnetes Regulativ verstehen, das zwar nicht fassbar ist, aber unsere Erkenntnisbe‐ mühungen dennoch leitet. „Hinter allem Bemühen um ein besseres Wissen steht deshalb als ein letzter, unerreichbarer Fluchtpunkt die regulative Idee der Wahrheit, der alle Suche nach wissenschaftlichem Wissen und dessen Mehrung verpflichtet ist.“ Wahrheit könnten wir damit als einen 170 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen <?page no="171"?> Wert oder ein Ideal charakterisieren, das genauso fundamental und genauso unerreichbar ist wie vergleichsweise die Gerechtigkeit, das Gute oder das Schöne. Das Wahrheitsempfinden Von dem Begriff Wahrheit als erkenntnistheoretischer Kategorie muss man die subjektive Kategorie des „Wahrheitsempfindens“ oder „Wahrheits‐ gefühls“ unterscheiden. Wahrheit ist auch eine bestimmte Denkerfahrung, die mit der subjektiven Gewissheit einhergeht, eine Aussage sei richtig oder ein Sachverhalt sei gegeben. Dieses Wahrheitsempfinden ist vermutlich Resultat einer Erziehung zur Wahrheit, in der Lügen verpönt ist, und einer schulischen Erziehung, die die Kategorien „richtig“ und „falsch“ als Zentrum ihres Wertekosmos etabliert hat. Eine intensives Wahrheitsgefühl führt in der Regel dazu, dass der tat‐ sächliche Wahrheitsgehalt eines Gedankens nicht mehr reflektiert wird. Das Wahrheitsempfinden kann durch Alkohol und andere Drogen, durch ein Übermaß an Schilddrüsenhormonen oder durch eine Hochstimmung empfindlich beeinflusst werden, sodass plötzlich alle eigenen Gedanken als außerordentlich wahr erscheinen. Auch fehlende Überzeugtheit in Be‐ zug auf den Wahrheitsgehalt eigener Gedanken kann ein Problem sein. Empfindet man einen Gedanken nicht als wahr, wird man ihn kaum in die Diskussion einbringen. Das Wahrheitsempfinden ist unzuverlässig. Es ist täuschungsanfällig wie alle subjektiven Erfahrungen. Es ist eine wichtige Lernleistung im Verlauf des Studiums, das subjektive Wahrheitsempfinden an die objektiven Indikatoren, die wir für Wahrheit haben, anzupassen, sodass beide nicht auseinanderklaffen. Ein stark ausgeprägtes subjektives Wahrheitsgefühl kann auch - verbun‐ den mit entsprechenden Wahrheitsüberzeugungen - leicht zu Rechthaberei führen. Dörner (2003, S. 66) hatte in seiner Studie zum strategischen Denken bemerkt, dass seine Versuchspersonen oft auch dann Recht behalten wollten, wenn sie sich geirrt hatten: „Menschen, wenn sie schon nicht Recht haben, behalten es doch gerne, und dies besonders in Situationen, in denen ihnen Zweifel und Unsicherheit zusetzen. Einzugestehen, dass man etwas nicht weiß oder dass man etwas Falsches ange‐ nommen hatte, als man eine bestimmte Entscheidung traf […] ist wohl gerade ein 1 Wahrheitskonzeptionen 171 <?page no="172"?> Zeichen der Weisheit und die meisten Akteure in komplexen Handlungssituati‐ onen sind nicht oder noch nicht weise.“ Dörner weist darauf hin, dass das Wahrheitsempfinden eng mit dem Selbst‐ wert verbunden ist und gemeinhin auch der Reduktion von unangenehmen Gefühlen wie Zweifel und Unsicherheit dient. Das Streben nach Sicherheit im Wissen, wie es in festgefügten Realitätsmodellen (ein Ausdruck, den Dörner in diesem Zusammenhang ins Spiel bringt) oder Weltbildern zum Ausdruck kommt, verknüpft damit die Stabilisierung des Selbstwertes mit einer sicheren Orientierung in komplexen Zusammenhängen. Diese Sicher‐ heit zu finden ist ein wichtiges Motiv des Lernens, aber leider auch eine genauso häufige Ursache für dogmatische Ansichten und Rechthaberei. Es gilt aber auch: Beim Denken sind wir auf das subjektive Empfinden für Wahrheit angewiesen. Dieses Gefühl lässt sich nicht ersetzen, sondern nur reflektieren und mit den objektivierbaren Wahrheitsindikatoren abgleichen. Es leitet das Denken und belohnt erfolgreiches Denken zusätzlich durch eine angenehme Empfindung von Verstehen und logischer Stimmigkeit. Das gilt für kritische wie unkritische Denkerinnen und Denker gleichermaßen. Der Unterschied zwischen beiden besteht allein darin, dass die kritischen Denkerinnen und Denker immer noch eine weitere Prüf- oder Reflexions‐ schlaufe einschieben, ehe sie etwas als wahr akzeptieren. Für Sie ist dabei zu lernen, dass es wichtig ist, ihren Selbstwert eher an ihrem skeptischen Blick festzumachen, als am Glauben, im Besitz einer unerschütterlichen Wahrheit zu sein. 2 Die Bewährung von Wissen Auch wenn wir, wie gerade dargestellt, Wissen nicht über dessen Wahrheit definieren können, brauchen wir Unterscheidungen zwischen solchem Wis‐ sen, dem wir vertrauen können, und solchem, das wir fraglich finden. Woran machen wir den Unterschied fest? Es gibt besser geprüftes und weniger gut geprüftes Wissen. Es gibt faktenbasiertes und spekulatives Wissen. Es gibt akzeptiertes und nicht akzeptiertes Wissen. Es gibt praktisch erprobtes und unerprobtes Wissen. Es gibt theoretisch integriertes und isoliertes Wissen. Der folgende Abschnitt geht darauf ein, wie wissenschaftliche Gemeinschaften die Verlässlichkeit von Wissen diskutieren und aushandeln. Der Schlüssel für die Beurteilung ist dabei der Begriff „Stand des Wissens“, eine Formulierung, die immer auf den augenblicklichen Forschungs- und 172 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen <?page no="173"?> Diskussionsstand eingeht, und die die Annahme enthält, dass dieser Stand nicht in Erz gegossen ist, sondern laufend geprüft und fortgeschrieben werden muss. Wie wir an der Diskussion über Wahrheit gesehen haben, gibt es drei Säulen, auf denen Erkenntnis ruht. Diese Säulen charakterisieren wesentli‐ che Indikatoren, die wir zur Beurteilung der Verlässlichkeit von Wissen einsetzen können. Wir haben drei von ihnen bereits kennengelernt. Eine vierte, die Praxis, kommt jetzt noch dazu. Die Bewährung des Wissens in der Praxis ist eine optionale Bedingung, die vor allem in den angewandten Wissenschaften von Bedeutung ist. So sind es also vier Elemente der Bewährung von Wissen: ● Reflexion. Wissen muss durchdacht, theoretisch konsistent, in sich logisch und strukturiert sein. ● Empirie. Wissen muss objektiviert sein durch eine Konfrontation mit der Erfahrung, d. h. beobachtet, geprüft, gesammelt, gemessen, erfragt oder experimentell getestet. ● Diskurs. Alles Wissen entsteht kollektiv und braucht im weiteren Sinne eine Bestätigung durch den Konsens einer Fachgemeinschaft; es muss also entsprechend verschriftlicht, publiziert, diskutiert, geklärt, und in ein Wissensnetzwerk eingebunden sein. ● Praxis. Viele Wissensbestandteile werden in praktischen Kontexten eingesetzt und bewähren sich entsprechend durch ihre Verlässlichkeit bei der Lösung praktischer Anliegen, ohne dass sie notwendigerweise wissenschaftlich abgesichert sind. „Bewährung“ heißt, dass uns Reflexion, Empirie, Diskurs und Praxis Hin‐ weise darauf geben, ob wir Wissen (weiterhin) als gültig ansehen sollen oder nicht. Und jedes der vier Elemente liefert andere Kriterien, die wir dafür anführen können. Jedes der vier ist aber auch eine Quelle der Skepsis, die wahlweise die theoretische Stimmigkeit, die Akzeptanz, die empirische Basis oder die praktische Verlässlichkeit in Zweifel zieht. Jedes Kriterium liefert also Hinweise für den temporären Zustand der Qualität des Wissens, wenn es in sich konsistent (Reflexion), methodisch geprüft (Empirie), in der Auseinandersetzung unter Fachleuten akzeptiert (Diskurs) oder in prakti‐ schen Kontexten erprobt (Praxis) ist. Sind diese Kriterien erfüllt, können wir von „unstrittigem Wissen“ sprechen. Das ist Wissen, zu dem augenblicklich keine theoretische Dissonanz, kein widersprechendes empirisches Resultat, keine gegenläufige Position und kein praktischer Einwand vorhanden ist. 2 Die Bewährung von Wissen 173 <?page no="174"?> 3 Sicheres, unsicheres und fehlendes Wissen In der Praxis des wissenschaftlichen Publizierens hat es sich eingebür‐ gert, Wissen sehr global nach seiner Verlässlichkeit in drei Kategorien einzuteilen. Wissen kommt uns in Publikationen nicht nur als einzelnes Forschungsergebnis entgegen, sondern in synthetisierter Form, d. h. als Teil einer komplexeren Wissensdarstellung, in die die Ergebnisse vieler einzelner Forschungshandlungen eingegangen sind. Immer enthalten sind in solchen Wissenssynthesen auch die unterschiedlichen Ansichten über die Beschaffenheit des infrage stehenden Gegenstandes und die Deutungen der vorhandenen Forschungsergebnisse. Abbildung 4 zeigt eine Einteilung von Wissen, wie sie in den Wissen‐ schaften (implizit) vorgenommen wird. Dabei wird „gesichertes“ oder „un‐ strittiges“ Wissen von strittigem und fehlendem Wissen unterschieden. Unstrittiges Wissen ist dabei Wissen, das ausdiskutiert ist und an dem aktuell kein Zweifel geäußert wird. Es ist idealerweise durch mehrere empi‐ rische Prüfschlaufen gegangen, in mündlichen und schriftlichen Diskursen ausgehandelt, theoretisch eingeordnet und gegebenenfalls erfolgreich prak‐ tisch verwendet worden, sodass es in Literaturberichten, Monographien und Lehrbüchern als gültiges Wissen akzeptiert wird. Allerdings können wir auch unstrittiges Wissen nicht guten Gewissens als „wahr“ bezeichnen, sondern lediglich als etwas, zu dem im augenblicklichen Stand des Wissens und bei den vorhandenen Forschungsmethoden kein Widerspruch angezeigt ist. Die Strittigkeit von Wissen kann sich unterschiedlich ausdrücken. Manchmal hat man es mit widersprüchlichem Wissen zu tun, wenn die Em‐ pirie nicht zu eindeutigen Ergebnissen kommt oder wenn die theoretische Integration der Forschungsergebnisse uneinheitlich ist. Manchmal beruht es auf singulären Untersuchungen, die nur unzureichend generalisierbar sind, oder auf Quellenlagen, in denen wichtige Materialien oder Dokumente fehlen. Ebenso können Forschungsergebnisse unzusammenhängend und mangelhaft aufeinander bezogen sein. Auch die methodische Sicherheit kann der Forschung fehlen, sodass Zweifel an der Gültigkeit der Ergebnisse nicht auszuräumen sind. Man kann strittiges Wissen durchaus verwenden (und muss es sogar tun), solange man die Einwände dagegen artikuliert und die Art des Dissenses offenlegt. Es ist vermutlich die wichtigste Eigenschaft von kritischem Denken, mit strittigem Wissen umgehen und seinen Wert realistisch einschätzen zu können. 174 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen <?page no="175"?> 174 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen nicht guten Gewissens als »wahr« bezeichnen, sondern lediglich als etwas, zu dem im augenblicklichen Stand des Wissens und bei den vorhandenen Forschungsmethoden kein Widerspruch angezeigt ist. Die Strittigkeit von Wissen kann sich unterschiedlich ausdrücken. Manchmal hat man es mit widersprüchlichem Wissen zu tun, wenn die Empirie nicht eindeutig oder wenn die theoretische Integration der Forschungsergebnisse uneinheitlich ist. Manchmal beruht es auf singulären Untersuchungen, die nur unzureichend generalisierbar sind, oder auf Quellenlagen, in denen wichtige Materialien oder Dokumente fehlen. Ebenso können Forschungsergebnisse unzusammenhängend und mangelhaft aufeinander bezogen sein. Auch die methodische Sicherheit kann der Forschung fehlen, so dass Zweifel an der Gültigkeit der Ergebnisse nicht auszuräumen sind. Man kann strittiges Wissen durchaus verwenden (und muss es sogar tun), solange man die Einwände dagegen artikuliert und die Art des Dissenses offenlegt. Fehlendes Wissen oder Unwissen schließlich ist schon seit der Antike eine sehr viel wichtigere Größe für die Wissenschaften, als man anfangs anzunehmen gewillt ist. Geläufig ist der Sokrates zugeschriebene Ausspruch »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, der als Beleg dafür gilt, dass im Erkennen des Nichtwissens die einzig sichere Basis des Wissens zu sehen ist. Als Zitat von Sokrates hat Plato überliefert, dass er sich selbst zugute schrieb, »dass ich, was ich nicht weiss, auch nicht glaube zu wissen.« Darin drückt sich sowohl das Wissen um das eigene Nichtwissen aus, • Empirische Belege sind eindeutig • Diskursiv geprüft • Theoretisch Konsistent • Praktisch erprobt • Offene Fragen • Forschungslücke • Hypothetisches Wissen • Spekulatives Wissen • Praktisch unerprobt • Widersprüchliche Belege • Unklare Generalisierbarkeit • Divergente Interpretationen • Fraglicher Nutzen Gesichertes Wissen Strittiges Wissen Unwissen Abbildung 4: Qualität von Wissen Abb. 4: Qualitäten von Wissen. Fehlendes Wissen oder Unwissen schließlich ist schon seit der Antike eine wichtigere Größe für die Wissenschaften, als man anfangs anzunehmen gewillt ist. Geläufig ist der Sokrates zugeschriebene Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, der als Beleg dafür gilt, dass im Erkennen des Nichtwissens die einzig sichere Basis des Wissens zu sehen ist. Platon (1818) hat überliefert, dass Sokrates sich selbst zugute schrieb, „dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ Darin drückt sich sowohl das Wissen um das eigene Nichtwissen aus, wie auch die Ablehnung von Scheinwissen, beides Denkfiguren, die in den Wissenschaften bis heute (oder heute mehr denn je) präsent sind. Heute wird das Nichtwissen differenzierter betrachtet und die Tatsache akzeptiert, dass das Nichtwissen schneller wächst als das Wissen. Und dieses Nichtwissen ist Resultat wissenschaftlicher Aktivität (vgl. Wehling 2007). Aber es ist nicht mehr „unerkanntes Nichtwissen“, sondern „identifiziertes Nichtwissen“, wie Gottschalk-Mazouz (2007, S. 33) bemerkt: „Nichtwissen […] liegt dann vor, wenn jemand in irgendeiner Weise weiß, dass er oder sie etwas nicht weiß.“ Herrscht hingegen „Unwissenheit“ vor, so grenzt er das vom „identifizierten Nichtwissen“ dadurch ab, dass das Wissen um das Nichtwissen fehlt. In den Wissenschaften ist das Wissen über das Nichtwissen ein wichtiger Ausganspunkt für neue Forschung und wird regelmäßig zur Legitimierung von Forschungsprojekten herangezogen. Eine der häufigsten Begründungen für ein Forschungsprojekt liegt darin, die Wissens- oder Forschungslücke 3 Sicheres, unsicheres und fehlendes Wissen 175 <?page no="176"?> darzustellen, die man mit der entsprechenden Forschung beseitigen möchte (siehe Kapitel IV, 6). Diese Darstellung des Nichtwissens zwingt in gewisser Weise dazu, eine Frontlinie der Forschung zu beschreiben, die das bereits Ge‐ wusste vom noch nicht Gewussten scheidet (wobei das strittige Wissen die Übergangszone zwischen beiden darstellt). Dies zu tun ist für Studierende ist naturgemäß ein schwieriges Unterfangen, solange sie die persönlichen Wissenslücken nicht von den disziplinären Wissenslücken unterscheiden können. Für die Arrivierten ist das Verständnis des fachlichen Nichtwissens ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Forschung, denn es bietet Zugang zu guten Forschungsthemen. Betrachtet man die Wissenslücken, die in Forschungsberichten beschrie‐ ben werden, so findet man, dass sehr Unterschiedliches darunter subsumiert wird wie: ● Wissensbereiche sind nicht erkundet, dokumentiert oder inventarisiert ● empirische Belege für eine Behauptung oder Theorie fehlen ● kausale Zusammenhänge oder systemische Parameter sind unklar oder unbekannt ● Fakten sind nicht belastbar oder nicht eindeutig interpretierbar ● Wissen wird auf rein theoretischem, d. h. spekulativem Wege begründet ● Wissen ist nicht eingebettet in größere Zusammenhänge ● die Wirksamkeit bestimmter Interventionen ist nicht bekannt. Generell haben alle drei Arten von Wissen/ Nichtwissen ihre jeweils eigene Bedeutung für Wissensdarstellungen und Forschungsbegründungen, die hier noch einmal kurz zusammengefasst werden soll: ● Das sichere Wissen dient in der Regel als Ausgangspunkt für die Forschung. Es gibt eine Basis an, von der Neues erkundet werden soll, und zu deren Erweiterung neue Forschung dienen soll. ● Das strittige Wissen dient in der Regel dazu, fachlichen Dissens und Meinungsunterschiede anzusprechen. Es wird verwendet, um Felder zu markieren, in denen Probleme existieren, zu deren Lösung die Forschung beitragen kann. Es ist dementsprechend eine wichtige Basis für die Begründung der Notwendigkeit von Forschung. ● Das fehlende Wissen wird in der Regel benannt, um das zu bestimmen, was Ertrag der Forschung sein soll. Alle wissenschaftlichen Methoden dienen letztlich dazu, Wissenslücken zu beseitigen. 176 VII Wahrheit, Wirklichkeit und Wissen <?page no="177"?> VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz 1 Digitalisierung: Wohin geht die Reise? 2 Generative KI - was ist neu? 3 Technologien für das wissenschaftliche Arbeiten Digitale Technologie ist längst nicht mehr einfach ein externes Hilfs‐ mittel, das das Denken etwas erleichtert wie der Taschenrechner, sondern sie wird immer mehr zu einem zentralen Bestandteil davon. Intellektuelle Leistungen, die wir lange allein im Kopf bewältigt haben, werden zunehmend von Maschinen erledigt, so etwa das Formulieren und Überarbeiten von Texten, das Auffinden von Argumenten, das Recherchieren von Literatur, das Berechnen von Formeln, die Samm‐ lung von Ideen und das Zusammenfassen wissenschaftlicher Artikel. Spätestens mit der neuen generativen künstlichen Intelligenz (KI) hat der menschliche Intellekt eine ernsthafte Partnerin gefunden, die jetzt auch die höheren Denkfunktionen unterstützt, wenn nicht gar ersetzt. In absehbarer Zeit wird die KI in kaum einem Bereich des Lernens, Studierens, Forschens und Denkens mehr fehlen, auch wenn wir noch nicht genau abschätzen können, welche Dimensionen dieses Eindrin‐ gen der Technik in das Denken annehmen wird. KI kritisch zu nutzen heißt, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie weder zu ignorieren noch zu mystifizieren. Die generative KI hat Mängel, die menschliches Denken noch lange nicht überflüssig machen. Das Kapitel wird zeigen, dass es neben der KI, die im Moment alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, noch sehr viel mehr Technologien gibt, die wissenschaftliches Arbeiten und Denken gezielt unterstützen. Wir müssen uns schließlich auch damit beschäftigen, welche Denkfunktionen uns Menschen bleiben, weil sie von den Maschinen nicht übernommen werden können. <?page no="178"?> 1 Digitalisierung: Wohin geht die Reise? Mit den digitalen Medien hat sich die Menschheit auf eine Reise ohne Wiederkehr begeben, und mit der Künstlichen Intelligenz (KI) hat sich das Tempo der Reise noch einmal beschleunigt. Derzeit gerät vieles, was unsere intellektuellen Gewohnheiten betrifft, aus den Fugen und wandelt sich. Das bezieht sich nicht nur auf das, was wir seit Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse als gegeben angenommen haben, sondern auch das, was wir bis vor Kurzem noch als „neue Medien“ angesehen haben. Die KI führt in eine neue digitale Revolution, von der wir derzeit nur den Ausgangspunkt sehen. Immer mehr von dem, was wir mit unserem Gehirn geleistet haben, wie dem Zählen, Rechnen, Planen, Erinnern, Or‐ ganisieren, Formulieren, Recherchieren und Kommunizieren übernehmen KI-getriebene Technologien. Es gibt praktisch keine Aufgabe mehr, zumal in den Wissenschaften, für deren Lösung wir nicht KI einsetzen. Wir haben noch nicht realisiert, dass wir, wie Bazerman (2018) sagt, längst zu intellektuellen Cyborgs geworden sind, zu einer Mischung aus Gehirn und Chips sozusagen. Diese Wandlung hat lange vor der KI begonnen, denn schon die konventionellen Denk-, Organisations-, Gestaltungs- und Kommunikationshilfen, die wir in unseren Laptops, Pads, Smartphones und Uhren besitzen, sind Verstärker unserer natürlichen intellektuellen Fähigkeiten. Mit der KI beschleunigt sich der Wandel und greifen die Technologien tiefer und radikaler in unsere intellektuellen Domänen ein. Wir müssen die KI also im Gesamtkontext der Digitalisierung betrachten, denn deren Entstehung hat fünfzig Jahre und mehr Vorlauf. Das Medienzeit‐ alter von Papier und Buchdruck, das von der Digitalisierung abgelöst wird, hatte McLuhan (1994) als eine „Diktatur des Textes über unsere Sinne“ be‐ zeichnet. Ein starker Ausdruck, der unsere Abhängigkeit von der durch die Papierform geprägten Gedankenorganisation beschreibt. Das Buch zwingt unserem Verstand Leistungen ab (beim Schreiben wie auch beim Lesen), die die Funktionsweisen des Gehirns bestimmen. Das Buch erlaubt uns, Gedanken auf mehreren hundert Seiten auszubreiten und zwingt uns, die von anderen solchermaßen ausgebreiteten Gedanken nachzuvollziehen. Es lässt uns gedankliche Welten konstruieren, die logisch geordnet und strukturiert sind, unabhängig davon, ob die wirkliche Welt das auch ist. Die typographische Welt des Papiers verschmolz gewissermaßen mit der mentalen Organisation unserer Gedanken, die durch den Mediengebrauch selbst linear und hierarchisch geformt wurde. Wer Bücher liest, kann auf die 178 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="179"?> Qualität solcher Texte vertrauen, muss sich aber deren Regime beugen und die langen Wortketten Stück für Stück in Gedanken und Sinn übersetzen. Wenn man McLuhans Metapher auf die heutige Medienwelt überträgt, wie wäre dann die entsprechende, heutige „Diktatur der digitalen Medien“ zu beschreiben? Sie ist eher durch die Welt des Internets geprägt, in der Strukturen naturwüchsig entstehen und keine systematische Prüfung von Qualität, Ordnung, Konsistenz oder ethischer Verträglichkeit vorhanden ist. Die Kontrolle, die die digitalen Medien über unser Denken und Verhalten ausüben, das können wir getrost sagen, ist sehr viel umfassender als die der Buchwelt, greift tiefer in alle Bereiche des Lebens ein, nimmt unsere Sinne über mehr Kanäle in Beschlag und prägt unsere Gedankenabläufe dementsprechend stärker. Mit der KI haben wir zudem eine Technologie, die uns in unsere Formulierungen und damit auch in die Gedankenproduktion hineinredet und mit der wir kommunizieren müssen. Sie greift immer mehr in kreative Abläufe ein und scheint mehr Phantasie zu haben als wir selbst. Wir leben also, um in McLuhans Metapher zu bleiben, nicht mehr in einer autoritären Diktatur alter Prägung (wie sie der Buchdruck darstellte), sondern rutschen immer mehr in eine totalitär kontrollierte Form medialer Versklavung hinein, in der wir uns auf Schritt und Tritt den digitalen Techniken ausliefern. Das ist, wohlgemerkt, eine Metapher, die parallel zu McLuhans „Diktatur des Textes“ formuliert wurde und sie soll absichtlich dramatisch klingen, damit sie sich einprägt. Wir müssen im Blick behalten, dass wir zwar auswählen können, welche Technik wir nutzen, aber selbst nicht diejenigen sind, die deren Entwicklung in der Hand haben. Wir müssen uns in Acht nehmen, dass wir die spezifisch menschlichen Potenziale des Denkens ausbauen, um mit der KI mithalten zu können. Dazu gehören zwei Dinge: einmal die KI zu verstehen, zu nutzen und ihr Potenzial auszuschöpfen und zum Zweiten, das zu übernehmen, was die KI nicht kann. Letzteres besteht nicht nur darin, dass wir verstehen, was wir tun und die Ergebnisse unseres Tuns verantworten können, sondern auch darin, dass wir selbstständig, adaptiv, und reflexiv denken können. Damit sind wir wieder beim kritischen Denken angelangt, dem einzigen Korrektiv, das die Übergriffe der KI auf unsere intellektuelle Autonomie in Schach halten kann. 1 Digitalisierung: Wohin geht die Reise? 179 <?page no="180"?> 2 Generative KI - was ist neu? Mit der generativen KI hat eine dritte Revolution der Schreib- und Denk‐ technologie stattgefunden. Die erste der Revolutionen war die Erfindung der Textverarbeitung (und weiterer Office-Programme) in den 1980er-Jahren samt entsprechenden Kleincomputern. Diese Revolution hat uns mit Bild‐ schirm, Maus und Druckern ausgestattet und das Schreiben auf eine neue Basis gestellt. Die zweite Revolution war die Entstehung des Internets in den späten 1990ern samt World Wide Web und Plattformtechnologie. Das hat unser Denken und Wissen neu vernetzt und die Kommunikation entgrenzt. Was jetzt die dritte Revolution, die der KI bedeutet, ist noch nicht ausgelotet. Seit Programme wie ChatGPT, Bard oder deepL.com/ write verfügbar sind, können die Computer komplexe Texte, Graphiken und Videos generieren, was bisher ausschließlich Sache menschlicher Fähigkeiten war. Schreiben ist also beileibe nicht die einzige Leistung, die die KI erbringt, aber die für uns interessanteste. Was gerade an ChatGPT besonders überrascht ist die Tatsache, dass das Programm nicht nur passable Texte schreibt oder Graphiken herstellt, sondern dass man anschließend mit dem Programm über Verbesserungen verhandeln kann. ChatGPT schreibt zudem nicht nur Texte, sondern liefert auch brauchbare Beurteilungen für Texte, gibt Feedback, überarbeitet Texte und schreibt Abstracts dafür. Man kann bestimmte Stile vorschlagen und erhält entsprechend einen journalistisch, wissenschaftlich oder religiös klingenden Text. Die Stärken der neuen Technologie liegen eindeutig auf der Ebene von Formulierung und Rhetorik. Man kann sich von dem jeweiligen Tool fertige Text liefern lassen oder nur Ideen dafür, ebenso Zusammenfassungen vorhandener Texte, Gliederungen oder Tabellen mit gewünschten Inhalten. Längere Texte allerdings von den Dimensionen einer Abschlussarbeit waren zum Zeitpunkt, an dem dieses Buch geschrieben wurde, noch nicht oder nur mit qualitativen Abstrichen möglich. Die Schattenseiten der neuen Technologie liegen darin, dass sie manchmal Tatsachen erfindet und Literaturangaben macht, die es gar nicht gibt. Auch in den postulierten Zusammenhängen ist die Logik hinter den Aussagen nicht immer ganz sattelfest. Blind auf diese Technologie zu vertrauen wäre also gerade beim wissenschaftlichen Schreiben ein arger Fehler. Den glatten Textoberflächen, die sie produzieren, darf man nicht auf den Leim gehen. Die KI aber als kreative Technologie zum Aufbau oder zur Weiterentwicklung von Texten zu nutzen, ist sicherlich nützlich. Die derzeit an vielen Hoch‐ 180 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="181"?> schulen entstehenden Richtlinien für die Nutzung von KI beim Verfassen von Arbeiten gehen auch in die Richtung, dass KI nicht untersagt wird, dass aber Textpassagen, die von der Software verfasst wurden, kenntlich gemacht werden müssen, so ähnlich, wie man das mit Zitaten macht. Alternativ kann auch verlangt werden, dass die verwendete KI in der Selbstständigkeitserklärung angeführt wird. Sich anregen oder Texte von ihr überarbeiten lassen, dürfte hingegen ohne Hinweis erlaubt bleiben. Für Details müssen Sie bei Ihrer eigenen Hochschule nachfragen. Generell muss man über KI-Technologien zur Textherstellung wissen, dass sie nicht verstehen, was sie schreiben und was ihre Texte bedeuten. Die KI kann nicht beurteilen, ob etwas wahr ist, sondern nur, ob es wahrhaft klingt. Das ist eine erstaunliche Tatsache angesichts ihrer hohen Qualität. Die generativen Modelle beruhen auf der Basis von Wortvorhersagen und suchen einfach nur nach dem wahrscheinlichsten nächsten Wort, wobei sie darauf trainiert sind, menschlich klingende Sätze herzustellen. Sie wurden an sehr großen Textmengen trainiert, aus denen sie die Wahrscheinlichkei‐ ten für das nächste Wort mathematisch gewonnen haben. Die generative KI erweckt die Illusion, sie würde wie wir denken, aber in Wirklichkeit imitiert sie lediglich unsere Texte. Ihre Vorteile liegen darin, dass sie sehr viele Texte ausgewertet hat und sehr schnell ist. Die Large Language Models können auf unendlich viel kulturelles Wissen zugreifen, das sie dann rekombinieren. Auf diese Weise kommen schlüssig klingende Gedanken zustande. Ob wirklich neue Einsichten, wie wir sie in den Wissenschaften generieren, dabei sind, ist jedoch fraglich, auch wenn es so erscheinen mag. Die Hilfen, die man von der generativen AI erhalten kann, so zeigt eine Befragung an über 6000 Studierenden von Garrell et al. (2023), sind breit gestreut. Die Befragten gaben an, dass sie die AI für folgende Aktionen genutzt haben (nach absteigender Häufigkeit der Nennungen sortiert): ● für Recherchen und Literaturstudium ● zur Klärung von Verständnisfragen und um sich fachspezifische Kon‐ zepte erklären zu lassen ● für Übersetzungen ● zur Problemlösung, zur Entscheidungsfindung ● zur Textanalyse, Textverarbeitung, Texterstellung ● zur Prüfungsvorbereitung ● für Konzeptentwicklungen, Design ● zur Sprachverarbeitung 2 Generative KI - was ist neu? 181 <?page no="182"?> ● für Programmierungen und Simulationen ● zur Datenanalyse, Datenvisualisierung, Modellierung Mehr als die Hälfte der Studierenden dieser Untersuchung nutzte eines der gängigen Tools, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen den Fächern gab. Weitere Verwendungsweise aus einer eigenen Befragung (Cielibak et al., 2023) sind: Vorschlag für erste Gliederungsentwürfe, Übersicht über mögliche Literatur, Informationen über Begriffe, Konzepte, stilistische Textüberarbeitung, Generieren von Plots und Diagrammen, Hilfe beim Programmieren und Debugging. Die Verwendungsweisen sind also breit und unterscheiden sich von Person zu Person und Fach zu Fach. Niemand nutzt KI, um sich eine ganze wissenschaftliche Arbeit schreiben zu lassen. Dazu sind die gängigen Tools zu unzuverlässig und zu wenig fachspezifisch. Als Nachteile werden genannt: ● erfindet Literaturangaben, die es gar nicht gibt ● ist in den Argumentationen oft nicht wirklich logisch schlüssig, ● hat derzeit nur begrenzt Zugang zu Fachliteratur ● Systematische Literaturrecherche gelingt nicht. ● Bei fachlichen Themen, die nicht sehr häufig diskutiert werden, hallu‐ ziniert die KIT. KI ist derzeit also nur bedingt nützlich für fachliches Schreiben. Das anfäng‐ liche Erstaunen über die kompetent klingenden Formulierungen ist bald einer gewissen Ernüchterung gewichen, da man jeden Gedankengang, jede Literaturangabe etc. noch einmal nachprüfen muss. Dennoch findet man eine Menge an Anregungen, wenn die eigene Ideenproduktion klemmt oder wenn man Vorschläge für Definitionen, Strukturen, Überschriften oder Formulierungen braucht. Wie auch immer sich die KI noch weiterentwickeln wird, es gibt ein paar Dinge, die Sie beachten müssen: ● Verantwortung: Der Kern der wissenschaftlichen Textproduktion, nämlich für das einstehen zu können, was gesagt wird, tritt verschärft zutage. Auch wenn die Maschine Sinnzusammenhänge herstellt, bleiben Sie für den Inhalt verantwortlich und müssen jeden gedanklichen Schritt, jeden Begriff, jede Literaturangabe prüfen. ● Identität und Ownership: Auch wenn Sie rechtlich immer Eigentü‐ merin oder Eigentümer eines Textes bleiben, gleichgültig wie sehr die AI bei seiner Entstehung beteiligt war, fühlt sich ein AI-generierter Text nicht wie ein eigener an. Das wäre nicht tragisch, wenn es um einen 182 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="183"?> Beschwerdebrief geht oder einen Blogpost, aber wenn sie relevante Themen Ihres Fachs behandeln, dann sollten sie auch sich selbst in Ihrem Text wiederfinden können. ● Engagement und Initiative: Vermutlich werden Sie wenig Hilfe für den Gebrauch der Tools erhalten. Es gibt nur wenige entsprechende Lehrangebote und die Entwicklung verläuft zu schnell, als dass ein ein‐ zelner Lernakt ausreicht, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sie müssen also selbst die Initiative ergreifen und sich nicht nur einarbeiten, sondern auch am Ball bleiben, da sonst die Entwicklung über sie hinwegrollt. ● Begriffe und Terminologien im Griff behalten: Fachbegriffe ein‐ zuführen, zu definieren und konsistent zu verwenden, bleibt Aufgabe der menschlichen Autorinnen und Autoren. Glossare anzulegen, also Listen von Fachbegriffen mit kurzen Definitionen, kann dabei sehr nützlich sein. Generative Tools verwenden Fachbegriffe nur, wenn Sie sie vorgeben. ● Wissenschaftliches Arbeiten: Es wird vermehrt darauf ankommen, die Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu erfüllen und zu doku‐ mentieren. Dabei werden Sie möglicherweise verpflichtet sein, die Auswahlkriterien für Ihre Recherche genau zu beschreiben, Ihre Zusam‐ menfassungen mit einzureichen, Ihr persönliches Engagement an der Arbeit zu reflektieren und den Gebrauch der AI zu spezifizieren. ● Menschliches und maschinelles Feedback: Es ist komfortabel, sich von einer Maschine einen Text verbessern zu lassen. Nichts aber ersetzt das Gespräch über den eigenen Text mit anderen Menschen. Lassen Sie sich das nicht nehmen, denn der Maschine ist nicht wirklich an ihrer intellektuellen Entwicklung gelegen, und sie entwickelt sich auch nicht selbst, sondern denkt immer nur an das nächste Wort. Ähnlich wie im Schach, das trotz der Überlegenheit der Computer gerade eine Blütezeit erlebt, wird auch beim Schreiben menschliches Denken nicht unnötig. Ähnlich viel Autorität wie die Schach-Engins wird die generative KI allerding vermutlich nie erhalten, dazu ist fachliches Denken zu vielfältig. Ob man zur KI freundlich sein und z. B. „bitte“ sagen soll, ist unklar, aber es schadet auch nichts. Testen Sie Ihre KI selbst mit Themen, die Ihnen vertraut sind und handeln Sie dann Verbesserungen aus. Lassen Sie sich Literaturhinweise geben und prüfen Sie, ob diese auch wirklich existieren. 2 Generative KI - was ist neu? 183 <?page no="184"?> Wenn Sie mit KI-Tools noch nicht vertraut sind, empfehle ich Ihnen zwei Tools zum Anfangen, die beide frei zugänglich sind; für Google Gemini (früher Bard) braucht man lediglich eine kostenlose g-mail Adresse. Google Gemini (https: / / bard.google.com/ chat): Hier kann man Wünsche eingeben, was die KI liefern soll (ähnlich wie bei ChatGPT). Beispiel: „Bitte stelle mir eine Liste von Gründen zusammen, warum wir heute kritisches Denken dringend brauchen. Geh dabei bitte besonders auf die Herstellung von Texten ein.“ Oder: „Erkläre mir, was Geopolitik ist.“ Man kann jeweils nachfragen, falls man weitere oder tiefere Gedanken braucht. Bittet man das Tool, zusätzlich Literaturbelege einzufügen, können diese alt und oder gar erfunden sein. Klare Belege für Aussagen sollte man also nicht erwarten. Um mit Schreiben und Recherchieren anzufangen, sind die Antworten jedoch in der Regel nützlich. Interessant: Man bekommt bei jeder neuen Anfrage mit einem wortgleichen Anliegen ein anderes Resultat. Man kann also später kaum nachprüfen, ob etwas von einer KI geschrieben wurde oder nicht. DeepL (deepL.com/ write): Dies ist kein Tool, das selbst Texte generiert, wohl aber Texte überarbeitet und übersetzt. Vor allem wenn man in einer Zweitsprache schreiben muss, ist es unendlich hilfreich. Dabei schreibt man im linken Feld seinen Text (in der Mutter- oder Fremdsprache) und sieht zeitgleich im rechten Feld eine verbesserte oder übersetzte Version davon. Dazu kann man vier Stile wählen: einfach, akademisch, geschäftlich, und technisch. DeepL mischt sich also nicht in inhaltliche Fragen ein, schlägt aber oft präzisere Begriffe und Formulierungen vor, die bei der Ausrichtung der Gedankenführung helfen. 3 Technologien für das wissenschaftliche Arbeiten Es gibt es mehr digitale Tools des wissenschaftlichen Arbeitens und Schrei‐ bens als nur die KI. Einige davon werden möglicherweise überflüssig, wenn die KI deren Aufgaben übernimmt, andere werden sich durch die KI wandeln. Die meisten werden einfacher, weil man der KI sagen kann was man will und nicht die richtigen Knöpfe suchen muss, um etwas zu erhalten. Trotz höherem Bedienungskomfort bleibt es für Sie wichtig, sich in die digitalen Technologien einzuarbeiten, die im weiteren Sinne zum wissenschaftlichen Arbeiten und Denken gezählt werden. Auch deshalb, weil diese nur selten systematisch unterrichtet werden. Glücklicherweise ist die digitale Welt auch ohne Lehrplan zugänglich, auch wenn nicht alle Tools 184 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="185"?> kostenfrei erhältlich sind. Eine Übersicht über gängige Technologien zum Schreiben bietet Ihnen das open-access Handbuch von Kruse et al. (2023). Arbeitstechnik Digitale Technologie Beispiele für verfügbare Tools Literaturrecher‐ che und Informa‐ tionssuche Datenbanken, Suchma‐ schinen Google Scholar, KVK, swiss‐ covery, ResearchRabbit, Elicit, you.com Zitieren Reference Management Tools Zotero, Endnote, Citavi, Biblio‐ graphix Lesen und Zusam‐ menfassen Note Taking Tools Evernote, OneNote, Google Keep, Zettelkasten Wissensintegra‐ tion Concept Mapping Cmap, yEd Graph Editor Literaturauswer‐ tung Annotations-Technolo‐ gien Acrobat, ReadCube Papers, Zot‐ file für Zotero bzw. Zotero 6, Di‐ igo Strukturieren, Gliedern Gliederungsfunktion Meist in Schreibprogrammen in‐ tegriert Konzeptentwick‐ lung Wizards, templates, con‐ cept mapping Thesis Writer, Cmap Formulieren Digitale Phrasebooks, Synonym Finder, Corpus Search Tools Manchester Phrasebank, Thesis Writer, IMS Open Corpus Work‐ bench, Duden, openthesaurus, just-the-word.com, ChatGPT Ideengenerierung Mind Mapping Mindmanager, Mindmeister, freemind Redigieren, wis‐ senschaftlicher Stil Grammatik- und Recht‐ schreibeprüfung Grammarly, LanguageTool Planen, Zeitma‐ nagement Projektmanage‐ ment-Tools Jira, Asana, Wrike, MS Project, rememberthemilk.com Kollaboratives Schreiben Textverarbeitungs-Soft‐ ware, Wikis, Google Docs, Word 365, Ether‐ pad Gruppenarbeit Groupware, Video con‐ ferencing, messenger MS Teams, Zoom, Google Suite, Miro, WhatsApp 3 Technologien für das wissenschaftliche Arbeiten 185 <?page no="186"?> Arbeitstechnik Digitale Technologie Beispiele für verfügbare Tools Netzwerk-Bil‐ dung Social Media ResearchGate, Academia.edu, Mendeley, Twitter Feedback Automatisches Feed‐ back, Feedback Plattfor‐ men, intelligent tutoring Criterion; ResearchWritingTutor (RWT), AcaWriter, Writing Aid Dutch; Writing Pal Argumentieren Argument development tools C-SAW Publizieren Repositorien, Wikis, Lernplattformen SSOAR https: / / www.gesis.org/ ss oar/ home für die Sozialwissen‐ schaften SSRN Plagiatserken‐ nung Intertextualitäts-Soft‐ ware Turnitin, Grammarly, Paper Ra‐ ter Graphik, Dia‐ gramme Multimedia, Visualisie‐ rung MS Visio, yEd, Gliffy Formeln Textsatzsysteme LaTeX Präsentieren Präsentations-Software Power Point, Google Slides, Prezi Austausch von Texten, Präsenta‐ tionen Lernplattformen, E-Portfolio Moodle, Ilias, Blackboard, Ma‐ hara, Slideshare Tab. 6: Digitale Technologien und Tools für das wissenschaftliche Arbeiten (leicht modifi‐ ziert nach Kruse & Rapp, 2022, S.-528 f.). Welche digitalen Tools des wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens sollte man schon im Studium beherrschen? In den folgenden Spiegelstrichen sind einige Empfehlungen für Sie aufgeführt, jeweils mit einer Gewichtung (eines bis drei Sternchen) versehen. Auf lange Sicht werden Sie nicht darum herum‐ kommen, einige dieser Tools auszuprobieren und einzusetzen. Auch diese Liste ist alles andere als vollständig, und die fachspezifischen Tools ebenso wie die Forschungstools (z. B. Fragebogen, qualitative Forschungstools, Statistikpakete) sind ausgespart. Die folgenden Tools können für Sie einen Einstieg bilden und vielleicht sind sie auch so etwas wie eine technologische Grundausstattung: 186 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="187"?> Textverarbeitung***: Sie bleibt ein wichtiger Kern aller wissenschaft‐ lichen Aktivitäten und ein flüssiger Umgang mit ihr ist unabdingbar. Wahlmöglichkeiten haben Sie in Bezug auf die Art des Tools. Microsoft Word ist zwar noch das am häufigsten verwendete Schreibprogramm, aber viele bevorzugen Google Docs oder eine Mark-down Software, die das Schreiben vom Gestalten (Graphik, Formatieren) trennt. Textverarbeitung ist wichtig, weil sie einen komfortablen Zugang zur Sprach- und Textproduktion bietet und zudem Grundlage für das Kommunizieren, Speichern, und Bearbeiten von Texten ist. Die meisten Studierenden am Studienfanfang, die ich ken‐ nengelernt habe, waren nur unzureichend mit ihren Textverarbeitungssys‐ temen vertraut. Wenn Sie also nicht wissen, wie man automatisch eine Gliederung oder ein Inhaltsverzeichnis anlegt, wie man Tabellen gestaltet etc., schauen Sie sich nach einem Kurs dazu um. Recherche- und Suchtools***: Eine absolut zentrale Aktivität für alle wissenschaftlichen Unternehmungen ist es herausfinden, was für Literatur es zu einem Thema gibt. Umgang mit Google Search, Google Scholar und fachspezifischen Search Tools ist essenziell. Der KVK (Karlsruher Virtuelle Katalog) ist eine Meta-Suchmaschine zum Nachweis von mehreren hundert Millionen Medien in Bibliotheks- und Buchhandelskatalogen weltweit. Ihre Bibliothek hat Zugang zu weiteren Literaturdatenbanken, die Sie durchsu‐ chen können. Ein ausführlicher Kurs zum Recherchieren in Ihrer Bibliothek ist unerlässlich, denn der Zugang zur Fachliteratur ist ein Grunderforder‐ nis aller Wissenschaften. Neuere, KI-basierte Recherchemöglichkeiten, die jeweils wahlweise integrierte Texte oder einzelne Literaturangaben (samt Zusammenfassungen) präsentieren, sind researchrabbit.ai und elicit.org. Beide sollten Sie spätestens bei der nächsten Seminararbeit ausprobieren. Zitiersoftware und Reference Management Tools***: Zitiersoftware wie Zotero, Endnote, Citavi, Bibliographix hilft beim Suchen nach Literatur, bei der Verwaltung von PFDs, bei der Auswertung von Literatur, beim Einfügen von Literatur in den Text und schließlich beim Anlegen eines Literaturverzeichnisses. Auch hier bieten die Bibliotheken Kurse an, von denen Sie einen sofort buchen sollten, falls noch nicht geschehen. Tabellenkalkulation***: Wer immer etwas mit Zahlen zu tun hat, braucht Excel oder ein vergleichbares Tool. Für Normalsterbliche sind diese Tools nicht mehr intuitiv verständlich, also unbedingt einen Kurs dazu belegen, bevor man sie anwenden muss. Aufgaben: Tabellen anlegen, Kalkulationen, einfache Berechnungen, Statistiken und Graphiken. Sie kön‐ nen auch die vorhandenen Tutorials oder Internetanleitungen auf Youtube 3 Technologien für das wissenschaftliche Arbeiten 187 <?page no="188"?> studieren, aber ein Präsenzkurs vorab erleichtert das Verständnis dieser Tutorials erheblich. Note Taking Tools**: Note Taking Tools ersetzen den früheren Zettel‐ kasten, in dem man auf Karteikarten das zusammengefasste was man der Literatur entnommen hat. Heute geht es eher darum, die Passagen zu markieren, die man für wichtig hält und sie samt beigefügten, eigenen Kommentaren für die spätere Bearbeitung bereitzustellen. Tools wie Ever‐ note, OneNote, Google Keep, Zettelkasten helfen dabei, die Textinhalte festzuhalten, zu organisieren und zu kommentieren. Wer mit Microsoft unterwegs ist, sollte OneNote ausprobieren. Social Media für die Wissenschaften**: Academia.com und Research‐ Gate.net sind die bekanntesten Social Media, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu nutzen, ihre Arbeit und ihre Publikationen für andere sichtbar zu machen. Einige der Publikationen kann man frei herunterladen, bei anderen muss man eine E-Mail an die Autorinnen oder Autoren schicken und um eine Kopie bitten. Zum systematischen Recherchieren sind diese Plattformen nicht geeignet, wohl aber um erste Informationen über die Autorinnen und Autoren zu erhalten und mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Registrieren ist Pflicht auf diesen Tools. Kollaboration***: Mit Google Docs ging das Schreiben online. Das Programm war nicht mehr für lokales Arbeiten auf einem der Betriebssys‐ teme wie Windows oder MacOS gedacht, sondern war über einen Browser zugänglich, mit dem eine Plattform adressiert wurde. Die Daten sind seitdem in einer Cloud, hier in einem der großen Server von Google gespeichert. Mit Google Docs eröffnete sich auch die Möglichkeit, gemeinsam am glei‐ chen Text zu arbeiten, was heute „kollaboratives“ Schreiben genannt wird. Man kann damit synchron Texte bearbeiten mit gleichen (oder auch einge‐ schränkten) Rechten aller Beteiligten, oder aber asynchron. Hier ergeben sich interessante Interaktionsformen und Modi des Zusammenarbeitens, die Sie ausloten müssen. Es gibt derzeit wenig Hilfe und Anleitung dafür. Über die Textverarbeitung hinaus sind heute sind die meisten Tools für synchrone Kollaboration ausgerüstet, sodass sie gemeinsam Literatur ver‐ walten, suchen oder recherchieren können. Weitere Informationen erhalten Sie von Castelló et al. (2023). Ideen generieren und strukturieren**: Mind Mapping ist eine Tech‐ nologie, die in die vor-digitale Zeit zurückreicht, aber mit digitalen Mitteln sehr viel komfortabler und flexibler geworden ist. Im Wesentlichen geht es darum, Gedanken zu einem bestimmten Thema zu sammeln und zu 188 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="189"?> strukturieren. Das Vorgehen ist so, dass man zu einem Kernwort, das in die Mitte des Bildschirms gesetzt wird, einige Aspekte, unter denen sich das Kernwort betrachten lässt oder die zu seinem Verständnis beitragen können, anbringt, und zwar in Form von „Ästen“. Das sind in den digitalen Tools Striche, die einen Namen bekommen. An die Äste wiederum kann man Zweige anbringen, die Unteraspekte anzeigen. Mindmaps listen Gedanken nicht nur auf, sondern hierarchisieren sie gleichzeitig. Die meisten Tools erlauben, Mindmaps in Gliederungen zu überführen (und umgekehrt). Überblick findet sich bei (Kruse, Rapp & Benetos, 2023). Konzeptentwicklung*: Concept Maps dienen ebenfalls der Sammlung und Strukturierung von Gedanken. Sie unterscheiden sich von Mind Maps darin, dass sie die Beziehungen zwischen den Gedanken genauer spezifi‐ zieren. Wenn Sie also ein Concept Map zum Thema „Vorurteile“ machen, dann könnten Sie immer zwei Begriffe durch eine Beziehungsbeschreibung miteinander verbinden. Jedes solcher Dreierpacks wird dabei als "Konzept" verstanden. Zu Concept Maps und Mind Maps informieren Kruse, Rapp & Benetos (2023). Präsentationssoftware***: PowerPoint, Google Slides, Apple Key Note oder Prezi sind die bekanntesten Tools, mit deren Hilfe man Präsentationen aufbauen, gestalten und zeigen kann. Auch hier gilt, dass man sich diese Tools gut selbst aneignen kann, dass aber ein Kurs bei der Bewältigung der vielen Funktionen und bei der Optimierung der graphischen Gestaltung sehr wirkungsvoll helfen kann, vor allem, wenn man über PowerPoint hinaus weitere graphische Optionen kennenlernen und zudem das Präsentieren selbst besser verstehen will. Plagiatserkennung*: Ein schwieriges Kapitel ist das Vermeiden von Plagiaten und unsachgemäßem Zitieren, wozu es eine Reihe von Technolo‐ gien und Dutzende von Tools gibt. Der Umgang mit Plagiaten ist mit der KI noch um eine Dimension komplexer geworden, als er ohnehin schon war. Der Begriff „Plagiatserkennung“ ist dabei irreführend, denn diese Tools können allein gar keine Plagiate erkennen, auch wenn sie zu diesem Zweck entwickelt wurden. Was sie tun ist, einen Vergleich Ihres Textes mit einer großen Sammlung von Texten anzustellen, die entweder in einem extra dafür angelegten Textkorpus oder im Internet auffindbar sind. Die Software gibt an, wie viel Prozent Ihres Textes mit den dort erfassten Texten übereinstimmen. Es ist also primär eine Art Intertextualitäts-Software, die zeigt, wie stark sich Ihr Text mit originären Quellen überschneidet. Alles, was aus fremden Texten stammt, wird dabei farblich im Text hervorgehoben 3 Technologien für das wissenschaftliche Arbeiten 189 <?page no="190"?> und einige Tools geben auch die jeweilige Quelle an. Daraus kann man dann sehen, ob sie richtig zitiert wurden oder nicht. Es lohnt sich, diese Tools einmal auszuprobieren, um zu sehen, was sie tatsächlich leisten und um ihre eigenen Plagiatsängste zu besänftigen (siehe dazu Anson & Kruse, 2023). 190 VIII Denken mit Computer und künstlicher Intelligenz <?page no="191"?> IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft 1 Konzeptuelles/ konzeptionelles Denken 2 Problemlösen 3 Analysieren 4 Argumentieren 5 Interpretieren 6 Reflektieren 7 Hypothetisches Denken 8 Strategisches Denken 9 Evaluatives Denken 10 Anleiten und Instruieren 11 Synthese der Denkarten Für das Studium ist es wichtig, unterschiedliche Arten des Denkens kennen und einsetzen zu lernen. Die zehn wichtigsten von ihnen werden im Folgenden eingehender beschrieben. Viele davon haben wir bereits gestreift und einige, wie das Argumentieren, Reflektieren und Analysieren, auch eingehender untersucht. Jetzt werden sie mit‐ einander kontrastiert, sodass ihre Unterschiede pointiert zu sehen sind. Jede dieser Denkarten entspricht nicht nur einer bestimmten akademischen Praxis, sondern repräsentiert auch eine bestimmte Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Denken, Erkennen, For‐ schen und Kommunizieren sind dabei nicht immer schlüssig auseinan‐ derzuhalten. Für unseren Kontext habe ich die jeweiligen denkerischen Vorgehensweisen und Mittel in den Vordergrund gestellt. Es ist ver‐ mutlich nicht sinnvoll und notwendig für Sie, alle Arten des Denkens <?page no="192"?> zu beherrschen. Da Sie aber alle verwendeten Denkarten zumindest dem Namen nach kennen und ihnen in der Literatur begegnen, ist es nützlich, sie auseinanderhalten zu lernen und sie dort zu vertiefen, wo Ihr eigenes Fach dies verlangt. Auf jeden Fall brauchen Sie diese Zusammenstellung, wenn Sie wissenschaftliches Denken differenziert praktizieren wollen. 1 Konzeptuelles/ konzeptionelles Denken Obwohl beide Denkarten - konzeptuell und konzeptionell - sich unterschei‐ den, haben sie eine Gemeinsamkeit, die für das Studieren wichtig ist: Sie bezeichnen ein Denken in definierten Zusammenhängen. Ähnlich wie eine Meinung ist eine Konzeption (oft wird, dem englischen Sprachgebrauch folgend, der Begriff „Konzept“ verwendet) eine aus mehreren Bestimmungs‐ stücken zusammengesetzte Größe. Das ist einer Theorie nicht unähnlich, wenn auch deutlich geringer in Erklärungsanspruch und Reichweite. Der Begriff „Konzeption“ bezieht sich darauf, dass ein stimmiger, nachvollzieh‐ barer Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen existiert und bei der Beurteilung oder der Planung von Sachverhalten oder Ereignissen berücksichtigt wird. "Konzeptuell" bedeutet, dass etwas auf einer Idee oder einem definierten gedanklichen Zusammenhang basiert. Es bezieht sich auf die abstrakten Grundlagen einer Sache, die die Grundidee eines Erklärungszusammen‐ hangs oder einer Deutung umfassen. Beispiele für konzeptuelles Denken wären ein Entwurfskonzept im Design, ein Erklärungskonzept wie die Nachhaltigkeit oder ein mathematisches Modell, das Bevölkerungswachs‐ tum, Bildungsstandard und soziale Sicherheit in Beziehung zueinander bringt. „Konzeptuell“ verweist also vorwiegend auf analytische Schemata, die zur Beurteilung von Sachverhalten herangezogen werden. Auch in künstlerischen Aktivitäten wird konzeptuelles Denken geschätzt. Ebenfalls findet man den Konzeptionsbegriff zur Bezeichnung von Theorien von geringerer Reichweite oder von vorläufiger Natur. "Konzeptionell" hingegen bedeutet, dass etwas mit dem Prozess oder der Planung einer Sache zu tun hat. Es bezieht sich auf die Schritte und Entschei‐ dungen, die zur Entwicklung einer beruflichen Aktion oder eines Projekts führen, wie ein Unterrichts-, Behandlungs-, oder Forschungskonzept. Kon‐ zeptionelles Denken kann man von intuitiven Vorgehensweisen oder sol‐ 192 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="193"?> chen nach dem Muster von Versuch und Irrtum abgrenzen. Konzeptionelles Denken würde im Gegensatz dazu Handlung auf ein definiertes Muster von Bezugsgrößen zurückführen, die das Handeln ausrichten können. In einem Unterrichtsentwurf könnten das z. B. Zielsetzung, Adressaten, Ausgangs- und Zielkompetenzen, didaktische Mittel etc. sein, die den Unterricht zu einem stimmigen Ganzen verbinden könnten. Ein Marketingkonzept als weiteres Beispiel könnte die für einen bestimmten institutionellen Kontext relevanten Aspekte wie Art der Institution, Produkt, Ziele, eingesetzte Me‐ dien, Events, Adressaten enthalten. Mit solchen Konzeptionen sichert man das Denken und Handeln gegen Opportunismus und reinen Pragmatismus ab. Konzeptuelles Denken im Studium braucht man immer dann, wenn man gehalten ist, einen Sachverhalt im Lichte einer Theorie X oder unter Berück‐ sichtigung des Modells Y zu betrachten. Bei solchen Fragen geht es darum, die jeweiligen, theoretischen Bestimmungsstücke mit der Realität bzw. mit Daten zu verbinden und ggf. Deutungen, Vorhersagen oder Erklärungen daraus abzuleiten. Konzeptionelles Denken hingegen begegnet Ihnen im Studium vor allem in Praxiskontexten, wenn es um die Begründung, Planung oder Anleitung von Handlungen in definierten Arbeitsfeldern geht. 2 Problemlösen Problemlösen wurde lange Zeit als Muster für komplexes Denken genom‐ men und entsprechend erforscht. Was dabei jeweils als Problem angese‐ hen wird, kann sehr unterschiedlich sein. Es kann ein Rätsel sein, ein Erkenntnisproblem, ein Konflikt, eine Gestaltungsaufgabe oder jede Art von Aktivität, die durch ein Hindernis an der Zielerreichung gehindert wird. Vermutlich ist Problemlösen insofern in jeder Art des Denkens enthalten, als man viele Denkaufgaben in separate Probleme herunterbrechen kann. In den meisten Fällen dieser Art ist aber die Denkaufgabe nicht mit dem Finden der Lösung beendet, z. B. wenn beim Schreiben eines Textes das Problem auftritt, passende Belege zu finden oder ein schlüssiges Argument zu konstruieren. Das Problemlösen oder Finden von Belegen sind dann nicht der Sinn der Herstellung eines Essays, sondern allenfalls untergeordnete Zwischenschritte. Problemlösen wird gerne in Schritte oder Stadien aufgeteilt, die nach‐ einander durchlaufen werden. Das erste Modell dazu stammt vermutlich 2 Problemlösen 193 <?page no="194"?> von Dewey (1910/ 2002, der fünf Stufen einer vollständigen Problemlösung beschrieb: „(i) Man begegnet einer Schwierigkeit, (ii) sie wird lokalisiert und präzisiert, (iii) Ansatz einer möglichen Lösung, (iv) logische Entwicklung der Konsequenzen des Ansatzes, (v) weitere Beobachtung und experimentelles Vorgehen führen zur Annahme oder Ablehnung, das heißt der Denkprozess findet seinen Abschluss, indem man sich für oder wider die bedingt angenommene Lösung entscheidet.“ (Dewey, 2002, S.-56) Dewey sah mehrere Lösungen als möglichen Outcome, während viele Probemlösungsaufgaben in der Forschung nur eine einzige Lösung als gültig ansehen. Für ihn war Problemlösen eng mit wissenschaftlichem Vorgehen und Forschung verbunden. Pretz et al. (2003, S. 3), ebenso wie Funke (2019), geben mit Verweis auf frühere Forschung eine etwas anders geartete Sequenz an: ● Erkenne oder identifiziere das Problem ● Definiere es und repräsentiere es mental ● Entwickle eine Lösungsstrategie ● Organisiere vorhandenes Wissen über das Problem ● Stelle mentale und physische Ressourcen für die Problemlösung bereit ● Beobachte den Fortschritt bei der Lösung ● Evaluiere die Lösung in Bezug auf ihre Genauigkeit. Betont wird dabei, dass diese Sequenz nicht immer vollständig durchlaufen werden muss, sondern idealisiert ist und selektiv genutzt werden kann. Für kritisches Denken ist besonders der erste der genannten Lösungsschritte relevant: Probleme erkennen und für das Denken oder die Forschung zugänglich zu machen (Kurfiss, 1988). Unklar bleibt bei allen Problem‐ lösungsaktivitäten, wie die eigentliche Lösung zustande kommt. In den meisten Fällen ist es eine kreative Erkenntnis, die nicht einfach auf eine bewährte Heuristik zurückgreifen kann (sonst wäre das Problem lediglich ein Hindernis). Probleme verschließen sich einer unmittelbar einsichtigen Lösung. Sie sind also nicht nur Eigenschaften eines Sachverhaltes, sondern auch solcher des Denkens und Wissens. Jede andere Art des Denkens, die in diesem Kapitel nachfolgend beschrie‐ ben wird, schließt gelegentliches Problemlösen ein, auch wenn das Ziel jeweils ein anderes ist. Wissenschaftliches Schreiben beispielsweise ist eine epistemische Aktivität, deren Ziel in der Konstruktion von Sinn oder 194 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="195"?> der Darstellung bzw. Kommunikation von Wissen liegt. Auf dem Weg dorthin haben Schreibende eine Unmenge von Problemen definitorischer, inhaltlicher, konzeptueller, struktureller, organisatorischer etc. Art zu lösen. Für wissenschaftliches Schreiben ist es essenziell, Probleme dieser Art zu erkennen und zu unterscheiden, ohne dass das Problemlösen dem Schreiben jedoch seinen Sinn verleiht. Auch das Schach, dessen Ziel darin liegt, zu ge‐ winnen oder wenigstens nicht zu verlieren, wirft viele Probleme auf und das Erkennen von Problemen ist dort vermutlich ein wichtiger Faktor für Erfolg. Nur wer Stellungsprobleme identifizieren kann, wird auch angemessene Strategien und taktische Lösungen finden. Ansonsten ist Problemschach ein eigenes Genre dieses Spiels, das davon lebt, Stellungsbilder zu kreieren, die sich bewährten Lösungsmustern möglichst lange entziehen. 3 Analysieren Analytisches Denken ist vermutlich die in den Wissenschaften am meisten praktizierte Denkart. Kapitel VI ist schon ausführlich auf analytisches Vor‐ gehen eingegangen, sodass hier nur noch eine pointierte Zusammenfassung gegeben werden muss. Nicht immer wird der Begriff „analytisches Denken“ im hier verwendeten Sinn verstanden. In der Psychologie beispielsweise wird analytisches Denken manchmal als Denkstil oder kognitiver Stil untersucht, oft mithilfe von Fragebogen und dann von weniger ausgefeilten Denkarten wie intuitivem oder holistischem Denken unterschieden (z. B. Newton et al., 2021). In dieser Lesart ist analytisches Denken nicht mehr scharf von kritischem Denken zu unterscheiden und umfasst alle Arten von genauem Denken. Ähnlich wie im Fall des Problemlösens, ist analytisches Denken sehr fachabhängig und taucht in den Disziplinen und Domänen in unterschied‐ licher Form auf, wenn man so unterschiedliche Arten wie Wahlanalyse, Schadensanalyse, Systemanalyse, Psychoanalyse, und Partieanalyse (im Schach) betrachtet. In manchen Kontexten nimmt das Analysieren den Status einer wissenschaftlichen Methode ein. Im Allgemeinen wird der Begriff „Analyse“ für ein Denken verwendet, das einer Sache oder Situation auf den Grund geht und dadurch zum Verständnis seiner Beschaffenheit führt. Es werden mehrere Denk- und Erkenntnishandlungen dazugezählt: ● Reduktion: Das Zergliedern des Gegenstandes in seine wesentlichen Bestandteile 3 Analysieren 195 <?page no="196"?> ● Datenbezug: Gewinnung und Verwendung von verlässlichen Daten über den zu analysierenden Gegenstand ● Wissensbasis: Der Einsatz von fachlichem Wissen über den Gegen‐ stand ● Systemischer Zugang: Die Spezifizierung des Systems, in das der Gegenstand einbezogen ist ● Kausalität: Die Isolierung von Ursachen, Bedingungen, Wechselwir‐ kungen und Dynamiken ● Synthese: Rekonstruktion von Zusammenhängen, meist im Kontext einer systemischen Betrachtung. In Wahlanalysen geht es darum, Wahlergebnisse zu erklären. Die Daten dafür bestehen in den Ergebnissen selbst und können aus verschiedenen Befragungen und politischen Daten vor und während der Wahl deduziert werden. Für eine Schadensanalyse müssen Daten erst aufgenommen und gesichert werden. Hierzu sind Messungen, Dokumentationen und Befragun‐ gen nötig, die diese Daten liefern. Die Partieanalyse im Schach wiederum bedient sich der Partienotation, um die Züge zu rekonstruieren und kann dann Gebrauch von Eröffnungsdatenbanken, strategischem Wissen und Endspielsoftware machen. Die wichtigste Hilfe bei der Partieanalyse bilden heute die Schachprogramme, die die Qualität von Zügen besser beurteilen können als menschliche Spieler, allerdings keine Begründungen, sondern nur Zugmöglichkeiten, Varianten und numerisch ausgedrückte Stellungs‐ bewertungen liefern. Analytisches Denken wird oft in einem Zug mit Problemlösen themati‐ siert. Das ist nur bedingt richtig, denn analytisches Denken per se hat ein anderes Ziel als das Problemlösen. Es ist erkenntnisorientiert, oft mit einem Aspekt der Evaluation einer Situation, nicht aber auf eine einzelne Lösung ausgerichtet. Analysen bilden vielmehr den Hintergrund, auf dem Lösungen für Probleme sichtbar und Entscheidungen begründbar werden. Schachspielende analysieren eine Stellung, um zu einer Gesamtbewertung zu gelangen, von der aus sie ihre strategischen Handlungsoptionen und aktuellen Zugmöglichkeiten herleiten. Kritisches Denken ist eng mit der Fähigkeit zu analytischem Denken verbunden. Analysieren heißt, vorhandenes Wissen zum Verständnis eines Sachverhalts nutzen zu können. Es setzt voraus, das entsprechende Wissen zu identifizieren, ein System einzugrenzen und kausale Verhältnisse darin zu isolieren. Auch Verschwörungstheorien haben die Form von analytischem 196 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="197"?> Denken, ohne jedoch die Verpflichtungen zu kennen, die diese Denkart besitzt. Sie sind pseudoanalytisch und operieren mit phantasierten statt begründbaren Kausalzuschreibungen. 4 Argumentieren Seit Aristoteles ist das Argumentieren ein zentrales Element der Wissen‐ schaften, das schon in der Antike durch das Fach Rhetorik vertreten war. Auch mit der Gründung der Universitäten im Mittelalter wurde die Rheto‐ rik oder Beredsamkeit wieder ein zentrales Unterrichtsfach. In den Lehr- und Denkpraktiken des Mittelalters war die Rhetorik nicht nur Mittel der Darstellung, sondern auch Erkenntnismethode, eng verbunden mit den damals üblichen Disputationen (z. B. Kruse, 2006). Erst durch das Aufkommen der Naturwissenschaften und etwas später auch der Sprach‐ wissenschaften wurde die Rhetorik langsam an den Rand gedrängt und empirischen Erkenntnismethoden der Weg geebnet. Heute sieht sich die Rhetorik vorwiegend für mündliche Präsentationen zuständig. In den Wissenschaften erfüllt das Argumentieren nicht mehr die Rolle des Überzeugens, wie in der klassischen Rhetorik (Booth et al., 1995), sondern erfüllt andere Aufgaben (siehe auch Kapitel IV/ 2): ● Begründen: Mit Argumenten wird die Gültigkeit von Behauptungen, Thesen oder Theorien fundiert. ● Positionieren: Sie dient Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazu, Behauptungen aufzustellen und sich damit gegenüber anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu positionieren. ● Aushandeln: Argumente dienen dem diskursiven Aushandeln von Geltungsansprüchen für Behauptungen, Thesen oder Methoden. ● Diskutieren und Kritisieren: Ermöglicht Auseinandersetzung mit den Positionen anderer. Das Argumentieren bietet sich auch als Zugang zu einer angewandten Erkenntnistheorie an, wie es Battersby und Bailin (2018) vorschlagen. Es ist ein Zugang, der konkret ist und nicht wie die traditionellen Wissen‐ schaftstheorien an den eher statischen Produkten der Wissenschaften, den Theorien ansetzt, sondern an der Dynamik der Erkenntnisentwicklung. Argumentieren ist eng und unmittelbar mit wissenschaftlichem Denken und Handeln verbunden und erlaubt, verschiedene Modalitäten des Wis‐ 4 Argumentieren 197 <?page no="198"?> sensaufbaus deutlich zu machen. Hier eine Differenzierung argumentativer Strategien, formuliert in Anlehnung an Battersby und Bailin (2018): ● Das eher konfrontative, kritisierende Argumentieren ● Das thesenbezogene, Position ergreifende pro-kontra Argumentieren ● Das konzessive Argumentieren ● Das nicht-adversative, kooperative Argumentieren ● Das evaluative Zusammenfassen vorhandener Argumentationen, das zu einem begründeten Urteil führt ● Die Entwicklung neuer Ideen aus einer kritischen Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Gedanken. Ähnlich wie das Problemlösen und das Analysieren ist das Argumentieren an fast jeder längeren Denksequenz beteiligt, ohne dass dadurch das Denken als durchgängig argumentativ bezeichnet werden könnte. Zu einer eigen‐ ständigen Denkart wird das Argumentieren, wenn es in Aufsätzen oder Essays verlangt wird und z. B. thesenbezogenes Argumentieren verlangt wird (siehe Kapitel IV). War das Argumentieren im Aristotelischen Sinn noch eng mit der Logik des Schließens verbunden, so ist es mit Toulmin (1996) zu einem weiter gesteckten rhetorischen und pragmatischen Konzept geworden und mit Booth et al. (1995) enger an wissenschaftliches Schreiben und Handeln angebunden worden. In wissenschaftlichen Textgenres ist das Argumentieren immer präsent, sei es in speziellen Textarten wie Kritiken, Rezensionen und kritischen Stellungnahmen oder in Forschungsartikeln, wo es als Begründung für den Stand der Forschung oder die gewählte Methodik eingesetzt wird. Argumentieren wird oft als Kern kritischen, ebenso wie rationalen Den‐ kens angesehen. Im Vergleich zum analytischen Denken ist es mehr auf die Struktur der Denkakte als auf das Ergründen kausaler Bedingungen in einem Realitätsbereich gerichtet. Das schließt den Bezug zu Fakten, Daten und kausalen Strukturen nicht aus, nur erhalten diese hier ihre Bedeutung als Argumente bzw. als Belege für Argumente, nicht als Grundlage für Erklärungen und Realitätsdeutungen. 5 Interpretieren Auch das Interpretieren ist ein eherner Bestandteil der Wissenschaften und ein traditionsreicher noch dazu. Betrachtet man das Interpretieren als 198 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="199"?> eigenständige Art des Denkens, dann ist es als eine epistemische Aktivität zu bezeichnen, die sich um die Bedeutungsgebung für Werke, Ereignisse, Texte, Daten oder Sachverhalte dreht. Interpretationen werden bevorzugt in den Kunst-, Kultur-, Literatur-, Rechts-, Geschichts- und Religionswissenschaf‐ ten eingesetzt, wo sie eine Kernaktivität sowohl für die Wissenschaften selbst, als auch für das Studium darstellen. Besondere Bedeutung hat das Interpretieren auch in den qualitativen Forschungsmethoden, deren Erkenntnisgewinn sich in erster Linie durch Interpretation von Sprachdaten ergibt. Auch die Ergebnisse quantitativer Forschung müssen interpretiert werden. Das Interpretieren ist umringt von gedanklichen Aktivitäten ähnlicher Art, wie dem Deuten, Auslegen, Erklären, Verstehen, Übersetzen, der Text‐ kritik und Sinngebung. Auch Schlussfolgern, Erzählen und Analysieren gehen oft damit einher. In den quantitativen Forschungskontexten ist das Interpretieren Teil der Forschungsberichte, in deren Teil „Diskussion“ die Ergebnisse interpretiert werden müssen. Auch empirische Daten verstehen sich nicht von selbst, sondern brauchen eine interpretative Anbindung an den Forschungsstand und die Fragestellung. Ähnlich wie das Argumentieren mit der Rhetorik eine eigene Disziplin besitzt, hat das Interpretieren mit der Hermeneutik ein wissenschaftliches Fach, das sich bereits in der Antike geformt hat, wenn auch nicht unter die‐ sem Namen. Die Hermeneutik versteht sich grosso modo als Wissenschaft vom Verstehen. Sie war historisch großen Wandlungen unterworfen und wurde z. B. als Grundlage der Geisteswissenschaften (Dilthey) oder als nie endende Konversation über Bedeutungen von sozialen Sachverhalten und Kunst (Gadamer) definiert. Einen guten Überblick bietet der Wikipedia-Ar‐ tikel „Interpretieren“. Betrachtet man die Denkvorgänge, die mit dem Interpretieren verbunden sind, so ist es schwer, eine einheitliche Grundlage zu finden, jedoch heißt Interpretieren in jeder Variante, eine von Sprache getragene, differenzierte Bedeutungszuschreibung zu entwickeln. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich daraus, dass wir zum Verstehen immer Denkschritte brauchen, die zwischen dem zu interpretierenden Objekt und unserem Verständnis vermitteln. Dazu gehören die folgenden Elemente oder Schritte: ● Die Kontextualisierung des Objekts in kultureller, historischer, sprach‐ licher, sozialer, geographischer oder situativer Hinsicht 5 Interpretieren 199 <?page no="200"?> ● Die Beschreibung relevanter Bestandteile und ihrer Rolle für die Kon‐ stituierung des betrachteten Phänomens (deskriptives oder analytisches Vorgehen) ● Die Wahl eines theoretischen Bezugsrahmens in Hinsicht auf das, was interpretiert werden soll (literatur-, kultur-, natur-, oder religionswis‐ senschaftlich, historisch, linguistisch etc.) ● Das Abwägen verschiedener Bedeutungen ● Das Begründen der Entscheidung für eine bestimmte Bedeutung. Wie die vorhergehend beschriebenen Arten des Denkens hat auch das Interpretieren Überschneidungsfelder mit anderen Denkarten. Analytisches und interpretatives Denken teilen sich einige gemeinsame Eigenschaften, da beide nach Verständnis für Sachverhalte suchen. Das Analysieren geschieht jedoch mehr auf der Ebene von Daten und Wissen, während das Interpretie‐ ren auf qualitative Bedeutungszuschreibungen abzielt. Analysieren schließt immer auch Argumentieren ein. 6 Reflektieren Das Reflektieren unterscheidet sich von den vorgenannten Denkarten dadurch, dass es das denkende oder handelnde Subjekt einbezieht. Es ist eine Form des Schreibens und Denkens, die besonders in den pädagogischen Disziplinen zu Hause ist und in der Schreibpädagogik oft als Mittel des Lernens und Denkens eingesetzt wird (Bräuer, 2000). Generell können Mittel der Selbstreflexion wie das Führen eines Lernjournals vielfältigen Zwecken dienen (Moon, 1999): ● Erfahrung dokumentieren ● Lernerfahrungen fördern ● Verstehensprozesse unterstützen und das Verstandene festhalten ● kritisches Denken und Hinterfragen fördern ● Metakognition ermutigen ● aktive Lernerhaltung ermöglichen ● Problemlösefähigkeiten unterstützen ● persönliche Entwicklung und Empowerment begünstigen ● Förderung reflexiver Praxis ● Begleitung von Therapien ● Kreativitätsförderung, 200 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="201"?> ● Schreibunterstützung ● Entwicklung einer eigenen Stimme ● Gruppenprozesse unterstützen ● Projektbegleitung ● Kommunikation mit Lehrenden, die durch das Journal besseren Zugang zu ihren Studierenden finden. Das Besondere des reflektierenden Denkens besteht darin, dass es selbstbe‐ züglich ist. Gedanken werden nicht nur mit dem Gegenstand, oder mit dem, was andere denken, in Beziehung gebracht, sondern auch mit ihrem individuellen Entstehungsprozess. Damit kommen nicht nur die Denkerleb‐ nisse in den Blick, sondern auch soziale Faktoren, methodische Aspekte, Lernprozesse. Als zugehörige Tätigkeiten reflexiver Praxis benennt Bräuer (2000) Aktivitäten wie das Dokumentieren, Analysieren, Kommentieren, Kommunizieren, Bewerten, Entwerfen. Als Textpraktiken im Studium be‐ nennt er Lernjournale, Portfolios und Tagebücher. Als Themen selbstreflex‐ iver Gedanken kommen Handlungserfahrungen, Meinungen, Haltungen, Erkenntnisse, Werte und Gefühle in Betracht. Ein wichtiges Ergebnis des Reflektierens sollte sein, schwach definierte und schlecht wahrnehmbare Gedanken besser zugänglich zu machen und zu explizieren. Reflektieren kann in Bezug auf Aktivitäten (z.-B. Erfahrungen als Lehrerin oder Lehrer) wie auf Schreibprozesse, oder auf das Denken selbst gerichtet sein. Im letzten Fall geht es in etwas wie Meta-Denken oder Metakognition über. Typisch für das Reflektieren ist, dass es nicht während des Handelns oder Denkens selbst geschieht, sondern zeitlich davon getrennt wird. Es dient der Nachbearbeitung, Auswertung oder Kommunikation von Erfahrungen. Reflexionen sind, wenn schriftlich geführt, Texte, in denen das Pronomen „ich“ seinen festen Platz hat und nicht hinter unpersönlichen Formen der Selbstreferenz versteckt werden muss. Reflexionen haben primär die eigene Person als Adressatin, nicht eine Lehrperson. Es sind Selbstverständigungs‐ texte, die ihren Zweck darin finden, sich selbst und die eigene Gedankenwelt besser kennenzulernen. In Unterrichtskontexten kann das auch zur Verstän‐ digung mit anderen eingesetzt werden. Reflexionen haben keine feste Form, jedoch werden oft Anregungen wie die folgenden vorgegeben (siehe Kapitel IV, 5): ● Rekapitulieren von dem, was geschehen ist, um einen Bezugspunkt für das Reflektieren zu etablieren ● Einen Punkt auswählen und fokussieren 6 Reflektieren 201 <?page no="202"?> ● Fragen stellen: Was fand ich bemerkenswert? Was berührte mich per‐ sönlich? Was irritierte mich? Was ging mir gegen den Strich? Was leuchtete mir ein, was nicht? Wo fehlte mir Wissen? Wie hat sich meine Meinung geändert? Was ist die Take-home-Essenz? Wie hat sich meine Perspektive geändert? ● Assoziativ und hypothetisch einzelne Punkte beantworten ● Abschließen und ggf. Konsequenzen ziehen oder einzelne Erkenntnisse hervorheben. Reflektierendes Denken wird oft sehr nahe an das gerückt, was von kriti‐ schem Denken erwartet wird (z. B. Dewey, 1910/ 2002). Sicherlich ist es ein gutes didaktisches Mittel, um das eigene Denken in den Blick zu nehmen und die Qualität des eigenen Denkens zu bewerten und begründen zu lernen. Es sollte aber bedacht werden, dass kritisches Denken mehr darauf abzielt, verschiedene Arten des Denkens unterscheiden und beherrschen zu lernen, also nur eine Art davon zu praktizieren. 7 Hypothetisches Denken Dieser Begriff wurde von Piaget (1978) in die Theorie eingeführt und bezeichnet eine Art des Denkens, die sich vom Konkreten und Faktischen lösen und Mögliches in Rechnung ziehen kann. Der Beginn hypothetischen Denkens etwa zur Zeit der Pubertät führt zur höchsten der vier kognitiven Entwicklungsstadien, die Piaget propagierte, der formaloperativen Stufe, auf der abstraktes Argumentieren möglich wird. In den Wissenschaften hat der Begriff eine engere Bedeutung. Hypothe‐ sen nennt man dort Annahmen, deren Wahrheitsgehalt unklar ist und die erst einer eingehenden Prüfung unterzogen werden müssen. Sie werden in der hypothesentestenden Forschung speziell zu dem Zweck formuliert, um eine statistische Entscheidung über ihre Richtigkeit fällen zu können. Das hypothetische Denken geht aber noch einen Schritt weiter und lässt sich als eine Art des Argumentierens verstehen, bei der das Denken eher auf Gedankenexperimenten, begründeten Annahmen, Hypothesen und Deduktionen beruht, als dass es auf etablierten Forschungsergebnissen und Fakten verweist. Hypothetisches Denken hat mithin dort seinen Platz, wo es um den Umgang mit Nichtwissen oder unsicherem Wissen geht, wo also faktisches Wissen fehlt. Es ermöglicht damit, über etwas zu reden, das man 202 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="203"?> aus Mangel an Forschung oder Daten noch nicht verstehen kann (Kapitel IV, 5). Hypothetisches Denken operiert mit „Was wäre, wenn …“ Fragen oder „Angenommen, dass …“ Aussagen. Damit zieht es Schlussfolgerungen aus hypothetischen Annahmen, wie: „Was wäre, wenn das Energieproblem durch eine neue Erfindung plötzlich gelöst wäre? “ Oder: Angenommen, die EU gäbe es nicht, was wäre dann aus Mittel- und Osteuropa nach dem Zerfall der Sowjetunion geworden? “ Solche hypothetischen Arten, Themen anzugehen, erfordern sowohl Wissen als auch Phantasie. Oft ergeben sich Ketten von Deduktionen, von denen jede auf Plausibilität und Schlüssigkeit geprüft werden muss. Die wichtigsten Elemente hypothetischen Denkens: ● Ausgangspunkt markieren (hypothetische Annahmen) und Ziel festset‐ zen (was soll exploriert werden) ● Deduktive Schlüsse ziehen ● Prüfen der Stichhaltigkeit der Schlüsse ● Auswahl der plausibelsten Schlüsse und Eruieren der wahrscheinlichs‐ ten Folgen ● Fortsetzen der Gedankenkette, Erweiterung um weitere Schlüsse ● Verwenden einer konjunktivischen Sprache mit genau dosierten He‐ ckenausdrücken, die den Grad der Wahrscheinlichkeit jeder Hypothese und der Genauigkeit jedes Schlusses reflektieren. Hypothetisches Denken wird eher selten als eine eigene Denkart eingesetzt, tritt aber als Teil von anderen Denkarten oder allgemeinen Denksequenzen regelmäßig auf. Argumentieren und Interpretieren beispielsweise kommen selten ohne vorsichtiges Testen von hypothetischen Gedanken aus, ebenso wie analytisches Denken oft explorierende Anteile besitzt, die nach dem Muster „was wäre, wenn …“ ablaufen. Reflektierendes und hypothetisches Denken haben Gemeinsamkeiten und eine relativ große Schnittmenge an Denkformen. Der Wert für die Entwicklung kritischen Denkens besteht darin, dass hypothetisches Denken das Verständnis faktischer Gegeben‐ heiten fördert, indem es sie von den Implikationen, Explikationen und Deduktionen unterscheidbar macht. Das erlaubt, differenzierte Realitäts‐ konstruktionen danach zu beurteilen, wie begründet sie sind. 7 Hypothetisches Denken 203 <?page no="204"?> 8 Strategisches Denken Strategisches Denken ist etwas, das hauptsächlich von Führungskräften in Wirtschaft und Politik, von Militärs und in Denkspielen wie dem Schach ver‐ langt wird. Es ist meistens kompetitives Denken, das auf einen Gegner aus‐ gerichtet ist (konkurrierende Unternehmen oder Parteien, andere Armeen, andere Spieler) und das sich mit Zukunftsfragen befassen muss. Es werden aber auch gerne Strategien zur Bekämpfung von Armut, Kriminalität, Missbrauch und Krankheiten entwickelt, so als seien dies Gegner, die sich wehren. Strategisches Denken wird in Abgrenzung von situativem Denken wie den Alltagsroutinen, dem Management oder taktischen Scharmützeln definiert. Strategisches Denken erfordert darüber hinaus meist systemisches Den‐ ken, da es kein relevantes Handlungsfeld gibt, in dem nicht mehrere, inter‐ agierende Teilsysteme einander beeinflussen und Vorhersagen erschweren. Dörner (2003) hat in Simulationsversuchen strategisches Denken untersucht und seinen Versuchspersonen Gelegenheit gegeben, eine fiktive Stadt na‐ mens Lohhausen oder ein fiktives ostafrikanisches Land namens Tanaland zu verwalten. Die Versuchspersonen konnten dabei eine Reihe von Maßnah‐ men wählen und umsetzen. In Tanaland hatten sie gewissermaßen diktatorische Vollmachen und konnten Jagdmaßnahmen anordnen, die Düngung verbessern, Bewässe‐ rungssysteme anlegen, Staudämme bauen, das Land elektrifizieren, die Landwirtschaft mechanisieren, Geburtenkontrolle einführen, die medizini‐ sche Versorgung verbessern und mehr. Die Versuchspersonen erhielten an sechs Zeitpunkten innerhalb von fiktiven zehn Jahren Information über die Wirkung ihrer Maßnahmen und konnten dann jeweils neue Maßnahmen ergreifen oder alte modifizieren. Die Erwägungen der Teilnehmenden wur‐ den über lautes Denken erhoben. Die Ergebnisse waren dramatisch, berichtet Dörner. Durchschnittlich im 88. Monat brach eine nicht mehr aufzufangende Hungerkatastrophe über die arme Bevölkerung von Tanaland herein. Grund dafür waren Lebensver‐ besserungsmaßnahmen in Gesundheitsversorgung, Ernährung, Düngung, Bewässerung und Schädlingsbekämpfung, die die Bevölkerungszahl in die Höhe trieben. Zwar wuchs auch der Ertrag der Ernten, aber die Bevölke‐ rungsentwicklung verläuft exponentiell, während der Ressourcenzuwachs nur linear wächst. Daraus ergibt sich eine Differenz, die anfangs positiv ist (mehr Ressourcen bei noch niedriger Bevölkerungszahl), aber nach 204 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="205"?> einigen Jahren ins Negative wechselt und dann nicht mehr einzuholen ist. Exponentielles Wachstum, so Dörner, ist schwer verständlich und noch schwerer zu kalkulieren (wie wir alle während der Corona Pandemie gelernt haben). Nur einer einzigen Versuchsperson seiner Versuchsreihe gelang es, wirklich eine Verbesserung für die Bevölkerung zu erwirken. Dörners Untersuchung zeigt einige der Knackpunkte des strategischen Denkens auf. Es gilt, langfristige Wirkungen von mehreren Variablen zu kalkulieren, die miteinander interagieren und damit Nebenwirkungen erzeugen, die schwer vorhersehbar sind. Dörner (S. 32) sieht die Gründe für das Versagen seiner Versuchspersonen in Folgendem: ● Handeln ohne vorherige Situationsanalyse ● Nichtberücksichtigung von Fern und Nebenwirkungen ● Nichtberücksichtigung der Ablaufgestalt von Prozessen ● Methodismus: Man glaubt, über die richtigen Maßnahmen zu verfügen, weil sich [anfangs] keine negativen Effekte zeigen. ● Flucht in die Projektemacherei ● Entwicklung von zynischen Reaktionen. Ob jedoch Dörners Behauptung, dass man alle diese Entscheidungen auch ohne Fachwissen hätte besser hätte treffen können, tatsächlich stimmt, scheint mir fraglich. Studiengänge zur Entwicklungshilfe sind durchaus geeignet, aus früheren Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen und Wissen bereitzustellen, mit dem grobe Fehler wie die der Versuchspersonen in der Tanaland-Simulation vermieden werden können. In der wirklichen Welt ist strategisches Denken vor allem in Unternehmen zu Hause. Unternehmensstrategien zu entwickeln und umzusetzen gehört zu den Aufgaben von Führungskräften in der Unternehmensleitung. Die Vielzahl von Stakeholdern, Produkten, Märkten, Risiken und Gefahren, zumal in Wettbewerbssituationen, erfordert einen hohen Aufwand an Zeit und Energie für das Erstellen einer Unternehmensstrategie, die auf Zukunftsfragen Antworten geben kann (Hinterhuber 2020). 9 Evaluatives Denken Das Evaluieren ist eine Art des Denkens, die darauf abzielt, zu einem begründeten Urteil über die Qualität über einer Sache, einer Leistung, einer Person oder Institution zu gelangen. „Evaluation“ wird heute dem 9 Evaluatives Denken 205 <?page no="206"?> früher üblichen Begriff „Bewertung“ vorgezogen. Während Bewerten und evaluatives Denken auch Teil des Alltags sind, wird „Evaluieren“ heute als Teil spezialisierter Dienstleistungen in Organisationen angesehen. Sowohl Deutschland als auch Österreich und die Schweiz haben institutionalisierte Evaluationsverfahren für Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und weitere Bereiche (Widmer et al., 2009) entwickelt. Evaluatives Denken wird hier als Sammelbegriff für die Arten von Denken verwendet, die zu einem begrün‐ deten Urteil in Bezug auf bestimmte institutionelle Leistungen gelangen. Zum Evaluieren werden in der Regel Messmethoden, Tests oder definierte Indikatoren eingesetzt, die die gesuchten Qualitäten abbilden und objekti‐ vieren können. Evaluierende Urteile sind jedoch auch im alltäglichen und im wissenschaftlichen Denken gang und gäbe und Bestandteil vieler Denkse‐ quenzen. Ohne objektivierbare Basis und ohne Reflektion sind sie allerdings sehr fehleranfällig und schlecht kommunizierbar. Jedes Projekt, jeder Un‐ terricht, jede unternehmerische Aktivität ist von ständigen informellen oder formalen Evaluationen begleitet, die die Zielbezogenheit sichern sollen. Allerdings werden sie nicht immer mit der gebotenen Genauigkeit, Fundiert‐ heit und Reflektiertheit vollzogen, sondern können auch von subjektiven Urteilen geprägt und damit einer ganzen Reihe von Urteilsfehlern ausgesetzt sein. Voraussetzung für Evaluation ist die Existenz von Qualitätsmaßstäben, an denen Qualität oder Leistung gemessen werden kann. Evaluationen sind keine Sache der Logik oder der Erkenntnis, sondern eine Sache der Werte (daher ist „bewerten“ eigentlich der logische Begriff). Entsprechend gilt es, die Werte, an denen die Qualität bemessen werden soll, vorab zu spezifizieren. Wertebereiche können ästhetischer Art sein, sie können die Funktionalität betreffen, die Nützlichkeit, Effizienz, Bedeutung, Wachstum, Genauigkeit, Innovativität, Fähigkeiten usw. Evaluation verbindet also das Denken mit Werten und erlaubt, reflektiert und begründet mit Wertezu‐ schreibungen umzugehen. Der wichtigste Nutzen evaluativen Denkens besteht darin, rational zu urteilen und Urteilsfehler zu vermeiden. Untersucht wurde evaluatives Denken vor allem im Zusammenhang mit der Evaluation von Institutionen. So begründeten Bennett & Jessani (2011) das Konzept der „lernenden Organisation“, u. a. dadurch, dass es durch einen Wechsel vom „Monitoring and Evaluation“ zu einem „Evaluative Thinking“ charakterisiert sei. Ersteres sei darauf ausgerichtet, ein Projekt nach sei‐ nem Ende zu bewerten (was sie als „post-mortem Sezieren“ bezeichneten), während das letztere eine kontinuierliche Evaluation beinhalte, in der 206 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="207"?> ein ständiges Befragen, Reflektieren, Lernen und Modifizieren das Projekt begleitet. Ein zweiter Bereich entstammt der Evaluation von Innovationen im Bildungsbereich, in dem sich Earl & Timperly (2015) mit der Bewertung der Innovativität von Bildungsinstitutionen beschäftigen. Sie sehen ähnlich wie Bennett & Jessani eine kontinuierliche, mehrschichtige Begleitung von institutionellen Entwicklungsprozessen als Kern von Evaluationen: It involves thinking about what evidence will be useful during the course of the innovation activities, establishing the range of objectives and targets that make sense to determine their progress, and building knowledge and developing practical uses for the new information, throughout the trajectory of the innova‐ tion. Having a continuous cycle of generating hypotheses, collecting evidence, and reflecting on progress, allows the stakeholders (e.g., innovation leaders, policymakers, funders, participants in innovation) an opportunity to try things, experiment, make mistakes and consider where they are, what went right and what went wrong, through a fresh and independent review of the course and the effects of the innovation. (Earl & Timperly 2015, S.-11) Die bewertende Denkaktivität, die charakteristisch für Evaluationen ist, mischt sich hier mit differenzierter Prozessbegleitung, die gerade nicht wertend, sondern auf Verstehen ausgerichtet und kollektiv praktiziert sein soll. Damit ist evaluatives Denken auch von Qualitätsmanagement und -kontrolle abzugrenzen, die sich vor allem auf die Sammlung und Auswerten verfügbarer Daten beziehen. Kritisches Denken ist in besonderem Maße darauf angewiesen, zwischen evaluativem und wertfreiem Denken zu unterscheiden. „Wertfrei“ heißt dabei nicht, auf Wertungen zu verzichten, sondern Wertungen von der Analyse zu trennen und sie offen und reflektiert vorzunehmen. Kritisches Denken heißt auch, Klarheit darüber zu erhalten, welche Werte es gibt und welche Relevanz sie für einen bestimmten Kontext besitzen. 10 Anleiten und Instruieren Andere zu sinnvollem Handeln anzuleiten, methodisches Vorgehen zu beschreiben und technische Instruktionen zu geben, erfordert eine eigene Art des Denkens und der eingesetzten Sprachhandlungen. Anleitung und Instruktion als Denkformen erfordern mehrere Dinge: 10 Anleiten und Instruieren 207 <?page no="208"?> ● Verständnis der Handlungsschritte und der eingesetzten Mittel, die von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel führen ● Verständnis des Vorwissens und der Kenntnisse derer, die angeleitet werden sollen ● Verständnis der Technik, die eingesetzt werden soll ● Verständnis der Fehlermöglichkeiten und Verständnisschwierigkeiten, die angeleitete Personen möglicherweise haben könnten ● Verständnis des Kontextes, in dem gehandelt werden soll. Die Wissenschaft, in der das Anleiten und Instruieren beheimatet ist, ist die Pädagogik, zu der auch Teilfächer gehören, die sich mit Instruktion, Lern‐ technik und Didaktik beschäftigen. Anleiten und Instruieren ist jedoch nicht mit Lernen gleichzusetzen, das jeweils in breitere Kontexte eingebunden ist, und sehr viel mehr umfasst als das Instruieren. Was hier interessiert ist das spezielle Denken, das mit der zielgerichteten Vermittlung von Handlungs‐ wissen verbunden ist. Dazu gehören in der Regel mindestens drei Elemente: Sachwissen (was soll angeleitet werden? ), Methodenwissen (welche Mittel stehen zur Verfügung, wie funktionieren sie) und personales Wissen (wer soll angeleitet werden). Anleitungstexte haben ihre Heimat vor allem in der Technischen Kom‐ munikation (Baumert & Verhein-Jarren, 2012; Juhl, 2002), also im Texten für die Technik, einem Feld, das durch den Erfolg digitaler Technologien zu einem großen Teil selbst zum Teil der Technik geworden ist. Zum anderen sind sie in der Anleitungs- und Ratgeberliteratur zu Hause, einem Textgenre, das sich in den letzten Dekaden zunehmender Beliebtheit erfreut. Das Anleiten zielt nicht einfach auf das Präsentieren richtiger Lösungen ab, sondern auf Unterstützung bei der Zielerreichung in einem selbstgesteu‐ erten Handlungsfeld. Die Texte, die für das Anleiten eingesetzt werden (oder auch die mündlichen Instruktionsweisen) sind im Kern nicht Aussagen, sondern Aufforderungen, wie „Tu X, um Y zu erreichen“ (Segeth, 1974). Zwar sind Imperative nicht notwendigerweise zu verwenden, da sie auch mit „wenn … dann“-Konstruktionen umschrieben werden können, jedoch lassen sich Regeln und Pläne als Ketten von Aufforderungen verstehen, die von einem Ausgangspunkt zum Ziel führen. Die Angemessenheit solcher Ketten bemisst sich nicht an ihrer Wahrheit, sondern an ihrer Dienlichkeit, Angemessenheit oder Nützlichkeit für die Zielerreichung. 208 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="209"?> 11 Synthese der Denkarten Arten des Denkens, wie in diesem Kapitel dargestellt, stehen nicht allein für sich, sondern sind eingebettet in verschiedene Handlungsfelder, Aktivitäten oder methodische Vorgehensweisen. Sie dienen verschiedenen Erkenntnis‐ zwecken und lassen sich jeweils mit bestimmten Textgenres in Beziehung setzen. Die Liste von Denkarten ist keineswegs vollständig, aber es sind die wichtigsten. Denkart Spezifikum Textgenres Aktivitätsfel‐ der Konzeptuel‐ les/ konzep‐ tionelles Den‐ ken Herstellen einer Verbin‐ dung von Gedanken (konzeptuell) zu ei‐ nem Denkmodell oder Handlungsprozess (konzeptionell) Unterrichts-, Forschungs-, Handlungskon‐ zepte; theoreti‐ sche Modelle Theoriebildung, Konzeptualisierun‐ gen, Planung Problemlösen Lösung eines einzelnen Problems oder Aufgabe - Alle Lebensberei‐ che und Wissen‐ schaften Analysieren Verständnis für kausale Determinanten in kom‐ plexen Feldern oder Systemen gewinnen an‐ hand von Daten Analysen, Ex‐ pertisen, Gut‐ achten Alle Wissenschaf‐ ten, die bevorzugt mit Daten oder Tex‐ ten arbeiten Argumentie‐ ren Begründen von Wis‐ sen, Auseinanderset‐ zung mit Positionen anderer, eigene Positio‐ nierung, Kritik Rezensionen, Kritiken, For‐ schungsartikel (Literaturbe‐ richt, Me‐ thode), juristi‐ sche Texte Alle Lebensberei‐ che, alle Wissen‐ schaften, besonders Jura Interpretieren Deutung oder Sinnge‐ bung für Sachverhalt, Ereignis oder Prozess über eine sprachliche Sinnzuschreibung Textinterpreta‐ tionen, For‐ schungsartikel (Diskussions‐ teil), Traditionell: Geis‐ teswissenschaften, qualitative For‐ schung Strategisches Denken Erkundung und Be‐ gründung zukünftiger Verhaltensoptionen Strategiepa‐ piere, Pläne, Geschäftsbe‐ richte Führungskräfte in allen Bereichen, Planungsabteilun‐ gen, Schach 11 Synthese der Denkarten 209 <?page no="210"?> Denkart Spezifikum Textgenres Aktivitätsfel‐ der Reflektieren Einbeziehung eigener Denkvorgänge oder Gedanken in das Nach‐ denken über eine Sache Lerntagebuch, Portfolio Pädagogische Handlungsfelder, Schreibdidaktik Hypotheti‐ sches Denken Nachdenken über un‐ klares, nicht sicheres oder fehlendes Wissen Ideenskizzen Bestandteil vieler Denkarten Evaluatives Denken Fällen von begründe‐ ten Urteilen zur Bewer‐ tung von Ereignissen, Handlungen, Institutio‐ nen oder Personen Gutachten, Evaluationsbe‐ richt, Beurtei‐ lungen Organisationen, Qualitätsmanage‐ ment, Notenge‐ bung, Anleiten und Instruieren Vermittlung von Hand‐ lungswissen über Operationen, Regeln, Strategien und Zielset‐ zungen von definierten Aktionsfeldern; Ratgeberlitera‐ tur, Gebrauchs- und Montage‐ anleitungen, Lehrbücher Pädagogik, techni‐ sche Dokumenta‐ tion, Training und Unterricht Tab. 7: Vergleichende Übersicht über elementare Denkarten Wie man diese Denkarten lernen kann, darüber gibt es kaum systematisches Wissen, auch nicht darüber, wie man sie in der Lehre vermittelt kann. Vermutlich muss man sie auch nicht alle lernen. Was in unserem Kontext hier vor allem zählt, ist der Kontrast zwischen den Denkarten. Denken ist nicht gleich Denken, ist die Gleichung, die Sie aus der Tabelle entnehmen können und es lohnt sich, die Spezifika jeder Denkart durch den Kopf gehen zu lassen. Jede von ihnen verkörpert ein relevantes wissen‐ schaftliches oder humanes Anliegen. Nicht das Beherrschen aller Denkarten ist hier das Ziel, sondern ein Verständnis möglicher Denkoptionen und das Vertiefen der Denkarten, die für Ihr Studium von Bedeutung sind. 210 IX Die wichtigsten Arten des Denkens in Studium und Wissenschaft <?page no="211"?> X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen 1 Schreiben als Mittel des Denkens 2 Bewusstseinserweiterung: Lesen Schreiben und Lesen sind auch im Zeitalter der Digitalisierung zentrale kulturelle Techniken geblieben, von denen das intellektuelle Leben abhängig ist. Nichts fördert das kritische Denken mehr als das Schrei‐ ben sinnvoller Texte und nichts erweitert das Bewusstsein nachhalti‐ ger als das Lesen relevanter Bücher und Artikel. Es ist für unseren Zusammenhang wichtig, etwas tiefer in die gedanklichen Leistungen zu schauen, die mit Lesen und Schreiben verbunden sind. Schreiben ist nicht nur Veräußerung von Gedanken, die das Gedachte sichtbar und manipulierbar macht, sondern es ist im Kern Linearisierung von Gedanken, also eine Dynamisierung von Gedanken in einen Strom von nacheinander präsentierten Inhalten. Lesen kann man entspre‐ chend umgekehrt als Verlebendigung fremder, in einem Text fixierter Gedanken ansehen, die in das eigene Bewusstsein und Vorwissen integriert werden müssen. Obwohl scheinbar eine passive Aktivität, ist das Lesen eine anspruchsvolle Aktivität, die viel Denkarbeit erfordert. <?page no="212"?> 1 Schreiben als Mittel Denkens Dass das Schreiben im Studium eine große Rolle spielt, ist Ihnen sicherlich nicht unbekannt. Nicht nur verlangen alle Alltagshandlungen im Studium nach Schreiben, auch viele Leistungsnachweise lassen sich nur über schrift‐ liche Texte oder Klausuren erhalten. Alle digitalen Tools verlangen nach Texteingabe. Zudem nutzen Sie es beim Mitschreiben, Exzerpieren, Pro‐ grammieren und Kommentieren auf Social Media. Das Schreiben hat aber über seine Funktion im Studium hinaus eine besondere Bedeutung für das Denken, da es die enge Verbindung zwischen Denken, Wissen und Sprache sichtbar macht. Für die Ausbildung von kritischem Denken dürfte es sogar so etwas wie den Königsweg bilden, da es der langsamen Entwicklung und Synthese von Gedanken dient. Scheuermann (2016) machte den Begriff „Schreibdenken“ populär, der für ein gezieltes, fokussiertes Schreiben als Mittel des Denkens steht. Und Kellog (2008) meinte sogar, dass Schreiben und Denken Zwillinge sind, die in akademischen Kontexten immer gemeinsam auftreten. Es gibt vier Elemente, die dem Schreiben diese hohe Bedeutung verleihen: Gedanken sichtbar machen: Schreiben macht nicht nur Sprache, son‐ dern auch Gedanken sichtbar. Schreiben in den Wissenschaften lässt sich als Produktion von Gedanken in Interaktion mit den bereits niedergeschrie‐ benen Gedanken verstehen. Der Gedanke, den Sie gerade aufgeschrieben haben, schaut gewissermaßen vom Papier oder dem Bildschirm auf Sie zurück. Das passiert nicht, wenn Sie einen Gedanken aussprechen oder ihn nur im Kopf bewegen, da sie in diesen Modi flüchtig sind. Auf dem Papier oder dem Bildschirm hält der Gedanke still. Man kann ihn in Ruhe betrachten und prüfen, ob er stimmig ist. Gedanken konstruieren: Schreiben ist deshalb nicht einfach Nieder‐ schreiben, sondern Konstruktion von Gedanken im Medium der Sprache. Das, was auf dem Papier steht, ist nicht einfach das, was wir gedacht haben, sondern etwas Neues, für das unsere Ausgangsideen nur der Kick-off waren. Wenn wir etwas zu formulieren beginnen, haben wir wohl eine Intention, aber keinen vollständigen Plan im Kopf. Formulieren ist ein kreativer Vorgang, der die Gestaltung von Sinn durch Herstellung eines Textes bedeutet. Wir können in den seltensten Fällen genau vorwegnehmen, was wir schreiben wollen, sondern müssen uns überraschen lassen, was die Sprache aus unseren Gedanken macht. Wohl aber können und müssen wir abschließend prüfen, ob der Text unseren Intentionen entspricht. 212 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="213"?> Gedanken transformieren: Mit der Transformation von Gedanken, die im Kopf entstanden sind in Schrift, formen Sie Gedanken. Selten hat man fertige Gedanken parat, die man nur niederschreibt, denn sie müssen in die sperrige Struktur der Sprache gepackt werden. Hat der Gedanke noch visuelle oder emotionale Anteile, so gibt es in der Regel kein direktes sprach‐ liches Pendant dafür. Zudem ist Sprache widerspenstig. Sie will, dass ein Subjekt und ein Prädikat benannt werden, dass passende Verben, Adjektive, Präpositionen, Konnektoren und Wortverbindungen gewählt werden, und so weiter. Die Sprache als Medium des Denkens ist kein passives Element wie Wachs, in das Gedanken eingeprägt werden, sondern die Sprache verlangt von uns, dass wir unsere Gedanken ihren Ausdrucksmöglichkeiten anpassen oder sie sogar mit ihrer Hilfe entwickeln. Die Sprache stellt uns, wie in Kapitel III/ 2 dargestellt, Mittel zur Verfügung, mit denen wir Gedanken formen können, aber sie verlangt dafür auch, dass wir ihre grammatischen, lexikalischen und rhetorischen Regeln befolgen. Gedanken explizieren: Noch einen Vorteil hat das Schreiben, der es für das Denken wertvoll macht. Schreiben verlangt, von der verkürzten und teilweise autistischen inneren Sprache, wie Vygotskij (1934/ 2002) sie beschrieben hat, zur expliziten Schriftsprache überzugehen. Dabei müssen Wissenselemente ergänzt, Bewertungen expliziert, Begründungen ausfor‐ muliert, Bezüge hergestellt, Akteure benannt und Zusammenhänge erläutert werden. Die Schriftform zwingt uns also in besonderer Weise zu gedankli‐ cher Präzisierung, logischer Folgerichtigkeit, nachvollziehbarer Linearisie‐ rung, thematischer Strukturierung und inhaltlicher Komplettierung. Indem wir etwas beim Schreiben zur Sprache bringen, konstruieren wir nicht nur Wissen, sondern gestalten auch unsere eigenen Vorstellungen von einem Sachverhalt explizit. Mit diesen vier Punkten werden wir uns in diesem Abschnitt beschäftigen, wobei wir die Rolle des Schreibens für das Denken und die intellektuelle Entwicklung noch vertiefen müssen. Das Schreiben transformiert nicht nur einzelne Gedanken, sondern letztlich auch unser Denken selbst und damit unseren Verstand. Auch deshalb werde ich Ihnen weiter unten ein Denk- oder Reflexionstagebuch empfehlen. Es soll diese Transformationen unterstützen. 1 Schreiben als Mittel Denkens 213 <?page no="214"?> Tugenden und Tücken der Linearisierung Im Kopf können mehrere Gedanken, Bilder, Gefühle parallel existieren, ohne dass wir uns für einen von ihnen entscheiden müssen. Manchmal kreisen diese Bewusstseinsinhalte lange im Kopf, bevor wir sie durch Aussprechen oder Niederschreiben dingfest machen. Tun wir das, müssen wir eine neue Ordnung für unsere Gedanken erzeugen. Die Organisationsform unserer mentalen Prozesse und unseres Gedächtnisses ist eine andere als diejenige, die die Gedanken auf dem Papier einnehmen und wir müssen beide syn‐ chronisieren. Bei der Niederschrift von Gedanken greift, wie Beaugrande (1994) be‐ schrieben hat, eines der ehernsten Gesetze der Sprache: die Linearität. Wir müssen nicht nur die Wörter auswählen, denen wir die Gedanken anver‐ trauen, sondern uns auch auf ein striktes Nacheinander in der Präsentation der Wörter festlegen. Jede Sprache verlangt zwangsläufig nach einer solchen Ordnung. Es geht Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz und Absatz für Absatz vor sich. Vor dieser Linearität gibt es kein Entrinnen. Wir müssen immer eine Wahl treffen und können nie zwei Buchstaben oder Worte gleichzeitig sagen oder schreiben. Gedanken zu versprachlichen erfordert immer, einen Gänsemarsch von Wörtern durch ein Thema zu arrangieren, sodass sie wie auf einer Perlenschnur aufgereiht sind. Die Verwendung von Sprache zum Denken erzwingt das Festlegen auf einen bestimmten Gedankenpfad zulasten aller anderen Pfade, die auch möglich wären. Linearisierung bringt zum Ausdruck, dass die Sprache ein sehr viel stren‐ geres Regime über unsere Gedanken ausübt, als dies die nichtsprachlichen Elemente des Denkens (Phantasie, Vorstellung, räumliches Denken etc.) allein tun würden. Die Linearität ist die härteste, weil nicht aufweichbare Forderung, die eine Sprache an das Denken stellt. Deshalb sind ein paar Überlegungen dazu nötig, was diese Einschränkung bedeutet und wie wir ihr gerecht werden können. Es gibt mehrere Arten von erzwungener Linearisierung, die bei der Herstellung von Texten parallel verlaufen und miteinander verschränkt sind. Sie miteinander zu verknüpfen ist das, was am anstrengendsten ist beim Schreiben. Linearisierung von Buchstaben zu Wörtern. Die Linearisierung von Buchstaben zu Silben und von Silben zu Wörtern lernen wir in der Grundschule und schon das ist gar nicht so einfach, auch wenn wir diese 214 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="215"?> Schwierigkeiten später, wenn wir die Textproduktion automatisiert haben, vergessen. Erst beim Korrekturlesen eines Textes wird die Rechtschreibung wieder zum Thema. Heute nimmt uns das Korrekturprogramm diese Bürde ab. Linearisierung von Wörtern zu Sätzen. Wörter zu Sätzen zu kombi‐ nieren bedeutet zweierlei: Erstens eine Sequenz von gedanklichen Inhalten herzustellen (Spaziergang - Hund - Wald) und zweitens dabei die gram‐ matischen Regeln (Wortarten, Deklinationen, Tempus, Satzstellung etc.) einzuhalten, sodass ein Satz entsteht („Ich mache einen Spaziergang mit meinem Hund durch den Wald.“). Spätestens mit dem Abitur oder vergleich‐ barer Lebenserfahrung sind auch diese Leistungen in Ihrer Muttersprache hinreichend automatisiert, sodass sie beim Reden oder Schreiben nicht auf die grammatischen Regeln achten müssen. Linearisierung von Sätzen zu Absätzen und Kapiteln. Sind die Gedanken in Sätzen untergebracht, müssen die dadurch entstandenen Aus‐ sagen miteinander verbunden werden, um eine differenzierte Darstellung zu ermöglichen. Die einzelnen Sätze (und die mit ihnen verbundenen Aussagen) müssen durch Funktionswörter miteinander in Beziehung gesetzt werden, wie dies im dritten Kapitel ausführlich dargestellt wurde. Vorwärts- und Rückwärtsverweise, Relativpronomen, Konnektoren sind die wichtigs‐ ten Mittel, mit denen dies erreicht wird. Linearisierung auf der Ebene des Gesamttextes. Hierdurch kommt die Struktur des Textes zustande. Die Portionierung von Gedanken in Absätze, Abschnitte und Kapitel bildet die Makrostruktur der Darstellung. Gewöhnlich wird eine Gliederung dazu eingesetzt. Dazu gleich noch mehr. Hypertext - die Ausnahme? Mit dem Aufkommen digitaler Textverar‐ beitung war die Hoffnung verbunden, aus der strikten Linearität der Text‐ organisation ausbrechen zu können. Die Makroorganisation von Webtexten erlaubt dies auch tatsächlich, da sie den Lesenden über Hyperlinks einen eigenen Pfad durch einen Text - oder eine Menge an Texten - zu wählen erlaubt. Allerdings gilt dieses Abweichen von einer linearen Rezeption nur auf der Ebene von Textabschnitten oder von gesamten Texten, nicht auf der Ebene von Wörtern, Sätzen oder Abschnitten, die auch im digitalen Zeitalter linear organisiert sein müssen. Alle sprachlichen Mittel, die zur Linearisierung eingesetzt werden, sind Ihnen in Ihrer Muttersprache längst vertraut. Sie müssen sie also nicht neu lernen, nur bewusster einsetzen. Wichtig für Sie ist es, die Bedeutung der Sprache als Medium und Mittel der Gestaltung und Verknüpfung von 1 Schreiben als Mittel Denkens 215 <?page no="216"?> Gedanken zu verstehen. Dabei ist die Linearisierung sowohl der Vorgang, der unsere Gedanken ins Laufen bringt als auch eine Art Prokrustesbett, in das wir die Gedanken zwängen müssen. Gedanken strukturieren und hierarchisieren Die Linearisierung ist eine fundamentale, aber auch nur eine erste Art der Organisation der Gedanken, die diese in eine Reihenfolge bringt, und zwar auf der Ebene der Buchstaben, der Satzbildung und der Textorganisa‐ tion. Gliederungen verwendet man, um auch auf der Makroebene einen konsistenten Zusammenhang herzustellen. Über die reine Linearität hinaus bieten Gliederungen die Gelegenheit, übergeordnete Gesichtspunkte zu identifizieren und die Gedanken ihnen zuzuordnen. Es gibt in Microsoft Word und anderen Textverarbeitungsprogrammen Gliederungstools, die dabei helfen, Gliederungen zu erstellen und sie varia‐ bel an den Verlauf des Schreibprozesses anzupassen. Diese Gliederungsfunk‐ tion (in MS Word heißt sie einfach „Gliederung“ und ist den „Referenzen“ untergeordnet) erlaubt es, Textbestandteile zu markieren, sodass sie vom System als Überschriften erkannt werden. Dies macht es dann möglich, ihnen den Status erster, zweiter bis achter Ordnung zuzuweisen. Dieser Sta‐ tus kann jederzeit in Richtung höherer und niedrigerer Ordnung verändert werden, ebenso wie sich Gliederungspunkte vertikal im Text in Richtung Anfang oder Ende verschieben lassen. Dadurch kann man Gliederungen flexibel dem wachsenden Text anpassen und mit den Überschriften auch die mit ihnen verbundenen Textblöcke beliebig verschieben. Über die Funktion „Verweise“ bzw. „Referenzen“ kann man dann auch Inhaltsverzeichnisse generieren und formatieren. Gliederungen dieser Art kann man vor Beginn des Schreibens herstellen oder erst während des Schreibprozesses entstehen lassen und dann laufend an die Textentwicklung anpassen. Ein (fiktives) Beispiel: Aktuelle Form einer Gliederung 1. Einleitung 2. Fragestellung 3. Theoretischer Hintergrund 3.1 Soziologische Ansätze 3.2 Psychologische Ansätze 3.3 Anthropologische Ansätze 216 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="217"?> 4. Methodisches Vorgehen 4.1 Stichprobe 4.2 Datenergebung 4.3 Auswertung 5. Ergebnisse 6. Diskussion und Schlussfolgerungen Wenn wir größere Gedankenmengen in einem Text organisieren, müssen wir nicht immer selbst neue Strukturen erfinden, sondern können uns an vorhandenen Strukturmustern orientieren. Dazu gehört zum Beispiel die Mustergliederung für Forschungsartikel, das IMRaD Schema, das in Abschnitt IV/ 6 ausführlicher dargestellt wurde. Texte zusammenfassen Alle Wissenschaft baut auf den Ergebnissen vorangegangener Forschung auf. Die Wissenschaften sehen die Wissensentwicklung gerne als kumulativ an, d. h., dass Erkenntnisse kontinuierlich weiterentwickelt werden. Das ist mit den Arbeiten von Kuhn (1976) erschüttert worden, der gezeigt hat, dass ganze Forschungsrichtungen hin und wieder entwertet und von neueren Paradigmen abgelöst werden. Aber nicht alles wird entwertet und die Disziplinen selbst sehen sich eher als kontinuierliche Unternehmungen an, in der die jeweils neue Generation von Forschenden auf dem Rücken von „Riesen“ steht, deren Arbeit sie weiterentwickeln. Sie baut also auf dem auf, was andere schon erforscht haben. Um das zu ermöglichen, müssen wissenschaftliche Publikationen nicht nur genau verfasst, sondern auch ebenso genau gelesen und zusammenge‐ fasst werden. Das ist nicht nur eine Übung für Studienanfängerinnen und -anfänger, sondern eine Kernaufgabe aller Wissenschaften, die mehr Tücken birgt, als man anfangs vermutet. Also: Kritisches Denken ist darauf angewie‐ sen, Texte kompetent zusammenzufassen und aus den Zusammenfassungen einen Literaturbericht herzustellen, der den Stand der Forschung zu einem bestimmten Thema repräsentiert. Einen Text zusammenzufassen bedeutet Folgendes: ● Reduktion: Verkürzen des Textes auf eine geringere Länge (wobei der Kompressionsfaktor variieren kann) 1 Schreiben als Mittel Denkens 217 <?page no="218"?> ● Paraphrasieren des Inhalts: den Text in eigenen Worten wiedergeben und nicht die Sprache des Originaltextes wiederverwenden ● Zentrale Fachbegriffe beibehalten (sie werden nicht paraphrasiert), möglicherweise aber müssen sie definiert oder kommentiert werden ● Wörtlich zitieren, wo der Wortlaut für das Verständnis des Sachverhalts notwendig ist ● Weglassen des Unwichtigen, Hervorheben des Wichtigen ● Inhalt und Sinn des Textes nicht verfälschen. Kritisches Denken ist etwas, das bereits beim Zusammenfassen von Texten nötig ist, auch wenn „Zusammenfassen“ stark nach „Reproduktion“, d. h. einfacher Wiedergabe klingt. Das Zusammenfassen stellt, was Schreibkurse immer wieder zeigen (siehe Kruse & Ruhmann 1999), eine große intellek‐ tuelle Herausforderung dar, trotz der etwas biederen Assoziationen, die gerne aufkommen, wenn dieser Begriff fällt. Es verlangt nicht nur eine sichere Inhaltswiedergabe, sondern auch eine treffende Bewertung und pas‐ sende Einordnung des Gesagten in eine Wissenssynthese. Hinzu kommen Konventionen des Zitierens und Verweisens, die diesen Vorgang in den Wissenschaften reglementieren. Man kann sich getrost fragen, ob es überhaupt geht, einen Text zu verkürzen und ihn in eigene Worte zu fassen, ohne dessen Sinn zu verän‐ dern. In der Tat gibt es kein passendes Kriterium dafür, ob man etwas korrekt zusammengefasst hat oder nicht. Dazu müsste man idealerweise fragen, ob die Autorinnen oder Autoren des Originaltextes ihre Ideen noch wiedererkennen und mit der Zusammenfassung einverstanden sind, aber das wäre eine sehr unpraktische Vorgehensweise. Auf der anderen Seite ist es auch ein Zeichen guter wissenschaftlicher Ideen, dass sie stabil bleiben, wenn man sie in andere Worte transformiert oder gar in eine ganz andere Sprache übersetzt. Bei Texten jedenfalls, die sich nicht übersetzen oder paraphrasieren lassen, darf man sich fragen, ob sie eine flexible Substanz haben. Zusammenfassen kann auf zwei Weisen geschehen, die man unterschei‐ den sollte, will man flexibel sein: Die wiedergebende, nicht-integrale Zusammenfassung. Sie gibt eine gekürzte Version des Originaltextes in eigenen Worten wieder. Erzähl‐ position und Perspektive der Darstellung bleiben dabei die gleiche wie im Originaltext, alle Inhalte sind paraphrasiert. Autorin oder Autor sind nicht 218 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="219"?> im Text selbst erwähnt, sondern werden nur in Klammern als Autoren erwähnt. Die diskursive oder integrale Zusammenfassung. Sie gibt nicht nur den Inhalt des Textes wieder, sondern berichtet darüber hinaus, was die Autorin oder der Autor des Textes mit dem Thema und den einzelnen Gedanken gemacht hat. Autorin oder Autor bleiben im Text als Subjekte der Gedankenproduktion eingeschlossen. Neben der Wiedergabe des Inhaltes wird also eine zweite Ebene eingeschaltet, die kommentiert, wie die jewei‐ ligen Autoren mit den Inhalten umgehen. Nehmen wir ein Beispiel, um die Art der Wissenswiedergabe genauer unter die Lupe zu nehmen. Es ist Teil der Einleitung eines Artikels zur Lesekompetenz von Richter und Christmann (2006, S. 28) und ist Einleitung zum dritten Abschnitt „Die Ebenen des Leseprozesses.“. Der komplexe Prozess des Lesens wird üblicherweise in verschiedene Ebenen aufgegliedert, die von basalen analytischen Teilprozessen der Buchstaben- und Worterkennung über die syntaktische und semantische Analyse von Wortfolgen bis zum satzübergreifenden Aufbau einer kohärenten Textstruktur reichen. Die vorliegenden Theorien zur Erklärung des Lesevorgangs unterscheiden sich primär darin, wie das Zusammenspiel dieser Ebenen modelliert wird. In der der‐ zeitigen Forschungslandschaft konkurrieren dabei zwei Modelltypen: modulare und interaktiv-konnektionistische Modelle (zum aktuellen Stand der Debatte und dem Versuch einer „Versöhnung“ vgl. Markmann & Dietrich, 2000). Während die auf Fodor (1983; s. auch Garfield, 1987) zurückgehenden modularen Theorien postulieren, dass die am Leseprozess beteiligten Teilsysteme autonom sind, grundsätzlich unabhängig voneinander arbeiten und höhere Teilprozesse erst dann einsetzen, wenn die Verarbeitung auf den niedrigeren Ebenen abgeschlossen ist, gehen interaktionistische Ansätze (z. B. das interaktive Aktivationsmodell von McClelland & Rumelhart 1981) davon aus, dass die Ebenen parallel oder in zeitlicher Überlappung durchlaufen werden, dass also höhere Verarbeitungspro‐ zesse bereits einsetzen können, bevor die Verarbeitung auf den unteren Ebenen abgeschlossen ist (vgl. Herrmann, 1990, S. 297). Da interaktionistische Ansätze derzeit gerade auch empirisch das deutlich stärkere Gewicht haben, werden wir im Folgenden die Ebenen des Leseprozesses nach dem Modell von van Dijk und Kintsch (1983) darstellen, wobei wir die dort unterschiedenen fünf Teilprozesse in hierarchieniedrige und hierarchiehohe Prozessebenen aufgliedern. (Richter und Christmann, 2006, S.-28) 1 Schreiben als Mittel Denkens 219 <?page no="220"?> Betrachten wir zunächst, wie man diesen Text als Wissensdarstellung verstehen kann. Genau genommen enthält er Elemente auf den oben dargestellten drei Ebenen der Wissenskonstruktion (siehe Kapitel VII.2): Die Autoren reflektieren zunächst (wenigstens rudimentär) theoretische Modelle des Lesens, sie verweisen auf die vorhandenen Diskurse und sie führen (wenn auch nur rudimentär) an, welche Art von Empirie vorhanden ist. Sie führen strittiges Wissen an (zwei unterschiedliche Modelle), von denen sie eines präferieren, ohne das andere deshalb zu entwerten. Wie könnte nun eine einfache, wiedergebende Zusammenfassung dieses Textes aussehen? Muss man das Zusammengefasste noch einmal zusam‐ menfassen? Hier ist ein Vorschlag für eine wiedergebende, nicht-integrale Zusammenfassung: Leseforschung betrachtet Ebenen des Lesens, die hierarchisch strukturiert sind, von der Buchstaben- und Worterkennung bis zum Erfassen der Gesamtstruktur. Zwei Modelltypen gibt es. Der modulare Ansatz geht auf Fodor (1983) zurück und vermutet, dass Lesen durch unabhängige Teilprozesse vonstattengeht, wobei die niedrigeren Prozesse Vorlauf vor den höheren haben. Der interaktiv-konnek‐ tionistische Ansatz geht auf McClelland & Rumelhart (1981) zurück und nimmt an, dass die Verarbeitung auf verschiedenen Ebenen simultan vonstattengehen kann. Aufgrund ihrer besseren empirischen Fundierung wird dem zweiten Modell der Vorrang gegeben. Sie sehen, dass einige Informationen weggelassen wurden, die nicht zum Kern des Textes gezählt wurden. Über das Weglassen gibt es keine genauen Regeln, da Zusammenfassungen für unterschiedliche Zwecke Unterschied‐ liches aus einem Text herausgreifen oder pointieren müssen. Es gibt jedoch immer Unverzichtbares. Es gibt zudem Zusammenfassungen mit höherem und solche mit geringerem Kompressionsfaktor. Wichtig für beide ist es, dass der Inhalt nicht arrondiert wurde, um ihn in der Zusammenfassung plausibler erscheinen zu lassen. Literaturverweise wurden deshalb beibehal‐ ten, wenn sie für den thematischen Kern essenziell sind. Weiterführende Literatur hingegen wurden weggelassen (was legitim und sinnvoll ist). Eine diskursive, integrale Wiedergabe würde anders aussehen. Das, was für sie charakteristisch ist, wurde im Text hervorgehoben: Richter & Christmann (2006) gehen davon aus, dass alle Lesetheorien den Leseprozess in Ebenen aufteilen, die von der elementaren Buchstabenerkennung bis zum Erkennen kohärenter Textstrukturen reichen. Sie unterscheiden zwei 220 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="221"?> Modelltypen, die das Zusammenwirken der Ebenen unterschiedlich erklären. Das modulare Modell führen sie auf Fodor (1983) zurück, der verschiedene autonome Teilsysteme postulierte, unter denen die niedrigeren Prozesse Vorlauf vor den höheren haben. Das interaktive Aktivationsmodell, das sie McClelland & Rumelhart (1981) zuschreiben, behauptet hingegen, dass die Verarbeitung auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig vonstattengeht, wobei höhere und niedrigere Prozesse in beliebiger Folge ablaufen und miteinander interagieren können. Die Autoren präferieren das zweite Modell in der Variante von van Dijk und Kintsch (1983), in der fünf Teilprozesse unterschieden werden, die sie verschiedenen Hierarchie-Ebenen zuordnen. Die zweite Zusammenfassung ist etwas länger ausgefallen als die erste, hat aber die gleiche Information aufgegriffen. Das auffälligste sprachliche Merkmal der zweiten Zusammenfassung liegt darin, dass die Autorin und der Autor des Originaltextes in die Zusammenfassung eingeschlossen sind, während sie in der ersten Zusammenfassung nicht selbst im Text mit Namen oder Pronomen vertreten waren. Die zweite Zusammenfassung spricht damit nicht einfach über die Inhalte, die der Text transportiert, sondern darüber, was die Autorinnen und Autoren in ihrem Text mit den Inhalten gemacht haben. Sie kann also das Vorgehen und Denken der Autoren thematisieren und die entsprechenden Sprech- oder Denkakte benennen. In die Zusammenfassung ist dadurch eine zusätzliche Bedeutungsebene eingezogen worden. Die hervorgehobenen Sprechakte in der zweiten Zusammenfassung wer‐ den auch „Verben des Referierens“ genannt. Sie geben an, wie Hyland (2000) anhand einer Analyse eines großen Textkorpus zeigt, was die referierten Autorinnen und Autoren getan haben, um zu ihren Erkenntnissen zu kommen. Dabei unterscheidet er Forschungsaktivitäten (was die Autorinnen oder Autoren getan haben, kognitive Akte (was sie gedacht haben) und diskursive Akte (was sie kommuniziert oder gesagt haben). Die Verben, die im letzten Beispiel verwendet wurden, sind: gehen davon aus, unterscheiden, führen auf etwas zurück, postulieren, schreiben zu, präferieren, ordnen etwas zu, behaupten Die wichtigsten Verben des Referierens sind in Tabelle 8 zusammengestellt. An anderer Stelle (Kruse (2015, S. 137 ff.) habe ich weitere Verben aufgelistet, die man für komplexere Auseinandersetzungen mit der Literatur einsetzen kann. 1 Schreiben als Mittel Denkens 221 <?page no="222"?> Forschungshand‐ lungen Kognitive Akte Diskursive Akte untersuchen von einer Frage ausgehen widerlegen zeigen darstellen widersprechen demonstrieren vermuten in die Diskussion bringen belegen begründen berichten vergleichen konzipieren auf jemand verweisen entdecken nennen sich auf … beziehen prüfen Hypothese aufstellen sich abgrenzen erforschen These aufstellen erwähnen herausfinden - Meinung vertreten Tab. 8: Verben des Berichtens (übersetzt und leicht modifiziert nach Hyland, 2000). Die nicht-integrale und integrale Zusammenfassungen sind beide gültige Vorgehensweisen; man verwendet sie in unterschiedlichen Darstellungs‐ kontexten. Die zweite bietet naturgemäß mehr Möglichkeiten als die erste, da sie mit den Verben des Referierens schon ansatzweise interpretative, deutende Elemente ins Spiel bringen („die Autoren präferieren,“ z. B. ist bereits eine interpretative Zuschreibung). Das Wichtigste aber ist, dass Sie als Autorin oder Autor der diskursiven Zusammenfassung eine eigene Stimme erhalten, und zwar gerade durch die Verben des Referierens, die jeweils Ihre eigene, über den Originaltext hinausgehende Einordnung der Inhalte bieten. Kritisches Denken kann nicht ohne die berichtende Form der Zusammenfassung auskommen, da Sie mit ihrer Hilfe den Spagat zwischen eigener Darstellung und Inhaltstreue zum Originaltext leisten können. 2 Bewusstseinserweiterung: Lesen Die einfachste, wirkungsvollste und billigste Erweiterung des Bewusstseins geschieht durch Lesen, wenn Sie in die gedankliche Welt eintauchen, die eine Autorin oder ein Autor für Sie präpariert und in die Form eines Buches oder Artikels gebracht hat. Lassen Sie sich durch den ideellen Kosmos führen, der 222 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="223"?> allein durch Sprache (vielleicht im Verbund mit Bildern oder Graphiken) in einem Buch ausgebreitet wird. Nicht ausgeschlossen, dass Sie auch etwas Erleuchtung dabei finden. Das Schreiben mag zwar das Denken nachhaltiger prägen, da es mehr eigene Aktivität und Gestaltungswillen verlangt, aber es sind immer nur kleine thematische Ausschnitte, die wir uns über das Schreiben erarbeiten. Das Lesen hingegen öffnet neue Horizonte fast nach Belieben und verspricht Selbstständigkeit in der Auswahl und Aneignung von Themen. Die Schrift hat einst das Lernen aus dem persönlichen Kontext befreit: Es bedurfte keiner Lehrerinnen oder Lehrer mehr, um an existierendem Wissen partizipieren zu können, man konnte es auch einem geschriebenen Text entnehmen. Das gedruckte Buch war ein weiterer Befreiungsschritt, der das Lesen vom vorherigen Kopieren befreite und allen eine identische textuelle Grundlage für das Lesen bereitstellte. Bibliotheken machten Bücher für alle verfügbar. Als das Taschenbuch erfunden wurde, konnte man sie auch ins Tram und ins Schwimmbad mitnehmen. Mobiles Lernen ist also nicht erst mit Laptop, Tablet und Handy in die Welt gekommen, sondern mit Buch und Zeitschrift. An den digitalen Medien ist lediglich neu, dass sie interaktiv sind und dass sie Lesen und Schreiben im selben Gerät ermöglichen. Mit der Verfügbarkeit von Printmedien sind neue Lesefähigkeiten ent‐ standen, die vor allem damit zu tun haben, dass die Menschen lernen muss‐ ten, aus gedruckten Wörtern innere Bilder und Vorstellungen entstehen zu lassen. Jeder Roman wird, wie Gardner (1984) sagt, von den Lesenden in eine Art fiktionalen Traum übersetzt, der vor dem inneren Auge abläuft und fast so lebendig sein kann, wie ein reales Erlebnis. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben im Lauf der Jahrhunderte gelernt, immer raffinierter zu schreiben, um neue und intensivere Erlebensweisen durch Texte hervorzu‐ rufen. Neben das real Erlebte ist das fiktionale Erleben getreten, in dem die Leserinnen und Leser emotionale und soziale Erfahrungen nachvollziehen können, die sie selbst nicht gemacht haben. Erst durch den Buchdruck ist so etwas wie Standardwissen entstanden. Bereits in den fünfzig Jahren nach Erfindung des Buchdrucks, so vermutet Ong (1987), wurden mehr Bücher hergestellt als in den tausend Jahren zuvor. Für Ihre intellektuelle Entwicklung ist nichts profitabler als das Lesen. Es bietet unendliche Erweiterungsmöglichkeiten für das Bewusstsein, erlaubt Vertiefung, Spezialisierung, Überschreitung von Grenzen, Partizipation an fremden Erfahrungen, Einsicht in die unterschiedlichsten Wissensgebiete und vieles mehr. 2 Bewusstseinserweiterung: Lesen 223 <?page no="224"?> Lesen und intellektuelle Entwicklung Der Buchdruck veränderte nicht nur Wissen und Kommunikation, sondern auch die Sprache selbst. Die Anzahl der verfügbaren Wörter vervielfältigte sich durch die Schrift im Englischen von einigen Tausend, die ein mündlicher Dialekt besitzt, zu mehr als einer Millionen Wörtern, die das Englische als Schriftsprache heute besitzt, wie Ong (1987, S. 15) schätzt. Nichts stimulierte die Denkentwicklung mehr als die Möglichkeit, Gedanken auf Papier zu fixieren und sie in großen Auflagen einem Publikum zugänglich zu machen. Jede neue Publikation wurde dadurch auch zu einer neuen Messlatte für das Denken und fügte dem bereits Gedachten neue Gedanken hinzu. Warum aber ist das Lesen oft so mühsam? Zunächst einmal, weil nicht alles in Romanform geschrieben ist. Fachtexte sind oft ohne Verständnis für die Lesenden verfasst und berühren zudem Themen, die sehr viele Wissensvoraussetzungen haben, was entsprechend hartes Nachdenken und Rekonstruieren verlangt und oft auch den Rückgriff auf Sekundärliteratur erfordert. Auch können Texte aus Zeiten oder Orten stammen, deren Kulturen uns fremd sind, sodass wir mühsam rekonstruieren müssen, was die Autorinnen und Autoren sagen wollten. Zudem: Das Problem in vielen Studiengängen heute besteht darin, dass sie ein unrealistisch hohes Pensum an Lesestoff und damit viel erzwungenes Lesen verlangen. Lesen verlangt aber Zeit und Muße, um komplexe Zusam‐ menhänge nachvollziehen und in das eigene Wissen einordnen zu können. Zwar gibt es verschiedene Schnelllesemethoden, die versprechen, das Lesen zu beschleunigen, aber ich glaube nicht, dass sie dazu führen, die Inhalte wirklich zu verdauen und zu behalten. Besonders bei neuen Themen und vielen unbekannten Begriffen sind sie nicht zielführend. Für die intellektuelle Entwicklung ist es essenziell, Lesestoff und Lese‐ pensum selbst zu bestimmen, und zwar nicht nur bei Romanen, sondern auch bei der Fachliteratur. Vergessen Sie die langen Literaturlisten aus Ihren Seminaren. Die sind zum Abspeichern gut, zum Lesen aber in der Regel zu umfangreich. Wählen Sie aus, was Sie tatsächlich lesen wollen und gönnen Sie sich die Zeit, die das Durcharbeiten verlangt. Anfangs ist ein Fachbuch, das Sie selbstständig (und vollständig) lesen, schon ein gutes Pensum für ein halbes Semester. Auch hier geht es vor allem darum, dass Sie über das Lesen die Kontrolle über Ihre fachliche Entwicklung bekommen und sich selbstständig machen können. 224 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="225"?> Leseprobleme und Lesestrategien Am Studienanfang hat man es mit einer ganzen Reihe von vermeintlichen Leseproblemen zu tun. Man liest nicht so schnell wie gewünscht, man fängt manchmal gar nicht damit an und wenn, dann hört man früher auf als man sollte. Man liest nicht so gründlich wie gewünscht, wird nach zwei Seiten müde oder streicht so viel an, dass man kaum vom Fleck kommt und Wesentliches nicht von Unwesentlichem unterscheiden kann. All das hängt oft damit zusammen, dass man mit dem Kontext nicht hinreichend vertraut ist, in dem ein Text verankert ist. Je größer das eigene Vorwissen, desto einfacher ist das Lesen. Hat man nicht genügend Vorwissen, muss man langsam und „erschließend“ lesen. Man muss Zusatzinformationen über Begriffe, Wendungen, Personen und Sachverhalte einholen, damit Verstehen gelingt. Damit beginnt aber bereits das kritische Denken. Man überlässt nicht den im Text enthaltenen Gedanken die Führung beim Lesen, sondern erkämpft dem eigenen Verstand die Führungsposition. Kritisches Denken wird also nicht erst bei einer kritischen Einschätzung eines Textes verlangt, sondern bereits beim Nachvollziehen. Oft hilft aber das kritische Hinterfragen beim Verstehen, denn dann muss man aktiv alternative Gedanken zu den im Text vorgeschlagenen entwickeln. Lesen - gerade von wissenschaftlichen Texten - ist also eines der Felder, in denen kritisches Denken immer gefragt ist. Nicht nur, weil Texte sperrig sein mögen und unseren Verstand mehr fordern, als ihm lieb ist, sondern auch deshalb, weil Lesen sehr unterschiedlich sein kann und wir angemessen auf jede Textart reagieren müssen. Manchmal lesen wir zu oberflächlich, manchmal zu gründlich. Manchmal erreicht ein Text unser Interesse und energetisiert das Denken so sehr, dass wir den Text verschlingen. Manchmal erreicht er unser Interesse nicht und lässt das Denken kalt, sodass keine Vorstellungen entstehen. Manchmal haben wir alle Wissensvoraussetzun‐ gen, um einen Text mühelos zu verstehen, manchmal fehlen uns elementare Begriffe oder Denkfiguren. Kritisch lesen erfordert also auch, vor dem Lesen zu entscheiden, wie und zu welchem Zweck man lesen will. Es gilt aber vor allem: Jeder Text ist ein Fenster in eine besondere Welt. Jede Autorin und jeder Autor versucht, uns für eine bestimmte Sicht auf einen Gegenstand einzunehmen. Wir müssen entscheiden, wie weit wir uns dieser Sicht anpassen oder ob wir uns ihr entgegenstemmen und eher kritisch mit dem Text umgehen. Es ist nicht immer ganz leicht, hier zu einer klaren Haltung zu kommen, zumal wir beim Lesen in der Regel spontan 2 Bewusstseinserweiterung: Lesen 225 <?page no="226"?> und mit wenig Reflexion entscheiden. Vorab zu überlegen, wie man mit einem Text umgehen will und was das Resultat des Lesens sein soll, ist immer hilfreich, denn wichtig für die Leseökonomie ist variables Lesen. Man muss sich Lesestrategien zulegen, die dem Text und der Aufgabe angemessen sind. Das reicht vom gründlichen über das kursorische Lesen bis zum stichprobenartigen Sichten von Büchern. Der Kasten „Lesestrategien“ informiert Sie, welche Möglichkeiten sie hierfür haben. Überblick: Lesestrategien Lesen auf die traditionelle Art. Im Lehnstuhl oder in der Bibliothek gelingt konzentriertes Lesen am besten. Der Laptop kann dabei ausge‐ schaltet bleiben. Durchklicken und Sichten. Im Web ist Lesen eine Verbindung von Suche, Orientierung und Informationsaufnahme. Internet und Buch kombinieren. Lesen auf dem Papier lässt sich gut durch die Elektronik unterstützen, um Verständnislücken durch Blitzrecherchen zu füllen. Leider bleibt man oft im Netz hängen. Lesen, um für Prüfungen zu lernen. Reduktion von Gelesenem auf Kerninhalte, die für die Prüfung relevant sein könnten, erfordert Zusam‐ menfassen. Reduzieren aufs Wesentliche und Memorisieren gehören dabei zusammen. Lesen, um einen Text in der Tiefe zu verstehen. Analytisches lesen erfordert Nachschlagewerke, Sekundärliteratur und Diskussion mit anderen, damit man hinter die Oberfläche schauen kann. Mehrfaches Lesen ist essenziell dabei. Lesen, um sich ein Thema zu erschließen. Einlesen, um sich einem Thema anzunähern, ist immer ein Abenteuer, ähnlich wie die Begeg‐ nung mit einem neuen Land. Suchen, Sichten und kursorisch Lesen, sind gefragt. Nicht zu früh in die Tiefe gehen ist wichtig. Lesen für einen systematischen Literaturbericht. Systematisches Lesen und systematisches Recherchieren werden hier verlangt. Es kommt darauf an, alle Texte nach dem gleichen Muster durchzugehen und nach einem einheitlichen Schema auszuwerten (am besten in einer großen Tabelle). Lesen, um zu schreiben. Das Importieren von Wissen aus Texten für eine eigene Arbeit ähnelt der Suche der Goldwäscher. Hier ein Nugget, da ein Nugget. 226 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="227"?> Lesen, um zu genießen. Nicht nur Romane, auch manche Sachbücher lassen sich im Lehnstuhl genießen. Vergessen Sie nicht, dass das auch zum Studium gehört. Kritisches und analytisches Lesen durch Hinterfragen Bisher haben wir uns mit Fragen beschäftigt, die erst ansatzweise mit kritischem, sichrelich aber mit reflektiertem Lesen zu tun hatten (was Vor‐ aussetzung für kritisches Lesen ist). Auszuwählen, was man liest, und eine passende Lesestrategie zu wählen, sind die Grundlagen, auf der kritische Leserinnen und Leser aufbauen. Vieles muss man gar nicht kritisch lesen (sondern einfach nur zur Kenntnis nehmen) und manches von dem, was man kritisch lesen könnte, haben andere schon kritisiert (sodass man sich deren Hilfe holen kann). Was aber ist kritisches Lesen? Es zerfällt in viele einzelne Aktivitäten, von denen hier die wichtigsten aufgezählt sind: ● Kernbegriffe und Definitionen herausfiltern und prüfen ● die Kernaussagen (Behauptungen, Thesen) herausarbeiten (abschnitt‐ weise, kapitelweise oder für den ganzen Text) ● die Bezüge zwischen den Kernaussagen beschreiben ● eine Zusammenfassung herstellen ● die Ideengeschichte eruieren ● die Texte hinter den Texten einbeziehen und die Textaussagen auf diesem Hintergrund relativieren ● die Rezeptionsgeschichte des Textes eruieren (Editionen, Rezensionen, Reaktionen anderer, Vorversionen etc.) ● die vermittelten Botschaften infrage stellen und diskutieren ● die Biographien der Autorinnen und Autoren als Verständnishilfe ein‐ setzen ● das Gelesene rezensieren und/ oder kritisieren Einer der wenigen Hinweise, die man in der Schule und im Studium dazu erhält, was eine kritische Einstellung ausmacht, ist der Hinweis darauf, dass man Theorien, Texte und Modelle hinterfragen sollte. Unter „hinterfragen“ versteht man dabei die Forderung, nicht einfach als wahr anzunehmen, was von anderen gesagt wird, sondern es mit eigenen Gedanken zu konfrontie‐ ren. Gut, das verlangt heute auch der gesunde Menschenverstand und ist 2 Bewusstseinserweiterung: Lesen 227 <?page no="228"?> überdies Teil jeder Schulausbildung. Aber was tut man genau, wenn man einen Text hinterfragt? Der Duden nahm das Wort „hinterfragen“ erst 1973 auf (es ist wohl ein Produkt der Achtundsechziger Generation) und nennt als verwandte Begriffe: anzweifeln, aufarbeiten, auf den Grund gehen, beleuchten, durch‐ leuchten, ergründen, erörtern, infrage stellen, nachfragen, prüfen, untersu‐ chen, unter die Lupe nehmen. Von jedem dieser Begriffe hat das Hinter‐ fragen eine kleine Bedeutungsprise abbekommen. Was beim Hinterfragen dominiert, ist der skeptische Blick. Es erfordert nicht so rigorose Aktivitä‐ ten wie das Prüfen, Untersuchen, Durchleuchten (die nach wissenschaft‐ lichen Methoden verlangen), sondern es verweist auf das gedankliche Auf-die-Probe-Stellen und Durchdenken, ehe man etwas akzeptiert. Ein verwandter Begriff ist das „In-Frage-Stellen“ als ein Vorgang, mit dem man etwas anzweifelt, dabei aber schon andeutet, dass man bereits ein negatives Urteil im Sinn hat. Das Hinterfragen hat im Gegensatz dazu mehr mit dem genauen Hin‐ schauen und mit dem Anstellen vorläufiger Überlegungen zu tun. Hinter‐ fragen kann (und sollte) man auch Darstellungen, gegen die man zunächst nichts einzuwenden hat, denn es geht nicht ums Kritisieren, sondern ums Prüfen. Hinterfragen kann Teil des reflektierenden Denkens sein (vgl. Ka‐ pitel IV/ 5), das nicht unbedingt zu festen Lösungen oder Schlussfolgerungen kommen will, sondern ein Thema sondieren, elaborieren und ergründen will. Originaltext (Weinrich 1994) Kritische Fragen zu den hervor‐ gehobenen Textpassagen Etwas wissen und es wissenschaft‐ lich wissen, ist nichts wert, wenn es nicht auch den anderen Angehöri‐ gen der wissenschaftlichen Population bekannt gegeben wird. Alle wissen‐ schaftlichen Erkenntnisse sind einem allgemeinen Veröffentlichungsgebot unterworfen, und kein privates Wissen oder Geheimwissen darf sich wissen‐ schaftlich nennen. Das Gebot der Ver‐ öffentlichung ist jedoch mehr als ein bloßes Mitteilungsgebot; es ist nämlich in seiner striktesten Form nur er‐ füllt, wenn ein Forschungsergebnis al‐ Warum wird die Aussage auch über das Wissen allgemein getroffen, nicht nur über wissenschaftliches Wissen? Tatsächlich wertlos? Ohne Einschrän‐ kung? Wirklich alle? Ohne Ausnahme? Gibt es keine Erkenntnisse vor einer Veröffentlichung? „darf nicht“: Ist das ein Verbot? Welches Gesetz sieht das vor? Wer hat dieses Gebot ausgesprochen? Ist es nicht eher ein Konsens in den Wissenschaften? Gibt es neben der „strikteren Form“ auch eine liberale Form? 228 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="229"?> Originaltext (Weinrich 1994) Kritische Fragen zu den hervor‐ gehobenen Textpassagen len anderen Wissenschaftlern, die es je für relevant halten können, zu‐ gänglich gemacht wird. Alle diese Wis‐ senschaftler sind nämlich, sobald sie die Nachricht von einem Forschungser‐ gebnis empfangen haben, im Prinzip einem ebenso strikten Rezeptions‐ gebot, das mit einem Kritikgebot gepaart ist, unterworfen, und die kritisch rezipierenden Wissenschaftler dürfen nicht eher Ruhe geben, bis sie die mutmaßliche wissenschaftliche Erkenntnis allen denkbaren Falsifi‐ kationsversuchen ausgesetzt und sie auf diese Weise entweder erhärtet oder zu Fall gebracht haben. -Ist diese Aufforderung nicht etwas arg restriktiv? Kann sie je erfüllt sein? -Sieht der reale Forschungsprozess nicht ganz anders aus? -Ist das nicht eine zu starke Idealisierung des Wissenschaftsprozesses? Tab. 9: Beispiel für das Hinterfragen eines wissenschaftlichen Textes, hier von Harald Weinrichs (1994) Text „Sprache und Wissenschaft“. Hervorgehoben sind Passagen, auf die in der zweiten Spalte Bezug genommen wird. Die Zusammensetzung des Wortes „hinterfragen“ legt nahe, worin die Art der gedanklichen Tätigkeit vor allem besteht: Im Fragenstellen. Das Hinterfragen muss nicht notwendigerweise zu Antworten gelangen, aber es kann Geltungsansprüche, Schlussfolgerungen, Begründungen, Kausal‐ itätsbeziehungen, historische Einordnungen etc. auf ihre Stichhaltigkeit befragen. Das sollte, wie immer in den Wissenschaften, begründet vor sich gehen. Man braucht ein Argument, wenn man etwas infrage stellt, aber man muss dazu nicht unbedingt den Anspruch erheben, dass man Recht hat. Fragen, die man (fast) immer an einen Text stellen kann: ● Wo kommt das Wissen her? ● Was ist Fakt, was belegt, was ist Meinung, was ist Spekulation? ● Kann man das Gesagte verallgemeinern? Gibt es keine Einschränkun‐ gen? ● Ließe sich die gegenteilige Behauptung nicht auch rechtfertigen? ● Sind die Aussagen differenziert genug? Gelten sie für alle der angespro‐ chenen Objekte oder Ereignisse? Keine Ausnahmen? ● Sind die Begriffe definiert und klar? Was schließen sie ein, was nicht? ● Was wird jenseits der Plausibilität an Fakten präsentiert? 2 Bewusstseinserweiterung: Lesen 229 <?page no="230"?> ● Gibt es nicht auch gegenläufige Erfahrungen, gegenläufige Stand‐ punkte? ● Welcher Standpunkt steht (bzw. welche stillen Annahmen stehen) un‐ ausgesprochen hinter den Aussagen? ● Was impliziert der Text, wenn man seine Thesen konsequent weiter‐ denkt? ● Welche sind die impliziten Werte, die vertreten werden? ● Sind alle relevanten Forschungsergebnisse, Theorien, Autoren etc. be‐ rücksichtigt? Was fehlt? Hinterfragen eines Textes bedeutet aktives Lesen. Oft kann man einen Text erst beim zweiten Durchgang wirklich kritisch lesen, dann also, wenn man weiß, worauf er hinausläuft, und dann die einzelnen Aussagen im Kontext des ganzen Textes prüfen kann. 230 X Kritisches Denken, Schreiben und Lesen <?page no="231"?> XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen 1 Kommunikation mit sich selbst: Das Denktagebuch 2 Bestandsaufnahme: Stärken und Schwächen des eigenen Denkens 3 Epistemische Entwicklung 4 Den Denkprozess navigieren 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? 6 Die soziale Seite des Denkens Dieses Kapitel bricht die vielen abstrakten Überlegungen der vorhe‐ rigen Kapitel wieder auf das herunter, was den Umgang mit Ihrem eigenen Denken betrifft und stellt sie in den Zusammenhang Ihrer intellektuellen Entwicklung. Dieser Kontext ist breiter als der des kritischen Denkens, denn er muss neben der fachlichen auch die per‐ sönliche Entwicklung mit all ihren sozialen, kulturellen und politischen Bezügen in den Blick nehmen. Wir stoßen hier auf die Tatsache, dass man das Denken zwar als intellektuelle Funktion durchaus isoliert studieren kann, dass es aber immer in den Lebenskontext und die In‐ teressen eingebunden bleibt. Vieles von dem, was sich auf das Denken hinderlich auswirkt, liegt weniger am Denkinhalt, sondern an den per‐ sönlichen und emotionalen Verstrickungen ins Thema. Das Denken ist auch eine Sache der Gefühle und die sind oft schwerer zu kontrollieren als Argumente, Wahrheitswerte, Kausalität oder digitale Medien. Auch ist nicht ganz einfach auszutarieren, welchen Standpunkt man beim Blick auf die Welt, auf das eigene Fach und das eigene Leben einnehmen soll und welche Identität man sich selbst als denkendes Wesen dadurch jeweils zulegt. <?page no="232"?> 1 Kommunikation mit sich selbst: Das Denktagebuch Für die bewusste Entwicklung des Intellekts ist zunächst einfach der Impuls wichtig, ihn genauer zu betrachten und gezielt zu beeinflussen. Dies haben wir bisher als Teil der reflexiven Seite des Denkens bezeichnet und werden es in diesem Kapitel wieder aufgreifen und zu stärken versuchen. Sie werden in diesem Kapitel lernen, dass es dafür viele Wege gibt und dass Sie mit dieser Aufgabe nie fertig sein werden. Die Reflexion Ihres Intellekts ist eine ständige Aufgabe und ein wichtiger Teil dessen, was kritisches Denken ausmacht. Nehmen Sie diese Aufgabe in Angriff, wenn Sie Zeit dafür haben, nicht wenn Sie voll beschäftigt sind. Die Aufgabe beinhaltet die Notwendigkeit, sich selbst zu verändern, und dies erfordert emotionalen und mentalen Freiraum. Der erste Schritt sollte darin bestehen, einen Weg zu finden, wie Sie Ihre Entwicklung aufzeichnen und dokumentieren können. Dies soll dazu dienen, mit sich selbst zu kommunizieren und aus eingefahrenen Routinen, Selbstzuschreibungen und endlosen Denkschleifen auszubrechen. Hier fin‐ den Sie zunächst einige Anregungen, wie dies mit einem Reflexionstagebuch gelingen kann. Für diejenigen, die es gewohnt sind, ein Tagebuch zu führen, ist das eine leichte Übung, für diejenigen, die das Tagebuchschreiben noch nie gemocht haben, wird es etwas Überwindung kosten. Wenn das bei Ihnen der Fall ist (ich habe viele Menschen getroffen, die das Schreiben nicht mochten, weder Tagebücher noch sonst etwas), dann denken Sie daran, dass es eine Voraussetzung für Ihre persönliche Entwicklung ist und nicht nur eine pädagogische Beschäftigungstherapie. Sie können Ihren Intellekt nicht entwickeln, wenn Sie sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen. Schreiben objektiviert Ihre Gedanken, speichert sie und macht sie für sich selbst und andere zugänglich. Versuchen Sie, einfach zu schreiben und sich nicht um sprachliche Konventionen zu kümmern. Schreiben Sie nicht nur über sich, sondern radikal für sich. Es kann eine Weile dauern, bis das flüssig und mühelos von der Hand geht. Hier ein paar Anregungen, wie es gehen könnte: ● Legen Sie sich ein Reflexions- oder Denktagebuch zurecht (als gebun‐ denes Heft oder Dokument im PC oder Laptop) und beginnen Sie auf‐ zuschreiben, wohin die Reise ihrer intellektuellen Entwicklung gehen soll. Schreiben Sie über das erste Blatt: „Kritisches Denken heißt, Ver‐ antwortung für die Qualität meines eigenen Denkens zu übernehmen und meine intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand zu nehmen,“ - nur, damit Sie nicht vergessen, worum es geht. Denken Sie aber daran, 232 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="233"?> dass nicht Otto Kruse Ihnen sagen wird, was Sie dafür tun müssen, sondern dass Sie das selbst herausfinden müssen. Schreiben Sie auf, was Ihnen zu dieser Definition in Bezug auf Ihre eigene Entwicklung einfällt. Fällt Ihnen nichts ein, verschieben Sie den Anfang und fragen sich erst einmal, warum Ihnen nichts dazu eingefallen ist. ● Nächste Eintragung: Wie wollen Sie mit sich selbst bzw. mit Ihrem Tagebuch kommunizieren, um Ihre Erfahrungen zu dokumentieren? Wichtig ist das Tagebuch deshalb, weil Gedanken flüchtig sind und nach der nächsten Aufgabe oder dem nächsten YouTube Video schon wieder in der Versenkung verschwunden sind. Aufschreiben macht sie dauerhaft und das Nachlesen verbindet sie mit dem, was Sie gestern oder letzte Woche gedacht haben. Fortschritt kann sich nur ergeben, wenn Sie sich an Gestriges erinnern. Versuchen Sie, ein paar Routinen des Schreibens, Nachlesens und Kommentierens der eigenen Eintragungen zu definieren, denen Sie folgen wollen. ● Fangen Sie keinen neuen Tagebucheintrag an, ohne den gestrigen gelesen und kommentiert zu haben. ● Nutzen Sie dann das Tagebuch, um sich mit den verschiedenen Aspekten Ihres Denkens auseinanderzusetzen, die Ihnen im Alltag auffallen. Nutzen Sie die Anregungen aus Kapitel IV/ 5, um für das sensibel zu werden, was sich aufzuschreiben lohnt. Sowohl das, was Ihnen gelungen ist, als auch das, was Ihnen misslungen ist, lohnt der Reflexion. Für das Reflektieren generell sind „memorablen Moments“ besonders interessant, also das, was irgendwie aus dem Alltag heraussticht, weil es etwas Ungewöhnliches enthält. Nutzen Sie dann auch den Rest dieses Kapitels XI, um sich anregen zu lassen. ● Generell gehört in das Tagebuch alles, was mit dem Denken zu tun hat. Das müssen Sie nicht sehr eng fassen, sondern können es mit dem Handeln, Lernen, Schreiben, Lesen, Kommunizieren etc. in beliebiger Weise verbinden. Essenziell für das Tagebuch ist dabei, dass die Einträge auf etwas verweisen sollen, was Ihnen wichtig ist und was sie nicht vergessen wollen. Sie werden feststellen, dass das Schreiben darüber immer portionsweise vonstattengeht und man nicht alles auf einmal niederschreiben kann. Das Anknüpfen, Erweitern, Präzisieren dessen, was man gestern geschrieben hat, ist wieder das, was das eigene Denken voranbringt. ● Denken Sie daran, dass man im Verlauf des Tages viele schwach ausge‐ prägte Gedanken hat, auf die man nicht achten kann, weil anderes im 1 Kommunikation mit sich selbst: Das Denktagebuch 233 <?page no="234"?> Vordergrund steht. Das sind Gedanken, die noch kein Gesicht haben, aber schon vorhanden sind. Sie sind unausgearbeitet, unvollständig, emotional. Sie deuten eher an, als dass sie eine klare Aussage haben, aber sie sind da, und es ist lohnend, ihnen nachzugehen und sie sichtbar zu machen, ihnen eine Stimme zu geben. ● Denkaufgaben planen oder vorausnehmen: Wenn es denkerische Arbeit zu erledigen gilt (etwas lesen und exzerpieren, etwas schreiben, eine Konversation mit anderen, ein Problem lösen, ein wichtiges Gespräch, eine mathematische Aufgabe, ein komplexes Buch, eine Seminararbeit etc.), dann sollten Sie dies vorbereiten und später protokollieren: Was ist die Lage, der Ausgangspunkt? Was will/ wollte ich erreichen? Wie hat mein Denken bei dieser Aufgabe funktioniert? Was will ich durch mein Denken erreichen? Wenn Sie dies vorab machen, dann kann Ihr Denken etwas geplanter vorgehen. Zusätzlich hat es den Effekt, dass Sie auch den Alltag in die Betrachtung einbeziehen, nicht nur das Studium. ● Wenn Sie eine komplexere Erfahrung gemacht haben, etwa ein Seminar, eine Besprechung oder Ähnliches, dann sollten sie eine Reflexion dazu anstellen (blättern Sie ggf. zu Kapitel IV/ 5 zurück). Reflektieren kann dabei zunächst einfach heißen, etwas zu rekapitulieren und zu erzählen, dann aber sollte es das hervorheben, was ungewöhnlich, ungut oder bemerkenswert war. Alles, was man nicht festhält und reflektiert, muss man wiederholen. Das ist vor allem bei Denkfehlern oder unangeneh‐ men Denkerfahrungen zu vermeiden. ● Situationen, in denen das Denken besonders gefordert ist, wie bei Referaten, Klausuren, mündlichen Prüfungen, Gruppenarbeit etc. sind naturgemäß ergiebig, um die emotionale Seite des Denkens zu reflektie‐ ren. Hier sollten sie neben der Denkaufgabe auch den sozialen Kontext beschreiben und versuchen herauszufinden, wovon der Stress ausgeht. Denken Sie daran, dass das Niederschreiben von Erfahrungen diese auch verändert oder Veränderungen wenigstens in Gang setzt. Alles, was Sie nicht genauer betrachten und bedenken, tritt erneut ein. Das Tagebuch ist deshalb eine wichtige Grundlage dafür, über den augenblicklichen Stand Ihrer intellektuellen Entwicklung hinauszukommen. Was Sie jeweils gezielt verändern können, ist zwar nicht viel, aber die kleinen Veränderungen summieren sich auf. Also etwas Geduld, bitte. 234 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="235"?> 2 Bestandsaufnahme: Stärken und Schwächen des eigenen Denkens Nutzen Sie eine stille Stunde dazu, eine Bestandsaufnahme Ihrer intellek‐ tuellen Fähigkeiten zu machen. Sie erinnern sich: Das Ziel des Buches besteht darin, das Delta zwischen den Denkfähigkeiten am Studienbeginn und am Studienende zu bestimmen. Auf welchem Stand befand sich Ihre intellektuelle Entwicklung anfangs, wohin sollte sie führen, wo stehen Sie heute? Zur Bestandsaufnehme gehört auch eine Bestimmung von Soll und Haben oder von Stärken und Schwächen. Sie finden weiter unten eine Liste, die Sie dazu verwenden können. ● Halten Sie fest, mit welchen Teilen Ihrer intellektuellen Entwicklung Sie zufrieden sind. Halten Sie nicht ein, ehe Sie nicht mindestens fünf Punkte benannt haben. Nutzen Sie Tabelle 10, um zu schauen, was für Stärken Sie Ihrem Denken zuordnen können. Es ist egal, ob das relative oder absolute Stärken sind. Sie brauchen etwas, auf dem Sie aufbauen können. Auch Stärken, die nicht das Studium betreffen, sind relevant. ● Notieren Sie die Bereiche, in denen Sie besonderen Ehrgeiz haben und in die Sie mehr Zeit investieren wollen. ● Legen Sie dann eine Liste von Punkten an, die auf das verweisen, was Sie an Ihrem Denken verbessern oder an ihrer intellektuellen Entwicklung ändern wollen. Diese Auflistung dient nicht einfach der Selbstbespiegelung, sondern soll Beginn einer gezielteren Konversation mit sich selbst über Ihr Denken sein. Es soll das Denken aus seiner Grauzone herausholen, in der es durch übermäßige Vertrautheit und durch fehlende Distanz schwer wahrnehmbar ist. Werfen Sie einen Blick darauf, wo Ihre Stärken und Schwächen liegen (Tabelle 10). Dabei geht es genauso darum, Defizite auszugleichen, wie darum festzustellen, wo die Fähigkeiten sind, auf die sie bauen können. Niemand muss alle Denkfähigkeiten in sich vereinen und ebenso kann niemand in allen gleich gut sein. Auch im Denken ist Spezialisierung gefragt. Wie viel Einseitigkeit man sich erlaubt, ist eine andere Frage, denn Defizite in einzelnen Bereichen können die Leistungen in anderen beeinträchtigen. Auch gibt es Allrounder, die von allem etwas besitzen und damit in bestimmten beruflichen Positionen auch gut zurechtkommen, während andere eher auf Spezialisierung setzen. 2 Bestandsaufnahme: Stärken und Schwächen des eigenen Denkens 235 <?page no="236"?> sehr gut eher gut geht so eher mäßig kaum oder gar nicht Fachtexte lesen und ver‐ stehen - - - - - etwas systematisieren - - - - - etwas planen oder vor‐ ausberechnen (wie die Züge im Schach) - - - - - etwas argumentativ be‐ gründen, um andere zu überzeugen - - - - - Gedankenführung in ei‐ nem Text - - - - - Logik von Aussagen nachvollziehen - - - - - Verständnis von (Fremd-) Sprachen - - - - - mathematische Abstrak‐ tionen verstehen - - - - - Statistiken nachvollzie‐ hen - - - - - naturwissenschaftliche Zusammenhänge verste‐ hen - - - - - sich ein neues Compu‐ terprogramm aneignen - - - - - Gruppenprozesse ver‐ stehen - - - - - mit emotionalen Bedürf‐ nissen anderer umgehen - - - - - sich um eine Person kümmern, die Probleme hat - - - - - 236 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="237"?> sehr gut eher gut geht so eher mäßig kaum oder gar nicht überzeugend kommuni‐ zieren in mündlichen Kontexten - - - - - politisch argumentieren - - - - - auf Social Media kom‐ munizieren - - - - - Geschichten erzählen - - - - - literarische Werke inter‐ pretieren - - - - - etwas gestalten, desi‐ gnen - - - - - Humor entwickeln, an‐ dere unterhalten - - - - - Bewegungsintelligenz in einer Sportart - - - - - Musik machen - - - - - Tab. 10: Verschiedene Denk-/ Handlungsfelder, die für das Leben relevant sind. Die Zusammenstellung in Tabelle 10 zeigt auch, dass das Denken nicht auf akademische Kompetenzen festgelegt ist. Auch hinter Aktivitäten wie Sport, Musik, Erzählen, Humor stehen Denkleistungen, die gewürdigt werden sollen und die beruflich, persönlich und intellektuell durchaus relevant sein können, auch wenn sie nicht im Vordergrund dieses Buches oder ihres Studiums stehen. Denken ist immer eingebettet in soziale, kulturelle, intellektuelle, technische oder berufliche Zusammenhänge und ist ohne diese nicht praktizierbar. Denken Sie daran, dass das Denktagebuch nur etwas ausdrückt, das Sie ohnehin tun: Sich mit sich selbst über Ihr Leben, Ihre Entwicklung, Ihre Identität und Ihren Platz in der Welt auseinanderzusetzen. Die wichtigste Aufgabe im Studium, sagt Marcia Baxter Magolda (2009), ist es, sich von den Stimmen zu lösen, die Sie in Familie, Schule und früheren Freundeskreisen 2 Bestandsaufnahme: Stärken und Schwächen des eigenen Denkens 237 <?page no="238"?> verinnerlicht haben. Wenn Sie die Stimmen nicht mehr direkt im Ohr haben, sollten Sie versuchen, sie sinngemäß zu reproduzieren. Sie müssen diese Stimmen durch eine eigene Stimme ersetzen, und ihre Entwicklung mit eigenen Deutungen und Erzählungen unterfüttern. Im kritischen Denken spielen nicht alle Denkmodalitäten eine gleich große Rolle. Dort geht es vor allem um die Frage, wie man die Glaubwür‐ digkeit von Gedanken und Wissen begründen kann. Hier wird also die große Vielfalt wieder auf ein zentrales Element des Denkens heruntergebrochen: Die Begründung und Rechtfertigung einzelner Behauptungen. Auch wenn Ihnen die Wissenschaft als ungeheurer große Ansammlung von Wissen erscheinen mag, so besteht sie dennoch aus vielen einzelnen Behauptungen und deren Begründungen, von denen jede einzelne schlüssig sein muss. Von diesem Punkt geht alles aus, was für rationales Denken wichtig ist. 3 Epistemische Entwicklung Die Begriffe „epistemisch“ oder „epistemologisch“ sind Synonyme für „er‐ kenntnistheoretisch“. Das Konzept „Epistemische Entwicklung“ bezieht sich also darauf, wie sich erkenntnistheoretische Vorstellungen von Wahrheit, Wissen und Erkenntnis Schritt für Schritt herausbilden und transformieren. Manche sprechen hier auch von „persönlicher Erkenntnistheorie“. Die epistemische Entwicklung ist dabei nicht einfach eine Sache des Denkens, sondern umfasst komplexere Bezüge zur Welt, die sich letztlich allerdings wieder auf die Frage ihrer Erkennbarkeit reduzieren lassen. Der Kern: Was ist es, das uns bewegt, etwas als wahr oder falsch anzusehen und wie entwickeln sich Vorstellungen von dem, was „Wahrheit“, „Erkenntnis“ und „Wissen“ ist. Oder auch: Wie kann man überhaupt dazu kommen, etwas zu wissen? Mit diesem Konzept kommt auch der lange schulische Vorlauf in den Blick, den das Denken im Studium hat. In der Schule erscheint Wissen über lange Zeit als etwas, das von den Dingen selbst ausgeht und in dem „Wahrheit“ ein Besitz von Lehrerinnen und Lehrern ist, die wiederum stellvertretend für noch größere Autoritäten in den Wissenschaften stehen. Erkenntnis in der Schule ist mithin zu weiten Teilen etwas, das sich einfach durch Lernen des entsprechenden Wissens gewinnen lässt, und je genauer man sich das vorgegebene Wissen aneignet, so scheint es, desto genauer sieht man auch die Welt. Das Studium lässt sich als eine Zeit verstehen, 238 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="239"?> in der man Abschied von dieser Art naiver Erkenntnistheorie nimmt und sich eine differenziertere Vorstellung von der Entstehung und der Natur von Wissen aneignet. Einiges davon bahnt sich allerdings schon in der Schule an, die längst auch das kritische Denken auf ihre Fahnen geschrieben hat. Sie gehen also vermutlich nicht mit völliger epistemischer Naivität ins Studium, sondern sind bereits dafür gewappnet, dass es mit dem wissenschaftlichen Wissen etwas komplizierter wird. Die Forschung zur epistemischen Entwicklung ging von William Perry (1970) aus, der als Studienberater an der Harvard Universität in Jahresab‐ ständen Interviews mit den Studierenden über ihre Lernerfahrungen führte, sodass er schließlich ihre Entwicklung nachvollziehen konnte. Von 64 Studierenden hatte er Interviews aus jedem der vier Studienjahre. Perry führte relativ offene Interviews über das, was Studieren und Lernen für die Befragten bedeutete und wertete sie danach aus, wie sich Vorstellungen über Wahrheit, Erkenntnis und Wissen im Lauf der vier Jahre änderten. Perrys Arbeit führte zu einem Modell der epistemischen Entwicklung mit einer 9-stufigen Sequenz, die er in vier separate Stadien einteilte. Es ist lohnend, sich diese Stadien zu vergegenwärtigen, da sie wohl die direkteste Beschreibung der intellektuellen Entwicklung im Studium darstellen, die wir kennen. Auf eine Darstellung der neun Positionen habe ich verzichtet, da sie für unsere Zwecke zu differenziert wären und habe mich auf die vier Stadien beschränkt. Perrys Ergebnisse wurden von späteren Untersu‐ chungen im Wesentlichen bestätigt, trotz einiger methodischer Schwächen in seiner Arbeit. So hatte er z. B. keine Studentinnen in die Auswertung eingeschlossen, sondern nur männliche Studierende. Erst spätere Arbeiten, vor allem die von Belenky et al. (1986) und Baxter Magolda (1992) haben das nachgeholt. Ein revidiertes Schema, dessen Terminologie heute weitgehend verwendet wird, stammt von Knefelkamp & Cornfeld (1979), das ich hier etwas reduziert und angereichert durch Knefelkamp (1999) wiedergebe. Stadium 1 (Positionen 1 und 2): Dualismus und empfangenes Wissen. Dualismus kennzeichnet eine Einstellung zum Wissen, die nur die Alternative wahr oder falsch kennt. Wissen wird als etwas erlebt, das vorgegeben ist und das man von den Lehrenden und aus Lehrbüchern erhält. Es gilt die Vorstellung, dass alles Wissen bekannt ist. Die Lehrenden sind die Autoritäten, die es besitzen und weitergeben. Was Sie in Kapitel VII über strittiges Wissen und Wissenslücken gehört haben, spielt in diesem Entwicklungsstadium noch keine Rolle. Es herrscht die Erwartung vor, die Wissenschaft kenne die Wahrheit über die Dinge oder werde sie noch ans 3 Epistemische Entwicklung 239 <?page no="240"?> Licht bringen und je genauer man zuhört oder liest, desto besser erschließt sie sich einem. Viele Studierende der Anfangssemester sind über dieses Stadium bereits hinausgekommen, meist deshalb, weil auch die Schulen bereits eine Art kritische Einstellung zum Wissen vermitteln und versuchen, eine vereinfachte Wissensgläubigkeit bekämpfen. Das allerdings muss sich nicht notwendigerweise auf alles Wissen gleichmäßig beziehen, sondern kann sich z. B. in natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern deutlich unterscheiden. Stadium 2 (Positionen 3 und 4): Multiplizität und subjektives Wissen. Die Erkenntnis, dass es widersprüchliches Wissen und unter‐ schiedliche Meinungen gibt, führt zu der Annahme, dass es eine subjektive Entscheidung ist, welche Meinung man präferiert. Die Lehrenden werden danach beurteilt, für welche Positionen sie einstehen. Dieses Stadium ist mit einiger Ernüchterung verbunden, denn das überhöhte Wissenschaftsbild des vorherigen Stadiums bekommt Risse und der Absolutheitsanspruch an das Wissen muss aufgegeben werden. Die Wissenschaft muss von ihrem Sockel heruntergeholt werden, auf den das naive Wissenschaftsverständnis sie gestellt hat. Die Lehrenden sind nicht mehr die idealen Vertreterinnen und Vertreter ihres Faches, sondern erscheinen plötzlich als zerstrittener Haufen, von denen jeder in eine andere Richtung zieht. Die Orientierung geht hier zeitweilig verloren und Desillusionierung taucht auf, da es eher eine willkürliche Sache zu sein scheint, an wen und an welche theoretischen Ansätze man sich hält. Die Rationalität wissenschaftlicher Diskurse und Auseinandersetzungen ist noch nicht im Blick, und Wahrheit erscheint auf einmal eine eher willkürliche Wahl zu sein, die nach persönlichem Gutdün‐ ken den Dingen zugeordnet wird. Damit zerfällt eine zentrale Kategorie, auf der der Blick auf die Welt bisher aufgebaut war, ohne dass gleich eine Alternative auftaucht. Stadium 3 (Positionen 5 und 6): Relativismus (auch „late multipli‐ city“ genannt) und prozedurales Wissen. In diesem Stadium werden Unterschiede in den Meinungen nicht mehr als willkürliche Entscheidungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angesehen, sondern als methodisch und argumentativ begründet verstanden. Das bietet wiederum eine neue Sicherheit in der Beurteilung von Wissen, denn manche Ansätze erscheinen jetzt besser begründet als andere. Das Argumentieren wird als eine wichtige Grundlage der Wissenschaft verstanden und fängt an, auch den eigenen Bezug zum fachlichen Wissen zu prägen. Strategien der Wissensgewinnung bekommen eine tiefere Bedeutung für die Erkennt‐ 240 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="241"?> nis, verlangen aber auch ein wesentlich höheres Engagement, was die Aneignung fachlichen Wissens betrifft. Lehrende werden nicht mehr als Allwissende angesehen, wohl aber als wichtiger Schlüssel für den Zugang zum Wissen, den es geschickt zu nutzen gilt. Stadium 4 (Positionen 7, 8, und 9): Relativismus und Engagement auf der Basis von konstruiertem Wissen. Wissen wird jetzt als konstru‐ iert und zugleich subjektiv geprägt angesehen. Die Verantwortlichkeit für Wissen wird zu einer Sache des individuellen Engagements. Wissen ist nicht etwas, das über den Dingen schwebt, sondern etwas, das kontextuell ent‐ standen ist und dessen Entstehungsbedingungen man kennen muss, damit man es versteht und beurteilen kann. Lehrende sind nicht mehr unbedingt nötig, um Wissen zu erwerben oder zu besitzen, aber von Einzelnen kann man viel über Wissensentwicklung lernen. Kommunikation als Mittel wis‐ senschaftlicher Diskurse kommt in den Blick und die rhetorischen Aspekte der Wissensdarstellungen werden plötzlich als ein wichtiger Bestandteil des Wissens verständlich. Etwas vereinfacht: Wissen erscheint auf einmal das, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausfinden und einander erzählen. Mit der ersten Abschlussarbeit entsteht zudem ein Verständnis der Differenziertheit von Wissen sowie von den Mühen, die es verlangt, einen eigenen Beitrag zu seiner Entwicklung zu leisten. Nach diesem Schema ist kritisches Denken genau genommen erst im vierten Stadium möglich, allerdings wird es in den vorherigen Stadien vorbereitet. Es entsteht zusammen mit einem Verständnis davon, dass Wahrheit keine Eigenschaft der Gegenstände ist, die wir betrachten und auch kein Besitz großer Autoritäten, sondern immer eine menschliche Konstruktion. Alternative Kriterien für die Qualität von Wissen wie dessen Begründetheit, empirische Absicherung etc. geraten in den Vordergrund. Dies sollte Ihnen nach den vorangegangenen Kapiteln, vor allem dem über Wahrheit, längst klar sein, aber es gibt noch einige Aspekte dieses Themas, die Sie durchdenken sollten. Sie bestehen vor allem darin, dass eine Veränderung der Vorstellung von Wissen und Wahrheit auch eine Veränderung der Rolle bedeutet, die man selbst gegenüber dem Wissen, dem Lernen und dem Hochschulkontext einnimmt. Erwartet man, dass man Wissen von den Lehrenden empfängt (Stadium 1), dann lebt man in einer Welt epistemischer Unschuld (wie Perry sagte). Man hat das eigene Denken auf das Nachvollziehen und auf die Identifika‐ tion mit den Lehrenden ausgerichtet und es auf die wichtigen Werke des Fachs beschränkt. Lehrende sind absolute Autoritäten und es herrscht die 3 Epistemische Entwicklung 241 <?page no="242"?> Erwartung vor, dass man sich auf sie verlassen kann. Ist das nicht der Fall, so wird es als persönlicher Fehler der Lehrenden angesehen. Eine eigene Stimme im Umgang mit Wissen und fachlichen Themen hat man noch nicht, kann allerdings das wiedergeben, was man gehört und gelernt hat. Im Seminar ist man ziemlich stumm und versteht nicht recht, was die anderen motiviert und befähigt, Beiträge zu leisten. Gruppenarbeit erscheint eher als überflüssig und die Kooperation mit den anderen Studierenden nicht profitabel, da sie keinen ähnlich privilegierten Zugang zur Wahrheit haben wie die Lehrenden. Mit dem Zerfall absoluter Wahrheitsvorstellungen in Stadium 2 muss man sich von überhöhten Erwartungen trennen, bekommt aber auch langsam eine eigene Stimme, die das Geschehen zu kommentieren und für sich selbst einzuordnen beginnt. Widersprüche in der Welt und im fachlichen Wissen werden plötzlich sichtbar, wenn auch noch nicht voll erklärbar. Es wird jetzt ansatzweise möglich, sich selbst zu positionieren und sich mit einer eigenen Meinung zu fachlichen Fragen abzugrenzen, auch wenn das vielfach noch probeweise ist, da die entsprechenden Begründungen noch auf wackligen Füssen stehen und willkürlich erscheinen. Viele Meinungen werden einfach von den Mitstudierenden oder den präferierten Lehrenden übernommen. Die Peers bekommen eine größere Bedeutung als noch im ersten Stadium, da sie für das Ausprobieren eigener Meinungen nützlich sind und damit auch der Absicherung dienen, ob man selbst auf dem richtigen Weg ist. Mit dem Stadium 3 beginnt eine Konsolidierung dessen, was das zweite Stadium an neuen Sicherheiten hat aufblitzen lassen. Es entstehen neue Kri‐ terien für die Glaubwürdigkeit von Wissen und die Fundierung eigener Mei‐ nungen. In Seminaren fällt es leichter, sich durch eigene Beiträge einzubrin‐ gen, da Begründungen durch Theorien, Fakten und Forschungsergebnisse plötzlich Sinn ergeben. Wissenschaftliches Denken wird zum Thema und für manche wird Kritik an etablierten Positionen zu einem intellektuellen Sport. Erste Seminararbeiten haben die Begründungszusammenhänge von Wissen sichtbar gemacht und sie aus der Beliebigkeit von persönlichen Meinungen befreit. Das Lesen wird zu einem wichtigen Anker für die Gewinnung eigener Meinungen und zeigt individuelle Profilierungsmöglichkeiten auf. Bestandene Prüfungen signalisieren, dass die eigene Entwicklung auf Kurs ist. Gruppenarbeit fängt an, einen neuen Sinn zu bekommen, da sie nicht nur Beziehungen vertieft, sondern auch Sicherheit im Umgang mit Fachwissen bietet, ebenso wie erste eigene Profilierungsmöglichkeiten. 242 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="243"?> Mit dem Stadium 4 wird noch einmal ein weiterer Schritt in Richtung eines individualisierten Verständnisses von Fachwissen getan. Mit einem neuen und differenzierteren Blick darauf, wie Wissen gewonnen wird, entsteht zunächst ein atomistisches Verständnis von Wissen, das noch nicht ganz einfach mit den synthetisierenden und integrativen Aspekten der Theoriebildung in Deckung zu bringen ist. Auch Theorie und Praxis scheinen noch relativ unberührt voneinander im Raum zu stehen. Dafür kommen, vor allem mit der Abschlussarbeit, handwerkliche Aspekte des wissenschaftlichen Arbeitens und Darstellungskonventionen in den Blick, die ein gewisses Maß an Expertise und Sicherheit vermitteln. Das wachsende Fundament von eigenen Meinungen zu fachlichen Themen, auch in Bezug auf kontroverse Positionen vermittelt ein Gefühl von Zugehörigkeit zum Fach und Besitz an fachlichem Wissen. Gegenüber Fachfremden kann das eigene Fach mittlerweile gut vertreten werden und in fachinternen Kom‐ munikationen fällt die Positionierung und Rollenübernahme leichter. Die krassen Empfindungen von Hierarchie unter den Hochschulangehörigen flachen etwas ab und weichen realistischeren Vorstellungen von Status, Rollen und Expertentum. Ob die Entwicklung damit schon am Ende ist, muss hier nicht entschieden werden. Sicher ist, dass die Bachelor- und Masterarbeiten große Heraus‐ forderungen sind, und zwar nicht einfach deshalb, weil viel Wissen über Forschung und Darstellungskonventionen fehlt, sondern auch, weil damit ein neuer Blick auf Wissen und Wissensentwicklung erworben werden muss. Man gewinnt nicht nur einen Einblick in das, was Wissensproduktion ist, sondern muss selbst dabei mitmachen. Was sichtbar geworden sein sollte, sind die Transformationen, die die einzelnen Schritte bedeuten, denn sie verlangen jeweils ein Umkrempeln nicht nur der Einstellungen zum Wissen, sondern auch des Selbstwertes, der Identität und der Sicherheiten, die man braucht, um sich an der Hochschule bewegen zu können. Es sind also nicht nur die Vorstellungen von Wahrheit und Wissen, die sich verändern, sondern auch die Rollen, die man einnimmt und die intellektuellen Spielräume, die man besetzen kann. Insgesamt ist die Entwicklungssequenz durch eine Vielzahl von intellektuellen Individua‐ lisierungsschritten geprägt, von denen einzelne im nächsten Abschnitt noch genauer beleuchtet werden. Für Ihr Denktagebuch ist es sinnvoll, einmal zu reflektieren, an welchem Punkt der epistemischen Entwicklung Sie selbst vermutlich stehen. Was bedeutet Wissen für Sie, woran machen Sie wissenschaftliches Wissen fest? 3 Epistemische Entwicklung 243 <?page no="244"?> Wie erleben Sie den Hochschulrahmen und welche Autoritäten gibt es dort für Sie? 4 Den Denkprozess navigieren Das Denken in den Blick nehmen Das Denken im Alltag ist eine einigermaßen kontinuierliche Angelegen‐ heit, ähnlich wie das Handeln. Eine Art des Denkens geht dabei in die nächste über, ein Gedanke führt zum nächsten; jede Handlung ruft wieder neue Denkformen auf, ebenso wie auch jede Begegnung mit anderen Menschen und jeder gelesene Text neue Denkanforderung stellt. Viele der darin beteiligten Denkarten sind automatisiert, andere wiederum verlan‐ gen Aufmerksamkeit. Wie soll man in diesem Strom von Denkaufgaben Strukturen finden, auf die man sich beziehen kann? Einfach ist es, wenn Aufgaben vorgegeben sind oder man ein Rätsel lösen will, dann beginnt das Denken an der gestellten Aufgabe und organisiert sich entlang der Lösungsmöglichkeiten. Auch das Schachspiel gibt einen Denkraum samt entsprechender Denksituation vor, die das Denken in feste Bahnen mit klarem Ausgangspunkt und Ziel einbetten, aus denen es nicht ausbrechen kann. Fehlt ein solcher Rahmen, stellt sich die Frage, wie man sich in diesem kontinuierlichen Prozess orientiert. Wie geben Sie Ihrem Denken Aufträge? Wie bewerten Sie seine Ergebnisse? Wann beginnt etwas, wann hört es auf ? Wie steuern Sie das Denken, wenn es in die falsche Richtung läuft oder zu keinem Ergebnis kommt? Wie reißen Sie sich am Riemen, wenn Denkunlust auftritt? Was tun Sie, wenn das Denken in unangenehmes Grübeln übergeht oder sich in Denkschlaufen verfängt? Was tun Sie, wenn Sie in denkerische Höhenflüge geraten und sich dabei großartig fühlen, aber nicht mehr kritisch sind? Die Schwierigkeit bei der Beantwortung dieser Fragen liegt u. a. darin, dass wir beim Denken die Ideenproduktion nur bedingt selbst steuern können. Blättern Sie zurück zu Kapitel III/ 1, um sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was Gedanken sind und woher sie kommen. Wir sind darauf angewiesen, dass der Verstand uns Gedanken zur Verfügung stellt, die wir in den Denkprozess einschleusen können, aber manchmal tut er es auch nicht, dann leiden wir an Gedankenleere oder -armut, und es fällt uns nichts ein. Zu anderen Zeiten aber produziert er so viele Gedanken, dass wir 244 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="245"?> gar nicht mitkommen. Denken heißt nicht Gedanken herzustellen, sondern vorhandene Gedanken zu nutzen und in den Denkprozess einzubinden. Wer kennt nicht den unangenehmen Moment, wenn in einer Prüfung alle Gedanken, die vor Kurzem noch da waren, plötzlich blockiert sind und sich nicht abrufen lassen? Sie wissen, dass das Wissen da ist, aber Ihr Verstand gibt es nicht preis. Die Gedankenproduktion ist dann leicht, wenn wir über vernetztes Wissen in einem Feld verfügen, das oft aktiviert wird. Dann ist ein Gedan‐ kenpool vorhanden, den wir verlässlich abrufen und mit dem wir flexibel operieren können. Die Gedanken sind uns dann vertraut, und sie tauchen an der jeweils richtigen Stelle auf, d. h., dann, wenn sie gebraucht werden. Wenn diese Strukturen fehlen oder (noch) nicht fest ausgeprägt sind, dann müssen wir hart nachdenken, um bestimmte Gedanken zu finden oder neue Gedanken zu konstruieren. Das geschieht z. B. beim Argumentieren über ein neues, noch nicht gut durchdachtes Thema, wenn man mit Einwänden oder Gegenargumenten konfrontiert ist, die man zum ersten Mal hört. Auch wenn wir über Inhalte nachdenken, zu denen kein vernetztes Wissen verfügbar ist, kommen wir beim Denken leicht ins Schwimmen. Das ist anfangs bei den meisten fachlichen Themen der Fall, die Sie neu lernen. Für viele Denkprozesse ist es sinnvoll, die Gedankenproduktion explizit vom Denkprozess zu trennen und zunächst einmal genügend Gedanken zu generieren oder zu importieren, ehe man etwas mit ihnen macht. Generieren heißt, nach Gedanken im eigenen Gedächtnis zu suchen, während impor‐ tieren über Lesen, Exzerpieren oder Nachfragen vonstattengeht. In Kapitel VIII/ 3 sind Tools wie Mind Mapping und Concept Mapping beschrieben worden, mit denen man sinnvolle Gedanken zusammentragen kann, ehe man sie in einem Text linearisiert oder in der Diskussion anspricht. Noch einen Vorgang sollten wir im Blick behalten, wenn wir über den Denkprozess nachdenken: Die Automatismen. Wir hatten an früherer Stelle dargestellt, dass Kahnemans (2011) Unterscheidung in schnelles und langsames Denken eine wichtige Grundlage für unser heutiges Verständnis des Denkens ist. Schnelles Denken bezieht sich auf die Automatismen des Denkens, die ohne Anstrengung und spezielle Aufmerksamkeit vom menta‐ len Apparat bereitgestellt werden. Langsames Denken hingegen umfasst das bewusste, gesteuerte, zielgerichtete und Energie verschlingende Denken, das in der Regel im Zusammenfügen einzelner Gedanken besteht. Letzteres ist das, was den gesteuerten Denkprozess ausmacht, von dem wir hier sprechen, der auch den bewussten Umgang mit den Denkautomatismen 4 Den Denkprozess navigieren 245 <?page no="246"?> umfasst. Das schnelle Denken aber bietet immer wieder Überraschungen, auf die wir schlecht vorbereitet sind. Denksituationen und Denkanlässe Wenn Sie über das Denken nachdenken, dann können Sie sich auf ganz unterschiedliche Denksituationen beziehen. Her einige Vorschläge für The‐ men, die Sie bei gegebenem Anlass in Ihrem Denktagebuch ansprechen können: ● Denken unter Stress: Wie verändert sich mein Denken in Prüfungen, beim Reden vor vielen Menschen, unter Zeitdruck etc.? ● Denken in der Vorlesung oder im Seminar: Wie fügt sich mein Denken in die kollektiven Denkprozesse in Lehrveranstaltungen ein? Wie aufmerksam bin ich? Wie lange denke ich mit? Neige ich dazu, Inhalte passiv aufzunehmen oder schaltet sich mein Denken zu aktiv ein, sodass ich am Aufnehmen gehindert bin, weil ich mehr mit meinen eigenen Gedanken nachgehe? ● Denken beim Schreiben: Wie gehe ich vor, wenn ich eine Seminarar‐ beit, ein Protokoll, einen Blog, ein Referat schreiben muss? Ein wenig Selbstbeobachtung beim nächsten Schreibakt kann helfen. ● Denken in Diskussionen: Wie koordiniere ich meine mündlichen Beiträge mit dem Denken? Kann ich das, was ich denke, gut ausdrücken? Bin ich eher spontan oder präpariere ich Beiträge vorab mental? Wie tue ich das? Mit welchem Erfolg? ● Entspanntes Nachdenken über fachliche Themen: Wie verlaufen Denkakte, wenn ich frei von Stress bin, z. B. beim Joggen, Wandern, Chillen, Kochen etc. und mir die letzte Vorlesung noch einmal durch den Kopf geht. Was tue ich, um derartige Denkergebnisse nicht zu vergessen? ● Feilen an eigenen Meinungen und Überzeugungen: Wie bearbeite ich meine eigenen Meinungen? Ist es mir wichtig, sie auszuarbeiten? An wem orientiere ich mich dabei? Mit oder gegen wen argumentiere ich dabei? Welche Themen sind mir derzeit wichtig? Warum? ● Denken beim Lernen: Wie steuere ich mein Lernen? Welche Strate‐ gien verfolge ich dabei? Wie gut durchdenke ich den Stoff ? Auf wel‐ che Modalitäten (abstrakte Zusammenhänge, ausformulierte Sprache, mündliche Darstellung, visuelle Strukturen etc.) stütze ich mich? 246 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="247"?> ● Nachdenken über die Zukunft: Wo will ich hin im (beruflichen) Le‐ ben? Worin bin ich ehrgeizig? Was will ich erreichen? Welche Zukunfts‐ ängste habe ich? Wie laufen solche Zukunftsplanungen in meinem Kopf ab, was ist mit Unbehagen, was mit Hoffnungen verbunden? ● Biographische Reflexionen: Ist mein Leben auf dem richtigen Gleis? Wo wird es mich hinführen? Was fehlt? Was könnte schiefgehen? Die Gründe dafür, dass es lohnend ist, sich mit solchen Denkprozessen genauer zu beschäftigen, liegen vor allem darin, dass damit auch die Steuerung des Denkens einfacher wird (nächster Abschnitt). Steuerung des Denkprozesses Es gibt viele Möglichkeiten, in eigene Denkprozesse einzugreifen, aber die Denksteuerung ist kein automatischer Vorgang, man muss selbst ein Reper‐ toire an Steuerungsmitteln erwerben und sie beherrschen lernen. Dazu gibt es u. a. Denkregeln, Heuristiken, Visualisierungen und steuernde Fragen, die man einsetzen kann. Die Steuerung des Denkens ist aber nicht nur mit der Verfügbarkeit von regulierenden Elementen verbunden, sondern auch mit der Wahrnehmung von Denkhemmnissen, die sowohl in gedanklicher als auch emotionaler Gestalt auftreten können. Dazu später noch mehr. Wie steuert man den Denkprozess? Diese Frage wird in der neueren Denkforschung öfters gestellt. Einig sind sich alle Ansätze darüber, dass die Denksteuerung eine eigene Funktion des Denkens darstellt. Wir müssen also unser Denksystem in einen mehr oder weniger ausführenden und in einen steuernden, überwachenden Teil aufspalten. Der zweite Teil wird, wie mehrfach erwähnt, auch „reflexives Denken“ genannt, ein Denken also, das sich auf sich selbst beziehen kann. Dazu muss das Denken sich selbst erst einmal wahrnehmen lernen, bevor es in den Denkabläufen intervenieren kann. Die Selbstbeeinflussung des Denkens kann auf mehrere Weisen gesche‐ hen, die Kuhn (1999) als Meta-Wissen beschreibt. Dazu unterscheidet sie: ● Metakognitiv: Was weiß ich, und wie kann ich mein Wissen einsetzen? ● Metastrategisch: Welche Denkstrategien habe ich, die ich auswählen und anwenden kann? ● Epistem(olog)isch oder erkenntnistheoretisch: Was ist Wissen und was weiß ich darüber, wie Wissen verlässlich wird? 4 Den Denkprozess navigieren 247 <?page no="248"?> Diese drei Elemente entwickeln sich auch ontogenetisch nacheinander. Unter „metakognitiv“ versteht Kuhn das Bewusstsein, dass es überhaupt eigenes Wissen und eigene Gedanken gibt, die sich von denen anderer un‐ terscheiden (können). Als „metastrategisch“ bezeichnet sie das Bewusstsein davon, dass das eigene Denken beeinflussbar ist und nicht automatisch abläuft, sondern gebahnt werden kann. Der dritte Punkt geht in erkenntnis‐ theoretische Überlegungen über mit der Frage, wie man erkennen kann, was Wissen verlässlich und nützlich macht. Denkprozesse sind selten so kurz, wie das in Denkexperimenten oder in Intelligenztests erscheint. Oft sind sie in komplexere Lebenssituationen und -entscheidungen eingebettet, tauchen in Unterrichtssequenzen, beim fachlichen Lernen, Schreiben von wissenschaftlichen Texten oder in beruf‐ lichen Handlungszusammenhängen auf. Zwischen dem Denkanlass und dem Denkergebnis können lange Zeitstrecken liegen, in denen das Thema immer wieder auf die mentale Agenda kommt, neu durchdacht wird und mit immer neuen Aspekten angereichert wird. Das Denkergebnis im Gegensatz dazu, hat keine zeitliche Dimension, sondern wird in Form von Aussagen oder anderen logischen Dartstellungssystemen (Zahlen, Statistik, Tabellen, Programmcode etc.) festgehalten. Aus dem Ergebnis kann man auf den Prozess Rückschlüsse und Urteile über dessen Effizienz bzw. Qualität treffen. Umgekehrt geht das nicht, da Prozesse selbst keinen Schluss auf das Ergebnis zulassen. Gedanken formen: Gedanken und Denken sind natürlich nicht wirklich unabhängig voneinander. Gedanken formen sich während des Denkens, sie werden zu komplexeren Einheiten verbunden, wie in Kapitel III beschrieben. Das Denken führt oft zu Zwischenergebnissen, die subjektiv noch als vorläufig qualifiziert werden, weil sie noch nicht passen oder unvollständig sind. Denken und Erkennen: Denken und Erkennen werden oft in einem Atemzug genannt, wenn nicht gar gleichgesetzt. Das aber ist nicht gerecht‐ fertigt. Erkenntnisse sind Resultate von Denkprozessen, nicht das Denken selbst. Ein Erkenntnisprozess idealisiert das Denken, denn das Denken ist prinzipiell chaotisch. Es springt nicht von einer gültigen Erkenntnis zur nächsten, sondern müht sich um Ausgangspunkte, Informationen, Standpunkte, Sichtweisen etc. Es springt dabei oft im Dreieck, rennt in Sackgassen, verfängt sich in Denkrillen, kommt vom Wesentlichen ab, beißt sich an einer Sache fest, kämpft mit Wissenslücken und findet dann doch oft das gesuchte Resultat. Gut organisiertes Denken findet dort statt, wo 248 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="249"?> stabile Routinen vorhanden sind und das Denken in gut definierte fachliche Kontexte eingebunden ist. Denken lernen heißt, mit dem Chaos umgehen zu lernen, das beim Denken oft entsteht und demgegenüber man sich eine gewisse Gelassenheit zulegen muss. Schlecht ausgeleuchtete Bereiche sichtbar machen: Nicht alles, was wir denken, nehmen wir bewusst wahr. Vor allem automatische Denkpro‐ zesse durchlaufen nicht immer die Kontrollschlaufen des bewussten Den‐ kens, sondern werden unwillkürlich abgerufen und eingebunden. Denken heißt auch, diese Annahmen zunehmend aufzudecken und ins bewusste Denken zu integrieren. Je komplexer ein Problem oder Thema ist, desto länger dauert es, alle von ihnen zu berücksichtigen. Oft wird das Denken durch Gefühle oder automatische Bewertungen in Richtungen gedrängt, die für das Ergebnis nicht zielführend sind. Produktive und unproduktive Denkprozesse wahrnehmen: Viele Denkprozesse verlaufen ergebnislos, führen in Sackgassen oder zu zwei‐ felhaften Ergebnissen, die nie das Licht der Sonne erblicken (d. h. aus‐ gesprochen, in Handlung umgesetzt oder aufgeschrieben werden). Wie viel scheinbar unnötige Denkarbeit Menschen verrichten, ist unbekannt. Möglicherweise ist aber Denken, das zu keinem Ergebnis führt, gar nicht so unsinnig, weil es zu späteren Zeitpunkten wiederverwendet werden kann oder weil es Denkroutinen etabliert, auf denen späteres Denken aufbauen kann. Unproduktives Denken kann auch in Form von Grübeln und von mentalen Repetitionen der immer gleichen Gedanken auftreten, in denen das Denken nicht weiterkommt, meist weil es in einer Schlaufe gefangen ist. Es beginnt immer wieder neu und findet keinen Ausweg. Oft sind es eher emotionale Blockaden, die lösende Gedanken verbinden, manchmal sind es auch depressive Stimmungen, die nur negative Gedanken zulassen und alles selbst Gedachte abwerten. Umgekehrt gibt es auch Denkvorgänge, die von Euphorie getrieben sind und sehr locker mit Begriffen und Verbindungen von Gedanken umgehen. Alle Gedanken fühlen sich dann wichtig an und lassen sich leicht verbinden. Bei kritischer Betrachtung allerdings stellt sich heraus, dass die Konstruktionen nicht tragen und eher Luftnummern geworden sind als solide Erkenntnisse. Digitale Denkhilfen einsetzen: Dass Denken in Interaktion mit dem Computer geschieht, ist heute geläufig. Niemand rechnet einen Mittelwert‐ vergleich auf dem Papier durch, sondern verwendet ein Statistikprogramm dazu. Niemand wird eine Übersetzung anfertigen, ohne von deepL.com eine Rohfassung vornehmen zu lassen, und niemand wird einen längeren Text 4 Den Denkprozess navigieren 249 <?page no="250"?> per Hand schreiben, ohne ein Textverarbeitungsprogramm mit all seinen Hilfen einzusetzen usw. Durch diese digitalen Denkhilfen werden nicht nur die Endergebnisse der Denkprozesse festgehalten, sondern auch viele Zwischenprodukte. Der Prozess des Schreibens kann z. B. durch Change Tracking (in Google Docs) festgehalten und visualisiert werden, ein Text kann wieder rückgebaut und flexibel modifiziert, seine Teile rekombiniert werden. ChatGPT und ähnliche Tools liefern noch viel mehr Möglichkeiten, wie bereits dargestellt. Gemeinsam denken: Neue digitale Technologien durchbrechen die Trennung von individuellem Denkvorgang einerseits und Kommunikation des Denkergebnisses andererseits. Gemeinsames Denken wird auf verschie‐ dene Weise möglich gemacht, beispielsweise durch kollaboratives Schreiben (Arbeit im gleichen Schreibraum am gleichen Text, wie durch Google Docs eingeführt), kollaboratives Publizieren (wie etwa von Wikipedia eingeführt), kollaboratives Lesen und Annotieren von Texten (wie von verschiedenen Literaturmanagement Systemen angeboten). In all diesen Systemen werden Denkprozesse bzw. Zwischenergebnisse des Denkens schon früh zugänglich gemacht und können von anderen verwendet, ergänzt oder modifiziert wer‐ den. Diese kollaborative Art des Denkens ist tatsächlich noch so jung, dass sie nicht sehr stark im Bewusstsein der Hochschulangehörigen verankert ist, wohl aber genutzt wird (für eine Übersicht und Problematisierung siehe Castelló et al., 2023). Den Status von Wissen berücksichtigen Wir haben weiter oben die Unterscheidung in sicheres, strittiges und fehlendes Wissen kennengelernt, und es dürfte für Sie klar geworden sein, dass diese Unterscheidung essenziell ist für Wissensdarstellungen und Wissenskommunikation. Es gibt weitere Unterscheidungen, die den Status von Wissen betreffen, die für das Denken und die Kommunikation von Bedeutung sind. Vor allem in wissenschaftlichen Arbeiten ist es essenziell, einige Unterscheidungen zu treffen, die den Status von Wissen charakteri‐ sieren (vergleiche auch Abschnitt III/ 4 dazu): ● Fakten: Sie sind erprobte, belegte oder bewiesene Gegebenheiten, über die ein Konsens unter Fachleuten herrscht; es braucht immer Verweise auf Quellen, die die Existenz, Beschaffenheit belegen. ● Annahmen: Sie müssen nicht begründet, wohl aber plausibel sein. Sie bilden die Grundlage für Untersuchungen oder Argumentationen. 250 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="251"?> ● Hypothesen: Sie werden formuliert, weil sie strittig oder unklar sind und geprüft werden sollen. ● Urteile: Aussagen mit klarem Wahrheitsanspruch, die als Resultat eines komplexen, bewusst vorgenommenen Bewertungsprozesses entstanden sind. Sie pointieren die Abgeschlossenheit eines Denkvorgangs oder Forschungsprozesses. ● Thesen: Behauptungen, die zum Zweck der Diskussion ausgesprochen und argumentativ begründe werden. ● Argumente: Aussagen, die die Glaubwürdigkeit oder Wahrheit einer Behauptung oder These begründen sollen. ● Meinungen: Sie sind eindeutig einer Person zugeordnet und werden in der Regel verteidigt. Sie können in Erklärungen, Interpretationen, moralischen Standpunkten oder theoretischen Statements bestehen. ● Theorien: Sie sind etablierte, meist komplexe Erklärungsmuster, die in der entsprechenden Literatur dokumentiert sind. Sie sind ausgearbeitet und enthalten Aussagen, die aufeinander bezogen sind. ● Konzeptionen: Sie sind Theorien kleineren Ausmaßes bestehend aus mehreren miteinander verbundenen Elementen. ● Stand der Forschung: Zusammenstellung des augenblicklichen Wis‐ sensstandes zu einem definierten Thema. ● Überlegungen: Sie sind ungeprüfte Gedankensysteme, die nicht belegt werden müssen, wohl aber plausibel sein sollten. ● Spekulationen: Überlegungen, die den Bereich des Faktischen verlas‐ sen und auf einer hohen Zahl von unbelegbaren, wenn auch nicht unplausiblen Annahmen aufgebaut sind. ● Interpretationen: Sie sind Deutungen von Realitätsausschnitten unter Verwendung von Fachwissen und etablierten Interpretationen. ● Hypothesen: Sie stellen Annahmen dar, die speziell zu dem Zweck formuliert sind, geprüft oder überprüft zu werden. Wenn Sie eine Seminar- oder Abschlussarbeit schreiben, müssen Sie diese Elemente auseinanderhalten, damit der Status Ihrer Behauptungen klar ist. Ihr Text erhält epistemisches Relief damit und erlaubt Ihnen, den jeweiligen Erkenntnisstatus der Aussagen zu sichern. 4 Den Denkprozess navigieren 251 <?page no="252"?> 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? Perspektive Von wo aus blicke ich auf die Welt? Und was macht meinen Blick auf die Welt aus? Die eigene Meinung wird von vielen Dingen geprägt, die einem anfangs nicht bewusst sind. Das, was man denkt, ist von der sozialen Schicht geprägt, aus der man kommt und von dem Milieu, in dem man sich bewegt. Es ist von den materiellen Gegebenheiten geprägt, mit denen man aufgewachsen ist und vom geographischen Standort, in dem man lebt. Es ist davon geprägt, aus welcher oder welchen Kulturen man stammt, welche Hautfarbe man hat, welche Sprache(n) man spricht und schließlich auch davon, ob man ein Mann, eine Frau oder etwas Drittes ist. Jede dieser Unterscheidungen kann Einfluss auf das Denken haben, da jede von ihnen unterschiedliche Lebenserfahrungen, unterschiedliche Stellungen unter den Menschen und eine entsprechende Wahrnehmung der Welt impliziert. Heute wird dies unter dem Begriff „Diversity“ diskutiert, der auf die Vielfalt menschlicher Lebens- und Existenzformen verweist. Auch das Denken ist divers und nicht einheitlich. Dieser Abschnitt geht auf das ein, was die Besonderheiten des eigenen Lebens ausmacht und wie sich das auf das Denken auswirkt. In den Wissenschaften wird verlangt, einen Standpunkt einzunehmen, der neutral ist und keine persönlichen Interessen oder Präferenzen trans‐ portiert. Das ist nicht ganz einfach zu realisieren, und die Wissenschaften werden heute mitunter heftig dafür kritisiert, dass sie eurozentrische oder West-zentrierte Werte und Gesichtspunkte bevorzugen, anstatt die ganze Welt und die Erfahrungen auch von Minderheiten und marginalisierten Gruppen im Blick zu haben. Ob solche Kritik gerechtfertigt ist, muss hier nicht entschieden werden. Man kann nämlich auch argumentieren, dass die in Europa entstandenen Wissenschaften die Norm einer unabhängigen Forschung und Theoriebildung überhaupt erst eingeführt haben, selbst wenn sie diese nicht perfekt umsetzen. In wissenschaftlichen Publikationen ist eine gender- und kulturneutrale Forschung und Darstellung Pflicht, wie man z. B. im Publikationsmanual der APA nachlesen kann. Wie auch immer: Wenn man sich mit wissenschaftlichem und kritischem Denken vertraut macht, sollte man auch die eigenen Denkvoraussetzungen reflektieren und sich selbst als Denkerin oder Denker eigener Prägung in dieser Welt verorten. Der Weg zum Verständnis der eigenen Perspektive führt über multiper‐ spektivisches Denken. Fast jedes Problem und jedes Thema lässt sich 252 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="253"?> aus mehreren Perspektiven betrachten, und jede Perspektive lässt jeweils unterschiedliche Aspekt als relevant erscheinen. Mit jeder Perspektive geraten andere Zusammenhangsvermutungen und Bewertungen in den Vordergrund. Positionierung und Identität Scheint das Denken im Studium sich anfangs nur zwischen Ihnen und dem fachlichen Wissen abzuspielen, so kommt zunehmend die soziale Dimension des Denkens und der Gedanken ins Spiel. Es geht nicht mehr einfach darum, etwas zu verstehen oder wiederzugeben, sondern darum, sich selbst dazu zu verhalten. „Positionieren“ nennt man den Vorgang, mit dem man eine eigene Meinung oder eigene Gedanken zu einem Stoff oder Thema kundtut und sich damit gegenüber den anderen sichtbar macht. Das kann darin bestehen, dass man die eigenen Ansichten artikuliert, dass man etwas kritisiert oder kommentiert. Der wichtigste Bestandteil des Positionierens ist die inhaltliche Stellungnahme, so wie wir dies im Kapitel Argumentieren kennengelernt haben, mit der (nicht immer ausgesprochenen) Phrase: „Ich behaupte, dass …“ plus entsprechenden Argumenten dazu. Mit dem Positionieren machen Sie Unterschiede zwischen sich und anderen geltend. Sie zeigen, zu welchen Gedanken, Schlussfolgerungen, Bewertungen Sie neigen. Damit ordnen Sie sich bestimmten Gruppen zu und grenzen sich von anderen ab. Auch eine ganz eigene Position kann man sich zuschreiben. Dabei macht es natürlich keinen Sinn, sich so stark abzugrenzen, dass man sich aus einem Fach hinauskatapultiert. Positio‐ nierung soll gerade die Zugehörigkeit festigen, denn die Wissenschaften erlauben Individualität nicht nur, sondern fordern sie sogar ein. Einfach nur nachzubeten, was das Fach sagt, ist in den Wissenschaften verpönt. Mit dem Individualisieren der eigenen Meinungen und fachlichen Posi‐ tionen entsteht Identität. Diese verlangt Zugehörigkeit ebenso wie Abgren‐ zung. Beide Aspekte sind Resultate Ihrer intellektuellen Entwicklung und beide reflektieren Ihre individuellen Besonderheiten. Positionierung ist also nicht nur eine Sache der Meinung und Rhetorik, sondern auch eine der Identität. Sie definieren sich selbst, indem Sie Stellung beziehen, sich zuordnen und abgrenzen. Sie bestimmen für sich eine Rolle im Gefüge der Meinungen und Positionen, und es wird sichtbar, wofür Sie einstehen, welche Werte sie hochhalten und was die Eigenarten Ihres Denkens sind. Die Bezüge zwischen Identität und Denken sind vielfältig. Im Folgenden sind 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? 253 <?page no="254"?> einige Möglichkeiten aufgeführt, wie Sie Ihre Positionierung aktiv gestalten und Ihre Identität für sich selbst und andere wahrnehmbar machen können. Denkstile: De Bonos Denkhüte Nicht alle denken gleich und nicht alle Arten des Denkens kann man selbst gut beherrschen. Wichtiger für die Entwicklung speziell auch von kritischem Denken ist es, die eigenen Besonderheiten zu kennen und sich an den Eigenarten des Denkens anderer nicht aufzureiben, sondern sie als komplementäre Denkformen zum eigenen Denken wertschätzen zu lernen. Denn wer gerne analytisch denkt, findet oft an emotionalem Denken keinen Gefallen, wie auch umgekehrt emotionale Denkerinnen und Denker sich an zu viel rationalem oder skeptischem Denken reiben können. De Bono (1989) entwickelte ein Denktraining, in dem er den Teilnehmen‐ den seiner Seminare unterschiedliche Hüte aufsetzt, die jeweils für eine bestimmte Denkart stehen. Dann ließ er sie diese Denkweisen in einer Gruppendiskussion ausprobieren. Um sie kenntlich zu machen, markierte er jede Denkart mit einer anderen Farbe. Er spezifiziert: ● Analytisches Denken (weiß): Konzentration auf Tatsachen, Anforderun‐ gen und das Erreichen von Zielen ● Emotionales Denken, Empfinden (rot): Konzentration auf Gefühle und Meinungen ● Skeptisches (bei De Bono: kritisches) Denken (schwarz): Risikobetrach‐ tung, Probleme, Skepsis, Kritik und Ängste ● Optimistisches Denken (gelb): Blick auf das Best-Case Szenario. Chan‐ cen, Potenziale ● Kreatives, assoziatives Denken (grün): Neue Ideen, Kreativität, Wagnis, Grenzen überschreiten ● Ordnendes, moderierendes Denken (blau): Überblick über ablaufende Prozesse ohne eigene wertende Stellungnahmen Jede dieser Denkarten oder Denkstile hat nach De Bono (1989) seine eigenen Qualitäten und trägt etwas zum Verständnis eines Sachverhalts oder Themas bei. Jeder von uns hat nicht nur eine Präferenz für einen der Stile und mithin nur eine eingeschränkte Spannweite, die nicht alle Arten Denkstile abdecken kann. Deshalb denkt es sich in einem Team auch besser als allein: Es kommen mehr Perspektiven zur Geltung. Wir müssen dabei aber lernen, die Denkstile anderer wahrzunehmen sowie die Stärken und Schwächen des 254 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="255"?> eigenen Denkens wertzuschätzen. Um sich mit den Denkweisen vertraut zu machen, kann man auch probeweise die Hüte aufsetzen, die einem fremd sind, um die entsprechenden Denkweisen zu trainieren. - kaum mittel stark analytisches, abstraktes Denken - - - emotionales Denken - - - skeptisches Denken - - - optimistisches, konstruktives Denken - - - kreatives, assoziatives Denken - - - ordnendes, systematisierendes Denken - - - Tab. 11: Stärken und Schwächen meines Denkens (angelehnt an De Bono, 1989 De Bono zeigt, dass jede Art des Denkens auch ihre Schattenseiten hat. So kann das analytische Denken blass und weltfremd sein, das emotionale Denken irrational, das optimistische Denken abgehoben und kritiklos, das kreative, assoziative Denken unlogisch oder inkonsequent, das ordnende, moderierende Denken ungerichtet oder emotionslos und das kritische/ skep‐ tische Denken alarmistisch oder schwarzmalerisch. Es ist weder erstrebenswert noch möglich, alle Arten des Denkens selbst perfekt zu beherrschen, wohl aber macht es Sinn, die eigene Prägung zu kennen und sie auch als Eigenart anzuerkennen. Wenn Sie also eher asso‐ ziativ-kreativ denken, so kann das in Kontexten, in denen systematisches Denken verlangt ist, als Defizit erscheinen, wie umgekehrt, das analytische Denken an seine Grenzen stoßen kann, wenn es um Erfindungsreichtum oder das Gestalten von etwas Neuem geht. Wichtig ist es, selbst etwas variabler zu werden, aber noch wichtiger, sich mit anderen so zu arrangieren, dass man gegenseitig Stärken und Schwächen ausgleichen kann. Das ist die Grundidee von guten Teams, in denen mehrere intellektuelle Temperamente nicht nur zusammenwirken, sondern sich in ihrer Unterschiedlichkeit auch als Ergänzung und Bereicherung wahrnehmen (statt sich gegenseitig auf die Nerven zu fallen). 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? 255 <?page no="256"?> Wissen, was man nicht weiß Kritisches Denken hat einen soliden und erstaunlich zeitlosen Anker, den einst Sokrates gesetzt hat: Das Wissen über das eigene Unwissen. Es reicht nicht, gekonnt mit Wissen umzugehen, man muss auch sein eigenes Unwissen verstehen und einschätzen können. Wissen zu erwerben verführt dazu, es zu überschätzen. Allerdings ist der Erwerb von Wissen auch die einzige Möglichkeit, das Ausmaß des eigenen Nichtwissens etwas präziser abzuschätzen. Wer nichts weiß, kann auch kein Verständnis des eigenen Nichtwissens entwickeln. Dummheit bezeichnet nicht nur das Fehlen von Wissen, sondern ebenso das Unverständnis des Nichtwissens. Dieser Abschnitt soll Sie dazu bewegen, schlau mit Ihrem Nichtwissen umzugehen und es als denkerische Größe bewusst einzubeziehen. Das Verstehen des Nichtwissens ist schließlich auch Voraussetzung für Lernen und intellektuelle Entwicklung. Zudem ist es auch eine Frage der Identität, da es der Kehrwert zu Ihrem Wissen ist. Je tiefer ich in einem Fachgebiet verankert bin, desto laienhafter erscheine ich mir selbst in allen anderen Fächern, wo mir Expertise fehlt. Es gibt unterschiedliche Arten des Umgangs mit Nichtwissen. Ein Ver‐ ständnis des eigenen Nichtwissens wird in der Philosophie gerne als Bestandteil von kritischem Denken angesehen. Es ist das Gegenteil der Besserwisserei, die daraus entsteht, dass man den Wahrheitsgehalt der eige‐ nen Gedanken überschätzt. Kritische Denkerinnen und Denker ziehen ihren Selbstwert nicht aus ihrem Wissen, sondern aus dem zweiten, prüfenden und absichernden Blick auf einen Gedanken, mit dem seine Glaubwürdigkeit erst infrage und dann auf eine sicherere Basis gestellt wird. So einfach das „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ klang, als Sie es in der Schule zum ersten Mal gehört haben, so schwierig ist es, es später bei sich selbst anzuwenden. Man kann ja nicht sehen, was man nicht weiß, denn würde man das tun, dann wüsste man es ja. Wohl aber kann man die Grenzen des Wissens ertasten lernen. Das Verständnis des eigenen Nichtwissens bezieht sich also auch auf eine genaue Einschätzung der Übertragbarkeit des Wissens auf andere Felder. Zudem verweist das eigene Nichtwissen meist auf etwas, das andere besitzen, in deren Köpfe man aber nicht hineinschauen, sodass man von dieser Warte her das eigene Unwissen nicht abschätzen kann. Und woran soll man sich messen, wenn man eigenes Nichtwissen betrachtet: an den anderen Laien, an Experten 256 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="257"?> oder am Spitzenwissen der Wissenschaften? Je nach gewähltem Maßstab ändert sich die Einschätzung des eigenen Nichtwissens beträchtlich. Unser alltäglicher Denkmodus ist in der Regel oberflächlich. Über die meisten Dinge der Welt wissen wir nur wenig, oft nur gerade so viel, dass Reis in Terrassen in Asien oder in Italien am Po angebaut wird. Ansonsten wissen wir, wie er gekocht wird. Aber in Bezug auf Reisanbau sind die allermeisten von uns einfach Laien. Tieferes Wissen haben die, die den Reis anbauen, noch tieferes Wissen die, die Reisanbau studiert haben und noch tieferes Wissen die, die Forschung zum Reisanbau betreiben. Als gewöhnli‐ che Reiskocherinnen und -esser können wir Wikipedia konsultieren, um wenigstens einen oberflächlichen Eindruck zu erhalten, der uns ein paar Anhaltspunkte liefert, aber auch zeigt, wie viel wir nicht wissen. In den Wissenschaften hat das Nichtwissen seinen festen Platz und wird durchweg positiv bestimmt, auch wenn, wie in Kapitel VII/ 3 angespro‐ chen wurde, zwischen „unerkanntem Nichtwissen“ und „identifiziertem Nichtwissen“ unterschieden werden muss (Gottschalk-Mazouz 2007). Am Studienanfang sind Sie vor allem mit eigener unidentifizierter Unwissenheit konfrontiert, die die Lehrenden mithilfe von Unterricht beseitigen wollen. Erst langsam kommt das Bewusstsein hinzu, dass auch Ihr Fach nicht allwissend ist, sondern auch von so viel Unwissen geprägt ist, dass aufwän‐ dige Forschung in allen Teilgebieten betrieben werden muss, um es zu beseitigen. Forschung macht nur Sinn, wenn sie auf etwas abzielt, das noch nicht bekannt ist. Dieses Unwissen wird in der Regel „Forschungslücke“ oder „Wissenslücke“ genannt. Relevante Wissenslücken sind aber nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch oft Resultat der Forschung und werden dann als „Desiderate“, also erwünschte weitere Forschung bezeichnet. Wir haben darüber u. a. in Kapitel IV/ 6 bereits gesprochen im Zusammenhang mit Forschungsberichten. Gute Wissenslücken sind oft Ausgangspunkt guter Forschung oder guter Recherchen. Manche Wissenslücken kann man allein durch Lesen und Literaturauswertung füllen, die meisten erfordern originäre Forschung. Ihre persönlichen Wissenslücken können Sie ähnlich ausfüllen, wenn sie sich ihrer bewusst werden und sie nicht einfach als ein persönliches Defizit betrachten. Die Menge an Nichtwissen - das ist wichtig zu erinnern - wird die Menge an positivem Wissen in Ihrem Besitz immer um ein Vielfaches übersteigen. Es zeigt Ihnen an, wo Sie zulegen und Neues lernen können - oder aber auch, wo sie gar nichts lernen wollen. 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? 257 <?page no="258"?> Heiße Eisen: Das Durchdenken unangenehmer Meinungen Wie geht man mit Meinungen zu kontroversen Themen um? Der Krieg in der Ukraine hat unangenehme Themen auf den Tisch gebracht, die zu durchdenken vielen schwergefallen ist. Soll man einen Krieg mit Waffenlie‐ ferungen verlängern? Soll man einem Aggressor wie Russland helfen, indem man dem Angegriffenen die Lieferung von Waffen verweigert? Wie geht man mit dem eigenen Pazifismus um, der in diesem Konflikt möglicherweise unangebracht ist? Riskiert man eine Ausweitung des Konflikts, wenn man Putin Grenzen setzt oder wenn man ihn gewähren lässt? Entscheidungen für diese oder jene Position sind hier nicht nur mit schwer zu berechnenden Kalkulationen, sondern auch stark mit moralischen Aspekten durchsetzt. Letzteres verankert sie in persönlichen Wertesystemen, was es doppelt schwierig macht, zu klaren Einschätzungen zu gelangen. Aristoteles wird die Aussage zugeschrieben: „Es ist das Kennzeichen eines gebildeten Geistes, einen Gedanken hegen zu können, ohne ihn zu akzeptieren.“ Diese Aussage charakterisiert genau die angesprochene Fähigkeit, sich mit unbequemen, dem persönlichen Dafürhalten nach fal‐ schen Gedanken, auseinandersetzen zu können und nicht vorschnell den Denkprozess abzubrechen, wenn etwas nicht den eigenen Ansichten oder moralischen Empfindungen entspricht. Warum ist das so schwer? Der menschliche Verstand hat die Eigenschaft, widersprüchliche Ansich‐ ten zu vermeiden und unternimmt einige Anstrengungen, um ein konsis‐ tentes Weltbild zu gestalten. Im Prinzip ist es vernünftig, Widersprüche zu vermeiden, denn das macht handlungsfähig und vermeidet innere Konflikte. Die Sozialpsychologie untersucht seit Langem ein Phänomen, das Festinger (2018) in den 1950er-Jahren als „kognitive Dissonanz“ bezeichnete. Es beschreibt die Tendenz, Informationen, die einem eigenen Glaubenssystem widersprechen, auf verschiedene Weisen zu verändern, um den Glauben nicht aufgeben zu müssen. Dazu gehören Verleugnung, Wahrnehmungsab‐ wehr, Umdeutungen und weitere gedankliche Aktivitäten. Erst wenn die Widersprüche zu stark werden, tendieren Menschen dazu, sich mit ihnen zu befassen und sie in ihre Weltsicht zu integrieren. Auch wenn das Vermeiden von mentalen Widersprüchen ökonomisch sein mag, muss man dagegen einwenden, dass die Welt selbst voller Wi‐ dersprüche ist, die sich nicht einfach im eigenen Denken auflösen lassen. Das Denken muss die Widersprüche abbilden und sie dementsprechend auch zulassen. Wer befürwortet, dass die Ukraine sich gegen die russische 258 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="259"?> Invasion wehrt, muss die vielen Toten in Kauf nehmen, die ein solcher Krieg kostet. Wer der Ukraine ein Nachgeben gegenüber Russland rät, muss die brutale russische Herrschaft über die eroberten Gebiete in Kauf nehmen. Eine moralisch einfache Lösung ist dabei nicht in Sicht. Glücklicherweise entscheidet die Ukraine selbst, wie sie vorgehen will, nicht wir. Das Vermeiden von Widersprüchen kann verschiedene negative Folgen für das Denken haben: ● Das Arrondieren von Information: „Für mich stimmt es so, basta.“ ● Sich moralisch taub stellen: „Dann muss das ebenso sein.“ ● Die Fakten etwas umbiegen: „Das kann man doch auch anders interpre‐ tieren.“ ● Nichtbefassung: „Davon will ich nichts wissen.“ ● Ideologisch verbrämen: „Pazifisten können einen Krieg nicht guthei‐ ßen.“ In wissenschaftlichen Kontexten ist das Vermeiden von Widersprüchen na‐ türlich nötig, zumindest dann, wenn es darum geht, konsistente theoretische Zusammenhänge zu konstruieren. Findet man hingegen Forschungsergeb‐ nisse in der Literatur, die sich nicht vereinen lassen, weil sie widersprüch‐ lich sind, so muss man dies benennen, ebenso wie man Widersprüche ansprechen muss, wenn die Forschung unterschiedliche Schlussfolgerungen zulässt. Strittiges, widersprüchliches und wenig erkundetes Wissen gehört zum Forschungsstand dazu, wenn auch nicht zu dem, was wir „gesichertes Wissen“ nennen. Im strittigen Wissen dominieren Widersprüche und müs‐ sen expliziert werden. Was kritische Denkerinnen und Denken also vermeiden müssen, ist das Arrondieren von Meinungen, um Widersprüchen zu entgehen. Widersprü‐ che tun nicht weh, wenn man sie akzeptiert. Wohl aber schadet es dem Denken, wenn man sie ignoriert. Schwieriger ist es, wenn fest gefügte Positionen durch Veränderungen der Wirklichkeit langsam in eine Schief‐ lage geraten, wie dies viele überzeugte Pazifistinnen und Pazifisten erleben mussten, als es darum ging, ob ein angegriffenes Land wie die Ukraine gegen einen Aggressor verteidigt werden soll. Den Gefühlen trauen - und misstrauen Mit dem Thema „Emotionen“ sind wir beim persönlichsten Bestandteil des Denkens angelangt. Während sich die rationalen Bestandteile des Denkens 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? 259 <?page no="260"?> mit anderen Menschen abgleichen lassen, ist das mit den emotionalen Bestandteilen sehr viel schwerer zu leisten, zumal viele von ihnen uns selbst nur unzureichend zugänglich sind. Hier sind also sehr viele Unterschiede zwischen den Denkenden zu erwarten und hier ist ein offenes Lernfeld angesprochen. Heute wird oft „emotionale Intelligenz“ eingefordert, was nach einer Integration rationaler und emotionaler Aspekte des Denkens und Handelns verlangt. Das klingt richtig, ist aber im Detail wenig zugänglich. Denken ist ein Vorgang, der von Gefühlen durchzogen ist und der ohne Gefühle vermutlich überhaupt nicht stattfinden kann. Warum? Weil Gedanken, die uns wichtig sind, zwangsläufig emotionale Bedeutung anneh‐ men und weil diese emotionalen Gewichte einzelner Gedanken die Motive dafür sind, sich mit ihnen zu beschäftigen. Gefühle sind nicht nur für persönliche Themen relevant, sondern auch für fachliche und komplexere Meinungen. Gefühle sind nicht nur aktivierend, sondern binden sich auch an bestimmte Gedanken oder Gedankensysteme. Man kann sich in einen Gedanken verlieben, man kann ihn interessant, eklig, unmoralisch, ärgerlich, erfreulich oder peinlich finden und diese Gefühle haben die Eigenschaft, dass sie dem Gedanken anhaften, sodass sie mit einer erneuten Aktivierung des Gedankens ebenfalls wieder wach werden. Welche Gefühle empfinden Sie, wenn Sie lesen: Die EU ist ein bürokratisches Monster, das die nationalen Kulturen unterdrückt und lähmt. Wenn Sie den Brexit gutgeheißen haben, dann wird Sie dieser Satz freuen. Wenn Ihnen die EU etwas bedeutet, dann werden Sie sich vermutlich ärgern. Kalt lassen wird dieser Satz nach den vorangegangenen politischen Diskussionen um den britischen EU-Austritt kaum jemanden. Viele Gedanken sind ähnlich emotional besetzt, wie die über den Bre‐ xit, und die Gefühle zu diesen Gedanken reproduzieren sich, sobald der Gedanke ins Bewusstsein kommt. Ähnlich emotional festgelegt sind unsere Gedanken zu vielen aktuellen politischen Denkmöglichkeiten über Corona, Ukraine-Krieg, Klimawandel, Energieversorgung und augenblicklich den Konflikt zwischen Israel und Palästina im Gaza Streifen. Das bedeutet, dass sie damit auch nicht mehr einfach veränderbar sind. Gedanken an sich sind flexibel und zudem kann man mit einem „kein“ oder „nicht“ den Wahrheitswert jedes Gedankens problemlos ins Gegenteil verkehren. Die Emotionen hingegen haben mehr Stabilität und lassen sich nicht einfach 260 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="261"?> von den Gedanken abwischen. Sie ketten uns an bestimmte Gedanken und lassen uns an deren Wahrheitswerten lange festhalten. Emotionen fixieren die Gedanken damit und machen sie unflexibel. Emotionen regen nicht nur zum Denken an, sondern verkürzen Denkpro‐ zesse auch. Hat ein Gedanke einen klaren emotionalen Wert (wie den, dass man sich über den Brexit einhellig freut oder ärgert), muss man nicht nach einem neuen Urteil darüber suchen. Der Gedanke hat sozusagen sein festes emotionales Etikett und das signalisiert: kein Denkbedarf. Anders ist es bei gemischten Gefühlen, dann ist Klärung angesagt, ebenso wie dann, wenn zwischen emotionaler Bewertung und rationaler Beurteilung Widersprüche auftreten. Gefühle, die mit Gedanken verbunden sind, haben eine dreifache Natur: ● Automatismen des Denkens. Gefühle treten automatisch, ungebeten und ohne Anstrengung auf; sind Resultate früherer Erfahrungen und Einschätzungen. ● Reduktoren des Denkens. Emotionen reduzieren Ereignisse oder Ge‐ gebenheiten auf elementare bio-psychische Einheiten, die nicht weiter erklärbar sind. Freude, Ekel, Neugier oder Angst sind keine rationalen oder kognitiven Prozesse, sondern mentale Qualitäten eigener Art (manchmal in der Philosophie auch „Qualia“ genannt). Sie bilden einen wichtigen Bestandteil des Bewusstseins, der sehr wirksam unser Erleben bestimmt. Gleichgültig, in welcher Kultur Sie sich aufhalten, Sie können darauf bauen, dass die Grundemotionen vorhanden sind und Sie Schuld, Scham, Neugier, Freude, Furcht, Ekel und Kummer empfinden, auch wenn diese in der jeweiligen Kultur anders ausgedrückt und ausgelöst werden mögen. ● Motivatoren des Denkens. Wenn ein Gedanke ein starkes Gefühl auslöst, dann ist das ein Grund, sich mit ihm zu beschäftigen oder aber eine Beschäftigung mit ihm abzublocken. Wenn uns ein Gedanke in den Kopf kommt, der keinen emotionalen Wert hat, dann lässt er uns kalt und wir werden nicht viel Energie in eine Beschäftigung mit ihm investieren. Emotionen helfen uns also beim Denken, und sie stören uns beim Denken. Sie sind Bestandteil unserer Gedanken wie auch des Bewusstseins. Sie sind eine dritte Beurteilungsdimension neben den Wahrheitszuschreibungen und den wertenden Urteilen. Sie verhalten sich in der Regel konform mit den Wahrheitsannahmen und Werten, da sie in vielen Denkakten synchronisiert worden sind. Sie haben aber auch die Eigenschaft, das Denken unflexibel 5 Diversität und Identität: Wer bin ich, wenn ich denke? 261 <?page no="262"?> zu machen. Sind Wahrheitsannahmen, Werte und Gefühle eng aufeinander abgestimmt, fühlt sich das kongruent und stimmig an, verlangt jedoch relativ großen Aufwand, den entsprechenden Gedanken zu ändern. Gibt es etwas Neues zu bedenken, dann erfordert das rationale Verständnis oft ebenso viel Aufwand wie das Gewinnen eines emotionalen Standpunktes. Warum Misstrauen gegenüber Emotionen? Weil sie manchmal die Denk‐ entwicklung lähmen und uns an der Aufnahme neuer Informationen hin‐ dern können. Der Brexit ist jetzt viele Jahre her und es könnte an der Zeit sein, die Bewertung dieses Ereignisses zu revidieren. Es sind viele neue Fakten zur Kenntnis zu nehmen und in die Bewertung einzubeziehen. Vielleicht hatten die Recht, die den Austritt befürworteten? Oder hat sich bestätigt, was die Brexit-Gegnerinnen und -Gegner befürchteten? Einfach bei seiner Meinung zu bleiben, reicht hier möglicherweise nicht aus. Es ist wichtig zu realisieren, dass ein wichtiger Teil der Stabilität unserer Meinungen emotional begründet ist und es oft die Emotionen sind, die eine Revision verhindern. 6 Die soziale Seite des Denkens Denken ist auf vielfältige Weise abhängig von dem sozialen Kontext, in dem es stattfindet. Gedanken, haben wir gesagt, sind soziale Größen, die wir zwar individuell reproduzieren und auch adaptieren müssen, die wir aber meist aus einer bestimmten Gemeinschaft übernehmen. Auch die Sprache ist eine soziale Sache, die uns unter anderem einen riesigen Wortschatz zur Verfügung stellt, mit dem wir Gedanken produzieren, verstehen und ausdrücken können. Jeder abstrakte Begriff eröffnet Denkmöglichkeiten und jeder nicht vorhandene Begriff schränkt das Denken ein. Schließlich werden wir auch durch unser unmittelbares soziales Umfeld beeinflusst, das im Studium aus dem Lehr- und Lernkontext besteht, in dem Sie sich bewe‐ gen. Er fordert und vermittelt bestimmte Denkweisen. Die Interaktionen mit Ihren Mitstudierenden und mit den Gruppen, in die Sie eingebunden sind, sind Interaktionsfelder, in denen Sie Ihr Denken trainieren und erproben können. Im Folgenden sind die wichtigsten sozialen Einflussfaktoren auf Ihr Denken aufgeführt. 262 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="263"?> Gruppenzugehörigkeit und Individualität Niemand ist unabhängig von den Meinungen anderer. Zu einer Gruppe oder einem Team zu gehören führt auch dazu, sich mit den Meinungen von deren Mitgliedern zu arrangieren. Das hat zum Teil ökonomische, zum Teil aber auch psychologische Gründe. Manche sagen, dass es immer noch so etwas wie Stammesdenken aus den Anfangszeiten der Menschheit gäbe, als von der Zugehörigkeit zu einer kleinen Gruppe das Überleben abhing. Mit ihr musste sich arrangieren, wer ihren Schutz in Anspruch nehmen wollte. Das präge noch Gefühle der Verbundenheit und Angewiesenheit mit dem eigenen „Stamm“, die sich rational nicht so ganz leicht wahrnehmen und beeinflussen ließe. Individualisierung politischer Meinungen ist hingegen ein Zug der Mo‐ derne, in der die primären Zugehörigkeiten sich auflösen und sich individu‐ elle gewählte Loyalitäten und Zugehörigkeiten ausbilden. Die Bezugsgrup‐ pen, an denen man das eigene Denken orientiert, sind nicht mehr die urwüchsigen sozialen Kontexte, in die man hineingeboren wurde, wiewohl man den wissenschaftlichen Disziplinen nachsagt, dass sie immer noch etwas von den archaischen Stämmen an sich haben. Im Studium müssen Sie jedenfalls beides erreichen: Teil einer fachlichen Gemeinschaft zu werden und Ihre Meinungen zu individualisieren, d. h., an eigenen Maßstäben auszurichten. Das ist kein ganz einfacher Spagat, und die Anforderungen, die das erfordert, variieren von Fach zu Fach beträchtlich. In den naturwissenschaftlichen Fächern ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fach ohnehin sehr viel schwerer zu leisten als in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, in denen der Bereich des strittigen Wissens viel größer ist. In den Natur- und Technikwissenschaften sind vor allem in den Anwendungsbereichen ethische und praktische Fragen offen für Auseinandersetzungen, weniger die Grundlagenbereiche. Gruppenarbeit und kollaboratives Lernen Gruppenarbeit wird im Studium immer wieder verlangt und ist eines der wichtigsten Trainingsfelder für kollaboratives Handeln, kritisches Denken, wie auch für die besondere Art der Zusammenarbeit, die in den Wissen‐ schaften herrscht. Dort ist Wissensentwicklung immer ein Prozess, an dem viele mitwirken, und Wissen wird immer arbeitsteilig von Forscherinnen und Forschern aus der ganzen Welt gewonnen. Das Studium sollte ein verkleinertes Abbild davon sein und zudem ein Trainingsfeld für diese 6 Die soziale Seite des Denkens 263 <?page no="264"?> Art des Zusammenwirkens, wie Ken Bruffee (1999), einer der wichtigsten Gründungsfiguren der Schreibzentrenbewegung, forderte. Er prägte den Begriff „kollaboratives Lernen“ dafür. Diese Art des Lernens ist weiter gefasst als kooperatives Lernen, das das direkte Zusammenwirken z. B. in einem Projekt meint, in dem alle Beteiligten auf ein Produkt hinarbeiten. Kollaboratives Lernen umfasst auch indirekte Formen des Zusammenwir‐ kens, z. B. durch Feedback, Besprechungen, gemeinsames Lernen oder Bezugnahme aufeinander. Der Begriff „Kollaboration“ hat also nichts mehr gemein mit seiner Bedeutung im Krieg, als es eine Zusammenarbeit mit dem Feind bezeichnete. Oft wird auch oft der Begriff „Learning Community“ von Lave & Wenger (1991) und, Wenger (1998) verwendet, der heute vor allem im Zusammenhang mit den webbasierten Social Communities und den elektronischen Formen der Zusammenarbeit Verwendung findet. Was macht Gruppenarbeit und kollaboratives Lernen so wichtig? Man‐ chen erscheint Zusammenarbeit eher als Erschwernis beim Lernen, denn als nützliche Hilfe. Und nicht selten gibt es auch Profiteurinnen und Profiteure, die Gruppenarbeit ausnutzen, um mit wenig Aufwand ein paar Credit Points zu ergattern. Beide Aspekte erinnern uns daran, dass wir kollaboratives Lernen immer auch unter dem Aspekt der Effizienz betrachten müssen. Der Aufwand dafür muss in einem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag stehen. Deshalb ist es zunächst einmal sinnvoll, sich den möglichen Ertrag anzu‐ schauen, damit Sie ermessen können, welcher Aufwand für Gruppenarbeit oder eine andere Art der Kooperation sinnvoll ist. Das ist der mögliche Gewinn daraus: ● Austausch und Abgleich von Gedanken ● Denkmöglichkeiten gemeinsam eruieren ● Konsistente Betrachtungsperspektiven und Abstraktionsebenen ge‐ meinsam finden ● Denktemperamente und -stile anderer kennen und verstehen lernen ● Moralische Bewertungsmuster anderer respektieren lernen ● Kooperative Arbeit koordinieren ● Arbeitsteilung bei Projekten und in der Textproduktion organisieren Sie können davon ausgehen, dass Sie in Ihrem Studiengang von Ihren Mit‐ studierenden genauso viel lernen können wie von den Lehrenden. Letztere geben zwar vor, was zu lernen ist, aber die Mitstudierenden sind diejenigen, die das Wissen untereinander kreisen lassen, es diskutieren, kritisieren, variieren, ergänzen. In jedem Studiengang entsteht eine studentische Lern‐ 264 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="265"?> kultur, in der sie neben dem expliziten Lernkatalog auch die inoffiziellen Wahrheiten über Studium, Fachkultur, Lehrende und Denkweisen erfahren. Zudem sind die Mitstudierenden Ihres Semesters diejenigen, mit denen Sie sich gemeinsam entwickeln, und die Ihnen Ihre eigenen Lernfortschritte (oder deren Fehlen) widerspiegeln. Sie sind die Basis Ihres zukünftigen fachlichen Netzwerkes. Reibung, Konflikt und Auseinandersetzung Intellektuelle Entwicklung ist immer von einer (wie auch immer definierten) Gemeinschaft abhängig und das Denken wird von dieser Gemeinschaft nicht nur inspiriert, sondern gerät zwangsläufig auch in Konflikt mit ihr. Dies gilt für die wissenschaftlichen Fachkulturen genauso wie auch für die universitären und weiteren gesellschaftlichen Kulturen. Wer beginnt, das eigene Denken zu schärfen, wird sich auch an den Meinungen seiner Umwelt reiben. Auch die wissenschaftlichen Gemeinschaften haben noch etwas von einem Stamm an sich, dessen Denkkulturen nach traditionellen Regeln und Ritualen ausgerichtet sind, wie Snow (1959) in seinem Vergleich zwischen den naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Kul‐ turen beschrieben hat. Grundsätzlich gilt: Kritisches Denken kann sich nur dann entwickeln und erscheint auch nur dann als Wert, wenn es in einem Kontext praktiziert wird, in dem es geschätzt, gefördert und praktiziert wird. In repressiven Gesellschaften, autoritären Erziehungskontexten oder dogmatischen Reli‐ gionsgemeinschaften kann sich zwar Kritik, aber kaum kritisches Denken entwickeln. Autoritäre Gesellschaften produzieren zwar sehr wohl Opposi‐ tion und Widerspruch, die beide sehr wohl mit Eigenständigkeit im Denken verbunden sind, aber nicht mit der Freiheit, offen mit Wissen umzugehen. Wer zu sehr auf die Kritik der Gegenseite fixiert ist, tut sich schwer damit, das eigene Denken auszutarieren und wo nötig zu relativieren. Positiv ausgedrückt heißt das, dass sich kritisches Denken da entwickelt, wo es gefragt ist und wo Skepsis, Dissens und offene Diskussion als Zeichen eigenständigen Denkens gefördert werden. Es kann dort nicht entstehen, wo es als Zeichen von Abweichung, Ungehorsam oder gar Verrat abgelehnt wird. Verschulte Studiengänge gehören ebenfalls nicht zu den Kontexten, in denen kritisches Denken entstehen wird, wiewohl es indirekt dennoch verlangt wird, z. B. in Seminararbeiten oder Prüfungsgesprächen. Denn unsere akademischen Kulturen sind heute - gleichgültig, ob sie dies in ihren 6 Die soziale Seite des Denkens 265 <?page no="266"?> Studiengängen umsetzen oder nicht - auf kritischem Denken aufgebaut und können ohne es nicht funktionieren. Die Didaktik bildet das leider nicht immer ab. Im Studium ist es anfangs wichtig, zunächst einmal in die Denkkultur des gewählten Fachs einzutauchen und zu lernen, wie man dort argumentiert, welche Art von Belegen man schätzt, wie man empirisch vorgeht, worauf man in der Theoriebildung achtet, wie man mit Meinungsunterschieden umgeht und eigene Denkanliegen artikuliert. Auch die Unterschiede zwi‐ schen den Lehrenden zu erkunden, ist wichtig. Nicht alle Fächer haben monolithische Denkkulturen; einige sind in antagonistische Lager gespal‐ ten, andere setzen sich aus heterogenen Teilfächern zusammen. Überall macht sich ein gewisser Gegensatz zwischen den jüngeren und den älteren Mitgliedern bemerkbar, ebenso oft wie auch zwischen den weiblichen und männlichen Mitgliedern. Diese Pluralität ist notwendig für eine dynamische Entwicklung der Fächer und sie zeigt Ihnen die Möglichkeiten und Spiel‐ räume auf, die Sie für die eigene Entwicklung haben. Mit dieser Pluralität umzugehen, ist jedoch auch etwas, das nach einem reflektierten Umgang verlangt, denn widersprüchliche Normen können auch verwirren. Ist man am Studienanfang noch damit beschäftigt, nach sicherem Wissen zu suchen, dessen Richtigkeit außer Zweifel steht, dann fühlt man sich in solchen zerfahrenen Kontroversen fehl am Platz. Erst wenn man verstanden hat, dass Wissens- und Erkenntnisentwicklung genau durch dialektische Gegensätze und Auseinandersetzungen vorangetrieben wird, kann man sich an solchen Kontroversen erfreuen. Wissenschaft lebt eben nicht allein vom sicheren Wissen, sondern von dem, was noch in der Schwebe oder strittig ist. Wie führt man Kontroversen in den Wissenschaften? Kritische Stellung‐ nahmen zu fachlichen Themen sind durchaus erwünscht im Studium, aber es empfiehlt sich, gewisse Konventionen einzuhalten, um die Kritik in konstruktive Auseinandersetzung münden zu lassen. Es gibt eine Regel, die Sie beachten sollten, denn von ihr hängt ab, ob Auseinandersetzung in konstruktive Bahnen oder in Feindschaft mündet: Zeigen Sie Respekt vor der Meinung, die Sie kritisieren wollen. Das ist nicht nur dafür wichtig, sich nicht zu verfeinden, sondern auch dafür, die Gegenmeinung wirklich zu verstehen. Wir hatten das bereits unter dem Begriff „konzessives Argu‐ mentieren“ in Kapitel IV/ 4 besprochen. 266 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="267"?> Peer Feedback Kritisches Denken kann sich nur entwickeln, wenn es auf Resonanz stößt. Es braucht also Hilfe von anderen in Form von Antworten, Rückmeldungen, Entgegnungen, Kritik, Hinweisen, die heute unter dem Begriff „Feedback“ abgehandelt werden. Feedback ist Rückmeldung für Leistungen, sei das eine mündliche Präsentation, ein Text oder ein Projekt. Im Schach erhalten die Spielenden automatisches Feedback durch Gewinn oder Verlust einer Partie. Um etwas daraus zu lernen müssen sie allerdings die Partien anschließend analysieren, am besten mit anderen zusammen. Im Studium nehmen die Noten die Rolle von Gewinn und Verlust ein, aber auch dort gilt, dass man über die Note hinaus Feedback braucht, um zu verstehen, was man hätte anders machen können, besonders in schriftlichen Arbeiten. Anfangs ist Feedback eine Sache, der man sich nicht so gerne aussetzt, weil man sich unsicher in Bezug auf das eigene Denken ist und die eigenen Unzulänglichkeiten nicht unbedingt anderen sichtbar machen will. Aber schnell lernt man, dass Feedback hilfreich und entlastend ist, gerade dann, wenn man einmal gepatzt hat (im Schach genauso wie in einer Hausarbeit). Zudem ist Feedback nicht nur negativ, sondern geht auch auf das ein, was man geleistet hat und was gelungen ist. Feedback geben will gelernt sein. Denn was soll man zu einer missglück‐ ten Hausarbeit sagen? Und wie sagt man es, ohne es sich mit der unglück‐ lichen Person zu verderben, die eine Arbeit versiebt hat? Es ist hilfreich, Feedback vor Abgabe einer Arbeit zu suchen, sodass noch Konsequenzen daraus gezogen werden können. Regeln des Feedbacks einzuhalten mag anfangs etwas frustrierend sein, aber Sie werden schnell herausfinden, welche Art von Feedback hilfreich ist und welche nicht, zumal es einige wirkungsvolle Regeln gibt (siehe separaten Kasten dazu), die man einsetzen kann. Mit den Regeln allein ist es allerdings auch nicht getan, denn man sollte auch wissen, was man zu einem Text oder einer mündlichen Präsen‐ tation sagen kann, um der Autorin oder dem Autor zu helfen. Ihren Mitstudierenden Feedback zu geben, hat weder etwas mit Benotung oder Bewertung zu tun, noch mit der Korrektur von Fehlern. Betrachten Sie es eher als eine gemeinsame Besprechung einer Arbeit, bei der Sie einen anderen (aber nicht notwendigerweise besseren) Blick einbringen können. Der Blick darf sich nicht auf das verengen, was gut und schlecht, wahr oder falsch ist, sondern sollte eher darauf bezogen sein, was in einem Text (oder einer anderen Leistung wie einem Praktikum oder einem Referat) passiert, 6 Die soziale Seite des Denkens 267 <?page no="268"?> wie er wirkt und was man tun könnte, um ihn zu optimieren. Sehen Sie Feedback zudem als eine Gelegenheit an, in ein fachliches Gespräch zu kommen und tauschen Sie sich über alles aus, was für den Text fachlich relevant sein könnte. Nutzen Sie Feedbackgespräche als ein Trainingsfeld für die Verwendung von Fachsprache und Fachwissen. Stellen Sie sich die Besprechung einer Arbeit eher wie eine Redaktionskonferenz vor, in der man gemeinsam beratschlagt, welche Texte für das entsprechende Medium geeignet sind und wie sie zu gestalten sind, damit sie bei den Adressaten ankommen. Feedback sollte aufbauend und selbstwertschonend sein, und dafür ist es wichtig, das anzusprechen, was an dem Text schon funktioniert, was interessant ist oder sich gut anhört. Jede Textbesprechung sollte deshalb - das ist das Einzige, was beim Feedback unbedingt beachtet werden muss - immer mit einigen positiven Aussagen über den Text beginnen. Was aber hat das Feedback mit dem Denken zu tun? Ist es nicht der Text, der besprochen wird? Ja, genau. Aber Texte sind, wie wir schon gehört haben, geronnenes, organisiertes und inszeniertes Denken. Feedback auf einen Text greift das Denken beim Schreiben auf und wirkt auf das Denken zurück. Das tut es umso intensiver, je weniger Zeit zwischen dem Schreiben und der Textbesprechung vergangen ist. Soll das Feedback nützlich sein, ist es wichtig, dass Sie die Entscheidungen noch im Kopf haben, die Sie während des Schreibens getroffen haben. Diese sind die wichtigen Stellschrauben, an denen Sie drehen können, damit Sie beim nächsten Text sicherer sind. Angesprochen werden kann im Feedback alles, was Entscheidungen beim Schreiben (oder bei anderen Leistungen) beeinflusst: Begriffe, sprach‐ liche Wendungen und Ausdrücke, Inhalte, Fokussierungen, Überleitungen, Metatext, Textwiedergaben, Zitierweisen, Fußnoten, Strukturen, Adressa‐ tenbezug, Autorenrollen oder die fachspezifischen Methoden. Schreiben ist eine Optimierungsleistung, bei der alle diese Aspekte in Einklang gebracht werden müssen und entsprechend kann jeder Einzelne von ihnen diskussi‐ onswürdig sein. Es geht beim Feedback also nicht nur um den einzelnen Text, sondern auch darum, dass Sie alles, was Sie im Studium und darüber hinaus gelernt haben, in die Diskussion über den Text einbringen können. Textgespräche sind hochgradig fokussierte Fachgespräche, bei denen Sie sich mit den vielen mikroskopischen Details befassen, die in Ihrem Fach zu bedenken sind. Mündliche Diskussionen, wie sie in Seminaren stattfinden, sind auch eine gute Gelegenheit zum Austausch, aber sie haben eine andere Dynamik, da sie eher auf die großen Denklinien abzielen und weniger auf die vielen 268 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="269"?> Details, um die man sich mit etwas rhetorischem Geschick im Seminar herumdrücken kann. Kritisches Denken, das haben wir am Anfang schon besprochen, zeigt sich im Detail noch viel mehr als im Umgang mit den großen Denkgebäuden einer Wissenschaft. Beim Feedback geht es nicht primär darum, die eine Wahrheit über einen Text herauszufinden, sondern vor allem um den Austausch, in dem die ganze Vielfalt an Denk- und Darstellungsmöglichkeiten auftaucht. Neue Perspektiven in Bezug auf textuelle und fachliche Probleme und die Verschiedenheit von Sichtweisen sind wichtiger, als eine einzige Lösung zu finden. Feedback gibt nicht die Wahrheit über Ihren Text preis und auch nichts über dessen Wert, sondern zeigt Optionen auf, die Sie beim Schreiben haben. Es erweitert Ihren Horizont und führt zu einem Wissens- und Kompetenzaustausch mit Ihren Mitstudierenden. Sie sollten dabei nie vergessen, dass Peerfeedback ein Vorgang ist, bei dem Laien anderen Laien helfen und Feedback-Geber und -Geberinnen nicht aus einer Rolle höherer Kompetenz heraus agieren (wie ihre Lehrerinnen und Lehrer in der Schule das getan haben mögen). Entsprechend sollte auch das kommunikative Verhalten konstruktiv, wertschätzend, vorsichtig, empfehlend und nicht wertend, vorschreibend oder gar belehrend sein. Überblick: Regeln für Textfeedback ● Fester Zeitrahmen (20 bis 40 Minuten pro Text) ● Texte von nicht mehr als zwei Seiten nehmen, sonst wird der Zeit‐ aufwand zu groß (Ausnahme: Gegenlesen einer Arbeit vor Abgabe). ● Herausfinden, was Feedback-Nehmerin braucht ● Etwas Positives an den Anfang setzen: Was leistet der Text bereits? Was gefällt? ● Den Text absatzweise (bei schwierigen Texten auch Satz für Satz) durchgehen. ● Alle kritischen Äußerungen in einer subjektiven Weise formulieren. ● („mir scheint, dass …“, „nach meinem Gefühl …“), damit Feedback nicht als Bevormundung erscheint oder in Besserwisserei ausartet ● Konkrete Textstelle benennen, auf die sich eine Äußerung bezieht, keine allgemeinen Aussagen über den Text treffen. ● Fragen sind oft besser als Aussagen. 6 Die soziale Seite des Denkens 269 <?page no="270"?> ● Vorschläge zur Textverbesserung sind hilfreicher als die Benennung von Textschwächen. ● Sich für Feedback nicht verteidigen oder rechtfertigen, sondern zuhören und das Wichtigste notieren. ● Nicht alles annehmen, was man erfährt, sondern sich Zeit nehmen, das Feedback zu überdenken und dann Konsequenzen daraus zu ziehen. 270 XI Die intellektuelle Entwicklung in die eigene Hand nehmen <?page no="271"?> XII Ein kurzes Resümee Alles, was in den Wissenschaften existiert, kommt durch das Denken der Beteiligten zustande. Jede wissenschaftliche Disziplin ist eine große Veran‐ staltung im Synchrondenken von Menschen, die sich mit ähnlichen Dingen beschäftigen. Sie verstehen einander, weil sie analoge Gedankenabläufe haben, wenn sie zu einem fachlichen Sachverhalt gefragt werden oder etwas begründen sollen. Diese Gedanken sind mit Fakten und Daten hinterlegt, die allen zugänglich sind. Fachleute haben eine ähnliche Ausbildung genossen, sie lesen ähnliche Bücher, gehen zu den gleichen Tagungen und beurteilen gegenseitig ihre Publikationen in Gutachten und Peer Review Verfahren. Reicht es dann nicht, einfach nachzuvollziehen, was die Mitglieder des Fachs denken? Eben nicht. Das, was in einem Fach als gesichertes Wissen gilt, ist etwas, von dessen Glaubwürdigkeit sich alle selbst überzeugt haben (sollten). Nicht einfach das Nachvollziehen, sondern das Nachdenken ist deshalb das, was Wissenschaft ausmacht. Wissenschaft besteht nicht aus einer Anhäufung von Wissen, sondern aus den Gedanken und Vorstellungen der Menschen, die dieses Wissen produzieren, publizieren, lesen, lehren und lernen. Dane‐ ben gibt es in jedem Fach genügend Dissens und Meinungsverschiedenheit, die das strittige Wissen des Fachs betreffen. Was an dieser Stelle für Sie zählt, liegt vor allem darin, den Mut zu finden, in dieser Gemeinschaft mitzureden. Beim kritischen Denken geht es im Prinzip darum, Gründe dafür zu finden, warum man etwas als glaubwürdig erachten soll und ob man - in der Umkehr dieses Prinzips - das, was andere als Gründe für die Glaub‐ würdigkeit anführen, nachvollziehen kann und plausibel findet. Es sind also die Begründungen für Behauptungen, die im Zentrum des kritischen Denkens (wie auch der Wissenschaften überhaupt) stehen. Begründungen zu verstehen und kritisch einzuschätzen erfordert, die Forschungshand‐ lungen, Belege, Kausalitätsannahmen, Abstraktionen und Generalisierung nachzuvollziehen, auf denen sie beruhen. Allerdings kommt uns wissenschaftliches Wissen nicht als einzelne Aussage entgegen, sondern als ungeheure Menge von zu Theorien, Über‐ sichtsartikeln und Lehrbüchern kondensierten Forschungsergebnissen und Realitätsdeutungen. Es ist unmöglich, diese Denkarbeit für alles Wissen, das Sie im Studium lernen müssen, selbst zu leisten. Sie können anfangs <?page no="272"?> nur exemplarisch einzelne Elemente des fachlichen Wissens genauer durch‐ denken. Das aber wird Ihnen ein Gefühl für die Belegbarkeit von Wissen hinterlassen, auf das Sie vertrauen können. Zu diesem Zweck schreiben Sie Haus- und Abschlussarbeiten. Der letzte Teil des Buches hat Sie auch damit vertraut gemacht, dass die intellektuelle Entwicklung sich nicht auf das Studium beschränken lässt, sondern dass es Teil ihrer biographischen Entwicklung ist. Sie müssen also nicht nur ihr fachliches Denken und Wissen entwickeln, sondern sich auch selbst ins Zentrum ihrer Entwicklung stellen. Fragen der Identität, Positionierung, der Ansprüche an Wissen und Leistungen, Zielsetzungen und sozialen Beziehungen stellen sich dabei. Kritisches Denken lässt sich nicht als eine Liste von Inhalten und Kom‐ petenzen beschreiben, die man lernt und anwendet. Kritisches Denken hat viele Facetten, die sich nach und nach erschließen. Dazu gehört es: ● Wege des Erarbeitens und Durchdenkens von Wissen zu verstehen und bewusst zu praktizieren (Themensuche, Recherche, Exzerpieren, Zusammenfassen, Literaturberichte anfertigen, kritisches Lesen etc.). ● Das eigene Denken mit in den Blick zu nehmen und Wege zu seiner Optimierung zu erkunden. ● Genau hinzuschauen, zu prüfen, nachzuvollziehen und sich zu informie‐ ren, anstatt Wissen einfach zu übernehmen. ● Der Suche nach Genauigkeit und Präzision im Umgang mit Wissen immer Priorität einzuräumen. ● Eigene Urteile zu fachlichen Fragen in der gebotenen Vorsicht und auf der Basis fachlichen Wissens zu fällen. ● Eigenen Standpunkten genau so kritisch gegenüberzustehen, wie frem‐ den. ● Den skeptischen Blick auszubilden, ohne negativistisch zu werden. ● Kritisieren zu lernen bei Wertschätzung der kritisierten Meinung und der kritisierten Person. ● Zu lernen, welchen Quellen man trauen kann und welchen nicht. ● Das eigene Wahrheitsempfinden zu beachten aber aufzupassen, dass man Gedanken nicht schon allein deshalb für wahr hält, weil man sie selbst denkt. ● Die Regeln der fachlichen Wissensgewinnung verstehen lernen (For‐ schungsmethoden) und die zugehörigen Darstellungs- und Kommuni‐ 272 XII Ein kurzes Resümee <?page no="273"?> kationsformen trainieren (Hausarbeiten, wissenschaftliche Publikatio‐ nen). ● Sich die normativen Aspekte des Denkens und wissenschaftlichen Arbeitens zu erschließen, ohne sie zu verabsolutieren; sie haben meist eine gut begründete, rationale Basis, wandeln sich derzeit aber mit der digitalen Revolution. ● Die Kunst des Hinterfragens zu pflegen, die nicht wertet, sondern auf Verstehen ausgerichtet ist. ● Das Vermeiden von Besserwisserei und das Entkoppeln des Selbstwertes vom Wissen. ● Unangenehme Inhalte, denen man nicht zustimmt, genauso gründlich zu durchdenken, wie die, die einem sympathisch sind. ● Kommunikationsweisen zu entwickeln, die es erlauben, offen und ef‐ fektiv mit Neugier und Respekt zu kommunizieren. ● Sich für bestimmte Themen zu engagieren und Expertise zu entwickeln. ● Selbstständiges und unabhängiges Lesen zu praktizieren, an eigenen Zielsetzungen und Zwecken orientiert. ● Den Austausch mit anderen pflegen, die ebenfalls an kritischem Denken interessiert sind. ● Ein Gefühl für Autonomie und Selbstvertrauen im Denken zu entwi‐ ckeln, das gerade nicht auf festen Wahrheiten aufbaut, sondern auf einem Verständnis dafür, wie man Wissen gewinnt, prüft, und kommu‐ niziert. Kritisch denken zu lernen ist auch Teil der Rolle und Identität, die zu Ihren späteren beruflichen Aufgaben gehören und Ihnen als angehende Akademikerinnen oder Akademiker ins Haus stehen. Es ist eine ähnliche Rollenübernahme, wie sie für Künstlerinnen und Künstler stattfindet, wenn sie beginnen, nicht nur selbst Kunst zu produzieren, sondern die Welt aus der Sicht einer Künstlerin oder eines Künstlers zu betrachten. Nur müssen Sie nicht kreativ werden, sondern kritisch mit Gedanken umgehen lernen. Der Weg zum kritischen Denken ist dabei - um auch diesen Gemeinplatz noch loszuwerden - bereits das Ziel. Es wird immer neue Denkaufgaben für Sie geben und Sie werden immer wieder neue Meinungen erwerben, neue Probleme lösen und neue Aufgaben erledigen müssen. Kritisch zu denken heißt zu verstehen, dass wir immer wieder vor der Aufgabe stehen, Neues einzuschätzen und neue Dimensionen des Denkens zu erkunden. Es heißt auch, dass wir immer wieder einen Schritt zurückzutreten müssen, um das, XII Ein kurzes Resümee 273 <?page no="274"?> was wir gelernt haben und als unsere eigenen Meinungen betrachten, mit etwas kritischer Distanz zu beurteilen. Die Suche nach neuen Horizonten, Orientierungen, Relativierungen, Perspektiven und Sinndimensionen wird für das kritische Denken zur Gewohnheit. Die Stabilität des Denkens liegt nicht in einem festen Korsett von Meinungen, sondern in der Bereitschaft, das eigene Denken immer wieder zur Disposition zu stellen und wenn nötig neu einzunorden. Im Studium geht es darum, sich in dieser Rolle einzuüben und sich Schritt für Schritt durch ein Lernprogramm zu bewegen, das kritisches Denken zwar fordert, es aber nur indirekt vermittelt. Im schlechtesten Fall wird das Studium Sie mit so vielen Prüfungen, Sitzscheinen, Skripten und Pflichtver‐ anstaltungen traktieren, dass das Denken keine tagende Rolle spielt. Lassen Sie sich nicht davon entmutigen und nehmen Sie Ihre Denkentwicklung selbst in die Hand. Sie müssen niemanden um Erlaubnis fragen und keine Prüfung dazu machen. Allenfalls sollten Sie nach Gleichgesinnten suchen, mit denen sie sich austauschen können. Im günstigsten Fall haben Sie ein Studienfach gefunden, in dem Sie als kritische Denkerinnen gefordert und gefördert werden, ein Studium, das Ihnen Selbstständigkeit und Anleitung gibt und Sie zudem an die großen Themen Ihres Faches anbindet. Das ist eigentlich seit vielen Generationen der Anspruch unserer Hochschulen, und sollten Sie einen Ort gefunden haben, der dies nach wie vor oder wieder aufs Neue erfüllt, genießen Sie es, solange Ihr Studium anhält. 274 XII Ein kurzes Resümee <?page no="275"?> Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens Das folgende Glossar soll die wichtigsten der verwendeten Begriffe erläu‐ tern. Es ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil Begriffe in den einzelnen Disziplinen, auf die das Buch Bezug nimmt (Philosophie, Psychologie, Päd‐ agogik, Linguistik, Medienwissenschaft), unterschiedlich verwendet wer‐ den. Das Glossar ist ein Versuch, zu einer einheitlichen Begriffsverwendung für das Thema „kritisches Denken“ zu gelangen. Machen Sie Gebrauch davon, denn es enthält zusätzliche Informationen zu den mit den Begriffen jeweils angesprochenen Themen. Allaussage Zu unterscheiden sind Aussagen, die einem einzelnen Ereignis oder Objekt gelten (diese Möwe ist weiß) von Aussagen, die für alle Ereignisse oder einer Klasse von Ereignissen gelten (alle Möwen sind weiß). In einer Allaussage wird also ein Prädikat („weiß“) allen Objekten einer Klasse zugeschrieben oder das Objekt selbst einer Klasse zugeordnet („alle Möwen sind Wasser‐ vögel“). Allaussagen können als wahr gelten, solange kein Gegenbeispiel oder eine andere Objektzuschreibung gefunden werden kann. Allaussagen können nur durch Induktion (Schluss von beobachteten Elementen auf alle Elemente) oder durch vollständige Aufzählung erfolgen. Allaussagen werden heute meist durch statistische Ausdrücke ersetzt, in denen die Auftretenswahrscheinlichkeit spezifiziert ist (80-% aller Möwen sind weiß). Annahme Eine Annahme ist ein Gedanke, in der Regel als eine Aussage ausgedrückt, dessen Richtigkeit im Gange einer Argumentation oder eines Urteils vor‐ ausgesetzt, aber nicht geprüft wird. Vor der Gültigkeit der Annahme hängt die Schlüssigkeit einer Argumentation ab. Annahmen können still getroffen werden (und müssen dann erschlossen werden) oder können expliziert werden (was in den Wissenschaften empfehlenswert ist). Explizite Annah‐ men werden hilfsweise getroffen, um Argumente zu stützen oder Schlüsse plausibel zu machen. Beispiel: „Wir sollten heute nicht mit dem Auto fahren“ (Behauptung), „denn es liegt mehr als ein Meter Neuschnee“ (Argument). <?page no="276"?> Stille Annahmen: „Das Auto ist nicht auf so viel Schnee eingerichtet“ oder: „Wir möchten ja keinen Unfall bauen“. Argument Ein Argument ist ein Grund (in der Regel in Form eines Satzes ausgedrückt), der angibt, warum man eine Behauptung für glaubwürdig ansehen soll. Argumente können sich, wie Aristoteles aufgeführt hat, auf Werte, Gefühle oder Vernunftgründe (Ethos, Pathos, Logos) berufen. Nicht alle davon erfreuen sich gleicher Wertschätzung in den Wissenschaften, die allein der Vernunft trauen. Argumente werden bevorzugt durch die Konjunktionen „weil“, oder „denn“ mit der Behauptung verknüpft: „Die Konjunktur wird einbrechen, weil der Export lahmt“. Beide Konnektoren zeigen an, dass das Argument den Grund dafür darstellt, dass der Sprecher es für gerechtfertigt hält, die These für wahr anzusehen. Vom Argument selbst zu unterschieden sind weitere Begründungen und Belege, die den Hintergrund aufzeigen, warum das Argument die These stützten kann. Ein Argument kann auch als Schlussfolgerung ausgedrückt werden, wenn es die Form annimt: „Der Export lahmt, deshalb wird die Konjunktur einbrechen“. Hier wird der Vor‐ dersatz „Prämisse“ und der Nachsatz „Konklusion“ oder „Schlussfolgerung“ genannt. Aufforderung Aufforderungen stellen nach Segeth (1974) eine besondere Denkform dar, die nicht darauf eingeht, was ist, sondern was sein sollte oder was zu tun ist. Eine Aufforderung verlangt vom Adressaten, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Typische Aufforderungen sind (Segeth 1974 S. 9): Gebot, Verbot, Erlaubnis, Rechts- und Moralnorm, Bitte, Auftrag, Ersuchen, Anweisung, Befehl, Aufgabe, Anleitung, Kommando, Rezept usw. Sprachlich werden Aufforderungen oft mit einem Ausrufezeichen markiert: „Nimm drei Eier und trenne den Dotter vom Eiweiß! “ Rezepte dieser Art lassen sich leicht in deskriptive Aussagen umformulieren: „Man nimmt drei Eier und trennt den Dotter …“. Aussage Unter „Aussage“ versteht man einen Gedanken, der in einem Satz ausge‐ drückt wird. In der Regel wird verlangt, dass man den Satz als wahr oder 276 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="277"?> falsch bezeichnen kann oder dass die Frage, ob er wahr oder falsch sei, sinnvoll ist. In der Logik heißt es, dass man der Aussage einen Wahrheitswert zuschreiben können muss. Eine Aussage kann gleich bleiben, wenn ihr In‐ halt in anderen Begriffe und Formulierungen (oder in einer anderen Sprache) transferiert wird. Die Linguistik bevorzugt den Begriff „Proposition“ für wahrheitsfähige Sätze. Aussagesatz Der Aussagesatz ist die sprachliche Realisierung einer Aussage. Er ist an eine bestimmte sprachliche Form gebunden. Äußerung Dieser Begriff kommt aus der Linguistik und umschreibt alle Arten von Aussagen, vom mündlich geäußerten „hmm“ bis zur schriftlich abgelieferten Doktorarbeit. Es ist also die allgemeinste Bezeichnung für kommunikative Inhalte, die nicht nur sprachliche, sondern auch andere Zeichen umfassen können. Bedingung Bedingungen sind gedankliche oder reale Größen, von denen angenommen wird, dass sie das Auftreten von Wirkungen determinieren oder modifi‐ zieren. Bedingungen können auf die Folgen einer Ursache modifizierend einwirken. Gewöhnlich wird zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung unterschieden. Begriff Begriffe sind Wörter oder zusammengesetzte Ausdrücke, die für die Benen‐ nung definierter Objekte oder Konzepte verwendet werden. Nicht jedes Wort ist also ein Begriff, nur definierte und in ihrer Bedeutung festgelegte Wörter bezeichnen wir als Begriffe. In den Wissenschaften, wie auch in anderen Kontexten werden Begriffe in der Regel durch die Disziplinen oder durch spezialisierte Fachgemeinschaften in ihrer Bedeutung festgelegt (definiert). Jedes Fach besitzt eine große Anzahl von Grundbegriffen (Termi‐ nologie), die beherrschen muss, wer dort mitreden will. Begriffsdefinitionen wie -bedeutungen sind jedoch dynamisch und entwickeln sich parallel zur Wissensentwicklung in den Fächern. Deshalb werden Begriffe in älteren Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 277 <?page no="278"?> Theoriegenerationen oft anders verwendet als in jüngeren und in einigen Fachdiskursen anders als in anderen. Für die Erkenntnisgewinnung sind Begriffe Grundbausteine des Denkens und Kommunizierens und stellen eine Voraussetzung für die gemeinsame Wissensentwicklung dar. In jedem Text sollten Schlüsselbegriffe jeweils aufs Neue definiert werden, und für das Verständnis von Texten ist jeweils wieder neu zu prüfen, in welchem Sinne die Autoren ihre Schlüsselbegriffe verwenden. Behauptung Der Begriff „Behauptung“ bezieht sich - genau wie der Begriff „Proposition“ - auf den Inhalt einer Aussage, nicht primär auf ihre formale Struktur. Der Begriff wird darüber hinaus durch seine bestimmte Qualität als Sprechakt definiert, insofern er einen Anspruch auf Wahrheit transportiert. Behaup‐ tungen sind Äußerungen, die mit einem Geltungsanspruch vorgebracht werden, wie dies in Argumentationen geschieht. Sind Behauptungen kom‐ plexerer Natur, können wir auch von einer These sprechen. Begründung Begründungen sind Aussagen, die angeben, warum eine Behauptung oder eine Gruppe von Behauptungen (Theorie) glaubwürdig ist. Begründungen sind eine Grundlage des Argumentierens. Sie können sich auf logische Zusammenhänge, Fakten und Forschungsergebnisse, sozialen Konsens oder praktische Wirksamkeit berufen. In den Wissenschaften ist das Begründen von Sachverhalten vermutlich die fundamentalste von allen Handlungen. Das Begründen ist eine Basis des kritischen Denkens und es macht gleich‐ zeitig - wenn die Gründe schriftlich oder mündlich mitgeteilt werden - das Denken für andere zugänglich. Definition Unter „Definition“ versteht man eine konventionelle Setzung, die einen Begriff expliziert (was soll mit dem Begriff bezeichnet werden? ) oder seine Verwendung umschreibt (wie wird der Begriff gemeinhin verwendet? ). 278 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="279"?> Denken „Denken“ ist eine Bezeichnung für mentale Vorgänge, die der Ausrichtung von Bewusstseinsprozessen auf Gegenstände, Ereignisse oder Handlungen dienen. „Denken“ sollte dabei nicht - wie heute manchmal üblich - auf Kognition reduziert werden, denn das Denken wird sowohl von sprachgebundenen wie auch von sprachfreien Prozessen getragen, die miteinander verschränkt sind (z. B. Dörner 2005). Denken ist ein hierarchisch organisierter Prozess und umfasst unterschiedliche mentale Vorgänge, von denen viele automatisiert und nur einige wenige bewusst ablaufen (Kahneman 2011). Denken ist nicht identisch mit Informationsverarbeitung, sondern pointiert die Rolle einer spezialisierten mentalen Steuerungsfunktion, die die Ausrichtung des Verstandes auf definierte Aufgaben übernimmt und die Eigenbewegung des Denkens organisiert. Denkprozess Unter „Denkprozess“ versteht man den sequentiellen Charakter des Den‐ kens und der Begriff pointiert die Bedeutung der Selbstbeeinflussung und der Selbstreflexion für die Durchführung, Ausrichtung und Entwicklung des Denkens. Denkprozesse können sich allein im Kopf abspielen (als Nachdenken, Grübeln, Tagträumen oder Imaginieren) entfalten sich aber häufig in Interaktion mit einem Medium (wie einem Schreibgerät, einem Werkzeug, einem Spielzeug oder einem Buch) oder in der Interaktion mit anderen Personen. Denkprozesse aufzuschlüsseln ist eine wichtige Aufgabe für die Erschließung des kritischen Denkens, da es methodische Hinweise auf effektives, qualitätsgesichertes Denken geben kann. Denkstil Besonderheiten der individuellen oder fachlichen Denkgewohnheiten. Diskurs Diskurs ist ein nicht ganz einheitlich verwendeter Begriff für schriftlich oder mündlich geführte Konversationen zu definierten Themenfeldern. In den Wissenschaften sind dies Aushandlungsprozesse, die zur Klärung von offenen Fragen führen, wobei die beteiligten Beiträge jeweils direkt oder indirekt aufeinander verweisen (Habermas 1984). Der Diskursbegriff Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 279 <?page no="280"?> hat Übergänge zum Kommunikationsbegriff, unterscheidet sich aber von diesen durch seine Dokumentiertheit und bewusste Bezogenheit. Alles wissenschaftliche Schreiben ist diskursiv in dem Sinne, dass es immer auf die Texte, Aussagen und Meinungen anderer bezogen ist. Von kritischem Den‐ ken wird verlangt, die diskursive Natur des Denkens explizit und bewusst zu vollziehen und die diskursive Natur allen Wissens zu berücksichtigen. Dogmatismus Unter „Dogmatismus“ versteht man die Tendenz zur Annahme unverrück‐ barer Wahrheiten oder moralischer Gewissheiten. „Dogma“ bezeichnet ursprünglich einen Lehrsatz und Dogmatismus kennzeichnet die bewusste, wenn auch unkritische Übernahme solcher Lehrsätze. Zum kritischen Den‐ ken ist Dogmatismus ein Gegenpol, da er die Freiheit des Denkens und die Offenheit des Argumentierens durch nicht hinterfragbare, als wahr angenommene Setzungen einschränkt. Epistemisches Profil Bezeichnung für eine gezielte Statuszuschreibung zu geäußerten Gedanken entsprechend ihrem epistemischen Wert als Behauptung, Frage, These, Argument, Hypothese usw. Fakt Auch „Faktum“ oder „Tatsache“ genannt, ist ein Sachverhalt, der durch empirische Daten, Dokumente oder Erfahrung so weit belegt ist, dass wir von seiner Existenz überzeugt sind. Fakten werden in der Regel zum Bereich des gültigen Wissens gezählt, das nicht strittig ist. Erst durch die populistischen Einlassungen von „postfaktischem Wissen“ ist der Begriff wieder in die Diskussion gekommen. Für das kritische Denken bleiben Fakten jedoch Sachverhalte, über Ihre Existenz Einigkeit herrscht. Das schließt die wissenschaftsüblichen Diskurse über deren Existenz nicht aus. Frage Eine Frage ist eine Äußerung, die nach Information oder Wissen verlangt und auf einen fehlenden Wahrheitswert hinweist. Die pragmatische Funk‐ tion der Frage ist also eine andere als die der Aussage (sagt etwas darüber aus, was ist) und der Aufforderung (sagt etwas darüber aus, was getan 280 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="281"?> werden soll oder muss). Die Frage sucht nach etwas (sie benennt etwas, das der Sprecher nicht weiß oder kennt). Fragen haben für das kritische Denken in mehrfacher Hinsicht Bedeutung, da sie das Denken in Gang setzen (durch inneres Sprechen oder Selbstinstruktion), das Ziel eines For‐ schungs- oder Erkenntnisprozesses auf den Punkt bringen können (durch eine Forschungsfrage) oder kritische Bedenken zu einem Text einzubringen erlauben (Hinterfragen von Gedanken). Gedanke Der Begriff „Gedanke“ ist die wichtigste, wenn auch nicht hinreichend spezifizierte Bezeichnung von mentalen Inhalten. Alles, was wir bewusst denken können, ist auch Gedanke. Es ist also eine Sammelbezeichnung für alle mentalen Gebilde, die sich im Bewusstsein abzeichnen und einen Wahr‐ heitswert annehmen können. Dazu brauchen Gedanken eine rudimentäre sprachliche Struktur. Frege (1918/ 19) zerlegt den Gedanken in drei verschiedene Aspekte: ● das Fassen des Gedankens - das Denken, ● die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens - das Urteilen, ● die Kundgebung dieses Urteils - das Behaupten. Geht ein Gedanke also mit einer Wahrheitsannahme einher, so wird er zum Urteil, wird er ausgesprochen, zur Behauptung. Für ein Verständnis des Denkens ist es wichtig zu berücksichtigen, dass ein Gedanke auch ohne diese zwei Schritte eine relevante mentale Einheit darstellt, die durch Aussprechen und Niederschreiben Form und Kontur bekommen. Gedanken im Kontext des kritischen Denkens werden deshalb als Ausgangspunkte des Denkens angesehen, sozusagen als das Rohmaterial, das durch Versprachli‐ chung bearbeitet und veredelt wird. Gegenargument Argument, das in Opposition zu einem geäußerten Argument steht und die begründende Wirkung eines Arguments aufzuheben versucht. Die faire, konzessive Auseinandersetzung mit Gegenargumenten ist wesentlicher Bestandteil des Argumentierens in den Wissenschaften. Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 281 <?page no="282"?> Genre Siehe Textsorte. Heckenausdruck Heckenausdrücke (engl.: hedges) sind eine Bezeichnung für sprachliche Mittel, die das Bekenntnis zum Wahrheitsgehalt einer Behauptung modifi‐ zieren. Lakoff (1973), der den Begriff einführte, brachte sie als Mittel einer unscharfen („fuzzy“) Logik in Spiel, während sie heute eher als Mittel einer Präzisierung des mutmaßlichen Wahrheitsgehalts einer Aussage an‐ gesehen werden (Hyland 1998). Salager-Meier (1995) zeigte, dass sie eine grammatisch uneinheitliche Gruppe sprachlicher Mittel darstellen wie mo‐ dale Hilfswerben (könnte, sollte, dürfte), Verben des Sprachaktes (glauben, annehmen, schätzen), Adjektive (möglich, wahrscheinlich, voraussichtlich), Adverbien (mitunter, eher, quasi, wohl), nominale Modalphrasen (Möglich‐ keit, Annahme, Vermutung), Abtönungspartikel (kaum, etwas, eventuell, offenbar) und komplexere Phrasen, die etwas als Meinung deklarieren (wie wir vermuten dürfen, unseres Wissens nach). Heckenausdrücke sind ein wichtiges Mittel für eine genaue Darstellung von Denkergebnissen und eine Grundlage des hypothetischen Denkens. Während klar ist, dass kritische Denkerinnen und Denker genau mit Heckenausdrücken umgehen können, ist nicht klar, ob sie auch im Denken selbst Heckenausdrücke verwenden. Zu den Heckenausdrücken werden auch Verstärker (engl.: booster) gezählt, die den Wahrheitsgehalt einer Aussage erhöhen (sicherlich, ohne Zweifel, bestimmt, durchaus, genau, unausweichlich). Hypothese Unter einer Hypothese versteht man eine versuchsweise getroffene An‐ nahme, deren Gültigkeitsbehauptung mit einem Zweifel belegt ist. Dement‐ sprechend wird sie unter dem Vorbehalt einer empirischen oder argumen‐ tativen Prüfung formuliert. Hypothesen stellt man vor allem in empirischen Prüfverfahren auf, in denen sie als präzise Aussagen dienen, die durch eine empirische Prozedur in Verbindung mit einem statistischen Test gestützt oder widerlegt werden können. Wird eine Hypothese bestätigt, kann dies als ein Hinweis darauf gewertet werden, dass es sich um gesichertes Wissen handelt. Viele Prüfverfahren formulieren eine Nullhypothese (Gegenteil der Hypothese), deren Widerlegung die Hypothese stützt. 282 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="283"?> Idee Der griechische Ursprung des Wortes „idea“ bedeutet „Bild“, „Gestalt“ oder „Erscheinung“, und in Platos Ideenlehre bezeichnete „Idee“, das innere Erscheinungsbild eines Sachverhalts. Den Ideen gab Plato mehr Wahrheits‐ gehalt als dem Existierenden und bezeichnete Ideen als Wesen oder Urbild der Dinge. In heutiger Verwendung wird Idee im Sinne von „Gedanke“ oder „Vorstellung“ verstanden. Wie der Gedanke kann auch die Idee noch weitgehend unexpliziert sein und sich in einem vorläufigen Erkenntnis‐ stadium befinden. In einer psychologischen Betrachtung schwingen im Begriff „Idee“ zwei Bedeutungen mit. Einerseits verweisen Ideen auf etwas Vielversprechendes, das innovativ oder lösungsrelevant sein kann. Ande‐ rerseits drückt „Idee“ aus, dass etwas noch nicht zu Ende gedacht, erprobt, getestet oder erwiesen ist. „Fixe Ideen“ in der Psychopathologie werden als emotional stark besetzte, änderungsresistente Irrtümer gesehen. Ideen gelten in Fächern wie Design oder Architektur als eine wichtige Grundlage für Innovation. Alles, was heute an Produkten vorhanden ist, war einst „nur“ eine Idee, die jemand weiterverfolgt hat. Allerdings gilt auch, dass wir täglich Unmengen von Ideen produzieren, von denen die wenigstens zu nützlichen Produkten werden. Dennoch sind Ideen ein wichtiges Element des kritischen Denkens, das die kreative Seite des Denkens verkörpert. Irrtum „Irrtum“ bezeichnet eine falsche, widerlegbare Aussage, zu der sich mit logischen, mathematischen, empirischen oder argumentativen Mitteln eine eindeutig bessere Gegenposition formulieren lässt. Oser & Spychiger (2005) unterscheiden zwischen Fehlern (bei denen die denkende Person es besser weiß) und Irrtum (bei dem der denkenden Person das entsprechende Wissen fehlt). In gewisser Weise ist das Feststellen von Irrtum mit ähnlichen Pro‐ blemen behaftet wie das Feststellen von Wahrheit, sodass keine absoluten Kriterien für Fehlerhaftigkeit angegeben werden können. Von „Fehler“ spricht man jedoch nicht nur im Gegensatz zu „Wahrheit“, sondern im Gegensatz zu „akzeptiertem Wissen“, wobei es dann weniger schwer ist, die Fehlerhaftigkeit einer Aussage festzustellen. Kritisches Denken ist immer auch fehler- und irrtumssensibles Denken, das bemüht ist, aus beiden zu lernen. Für die Entwicklung von kritischem Denken ist ein offener Umgang mit eigenen Fehlern eine ebenso wichtige Voraussetzung wie auch die Bereitschaft zur Vermeidung von Fehlern. Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 283 <?page no="284"?> Kognition Als Kognitionen bezeichnet man elementare mentale bzw. neuronale Vor‐ gänge, die als Grundlagen organismischer Informationsverarbeitung ver‐ standen werden. Kognitive Funktionen sind mit Gedächtnis, Aufmerksam‐ keit, Wahrnehmung, Diskrimination und Schemabildung verbunden. Alle mentalen Vorgänge haben kognitive Anteile bzw. alle anderen mentalen Funktionen wie Emotionen, Sprachverarbeitung, Motivation, Lernen, Pro‐ blemlösen und Imagination sind mit kognitiven Vorgängen verbunden, ohne dass sie auf diese reduzieren werden könnten. Im Denken spielt die Inter‐ aktion von sprachlichen, kognitiven und emotionalen Vorgängen eine große Rolle, deren unterschiedliche Beiträge für das Denken und Erkennen die Stabilität des menschlichen Bewusstseins ausmachen. Im kritischen Denken hängen kognitive Prozesse u. a. mit der Genauigkeit des Denkens zusam‐ men, die sich aus kognitiven Leistungen wie Diskriminierung, Schema- oder Begriffsbildung, Kalkulation und Raumwahrnehmung ergeben. Konjunktion Sprachliches Zeichen, das Teilsätze oder Aussagen miteinander in Bezie‐ hung zu setzen erlaubt. Konzessives Argumentieren Bezeichnet rhetorische Figuren einer kritischen Auseinandersetzung, die Gegenargumente wohlwollend aufgreift und ihren sinnvollen Kern für die eigene Argumentation übernimmt bzw. nutzbar macht. Linearität Grundlegende Eigenschaft von Sprache, die die prinzipielle Sukzessivität sprachlicher Zeichen umschreibt. Linearität ist die grundlegendste Ein‐ schränkung, der der Gebrauch sprachlicher Zeichen folgt (Beaugrande 1994), da an keiner Stelle in einem Text zwei Zeichen gleichzeitig verwendet werden können. Grammatiken müssen daher vor allem Regeln über die Abfolge möglicher Zeichenketten vorgeben und helfen, die Zeichenketten so miteinander zu verbinden, dass sie von anderen wieder dekodiert werden können. Linearisierung ist vermutlich auch eine grundlegende Eigenschaft des Denkens, da Begriffe und Wörter nur durch Linearisierung miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Gedanken können zwar prinzipiell 284 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="285"?> auch in einer Bildfolge bestehen, wie bei der Imagination, aber zu kommu‐ nizierbaren mentalen Grössen werden sie erst dann, wenn sie in Sprache gefasst und damit zu Sätzen linearisiert sind. Linearisierung Herstellen von Linearität beim Sprechen (zeitliche Abfolge) und Schreiben (räumliche Abfolge). Meinung Eine Meinung („Ansicht“ ist ein synonymer, alltagssprachlicher Begriff) ist, ähnlich wie eine Behauptung auch, ein gedankliches Gebilde, das einen Wahrheitsanspruch besitzt. Meinungen können jedoch aus mehreren Behauptungen bestehen und mithin komplexere Begründungszusammen‐ hänge herstellen. Boghossian (2013. S. 17, Hervorhebungen im Original) charakterisiert sie folgendermaßen: „Jede Meinung muss einen propositio‐ nalen Gehalt haben; jede Meinung kann für wahr oder falsch gehalten werden; und jede Meinung kann als berechtigt oder unberechtigt, rational oder irrational beurteilt werden.“ Unter „berechtigt/ unberechtigt“ versteht er die Frage, ob Belege zur Begründung der Meinung herangezogen werden. Unter „rational/ irrational“ versteht er, dass die Gründe für die Meinung widerlegt werden können oder nicht. Eine irrationale Meinung wäre also eine, die nicht begründet oder nicht angefochten werden kann. In den Wissenschaften werden Meinungen oft im Gegensatz zu fachlich geprüften, auf Faktenwissen beruhenden Aussagen gesehen. Meinungen sind auch dadurch geprägt, dass sie mit dem Selbst und der Identität verknüpft und in persönlichen Werten verankert sind. Sie repräsentieren das, was uns wichtig ist. Zudem sind sie oft Resultat von intensivem Nachdenken, Lesen und Diskutieren. Wir versuchen, Meinungen vor uns selbst zu begründen und vor anderen zu rechtfertigen. Metakognition In der Psychologie werden Prozesse, die mit dem Nachdenken über das Denken oder dem Bewusstwerden eigener Erkenntnistätigkeit zusammen‐ hängen als „Metakognition“ bezeichnet. Metakognition wird sowohl als Prozess des Erkennens oder Denkens als auch als Form selbstbezogenen Wissens verstanden (Flavell 1979). Metakognition ist Ausdruck davon, dass Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 285 <?page no="286"?> das Denken sich auch selbst zum Gegenstand nehmen kann und dadurch sowohl steuerbar als auch optimierbar wird. Kritisches Denken setzt diese metakognitive Selbstbezüglichkeit des Denkens (Reflexion) voraus und hilft dabei, sie zu weiterzuentwickeln. Opportunismus Opportunismus kennzeichnet eine Geisteshaltung, die durch einen zweck‐ mäßigen Pragmatismus ausgezeichnet ist und sich den jeweils opportunen Meinungen anschließt, d. h. der gebilligten Konventionalität immer Vorrang gibt. Die Suche nach verlässlichem Wissen und auf eigenem Denken beru‐ henden Meinungen wird dabei aufgegeben. Opportunismus steht deshalb in Gegensatz zu kritischem Denken, das die Bedeutung eigener Erkenntnisan‐ strengung und darauf beruhender Meinungen betont. Planung Einen Plan zu erstellen erfordert, Handlungs- oder Denkschritte zu isolie‐ ren und sie in eine Struktur zu bringen, in der sie umgesetzt werden können. Planen bedeutet damit, Handlungen vorauszudenken, ehe sie um‐ gesetzt werden. Im Kern gehen Pläne nicht auf Aussagen zurück, sondern auf Aufforderungen (Segeth 1974). Das Planen wie auch das Aufstellen von Instruktionssystemen (Methoden, Handlungskonzepte, Gesetze, Ver‐ ordnungen, Vorschriften) erfordert also, eine mentale Repräsentation von Handlungsabläufen zu bilden und so in eine Struktur zu bringen, dass sie für andere nachvollziehbar sind. Kritisches Denken setzt planerische Fähigkeiten voraus, wie z. B. das Planen eines Forschungsprojekts oder einer schriftlichen Arbeit und trainiert sie gleichzeitig. Prämisse In der Logik bezeichnet die Prämisse einen Vordersatz in einem Schluss‐ verfahren, das zu einer Konklusion führt. Beispiel: Es gibt über einen Meter Neuschnee (Prämisse). Deshalb können wir nicht mit dem Auto fahren (Schlussfolgerung). Im Argumentieren kann die Prämisse auch als Argument angesehen werden, das eine Behauptung stützt. 286 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="287"?> Proposition „Proposition“ ist ein Begriff, der den Inhalt einer Aussage bezeichnet, nicht ihre formale Struktur. Es ist ein Begriff aus der Semantik, der neben dem Wahrheitsgehalt auch die Bedeutung von Äußerungen einbezieht. Realität Eine grundlegende Frage von Philosophie und Wissenschaft bezieht sich darauf, ob es außerhalb der Sphäre der Ideen und Theorien über die Welt eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit gibt. Urbild des Anti-Realismus ist Platos Ideenlehre, in der er den Ideen einen höheren Wirklichkeitsgrad unterstellte als den von ihnen bezeichneten Gegebenheiten. Realismus hingegen bezeichnet eine Position, die von einer unabhängigen Wirklichkeit ausgeht. Unterschiedliche Positionen gibt es innerhalb dieser Position über die Frage, wie der Mensch in den Besitz von Wissen über die reale Welt kommt (durch Überlegung, Sinneseindrücke, kontrollierte Forschung). Post‐ moderne und konstruktivistische Theorien tendieren dazu, aus der Tatsache, dass sich keine objektiven Wahrheitskriterien finden lassen zu schließen, dass es auch keine Realität geben könne, da auch diese eine gedankliche Konstruktion sei. Dieser Schluss ist nicht gerechtfertigt, sondern beide - Realität und Wahrheit - sind unabhängig voneinander zu betrachtende Fra‐ gen (vgl. Boghossian, 2011, für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus). Für das kritische Denken ist die Annahme wichtig, dass es keine einfache Entsprechung zwischen Fakten und Wirklichkeit gibt, da Erkenntnis immer eine Konstruktion darstellt. Jedoch können Fakten nur dann eine Grundlage für die Erkenntnis darstellen, wenn sie zu etwas Realem in Bezug stehen, andernfalls könnten wir auf empirische Forschung verzichten. „Postfaktisches Denken“ wäre damit gerechtfertigt. Rechtfertigung Das Anführen von Argumenten zur Verteidigung eigener Positionen (Be‐ hauptungen, Handlungen, Meinungen), meist unter der Annahme, dass diese angegriffen sind, wird als „Rechtfertigung“ bezeichnet. Reflexion Der Begriff „Reflexion“ wird als Bezeichnung für vertieftes, genaues Nach‐ denken verwendet, wobei das Nachdenken über das eigene Denken einge‐ Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 287 <?page no="288"?> schlossen ist (Metakognition). Reflexion ist mithin sowohl ein Nachdenken über die Sache als auch ein selbstbezügliches, das eigene Denken spiegelndes Denken. Für das kritische Denken ist die Reflexion ein wichtiges Mittel des Lernens und ein Weg dazu, ein abgesichertes Selbstverständnis als Denkerin oder Denker zu gewinnen. Reflexive Textgenres (z. B. das Lerntagebuch) helfen dabei, das reflektierende Denken in Gang zu setzen und in nachvoll‐ ziehbare Bahnen zu bringen. Reflexionsfähigkeit oder reflexives Denken wird nicht selten als eine Vorstufe des kritischen Denkens, wenn nicht als ein Synonym dafür angesehen. Satz Der Satz ist eine Äußerung in Form einer Kette von Wörtern, die nach den Regeln der Grammatik gebildet wird. Ältere Definitionen verlangen, dass mindestens ein Subjekt und ein Verb vorhanden sind. Welche Regeln der Grammatik gelten sollen, ist sehr umstritten und muss uns hier nicht beschäftigen. Syntaktisch wird der Satz durch einen Punkt am Ende ge‐ kennzeichnet. Das Anfangswort beginnt mit einem Großbuchstaben. Die Definitionen zu diesem Begriff gehen jedoch weit auseinander und betonen unterschiedliche grammatische, kommunikative, semantische und pragma‐ tische Aspekte. Sätze können einfach oder zusammengesetzt sein. „Ellipsen“ nennt man unvollständige Sätze („Komm! “, „Wie viel? “). Sie sind Sonderfälle und lassen sind von kompetenten Sprechern in der Regel ohne Weiteres verstehen. Sätze sind insofern eine Grundlage des Denkens, als sie gramma‐ tische Standardstrukturen vorgeben, innerhalb derer sich Wahrheitswerte definieren lassen. Für das Verschriftlichen von Gedanken sind Sätze insofern zentral als die für die Satzbildung vorgegebenen grammatischen Normen eingehalten werden müssen. Skepsis Skepsis (synonym: Zweifel) kennzeichnet eine kritische Einstellung gegen‐ über Wahrheitsannahmen. Radikaler Skeptizismus negiert die Möglichkeit positiver Erkenntnis. In den Wissenschaften gilt Skepsis als eine gedankli‐ che Grundhaltung, die gegenüber allem Wissen angezeigt ist. Skepsis ist insofern eine Grundlage des kritischen Denkens als sie die Bereitschaft zur genauen Prüfung aller Wahrheitsannahmen in sich birgt. Eine skeptische Grundhaltung zum Wissen steht in Gegensatz zum Dogmatismus und zu 288 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="289"?> dogmatischen Annahmen über die Gültigkeit von Wissen. Skepsis gilt als eine Grundeigenschaft kritischen Denkens. System Der Systembegriff wird in der Regel verwendet, um Teil und Ganzes unterscheiden und in Beziehung zueinander setzen zu können. Teil und Ganzes bedingen dabei einander in dem Sinne, dass das Ganze nur über seine Teile bestehen kann, während die Teile ihre Funktionen, Bewegungsweisen und Bedeutungen über den ganzheitlichen Zusammenhang erhalten. Dass das System mehr ist als die Summe seiner Teile, ist vermutlich die bekann‐ teste Aussage über Systeme. Systeme existieren in der ideellen wie auch materiellen Welt und es gibt eine Fülle von natur- und sozialwissenschaft‐ lichen Theorien dazu (vgl. Ropohl 2012). Systeme spielen für das kritische Denken insofern sie eine große Rolle, als sie Grundlage für das analytische Denken sind, ohne die sich fundierte Aussagen über Ursachen, Wirkungen, Entwicklung und Nachhaltigkeit nicht treffen lassen. Tatsache Siehe Fakt Text Unter „Text“ versteht man eine aus mehreren Wörtern zusammengesetzte Äußerung, die in sich strukturiert und zusammenhängend ist. Damit eine Gruppe von Wörtern als „Text“ bezeichnet werden kann, sollte sie, so Beaug‐ rande & Dressler (1981), sinnvoll, kommunikativ, informativ, sozial akzep‐ tiert, intertextuell, kohärent und kohäsiv sein. Texte lassen sich auch als Ge‐ fäße für die Darstellung, Kommunikation und den Transport von Gedanken ansehen. Die sprachliche Strukturiertheit von Texten korrespondiert dabei mit deren gedanklicher Struktur, wobei beide aufeinander bezogen sind, ohne dass sich Texte prinzipiell auf eine der beiden Seiten reduzieren ließen. Für kritisches Denken sind Texte die wichtigste Grundlage eines diskursiven Austauschs von Wissen und Ansichten. Sprechen und Zuhören sind die wichtigsten Umfangsformen für das mündliche Formulieren, Lesen und Schreiben für schriftliche Texte. Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 289 <?page no="290"?> Textsorte (Genre) „Textsorte“ oder „Textgenre“ sind synonym verwendete Begriffe, die auf die Identifizierbarkeit von typifizierten Sprachverwendungsarten hinweisen (Miller 1984, Swales 1990). Textsorten charakterisieren wiederkehrende, konventionalisierte textuelle Darstellungsformen. Sie sind rhetorische Lö‐ sungen, die für spezielle Zwecke eingesetzt werden, wie z. B. der Zeitungs‐ artikel zur Kommunikation von Nachrichten, der Forschungsartikel zur Darstellung von Forschungsergebnissen oder Gebrauchsanweisungen zur Instruktion von Nutzerinnen und Nutzern. „Textsorte“ bezeichnet dabei mehrere Dinge: Den rhetorischen Zweck (was soll durch Texte dieser Art erreicht werden? ), die sprachlichen Mittel (wie lässt sich der Zweck optimal realisieren? ), wiederkehrende Textorgani‐ sationsmuster (aus welchen Bestandteilen besteht der Text? ), die Adressaten (an wen richten sich die Texte? ) und kontextuellen Gegebenheiten (wo werden die entsprechenden Texte eingesetzt? ). Textsorten können mehr oder weniger konventionalisiert sein in Bezug auf ihre Struktur, Rhetorik und Sprachregister, sind aber prinzipiell auch flexibel, dynamisch und veränderbar. Textsorten treffen auf feste Erwartungen der Adressaten, können Erwartungen aber auch durchbrechen oder mit ihnen spielen. Für die Organisation von Gedanken in Texten geben Textsorten wichtige Strukturhilfen, da sie Musterlösungen anbieten, ohne das Denken allzu sehr einzuengen. These Eine Behauptung, die zum Zwecke des Diskutierens vorgebracht wird, nennt man auch „These“. Thesen können einfacher oder komplexer sein. Thesen werden oft mit einer Formel wie „Ich behaupte, dass …“ oder „Meine These ist …“ eingeleitet. Die Glaubwürdigkeit von Thesen wird in der Regel durch Argumente gestützt, die wiederum von weiteren Begründungen oder Belegen gefolgt sein können. Vom Sprechakt her sind Thesen - trotz ihrer bestimmt klingenden Form - eher gedankliche Versuchsballons, die zum Zwecke der Diskussion formuliert werden, im Gegensatz zum Urteil, das etwas Abgeschlossenes hat und keine weiteren Verhandlungen zulassen möchte (wie beim Gerichtsurteil oder bei der Notengebung). Thesen sind eine wichtige sprachliche Form für die pointierte und präzise Darstellung von Gedanken. Für kritisches Denken ist ein gekonnter Umgang mit the‐ senbezogenem Argumentieren insofern eine wesentliche Grundlage, als sich 290 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="291"?> damit Gedanken auf den Prüfstand stellen und auf ihre Begründbarkeit untersuchen lassen. Kritisches Denken beruht auf der Annahme, dass alles Wissen argumentativ geprüft sein muss, was durch Rückgriff auf theoreti‐ sche, diskursive und empirische Mittel geschehen kann. Ursache und Wirkung Die beiden Begriffe kennzeichnen ein kausales Wirkungsgefüge, in dem ein Element (Ursache) den Grund für das Auftreten des zweiten Elements (Wirkung) darstellt. „Kausal“ bedeutet dabei ein nichtzufälliges und nicht einfach kontingentes (gleichzeitiges) Auftraten der beiden Elemente. Die Ursache muss der Wirkung zeitlich vorausgehen, und ein plausibler Wirk‐ mechanismus sollte bekannt sein (Oerter 2014). In Einzelfällen ist die Iden‐ tifikation von Ursache und Wirkung oft relativ problemlos zu leisten, wie bei Schadensfällen, Krankheiten oder kriminellen Handlungen. Schwerer ist es, die deterministische Struktur von Ursachen und Wirkungen in Systemen festzustellen, und dies auf eine allgemeine Art und Weise zu tun, wie z. B. in folgenden Behauptungen: „Krankheit ist Ursache von Ausgrenzung“ oder „die Schwerkraft ist Ursache der Planetenbahnen“. Urteil Urteile sind Behauptungen wertender oder sinnstiftender Art, die als Re‐ sultat von Denkakten angesehen werden. Urteile können ausgesprochen und begründet werden (wie im Gerichtsverfahren) oder still für sich gefällt werden (als Meinung oder Vorurteil). Kant verwendet den Begriff „Urteil“ weitgehend synonym mit „Behauptung“. Von ihrem Charakter als Sprechakt nach unterscheiden sich Urteile von Argumenten dadurch, dass sie nicht geäußert werden, um zu diskutieren, sondern um zum Abschluss eines Denk- oder Untersuchungsvorgangs zu kommen. Die Vermeidung von vorschnellen Urteilen und Vorurteilen ist ein wichtiger Bestandteil des kritischen Denkens. Vermutung Behauptung, die zwar als plausibel und sinnvoll angesehen wird, für die aber nur subjektive Evidenz vorhanden ist, sodass ihr Wahrheitswert als unbestätigt deklariert wird. Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 291 <?page no="292"?> Verstehen Verstehen ist ein Ergebnis des Denkens, das sich darin ausdrückt, dass sich den Denkenden Zusammenhänge erschließen, Einsichten öffnen, Lösungen offenbaren oder neue Sichtweisen auftun. Verstehen kann sich auf naturwis‐ senschaftliche Gesetzmäßigkeiten, Sinndimensionen in Texten, soziale Zu‐ sammenhänge oder die Bedeutung von Begriffen beziehen. Ammon (2009, S. 87) betont als Vorteil des Verstehensgegenüber dem Wissensbegriff, dass er vielseitiger ist und sich als Prozess zu erkennen gibt, der einen Wandel in den Einsichten impliziert. „Wenn wir verstehen, dann verbinden, struk‐ turieren, ordnen wir, wir gleichen an, unterscheiden, exemplifizieren, fassen zusammen, gehen ins Detail und betonen.“ Ziel des kritischen Denkens ist es, von oberflächlichem zu einem tieferen Verständnis eines Sachverhalts oder Zusammenhangs zu gelangen. Dazu ist es in der Regel nötig, eine mehrperspektivische Betrachtung einzunehmen, gegenläufige Meinungen zu berücksichtigen und vorhandene Daten bzw. Quellen genauer zu nutzen. Verstehen kann sowohl das Motiv des Denkens als auch dessen Resultat sein. Wahrheit Erkenntnistheoretischer Begriff, der dem Wissen einen Gültigkeitswert zuschreibt. Eine verbindliche, eindimensionale Wahrheitstheorie gibt es der‐ zeit nicht. Existierende Konzeptionen leiten Wahrheit alternativ aus ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit (Korrespondenztheorie), aus ihrem Verhältnis zu anderen Aussagen (Kohärenztheorie) oder aus der Übereinstimmung zwischen Menschen (Konsenstheorie) ab (Müller 2011). Da kein methodisch oder logisch beschreibbarer Weg existiert, Wahrheit an einer der drei Kriterien festzumachen, bleibt „Wahrheit“ eine Wertekategorie die - ähnlich wie „Schönheit“, „Kunst“ oder „Gerechtigkeit“ - zwar orientierend für das Denken, aber nicht eindeutig bestimmbar ist. Anstelle einer Wahrheitszu‐ schreibung werden in den Wissenschaften sekundäre Gütekriterien für Wissen verwendet. Wahrheitswert In der Logik sind Wahrheitswerte Zuschreibungen von „wahr“ oder „fasch“ an Aussagen. Diese Zuschreibungen entsprechen nicht einer bestimmten Wahrheitstheorie und implizieren nicht ein bestimmtes Verhältnis zu realen 292 Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens <?page no="293"?> Gegebenheiten, sondern bestimmen sich aus dem Verhältnis logischer Sätze zueinander. Der Begriff wurde von dem Logiker Gottlob Frege ins Spiel ge‐ bracht. Fragen, Aufforderungen und Ausrufe haben keinen Wahrheitswert. In mehrwertigen Logiken können auch andere Wahrheitswerte als wahr und falsch definiert werden. Wissen Wissen ist ein Sammelbegriff für Auffassungen, Meinungen und Gedanken, deren Begründetheit über eine bloße Wahrheitsannahme hinausgeht. Be‐ gründen lässt sich Wissen durch kontrolliert gewonnene empirische Fakten, durch konsistent ausformulierte Theorien, durch Prüfungen in Konsens‐ verfahren und Einsatz in der Praxis. Wissen lässt sich nicht über seinen Wahrheitsgehalt definierten, wohl aber über Kriterien wie Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Verwendbarkeit, Sparsamkeit, konzeptuelle Konsistenz und Kommunizierbarkeit. Wissen schließt die Identifikation und das Verständ‐ nis von Nichtwissen ein. Wissen kann in unterschiedlichen Medien und Zeichensystemen dokumentiert sein, ist aber in seiner Existenz immer auf menschliches Denken angewiesen, das diese Zeichen zu verstehen in der Lage ist. Glossar zentraler Begriffe des kritischen Denkens 293 <?page no="294"?> Literaturverzeichnis Abbott, B. P et al (2016).: Observation of gravitational waves from a binary black h ole merger. Physical Review Letters, 11. February 2016. ALLEA ‒ All European Academies (2017). The European Code of Conduct for Research Integrity (Revised Edition). Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities. www.allea.org American Psychological Association (2010). Publication Manual of the American Psychological Association. 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Aus: Kruse (2016). . . . . . . . . . . . 123 Abb. 4: Qualitäten von Wissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 <?page no="306"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1: Wahrheitstafel für Disjunktion A ᴠ B . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Tab. 2: Wahrheitstafel für Konjunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tab. 3: Negation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Tab. 4: Schema des wissenschaftlichen Argumentierens nin Anlehnung an Booth et al. (1995, S.-89), um die dritte Spalte erweitert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Tab. 5: Schema des Argumentierens angelehnt an Booth et al. (1995, S.-89), konkretisiert an einem Beispiel. . . . . . . . . . 111 Tab. 6: Digitale Technologien und Tools für das wissenschaftliche Arbeiten (leicht modifiziert nach Kruse & Rapp, 2022, S.-528 f.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Tab. 7: Vergleichende Übersicht über elementare Denkarten . . 209 Tab. 8: Verben des Berichtens (übersetzt und leicht modifiziert nach Hyland, 2000). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Tab. 9: Beispiel für das Hinterfragen eines wissenschaftlichen Textes, hier von Harald Weinrichs (1994) Text „Sprache und Wissenschaft“. Hervorgehoben sind Passagen, auf die in der zweiten Spalte Bezug genommen wird. . . . . . 228 Tab. 10: Verschiedene Denk-/ Handlungsfelder, die für das Leben relevant sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Tab. 11: Stärken und Schwächen meines Denkens (angelehnt an De Bono, 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 <?page no="307"?> BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Abschlussarbeiten, Aufsätze, Fachbücher, sie alle werden durch Bilder anschaulicher und verständlicher. Fotos, Zeichnungen, Diagramme, Charts, Karten sind ein unverzichtbarer Bestandteil wissenschaftlicher Vermittlung. Die Digitalisierung gibt Autor: innen viele Möglichkeiten der Herstellung und Bearbeitung von Bildern in die Hand. Dieser Band informiert über die wichtigsten Bildtypen und die visuellen Konventionen, die sich in der kulturellen Evolution herausgebildet haben. Als Hintergrundwissen für eine effektive Gestaltung wird die kognitive Verarbeitung von Bildern und von Text-Bild-Kombinationen dargestellt. Der Fokus liegt dann auf praktischen Hinweisen, wie die verschiedenen Bildtypen didaktisch gestaltet und inhaltlich in den Text eingebunden werden. Steffen-Peter Ballstaedt Wissenschaftliche Bilder: gut gestalten, richtig verwenden STAR - STUDIEREN, ABER RICHTIG 1. Auflage 2023, 230 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-6031-6 eISBN 978-3-8385-6031-1 <?page no="308"?> BUCHTIPP Das Buch versteht sich als Anleitung zum Lehren und Lernen von Rederhetorik und repräsentiert die langjährigen Lehrerfahrungen der beiden Autor*innen. Es gibt einen systematischen Überblick über alle rederhetorisch relevanten Aspekte (u.a. verbale, sprecherische Ausdrucksmittel, Redevorbereitung; Zielgruppenanalyse, Redegattungen und -strukturen). Jeder Teilbereich ist fachwissenschaftlich fundiert und didaktisch-methodisch in Form von Übungsanleitungen aufbereitet. Online zugänglich sind Redebeispiele zu verschiedenen Teilaspekten, die zur Analyse und Sensibilisierung unterstützend eingesetzt werden können. Das Buch richtet sich an Personen, die das Themenfeld Rederhetorik in diversen beruflichen bzw. schulischen oder universitären Kontexten lehren. Es kann aber auch zum Selbststudium genutzt werden. Thomas Grießbach, Annette Lepschy Rhetorik der Rede Ein Lehr- und Arbeitsbuch 2., überarbeitete Auflage 2023, ca. 310 Seiten €[D] 27,90 ISBN 978-3-8252-6029-3 eISBN 978-3-8385-6029-8 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="309"?> BUCHTIPP Ulrich Engelmann, Martin Baumann Zielführend moderieren Kompetenzen - Methoden - Wege zum Gesprächserfolg 1. Auflage 2022, 438 Seiten €[D] 37,90 ISBN 978-3-8252-5689-0 eISBN 978-3-8385-5689-5 In der Teamarbeit wird Moderation zum Erfolgsfaktor, der jedoch häufig unterschätzt wird. Ausgehend vom persönlichen Kompetenzniveau verknüpft dieses Buch Grundlagen und Methoden zu Wegen, um Ihre persönliche Entwicklung individuell zu begleiten: Einsteiger: innen finden hilfreiche Checklisten und Basistechniken für ihre ersten Moderationen, Fortgeschrittene wertvolle Praxistipps und Methoden für den Ausbau ihrer Moderationskompetenz. Profis schließlich genießen eine raffinierte Aussicht auf weniger bekannte Techniken und neue Anwendungen. Weiterführende Exkurse zum Meeting-Management und zur Online-Moderation runden den Anwendungshorizont ab. Ob in Beruf, Studium oder Ehrenamt - derart ausgestattet gelingen Ihre eigene sowie die Entwicklung Ihres Teams durch zielführende Moderation. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="310"?> ISBN 978-3-8252-5503-9 Otto Kruse Kritisches Denken und Argumentieren 2. Auflage Kritisches Denken ist mehr als das Sahnehäubchen auf der akademischen Bildung. Es ist ihr Kern und zudem Ziel jedes Hochschulstudiums. Otto Kruse macht verständlich, was darunter zu verstehen ist und wie man es lernen kann. Er zeigt, wie man das Denken organisiert, wie man Meinungen begründet, Wissen prüft und Denkmedien einsetzt. Das berührt zentrale Fragen einer angewandten Erkenntnistheorie wie Wahrheit, Logik, Kausalität, Wissen, Fakten, Schreiben, Sprache und Argumentieren. Neu in der zweiten Auflage sind drei Kapitel: eines zum Denken im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, ein zweites zur Selbststeuerung der intellektuellen Entwicklung und ein drittes über die zehn wichtigsten Arten des Denkens in den Wissenschaften. Kritisch denken - so die Essenz des Buches - heißt nicht, andere zu kritisieren, sondern Verantwortung für die Qualität des eigenen Denkens zu übernehmen. Das zu erreichen, sollte der Lernertrag aus der Lektüre sein. Schlüsselkompetenzen 2. A. Kruse Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Kritisches Denken und Argumentieren Studieren, aber richtig 2024-08-21_5503-9_Kruse_M_4767_PRINT.indd Alle Seiten 2024-08-21_5503-9_Kruse_M_4767_PRINT.indd Alle Seiten 21.08.24 10: 34 21.08.24 10: 34
