Organisationssoziologie
Eine Einführung
0115
2024
978-3-8385-5508-9
978-3-8252-5508-4
UTB
Markus Pohlmann
10.36198/9783838555089
Der Band lädt zum organisationssoziologischen Denken ein. Anhand empirischer Beispiele und Fallstudien wird in zentrale Begriffe, Konzepte und Perspektiven der Organisationssoziologie eingeführt und dem Leser ein ebenso fundierter wie praktischer Einstieg in deren Fragestellungen, Themen und Erklärungsformen ermöglicht.
Dabei spannt sich der inhaltliche Bogen von der Darlegung eines sozialwissenschaftlichen Verständnisses der Organisation und der Klassifizierung von Typen der Organisation über die Beschreibung zentraler Ansätze der Organisationssoziologie bis zu den Themenbereichen Motivation, Macht, Führung und Strategie. Nicht zuletzt analysiert der Autor auch Fragen der Organisationskultur und der organisationalen Kriminalität.
<?page no="0"?> Markus Pohlmann Organisationssoziologie Eine Einführung 3. Auflage <?page no="1"?> utb 3573 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 UTB (L) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 19: 58 23.03.2022 10: 19: 58 <?page no="3"?> Markus Pohlmann Organisationssoziologie Eine Einführung 3., vollständig überarbeitete Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> utb-Nr. 3573 ISBN 978-3-8252-5508-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5508-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5508-4 (ePUB) Umschlagmotiv: © Friedberg · Fotolia.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 2., überarbeitete Auflage 2016 1. Auflage 2011 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 978383855089 © UVK Verlag 2024 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck 3., vollständig überarbeitete Auflage 2024 <?page no="5"?> Für Sonja † <?page no="7"?> Vorwort zur dritten Auflage Das Schicksal, das Lehrbüchern in der Soziologie in Deutschland beschieden ist, lässt sich im Vorhinein schwer kalkulieren. Ich bin daher sehr dankbar, dass die Leser*innen mir die Möglichkeit gegeben haben, das vorliegende Lehrbuch nochmals zu aktualisieren und zu ergänzen. Allerdings erwies sich die Aufgabe, die sich mir damit gestellt hat, als keine einfache. Insbesondere das Vorhaben, das Lehrbuch um ein Kapitel zu den verschiedenen Typen von Organisationen zu ergänzen, erwies sich als ein anspruchsvolles Unterfangen. Die Typik verschiedener Organisationsformen auf den Punkt zu bringen und eine Vergleichssystematik zu entwickeln, war herausfordernd. Der Problematik, dass wir in der Realität eine überbordende empirische Vielfalt an Formen und zahlreiche Mischformen vorfinden, bin ich mit der Entwicklung einer Heuristik begegnet. Sie soll helfen, Ordnung in das Chaos der Empirie zu bringen und den Studierenden ermöglichen, selbst Einordnungen von Organisationen vorzunehmen. Dadurch, dass seit der zweiten Auflage einige Zeit vergangen ist, habe ich auch viele Aktualisierungen vorgenommen. Allerdings habe ich mich auf solche aktuellen Entwicklungen beschränkt, die bereits einzuordnen sind. Andere, wie z.B. das Thema der generativen künstlichen Intelligenz, habe ich ausgespart, weil die daraus resultierenden Entwicklungen für die Organisationen und ihre Operationsweisen noch nicht hinreichend absehbar sind. Die Grundform und -ausrichtung des Lehrbuches habe ich beibehalten. Sie hat sich in vielen Seminaren und Vorlesungen bewährt. Wie immer habe ich zahlreichen Kolleg*innen zu danken, welche mich durch ihre Kommentare und ihre erneute Durchsicht des Buches unterstützt haben. Allen voran gebührt mein besonderer Dank Kim Kettner, welche mit großem Einsatz die formale Aufbereitung, Korrektur und Durchsicht der Neuauflage besorgt hat. Aber auch Kristina Höly, Monika Bancsina, Savka Dekic, Subrata Mitra und Stefan Bär standen der Überarbeitung des neu hinzugefügten Kapitels mit kritischen Kommentaren zur Seite. Nina Baumann, Leoni Kotwan und Nicolas Mechnig haben sich das neu hinzugefügte Kapitel ebenfalls angesehen und auf seine Lesefreundlichkeit geprüft. Wie üblich zeichne ich natürlich für alle verbleibenden Fehler und Irrtümer selbst verantwortlich. Mein Dank gebührt auch meiner Frau und meinen drei Jungs, die sich damit arrangiert haben, dass ich „altmodische“ Bücher schreibe anstatt mich als Influencer oder Youtuber zu betätigen. Vorwort zur zweiten Auflage Auch ein Lehrbuch ist in der Regel nicht ein abgeschlossenes Projekt, sondern es entwickelt sich durch jede Neuauflage weiter. Dem Verlag, den Lesern und Leserinnen sei gedankt, dass sie dem Lehrbuch diese Entwicklungsmöglichkeit eröffnet ha- <?page no="8"?> 8 Vorwort zur 1. Auflage ben. Ich habe sie genutzt, um den Text weiter zu vereinfachen und zu präzisieren. Neue Beispiele wurden eingefügt und aktuelle Entwicklungen eingeblendet. Eine Vielzahl von Fallstudien, Übungen, Informationsmaterial und Links sind darüber hinaus zu den einzelnen Themen über das Internet verfügbar. Das Buch soll zum einen in die soziologische Denkweise von Organisationen einführen, zum anderen aber auch in der Handhabung für Lehrende, Studierende und andere Interessierte Spaß machen. Wenn mir das gelungen sein sollte, dann ist dies nicht nur das Verdienst eines engagierten Forschungsteams, das mich in der Aufbereitung der Neuauflage unterstützt hat, sondern auch einer Vielzahl von Studierenden, die mit dem Buch gearbeitet und mir Feedback gegeben haben. Besonders bedanken möchte ich mich bei Friederike Elias, Alexander Fürstenberg, Sonja Linder, Kristina Höly, Julian Klinkhammer und Elizangela Valarini, die mir wie immer mit Rat und Tat zur Seite standen. Ein großer Dank gebührt auch Frau Renninghoff, die die sprachliche und formale Korrektur der Neuauflage vorgenommen hat. Für etwaige noch verbliebene Fehler zeichnet natürlich nichtsdestotrotz der Autor verantwortlich. Frau Rothländer hat dieses Buch wohlwollend und mit viel Geduld von Verlagsseite aus begleitet. Dafür sei ihr ebenfalls gedankt. Last but not least waren mir meine Frau und meine beiden Jungs eine stete Inspirationsquelle und haben dafür gesorgt, dass das Abenteuerliche und Spielerische seinen Platz in diesem Buch findet. Auch diesmal hoffe ich wieder, dass die Neuauflage das Engagement von allen Beteiligten rechtfertigen und vielen Leserinnen und Lesern die Tür zu einer soziologischen Denkweise von Organisationen öffnen möge. Vorwort zur 1. Auflage Universitäten sind Organisationen, die, wie andere auch, eine Tendenz zur Vereinnahmung haben. Was ihnen an formaler Betriebsförmigkeit fehlt, machen sie gerne durch Betriebsamkeit wett. Dennoch eröffnen sie ihrem wissenschaftlichen Personal immer wieder die Möglichkeit, einen Moment innezuhalten und ihre Gedanken in einem Buch zu sammeln. Dafür sind wir dankbar. Die Universität Heidelberg hat dieses Buch durch die Gewährung eines Forschungssemesters unterstützt und dadurch seinen Abschluss möglich gemacht. Wir sind aber nicht nur der Universität, sondern insbesondere auch dem Max-Weber-Institut für Soziologie zu Dank verpflichtet. Ohne die Heidelberger Soziologie mit ihrer sehr lebendigen Weber-Tradition wäre dieses Buch ein anderes geworden. Dass es uns überhaupt möglich war, dieses Lehrbuch zu schreiben, verdanken wir auch der tatkräftigen Unterstützung zahlreicher Kolleginnen und Kollegen. Allen voran möchten wir Gert Schmidt für seine hilfreichen Anregungen danken, die uns in der Konzeption des Lehrbuches weitergebracht haben. Philipp Hessinger hat uns mit <?page no="9"?> wichtigen Kommentaren und Hinweisen unterstützt und uns ermutigt, unsere Linie beizubehalten. Kathia Serrano-Velarde, Ulrich Bachmann und Mateusz Stachura konnten uns mit gezielten Kommentaren und Kritik hinsichtlich der von uns ausgewählten Theorieansätze, ihrer Darstellung und Interpretation ebenfalls sehr helfen. Das wissenschaftliche Team im Bereich der Organisationssoziologie in Heidelberg, allen voran Julian Klinkhammer, Volker Helbig, Stefan Bär, Rafael Bauschke, Sonja Gwinner und Thorsten Zillmann, haben das Buch mit Rat und Tat sowie mit sehr viel Engagement vorangebracht. Dasselbe gilt auch für unser Sekretariat, insbesondere Frau Chaluppa und Frau Ponier, die uns vor allem bei der formalen Aufbereitung des Buches zur Seite standen. Den Studierenden Kristina Bitsch, Viviane Bressem, Mareike Daiber, Franziska Gässler, Mathias Köhler, Stefanie Krieg, Christian Menn und Michael Trampota, welche die Vorfassungen der einzelnen Kapitel gelesen haben, sind wir ebenfalls sehr zu Dank verpflichtet. Dem Verlag und seinen Lektorinnen Frau Artz und Frau Rothländer sind wir vor allem für die Geduld und das Verständnis dankbar, die sie im Rahmen des Entstehungsprozesses aufgebracht haben. Wir hoffen, dass unser Buch das Engagement von allen Beteiligten rechtfertigen und vielen Leserinnen und Lesern die Tür zu einer so verstandenen Soziologie der Organisation öffnen möge. Vorwort zur 1. Auflage <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort............................................................................................7 Tabellenverzeichnis ........................................................................... 15 Abbildungsverzeichnis ........................................................................ 16 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen Denken...... 17 1.1 Die Vorgehensweise ................................................................ 22 Quellen ....................................................................................... 25 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation ..................... 27 2.1 Die italienische Mafia als Organisation? ......................................... 28 2.2 Die Bekämpfung der Mafia ........................................................ 37 2.3 Auf dem Weg zu einem komparativen Organisationsverständnis ........... 41 2.4 Zusammenfassung .................................................................. 48 Quellen / weiterführende Literatur ..................................................... 50 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie .................................... 57 3.1 Das Konzentrationslager: Auf den Spuren irrationaler/ rationaler Organisation......................................................................... 58 3.2 Organisationssoziologische Ansätze im Vergleich ............................. 65 3.3 Organisation als korporativer Akteur ............................................ 72 3.4 Organisation und die Institutionen der Gesellschaft.......................... 76 3.5 Organisation als System ........................................................... 79 3.6 Zusammenfassung .................................................................. 84 Quellen / weiterführende Literatur ..................................................... 85 4 Personal und Motivation ............................................................... 95 4.1 Der Mensch als Person - Zum Personenverständnis in der Soziologie ...... 97 4.2 Personal — eine soziologische Bestimmung ................................... 104 4.3 Motive ............................................................................... 110 4.4 Die Entgrenzung von Arbeit und das »unternehmerische Selbst«.......... 115 4.5 Zusammenfassung ................................................................. 117 Quellen / weiterführende Literatur .................................................... 119 5 Macht und Geld ........................................................................ 125 5.1 Macht ................................................................................ 126 5.1.1 Machtentstehung und Ordnungsbildung bei Popitz ....................... 128 <?page no="12"?> 12 Inhaltsverzeichnis 5.1.2 Macht und Interessen im Handlungssystem der Organisation: Colemans Theorie .................................................................... 131 5.1.3 Probleme kollektiven Handelns in der Organisation: Crozier/ Friedbergs Theorie .................................................................... 134 5.1.4 Macht als Medium der Organisation: Luhmanns Theorie ................. 139 5.2 Geld.................................................................................. 141 5.3 Zusammenfassung ................................................................. 147 Quellen / weiterführende Literatur .................................................... 149 6 Management, Führung und Strategie ............................................. 153 6.1 Die Funktion des Managements - Grundlegende Perspektiven ............. 155 6.2 Führung und Strategie ............................................................ 162 6.2.1 Führung........................................................................... 164 6.2.2 Strategien ........................................................................ 168 6.3 Manager*innen - Person und Personal .......................................... 172 6.4 Zusammenfassung ................................................................. 175 Quellen / weiterführende Literatur .................................................... 177 7 Organisationskultur................................................................... 187 7.1 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regeln, die sich der gezielten Veränderung entziehen? .............................. 190 7.2 Organisationskultur als Regeln, wie Dinge gesehen werden................ 195 7.3 Organisationskulturen und die Veränderung der Organisation ............. 199 7.4 Organisationskulturen im Theorienvergleich.................................. 201 7.5 Zusammenfassung ................................................................. 204 Quellen / weiterführende Literatur .................................................... 206 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption................................ 211 8.1 Organisation und Moral — einige Vorbemerkungen .......................... 212 8.2 Organisationale Devianz und organisationale Kriminalität.................. 216 8.3 Aktive Korruption bei Siemens .................................................. 218 8.3.1 Korruption als Risikokalkulation ............................................. 223 8.3.2 Korruption als Anpassung und Nachahmung................................ 225 8.3.3 Korruption als »brauchbare Illegalität« .................................... 226 8.4 Individuelle, organisationale und professionsgeleitete Devianz: Die Manipulationen der Wartelisten in der deutschen Transplantationsmedizin ... 229 8.5 Compliance, Moral und die Bekämpfung von Korruption und Manipulationen .......................................................................... 234 8.6 Zusammenfassung ................................................................. 238 Quellen / weiterführende Literatur .................................................... 241 <?page no="13"?> Inhaltsverzeichnis 13 9 Organisationstypen im Vergleich .................................................. 249 9.1 Die feldspezifische Ausrichtung der Organisation ............................ 253 9.2 Ein Besuch in der Kirche.......................................................... 254 9.3 Interessen- oder Arbeitsorganisation als Vergleichskriterium .............. 265 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? . 268 9.5 Aufgabenautonomie, Hierarchie und Professionsgebundenheit als Vergleichskriterien................................................................ 280 9.6 Das öffentliche Krankenhaus .................................................... 282 9.7 Die Eigentums- und Ressourcenautonomie als Vergleichskriterium ....... 293 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt ............................................ 294 9.9 Zusammenfassung ................................................................. 305 Quellen / weiterführende Literatur .................................................... 308 10 Schlagwortverzeichnis ............................................................... 317 <?page no="15"?> Tabellenverzeichnis Tab. 2.1 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von totalen Institutionen und Organisationen .................................................................... 43 Tab. 2.2 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Gruppen und Organisationen .................................................................................. 45 Tab. 2.3 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Netzwerken und Organisationen .................................................................... 46 Tab. 2.4 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Märkten und Organisationen .................................................................................. 48 Tab. 3.1 Drei organisationssoziologische Ansätze im Vergleich ...................... 68 Tab. 3.2 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Interessen- und Arbeitsorganisationen .................................................................... 73 Tab. 4.1 Das Verständnis von Person und Akteur im Theorienvergleich ........... 104 Tab. 4.2 Das Verständnis von Personal und Personalpolitik im Theorienvergleich .......................................................................... 108 Tab. 4.3 Das Verständnis von Motiven und Motivation im Theorienvergleich..... 113 Tab. 5.1 Das Verständnis von Macht im Theorienvergleich .......................... 139 Tab. 5.2 Zur Bedeutung von Geld in Organisationen: Coleman und Luhmann .... 147 Tab. 6.1 Das Managementverständnis in der Soziologie der Organisation im Theorienvergleich ............................................................... 159 Tab. 6.2 Das Strategieverständnis in der Soziologie der Organisation im Theorienvergleich ............................................................... 169 Tab. 7.1 Das Verständnis von Organisationskultur im Theorienvergleich ......... 203 Tab. 8.1 Das Verständnis von Moral und Ethik im Theorienvergleich .............. 214 Tab. 8.2 Abweichung von formalen Normen und Probleme der Kontrolle nach verschiedenen Theorieansätzen............................................... 237 Tab. 9.1 Die Schlüsselorganisation im Vergleich der verschiedenen Felder ...... 253 Tab. 9.2 Interessen- und Arbeitsorganisationen im Vergleich der verschiedenen Felder ........................................................................ 267 Tab. 9.3 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Interessen- und Arbeitsorganisationen........................................................... 267 Tab. 9.4 Eigentumsformen, Trägerschaften und Finanzierungsformen im Vergleich der verschiedenen Felder .......................................... 294 <?page no="16"?> 16 Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abb. 2.1 Koordinationsform der Cosa Nostra nach Catino ............................. 34 Abb. 2.2 Koordinationsform der ‘Ndrangeta nach Catino ............................. 34 Abb. 5.1 Ordnungszustand I der fluktuierenden Nutzung nach Coleman........... 132 Abb. 5.2 Übergang zu Ordnungszustand II der dauerhaften Besitzansprüche nach Coleman..................................................................... 133 Abb. 5.3 Übergang zu Ordnungszustand II der dauerhaften Besitzansprüche nach Crozier/ Friedberg ......................................................... 136 Abb. 5.4 Mögliche Strategien der Rückgewinnung von Macht durch C, D, E....... 137 Abb. 9.1 Der Organisationsaufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland ..... 263 Abb. 9.2 Gliederung und Organe der PPU (nach dem deutschen Parteienmodell) ............................................................................ 277 <?page no="17"?> 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen - Denken In diesem Kapitel erfahren Sie warum wir uns mit Organisationen beschäftigen, welches die Ziele des Buches sind, wie wir vorgehen, um diese Ziele zu erreichen. Es kann viele Gründe geben, sich mit Organisationen zu beschäftigen. Für die Soziologie ist vor allem die Tatsache interessant, dass Organisationen zu einem erheblichen Maße unser Leben und unseren Alltag bestimmen. Nicht nur, weil sie unseren Lebenslauf prägen, sondern auch, weil moderne Gesellschaften sie als ein wichtiges Instrument nutzen, um ihre Probleme zu lösen. Wir erfahren Organisationen zum einen als fremde Macht, wenn über unsere Leistung oder Karriere entschieden und bestimmt wird, ob es in unserem Lebenslauf bergauf oder bergab geht. Zum anderen signalisieren die Personalabteilungen, dass wir für diesen Lauf des Lebens selbst verantwortlich und also gehalten sind, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie legen uns, wenn die Leistung stimmt, Karrieren unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter oder Ethnie nahe. Die Träume von Glück, Reichtum und Macht werden in modernen Gesellschaften nach Maßgabe der Organisationen geträumt, die den Zugang dazu eröffnen. Allerdings können sie diese Zugänge auch verschließen. Denn Organisationen sind insofern exklusiv, als sie selbst entscheiden, wer Mitglied wird und wer nicht. Dadurch geben sie in modernen Gesellschaften den Takt für den Lebenslauf jedes Einzelnen vor: Wann man zu jung ist, wann zu alt, welchen Einstieg man hätte wählen und wann man hätte aussteigen sollen. Da Organisationen Karrieren ermöglichen und außerhalb von Organisationen kaum mehr Karrieren stattfinden, sind sie die Taktgeber gesellschaftlicher »Normalbiografien« sowie der (positiven und negativen) Diskriminierung dessen, was davon abweicht. Ohne den Selektionsmodus der Organisation kämen keine Karrieren mehr zustande, schreibt Luhmann (2000: 101f.). Auch dann, wenn man nicht die Karriereleiter hinauf möchte oder ganz andere Wege sucht, wird man in der Fremdzurechnung anderer - der Eltern, der Schulfreund*innen, der Vereinskolleg*innen oder Facebook-Freund*innen- oft dem Karrieretakt der Organisation ausgesetzt. Er orientiert berufliche Erfolgs- und Misserfolgszuschreibungen. Er sagt uns, welche Züge bereits abgefahren oder welche Chancen nicht genutzt worden sind. Jede Abweichung von ihm erhöht die Begründungslasten für den eigenen Weg. Denn ob wir dies wollen oder nicht: Organisationen sorgen in modernen Gesellschaften für unsere <?page no="18"?> 18 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen Denken gesellschaftliche Positionierung, indem sie zu einem erheblichen Maße die gesellschaftliche Rang- und Statusordnung orientieren. Zugleich sind sie für moderne Gesellschaften zum Erreichen kollektiver Ziele nahezu unersetzbar und eine ihrer bedeutendsten Kulturtechniken geworden. Wann immer moderne Gesellschaften Probleme bewältigen, Problemlösungen auf Dauer stellen oder Ziele erreichen wollen, kommen Organisationen ins Spiel. Sie sorgen für die kollektive oder korporative Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Genau in diesem Sinne lässt sich die Organisation als eine gesellschaftliche Institution verstehen: Sie formuliert ein Rationalitätsversprechen instrumenteller Art und erfährt in diesem gesellschaftliche Anerkennung. Selbst wenn es darum geht, die Verbreitung oder Einhaltung bestimmter Werte, Normen oder Moralstandards zu verfolgen, bilden sich in aller Regel Organisationen aus, deren Aufgabe es ist, dies zu bewerkstelligen. Sehr oft also, wenn kollektive Handlungsfähigkeit sichergestellt, wenn etwas kollektiv erreicht oder entschieden werden soll, bedienen sich moderne Gesellschaften der Organisationsform. Natürlich gibt es noch eine Vielzahl anderer sozialer Gebilde, wie etwa Familien, Gruppen, Netzwerke, soziale Bewegungen, welche dauerhaft eine Rolle spielen. Aber überall dort, wo es um den Leistungsbezug der Teilsysteme 1 oder um die Wirkmächtigkeit der institutionellen Ordnungen verschiedener Wertsphären, wie z.B. der Wissenschaft, der Politik, der Kunst, der Wirtschaft oder der Religion geht, haben sich Organisationen ausgebreitet. Sie spezialisieren sich auf die institutionellen Logiken der Teilsysteme oder Wertsphären und wählen diese als »Lebensmittelpunkt« (vgl. dazu Schimank 2002). Das bedeutet nicht, dass sie nicht auch andere Logiken zu bedienen haben, also als z.B. Universität auch wirtschaften, Politik machen, auf Ästhetik achten oder Rechtsnormen befolgen zu müssen. Aber dennoch wären ihr Charakter und ihre Legitimation als Universität gefährdet, wenn etwas anderes als wissenschaftliche Erkenntnisproduktion und -vermittlung im Mittelpunkt stünde: Ein Professor, der Doktorarbeiten meistbietend vergibt oder sich am Verkauf von Doktortiteln beteiligt, der für Leistungspunkte Geld verlangt oder in der Prüfung anstelle eines Arguments 50 Euro akzeptiert, wirtschaftet zwar, bewegt sich damit aber außerhalb der normativen Zwecksetzungen einer Universität. Ein solches Handeln würde und wird skandalisiert und macht auf die Legitimitäts- und Legalitätsgrenzen des Wirtschaftens der Organisation »Universität« aufmerksam. Damit wird festgelegt, in welchem Rahmen sich die Aktivitäten einer Universität bewegen sollen, aber 1 Mit dem Begriff der »Wertsphäre« beziehen wir uns auf das Wertsphärenmodell von Max Weber, der die Ausdifferenzierung der Wertsphären Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Wissenschaft, Erotik und Recht konstatiert (Weber 1904/ 1988: 536-573). Mit »Teilsystem« führen wir die systemtheoretische Perspektive ein (siehe Luhmann 1997; 2002). <?page no="19"?> 1.1 Die Vorgehensweise 19 zugleich innerhalb dieses Rahmens eine vergleichsweise hohe Autonomie in der Bestimmung der Art der Zweckverfolgung gewährt. Dies erlaubt eine Spezialisierung und Fokussierung, die gesellschaftliche Leistungserbringung auf der Ebene der Organisation möglich werden lässt, auf welche sich andere gesellschaftliche Teilbereiche oder Wertsphären beziehen können, also z.B. das Rechtssystem und die Politik auf wissenschaftliche Gutachten, die Wirtschaft auf wissenschaftliche Qualifikationen oder gar die Kirche auf theologische Abschlüsse 2 Es ist diese enorme Bedeutung (im Weberschen Duktus: Schicksalshaftigkeit) der Organisation für das Personal und für die Institutionenordnungen moderner Gesellschaften, gepaart mit einer Faszination dafür, wie weit es moderne Gesellschaften mit dieser Kulturtechnik gebracht haben, die uns zu einer eingehenden Beschäftigung mit Organisationen inspiriert hat. Ähnlich wie bei Max Weber, einem der Begründer der modernen Organisationssoziologie, ist unsere Faszination für deren instrumentelle Funktionsweise zugleich mit der Sorge verbunden, wie viel an wertbezogener (materialer) Unvernunft mit dieser Rationalisierung durch formale Organisation einhergeht. Wir übernehmen von ihm daher die Perspektive, Organisation in einem größeren Zusammenhang mit der Entwicklung (bei Weber: »Rationalisierung«) moderner Gesellschaften zu sehen und diese Entwicklung nicht als etwas zu fassen, das weitgehend außerhalb der Organisation stattfindet. Die nachstehende Infobox zu Max Weber soll diese für das Buch wichtige Perspektive verdeutlichen helfen. Infobox 1.1: Max Weber und die Gefährten Als Max Weber mit seinen Gefährten 1904 zur Weltausstellung nach St. Louis fuhr und dabei auch durch Chicago kam, stach ihm einmal mehr die rationelle Betriebsform des Kapitalismus in der neuen Welt ins Auge. In den Schlachthöfen Chicagos wurde das Fließband erfunden, lange bevor es mit Henry Ford Einzug in die Automobilindustrie hielt. Der Überlieferung Marianne Webers zufolge war Weber von dem rationellen Verarbeitungsprozess beeindruckt. Wie das getötete Rind an eisernen Klammern unaufhaltsam an immer neuen Arbeitern vorbeiwanderte, welche in ihrem Arbeitstempo an den Rhythmus des Fließbands, an den Rhythmus der Maschine gebunden waren, bewegte ihn. Aber auch in Chicago zeigte sich für ihn am Beispiel der Kostenkalkulation eines Transportunternehmens von 2 Siehe hierzu auch den Sammelband von Tacke (2001) sowie die Beiträge von Drepper (2003), Kneer (2001) und Lieckweg (2001). Quelle: WikimediaCommons, File: Max Weber 1917.jpg; Max Weber bei der Lauensteiner Tagung <?page no="20"?> 20 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen Denken jährlich 400 Toten und Verletzten, wie schnell sich die formale Vernunft der Kostenrechnung gegen die auf Lebenserhaltung zielenden Werthorizonte des Wirtschaftens selbst richten kann. »Überall fällt die gewaltige Intensität der Arbeit auf: Am meisten in den Stockyards mit ihrem ›Ozean von Blut‹, wo täglich mehrere tausend Rinder und Schweine geschlachtet werden. Von dem Moment an, wo das Rind ahnungslos den Schlachtraum betritt, vom Hammer getroffen zusammenstürzt, dann alsbald von einer eisernen Klammer gepackt, in die Höhe gerissen wird und seine Wanderung antritt, geht es unaufhaltsam weiter, an immer neuen Arbeitern vorüber, die es ausweiden, abziehen usw., immer aber, im Tempo der Arbeit, an die Maschine gebunden sind, die es an ihnen vorbeizieht. Man sieht ganz unglaubliche Arbeitsleistungen in dieser Atmosphäre von Qualm, Kot, Blut und Fellen, in der ich mit einem Boy, der mich gegen 1/ 2 Dollar führte, herumbalancierte, um nicht im Dreck zu ersaufen — und wo man das Schwein von der Kofe bis zur Wurst und Konservenbüchse verfolgt. Stundenweit haben die Leute vielfach, wenn um 5 Uhr die Arbeit aus ist, nach Hause zu fahren, — die Tram-Gesellschaft ist bankerott, seit Jahren — wie üblich — verwaltet sie ein ›Receiver‹, der kein Interesse an der Abkürzung der Liquidation hat und daher keine neuen Wagen anschafft — die alten versagen alle Augenblicke. Jährlich gegen 400 Leute werden tot oder zu Krüppeln gefahren, ersteres kostet laut Gesetz die Gesellschaft 5000 Dollar (an die Witwe oder Erben), letzteres 10000 Dollar (an die Verletzten solange sie nicht bestimmte Vorsichtsmaßregeln trifft). Sie hat nun kalkuliert, daß sie die 400 Entschädigungen weniger kosten, als die verlangten Vorsichtsmaßregeln und bringt diese nicht an. (…) Es war den Gefährten so, als würden sie erst hier aus träumerischem Halbschlaf wachgerüttelt: ›Sieh, so ist die moderne Wirklichkeit.‹« Im Hintergrund einer für Weber durchdringenden Rationalisierung der Welt steht für ihn nicht nur die kapitalistische Maschinerie, sondern auch die alle Lebenssphären durchdringende »Apparatur« der Bürokratie, welche eine bestimmte Form zweckrationaler Organisation als universelles Mittel der formalen Vernunft verbreitet. Sie ist für ihn nicht nur eigentümlichster Ausdruck des Prozesses der okzidentalen Rationalisierung, sondern vor diesem Hintergrund auch die Herrschaftsapparatur, derer sich der individuell Handelnde zugleich bedient und zu erwehren hat: »Und so fürchterlich der Gedanke erscheint, daß die Welt etwa einmal von nichts als Professoren voll wäre — man müßte ja in die Wüste entlaufen, wenn derartiges einträte — noch fürchterlicher ist der Gedanke, daß die Welt mit nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angefüllt wäre, die an einem kleinen Pöstchen kleben und nach einem größeren streben. (...) Es fragt sich, was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums frei zu halten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale...« (Weber 1926/ 84: 421). Für Weber war klar: Rationale Organisation ist mehr als ein instrumenteller Entscheidungszusammenhang zur Verfolgung beliebiger Zwecke. Gerade weil sie dies ist, wird sie damit zu einer kulturbedeutsamen Rationalisierungsform moderner Gesellschaften, welche die kollektiven Lebensschicksale ebenso prägt wie deren Wert- und Sinnhorizonte. Auf die Wahrnehmung, dass Organisationen kulturbedeutsame Techniken und institutionelle Formen moderner Gesellschaften sind, kommt es uns an. Jede <?page no="21"?> 1.1 Die Vorgehensweise 21 Organisationssoziologie muss darauf in der einen oder anderen theoretischen Form Bezug nehmen. Organisationen sind für uns Teil der Gesellschaft. Sie geben dieser eine bestimmte Form und konkretisieren sie (siehe dazu Kap. 3). Daher lässt sich Gesellschaft für die Organisationssoziologie nicht auf eine wie immer geartete »Umwelt« der Organisation reduzieren. Organisationen erscheinen vielmehr als typische Formen der Gesellschaft, die sich durch ihre Art der Sinngebung von anderen gesellschaftlichen Formen wie Gruppen, Netzwerken oder Märkten unterscheiden lassen (siehe dazu Kap. 2). Diese Auffassung markiert den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Es möchte auf dieser Basis an eine soziologische Beschäftigung mit dem Phänomen »Organisation« heranführen und zum organisationssoziologischen Denken einladen. Es ist daher in Aufbereitung und Form kein klassisches Einführungsbuch und kann ein solches auch nicht ersetzen. Sein Ziel ist es nicht, alle zentralen organisationssoziologischen Ansätze oder Debatten umfassend darzustellen. Dazu gibt es bereits hinreichend Einführungsliteratur (u.a. Tacke 2001; Preisendörfer 2016 Bonazzi 2014; Abraham/ Büschges 2009; Müller-Jentsch 2003). Vielmehr möchten die Autoren zentrale Begriffe und Perspektiven organisationssoziologischen Denkens vorstellen, um den Blick für die soziologische Perspektive zu schärfen, so dass diese von betriebswirtschaftlichen, psychologischen oder pädagogischen Herangehensweisen hinreichend unterscheidbar wird. Zugleich ist die vorliegende Einladung zum organisationssoziologischen Denken ein Versuch, das Denken über Organisationen von einem alltagstheoretischen Zugang zu lösen und darzulegen, welche anderen oder zusätzlichen Einsichten eine soziologisch präzisierte Herangehensweise bringt. Dasselbe gilt für den sehr eingängigen, in der Praxis der Organisationen und bei ihren Experten*Expertinnen gepflegten Diskurs, der uns unter der Hand schnell zu (vermeintlich kundigen) Gestalter*innen, Berater*innen oder Praxeolog*innen der Organisation werden lässt. Wir wollen mit diesem Buch hinter die Selbstbeschreibungen der Praxis zurückgehen und diese selbst zum Gegenstand unserer Reflexionen werden lassen. Die von uns gewählten Beispiele dienen dazu, den gesellschaftlichen Horizont der angesprochenen Praxis des Organisierens sichtbar werden zu lassen; sie eröffnen uns einen Zugang zu den Mythen und Fiktionen der Praxis, deren Analyse eine soziologische Aufklärung erst möglich macht. Wir sind dabei notwendigerweise sehr selektiv in unserem Zugang, haben aber unsere Themen so ausgewählt, dass sie jeweils zentral für die Reflexionen der Organisationssoziologie sind. Wir wollen erreichen, dass Studierende und Praktiker*innen eine Art »Grammatik« organisationssoziologischen Denkens zur Verfügung haben, mit der sie beginnen können, selbst organisationssoziologisch zu denken und zu arbeiten. Dies wird bisweilen bei unseren Leserinnen und <?page no="22"?> 22 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen Denken Lesern ein Umdenken erforderlich machen. Und genau darauf zielt unser Buch: dieses Umdenken zu ermöglichen und Brücken zu bauen, um sich in dem fremden Terrain der Organisationssoziologie zurechtzufinden. Der Argumentationspfad des Buches ist — gemessen an der Vielfalt der Organisationssoziologie — sehr schmal angelegt und im Wesentlichen auf drei Theorieansätze beschränkt: die Theorie rationaler Wahl, die neue Institutionentheorie und die Systemtheorie. Wir haben gerade diese Ansätze ausgewählt, weil sie für grundlegende Perspektiven einer Soziologie der Organisation stehen, an denen niemand, der sich ernsthaft mit dem Fach beschäftigt, vorbeikommt. 1.1 Die Vorgehensweise Um klar zu machen, worüber in diesem Buch gesprochen wird, beschäftigen wir uns zunächst mit dem soziologischen Verständnis von Organisation (Kapitel 2). Dieses wird am Beispiel der Mafia erläutert und im Vergleich mit anderen sozialen Gebilden wie Gruppen, totalen Institutionen, sozialen Netzwerken und Märkten vertieft. Wenn man weiß, was unter Organisation sozialwissenschaftlich verstanden wird, versteht man auch, woher ihre Schlagkraft, aber auch ihr Unvermögen in bestimmten Kontexten rührt. Natürlich wird dieses Verständnis durch die verschiedenen Denk- und Theoriemodelle der Organisationssoziologie moderiert, die oft eng mit den »großen« soziologischen Theorien verbunden sind, weil eine Gesellschaftsohne eine Organisationsanalyse (und umgekehrt) mittlerweile nicht mehr vorstellbar ist. Wir wählen für unsere Beschäftigung mit Organisationen drei zentrale Denktraditionen aus, ohne damit zu beanspruchen, die vielfältige Landschaft der Organisationstheorien abzubilden oder auch nur alle wichtigen Ansätze damit abzuhandeln. Dafür gibt es andere Bücher (siehe z.B. Kieser/ Ebers 2006; Walter-Busch 1996; Ortmann/ Sydow/ Türk 2000). Vielmehr haben wir zwei Ansätze ausgesucht, die in ihren Grundannahmen diametral entgegengesetzte Positionen vertreten: die Rational-Choice-Theorie und die Systemtheorie. Hinzu tritt ein dritter Ansatz, der mit seiner moderierenden Position zwischen den Genannten liegt und beansprucht, die gesellschaftliche Seite der Organisationstheorie wieder stärker zu betonen: der neue Institutionalismus. 3 Unser Ziel ist jedoch nicht, diese Ansätze vollständig abzubilden oder die wissenschaftliche Kritik, die sie erfahren haben, zu diskutieren. Vielmehr sollen sie uns in diesem Ka- 3 Vom neuen Institutionalismus der Organisationssoziologie zu unterscheiden sind sowohl die allgemeine soziologische Institutionentheorie, die in verschiedenen Ansätzen ausformuliert wurde (siehe Dazu u.a. Schluchter 1996, 2006; Stachura u.a. 2009), als auch der neue ökonomische Institutionalismus (siehe z.B. North 1990, Williamson 1990). <?page no="23"?> 1.1 Die Vorgehensweise 23 pitel und in den folgenden helfen, einen Zugang zu relevanten organisationssoziologischen Themen zu eröffnen. Mit diesen drei Ansätzen ist ein Feld der organisationssoziologischen Theorien abgesteckt, das nicht nur helfen soll, einige grundlegende Herangehensweisen der Organisationssoziologie zu verstehen, sondern auch einen Sortiermechanismus bietet, mit dem sich die Vielfalt der anderen Ansätze und Perspektiven einfacher ordnen und bewältigen lässt (Kap. 3). Dass in einer Organisation Menschen zusammenarbeiten und sie als eine ihrer Kooperationsformen verstanden werden kann, vermittelt bereits der erste Eindruck, wenn man die Gebäude einer Organisation betritt. Es fällt oft schwer, hinter diesen ersten Eindruck zurückzugehen. In den Sozialwissenschaften, und zumal in der Organisationssoziologie, ist dies jedoch wichtig. Denn »Menschsein« ist in der Regel sehr viel mehr als Organisationen verstehen, einbeziehen oder verkraften können. Viele menschliche Komponenten, wie z.B. unbewusste chemische oder molekulare Prozesse des biophysischen Organismus werden in der Regel sowohl gesellschaftlich als auch organisational ausgeblendet. Auch die sogenannten privaten Probleme sind normalerweise kein Thema für eine Arbeitsorganisation. Natürlich kann man sich mit seinen Kolleg*innen darüber unterhalten, aber die organisationalen Verarbeitungsprozesse in einer Universität, bei einem Motorenproduzenten oder in einer Pflegeeinrichtung werden sich daran nicht orientieren können und wollen. Die innere Gefühlswelt hält in der Regel viel mehr bereit als gesellschaftlich oder organisational zum Ausdruck kommen kann. Das bedeutet, jede Organisation kann nur selektiv auf Menschen bzw. Personen zugreifen. Sie kann diese nicht als Ganzes einbeziehen. Für diesen selektiven Einbezug steht auch der Begriff des Personals, der sich nicht auf die Menschen in einer Organisation bezieht, sondern darauf, wie diese Personen und deren Arbeitskraft nutzt. Personal sein bedeutet nicht nur, den Nützlichkeitserwartungen der Organisation ausgesetzt zu sein, sondern auch als Ressource auf Märkten gehandelt zu werden. Dabei überträgt man durch die Mitgliedschaft - zumeist im Tausch gegen ein Entgelt - der Körperschaft bestimmte Rechte, die wiederum sicherstellen möchte, dass die Interessen der Agent*innen mit den Zielen der Körperschaft übereinstimmen. Die Motive, die dabei im Spiel sind, werden in den hier herangezogenen soziologischen Ansätzen nicht so sehr als innere Beweggründe thematisiert (denn als solche sind sie nicht beobachtbar oder direkt zugänglich), sondern als Ausdrucksformen der Person im Kontext von Gesellschaft und Organisation. So erscheint es im Kontext der Organisation legitim, bestimmte Motive zu artikulieren, während andere (gleichwohl relevante) Ausdrucksformen als illegitim diskreditiert werden. Sowohl der neue Institutionalismus als auch die Systemtheorie interessieren sich daher in unterschiedlicher Weise für diesen Prozess der gesellschaftlichen oder organisationalen Motivproduktion, wenn sie von Motivation sprechen. Auch daran kann man <?page no="24"?> 24 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen Denken erkennen, dass eine solche Umstellung auf einen soziologischen Personen- und Personalbegriff weitreichende Konsequenzen dafür hat, wie der Zusammenhang von Organisation, Person und Motivation gefasst wird (Kap. 4). Auch Macht und Geld sorgen für den Zusammenhalt in der Organisation und werden in der Soziologie als »Beziehungsmittel« oder Medien in Organisationen thematisiert (Kap. 5). Wir zeigen, welche Rolle Macht in Organisationen spielt, und vergleichen anhand der Argumentationen von Coleman, Crozier/ Friedberg und Luhmann die Erklärungsweise der verschiedenen Machttheorien. Der Bedeutung von Geld als »Beziehungsmittel« in Organisationen widmen wir uns sehr selektiv, indem wir am viel diskutierten Beispiel der Managergehälter fragen, wie sich deren Höhe soziologisch erklären lässt. Das Beispiel der Managergehälter dient uns zugleich als Überleitung zu einem soziologischen Begreifen des Managements der Organisation (Kap. 6). »Management« wird in diesem Kapitel thematisiert als Steuerung und Koordination in der Organisation; als eine Position im Unternehmen, die z.B. mit einem bestimmten Tätigkeits- und Entscheidungshorizont verknüpft ist; oder als Personal, z.B. in Gestalt des Managers Herr Müller, der durch seine Visionen und Überzeugungen organisationale Prozesse wesentlich beeinflussen kann. Bezogen auf die Funktion des Managements vertiefen wir in demselben Kapitel zwei weitere für die Praxis wichtige Begrifflichkeiten: »Mitarbeiterführung« und »Unternehmensstrategie«. Dabei beschäftigen wir uns weniger mit den Eigenschaften eines Managers, die er benötigt, um eine gute Führungskraft zu sein, sondern im Mittelpunkt steht die soziale Beziehung, die Führung erst ermöglicht. So kann Herr Müller nur dann führen, wenn ihm Führungsqualitäten und Autorität zugeschrieben werden. Ist dies nicht der Fall, droht ein Positions- und Führungsverlust. Auch bezüglich des Verständnisses von Unternehmensstrategien bieten wir in diesem Kapitel von der Theorie rationaler Wahl über den neuen Institutionalismus bis zur Systemtheorie verschiedene soziologische Perspektiven an, mit jeweils unterschiedlich gearteter Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Managements, eine Organisation strategisch zu steuern. Damit leiten wir dann über zu den Gründen für diese Skepsis, die u.a. in der schwer beweglichen Kultur einer Organisation zu finden sind. In Kapitel 7 befassen wir uns daher mit dem Phänomen der Organisationskultur aus soziologischer Sicht. Zweifelsohne handelt es sich um eine für den organisationalen Alltag wichtige Kategorie, der in letzter Zeit sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Durch die Gestaltung einer »intakten« Organisationskultur sollen Konflikte und Störungen in Organisationen vermieden werden. Im genannten Kapitel zeigen wir exemplarisch anhand von drei soziologischen Theorierichtungen auf, wie der Begriff »Organisationskultur« definiert werden kann, und fragen, inwiefern eine gezielte Veränderung von Organisationskulturen realistisch ist. Dabei werden wir sowohl die kognitiven Deutungsschemata der Organisationsmitglieder berücksichtigen als auch die Frage, welche Auswirkungen die <?page no="25"?> 1.1 Die Vorgehensweise 25 institutionelle Abhängigkeit der Organisation auf ihre Kulturproduktion hat: Gesellschaftlich etablierte Erwartungsstrukturen spielen eine wesentliche Rolle, wenn man sich dem Kulturphänomen nähern möchte. Nicht zuletzt erläutern wir die systemtheoretische Fassung von Organisationskultur, die darin einen Komplex unentscheidbarer Entscheidungsprämissen sieht, die, ohne eigens thematisiert zu werden, den Horizont organisationaler Entscheidungen abstecken. Mit dem soziologischen Begreifen von »Organisationskulturen« sowie der »institutionellen Einbettung von Organisationen« ist auch das nächste von uns ausgewählte organisationssoziologische Thema des Buches eng verknüpft: jenes der Moral und Korruption in Organisationen. In Kapitel 8 klären wir, inwiefern nach den verschiedenen soziologischen Ansätzen Organisieren überhaupt etwas mit Moral zu tun hat und wie man dieses Thema wissenschaftlich, und damit jenseits der eigenen Moral, behandeln kann. Wir schildern am Beispiel eines aktuellen Falls, warum es Organisationen den unterschiedlichen Ansätzen zufolge nicht verhindern können, dass es zu Abweichungen von formalen Normen kommt, und welche Möglichkeiten die verschiedenen Ansätze sehen, in der Organisation unerwünschte und/ oder illegale Abweichungen von organisationalen Normen, also ggf. Korruption und Bestechung, zu bekämpfen. Im letzten Kapitel des Buches (Kap.9) beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Organisationstypen, um die verschiedenen Organisationsformen sichtbar werden zu lassen, welche Organisationen auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern annehmen. Wir rücken dabei „Schlüsselorganisationen“ in den Vordergrund, die prototypisch für die verschiedenen Felder stehen, also z.B. Krankenhäuser für das Gesundheitsystem, Kirchen für das Religionssystem oder Parteien für das politische System. Auf Basis einer Heuristik soll dann zum Abschluss sichtbar- und analysierbar gemacht werden, was verschiedene Organisationstypen verbindet und worin sie sich unterscheiden. Quellen Abraham, Martin/ Büschges, Günter (2009), Einführung in die Organisationssoziologie, Bd. 4., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bonazzi, Giuseppe (2014), Geschichte des organisatorischen Denkens, Wiesbaden: Springer VS. Drepper, Thomas (2003), Organisationen der Gesellschaft. Gesellschaft und Organisation in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Wiesbaden: WDV. Kieser, Alfred/ Ebers, Mark (Hrsg.) (2006), Organisationstheorien, 6. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer. Kneer, Georg (2001), Organisation und Gesellschaft: Zum ungeklärten Verhältnis von Organisations- und Funktionssystemen in Luhmanns Theorie sozialer Systeme. In: Zeitschrift für Soziologie 30(6), S. 407-428. <?page no="26"?> 26 1 Einleitung — Eine Einladung zum organisationssoziologischen Denken Lieckweg, Tania (2001), Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen ‹über› Organisation. In: Soziale Systeme 7 (2), S. 267-289. Luhmann, Niklas (1997), Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2000), Organisation und Entscheidung, Opladen/ Wiesbaden: WDV. Luhmann, Niklas (2002), Die Politik der Gesellschaft, Kieserling, André (Hrsg.), 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Müller-Jentsch, Walther (2003), Organisationssoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Campus. North, Douglass C. (1990), The political economy of institutions and decisions: Institutions, institutional change and economic performance, Repr. Aufl., Cambridge [u.a.]: Cambridge Univ. Press. Ortmann, Günther/ Syndow, Jörg/ Türk, Klaus (Hrsg.) (2000), Organisation und Gesellschaft: Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, 2., durchges. Aufl., Wiesbaden: WDV. Preisendörfer, Peter (2016), Organisationssoziologie. Grundlagen, Theorien und Problemstellungen, 4., überarb. Aufl., Wiesbaden: Springer VS. Schimank, Uwe (2002), Organisationen: Akteurskonstellationen. Korporative Akteure -Sozialsysteme. In: Allmendinger, Jutta/ Hinz, Thomas (Hrsg.), Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Soziologie der Organisation, Bd. 42, Bd. 2002, S. 29-54. Schluchter, Wolfgang (1996), Unversöhnte Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schluchter, Wolfgang (2006), Grundlegungen der Soziologie, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck. Stachura, Mateusz u. a. (Hrsg.) (2009), Der Sinn der Institutionen. Mehr-Ebenen- und Mehr-Seiten-Analyse, Wiesbaden: Springer VS / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden. Tacke, Veronika (2001), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung. Organisation und Gesellschaft, Wiesbaden: WDV. Walter-Busch, Emil (1996), Organisationstheorien von Weber bis Weick, Amsterdam: Facultas. Weber, Marianne (1926/ 84), Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen: Mohr Siebeck. Weber, Max (1904/ 88), Die Protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus. In: Weber, M. (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen: Mohr Siebeck. Williamson, Oliver E. (1990), Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen: Mohr Siebeck. <?page no="27"?> 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation In diesem Kapitel erfahren Sie was die Sozialwissenschaften unter Organisationen verstehen, ob die Mafia in diesem Sinne eine Organisation ist und wie sich Organisationen von anderen sozialen Gebilden unterscheiden lassen. Wir beginnen unsere Überlegungen in diesem Kapitel mit der italienischen Mafia. 4 Das mag ungewöhnlich erscheinen, aber immerhin wird die Mafia als eine sehr erfolgreiche und zugleich beständige kriminelle Organisation gesehen. Nicht ohne Grund sprechen Polizei und Justiz in ihrem Falle von »organisierter« Kriminalität. Haben wir es hier also mit einem althergebrachten Prototyp von Organisation zu tun, und woher rührt dessen Beständigkeit? Diese Frage leitet unsere Beschäftigung mit der italienischen Mafia an. Unsere Absicht ist es, im idealtypischen Vergleich mit anderen sozialen Gebilden herauszuarbeiten, welches die besonderen Merkmale moderner Organisationen sind. Dabei rücken wir vor allem die Form und Art der Mitgliedschaft ins Zentrum, um beispielsweise Gruppen oder Familien von Organisationen unterscheiden zu können, und orientieren uns dabei gleichermaßen am Organisationsverständnis von Max Weber und Niklas Luhmann. Obwohl Weber handlungsthe- 4 Mafia bezeichnete im engeren Sinne einen streng hierarchischen Geheimbund, der seine Wurzeln im Sizilien des 19. Jahrhunderts hat. Heute bezeichnet man nicht nur die sizilianische Cosa Nostra als Mafia, sondern auch ähnliche kriminelle Vereinigungen wie die neapolitanische Camorra oder die kalabrische ’Ndrangheta (Paoli 2003). Wir verwenden die Bezeichnung hier in Bezug auf die eben benannten kriminellen Vereinigungen in Italien und verwenden daher die Bezeichnung italienische Mafia synonym, weil häufig auch von russischer, rumänischer, chinesischer oder anderer Mafia die Rede ist. Begriffsbox 2.1: Organisierte Kriminalität »Organisierte Kriminalität ist die von Gewinnund/ oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig (a) unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, (b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder (c) unter Einflussnahme auf Politik, Massenmedien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.« (RiStBV 1991). <?page no="28"?> 28 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation oretisch argumentierte und Luhmann systemtheoretisch, ergänzen sich ihre Perspektiven in Bezug auf die Form der Organisation in sinnvoller Weise. Um also herauszufinden, wie wir Organisationen am besten sozialwissenschaftlich einordnen können, sehen wir uns im Vergleich verschiedene soziale Gebilde an und stellen drei einfache Fragen: (1) Wie kommen wir in dieses soziale Gebilde hinein? (2) Welche Mitgliedschaftsregeln - formale und informale - gelten für uns, wenn wir Mitglieder sind? (3) Wie kommen wir aus diesem sozialen Gebilde wieder hinaus. Diese drei einfachen Fragen sollen uns helfen zu verstehen, womit wir es zu tun haben. Natürlich könnten wir auch anders vorgehen und von Organisation sprechen, wenn wir es mit dem geplanten, koordinierten Handeln mehrerer Personen zu tun haben (wie es z.B. die Ermittlungsbehörden tun), aber dann fällt zu viel darunter und wir könnten Familien, Gruppen oder totale Institutionen nicht mehr voneinander unterscheiden bzw. müssten sie alle in diesem Aspekt als Organisationen führen. 2.1 Die italienische Mafia als Organisation? Ist die italienische Mafia im sozialwissenschaftlichen Sinne eine Organisation? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, beschäftigen wir uns zunächst mit den oben genannten drei Aspekten: 1. Wie ist der Eintritt bei der italienischen Mafia gestaltet? 2. Wie sind die Mafiosi in die italienische Mafia integriert, welche Regeln der Mitgliedschaft gelten und welche Zwecke werden verfolgt? 3. Auf welche Weise erfolgt der Austritt aus der italienischen Mafia? Bei der Beantwortung dieser Fragen müssen wir berücksichtigen, dass wir keine Insiderinformationen über die „italienische organisierte Kriminalität“ haben und nur darüber berichten können, was Polizei, Staatsanwält*innen und Richter*innen in aufgedeckten Fällen über die italienische Mafia herausgefunden haben. Dabei gibt es ein großes Dunkelfeld, das sich unserer Erkenntnis entzieht. Insbesondere wenn wir Roberto Scarpinato Glauben schenken, einem der bekanntesten Mafia-Jäger Italiens, operiert die italienische Mafia immer mehr im Stillen („mafia silente“) und immer mehr verdeckt von legalen Organisationen mit weltweiten Geschäftspraktiken auf globalen Märkten („marketist mafia“) (Scarpinato 2020: 44; vgl. dazu auch Le Moglie et al. 2022). Auch liegen länderübergreifend keine einheitlichen Definitionen und (mit wenigen Ausnahmen) belastbare Statistiken zur „italienischen organisierten Kriminalität“ vor, auf die wir unsere Analyse gründen können (Kirkpatrick 2020: 69). Dennoch gibt es durch die aufgedeckten Fälle, die von uns geführten Interviews und die verfügbaren Datenbanken der Justizbehörden hinreichend Indizien, um Antworten auf diese drei Fragen geben zu können und mit ihrer Hilfe zu einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Organisationen zu gelangen. <?page no="29"?> 2.1 Die italienische Mafia als Organisation? 29 Ein erstes alltagstheoretisches Verständnis der Mafia legt die Vorstellung einer Organisation nahe. Wir haben Hierarchien — von der obersten Position des sogenannten Paten oder »capo dei capi« über die »consiglieri« (Berater) bis hinunter zu den einfachen Mitgliedern (vgl. Arlacchi 1995; Paoli 1999) — und auch die Polizei spricht von organisierter Kriminalität (siehe Begriffsbox 2.1). Manche Expert*innen, wie z.B. Catino 2019; 2020: 70, sprechen im Falle der italienischen Mafia sogar von formalen Organisationen. Organisationen implizieren außerdem klare Anweisungsstrukturen, Über- und Unterordnungsverhältnisse und gemeinsame Ziele, die mit ihrer Hilfe verfolgt werden. All dies trifft auch für die italienische Mafia zu. Auf den ersten Blick ließe sich also sagen, bei der Mafia handelt sich um eine Organisation. Trotzdem stellt sich die Frage, inwiefern es - gemessen an der Beantwortung der drei Fragen - tatsächlich sinnvoll ist, die Mafia als eine solche zu bezeichnen. So zeichnen sich formale Organisationen in modernen Gesellschaften z.B. dadurch aus, dass sie Ein- und Austritte vertraglich regeln und die Beschäftigten nur in einem begrenzten Umfang formal beanspruchen, nämlich in ihrer Rolle als Personal. 5 Gilt das auch für die Mafia? Dazu kehren wir zur ersten Frage vom Anfang des Kapitels zurück: (1) Wie ist der Eintritt bei der italienischen Mafia gestaltet? Darüber kann man einiges sagen (vgl. Paoli 1999: 4 f.; Paoli 2003: 21; Meneghini et al. 2021: 7 ff.): Die italienische Mafia rekrutiert ihre Mitglieder in der Regel durch Zuwahl (Kooptation). Man kann sich nicht bewerben. Sehr häufig werden auch heute noch Familien- und Sippenmitglieder vorgeschlagen (vgl. nur Catino 2020: 73 ff.) und nach Abstimmung mit den anderen Mafia-Familienoberhäuptern aufgenommen. Eine reine Blutsverwandtschaft oder nur die Ehe mit einem Mafioso reichen hingegen nicht aus, um dazuzugehören. Je nachdem, mit welcher italienischen Mafia man es zu tun hat, werden auch weitere Familien und Clans, wie z.B. bei der Cosa Nostra, assoziiert (vgl. Catino 2020: 75). Die Mitgliedschaft ist nicht auf Blutsverwandtschaft beschränkt, aber die Auswahl ist sehr streng (ebd.). Auch sollte keine weitere Verwandtschaft mit Angehörigen der Polizei oder des Justizsystems vorliegen (vgl. ebd. 75). Die 'Ndrangheta ist die einzige Mafia, deren Mitgliedschaft ausschließlich auf Blutsbande und strategische Ehen zwischen Familien beruht (ebd.: 78). Eine Auswertung der Proton-Datenbasis, welche von 1985-2017 Daten zu 11.138 Straftäter*innen mit späterer Mafia-Zugehörigkeit in Italien enthält, zeigt darüber hinaus, dass gerade junge Rekrutierte (unter 27 Jahren) der italienischen Mafia in nicht wenigen Fällen vor Eintritt bereits schwere Straftaten begingen (Meneghini et 5 Siehe dazu Kapitel 4. <?page no="30"?> 30 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation al. 2021: 7 ff.). 6 Insofern ist auch von einer Art Bewährung im „kriminellen Geschäft“ auszugehen, die als Empfehlung für eine Mafia-Zugehörigkeit dienlich ist (ebd.: 12). Schulbildung ist dabei nicht von Belang. Nur ca. 10% der Mitglieder der italienischen Mafia, welche in diese Polizeidatenbank gelangten, weisen nach den Auswertungen von Meneghini et al. einen High-School-Abschluss auf. Auch wenn die italienische Mafia bisweilen mit assoziierten Gruppen von nicht clanzugehörigen Kriminellen zusammenarbeitet, bleibt sie in ihrem Kern bis heute durch Familenclans konstituiert (vgl. nur Scarpinato 2020; Catino 2020; Paoli 2020). Aber auch in der Art der Aufnahme mit den dazugehörigen Ritualen erkennt man eine Besonderheit: Der - nach Meinung von Expert*innen auch heute noch verlangte - Schwur von Gehorsamkeit und Schweigsamkeit bis in den Tod sieht einer Organisation nicht ähnlich und erinnert eher an geheimbündische Traditionen (vgl.dazu auch Paoli 2008a; 2020; de Donno 2009: 895 ff.; Sergi 2019: 14). 7 Auch außerhalb Italiens, beispielsweise bei der Ndranghetta in Australien, spielen diese Rituale eine wichtige Rolle (vgl. für Australien z.B. Sergi 2019: 14). Wie bei anderen Formen der organisierten Kriminalität gibt es auch bei der italienischen Mafia Initiationsrituale und rituelle Tötungspraktiken, welche zur Kultur der organisierten Kriminalität gehören (vgl. Paoli 2020; Catino 2020; Nicaso/ Danesi 2013; 2021: 6 etc.). 8 Wie bei anderen Formen organisierter Kriminalität auch hat die italienische Mafia ihre eigene Kultur mit Todesschwüren, Schweigegeboten, Tötungsritualen und Initiationsriten, die sie von einer Organisation unterscheiden. Damit nimmt der Eintritt nicht, wie in Organisationen üblich, die Form eines zweckgebundenen Kontrakts an, denn diese Verträge kann man immer auch kündigen. Die 6 While committing fewer offenses before recruitment, early recruits exhibited a higher frequency because they committed on average between one and two offenses in each year before recruitment (approximately three times the frequency of late recruits). A larger percentage of these offenses were violent and committed in cooperation with other offenders (ebd.: 12). 7 »Das Ritual selbst grenzt an Kitsch. Der angehende Ehrenmann Mafioso hält ein mit seinem Blut bespritztes, brennendes Heiligenbildchen in der Hand. Der Pate spricht dazu die Worte: ›Wenn du die ’Ndrangheta verrätst, wird dein Fleisch brennen wie dieser Heilige‹. Während die Flammen den Heiligen verzehren, schwört der Novize Gehorsam und Schweigsamkeit bis in den Tod« (vgl. Frentzen 2007; vgl. dazu auch: De Donno 2009). 8 “An OC (Organized Crime, d.V.) has its own culture, complete with a particular mode of communication, a code of behavior, secrecy pledges, rituals, rites of initiation, symbols, and a specified lifestyle. Without a cultural structure, the gang would simply be a group of thugs”. (Nicaso, Danesi 2021: 6). <?page no="31"?> 2.1 Die italienische Mafia als Organisation? 31 Mitgliedschaft in der Mafia hat die Form eines »Verbrüderungsvertrages«. 9 Sie setzt die Bereitschaft zu einer grundlegenden Veränderung der gesamten Person voraus und ist nach der vollzogenen Verbrüderung unkündbar, weil man »ein anderer Mensch« geworden ist. Dadurch schafft der Beitritt eine umfassendere Form von Zugehörigkeit, die Leib und Seele mit einschließt und damit weit über das hinausgeht, was eine Organisation üblicherweise von seinem Personal verlangt (vgl. dazu auch Hessinger 2002). In der Mafia wird man also komplett, mit Leib und Leben vereinnahmt und diese Totalinklusion betrifft oft nicht nur das eigene Leben, sondern auch das von Frau und Kindern, Familie und Sippe. Um einer späteren »Blutrache« (vendetta) zu entgehen, bringt die italienische Mafia im Falle von Konflikten nicht selten auch diese um. Die Totalinklusion bedeutet in diesem Falle aber nicht, dass man sich 24/ 7, wie in einem Gefängnis oder einer geschlossenen Psychiatrie, an einem Ort aufhalten muss, an dem jede Einzelheit des Verhaltens geregelt ist, sondern dass der potentielle Zugriff der Mafia auf die Person umfassend und ohne Grenzen ist. Die jederzeitige Verfügbarkeit und der unbedingte Gehorsam sind Elemente dieser Totalinklusion. Während jede Organisation formal Grenzen im Zugriff aufrechterhalten muss und durch Gesetze bereits in der Arbeitszeit und im Schutz der Privatheit sanktionsbewehrte Grenzziehungen beachten muss, gilt dies für die kriminelle Gemeinschaft der italienischen Mafia sowie für viele andere Formen organisierter Kriminalität nicht. Ein wichtiger Aspekt - denn um von Organisationen in einem sozialwissenschaftlichen Sinne sprechen zu können, bedarf es einer bestimmten Form der Mitgliedschaft. Sie ist zumeist kontraktuell geregelt, auch dann, wenn kein schriftlicher Vertrag geschlossen wurde. Der Eintritt erfolgt über eine vertragliche Bindung, welche der Austritt wieder auflöst, oft durch Kündigung oder im wechselseitigen Einvernehmen. Man kann Organisationen in dem von uns präferierten soziologischen Verständnis einfach daran erkennen, dass der Ein- und Austritt zwar an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, aber prinzipiell ohne Schaden für Leib und Leben möglich sein muss. 10 Denn nochmals: Jeder Vertrag ist kündbar, auch wenn darin gegebenenfalls Vertragsstrafen und Laufzeiten festgelegt sein sollten. Die Form der Mitgliedschaft gibt also bereits zu erkennen, mit welchem sozialen Gebilde wir es zu tun haben. Andere soziale Gebilde, wie z.B. Märkte oder Institutionen kennen hingegen in der Regel ebenso wenig eine formale Mitgliedschaft wie Familienverbände oder Sippen. Dies führt direkt zu unserer zweiten Frage: 9 Weber (1922/ 85: 401 f.) unterscheidet in diesem Zusammenhang »Status«-Kontrakte von »Zweck«- Kontrakten (siehe dazu auch Paoli 1999: 4 f.). Die Kriminologin Letizia Paoli (2003) bezeichnet die italienischen Mafiavereinigungen daher folgerichtig als »Bruderschaften«. 10 Siehe allerdings in diesem Punkt abweichend Luhmann (1964: 44). <?page no="32"?> 32 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation (2) Wie sind die Mafiosi in die Mafia integriert und welche Regeln der Mitgliedschaft gelten? Die Mitgliedschaft in Organisationen schafft eine Rolle, welche das Mitglied auszufüllen hat. Mit dieser Mitgliedschaftsrolle wird die Person zum Personal (siehe dazu auch Kap. 4). Sie beinhaltet die vertragliche Erlaubnis oder die Anforderung, das Arbeitsvermögen der Person in den Dienst der Organisation zu stellen. Die Person erkennt mit der Mitgliedschaft bestimmte Regeln an und verpflichtet sich zur Regelbefolgung. Mit dieser Mitgliedschaftsrolle sind aber zugleich die Zugriffsmöglichkeiten der Organisation zeitlich, sachlich und sozial begrenzt, denn moderne Gesellschaften versehen diese Rolle mit rechtlichen Normen, geschaffen von staatlichen Institutionen 11 und sorgen somit für die gesellschaftliche »Einbettung« von Organisationen. Zeitlich regeln Gesetze und Vereinbarungen zur Arbeitszeit die größtmögliche Beanspruchung des Personals. Sie darf z.B. in Deutschland 48 Stunden (einschließlich Überstunden) nicht überschreiten (§ 3, § 14 Abs. 3 ArbZG, zit. n. ArbG). Dasselbe gilt für die soziale Seite. So sind in Bewerbungsgesprächen z.B. Fragen nach den finanziellen oder familiären Verhältnissen, nach Vorstrafen oder Schwangerschaften rechtlich nicht erlaubt (§ 7 AGG), solange sie nicht einer Ausübung der Tätigkeit im Wege stehen (§ 8 Abs. 1 AGG). Auch sachlich kann die Organisation das Recht auf freie Meinungsäußerung der Person nicht einschränken, solange u.a. die »Treuepflicht« gegenüber dem*der Arbeitgeber*in sowie die Persönlichkeitsrechte anderer Personen durch die Ausübung dieser Meinungsfreiheit unberührt bleiben (Art. 5 Abs. 2 GG). Damit wird deutlich: Die gesellschaftlichen und rechtlichen Regeln sind so formuliert, dass die Mitgliedschaftsrolle in einer Organisation nie total vereinnahmend sein soll. Im Falle einer durchgängig anderen Fassung der Mitgliedschaftsrolle - wie z.B. bei der italienischen Mafia - hat man es im sozialwissenschaftlichen Sinne mit keiner 11 Man denke beispielsweise an Bildungspolitik, Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik etc. Begriffsbox 2.2: Mafia als Organisation? Die Mafia ist im sozialwissenschaftlichen Sinne keine Organisation, weil der Eintritt nicht zweckvertraglich geregelt ist; die Mitgliedschaft nicht kündbar ist; eine Vereinnahmung der Person mit Leib und Leben stattfindet; das Personal kaum austauschbar ist und unbedingter Gehorsam verlangt wird. <?page no="33"?> 2.1 Die italienische Mafia als Organisation? 33 Organisation mehr zu tun, sondern mit einem anderen sozialen Gebilde wie z.B. Familien, andere Gemeinschaften (oder »totalen Institutionen«). Organisationen sind in modernen Gesellschaften gerade daran erkennbar, dass sie es dem Personal ermöglichen, mehrere Rollen anzunehmen und auszufüllen, an mehreren gesellschaftlichen Wertsphären oder Teilsystemen zu partizipieren. Auch wenn es uns manchmal anders vorkommt: Moderne Organisationen beanspruchen uns in unserer Mitgliedschaftsrolle nicht total, sondern immer nur in Teilen, also partial. Um diesen Umstand zu beschreiben, benutzt die Soziologie den Begriff der »Partialinklusion« und unterscheidet diesen von der »Totalinklusion« (siehe Kap. 4, Scherm/ Pietsch 2007, Kieser/ Walgenbach 2010, Laux/ Liermann 2005). Auf diese Weise gewinnt man einen sinnvollen Zugriff zum Phänomen der Organisation, das dadurch vor allem von anderen sozialen Anstaltsformen unterschieden werden kann. So sind Gefängnisse und Psychiatrien, aber auch Familien oft total inkludierend und verlieren spätestens dann für die Insass*innen, Patient*innen oder Familienmitglieder den Charakter einer Organisation, weil der Ein- und Austritt nicht mehr nach Belieben der »Vertragspartner*innen« erfolgen kann. So wie die Person den Vertrag mit der Organisation kündigen kann, ist dies für die Organisation selbstverständlich auch möglich. Anders als bei Gruppen oder Familien (siehe dazu auch Kapitel 2.4) ist für Organisationen ihr Personal prinzipiell austauschbar. Deswegen sind Arbeitsmärkte für sie relevant. Die Austauschbarkeit des Personals ist konstitutiv für die Organisation (siehe ausführlich auch Kap. 4). Sie begrenzt dadurch ihre Abhängigkeit von einzelnen Personen. Theoretisch und praktisch könnte eine Organisation in kurzer Zeit ein Großteil ihres Personals austauschen, ohne ihre Existenz infrage zu stellen und ihre Legitimität zu verlieren. Wie anders ist dies bei der Mafia? ! Sie könnte weder ihr ganzes Personal einfach austauschen noch einzelne Mitglieder oder Führungskräfte, auch wenn sicherlich das Auslöschen einer Mafia- Familie die Mafia als Phänomen nicht gefährdet (Paul und Schwalb 2011: 134). Als verschworene Gemeinschaft ist sie jedoch in Bezug auf die Austauschbarkeit ihrer Mitglieder sensibel und macht sich auch strategisch von Personen und Familien abhängig. Wenn Personal ausgetauscht wird, gelingt dies oft nur durch Intrigen und Morde. Welche Zwecke werden auf Basis welcher Strukturen verfolgt? Die Mafia ist zwar im sozialwissenschaftlichen Sinne keine Organisation, aber sie hat Strukturen und Koordinationsformen, welche Organisationen ähneln. Zumindest werden diese von ihr simuliert. Sie ist eine Zweckgemeinschaft, die sich eine Hierarchie gibt und Karrieren kennt (Arlacchi 1995; Paoli 1999). <?page no="34"?> 34 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Abbildung 2.1: Koordinationsform der Cosa Nostra nach Catino (2020) Nach Catino (2020: 75) zeichnen sich die Familien der Cosa Nostra durch eine Hierarchie aus, in der die der Macht klar definiert ist: vom Picciotto (Soldat) am unteren Ende bis zu den Familienoberhäuptern (siehe Abb. 1). Die Soldaten, auch als "Ehrenmänner" bezeichnet, führen operative Befehle aus. Der capodecina ("Zehnerchef") leitet eine Mannschaft von Soldaten, die je nach Größe der Familie zwischen 5 und 30 in der Zahl sind. Der Chef wird von den Soldaten gewählt und trifft die Entscheidungen. Der Chef ernennt einen Unterboss, der in seiner Abwesenheit Entscheidungen trifft. Berater*innen oder Seelsorgende beraten den Chef und dienen als Bindeglied zu den Soldaten (ebd.). Abbildung 2.2: Koordinationsform der ‘Ndrangeta nach Catino (2020) Innerhalb jeder Familie der Ndranghetta gibt es eine starke Hierarchie, die auf Doti (Ränge) und Cariche (Ämter) basiert, die alle mit besonderen Zeremonien verliehen werden (siehe Abb. 2). Die Dienstgrade repräsentieren die Verdienste, die sich die Mitglieder im Laufe ihrer Karriere erworben haben. Sie steigen mit der Anzahl und Schwere der Verbrechen an und können nur mit Zustimmung der kalabrischen Zentrale verliehen werden. Der nominelle Rang des giovane d'onore (junger Ehrenmann) wird durch "Blutrecht" bei der Geburt der Söhne der 'ndranghetisti‘ verliehen. Der <?page no="35"?> 2.1 Die italienische Mafia als Organisation? 35 erste wirkliche Rang ist der picciotto d'onore (Ehrenmann), der lediglich dazu bestimmt ist Befehle auszuführen. Der wichtigste, allgemein anerkannte Rang ist der padrino, der "Pate“. Auch wenn es verschiedene Koordinationsformen der verschiedenen italienischen Mafias (Camorra, `Ndrangheta, Cosa Nostra) gibt, welche sich zudem im Laufe der Zeit wandeln (siehe nur Catino 2020) steckt hinter allen - trotz aller Modernisierung - doch das dominante Muster der Clan-Kriminalität. Die von Catino erstellten Organigramme sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es nicht mit formalen Über- und Unterordnungsverhältnissen mit Weisungs- und Zeichnungsbefugnissen zu tun haben, sondern mit sanktionsbewehrter, gewaltbasierter krimineller Willkür im Kontext von Clan-Gemeinschaften. Ihren Aktionen liegt eine paradoxe Umkehrung herkömmlichen Organisationsgeschehens zugrunde: Formale Organisationen bewegen sich nicht im rechtsfreien oder gar im berufskriminellen Raum und versuchen deshalb, im Regelfall kriminelle Aktivitäten ihrer Mitglieder negativ zu sanktionieren (siehe dazu auch ausführlich Kap. 8). Die Mafiosi hingegen sind bei Strafe für Leib und Leben zu kriminellen Handlungen verpflichtet, wenn diese ihnen aufgetragen werden. Ein Auftragsmörder kann sich nicht plötzlich entscheiden, sich an die Gesetze zu halten, wenn er einen Mord verüben soll. Unbedingter Gehorsam ist gefordert, um die kriminellen Machenschaften der Mafia voranzutreiben, während Organisationen in der Regel auf bedingte Gehorsamkeit abonniert sind. Man kann als Personal zu Entscheidungen des*der Vorgesetzten auch »nein« sagen oder in einem Unternehmen die kriminelle Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke ablehnen. Organisationen sind im Weber‘schen Sinne immer insofern Herrschaftsformen, als sie auf der freiwilligen Anerkennung von Regeln basieren und diese Anerkennung jederzeit durch die Mitglieder wieder entzogen werden kann: Sehe ich als Mitglied den Zweck wichtiger Mitgliedschaftsregeln nicht mehr ein, dann muss ich gegebenenfalls die Organisation verlassen (Luhmann 1964: 36). Diese Möglichkeit des (oft nicht sanktionierten) Entzugs von Anerkennung eröffnet die Mafia nicht. Sie ist keine reine Herrschaftsform, sondern immer auch eine auf traditionelle Normen gegründete, gemeinschaftliche Ausübung von Macht und Gewalt, in welcher der Wille des Paten gerade auch gegen Widerstand vollstreckt werden muss (siehe hierzu auch ausführlich Kap. 5 und Kap. 6). Damit ist die Hierarchie keine für Organisationen typische Stellenhierarchie, sondern es handelt sich eher um das Resultat der mittelfristigen Über- und Unterordnung nach Maßgabe eines absoluten Machtanspruchs. 12 12 Siehe dazu die Definition des Begriffs »absolute Macht« nach Sofsky (1994) in Kapitel 3. <?page no="36"?> 36 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation (3) Wie kann man die italienische Mafia wieder verlassen? Für eine soziologische Betrachtung wichtig ist auch die Frage, wie sich der Austritt aus der italienischen Mafia gestaltet. Auch hieran kann man gut erkennen, ob und inwieweit wir es mit einer Organisation zu tun haben. Können die Mitglieder der Mafia einfach kündigen oder gehen, wenn sie nicht mehr mitwirken wollen? Die Antworten auf die Frage haben wir oben bereits angedeutet. Bis heute ist es so, dass nur der - oftmals mutwillig herbeigeführte - Tod die Mitgliedschaft beendet. Die Auftragsmörder*innen und Verbündeten von Salvatore 'Totò' Riina, dem Boss der Mafia aus Corleone in den frühen 1980er-Jahren, ermordeten nicht nur reihenweise Richter*innen, Polizei- und Justizbeamt*innen, christdemokratische und kommunistische Spitzenpolitiker*innen, Journalist*innen, Ärzt*innen oder Priester*innen. Nein, sie massakrierten auch ganze Familien von zu Feinden erklärten Mafiosi. Insgesamt kam der Blutzoll auf schätzungsweise 2000 Tote, die von 1981 bis 1983 Opfer des Mafia-Krieges in Italien wurden (vgl. Pfletschinger und Spadi 2004: 8 f.). Dabei ist ihre Anzahl sicher noch unterschätzt. Nicht nur der reale Mafia-Krieg, sondern auch viele andere Tötungsdelikte sprechen eine deutliche Sprache: Die Mafia ist keine »Organisation«, aus der man lebend austreten kann. Zumeist erfolgt der Austritt durch den Tod oder die Tötung des Austrittswilligen sowie nicht selten auch von deren Familien. Selbst wenn man ins Gefängnis kommt, ist man vor dem Zugriff der Mafia nicht gefeit. Allein ein Zeugenschutzprogramm des Staates vermag vielleicht noch vor dieser häufigen Austrittsform zu schützen, sicher sind sich die Zeug*innen diesbezüglich jedoch nicht. 13 Selbst hier, in den 13 Das zeigt u.a. das Interview mit dem geständigen Mafia-Killer Basile: »Sie werden mich finden«, flüstert Basile (ehemaliger Mafia-Killer im Zeugenschutzprogramm, d. V.). »Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann. Gott vergibt — die Mafia nie«. Zum Schluss des Interviews zeigt sich doch noch so etwas wie eine Gefühlsregung unter der Maske des »eiskalten Engels«. »Damals waren wir Bestien. Kein Richter kann uns bestrafen, nur Gott — wenn es einen gibt.« (Vgl. Hell 2006). Begriffsbox 2.3: Die italienische Mafia als traditionale kriminelle Gemeinschaft Die italienische Mafia erscheint gemessen an ihren Mitgliedschaftsregeln als eine „traditionale Vergemeinschaftungsform“, mit 1. rituellem „geheimbündnerischen“ Eintritt; 2. Zugehörigkeit bis zum Tod; 3. Vereinnahmung der Person mit Leib und Leben; 4. Haftung von Familie und Sippe; 5. Schweigensgebot und Blutrache; 6. unbedingtem Gehorsam und unbedingter Hierarchie. <?page no="37"?> 2.2 Die Bekämpfung der Mafia 37 vorgenommenen Tötungsdelikten der italienischen Mafia kommen wieder Tötungsrituale, wie z.B. ‘‘Lupara Bianca’’ (‘‘White Lupara’’), ins Spiel, bei denen die Opfer mit einer speziellen Waffe (Lupara) getötet und ihr Leichnam danach verbrannt wird (vgl. z.B. Mondello et al. 2019: 31; De Donno et al. 2009; Pomara et al. 2015). Wir haben damit gesehen, dass die italienische Mafia im sozialwissenschaftlichen Verständnis ihrer Mitgliedschaftsregeln keine Organisation ist. Unsere Einblicke legen eher ein Verständnis als »traditionelle Vergemeinschaftungsform« 14 nahe, die mit geheimbündlerischer krimineller Ausrichtung auf die von Gewinnund/ oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten zielt. 15 Sie setzt dabei strategisch am höchsten Gut der Menschen an, an deren körperlicher Unversehrtheit. Mord und Totschlag, die Gefährdung von Leib und Leben sind konstitutiv für die Geschäftspolitik der Mafia, Blutrache an Familie und Sippe Bestandteil ihrer Tradition. Für die organisierte Kriminalität typisch gelingt es ihr, sich in Verbindungen mit der Bevölkerung sowie dem Machtapparat langlebig zu institutionalisieren und ihre vormodernen, archaischen Wurzeln zu bewahren. Sie folgt dabei männerbündischen Traditionen, da ihre Mitgliedschaft fast ausschließlich männlich ist. Sie weist komplexe, hierarchische Koordinationsformen auf und starke kulturelle sowie rituelle Elemente. Für ihre Mitglieder erzeugt sie eine starke Identität und - wenn keine Realien vorliegen - fiktive verwandtschaftliche Bindungen mit einer Zugehörigkeit bis zum Tod (vgl.Paoli 2020: Zusammenfassung). 2.2 Die Bekämpfung der Mafia Es ist der 23. Mai 1992. Drei Autos nähern sich dem Ort Capaci in Richtung Palermo, als in einem Abflussrohr unter der Fahrbahn 500 Kilo Sprengstoff ferngezündet werden. Die drei Autos werden von der Wucht der Explosion hochgeschleudert. Die Leibwächter sterben im Trümmerfeld. Auch Giovanni Falcone ist sofort tot, seine Frau, Francesca Morvillo, stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Nur 55 Tage später, am 19. Juli 1992, werden der Richter Paolo Borsellino und seine Leibwächter in Palermo durch eine ferngezündete Autobombe hingerichtet. Es geschieht vor dem Haus der Mutter Borsellinos (vgl. Pfletschinger und Spadi 2004: 14 f.). 14 Siehe Weber (1922/ 85: 21 f.) zum Begriff der »Vergemeinschaftung« und für Beispiele weiterer Formen. 15 Luhmann (2008) hatte stattdessen von »Netzwerken personalisierter Hilfsbereitschaft« gesprochen. In diese Richtung argumentieren auch eher sozio-ökonomisch orientierte Analysen (Gambetta 1988; 1994) - gleichwohl aus unterschiedlichen Gründen (vgl. Paul und Schwalb 2011: 133 f.). <?page no="38"?> 38 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Infobox 2.1: Die Mafia-Bekämpfung der italienischen Justiz — Falcone und Borsellino »Giovanni Falcone wird am 18. Mai 1939 in Palermo geboren. Sein Vater ist Chemiker, seine Mutter Hausfrau. Giovanni wächst in der Kalsa, dem sogenannten arabischen Viertel Palermos auf, einer Hochburg der aggressivsten Mafia- Familien. Er hat Schulkameraden, die er rund dreißig Jahre später als Mafiabosse verhaften wird. 1961 promoviert er an der Juristischen Fakultät der Universität Palermo. 1979 holt der leitende Oberstaatsanwalt Rocco Chinnici, der die im Rauschgifthandel involvierten Mafia-Clans verfolgt, den 40-jährigen Falcone in den Justizpalast von Palermo. Im gleichen Jahr ermordet die Mafia den Untersuchungsrichter Cesare Terranova, der erfolgreich in diesem Ambiente ermittelt hatte. Oberstaatsanwalt Chinnici übergibt Falcone 1980 die Ermittlungen gegen italoamerikanische Mafia-Familien, die mittlerweile tonnenweise Heroin und Kokain in die USA schmuggeln und nicht mehr wissen, wohin mit den Abermillionen Dollars aus diesem Geschäft. Falcone knüpft in den USA die ersten Kontakte mit amerikanischen Staatsanwälten und Ermittlern, fängt an, die Spur des schmutzigen Geldes zu verfolgen. Paolo Borsellino wird am 19. Januar 1940 geboren, ebenfalls in Palermo. Seine Eltern waren Apotheker und Anhänger des faschistischen Diktators Benito Mussolini, der eine ganze Armee nach Sizilien geschickt hatte, um die Mafia zu entmachten.« (Pfletschinger und Spadi 2004: 7). »Borsellino, ehemaliger Funktionär der neofaschistischen Studentenorganisation FUAN, wird nach seinem Jura-Studium an der Universität Palermo 1975 von Rocco Chinnici in den Justizpalast von Palermo geholt. 1980 verhaftet Borsellino sechs Mafiabosse, sein engster Mitarbeiter, der Capitano der Caribinieri Emmanuele Basile, wird von der Mafia ermordet. Als Falcone und Borsellino sich 1979 im Büro ihres Chefs Oberstaatsanwalt Rocco Chinnici begegnen - der eine Wähler einer kommunistischen Partei, der andere Anhänger des untergegangen faschistischen Regimes — hätte es eigentlich zu einer explosiven Auseinandersetzung kommen müssen. Es kam anders. Das gemeinsame Ziel, Quelle: Wikimedia Commons, File: Falcone e borsellino murales.JPG, Mural painting inspired by the most famous image of Italian magistrates Giovanni Falcone and Paolo Borsellino. Painting found on a wall of University of Calabria campus Quelle: Wikimedia Commons, File: Giovanni Falcone tree.jpg, Giovanni Falcone memorial tree, in Palermo <?page no="39"?> 2.2 Die Bekämpfung der Mafia 39 die Bekämpfung der Mafia, vereinte zwei Männer mit diametral entgegengesetzten politischen Überzeugungen, ließ sie zu unzertrennlichen Freunden werden.« (Pfletschinger und Spadi 2004: 7). Giovanni Falcone stand kurz vor seiner Ernennung zum Leiter einer neuen, nationalen Anti-Mafia-Behörde, einer Art Generalstaatsanwaltschaft für Mafia-Delikte, als er ermordet wurde. Das italienische Parlament hatte das Strafgesetz für Mafia-Delikte verschärft. Gerichte konnten nun bei Verurteilungen Isolationshaft in Hochsicherheitsgefängnissen verhängen. Damit findet eine Episode im Kampf der italienischen Justiz gegen die Mafia ihren traurigen Abschluss. Sie begann auch im richtigen Leben — wie im Film - im sizilianischen Corleone, endete für viele Mafiosi im Gefängnis und für Falcone und Borsellino mit dem Tod. Beide hatten zusammen mit Giuseppe Di Lello sowie verbündeten Richter*innen und Staatsanwält*innen im November 1985 an die 500 Mafiosi vor Gericht gestellt und im Maxi-Prozess in Palermo im Dezember 1987 die Verurteilung von etwa 350 angeklagten Mafiosi zu fast 2600 Jahren Haft erreicht. Ihre »Strafe« folgte auf dem Fuße (vgl. Pfletschinger und Spadi 2004: 12-15). Trotz dieser Erfolge von Falcone, Borsellino und anderer seit Ende der 1990er-Jahre, aufgrund effektiverer Anti-Mafia-Gesetze und deren Vollstreckung durch italienische Strafverfolgungsbehörden, konnte die Mafia aber nicht endgültig besiegt werden. Sie stellt nach wie vor eine ernstzunehmende Gefahr für die staatliche Ordnung in Süditalien dar. Sie wurde schon oft für tot erklärt und ging doch immer wieder gestärkt aus Phasen der existenziellen Krise hervor (vgl. Paoli 2008b: 21-27). Auf Basis des von uns erarbeiteten sozialwissenschaftlichen Verständnisses von Organisationen lässt sich nun auch in einem Aspekt begründen, woran dies liegt. Während die Mafia mit den archaischen Mitgliedschaftsregeln einer traditionalen Gemeinschaft operiert, totalinklusiv und entgrenzt, oft abzielend auf die (heute nicht mehr immer nur gewaltvolle, sondern bisweilen auch digitale) Bedrohung der sozialen oder körperlichen Existenz, stehen ihr bei den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden Organisationen mit kontraktuell gebundenem, oft schlecht bezahltem Personal gegenüber. Für diese ist der Einsatz von Leib und Leben eher die Ausnahme als die Regel. Zwar kann sich »[f]ür Beamte der Polizei, des Strafvollzugs und der Feuerwehr (…) in bestimmen Situationen sogar die Pflicht ergeben, Leben und Gesundheit einzusetzen. Einem Polizeibeamten darf der Einsatz des Lebens jedoch nur dann zugemutet werden, wenn dies zur Abwehr von Gefahren für vorrangige Rechtsgüter des Staates oder der Bürger erforderlich und das einzugehende Risiko kalkulierbar ist.« (Jäger o.J.). Damit wird klar, woraus in diesem Aspekt die Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der Mafia resultieren: Ihr steht im Regelfall das Personal moderner <?page no="40"?> 40 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Organisationen gegenüber, und für dieses kommt nur in Einzelfällen eine ähnlich radikale Vereinnahmung überhaupt in Frage. Wer nimmt schon die Gefährdung seiner Person, von Frau, Kindern und Verwandten im Kampf gegen die Mafia für eine Organisation in Kauf, die sich im Regelfall weder besonders dankbar zeigt noch den Job außerordentlich gut bezahlt oder mit besonderen Karrierechancen versieht? Keine Organisationen, auch nicht Polizei und Justiz, können aufgrund der Grenzen der Inklusion ihrer Mitglieder regelmäßig so viel Engagement und Hingabe erzeugen, dass Leib und Leben gegen die Mafia dauerhaft eingesetzt werden. Falcone und Borsellino oder Scarpinato gehörten zu den wenigen Ausnahmen, welche diese Regel bestätigten. Jedenfalls ergibt sich dieser Strukturnachteil der modernen Organisation bei der Bekämpfung der Mafia daraus, dass diese eben keine Organisation ist. Dies ist die Pointe unserer Begriffsklärung. Wir sehen nun nicht nur, dass die Mafia im sozialwissenschaftlichen Sinne keine Organisation ist, sondern auch, was daraus folgt: Dadurch, dass ihr moderne Organisationen mit ihren partial inkludierenden Mitgliedschaftsregeln gegenüberstehen, kann sie nur schwer bekämpft und in ihrer Operationsweise eingedämmt werden. Sie kann mit rechtsstaatlichen Mitteln eingedämmt, mittels Polizei- und Justizorganisation verfolgt, aber dennoch nicht vollständig eliminiert werden (Paoli 2008a). So bleibt die Mafia gerade durch ihre »Zurückgebliebenheit« als Vergemeinschaftungsform der modernen Polizei- und Justizorganisation immer einen Schritt voraus. Ein soziales Gebilde aus einer alten Welt, die in die neue Welt der Organisationen hineinragt und deren Strukturmerkmale oft als defizitär erscheinen lässt (Baecker 2000). Weil und solange es der Mafia gelingt, sich strategisch an moderne Organisationen zu koppeln und deren Positionen systematisch auszubeuten bzw. zu korrumpieren (vgl. Luhmann 2000: 385 ff; 2008.), könnte sie sich auch weiterhin als ausgesprochen vital erweisen. 16 Aber natürlich lassen sich noch viele andere strukturelle Gründe anführen, welche der organisierten Kriminalität, den italienischen Mafias in manchen Aspekten einen Vorteil verschaffen. Schenkt man z.B. Scarpinato (2020) und Kirkpatrick (2020) Glauben, operiert die italienische organisierte Kriminalität zunehmend global, über Ländergrenzen hinweg, während die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden - trotz vielfältiger Formen der internationalen Zusammenarbeit - immer noch an nationalstaatliche oder in Deutschland sogar an föderale Grenzen gebunden sind. Auch hat 16 Weitere Strukturbedingungen, die zwar die Existenz der Mafia nicht erklären, aber ihr das Leben erleichtern, sind die wirtschaftliche Unterentwicklung im sogenannten »Mezzogiorno« (Süditalien) und damit zusammenhängend die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit (bis über 70 %), die eine »Reservearmee« für kriminelle Arbeitskraft bereitstellt (vgl. Paoli 2008b: 27). <?page no="41"?> 2.3 Auf dem Weg zu einem komparativen Organisationsverständnis 41 die Unterwanderung legaler Wirtschaftsorganisationen und haben die finanztechnischen Verschachtelungen bspw. zur Geldwäsche weiter zugenommen, während in Deutschland die Beweislastumkehr immer noch nicht parlamentarisch verabschiedet wurde. Die „stille Mafia“ operiert zunehmend auch digital, während die Digitalisierung der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden mit dem Tempo der Digitalisierung bei der organisierten Kriminalität kaum mithalten können. Wir könnten hier weitere Aspekte anführen, warum sich die Mafias so schwer bekämpfen lassen, doch das ist nicht das Ziel dieses Kapitels. Wir wollen nur zeigen, was wir gewinnen, wenn wir den Begriff der Organisation klar an die Mitgliedschaftsregeln binden und dass wir dann sehen, dass die italienische Mafia in dieser Perspektive keine Organisation ist und dass dies große Folgen für ihre Bekämpfung zeitigt. Wir gewinnen dadurch ein sozialwissenschaftliches Argument, warum die Mafias sich trotz ihrer wechselhaften kriminellen Erträge über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte hinweg als kriminelle Begleiterscheinung von ganz verschiedenen Gesellschaften und historischen Gesellschaftsformationen fest etablieren konnten. Nicht, weil die Mafiosi so smart, gerissen und skrupellos wie in den entsprechenden Netflix-Serien sind, sondern weil es Organisationen wie der Polizei und der Justiz hier mit archaischen Gemeinschaften zu tun bekommen, die ihren wunden Punkt treffen: den unbegrenzten Einsatz von Leib und Leben, den moderne Organisationen weder ermöglichen können noch wollen oder dürfen. 2.3 Auf dem Weg zu einem komparativen Organisationsverständnis Im ersten Schritt haben wir einige Merkmale moderner Organisation kennengelernt und Antworten darauf gefunden, warum die Mafia im sozialwissenschaftlichen Sinne keine Organisation ist. Im zweiten Schritt wollen wir dieses Verständnis vertiefen und durch den idealtypischen Vergleich mit anderen sozialen Formen die Besonderheiten von formalen Organisationen weiter herausarbeiten. Ziel ist es, in idealtypischer Zuspitzung 17 ein komparatives Organisationsverständnis zu gewinnen, welches die formale Organisation in modernen Gesellschaften von sozialen Phänomenen »totale Institution«, »Gruppe«, »Netzwerk« und »Markt« unterscheidbar werden lässt, auch wenn sie organisationale Eigenschaften besitzen. Dabei werden wir versuchen, die Typen in soziologischer Geschlossenheit zu kontrastieren. Diese Typen begreifen 17 Mit einem Idealtypus ist hier in Anlehnung an Max Weber eine Heuristik angesprochen, die auf Basis erster empirischer Erfahrungen versucht, die kulturbedeutsame Logik des Phänomens in utopischer Geschlossenheit dazulegen. Sie dient dazu, »Ordnung ins Chaos der Empirie« zu bringen und Hypothesen zu formulieren, die einer genaueren empirischen Prüfung unterzogen werden können (vgl. Weber 1904/ 1988: 190 ff., zum Begriff des Idealtypus siehe auch Albert 2006, Abels 2009, Schluchter 2005). <?page no="42"?> 42 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation wir als kulturbedeutsame Heuristik, die — zu Erkenntniszwecken konstruiert — dazu dienen soll, das sozialwissenschaftliche Verständnis von Organisationen zu vertiefen. Nicht nur die Mafia, sondern auch andere soziale Gebilde sind total vereinnahmend. Dazu gehören in bestimmten Phasen Familien, aber auch verschiedene Anstalten wie Gefängnisse, geschlossene forensische Psychiatrien, Klöster und teilweise auch Flüchtlingscamps (Peterie 2018). Wir nennen sie deswegen in Anlehnung an Goffman (1973) »totale Institutionen« (vgl. dazu auch Sundberg 2022). Wer als Patient*in oder Strafgefangene*r in eine geschlossene forensische psychiatrische Anstalt oder in ein Gefängnis eingeliefert wird, verliert vorübergehend das Recht des freien Ein- und Austritts ebenso wie die Möglichkeit, in dieser Zeit seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen (Art. 104 GG; § 1906 BGB). Dabei werden die Patient*innen oder Insass*innen total inkludiert. Goffman (1973) hat diese Vereinnahmung am Beispiel von Psychiatrien in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts analysiert und ist in Bezug auf sogenannte totale Institutionen zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen (vgl. ebd.: 17): 18 Totale Institutionen sind insofern allumfassend, als sich das Leben aller Mitglieder nur an diesem einzigen Ort abspielt und sie einer einzigen zentralen Autorität unterworfen sind. Die Mitglieder der Institution verrichten ihre alltägliche Arbeit in unmittelbarer Nähe ihrer Schicksalsgefährten, wobei alle gleich behandelt werden und die gleiche Tätigkeit ausüben. Explizite Regeln systematisieren alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen der Mitglieder. Diese Regeln werden durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben. Die Mitglieder werden überwacht, ihre Tätigkeiten und Lebensäußerungen sind durch einen einzigen rationalen Plan determiniert, der der Zielerreichung der Institution dienen soll. Mögen diese Schlussfolgerungen auch heute umstritten sein und stellt sich die Situation in den Psychiatrien aktuell ganz anders dar, an der Form einer temporären totalen Vereinnahmung hat sich nichts geändert (vgl. Meier 2009; Schülein 2007; Jenkings et al. 2022). Wichtig ist u.a., dass hier die zentralen Autoritäten auch dann handlungsfähig bleiben, wenn die Insass*innen die Anerkennung der Ordnung versagen. 18 Zum Begriff siehe u.a. Esser (2000), Miebach (2014: 111), Vester (2009). Siehe auch neuere Studien zum Gegenstand »totale Institution« (Göbel 2012, Täubig 2009, Knecht 2007). <?page no="43"?> 2.3 Auf dem Weg zu einem komparativen Organisationsverständnis 43 Tabelle 2.1 Idealtypischer Vergleich der Merkmale von totalen Institutionen und Organisationen Totale Institution Organisation unfreier Einund/ oder Austritt kontraktuell geregelter Ein- und Austritt Totalinklusion der Mitglieder bzw. des Klientels mit Leib und Leben Partialinklusion der Mitglieder begrenzter Zugriff auf Leib und Leben teilweise Verlust der Bürgerrechte Beibehaltung der Bürgerrechte Machtausübung Herrschaft Dennoch nehmen manche totalen Institutionen, wie z.B. Gefängnisse, Psychiatrien oder teilweise auch Krankenhäuser, zugleich Organisationsformen für ihr Personal an. Denn dieses ist, wie in anderen Organisationen auch, kontraktuell gebunden und partial inkludiert. Gefängnisse und Psychiatrien sind People-Processing Organisationen, deren Leistungsrollen in der Regel mit Personal besetzt sind, das - ggf. anders als ihr Klientel - freiwillig ein- und austreten kann. Sogenannte »Zwangsorganisationen«, wie z.B. eine Armee mit Wehrpflichtigen, bei welcher weder der Eintritt noch der Austritt freiwillig ist, erscheinen nach dem hier vorgestellten Organisationsverständnis als hybride Formen. Sie sind auch als Berufsarmeen für die Soldaten und Soldatinnen potenziell total inkludierend und stellen den Austritt vor Ablauf der Verpflichtung oder im Kriegsfalle unter Strafe. Sie entfalten aber für ihre zivilen Angestellten Organisationscharakter (vgl. für eine Diskussion von »Zwangsorganisationen« als Ausnahmefall in modernen Gesellschaften Kühl 2014a: 346). Goffman selbst unterscheidet fünf Gruppen von totalen Institutionen (Goffman 1961/ 2009: 4 f.): 1. zur Fürsorge von unselbstständigen und harmlosen Menschen (Blinden-, Alters-, Kinderheime, Waisenheime und Psychiatrische Kliniken) 2. zur Fürsorge von unselbstständigen Personen, die in irgendeiner Weise eine Gefahr für sich oder für die Gesellschaft darstellen (Tuberkulosesanatorien, forensisch-psychiatrische Kliniken) 3. zum Schutz der Gesellschaft vor Personen, die als gefährlich angesehen werden; nicht primär zum Wohle der abgesonderten Personen (Gefängnisse, Kriegsgefangenenlager, Konzentrationslager) 4. mit arbeitsähnlichen oder militärischen Zielen (Kasernen, Internate, Schiffe, Arbeitslager) 5. als Zufluchtsort oder religiöse Ausbildungsstätten (Abteien, Klöster, Sekten) <?page no="44"?> 44 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Dabei gibt es für total vereinnahmende soziale Formen, wie z.B. sogenannte »naturwüchsige« Gruppen — d.h. Stämme, Familien oder Sippen — ein weiteres Unterscheidungsmerkmal. Sie lassen sich Adorno (1953) zufolge allein dadurch von der Organisation unterscheiden, dass sie in der Regel kein zur Erreichung eines Ziels geschaffener und zielorientiert gelenkter Zweckverband sind. Damit gewinnen wir neben der Art des Ein- und Austritts sowie der Totalinklusion ein weiteres wichtiges Kriterium, um Organisationen von »naturwüchsigen« Gruppen wie Familien, Clans und Sippen zu unterscheiden. Denn in der Tat sind die freie Wahl der Zwecke und die gezielte Schaffung eines Zweckverbandes wichtige Elemente jeder Organisation. Sie kann ihre Zwecke nicht nur selbst bestimmen, sondern auch die Mitgliedschaft wird daran orientiert (Luhmann 1964: 108 f, Preisendörfer 2008, Müller-Jentsch 2003). Dieser Aspekt des Organisierens wird heute noch von vielen Organisationssoziolog*innen als ein wesentliches Charakteristikum dieses sozialen Gebildes verstanden (vgl. Abraham/ Büschges 2009). In der Regel erfolgt der Eintritt in eine Familie durch Geburt und später werden nicht selten neue Familien gegründet - u.a. durch Eheschließung oder Kohabitation. Der Austritt kann zum einen durch den Tod erfolgen, durch die Freigabe zur Adoption oder, bei kontraktuell gebundenen Partner*innen, durch eine Scheidung. Bei Familien besteht zudem nur bei, durch die Ehe oder Adoption kontraktuell gebundenen Partner*innen oder Kindern eine vertraglich und rechtlich konditionierte Austauschbarkeit. Bei einer Minderjährigenadoption sind allerdings der Aufhebung der Adoption in Deutschland sehr enge Grenzen gesetzt (§ 1771 BGB). Von ihren leiblichen Töchtern oder Söhnen können sich die Eltern nicht einfach scheiden lassen oder umgekehrt die Kinder von ihren Eltern. Allerdings könnten Eltern unter bestimmten Bedingungen ihr Kind zur Adoption freigeben, aber dies ist in Deutschland eine für Ausnahmefälle reservierte, durch das Familiengericht strikt regulierte Praxis (BMFSFJ 2023). Zugleich sind die Mitgliedschaftsregeln in Familien vorwiegend an Verständigung orientiert, auch wenn Familien zugleich Zwecke erfüllen müssen, um ihre Subsistenz zu gewährleisten. Aber die Zugehörigkeit ist an keine Qualifikation gebunden und im Prinzip sind die meisten Themen - ggf. bis auf einige Tabuthemen - zur Kommunikation zugelassen. Es steht in der Regel kein instrumenteller Sinnzusammenhang im Vordergrund, sondern gemeinschaftliche Orientierungen. Natürlich gibt es auch hybride Formen wie z.B. bei Familienunternehmen oder bei Politiker*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, aber in der Regel basieren Familien auf Vergemeinschaftungsformen. Von »naturwüchsigen« Gruppen ausgehend lässt sich vor diesem Hintergrund auch fragen, wie sich Gruppen allgemein von Organisationen unterscheiden. Ein gutes Bei- <?page no="45"?> 2.3 Auf dem Weg zu einem komparativen Organisationsverständnis 45 spiel dafür ist eine Musikband: Wann ist sie noch Gruppe und wann wird sie zur Organisation? Betrachten wir unterschiedliche Musikgruppen in der Populär-, Rap- und Rockmusik, dann sehen wir zunächst, dass wir Vorderbühne und Hinterbühne unterscheiden müssen. Während auf der Hinterbühne die Organisationsformen des Musikbetriebes dominieren, hängt auf der Vorderbühne die Identität der Gruppe sehr stark an einzelnen Personen. Die Austauschbarkeit der Mitglieder erscheint auf der Vorderbühne jedenfalls oft als restringiert. Ansonsten ist die Gruppe eben nicht mehr die, die sie einmal war — weder für sich noch für die Fans. Das ist ebenso typisch für Musikgruppen wie für soziale Gruppen insgesamt: Sie verkraften den Wechsel ihres Personals, zumal ihrer zentralen Figuren nur schwer. Darin unterscheiden sie sich von Organisationen. Zwar können bisweilen Randfiguren ausgetauscht werden, ohne die Identität der Gruppe zu ändern, aber auch dies darf nicht zu häufig vorkommen. Zugleich sind Gruppen auf Interaktion verwiesen, und damit auf soziales Handeln oder Kommunikation zwischen Anwesenden. Die Anwesenheit der Gruppenmitglieder - und sei es heute in virtueller Form - ist für jede Gruppe wichtig, sonst droht sie ihren Charakter zu verändern oder zu zerfallen (vgl. Homans 1972: 416; Kühl 2008: 71 ff.; 2014b; 2021; Schäfers 1999: 20 f.). 19 Tabelle 2.2: Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Gruppen und Organisationen Gruppe Organisation keine einfach austauschbaren Mitglieder einfach austauschbare Mitglieder mit Anwesenden zu interagieren mittels Kommunikation erreichbar sein in der Mitgliederzahl eng begrenzt in der Mitgliederzahl weniger begrenzt sensibel in Bezug auf die Gruppengröße in der Größe variabler eher an Verständigung orientiert eher instrumentell orientiert Während es für Organisationen in der Regel reicht, mittels Kommunikation erreichbar zu sein und ihre Hierarchie auch dann funktionieren kann, wenn man zum Beispiel dem oder der Vorstandsvorsitzenden nie persönlich begegnet, gilt dies für Gruppen nicht. Da es für ihre Mitglieder wesentlich ist, sich wechselseitig untereinander in persönliche Beziehung zu setzen, ist deren Zahl auch enger begrenzt. Wächst eine Gruppe auf mehr als 25 Personen an, so zerfällt sie in der Regel relativ rasch in Kleingruppen, welche dann dazu tendieren, ihre Identitäten gegenüber der größeren Gruppe aufrechtzuerhalten (siehe dazu auch Simmel 1908: 38 f.). Organisationen sind hingegen in der Mitgliederzahl variabel, auch wenn es kritische Grenzen des 19 Siehe grundsätzlich zum Gruppenbegriff auch Simmel/ Rammstedt (2006) und von Wiese (1966). Zur aktuellen Gruppenforschung siehe Sader (2002), Rosenstiel/ Nerdinger (2011), Rahn (2010). <?page no="46"?> 46 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Größenwachstums gibt. Sie können mit 30 Mitgliedern Autoteile produzieren oder mit 30.000. Dies hängt auch damit zusammen, dass Organisationen Zweckverbände sind, was soziale Gruppen nicht unbedingt sein müssen. Zwar mag man sich in Gruppen treffen, um gemeinsam Tennis zu spielen oder zu Abend zu essen, aber der Zweck allein ist selten konstitutiv für eine Gruppe, sondern vielmehr die damit verbundene Gemeinschaft — die Aufrechterhaltung von erwartungsdiffusen, vielfältigen persönlichen Beziehungen (vgl. Gukenbiehl 1999). Gruppen sind viel stärker an lebensweltlicher Verständigung orientiert als Organisationen dies in der Regel zulassen können. Zwar findet auch in diesen die Kommunikation verständigungsorientiert statt (siehe dazu Saam und Kriz 2010), aber immer überformt und eingebettet in instrumentelle Sinnzuschnitte. Zwar entstehen auch in Organisationen Orte des sozialen Lebens mit ganz unterschiedlichen Sinnformen und einer Vielfalt von persönlichen Beziehungen, aber die Organisation schließt viele von diesen Sinn- und Beziehungsformen aus und unterwirft andere der Erwartung, sich als für die Organisation nützliche auszuweisen und als solche geprüft werden zu können. Neben Gruppen lassen sich Organisationen von anderen sozialen Regulierungsformen wie Netzwerken und Märkten unterscheiden. »Netzwerke« werden von uns als soziale Beziehungen verstanden, in denen informelle Normen der Wechselseitigkeit Geltung erlangen, ohne dass es längerfristige vertragliche Bindungen, Anweisungsstrukturen und formale Mitgliedschaften gibt. Tabelle 2.3: Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Netzwerken und Organisationen Netzwerk Organisation freier Einund/ oder Austritt durch Mitgliedschaft geregelter Ein- und Austritt informelle Normen der Wechselseitigkeit formalisierte Normen der Wechselseitigkeit ohne Hierarchie mit Hierarchie Hier kann noch jede*r Akteur*in verhindern, dass ihm*ihr ein missliebiges Handeln auferlegt wird, das er*sie von sich aus in der gegebenen Situation nicht wählen würde (vgl. dazu Luhmann 2000: 408 f.; Mayntz/ Scharpf 1995: 61 ff.; Schimank 2002; Fuhse 2018; Vonneilich 2020). Ihnen stellt sich immer das Problem, wie sichergestellt werden kann, dass beide in einem Netzwerk verbundene Partner*innen gleichermaßen profitieren bzw. dass die gemeinsam erwirtschafteten Vorteile der Kooperation nicht einseitig angeeignet werden. Dieses Problem kollektiven Handelns (Kliemt 1986; <?page no="47"?> 2.3 Auf dem Weg zu einem komparativen Organisationsverständnis 47 Pohlmann u. a. 1995) ist bei Netzwerken in viel höherem Maße virulent als in Organisationen. Als »Markt« bezeichnen wir zunächst nur eine Tauschform, in der das Tauschgut Warenform annimmt und sich im Austausch auf Basis von Konkurrenz und Bedarf der Tauschpartner*innen Preise bilden. Im Sinne der Wirtschaftswissenschaften ist er dadurch definiert, dass sich Angebot und Nachfrage treffen und dadurch ebenso für Bedarfsdeckung wie für Preisbildung sorgen (Bartling und Luzius 2014; Marshall 1920). Dabei gibt es Kaufverträge, aber in der Regel keine Mitgliedschaft. Man kann zwar Mitglied einer Käufer- oder Verkäufervereinigung sein, aber nicht zum Personal eines Marktes werden — es sei denn wiederum im Rahmen einer Organisation, die Produkte verkauft und sich beispielsweise als »Supermarkt« bezeichnet. Aber auf das Geschäft, das Waren feilbietet und sich Supermarkt nennt, ist der Markt ja nicht beschränkt. Anders als eine Organisation ist der Markt also eine abstrakte Vergesellschaftungsform, welche nicht auf kontraktuell geregelter Mitgliedschaft beruht (White 1981; Wiesenthal 2005). Für Markttransaktionen brauchen wir weder Kommunikation unter Anwesenheit noch eine Kenntnis von Stelle, Funktion, Position oder Aufgabe der Person. Was früher der stille Tausch war, kann heute eine Börsentransaktion sein, für welche der Mausklick an einem Rechner genügt oder Algorithmen, welche einmal programmiert, die Transaktionen selbständig vornehmen. Um Aktien zu kaufen oder zu verkaufen, braucht man nicht zwingend irgendwelche Kenntnisse über die Person des Kaufenden oder Verkaufenden. In Bezug auf die wechselseitige Kenntnis der Person herrscht eine minimale soziale Situation vor, die für Marktvergesellschaftung konstitutiv ist, auch wenn die Varianz groß ist und Fragen der Kenntnis der Person umso wichtiger werden, je stärker wir Vertrauen für die Markttransaktionen benötigen (vgl. Beckert 1997). Dennoch handelt es sich auch bei dieser minimalen sozialen Situation, die der Markt als (oft virtueller) Ort des Tausches erlaubt, um eine Form von Vergesellschaftung. Nach Max Weber stiftet die Beteiligung an einem »Markt« Vergesellschaftung zwischen den einzelnen Tauschpartner*innen und eine soziale Beziehung (vor allem: »Konkurrenz«) zwischen den Tauschreflektant*innen, die gegenseitig ihr Verhalten aneinander orientieren müssen. Aber darüber hinaus entsteht laut Weber Vergesellschaftung nur, soweit etwa einige Beteiligte zum Zweck erfolgreicheren Preiskampfs, oder sie alle zu Zwecken der Regelung und Sicherung des Verkehrs, Vereinbarungen treffen (vgl. Weber 1922/ 85: 23). Die Marktgemeinschaft als solche ist für ihn die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können: »Nicht weil der Markt einen Kampf unter den Interessent*innen einschließt, sondern weil er spezifisch sachlich, am Interesse an den Tauschgütern und nur an diesen, orientiert ist. Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der <?page no="48"?> 48 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen. Sie alle bilden Hemmungen der freien Entfaltung der nackten Marktvergemeinschaftung und deren spezifische Interessen wiederum die spezifische Versuchung für sie alle.« (Weber 1922/ 85: 382-383). Tabelle 2.4: Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Märkten und Organisationen Markt Organisation freier Einund/ oder Austritt durch Mitgliedschaft geregelter Ein- und Austritt minimale soziale Situation formalisierte Normen der Wechselseitigkeit ohne Hierarchie mit Hierarchie funktioniert ganz ohne Kenntnis der Personen funktioniert nur teilweise ohne Kenntnis der Personen Dabei sind dem Markt zwar nicht Herrschaftsformen qua Interessenkonstellationen fremd, aber im Regelfall die Herrschaft qua Autorität. Der Markt reguliert den Tausch gerade nicht mittels Hierarchie, nicht mittels formaler Über- und Unterordnungsverhältnisse. Das ist vielmehr der Organisation vorbehalten. 2.4 Zusammenfassung In Abgrenzung zu anderen sozialen Gebilden wie Vergemeinschaftung, totaler Institution, Gruppe, Netzwerk und Markt haben wir aus sozialwissenschaftlicher Sicht die charakteristischen Eigenschaften des Phänomens »Organisation« bezogen auf die Mitgliedschaftsregeln herausgearbeitet. Wir haben gesehen, dass hinter der organisierten Kriminalität im Falle der italienischen Mafia keine Organisationen stecken, sondern traditionale Vergemeinschaftungsformen. Deren archaische Bezugnahme auf gewaltvolle totalisierende Vereinnahmung ihrer Mitglieder treffen den wunden Punkt moderner Organisationen von Polizei und Justiz, die bei deren Bekämpfung nur in Ausnahmefällen auf ein ähnliches unbegrenztes sowie gewaltbereites Engagement zurückgreifen können und dürfen. In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive erscheinen in idealtypischer Weise folgende Merkmale als wichtig, um von einer Organisation im Vergleich zu anderen sozialen Gebilden sprechen zu können: <?page no="49"?> 2.4 Zusammenfassung 49 die qua exklusiver formaler Mitgliedschaft geregelte Orientierung der Handlungen/ Kommunikationen an frei gewählten Zwecken; ein vertraglich geregelter Eintritt und Austritt der Mitglieder und damit eine prinzipiell kündbare formale Mitgliedschaft; eine nur teilweise Beanspruchung der Person (Partialinklusion); die prinzipielle Austauschbarkeit des Personals; eine formale Hierarchie mit Über- und Unterordnung sowie die an die Mitgliedschaft gebundene freiwillige Anerkennung dieser Ordnung (Herrschaftsform). Übung zu Kapitel 2: Die Pizzeria als Organisation? Fabrizio arbeitet in einer Pizzeria. Sie gehört seinen Eltern, die im Betrieb mitarbeiten. Irgendwann wird er sie übernehmen. Er bekommt deswegen weder ein regelmäßiges Gehalt noch hat er einen Arbeitsvertrag. Rechtlich gilt er alsl mithelfender Familienangehöriger. Sein Taschengeld ergänzt er durch die Trinkgelder seiner Kund*innen. Er hat kaum Freizeit, denn immer, wenn der Vater etwas möchte, muss Fabrizio zur Stelle sein. In der Pizzeria gibt es eine klare Hierarchie mit entsprechender Aufgabenverteilung. Außer ihm arbeiten dort noch seine Schwester und seine Nichte. Es ist ein reiner Familienbetrieb, der auch allen anderen Aktivitäten der Familie dient. Feierlichkeiten und Alltäglichkeiten - alles findet in der Pizzeria statt. Man isst abends gemeinsam und geht morgens gemeinsam einkaufen. Fabrizio hat deswegen auch keine Ausbildung gemacht. Seine Zukunft ist die Pizzeria. Bitte untersuchen Sie, ob es sich im soziologischen Sinne um eine Organisation handelt, und begründen Sie Ihre Meinung in Abgrenzung zu Merkmalen von Gruppen, von traditionellen Gemeinschaftsformen, totalen Institutionen und Märkten. Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Kapitel 2: Fragen zur Vertiefung Ist eine Armee im sozialwissenschaftlichen Sinne eine Organisation? Welche Schwierigkeiten haben Polizei- und Justizorganisationen aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive bei der Bekämpfung der italienischen Mafia? Sind »Teams« eine Form der Gruppenbildung in Organisationen? <?page no="50"?> 50 2 Das sozialwissenschaftliche Verständnis der Organisation Quellen Abels, Heinz (2009), Einführung in die Soziologie. Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft, 4. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Abraham, Martin/ Büschges, Günter (2009), Einführung in die Organisationssoziologie, Bd. 4., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Adorno, Theodor W. (1953), Individuum und Organisation, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Albert, Gert (2006), Max Webers non-statement view, in: Albert, G./ Bienfait, A./ Sigmund, S./ Stachura M. 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Tacke, Veronika (2019), Luhmann (1995): Kausalität im Süden. In: Schlüsselwerke der Netzwerkforschung, S. 371-374. <?page no="57"?> 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie In diesem Kapitel erfahren Sie was bürokratische Organisationen sind und wovor sie schützen, wie sich die Organisationssoziologie als Fach etabliert und weiterentwickelt hat, Grundlegendes über drei zentrale Denkrichtungen der Organisationssoziologie. Wer heute wirtschaftlich, politisch oder gesellschaftlich etwas bewirken will, kann nicht auf Organisationen verzichten. Organisationale Formen der Koordination und Kooperation beinhalten nicht nur aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften das Versprechen, gemeinsam effizienter und/ oder effektiver 20 als alleine handeln zu können. Organisationen erscheinen uns als zielführend, und wer die Form der Organisation für gemeinsames Handeln wählt, kann mit einer grundlegenden Anerkennung in modernen Gesellschaften rechnen. Organisationen erscheinen in diesen nicht nur als rational (Meyer/ Rowan 1977, Ruef/ Scott 1998, Baum/ Oliver 1991, zum Begriff der Legitimität siehe Walgenbach/ Meyer 2008), sondern darüber hinaus uns als einzelnen Akteuren überlegen. Diese Überlegenheit der korporativen Akteure gegenüber Einzelpersonen hat Coleman bereits früh beschrieben und als asymmetrische Gesellschaft benannt: eine Gesellschaft, in der die Organisationen die maßgeblichen Helden- und Schurkenrollen besetzen (vgl. z.B. Coleman 1986; 1991; Wiesenthal 1990). Ohne Organisation wäre, laut Luhmann, das Leben in modernen Gesellschaften kaum vorstellbar (vgl. Luhmann 2002: 389). In den verschiedenen Theorien der Organisation, die in diesem Kapitel eingeführt werden, wird zwar die gesellschaftliche Bedeutung der Organisation ganz unterschiedlich aufgefasst, aber sie machen deutlich, dass heute keine der »Großtheorien« (Merton 1968) der Soziologie auf einen Bezug zur Organisationsebene verzichten kann. Jede Theorie heutiger Gesellschaften muss auf Organisationen Bezug nehmen, weil diese ohne sie nur schwer begreifbar sind. Im Folgenden wollen wir zeigen, wie diese Bezugnahme im Rahmen der Theorie rationaler Wahl Colemans, des neuen Institutionalismus und der Systemtheorie Luhmanns vorgenommen wird. Das soll uns 20 Mit Effizienz ist gemeint, bei gegebenem Ziel den Mitteleinsatz zu minimieren und mit Effektivität bei gegebenem Mitteleinsatz die Zielerreichung zu maximieren (vgl. Sauerwald 2007: 32-48). <?page no="58"?> 58 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie helfen, Organisationen als gesellschaftliches Phänomen einzuordnen und durch die Brille der verschiedenen Theorien jeweils unterschiedliche Aspekte dieses Phänomens kennenzulernen. Wo auch immer wir mit der Beschäftigung mit Organisationen beginnen, wir stoßen früher oder später auf bürokratische Organisationen. Diese sind nicht etwa Geschichte, sondern eine Organisationsform, die sich sehr erfolgreich mit modernen Gesellschaften verbreitet hat. Zugleich stellt die Beschäftigung damit einen zentralen Ausgangspunkt der Organisationstheorie dar, die dadurch erst an Profil gewann. Die Auseinandersetzung mit Max Webers Bürokratietheorie steht — neben der Befassung mit Arbeiten von Frederic Taylor (1911), Chester Barnard (1938; 1948), Talcott Parsons (1928; 1956), Theodor W. Adorno (1953) — am Anfang der Theorie moderner rationaler Organisation und der Organisationssoziologie in Deutschland und den USA (vgl. dazu auch Hiller/ Pohlmann 2015; siehe auch Infobox 1.1 im Einleitungskapitel). 3.1 Das Konzentrationslager: Auf den Spuren irrationaler/ rationaler Organisation Wir gehen einen ungewöhnlichen Weg, um uns dem Thema zu nähern. Wir nehmen Bezug auf ein Extrembeispiel, um uns klar zu machen, was Bürokratien in ihrem Kern bis heute sind und welche gesellschaftliche Bedeutung sie haben. Leider ist die Beschäftigung mit Konzentrationslagern nicht nur eine historische, sondern Konzentrationslager sind auch aktuell noch von Bedeutung. Denn z.B. auch in Nordkorea gibt es heute noch Konzentrationslager, die als Vernichtungslager politischer Gefangener geführt werden. Die nordkoreanischen Konzentrationslager existieren mittlerweile doppelt so lange wie die sowjetischen Gulags und zwölfmal so lange wie die deutschen Konzentrationslager (Harden 2012: 19). Die südkoreanische Regierung ging 2012 von 154.000 Häftlingen aus, das US-Ministerium von ca. 200.000. Nach neuen Schätzungen des Korean Institute for National Unification (KINU) sind derzeit noch 80.000 bis 130.000 politische Gefangene inhaftiert (KINU 2020). Aktuell soll es noch sechs solcher Lager geben (KINU 2020). Ein kleiner Teil der Häftlinge ist in sogenannten Umerziehungszonen untergebracht und kann, unter Aufsicht des Geheimdienstes gestellt, freikommen. Die weit überwiegende Zahl ist in »Bezirken unter absoluter Kontrolle« als »nicht verbesserungsfähig« interniert und wird u.a. durch Arbeit der Vernichtung zugeführt (ebd.: 20). Mit beiden Beispielen, dem historischen deutschen und dem aktuellen nordkoreanischen, stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen die Vernichtung mittels bürokratischer Effizienz perfektioniert wurde oder ob es vielmehr terroristische Willkür ist, die hinter diesen Fällen steht. Da Weber die Bürokratie idealtypisch als formal rationales Instrument für beliebige politische Zwecke auswies (Weber 1922/ 85: 128 f.), könnte man vermuten, dass die Effizienz und Effektivität der Massenvernichtung zu einem Teil der bürokratischen Organisation derselben geschuldet sind. Dies wird für Deutschland auch dadurch nahegelegt, dass sich das <?page no="59"?> 3.1 Das Konzentrationslager: Auf den Spuren irrationaler/ rationaler Organisation 59 Stichwort der KZ-Bürokratie oder der NS-Bürokratie durchgesetzt hat (vgl. Benz/ Distel 2008) und die Organisatoren der Massenvernichtung, wie beispielsweise Adolf Eichmann 21 , nach einer bürokratischen Legitimation ihrer Taten suchten (Arendt 1963/ 2006; Krause 2002: 64- 66). Hannah Arendt hat dies als »die Banalität des Bösen« bezeichnet (Arendt 1963/ 2006). Doch haben wir es bei diesem historischen sowie bei dem aktuellen nordkoreanischen Beispiel wirklich mit einer bürokratischen Herrschaft, mit einer formal rationalen Organisation zu tun, die sich als geeignetes Instrument für menschenvernichtende politische Zwecke erwies bzw. erweist? Wir möchten entlang dieser Frage die Heuristik Webers besser greifbar werden lassen und so das Grundverständnis einer »formal rationalen Organisation« vertiefen. Dabei stützen wir uns für den historischen Fall auf die Analyse der internen Lagerverwaltung der Konzentrationslager von Wolfgang Sofsky (1993), die als ein anerkannter soziologischer Interpretationsversuch gelten kann (Lammers 1995; Herbert/ Orth/ Dieckmann 1998; Reemtsma 1993). 22 Und für den nordkoreanischen Fall stützen wir uns auf die Angaben des Flüchtlings Shin Dong-hyuk, der aus einem der Vernichtungslager fliehen konnte und dessen Angaben von der UN-Flüchtlingskommission bestätigt wurden. Blaine Harden und der Dokumentarfilmer Marc Wiese haben diesen Fall u.a. dokumentiert. Wir können hier weder viele historische Details zur Geltung bringen noch die schwere Schuld der Akteur*innen ausloten, sondern wollen in erster Linie das Ziel verfolgen, uns mit Hilfe dieser Extremfälle den Weber‘schen Gedanken einer rationalen Organisation anzueignen. Wir bedienen uns der beiden Beispiele in historisch skizzenhafter Form, weil sie uns durch die extremen Abweichungen vom Weber‘schen Idealtyp deutlich zeigen, worauf dessen »Rationalität« auch zielte: auf den Schutz vor Willkür. Leitbeispiel 3.1: Die Konzentrationslager in Deutschland Die KZ-Vernichtungslager waren für deren Inhaftierte eine Form terroristischer Machtausübung. Sie ging soweit, dass man sich ihr nicht einfach durch Selbsttötung entziehen konnte, weil diese Selbsttötung mit erheblichen Folgen für die Mithäftlinge verbunden war (vgl. Sofsky 1993: 35). Es ist damit klar, dass wir es in Bezug auf die Häftlinge weder mit einer Herrschaftsform im Weber‘schen Sinne noch mit 21 Adolf Eichmann (1906-1962) war ein SS-Obersturmbannführer und für die Verfolgung, Deportation und Ermordung mehrerer Millionen Menschen im Nationalsozialismus mitverantwortlich. 1960 fasste ihn der israelische Geheimdienst in Argentinien und verbrachte ihn nach Israel, wo er im Rahmen des legendären Eichmann-Prozesses zum Tode verurteilt und 1962 hingerichtet wurde. 22 Siehe auch die Kritik des Sozialpsychologen Harald Welzer (1997) und der Historiker Karin Orth und Michael Wildt (1995). Quelle: Wikimedia Commons, File: Arbeit macht frei.png, 2005, auschwitz entrance, "Arbeit macht frei" <?page no="60"?> 60 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie einer Organisation zu tun haben. Auch das KZ-Personal entsprach nicht dem üblichen Personal von Verwaltungsorganisationen. Vielmehr wurden zum einen mit SS- Totenkopfverbänden paramilitärische Einheiten aktiv (vgl. dazu auch Orth 2013). Sie waren teilweise freiwillig eingetreten und mussten nicht zwingend als KZ-Personal arbeiten, aber auch ihnen war mit Kriegseintritt der Austritt aus der Waffen-SS verwehrt 23 . Sie konnten sich aber jederzeit versetzen lassen, wovon nur wenige Gebrauch machten (ebd., Buchheim 1967/ 2005). Zum anderen gab es zugleich eine von der SS kontrollierte „Selbstverwaltung“ durch „Funktionshäftlinge“. Auch ihre Rekrutierung wurde in der Regel nicht durch Verwaltungserfahrungen und -kompetenzen der Häftlinge beeinflusst (vgl. dazu ausführlich Orth 2021; Kranebitter 2020; Binner 2020; vgl. z.B. auch: Kuß 2014; Niethammer 1994 u.v.a.). All dies spricht weder für eine Organisationsnoch für eine Herrschaftsform. Jedenfalls waren auch sie total inkludiert. Um von einer Organisation sprechen zu können, fehlt sowohl auf Seiten des Verwaltungsstabes als auch auf Seiten der Häftlinge das Element des freiwilligen, kontraktuell gebundenen Ein- und Austritts (siehe ausführlich Kap. 2). Für die Herrschaftsform fehlt die Freiwilligkeit in der Anerkennung der Ordnung, die Weber voraussetzte (Weber 1922/ 85: 122 ff.). Denn ob die Häftlinge das Ordnungssystem anerkannten oder nicht, war im Prinzip nicht entscheidend. Sie wurden ihm mit Gewalt unterworfen. Es handelt sich also um eine Form der Machtausübung, die gegen den Willen der Unterworfenen praktiziert wurde und damit im engeren Sinne nicht um Herrschaft. Wir haben es demnach nicht mit einer Herrschaftsform durch Organisation zu tun, sondern mit einer totalen Institution, welche durch Machtausübung mittels körperlicher Gewalt gekennzeichnet war. Sofsky hat diese Form der Machtausübung als »absolute Macht« bezeichnet und darunter eine Form der Machtausübung verstanden, 23 Das Lagerpersonal wurde zunächst von der SA, seit 1934 aber von der SS, insbesondere dann von den SS-Totenkopfverbänden gestellt (Sofski 1993: 116). Bei diesen war der Eintritt zunächst freiwillig, aber das Prinzip der Freiwilligkeit wurde nach und nach ausgehöhlt. Sofski schreibt: »Die Anwendung der Notdienstverordnung war staatlicher Zwang. Noch geringer dürfte die Freiwilligkeit bei den ‚Volksdeutschen‘ gewesen sein, über die Himmler als ‚Reichskommissar‘ für die Festigung deutschen Volkstums verfügen konnte« (Sofski 1993: 129). Mit dem Kriegseintritt war dann auch der Austritt aus der Waffen-SS, zu der auch das KZ-Personal gehörte, nicht mehr möglich. Denn der Dienst in der Waffen- SS war Wehrdienst (vgl. Buchheim 1967/ 2005: 232). Begriffsbox 3.1: Das KZ als totale Institution der absoluten Machtausübung Weder Organisationsnoch Herrschaftsform, sondern totale Institution und absolute Macht Statt Regelhaftigkeit weitgehende Regellosigkeit ohne Begrenzung von Willkür. Keine geschulten Verwaltungsbeamten, sondern ungeschulte politische Exekutionskräfte in militärischer Formation. Keine straffe Amtshierarchie mit klaren Laufbahnen, sondern oft willkürliche Führungs- und Beförderungspraxis. Statt Aktenmäßigkeit unvollständige und manipulierte Aktenführung. Nicht »ohne Ansehen der Person«, sondern in gezielter, mörderischer Ungleichbehandlung wurde agiert. <?page no="61"?> 3.1 Das Konzentrationslager: Auf den Spuren irrationaler/ rationaler Organisation 61 die auf Willkür, totale Bestimmung und Etikettierung gebaut und keinen Legitimationszwängen unterworfen ist (Sofsky 1993: 27-39). Absolute Macht bedeutet dabei nicht Ohnmacht auf der Seite der Unterworfenen - auch dort gibt es, wenn auch kleinere, Spielräume der Machtausübung - sondern spielt auf eine spezifische Form der Machtausübung an, bei der es keiner besonderer Vergehen bedarf, um drastischen Sanktionen ausgesetzt zu sein und Gehorsam oftmals nicht vor Strafe schützt. So weist z.B. Primo Levi, ein ehemaliger KZ-Häftling, darauf hin, dass man, wenn man alle Regeln im Lager befolgt hätte, binnen drei Monaten tot gewesen wäre (Levi 1989). Die abstrakte Regelhaftigkeit einer bürokratischen Organisation hatte in diesem System absoluter Machtanwendung keinen bindenden Charakter für die SS-Verwaltung. Denn »im Gegensatz zu Bürokratien, die den Einsatz von Gewalt steuern, war die Lagerorganisation so konstruiert, dass sie Macht nicht begrenzte, sondern freisetzte und so in absoluten Terror verwandelte. (…) Mechanismen der bürokratischen Kontrolle waren systematisch außer Kraft gesetzt. (…) Die Aufseher im Lager hatten jede Freiheit.« (Sofsky 1993: 136). Die Häftlinge waren dieser Willkür so ausgesetzt, dass auch eine Unterwerfung unter alle Regeln, auch absoluter Gehorsam nicht vor der Vernichtung schützte. Selbst die Verrichtung der täglichen Arbeit war kein Schutz vor Strafe. Menschliche Arbeit war »ein Mittel der Unterdrückung und des Terrors«, das eher der Produktion »lebendiger Skelette« diente (Sofsky 1993: 33 ff., siehe auch Benz 2005: 21 ff., Kaienburg 2005: 192). Insbesondere die jüdischen Inhaftierten konnte es jederzeit, unabhängig von ihrem Verhalten, treffen. Hierfür mag mit trauriger Symbolkraft das in dem Spielberg-Film »Schindlers Liste« reproduzierte Bild der sadistischen Obsession des KZ-Kommandanten von Plaszow, Amon Göth, stehen, der morgens mit einem Präzisionsgewehr willkürlich auf KZ-Häftlinge schoss und sie von seinen beiden Hunden Alf und Rolf zerfleischen ließ (Benz/ Distel 2008: 265). Diese Willkürherrschaft im paramilitärischen Gewande der SS galt auch in anderer Weise für den Verwaltungsstab selbst. Beförderungen, Status und Stellung - die ganze Amtshierarchie war sehr viel mehr vom Wohlgefallen der Vorgesetzten abhängig als von abstrakten Regeln oder Leistungsprinzipien (vgl. Morsch 2005). Das Laufbahnprinzip der Bürokratie oder das Karriereprinzip der rationalen Organisation unterstand der Willkür der Vorgesetzten. Die SS-Wärter*innen waren auch nicht fachgeschult, sondern in Fragen der Verwaltung bestenfalls Laien (Sofsky 1993: 129). Die Lager selbst durchliefen zwar im Laufe des Zweiten Weltkriegs einen »Funktionswandel«, dennoch stellte die Verwaltung gerade in der Hoch- und Spätphase der Konzentrationslager höchstens eine sekundäre Aufgabe dar, während die Judenvernichtung zur primären Aufgabe wurde. Vor diesem Hintergrund mutierte auch die Aktenmäßigkeit, welche den Verwaltungsals Rechtsakt garantiert und den*die Bürger*in vor dem unkontrollierten Agieren auf Hörensagen hin schützt, und wurde schließlich den Zweckerfordernissen der Gewalt unterworfen. Die Akten führte man teils unvollständig und manipulativ, Mordbefehle wurden nur mündlich kommuniziert, die »wirklich maßgeblichen Vorgänge und Geschehnisse im Konzentrationslager kamen [in den schriftlichen Befehlen] nicht vor.« (Morsch 2005: 61). Bescheinigungen der SS-Ärzt*innen enthielten vermeintliche Todesursachen, die in der Regel in keinem Zusammenhang mit der individuellen Todesursache standen (Sofsky 1993: 278). Die Behandlung eines Falles »sine ira et studio«, also ohne Hass und Leidenschaft, ohne Ansehen der Person wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Das KZ verwaltete nicht nur mit Ansehen der Person und etikettierte diese mit Symbolen (je nachdem, ob sie jüdisch, slawisch, »Zigeuner*innen«, Homosexuelle, politische oder kriminelle Häftlinge etc. waren), sondern sorgte mit <?page no="62"?> 62 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie Absicht für massive Formen der Ungleichbehandlung, wofür bereits die Bezeichnung als »Untermenschen« stand. Alles in allem sehen wir — gemessen am Weber‘schen Idealtypus — keine Bürokratie am Werke, sondern eine totale Institution mit willkürlicher, absoluter Machtausübung, die sich bestenfalls bürokratischer Prinzipien zu ihrer Legitimation bediente. Nicht rationale Organisation, sondern totale Machtausübung war ihr Kristallisationspunkt. Das KZ pervertierte somit die bürokratische Ordnung, deren Prinzipien den Bedürfnissen absoluter Machtausübung gebeugt wurden und schließlich den Erfordernissen einer totalen Institution wichen, welche bürokratische Regeln und Strukturen oft nur oberflächlich übernahm. Formal rational war bestenfalls die Fassade. Dahinter verbarg sich ein soziales Gebilde ganz anderer Natur, dass die Rede von der KZ-Bürokratie — soweit sie den Begriff der Bürokratie soziologisch ernst nimmt — nicht rechtfertigt. 24 Das Beispiel der sogenannten KZ-Bürokratie zeigt, dass in diesen Fällen eine formal rationale Organisation geringer entwickelt war als oft angenommen. Natürlich wurde der Holocaust insgesamt auch durch funktionierende Verwaltungsstrukturen im Umfeld der Konzentrationslager, in Administration und Logistik etc. ermöglicht. Aber in den Konzentrationslagern selbst fand etwas statt, das mit einer rationalen und/ oder einer bürokratischen Organisation nur wenig zu tun hatte: willkürlicher Terror im (schein-) bürokratischen Gewande. Gilt dies auch für das aktuelle Beispiel nordkoreanischer Konzentrationslager, in einer ganz anderen Kultur, mit einer anderen Ideologie und in der heutigen Zeit? Auch hier zielen wir nicht auf einen systematischen Vergleich von Konzentrationslagern, sondern wollen an diesem Beispiel ebenfalls verdeutlichen, wofür bürokratische Organisationen stehen und zeigen, wie stark auch in diesem Fall bürokratische Organisationsformen genutzt werden. 24 Dass dennoch auch »ganz normale Organisationen« (Kühl 2005) an der Massenvernichtung mitwirkten, soll hier nicht bestritten werden. Eindrucksvoll zeigt Christopher Browning (1993) dies in seiner Studie zum Reserve-Polizeibataillon 101. Begriffsbox 3.2: Der Idealtypus der »Bürokratie« nach Max Weber — Wichtige Merkmale Die Politik gibt die Ziele vor, welche die Verwaltung, ohne eigene politische Vorstellungen zu verfolgen, umsetzt. Der Entscheidungsprozess folgt vorher festgelegten, abstrakten Regeln. Es gibt eine klare Amtshierarchie mit Über- und Unterordnung sowie Weisungsbefugnis. Das Personal ist fachlich geschult, vertraglich verpflichtet und wird nach vorher festgelegten Laufbahnen bezahlt und befördert. Es wird nicht nach Hörensagen, sondern in dokumentierten Verwaltungsakten gehandelt. In diesen wird niemand nach sozialer Stellung, Ethnie, Herkunft etc. bevorzugt oder benachteiligt, sondern »ohne Ansehen der Person« gehandelt (Weber 1922/ 85: 124 ff.; 551 ff.). <?page no="63"?> 3.1 Das Konzentrationslager: Auf den Spuren irrationaler/ rationaler Organisation 63 Leitbeispiel 3.2: Die Konzentrationslager in Nordkorea Da Nordkorea die Existenz der Konzentrationslager leugnet, ist man auf Zeugenaussagen von Häftlingen oder Wachen angewiesen, denen die Flucht gelungen ist. Derzeit gibt es zwar aus dem Umfeld der Konzentrationslager mehr als 300 Zeugen und Zeuginnen, deren Aussagen ein UN-Report (vgl. Report of the detailed findings of the commission of inquiry on human rights in the Democratic People’s Republic of Korea -A/ HRC/ 25/ CRP.1) zusammengefasst hat, aber, wie bei anderen Zeugen- und Zeuginnenberichten auch, lassen sich diese nicht immer überprüfen. Sie geben jedoch insgesamt einen Eindruck über die Realität für die Häftlinge in den nordkoreanischen Konzentrationslagern. Allerdings stehen nur sehr wenige übergelaufene Wachkräfte für Zeugen- und Zeuginnenaussagen zur Verfügung. Gegenwärtig wird vom Korean Institute for National Unification (KINU) sowie dem Human Rights-Bericht der Korean Bar Association davon ausgegangen, dass es sechs Konzentrationslager mit 80.000 bis 130.000 Gefangenen in Nordkorea gibt. Ein kleiner Teil von diesen ist in sogenannten »revolutionary zones« untergebracht, die sie nach einer ideologischen Umerziehung, unter Aufsicht des State Security Department (SSD) gestellt, wieder verlassen können. Der weitaus größte Teil befindet sich aber in »total control zones« mit nur geringer Aussicht, diese jemals lebend verlassen zu können. 25 Diese Lager stehen unter Aufsicht der nordkoreanischen Staatssicherheit (SSD), bis auf das Lager in Gaechon, das dem Ministry of People’s Security (MPS) untersteht (Korean Bar Association 2015: 113). Die Sicherheits- und Wacheinheiten des SSD haben die Aufsicht über die Inhaftierten der Konzentrationslager. Die Inhaftierten sind im Regelfall politische Gefangene. Aussagen gegen die Partei, einen der verstorbenen Diktatoren oder gegen den amtierenden »Obersten Führer« Kim Jong-un reichen ebenso wie Telefonate mit Südkorea aus, um in ein Konzentrationslager zu kommen. Nicht selten werden die unmittelbaren Familienmitglieder mitinhaftiert, wobei sich aber Eheleute scheiden lassen können, um diesem Schicksal zu entgehen (ebd.: 123 ff.). Die folgende Aussage einer nach Südkorea geflohenen Wache beschreibt die Art der Inhaftierung: »They all told me that one night when they were in bed, suddenly [State Security Department agents] came to their house and they got arrested… I was taught that the inmates were bad people. But these people, I found out, had no idea why they were there« (UN- Report 2014: 209). 26 Im Lager werden die Inhaftierten zu harter Arbeit in Kohlenminen, in der Landwirtschaft und in Industriebetrieben gezwungen (ebd.: 128 f.). 25 Nach Aussagen von Überläufern gibt es einige wenige Gefangene, welche in die »revolutionary zone« überstellt wurden (vgl. Korean Bar Association 2015: 114). 26 Oft wurden auch Enkel*innen für die vermeintlichen Verbrechen ihrer Großeltern bestraft: »Ms Kim Hye-sook was 13 years old, when SSD agents arrested her just as she returned from school. She was taken to Political Prison Camp No. 18, where her entire family was already incarcerated. No charges were ever presented against any family members. Inmates were warned that they be executed if they enquired about the reasons for their arrest or talked with other inmates about it. When her father one day challenged the guards about why he was kept at the camp, he was taken away and the family never saw him again. During 28 years of incarceration, Ms Kim never found out why she had to endure <?page no="64"?> 64 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie Hunger ist nach den Zeugenaussagen allgegenwärtig, da die Rationen kaum zum Leben reichen. Insbesondere im Winter wird es schwer, ohne zusätzliches wild wachsendes Grünzeug mit den Rationen der Konzentrationslager auszukommen. Folgeerkrankungen sind häufig. Nach Zeugenaussagen sind die Lagerregeln sehr strikt und Vergehen dagegen können jederzeit mit Exekution geahndet werden. In den Konzentrationslagern, so eine übergelaufene Wache, »the inmates are no longer registered citizens, so you do not need a law to decide the sentences. The bowibu [SSD] agent is the person who decides whether you are saved or you are executed. There are no other criteria other than his words. [The inmates] are already eliminated from society.« (UN-Report 2014: 233). Dabei ist die Willkür des Wachpersonals nach den Zeugenberichten sehr groß und ihre eigene Regelgebundenheit eher gering. Soweit man weiß, wird das Wachpersonal oft in jungen Jahren rekrutiert und in einen paramilitärischen Verband integriert, der dem Ministerium für Staatssicherheit untersteht. Berichtet wird vor allem über die ideologischen Schulungen und über den Umgang mit den Inhaftierten im Kriegsfalle sowie im Falle eines Sturzes des Regimes. In beiden Fällen sollen alle Unterlagen sowie alle Häftlinge schnellstmöglich vernichtet werden. Auch hier dient die Aktenführung offensichtlich der terroristischen Willkür, deren Nachvollzug gerade nicht möglich sein und werden soll. Einem Wärter zufolge lernt das Wachpersonal in seiner Ausbildung vor allem Techniken zur Niederschlagung von Aufständen, Selbstverteidigung und Strafen. Die Häftlinge seien nicht als Menschen anzusehen und man dürfe kein Mitgefühl zeigen (vgl. UN- Report 2014; siehe auch Harden 2012: 57). Entsprechend groß ist nach Zeugenaussagen auch die Bereitschaft des Wachpersonals, körperliche Strafen, Vergewaltigungen und willkürliche Exekutionen vorzunehmen. Auch hier wiesen die Zeugenaussagen darauf hin, dass wir es mit einer Form der Machtausübung zu tun haben, die ebenso wie in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern auf Willkür, totale Bestimmung und Etikettierung gebaut und keinen größeren Legitimationszwängen unterworfen ist. Die Etikettierung in drei Klassen hilft mit dabei, die Angehörigen der als »oppositionell« und »reaktionär« titulierten dritten Klasse zu vernichten: »Die Theorie hinter den Lagern besteht darin, die Nachkommen der Menschen mit falschem Bewußtsein bis in die dritte Generation zu läutern« (Aussage eines ehemaligen Wärters, zit in: Harden 2012: 57). Deswegen werden auch die weiblichen Opfer von sexuellen Übergriffen, die schwanger wurden, mitsamt ihren Neugeborenen häufig umgebracht. Auch im Falle der nordkoreanischen Konzentrationslager sehen wir also nach den vorliegenden Informationen und Zeugenaussagen keine Bürokratie am Werke, sondern eine totale Institution mit willkürlicher, absoluter und terroristischer Machtausübung, die bürokratische Prinzipien zu ihrer Legitimation nutzt. such a long time of starvation and forced labour. She even started blaming her parents. In 2001, as Political Prison Camp No. 18 was downsizing, she was released. From a relative she found out that the family had been punished because her grandfather had fled to the Republic of Korea during the Korean War« (UN-Report 2014: 229). <?page no="65"?> 3.2 Organisationssoziologische Ansätze im Vergleich 65 An diesen beiden Negativbeispielen der Abkehr von einer rationalen bürokratischen Organisation kann man lernen, worin deren Charakter besteht: In ihr verbirgt sich eben auch »ein Element von Gerechtigkeit, ein Stück Garantie dafür, dass dank solcher Beziehung auf das Allgemeine nicht Willkür, Zufall, Nepotismus das Schicksal eines Menschen beherrschen« (Adorno 1953: 447). Adorno bezeichnete dies im Anschluss an Weber als »Doppelcharakter der Organisation«, den er als Zusammenspiel und Auseinandertreten von formaler Vernunft (im Sinne einer Zweckrationalität) und materialer (Un-)Vernunft (im Sinne eines Wertbezugs) analysierte. Bis heute haben bürokratische Organisationsformen nicht an Bedeutung verloren, sondern sich viel eher überall weiter ausgebreitet (vgl. Coleman 1986; DiMaggio/ Powell 1983; Jacoby 1988; Perrow 2002; Braithwaite 2008; Bressmann et al. 2019; Majone 2019). Die Bürokratie bleibe zwar, so Adorno (1953) sehr weitsichtig, der Sündenbock der verwalteten Welt, doch zugleich sei die Angst hinter dieser Klage nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an rationaler Organisation, aus dem dann Krieg, Krisen oder Terror resultierten (ebd.: 446). Eine Bezugnahme auf diese Sichtweise hilft uns, die gesellschaftliche Bedeutung bürokratischer Organisationen besser zu verstehen und sich den Blick nicht durch die häufigen Klagen über Bürokratie, Beamt*innen und den Amtsschimmel verstellen zu lassen. Denn bürokratische Organisationsformen beinhalten für uns Bürger*innen immer beides: eine oft schwer verständliche, umständlich erscheinende Behandlung nach Schema F sowie einen Anspruch auf Gleichbehandlung und Verfahren, die für alle gelten. Natürlich leisten dies Bürokratien keineswegs immer und sind Abweichungen von formalen Regeln Normalität für alle Organisationen (siehe auch Kap. 8), aber zu große Abweichungen können skandalisiert, und unter Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit kann gegen als ungerecht oder als falsch empfundene Verwaltungsakte geklagt werden. Das Ausmaß, in dem Verwaltungsorganisationen einen Schutz vor Willkür darstellen, variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft. Es bildet aber einen wichtigen Maßstab, um Gesellschaften politisch einschätzen zu können. 3.2 Organisationssoziologische Ansätze im Vergleich Wie immer diese Vorstellung einer rationalen bürokratischen Organisation von heutigen Verwaltungen durchbrochen wird und andere Organisationsformen sich durchgesetzt haben: Für die Organisationssoziologie hat Max Weber mit ihr einen Startpunkt geliefert, Organisation theoretisch zu denken. Er hat eine Heuristik hinterlassen, welche die Organisationssoziologie bis heute anregt. Wie sie sich vor dem Hintergrund dieser Anregungen weiterentwickelt hat, zeigt die folgende Skizze über die Geschichte der Entwicklung der Organisationssoziologie. <?page no="66"?> 66 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie Infobox 3.1: Kurzer Ausflug in die Geschichte der Organisationssoziologie Bereits die frühe Diskussion des Weber‘schen Bürokratiemodells zeigte, dass diese idealtypisch gedachte Organisationsform nicht das Instrument der Wahl für alle Umwelten darstellte. Mit »organischen« und »professionellen« Formen wurde auf andere idealtypische Organisationsformen verwiesen, die in bestimmten Umwelten ebenso effizient oder gar effizienter seien (vgl. dazu den Sammelband von Mayntz 1968/ 71; für Zusammenfassungen Schluchter 1985; Offe 1974; Treutner u.a. 1978). Die Organisationstheorie nahm diese Diskussion auf und überführte sie in ein neues Paradigma, das die Passförmigkeit der Organisationsform mit ihrer Umwelt betonte: die »Kontingenztheorie«. Sie entwickelte sich vor allem in den 1970er-Jahren zu einem wichtigen Theorieprogramm. Ihre zentrale Annahme war, dass die Umwelt die Organisationsstruktur und diese die Effizienz der Organisation bestimme (vgl. dazu das Aston-Programm I-IV, Lawrence/ Lorsch 1967/ 79; Pugh 1981 u.v.a.; vgl. für eine Wirkungsanalyse in den USA und Europa Guillen 1994). Gesellschaftliche Entwicklungen wurden in die »Umwelt der Organisation« verbannt (zur Kritik siehe Türk 1995). Die Organisationssoziologie verlor damit tendenziell ihre Bezüge zur Gesellschaftstheorie, welche zuvor noch für das organisationssoziologische Denken wichtig gewesen waren (siehe als Belege dafür in ganz unterschiedlicher Herangehensweise Adorno 1953 und Parsons 1956). Das Fach hat sich auf diese Weise — gleichsam »freigesetzt« von den großen soziologischen Theorien und von der Frage der Bestimmung des komplexen Verhältnisses zwischen Organisation und Gesellschaft — in den USA umfassend etablieren können (vgl. dazu auch March 1996; Porter 1996; Zald 1996 u.a.). Dennoch gab es in Nordamerika, in Skandinavien und in Deutschland Vorläufer, die heute paradigmatisch geworden sind und breit rezipiert werden. Sie entstammen einer Zeit, in welcher der Neue Institutionalismus mit Meyer und Rowan (1977) seine erste maßgebliche Formierung erfuhr und das Scandinavian Institute for Administrative Research (SIAR) einflussreiche Arbeiten zum Thema Kultur und Werte in Organisationen veröffentlichte (so z.B. Rhenman et al. 1970). In Europa blieb der Gegenstandsbereich »Organisation« sehr viel nachhaltiger durch soziologische Großtheorien wie die Kapitalismustheorie oder die Staatsbzw. politische Theorie besetzt. Nicht als Organisation an sich, sondern als »Produktion« oder »Verwaltung« wurde »Organisation« thematisch. Auf der anderen Seite wurde die Bearbeitung des Gegenstandsbereichs sehr viel stärker als in Nordamerika (wo sich eine engere Verschränkung zwischen Verwendungskontext und Organisationstheorie herausbildete) der Praxis selbst oder praxisnahen Reflexionsformen wie der Organisations- und Unternehmensberatung überlassen. Damit fehlte zunächst das, was die Etablierung des Fachs an den nordamerikanischen Business Schools begünstigt hatte: eine eigenständige Thematisierungslogik von »Organisation« in Konzepten mittlerer Reichweite (Gergs et al. 2000; Hiller/ Pohlmann 2015: 50). Dem »flowering« in den USA stand daher lange Zeit — mit der Ausnahme Großbritanniens — ein »Orchideenfach« in Europa gegenüber. Eine eigenständige europäische Entwicklung in vergleichbaren Dimensionen setzte erst spät, in den 1990er-Jahren ein (ebd.). <?page no="67"?> 3.2 Organisationssoziologische Ansätze im Vergleich 67 Spätestens Ende der 1970er-Jahre hatte die Organisationstheorie begonnen, über die Kontingenztheorie hinaus mit einer Vielfalt unterschiedlicher Ansätze auch die kulturelle Heterogenität und Divergenz organisationaler Formen zu betonen. Doch auch hier, im Begreifen von Kultur, zeigte sich, dass der Bezug zur makrostrukturellen Ebene der Argumentation weitgehend ausgespart blieb. Kultur geriet in der produktiven Kontroverse über die »Kulturgeprägtheit« bzw. »Kulturfreiheit« der Organisation (vgl. Hickson/ McMillan 1981; Child u.a. 1983; d’Iribarne 1991; Maurice 1991; Macharzina u.a. 1998; Hofstede u.a. 2010; vgl. für eine Zusammenfassung Heidenreich/ Schmidt 1991) zu einer externen Variable und wurde regional oder national identifiziert, aber eine Verbindung mit gesellschaftstheoretischen Reflexionen wurde kaum mehr hergestellt (Gergs et al. 2000). Aus dem Schatten soziologischer Großtheorien begann sich die Organisationssoziologie in Deutschland erst in den 1980er-Jahren zu befreien, als die Bindekraft der traditionellen Kapitalismus- und politischen Theorien nachließ. Sehr viel mehr Forscher*innen wandten sich nun dem Interessengebiet »Organisation« zu. Sie erbten damit allerdings zunächst das Defizit an gesellschaftstheoretischer Reflexion, welches das Fach in Nordamerika bislang kennzeichnete, ohne in hinreichender Weise neue Mittel zur Behebung dieses Defizits zu nutzen. Das begann sich in Deutschland erst in den 1990er-Jahren mit der Bezugnahme auf die Luhmann‘sche Systemtheorie und den Neuen Institutionalismus zu ändern (Hiller/ Pohlmann 2015: 50). Erst seit den 1990er-Jahren lassen sich denn auch wieder Tendenzen erkennen, die Organisationssoziologie stärker gesellschaftstheoretisch einzubetten und das soziale Gebilde »Organisation« durch die Brille etablierter Gesellschaftstheorien zu betrachten. So wird das Verhältnis von »Organisation« und »Gesellschaft« auch in Deutschland erneut stärker thematisiert (vgl. z.B. Ortmann u.a. 2000; Türk 1995, 1999; Drepper 2003 etc.). In der Organisationstheorie der 90er und 2000er Jahre ist daher von einer »Rückkehr der Gesellschaft« (Ortmann u.a. 2000) die Rede. Gemeint ist nun konkret, dass Organisationen Gesellschaft verkörpern und jene gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen mitproduzieren, denen sie selbst ausgesetzt sind (vgl. Ortmann u.a. 2000 16 ff., Türk 2000: 176). Der neue Institutionalismus hat dann in den 2000er-Jahren weiter an Bedeutung gewonnen (vgl. dazu nur Bort/ Kieser 2011: 670; Beckert/ Besedovski 2009: 20; Vogel 2012: 1029 f.) und ist zusammen mit dem Kompetenzsowie dem Netzwerkansatz zu einem der führenden Paradigmen der »Organization Studies« geworden. Auch in den Selbstbeschreibungen des neuen Institutionalismus wird nun zunehmend seine Konsolidierung als Paradigma in der Organisationssoziologie und -theorie beschrieben (Scott 1987; 2008; Kirchner et al. 2015; Alveson, Spicer 2019 u.v.a.). In der deutschsprachigen Soziologie der Organisation rücken dann in den 2010er Jahren zum einen praxisnahe Themen wie z.B. „Selbstorganisation“ (Geramanis/ Hutmacher 2020), digitale und „agile Organisation“ in den Vordergrund. Zum anderen werden zunehmend Bezüge hergestellt zur französischen Soziologie der Konventionen, zur Soziologie der Bewertung (Rasche/ Seidl 2019) sowie zur Soziologie der Emotionen (Zietsma 2019).In der anglo-amerikanischen sowie europäischen Diskussion der 2010er Jahre rücken, auch angesichts der Covid19-Pandemie, Fragen der Resilienz von Organisation in den Fokus (siehe nur: Duchek 2020) sowie z.B. die Erweiterung unseres Verständnisses von Organisation durch den Einbezug peripherer, oft nicht formaler Formen der Organisiertheit wie z.B. Clubs von Kund*innen, Netzwerken mit Lieferant*innen etc. Unter dem Label der „partial organization“ (Ahrne/ Brunsson 2019; Brunsson/ Ohlsen 2018; Berkowicz/ Souchaud 2022; Lamaanen et al. 2020; Grothe-Hammer et al. 2022) als Ergänzung zur „complete organiza- <?page no="68"?> 68 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie tion“ wird von Brunsson et al. für eine erweitertes Organisationsverständnis plädiert (Ahrne/ Brunsson 2019). Aber auch die Themen „intersectionality“ und „racialized organization“ bilden Ankerpunkte in der angloamerikanischen Diskussion (Ray 2019; Cech/ Rothwell 2020; Dennissen et al. 2020 u.v.a.). Alle drei Ansätze, deren Perspektiven im Buch ausgelotet werden, haben in unterschiedlicher Weise den Faden der Kritik an der Heuristik Webers aufgenommen und ganz unterschiedlich darauf reagiert. In der Handlungstheorie, insbesondere der Theorie rationaler Wahl wurde versucht — teilweise in Anlehnung an, teilweise in Abgrenzung von Max Weber — den Aspekt der Akteursrationalität enger und präziser zu fassen. Ziel war es, ein Erklärungsmodell zu gewinnen, das in der Lage ist, das Zusammenspiel der Handlungen natürlicher Personen und korporativer Akteure genauer zu erfassen und unter Nutzengesichtspunkten zu analysieren. Luhmann hat mit seiner Systemtheorie hingegen eine Kehrtwende vollzogen und sich vom Weber‘schen Rationalitätsverständnis ganz gelöst (vgl. Luhmann 1971). Das mit diesem verbundene Zweck-Mittel-Schema 27 war ihm nur eine immer auch anders mögliche Bewertungsform in der Organisation, die selbst keine übergeordnete Rationalität für sich in Anspruch nehmen konnte. Deswegen fokussierte Luhmann seine Theorie nicht mehr auf Rationalität, sondern auf den Umgang mit Kontingenz und Ungewissheit in der Organisation. Diese wird dann als ein System verstanden, das sich in Entscheidungen selbst produziert und reproduziert (vgl. Luhmann 2000). Tabelle 3.1 Drei organisationssoziologische Ansätze im Vergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neue Institutionentheorie (Meyer, Rowan, Zucker) Systemtheorie (Luhmann) Wie gehen sie mit Webers Rationalitätsannahmen um? Zuschnitt auf das Konzept rationaler Wahl Bezug auf das, was als rational und legitim erscheint Abkehr vom Rationalitätskonzept Was verstehen sie unter Organisation? einen korporativen Akteur als Handlungssystem ein sich als formal rational ausweisendes Handlungssystem, das auf institutionellen Regeln basiert oder diese verkörpert ein Entscheidungssystem, das sich selbst in Entscheidungen (re)produziert 27 Zu Luhmanns Kritik am Weber‘schen Rationalitätsverständnis siehe Luhmann 1997. <?page no="69"?> 3.2 Organisationssoziologische Ansätze im Vergleich 69 Der neue Institutionalismus wiederum ergänzte die Perspektive Webers, indem seine Vertreter*innen auf den Aspekt der gesellschaftlichen Legitimität dieser Formen aufmerksam machten. Die »bürokratische Organisation«, die Weber vor Augen hatte, wurde nun vornehmlich als Rationalitätsfassade dargestellt, die vielfach in der Welt kopiert und übernommen wurde. Die Frage war jetzt, wie viel an Ineffizienz und/ oder Ineffektivität sich hinter der Fassade verbarg (Meyer/ Rowan 1977, siehe Kap. 3.4). Da die Fassadenkonstruktion sich auf die Anerkennung und Legitimität gesellschaftlich institutionalisierter Regeln zurückführen lasse, könnten diese - ungeachtet ihrer tatsächlichen Effizienz oder Effektivität, so die Pointe -Ressourcen für den Bestand der Organisation viel einfacher mobilisieren. Auf diese Weise könnten sie sich auch dann verbreiten, wenn ihre Arbeitsweisen tatsächlich ineffizient seien. Zwischen Engführung und Präzisierung (z.B. durch Coleman), Ergänzung und Hinterfragung (z.B. durch den Neo-Institutionalismus) des Rationalmodells der Organisation sowie der radikalen Abkehr von ihm (z.B. Systemtheorie) bewegt sich der Diskurs der Organisationssoziologie, insoweit er sich auf die Auseinandersetzung mit dem Rationalmodell der Organisation bezieht. Wir wählen zur Einführung in die Argumentationsweise der drei Ansätze ein hypothetisches Beispiel aus, das jedoch realitätsnah entworfen wurde 28 und helfen soll, die Unterschiede in der Argumentation kenntlicher werden zu lassen. Leitbeispiel 3.3: Die freie Universität Pellworm Stellen wir uns vor, zwei Dutzend Studierende und eine Handvoll Lehrkräfte wollen dem üblichen Lehrbetrieb entkommen und gründen eine freie Universität auf Pellworm. Sie alle teilen das substanzielle Interesse, neue Lehr- und Lernformen auszuprobieren und sich gegenüber dem üblichen Kanon der universitären Fächer mehr Varianz und Wahlfreiheit zu gönnen. 28 Zwei ernüchternde Praxisbeispiele, die die praktischen Herausforderungen alternativer Bildungsinstitutionen verdeutlichen, sind die Private Hanseuniversität Rostock sowie die Akkon Hochschule in Berlin. Im ersten Fall wurde das ambitionierte Projekt, das zuletzt nur noch drei Studierende zählte, bereits nach zwei Jahren (2009) geschlossen. Eine lesenswerte Aufarbeitung des Falles findet sich bei Titz (2008). Im Fall der Akkon Hochschule Berlin konnte zwar die Schließung abgewendet werden, zahlreiche personalpolitische Querelen und Proteste der Studierenden über die anhaltenden Probleme machten aber einen grundlegenden Neustart erforderlich (siehe hierzu Reißmann 2010). Sie bietet heute Bachelor- und Master-Studiengänge aus den Fachbereichen Pflege und Medizin, Humanitäre Hilfe und Bevölkerungsschutz sowie Pädagogik und Soziales an. Träger ist die Akkon-Hochschule gemeinnützige GmbH, die von der Johanniter-Unfall-Hilfe ins Leben gerufen wurde (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Akkon-Hochschule_für_Humanwissenschaften) zuletzt aufgerufen am 17.11.22). <?page no="70"?> 70 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie Ihnen liegt nicht an einer Organisation, sondern an einer verbindlichen Gemeinschaft, in der jede und jeder alles lehren und lernen kann. Sie finanzieren das Projekt zunächst mit freiwilligen finanziellen Beiträgen aus ihrem Ersparten und hoffen auf Mäzene und Sponsoren. Die Gebäudemiete übernimmt der alternative Tourismusverband »Freie Nordsee« für ein Jahr. Man führt die intellektuellen, finanziellen und sozialen Ressourcen zusammen, um dem Ganzen eine Chance zu geben. Kurse über die »globale Autogenese« oder den »Wandel des Wandels« stehen ebenso auf dem Programm wie die teilnehmende Beobachtung des »Volxlebens am Meer«. In den ersten Monaten läuft alles gut. Lehrende und Studierende genießen ihr außergewöhnliches Dasein an der freien Universität Pellworm. Es wird gemeinsam gekocht, gelebt, geschwommen, gearbeitet und gelernt. Und die Tourist*innen, die hinzustoßen, zahlen einen kleinen Obolus für die Teilnahme an Kursen, die auch ihnen prinzipiell offenstehen. Doch die Gemeinde Pellworm beschwert sich in der Zwischenzeit, dass sie ständig wechselnde Ansprechpartner*innen hat, und der Energieversorger, dass die Nebenkosten nur unregelmäßig bezahlt werden. Die Winterzeit auf Pellworm bringt es zudem mit sich, dass die Tourist*innen seltener werden und ihre finanziellen Beiträge fehlen. Die Kurse schlafen teilweise ein oder wiederholen sich, so dass auch die interne Nachfrage ausbleibt. Die Studierenden müssen immer öfter den Eltern über ihr Treiben und ihre Perspektiven Rechenschaft ablegen. Da die Eltern an der Finanzierung des Studiums beteiligt sind, verlangen sie, mit dem Dekan oder dem Rektor der freien Universität Pellworm zu sprechen - Positionen, die es innerhalb der freien Gemeinschaft gar nicht gibt. Die Studierenden selbst wollen teilweise mehr lernen und anderes hören, Gastdozierende einladen oder neue Expert*innen gewinnen. Aber es fehlt sowohl an Geld als auch an Stellen. Manche von ihnen brauchen Bescheinigungen über das, was sie gelernt haben, andere wollen sich bewerben und sich die Studienzeiten anrechnen lassen. Die freie Universität Pellworm reagiert zunächst, indem sie aus ihren Reihen eine Sprecherin wählt und ihr einen Stellvertreter an die Seite stellt. Beide sollen Koordinationsaufgaben übernehmen und als Ansprechpartner*innen dienen. Dadurch vernachlässigen diese aber zunehmend ihre ursprünglichen Vorhaben. Man beschließt deswegen, ihnen zumindest eine Aufwandsentschädigung zu geben. Das geht eine Weile gut, aber nach einem Jahr taumelt die freie Universität in eine Krise. Ein paar Studierende verlassen sie, um wieder in ihr »richtiges« Studium zurückzukehren, andere wollen ein noch freieres Leben in wärmeren Gefilden auf Jamaika, den Norfolk Inseln oder Barbados realisieren. Ein Vater klagt gegen die Universität. Er habe seinem Sohn zum Studieren Geld gegeben und nicht zum Vergnügen. Die Frage taucht auf, ob sich die Gemeinschaft überhaupt Universität nennen darf? Der Vater klagt auf Schadensersatz und auf die Streichung der Benennung »Universität«. Doch gegen wen? Die Sprecher*innen sehen sich gezwungen, die Klage anzunehmen, aber es handelte sich ja bislang um nicht mehr als einen freien Zusammenschluss einiger Menschen, ohne Vereins- oder eine andere Rechtsform. Zugleich läuft die Förderung durch den Tourismusverband aus und eine hohe monatliche Gebäudemiete fällt an. Allen Beteiligten wird klar, dass es so nicht weitergehen kann. Quelle: Wikimedia Commons, File: Pellworm P5232377 jm.JPG <?page no="71"?> 3.2 Organisationssoziologische Ansätze im Vergleich 71 Um Geld einzunehmen, einigt man sich darauf, ein gebührenpflichtiges Kurssystem einzuführen. Doch dies verlangt eine Rechtsform und so wird ein gemeinnütziger Verein namens »Freie Universität Pellworm« mit sieben Gründungsmitgliedern ins Leben gerufen - samt Satzung, Vorstand und Kassenwart*in. In der Satzung steht ein eher allgemein gehaltener Bildungsauftrag, für die Gemeinschaft, die Gemeinde Pellworm und Tourist*innen aus aller Welt. Zugleich gibt man das Gebäude, das bisher als Arbeits- und Lebensraum diente, auf, und jedes Vereinsmitglied ist nun für Unterkunft und Verpflegung selbst verantwortlich. Die Studierenden haben teilweise weite Anfahrtswege in Kauf zu nehmen, manche ziehen sogar aufs Festland. Man mietet einen Kirchenraum an, in dem bei schlechtem Wetter oder im Winter die Kurse stattfinden sollen. Das funktioniert auch ganz gut, doch nun möchte jeder*jede Dozierende ein Honorar, das es ihm*ihr zumindest erlaubt, seinen*ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dabei gibt es nicht nur Ärger, weil die Professor*innen mehr Geld verlangen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sondern auch, weil die Studierenden mehr Kurse geben müssen als sie belegen können, um über die Runden zu kommen. Zwar tun sie das gerne, aber andererseits wollen sie selbst auch noch lernen. Zum Glück wird die Schadenersatzklage des Vaters vor Gericht abgewiesen, aber die Bezeichnung »freie Universität« muss gestrichen werden. Man nennt sich nun »freie Studiengruppe Pellworm« und ähnelt immer mehr einer alternativen Volkshochschule. Mit den Tourist*innen werden »Lai*innen« zur Hauptbuchergruppe, welche oft mehr Unterhaltung als Expertise suchen. Nach ein paar Monaten sind noch mehr Studierende und auch zwei Professoren abgesprungen und an ihre Universität auf dem Festland zurückgekehrt, während andere sich spezialisiert haben. Zwei Kurse entfalten jedoch besondere Attraktivität. Der neu eingerichtete Kurs zum »nordfriesischen Schiffsmanagement« ist immer so ausgebucht, dass mehrere Kurse zum Thema angesetzt werden und auch die »Sozio-Ökologie des Wattenmeers« erfährt großen Zuspruch. Die Übriggebliebenen der Studiengruppe »Pellworm« versuchen hier anzusetzen und eine nordfriesische Reedereigruppe zu gewinnen, um mit ihnen ein Kurssystem aufzubauen. Dies fällt nicht leicht, aber die Reederei hat Interesse, ihre betriebliche Weiterbildung für das Reederei-Management zu erweitern und zusammen mit anderen Reedereien aus Hamburg eine »Corporate University« zu gründen. Da einer der Studierenden aus einer Reeder- Familie kommt und einer der Professoren im Auftrag einer Reederei eine Untersuchung über den sozialen Kosmos auf Container- und anderen Handelsschiffen durchgeführt hatte, traut die Reederei den beiden zu, erste Schritte in Richtung der Gründung einer »Corporate University« zu gehen. Ein Name ist mit »Corporate Ship Management Academy North Frisia« schnell gefunden. Die Landesregierungen von Hamburg und Schleswig-Holstein werden kontaktiert und schnell können sich beide Bundesländer vorstellen, den Ausbau zu einer Business School auch finanziell zu unterstützen. Voraussetzung ist jedoch eine Ansiedlung nicht nur in Pellworm, sondern auch in Hamburg, mit dem Ziel, einen eigenen MBA (Master of Business Administration) im Bereich »International Ship Management« anzubieten. Vertreter*innen der Landesregierungen und der Reedereien bilden ein Konsortium, das sich allerdings relativ schnell über die Details und die Anteile der Finanzierung zerstreitet. Externe Expert*innen empfehlen einen MBA nach dem Vorbild der Harvard Business School mit entsprechenden Anteilen von Sponsor*innen und Investierenden sowie einer Organisationsform mit einer schlanken Struktur (Lean Management) und gut funktionierenden PPPs (Public Private Partnerships). Die Akkreditierung soll eine internationale Agentur vornehmen, die zugleich für die staatliche Anerkennung des MBA bei den Landesregierungen zu sorgen hat. Hamburg steigt dann jedoch spät <?page no="72"?> 72 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie aus dem Verfahren der Gründung aus. Aber Schleswig-Holstein unterstützt die Gründung der »Shipmanagement Business School Pellworm« (SBSP), wie sie dann heißen soll, weiterhin. Als Gründungspräsident fungiert jener Professor mit den guten Kontakten zur Reederei. Ein Beirat mit Vertretenden der Landesregierung und der Reedereien repräsentiert die Interessen der Träger*innen. Einer der Professoren wird aus Altersgründen »ausgemustert« und einem anderen, der sich abwartend verhält, legt man aus Kompetenzgründen den Rückzug nahe. Die Studierenden können nun nicht mehr Dozierende sein, sondern müssen sich für einen Jahresbeitrag von 18.000 € für das MBA- Studium bewerben. Neue Professor*innen werden befristet angestellt und mit gut dotierten Honorarverträgen nach Pellworm gelockt. Insgesamt lassen sich im ersten Jahrgang sieben Studierende für den MBA gewinnen. Im zweiten Jahrgang sind es bereits fünfzehn Studierende, so dass die SBSP ihren »break even point« erreicht. Die Kurse sind sehr eng auf das Schiffsmanagement ausgerichtet und der Geschäftsführer der Reederei betätigt sich bei diesen zunächst als Dozent und wird dann zum Honorarprofessor gekürt. Bis heute ist die Business School zwar ein Nischenprodukt, das sich jedoch erfolgreich in dem Segment der Schiffsmanagement-Ausbildung behaupten kann. Die »freie Universität Pellworm« ist nur noch Geschichte - eine Geschichte allerdings, die in den Annalen der Business School keine Erwähnung mehr findet. 3.3 Organisation als korporativer Akteur Auf die Frage, warum es Organisationen gibt, lautet die Antwort eines handlungstheoretischen Ansatzes: zur Herstellung und Stabilisierung kollektiver Handlungsfähigkeit einer Mehrzahl individueller Akteur*innen (vgl. Schimank 2002: 31). Je stärker dies notwendig wird, so zeigt das Beispiel der freien Universität Pellworm, desto eher kommen Organisationsformen ins Spiel. Diese Stabilisierung kann durch Netzwerke, Polyarchien 29 oder eben — wie im Falle von Organisationen — durch Hierarchien geschehen. Die freie Universität Pellworm hat in ihrer Transformation diese Formen nacheinander angenommen: Sie beginnt als Netzwerk im Sinne eines freien Zusammenschlusses verschiedener Personen, entwickelt sich zu einer Polyarchie weiter und endet als Arbeitsorganisation oder genauer: als ein korporativer Akteur. Die Entscheidungsbefugnisse über das Handeln aller Beteiligten liegen am Ende bei einer übergeordneten Leitungsinstanz. Organisationen wie die freie Studiengruppe Pellworm oder die SBSP stellen handlungstheoretisch betrachtet korporative Akteure dar. Sie erlangen im Coleman‘schen Sinne durch die Zusammenlegung der unterschiedlichen Ressourcen der beteiligten Akteur*innen auf Basis untereinander ausgehandelter, bindender Vereinbarungen ihre Handlungsfähigkeit. Diese müssen keines- 29 Polyarchie meint eine Herrschaft der Vielen oder Mehrerer in einem sozialen Gebilde, im Idealfall eine pluralistische Demokratie (vgl. Dahl 1976: 59-84). <?page no="73"?> 3.3 Organisation als korporativer Akteur 73 wegs schriftlich fixiert, sondern können vom Einverständnis in bestimmte Handlungserwartungen geprägt sein. Solche durch die Bündelung von Interessen und Ressourcen gleichsam von unten konstituierte korporative Akteure sind Interessenorganisationen, also Verbände, Vereine, Parteien, Kirchen, freie Studiengruppen etc. Die Zielsetzungen dieser »kollektiven Organisationen oder Akteure«, wie sie in der Organisationssoziologie genannt werden, bleiben an die gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder rückgebunden - so etwa die Entwicklung neuer Formen der Verbindung von Lernen, Lehren und Leben bei der freien Universität Pellworm. Im Idealtypus der Interessenorganisation besteht eine ursprüngliche Ranggleichheit der Mitglieder, die nach und nach durch repräsentativ-demokratische Verfahren ersetzt werden. So wie im Falle der freien Universität Pellworm nach einiger Zeit Sprecher*innen oder später ein Vereinsvorstand gewählt werden. Es entsteht eine Hierarchie, bei der jedoch mehrere Leute an der Spitze stehen und die oft mehrere Leitungsfiguren kennt. So sind die Sprecher*innen oder der Vereinsvorstand »primi inter pares«, ohne dass die anderen Mitglieder der selbstgegründeten freien Universität oder der Studiengruppe nichts mehr zu sagen hätten. Anders als in Arbeitsorganisationen schaffen sich also die Mitglieder hier selbst diese hierarchische oder besser polyarchische Struktur, der sie sich dann unterordnen (vgl. Schimank 2002: 31-35). Tabelle 3.2: Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Interessen- und Arbeitsorganisationen (siehe Kapitel 9) Interessenorganisation (z.B. Verbände, Vereine, Parteien, Kirchen etc.) Arbeitsorganisation (z.B. Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser etc.) von »unten« gebildet von »oben« gebildet an die Interessen der Mitglieder rückgebunden an die Interessen des Trägers gebunden Ranggleichheit der Mitglieder Rangungleichheit der Mitglieder selbst geschaffene Hierarche/ Polyarchie vorgegebene Hierarchie Dies muss bei Arbeitsorganisationen wie der Business School SBSP nicht der Fall sein. Oft wird hier die formale Organisation »von oben«, durch einen Träger konstituiert. Dies kann ein Individuum, ein Unternehmen, eine Schulbehörde oder ein Konsortium aus Reedereien und Landesregierung wie in unserem Falle sein. Die Interessen des Trägers sollen mittels Organisation realisiert werden, wozu es oft weiterer Mitglieder bedarf. Die »Ship Business School Pellworm« (SBSP), die sich aus der freien Universität herausbildet, ist im Ergebnis eine Arbeits-, und keine Interessenorganisation <?page no="74"?> 74 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie mehr. Denn deren Mitglieder können auch ohne Übereinstimmung mit den gesetzten Zielen der Organisation an deren Leistungsproduktion mitwirken. Anders als bei der freien Universität Pellworm als Interessenorganisation müssen Mitgliedschaftsmotiv und Organisationszweck nicht mehr übereinstimmen oder eng verbunden sein, sondern die Dozierenden oder Führungskräfte können ihren Job auch vorrangig wegen des angebotenen Honorars machen. Auf Basis dieses Tausches lässt sich in Arbeitsorganisationen eine Hierarchie aufbauen, die hierarchisch geordnete Stellen mit entsprechenden Qualifikationen und Vergütungen verknüpft. Der Geschäftsführer der SBSP erfüllt in diesem Sinne eine ganz andere hierarchische Funktion als der Vereinsvorstand, weil dieser nicht mehr direkt an die Interessen der Vereinsmitglieder rückgebunden ist, sondern auch gegenüber Angestellten mit anderen Interessen Weisungsbefugnis hat. Arbeitsorganisationen sind in der Regel also keine Interessenzusammenschlüsse, sondern bauen vor allem auf Tauschbeziehungen auf (vgl. ebd.: 34). Deswegen muss es, wie noch im Falle der »freien Studiengruppe Pellworm«, auch keine Satzung mehr geben, sondern es reichen je bilaterale Vereinbarungen, die Arbeits- oder Honorarverträge. Für festgelegte Anreize, z.B. den Arbeitslohn, werden hier die erwarteten Beiträge zur Leistungsproduktion formuliert - auch wenn man diese nicht präzise spezifiziert, sondern nur ungefähr benennt (vgl. dazu Berger/ Offe 1982). Die enge Verbindung zwischen der Einbringung der je individuellen Einflusspotenziale und deren Einsatz im Sinne substanziell geteilter Interessen fehlt bei der Arbeitsorganisation in der Regel oder ist zumindest für diese nicht konstitutiv. Erkennbar ist das umgekehrt auch daran, dass man in Arbeitsorganisationen wie der SBSP ohne Weiteres auch dann entlassen werden kann, wenn man mit ihren Zielen übereinstimmt - und sei es nur, weil man zu teuer geworden ist. Von einem*einer Akteur*in muss nach Coleman gesprochen werden, wenn man es mit zielgerichtetem, kohärentem Handeln zu tun hat, und von einem »korporativen Akteur«, wenn es gelingt, aus den Verhandlungskonstellationen individueller Akteur*innen kollektive Handlungsfähigkeit zu mobilisieren (vgl. dazu Schimank 2002: 40 ff.). Hinzu kommt die Entstehung einer »juristischen Person«, auf die Handlungen zurechenbar werden. Dies ist in unserem Beispiel der freien Universität Pellworm erst mit der Gründung des Vereins erreicht. Der korporative Akteur bekommt nach Coleman Rechte übertragen und wird zum nachgeordneten Beauftragten eines Staates oder in unserem Falle einer Interessengruppe, erhält teilweise Souveränität, Herrschaft, Kontrolle über bestimmte Personen (Coleman 1986: 48 ff.), auch wenn er an die Interessen der Mitglieder rückgebunden bleibt. Ein korporativer Akteur verfügt als Interessenorganisation über eine Verfassung, die zur Entscheidungsfindung beitragen soll. Dadurch kann zielgerichte- <?page no="75"?> 3.3 Organisation als korporativer Akteur 75 tes Handeln im Sinne von Coleman ermöglicht werden. Wenn wir uns z.B. die freie Studiengruppe Pellworm genauer anschauen, dann stellen wir schnell fest, dass dieser Zusammenschluss (wie jede andere formale Organisation auch) zu einem Gebilde wird, in dem Herrschaft ausgeübt wird. Die Gründer*innen einer Organisation übertragen die Nutzungsrechte über die Ressourcen an die Agent*innen der Organisation, und die Ressourcen werden organisationsintern verplant und verteilt, ohne dass die Gründer*innen einen direkten Einblick und Einfluss auf diese Prozesse haben müssen (Kappelhoff 2000: 251). Formale Organisationsstrukturen und Hierarchien bestimmen nun immer mehr die Entscheidungswege und sorgen gleichzeitig für Orientierung und Transparenz. Die Organisation als Akteur bekommt somit eine formal einheitlichere Gestalt und kann in unterschiedlichem Ausmaß die eigenen Ziele vertreten. In Colemans Worten: »Wenn alle Agent*innen ein Interesse an dem gemeinsamen Ziel haben, dann wird die Allokation von Autorität im Hinblick auf Entscheidungen an Schnittstellen weniger wichtig. Obwohl verschiedene Agent*innen das Problem möglicherweise unterschiedlich betrachten, werden ihre Interessen nicht unterschiedlich, sondern ähnlich sein« (Coleman 1992: 159). Bei widersprüchlichen Interessen der Agent*innen liege es dann im Interesse der Körperschaft, die Identifikation jedes*r einzelnen Agent*in mit der Körperschaft herbeizuführen (ebd.: 160). Die Beziehungsstruktur zwischen den Positionen wird durch ein zentrales Management festgelegt. Ist sie gut angelegt, können Agent*innen sogar ihre eigenen Ziele verfolgen und zugleich den Zweck der Körperschaft erreichen (ebd.: 166). Erziehung und Steuerung durch ein zentrales Management sorgen also dafür, dass auch widersprüchliche Individual- und Kollektivinteressen in Einklang gebracht werden. Erst in dieser Form, in unserem Beispiel in der Form der Business School SBSP, erscheint die freie Universität Pellworm im Coleman‘schen Sinne als ein vollendeter korporativer Akteur. Für Coleman ist damit klar: Auch bei der Verfolgung eigener, nicht gemeinsamer Interessen der Agent*innen greift die sichtbare Hand einer vom Management angelegten Struktur, welche die Agent*innen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ziele der Korporation erfüllen lässt. Das Problem des zielgerichteten Zusammenhandelns wird durch die interne Struktur der Korporation gelöst, die das Vertrauen in die notwendige Konformität der Mitglieder zu gewährleisten vermag (vgl. Schneider 2003: 102- 107), und ist daher in der Tendenz kein Problem für den korporativen Akteur. Über Austausch und Kontrolle der Agent*innen, Anreiz, Belohnung und Bestrafung werden die strategische Handlungsfähigkeit und Zielgerichtetheit des*der Akteur*in aufrechterhalten. Wer zu sehr von den Zielen des korporativen Akteurs abweicht, muss mit Folgen rechnen (Coleman 1978). Die Frage, wie personale Akteur*innen auf Basis <?page no="76"?> 76 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie unintendierter Handlungsfolgen das Problem organisational koordinierten Handelns lösen, bleibt ausgeblendet und ist damit implizit beantwortet: durch rationale Organisation (siehe dazu auch kritisch Wiesenthal 1987, 1990). Der korporative Akteur zeigt sich deswegen auch ohne Weiteres strategiefähig. Es ist nicht seine mangelnde, sondern seine gegenüber personalen Akteur*innen oder Individuen überlegene Strategiefähigkeit, welche Probleme aufwirft. Korporative Akteure seien, so nimmt Geser den Coleman‘schen Faden auf, besser als Individuen dazu disponiert, »perfekte Akteure« zu sein, die viel eher als Individuen »autonom und selbstverantwortlich« handeln können (Geser 1990: 415, so auch Wiesenthal 1990: 69 ff.). 3.4 Organisation und die Institutionen der Gesellschaft Warum erscheint aber die Form der Ausbildung in einer Business School vielen gesellschaftlich »rationaler« und legitimer als jene alternative der freien Universität Pellworm? Die Antwort der Institutionentheorie darauf lautet: nicht unbedingt weil sie effektiver oder effizienter ist, sondern weil sie den sozialen Erwartungen an formale Ausbildung besser entspricht und damit einem gesellschaftlich etablierten Muster, wie formale Bildung organisiert sein sollte. Ob sie für die Bildung der Personen tatsächlich effizienter oder effektiver ist, bleibt dabei eine offene Frage. Um das dahinterstehende Konzept der gesellschaftlichen Institution besser zu verstehen, müssen wir aber in der Argumentation noch einen Schritt weitergehen. Nicht nur die Studiengruppe auf Pellworm, sondern auch jeder Autodidakt kann außerhalb der gesellschaftlichen Institutionen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen streben. Die Orientierung an der Wissenschaft ist allen freigestellt. Aber dieser universellen Freiheit steht eine durch Institutionen eingeschränkte Praxis gegenüber. Durch sie wird zwischen Expert*innen und Lai*innen unterschieden. Der Expert*innenstatus knüpft sich zugleich an das Absolvieren zertifizierter Ausbildungsgänge. Dadurch werden — wie immer rational dies im Einzelfall sein mag — die Zugänge zu institutionalisierten gesellschaftlichen Praktiken reguliert. Der oder die Studierende in der alternativen Unigruppe auf Pellworm kann ebenso gebildet oder fachkompetent sein. Dennoch wird bei Rekrutierung der Dozierenden auf formale Abschlüsse geachtet. Wer diese nicht vorweisen kann, gilt nicht als Wissenschaftler*in. Oder die Reederei wird sich bei der Untersuchung eines Unglücks auf einem ihrer Kreuzfahrtschiffe nicht auf eine Expertise stützen können, die von formal nicht zertifizierten Expert*innen stammt (vgl. dazu Türk 1995: 172 f.; Schwinn 2009: 48 f.). Diese gesellschaftlich akzeptierten Regeln der Aneignung von Wissenschaft beinhalten nicht nur ein gesellschaftlich anerkanntes Kompetenz- und Rationalitätsverspre- <?page no="77"?> 3.4 Organisation und die Institutionen der Gesellschaft 77 chen, auf das sich andere Institutionen, Organisationen und Akteur*innen verlassen, sondern sie sorgen auch für eine Delegitimierung des Fachwissens, das jenseits dieser institutionalisierten Praxis entsteht. Betreffende Personen werden nicht selten als »selbsternannte« Expert*innen diskreditiert und ihr Wissen als Laientum oder Dilettantismus abgetan. Vor diesem Hintergrund ist auch die Reaktion des Vaters in unserem Beispiel zu sehen, der in dem nicht zertifizierten und kanonisierten Studium seines Sohnes in der Unigruppe auf Pellworm nicht eine alternative Bildungschance sieht, sondern bloßes »Vergnügen«, das vom Erlangen von Zertifikaten abhält, die den Berufserfolg garantieren. Das Konzept der Institutionen bezieht sich auf diese dauerhaft etablierten, gesellschaftlich anerkannten Regeln, denen man Rationalität und Legitimität zuspricht. Sie werden im Laufe der Zeit verinnerlicht und für die Gesellschafts- oder Organisationsmitglieder selbstverständlich. Anders als Luhmann, der in seinem späteren Werk ganz auf einen Institutionenbegriff verzichtet, möchte die neue Institutionentheorie zeigen, wie Organisationen institutionelle Formen der Gesellschaft aufnehmen oder verkörpern und ihre Formalstrukturen dadurch als »rational« ausweisen und sich legitimieren können. Im Falle der freien Universität Pellworm geschieht dies, indem die von einem alternativen Bildungsgedanken getragene Gruppe sich immer mehr an institutionalisierte Formen fachorientierter Bildung anpasst. Sie tut dies zunächst, um ihre Subsistenz zu sichern und ihre Legitimität zu erhöhen, später dann um mehr Ressourcen zu bekommen und Gewinne zu realisieren. Dabei bezeichnet die Legitimität die Anerkennungswürdigkeit oder Rechtmäßigkeit einer Ordnung. Sie kann nach Weber (1922/ 85) u.a. zugeschrieben werden kraft Tradition oder affektuellen Glaubens, kraft wertrationalen Glaubens oder positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird (Weber 1922/ 85: 19). Die Stabilität einer Ordnung bzw. auch die Überlebensfähigkeit einer Organisation setzt daran anschließend auch im neuen Institutionalismus nach Meyer/ Rowan einen Legitimitätsglauben voraus (Meyer/ Rowan 1977: 53; vgl. für eine Zusammenfassung auch Senge/ Hellmann 2006: 78 ff.). 30 Organisationen fördern diesen und steigern also ihre Legitimität, wenn sie gesellschaftlich als rational erscheinende und/ oder als rational anerkannte Elemente in ihre Formalstruktur integrieren. Darüber hinaus sind es, ähnlich wie bei Weber, auch normative und legale Elemente, welche die Legitimität einer Organisation erhöhen können (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund unterscheidet Richard Scott drei Arten von Institutionen: regulative, normative und kognitive. Regulative Institutionen zeichnen sich dadurch 30 »Organizations that incorporate societally legitimated rationalized elements in their formal structures maximize their legitimacy and increase their resources and survival capabilities« (Meyer/ Rowan 1977: 53). <?page no="78"?> 78 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie aus, dass sie durch klare, bereits formulierte Gesetze und Anweisungen das Handeln der Akteur*innen regulieren. Werden diese nicht befolgt, kann eine Sanktion folgen. Normative Institutionen bezeichnen Normen und Werte, die durch die Akteur*innen internalisiert worden sind. Werden diese nicht befolgt, kann es zu einem sozialen Ausschluss kommen. Kognitive Institutionen sind im sozialkonstruktivistischen Sinne sozial geteilte Konzeptionen von der Welt, von ihrer Gestalt sowie von den Mechanismen, die ihr innewohnen (Scott 2001: 57). Dabei erfährt der Begriff der Organisation zwei wichtige, aber unterschiedliche Ausformungen 31 : Zum einen wird die Organisation von Meyer/ Rowan (1977) als ein System analysiert, das wie die Business School in der Lage ist, institutionelle Erwartungsstrukturen, und sei es nur als Fassade, einzubeziehen. Zum anderen wird von Zucker u.a. (1977) Organisation als eine Verkörperung von gesellschaftlichen Institutionen wie jener formal standardisierter, an Zertifikate geknüpfter Ausbildung verstanden (siehe zur weiteren Entwicklung der neuen Institutionentheorie auch: Scott 1987, 2008; Alvesson/ Spicer 2019; Kirchner et al. 2015). Meyer/ Rowan betonen in ihrem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahr 1977 mit dem Titel »Formal Structure as Myth and Ceremony«, wie sehr die formale Struktur einer Organisation unter anderem auch von den bestehenden Erwartungen, Vorstellungen und Normen in einer modernen Gesellschaft abhängt. Sie dient laut Meyer und Rowan nicht zwangsläufig dazu, die Organisation technisch effizient werden zu lassen, sondern ihr eine »Belohnung« durch Umweltanpassung zu sichern (vgl. Meyer/ Rowan 1977: 349; Walgenbach 2006: 353). Organisationen setzen gesellschaftlich legitimierte Praktiken um, nicht weil sie als selbstverständlich und richtig wahrgenommen werden, sondern weil man sich dadurch eine Steigerung der Legitimität und somit gute Überlebenschancen erhofft (Scott 1994). Umgekehrt könnte aber auch der Verzicht auf Umstrukturierung entsprechend gesellschaftlich institutionalisierter Erwartungen das Ende einer Organisation oder in unserem Falle der Hochschulbildung auf Pellworm bedeuten. Meyer und Rowan weisen darauf hin, dass es sich oft um »zeremonielle Fassaden« handelt, die mit dem Zweck der Legitimation und Repräsentation nach außen aufgebaut werden. So ist die formale Struktur einer Organisation zu einem großen Teil davon abhängig, was gesellschaftlich als effizient, rational und effektiv gilt. Eine zweite, daran anschließende Perspektive (Zucker 1977, Meyer u.a. 1994, Meyer/ Jep- 31 Man kann - anders als bei den Theorien von Luhmann und Coleman - von keiner in sich geschlossenen Theorie sprechen, sondern eher von einem Konglomerat verschiedener theoretischer Konzepte (vgl. für Überblicksarbeiten Walgenbach/ Meyer 2008, Hasse/ Krücken 1996, Ortmann/ Zimmer 1998, Senge/ Hellmann 2006). <?page no="79"?> 3.5 Organisation als System 79 person 2000), welche die neo-institutionalistische Organisationssoziologie entwickelt, sieht die Organisation als Verkörperung institutioneller Umwelten (Mense-Petermann 2006: 69). Das Erkenntnisinteresse verschiebt sich und die Frage lautet nun: Wie sind Organisationen als soziale Gebilde entstanden und welche gesellschaftliche Rolle spielen sie? Organisationen sind in diesem Sinne selbst Produkte kultureller Vorstellungen, Normen und Ideen. Sie sind nicht einfach so entstanden, sondern geben uns Auskunft über die bereits institutionalisierten Wertorientierungen. Die Schule z.B. ist das Ergebnis der institutionalisierten Idee des Rechts auf Bildung für alle, was sich vor allem in der gesetzlich festgelegten Schulpflicht in Deutschland niederschlägt. Damit wird eine gewisse Skepsis bezüglich der rationalen Gestaltung der Organisation formuliert: Organisationen sind primär das Ergebnis institutioneller Erwartungsstrukturen, die auch durch die Überzeugungen und Handlungsweisen der Organisationsmitglieder (Zucker 1977) hineingetragen werden. Zucker beschreibt Organisationen daher als Institutionen, die selbst zur Verfestigung kultureller Muster beitragen. In Organisationen werden Normen und Ideen institutionalisiert, womit Organisationen eine sehr wichtige gesellschaftliche Rolle spielen: Sie liefern den Rahmen, in dem Akteurshandeln kanalisiert wird, und tragen zur Institutionalisierung kulturell geprägter Werte und Normen und somit zur gesellschaftlichen Stabilität bei (vgl. Zucker 1987). Eine Bestätigung dieser Perspektive ist die empirisch beobachtete Angleichung von organisationalen Strukturen und Managementpraktiken in unterschiedlichen organisationalen Feldern (DiMaggio/ Powell 1983; 1991). Die Business School Pellworm mit dem MBA nach dem Vorbild der Harvard Business School, mit der Unterstützung durch Sponsoren und Investoren, ist ein Beispiel für die Tendenz einer ähnlichen Ausgestaltung von berufsqualifizierenden Bildungseinrichtungen aufgrund institutionalisierter Vorstellungen und Erwartungen in diesem organisationalen Feld. Die institutionalisierten Erwartungen werden nicht nur von Externen, sondern auch von den Organisationsmitgliedern selbst getragen: Studierende, Professor*innen, Mitglieder der Universitätsverwaltung üben durch ihre Wirklichkeitswahrnehmungen und Einschätzungen einen wesentlichen Einfluss auf Organisationsveränderungen aus. 3.5 Organisation als System Die systemtheoretische Betrachtung von Organisationen kehrt die handlungstheoretische Perspektive um und verzichtet auf eine institutionentheoretische. Anders als Coleman beginnt sie nicht mit den Akteur*innen und deren Handlungen. Sie betrachtet diese auch nicht als konstitutiv für das System »Organisation«. Akteur*innen sind für sie nur Zurechnungspunkte, Adressat*innen von Entscheidungen, die erst in den Entscheidungen der Organisation Gestalt annehmen. Sie beginnt stattdessen also mit <?page no="80"?> 80 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie dem sozialen System, damit, wie es sich in Entscheidungen selbst entwirft und vom Rest der Umwelt unterscheidet. Auch unser Beispiel zeigt in dieser Perspektive, wie sich eine Gruppe von Lehrenden und Studierenden selbst als freie Universität Pellworm entwirft und von der Umwelt abgrenzt. Ihre Weiterentwicklung ist dabei nicht geplant oder gezielt, sondern von Evolution, also von Zufällen und Gelegenheitsstrukturen abhängig. Diese sorgen für Irritationen, die produktiv verarbeitet werden. So werden die Nachfrage nach Kursen oder die Kontakte zur Reederei zum Anlass genommen, die eigenen Strukturen zu ändern und Mitgliedschaftsregeln (Vertragsgründung und -mitgliedschaft) zu definieren. Hier ist aber nicht die Umwelt bestimmend, sondern die Art, wie z.B. die Studiengruppe Pellworm mit den Anforderungen aus der Umwelt umgeht. In dieser selbst geschaffenen und schrittweise geänderten Differenzierung von der Umwelt entwickelt sie sich zu einer »Business School« und bildet Strukturen aus, welche die beteiligten Personen zum Personal der Organisation werden lässt (siehe Kap. 4 zur begrifflichen Unterscheidung von Person und Personal). Nun kann beispielsweise eine abwartende Haltung oder zurückhaltendes Engagement als »Entscheidung« zugerechnet und etwa durch Kündigung sanktioniert werden. Nicht Handlungen oder Legitimationen stehen also bei der systemtheoretischen Perspektive im Vordergrund, sondern die Aufrechterhaltung, Veränderung und Reproduktion von Sinngrenzen durch das System selbst. Jedes System kann sich (innerhalb des gesellschaftlichen Kommunikationssystems) nur nach eigenen Bedeutungsregeln 32 die Umwelt aneignen bzw. die Differenz von System und Umwelt handhaben. In der Luhmann‘schen Systemtheorie werden Organisationen als soziale Systeme 33 begriffen. Sie sind durch Kommunikationen konstituiert 34 (vgl. Luhmann 2000). Die Organisation behandelt Kommunikation als Entscheidung und sichert diese Art der Behandlung (gegenüber Akteur*innen) durch Mitgliedschaft ab (vgl. dazu auch Luhmann 1997). Für die Mitglieder ist nun klar, dass auch ein Abwarten oder Nichtstun in bestimmten Situationen nicht nur als Kommunikation, sondern auch als Entscheidung z.B. gegen eine Initiative der Profilierung der Organisation als Business School verstanden werden kann. Mit der Mitgliedschaft wird akzeptiert, dass sich die Kommunikation an den Zwecken der Organisation orientiert und jederzeit so behandelt 32 Allerdings innerhalb des Rahmens von Sprache und Kommunikation, weshalb jede Organisation immer gesellschaftliche Organisation ist. 33 Siehe dazu auch Baecker (2012). 34 Kommunikation ist für Luhmann eine Kombination aus drei Elementen: Information, Mitteilung und Verstehen. Sie ist also nicht einfach eine Informationsübertragung, sondern hat immer einen konstitutiven Bezug zum Rezipienten: Erst durch das Verstehen einer Information und der mit ihr verbundenen Mitteilung kann man von einer Kommunikation sprechen, da wir erst dann eine kommunikative Brücke zwischen zwei geschlossenen (»autonomen«) Systemen verzeichnen können. <?page no="81"?> 3.5 Organisation als System 81 werden kann, als ob eine Entscheidung getroffen worden wäre. Organisationen können daher in systemtheoretischer Sichtweise als Entscheidungssysteme betrachtet werden. Natürlich werden auch in Familien oder Gruppen Entscheidungen gefällt. Das Spezifikum der Organisation liegt jedoch darin, dass sie jederzeit jede Kommunikation als Entscheidung behandeln kann und dies auch regelmäßig tut. Nur so können Entscheidungen als Ereignisse regelmäßig an Entscheidungen anknüpfen. Von Entscheidungen zu sprechen, meint dabei, dass Kommunikationen so beobachtet und bestimmt werden, dass sie als durch Alternativenwahl getroffene (immer temporäre) Festlegungen für nachfolgende Entscheidungen erscheinen. 35 Dadurch werden die Möglichkeitsspielräume in der Organisation verkleinert und die Entscheidungen entfalten Bindekraft. Entscheidungen nehmen dabei regelmäßig auf Handlungen Bezug. Wenn einer der Professor*innen auf Pellworm auf einem einsamen Inselspaziergang eine Rede an den Strandhafer halten würde, so könnte er*sie sich zwar selbst dabei als Handelnde*r beobachten, aber eine soziale Gestalt bekommt diese Handlung erst, wenn er*sie mit anderen darüber sprechen und damit der Handlung einen sozialen Sinn verleihen würde. Denn dabei würde er*sie sich mit sozialen Erwartungen auseinandersetzen, also zum Beispiel erklären, warum dies nicht »verrückt«, sondern eine Vorbereitung für den nächsten Kurs an der freien Universität Pellworm war. Handlungen gewinnen ihre soziale Gestalt also in Entscheidungen, in denen Handlungen z.B. in Arbeitsorganisationen wie der Business School nach Maßgabe des zweckorientierten Einsatzes von Arbeitskraft beobachtet werden. Luhmann nimmt also nicht, wie die Theorie rationaler Wahl, die Handlung als solche in den Blick, sondern das soziale Geschehen, in dem ihr Sinn verliehen wird (vgl. Luhmann 1997). Dieser hängt nicht nur an der Wahrnehmung und Beobachtung dieser Handlung, sondern an der Kommunikation dieser Beobachtung, die ihr erst eine soziale Gestalt gibt (vgl. dazu auch Kneer/ Nassehi 2000, Wittenbecher 1999). Da die Elemente der Organisation nicht die Menschen sind, die in ihr arbeiten, sondern Kommunikation, die als Entscheidung behandelt wird, gehören die psychischen Systeme zur Umwelt der Organisation. Die Kommunikation ist zwar strukturell immer an deren Bewusstsein gekoppelt, aber das Bewusstsein selbst ist zu komplex und eigendynamisch, um sich einfach in Kommunikation zu übersetzen (siehe dazu ausführlich Kap. 4). Man kann nie genau wissen, welche Bewusstseinsspuren die Kom- 35 Luhmann sieht 1977 die doppelte Einheit der Entscheidung in der Unterscheidung zwischen Alternativen und der Wahl einer Alternative (vgl. Luhmann 1977: 338), wendet sich jedoch 20 Jahre später davon ab und schreibt: »Was eine Entscheidung ›an sich‹ ist, kann dabei offen bleiben. Genau das bleibt nämlich unbestimmt (oder nur tautologisch bestimmt), wenn sie als Wahl innerhalb von Alternativen beschrieben wird. Sie ist keine zusätzliche Wahlmöglichkeit, also auch keine Komponente der Alternative, die ebenfalls gewählt werden könnte, sondern vielmehr das durch die Konstruktion der Alternative ausgeschlossene Dritte - also wiederum: der Beobachter! « (Luhmann 1997: 831). <?page no="82"?> 82 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie munikation bei den anderen hinterlässt. Die Kommunikation lädt zwar zu Rückschlüssen auf damit verbundene Bewusstseinszustände ein, aber diese »Bewusstseinszustände« können nur unterstellt werden. Dadurch wird die Kommunikation am Laufen gehalten. Es bleiben Konstruktionen zum Zwecke der Kommunikation, auch wenn sie uns anders erscheinen mögen (vgl. Luhmann 2000: 94-98). Das Problem der daraus resultierenden Unzugänglichkeit des Bewusstseins für sich und andere löst die Kommunikation, indem sie eben nicht an das Bewusstsein der Menschen anschließt, sondern an deren Kommunikation. Die Koordination und überhaupt die dauerhafte Sicherstellung der zahlreichen Entscheidungen, die in Organisationen tagtäglich getroffen werden, erfolgt durch die Festlegung von Entscheidungsprämissen. So steht es für die neu angestellten Lehrkräfte der Business School — solange diese Gewinne realisiert und die Gehälter zahlen kann — nicht mehr prinzipiell in Frage, dass die ehemals freie Universität Pellworm als »Business School« im Bereich des Schiffsmanagements operiert, sondern dieser Umstand wurde zur selbstverständlichen Prämisse ihrer Mitgliedschaft. Entscheidungsprämissen haben also nicht nur die Funktion, den enormen Möglichkeitsspielraum zu beschränken und somit Entscheidungsfindung überhaupt zu ermöglichen, sondern mit »Prämisse« soll nach Luhmann auch gesagt sein, »dass es sich um Voraussetzungen handelt, die bei ihrer Verwendung nicht mehr geprüft werden« (Luhmann 2000: 222). Luhmann unterscheidet folgende Entscheidungsprämissen, die selbst Ergebnisse von Entscheidungen sind: 1. Programme: Bei diesen geht es ganz allgemein um die »Aufgaben« der Organisation. Dazu gehört z.B. die Aufgabe, einen MBA-Studiengang an der Business School auf Pellworm anzubieten. »Entscheidungsprogramme definieren Bedingungen der sachlichen Richtigkeit von Entscheidungen« (Luhmann 2000: 257). Die SBSP entscheidet in unserem Beispiel im Hinblick auf das Ziel, viele Studierende zu gewinnen und als »Schiffsmanager« so auszubilden, dass sich Karrierechancen anschließen. Und natürlich will die Schule damit Geld verdienen und Gewinne machen. Das sind für Luhmann Folgeentscheidungen der Organisation, die wiederum als Ziele fungieren. Luhmann bezeichnet solche Entscheidungen als »Zweckprogrammierung« und unterscheidet sie von der »Konditionalprogrammierung«, bei der organisational festgelegt wird, welche Bedingungen es braucht, damit es zu einer Entscheidung kommt. So wird, wenn ein*e Studierende*r sich bei der Business School Pellworm bewirbt, in einem festgelegten Verfahren über seine Immatrikulation entschieden. Konditionalprogramme legen also fest, welche Entscheidungen getroffen werden, wenn ein bestimmter Fall eintritt. <?page no="83"?> 3.5 Organisation als System 83 2. Kommunikationswege und Entscheidungshierarchien: Eine weitere Reduktion des Kommunikationsspielraums wird erzielt, indem man Kommunikationswege und Entscheidungshierarchien festlegt. Dies ist die zweite Art von Entscheidungsprämissen. Sie sind eng mit den Entscheidungsprogrammen verbunden, denn »sie schränken die Möglichkeiten ein, wie die Stellen, an denen die Entscheidungen gefällt werden müssen, kommunikativ miteinander verbunden werden dürfen« (Martens/ Ortmann 2006: 443). Luhmann schreibt: »Über Entscheidungsprämissen können auch Kommunikationswege vorgeschrieben werden, die eingehalten werden müssen, wenn die Entscheidung als eine solche der Organisation Anerkennung finden soll« (Luhmann 2000: 225). Auch an der freien Universität Pellworm entstehen im Zuge der Vereinsgründung Entscheidungshierarchien — ein Vorstand wird gewählt, der wahrscheinlich die Akzeptanz zentral kommunizierter Entscheidungen (Gründung der Business School) erhöht. Schon die Sprecherin und ihr Stellvertreter hatten für ein Mindestmaß an organisationaler Führung gesorgt, doch erst der Vorstand kann die Zuständigkeit für die Entscheidung wichtiger Fragen der Vereinsbzw. Universitätsstruktur zentralisieren, so dass allen Organisationsmitgliedern klar sein muss: Ohne dessen Zustimmung gibt es keine gravierenden Veränderungen. 3. Personal: Die Organisationen regeln in Entscheidungen über Stellen bzw. Positionen, wer zu welchen Kommunikationen zugelassen wird und wer nicht. In aller Regel wird dabei die Besetzung von Stellen konditioniert, d.h. an Voraussetzungen geknüpft, die nur einen sehr selektiven Zugang eröffnen, also Exklusivität schaffen. So können in unserem Beispiel die Studierenden mit der Gründung der Business School Pellworm nicht mehr Dozierende werden, weil ein Studienabschluss dafür nötig ist. Oft werden diese Voraussetzungen an Leistungen in anderen Teilsystemen geknüpft, insbesondere an Leistungen im Erziehungs- und Wissenschaftssystem. Über zertifiziertes Spezialwissen, Anforderungen an Professionalität, Kompetenz und Beziehungen beschaffen sich Organisationen teilsystemfremdes oder auch nur organisationsfremdes Wissen. Durch Entscheidungen über diese Entscheidungsprämissen wird versucht, organisationale Unsicherheiten und Komplexität zu reduzieren. Vor allem lässt sich durch Festlegung von Entscheidungsprämissen bestimmen, welche Entscheidungen tatsächlich zu den Entscheidungen der Organisation zählen und welche ihrer Umwelt angehören (vgl. Luhmann 2000: 237 ff.). <?page no="84"?> 84 3 Zentrale Ansätze der Organisationssoziologie 3.6 Zusammenfassung Wie wir gesehen haben, stellt sich der Fall Pellworm je nach organisationssoziologischer Herangehensweise sehr unterschiedlich dar. Die Handlungstheorie Colemans betont die Entstehung eines korporativen Akteurs mit klaren Anreiz- und Sanktionsstrukturen und zeichnet die Transformation von einer Interessenorganisation zu einer Arbeitsorganisation nach. Für die Systemtheorie steht ein ungesteuerter, evolutionärer Wandel im Vordergrund, der im Nutzen von Zufällen und Gelegenheiten nach je eigenen Sinnstrukturen zu einer Organisation führt. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in Kommunikationen ihre Grenzziehung gegenüber selbst gewählten und geschaffenen Umwelten reproduziert und Kommunikationen regelmäßig als Entscheidungen behandelt. Die Akteur*innen konstituieren dabei nicht die Organisation, sondern umgekehrt: Sie erscheinen in der Systemtheorie lediglich als Zurechnungsformen und Adressaten*Adressatinnen von Entscheidungen. Für die Institutionentheorie steht hingegen die Anpassung an institutionelle Umwelten im Vordergrund. Nicht zufällig entsteht eine »Business School« auf Pellworm, sondern die Akteur*innen orientieren sich an gesellschaftlich anerkannten Bildungsformen, um mehr Ressourcen mobilisieren und Gewinne realisieren zu können. Die Form der Business School ist dabei bereits mit entsprechenden formalen und materialen Rationalitätserwartungen institutionalisiert, so dass die »Shipmanagement Business School Pellworm« als eine weitere organisationale Verkörperung dieser Institution gesehen werden kann. Übung zu Kapitel 3: Gründung und Schließung einer Privat-Universität Betrachten wir im Folgenden den realen Fall der ‚Privaten Hanse-Universität (PHU)‘ in Rostock-Warnemünde: Die Unternehmensberater Peter L. Pedersen und Knut Einfeldt verfolgten ab 2002 das Ziel, in Deutschland eine private Universität nach dem Kapitel 3: Fragen zur Vertiefung In welcher Hinsicht ist eine Universität eine bürokratische Organisation? Wie lässt sich die Einführung von BA- und MA-Studiengängen an den Universitäten und Hochschulen Deutschlands aus einer neo-institutionalistischen Perspektive erklären? Wie sind an einer Universität aus systemtheoretischer Perspektive Programm- und Personalstrukturen verbunden? <?page no="85"?> 3.6 Zusammenfassung 85 Vorbild der US-amerikanischen Bildungsaktiengesellschaften zu etablieren und gründeten die ‚Private Hanseuniversität GmbH & Co KG‘. Knapp 98 Prozent der Anteile erwarb der Hamburger Bildungsinvestor Educationtrend; eine weitere Finanzsäule sollten die Studiengebühren in Höhe von 7500 Euro pro Semester und Studierende*m bilden. Die Gründer hatten die Vision einer kontinuierlich wachsenden Privat-Uni, an der zehn Jahre später 5000 Menschen studieren sollten. Jedoch musste man die Erwartungen sukzessive nach unten anpassen. Nach der staatlichen Anerkennung durch das Bildungsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Jahre 2007 wollte man mit 25 Studierenden in das erste Semester starten und musste selbst dieses Ziel als zu hoch gesetzt erkennen: Zu Beginn des Semesters sah man sich nur fünf Studierenden gegenüber. Zuletzt studierten nur noch drei Personen an der PHU. Vergeblich versuchte man die Investoren zu beruhigen und an einem Rettungskonzept zu arbeiten; im März 2009 wurde die Hanse-Universität allen Bemühungen zum Trotz geschlossen. 36 Beantworten Sie nun folgende Fragen: Bitte begründen Sie aus einer neo-institutionalistischen Perspektive, warum welche Studien- und Finanzierungsformen gewählt wurden, und versuchen Sie das Scheitern der Universitätsgründung mit Bezug auf die Annahmen einer Theorie rationaler Wahl zu erklären. Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Quellen Adorno, Theodor W. (1953), Individuum und Organisation in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ahrne, Göran/ Brunsson, Nils (2019), Organization outside organizations: The abundance of partial organization in social life. Cambridge: Cambridge University Press. Alvesson, Mats/ Spicer André (2019), Neo-institutional theory and organization studies: A mid-life crisis? 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Selbst wenn wir an diesem Tag ganz für uns sein sollten, führen viele von uns diese Handlungen aus, oder wenn nicht, fühlen wir uns spätestens nach ein paar Tagen schlecht und denken z.B., dass wir wieder einmal unter die Dusche gehen könnten. Wir haben diese zivilisatorische Form der Darstellung unserer Person verinnerlicht und es ist uns peinlich, wenn diese zivilisatorischen Standards von uns oder anderen gravierend verletzt werden. Wie in Grimms Märchen vom „Bärenhäuter“ müssen wir befürchten, dass die anderen uns dann meiden, oder umgekehrt tendieren wir dazu, den Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Zu unserem zivilisatorischen Korsett gehört, dass uns natürliche Gerüche oder Körpergeräusche peinlich werden und wir erwarten von uns und von anderen Personen, dass sie sich in der Regel an zivilisatorischen Standards orientieren (vgl. dazu Elias 1976 u.v.a.). Wir nutzen also eine kulturell und gesellschaftlich zugeschnittene soziale Form, um uns in Beziehung zu setzen, welche zugleich unser Selbstverständnis sowie unsere Außendarstellung orientiert. Denn diese soziale Form bleibt uns oft nicht äußerlich, sondern wird von uns in unterschiedlichem Maße verinnerlicht. Manchmal wird uns diese Form bewusst, z.B. wenn wir sie gezielt zum Einsatz bringen. Manchmal ist sie für uns so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht bemerken. Ihr Gebrauch macht auch darauf aufmerksam, dass wir unser Inneres nicht einfach nach außen kehren können. Bereits über unser Inneres zu sprechen, gibt diesem eine gesellschaftliche Form und wird nur verständlich, wenn wir uns in den Grenzen dessen bewegen, was gesellschaftlich artikulierbar ist. Ohne diese wird unsere erratische Gefühls- und Gedankenwelt für andere nur schwer verständlich. Und da In diesem Kapitel erfahren Sie wie die Soziologie Menschen und Personen unterscheidet, w arum Organisationen keine Menschen, sondern Personal beschäftigen, was die Soziologie unter Karriere und Motiven versteht. <?page no="96"?> 96 4 Personal und Motivation wir als »animale sociale« gar nicht anders können als uns mit anderen in Beziehung zu setzen, nutzen wir dafür gesellschaftliche Formen, welche uns in historisch und kulturell vorbestimmter Weise die Darstellung unseres Selbst ermöglichen. Dies fängt bei Sprache und Kleidung an, z.B. bei unserem morgendlichen Herstellen von »Gesellschaftsfähigkeit« und hört mit den gesellschaftlichen Ansprüchen an unsere Darstellung von Zurechenbarkeit und »Vernünftigkeit« des Selbst nicht auf. Als »Person«, »Akteur*in« oder »Individuum« nehmen wir an Gesellschaft teil und nutzen dazu soziale Formen, die für uns historisch und kulturell bestimmte Darstellungsweisen nahelegen. 37 Dabei handelt es sich aber um kein inszeniertes Theaterspiel, sondern um eine ganz alltägliche Übung (Goffman 1959/ 91). Während in Colemans Modelltheorie der*die »Akteur*in« als analytisches Konstrukt erscheint, gehen sowohl die Institutionenals auch die Systemtheorie in unterschiedlicher Weise darauf ein, dass es sich bei diesen sozialen Formen des Selbst um eine gesellschaftliche Konditionierung 38 von Ausdrucksmöglichkeiten der Person sowie von Erwartungen, die sich an sie richten, handelt. Beide, Ausdrucksmöglichkeiten und Erwartungen, stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen wir uns gesellschaftlich als Person bewegen können. Wir können diesen Rahmen oft nur um den Preis unserer gesellschaftlichen »Persönlichkeit« sprengen, also um den Preis, dass wir lächerlich, »unmöglich« oder gar »verrückt« erscheinen. Ein solcher Zugang, wie er mit ganz unterschiedlichen Prämissen in der neuen Institutionentheorie und in der Systemtheorie gepflegt wird, fordert von uns ein Umdenken. Denn »Person« ist in diesem Zugang nicht mehr das Gleiche wie »Menschsein«, sondern bezieht sich auf eine gesellschaftliche Form, die unser menschliches Dasein mitprägt. Mit einer solchen Herangehensweise eröffnen wir uns einen soziologischen Zugang zum Thema. Er ermöglicht es uns, diese Form als soziale und gesellschaftliche Form zu untersuchen, ohne andere wichtige Perspektiven auf das Menschsein, wie z.B. biologische, chemische, psychologische oder humangenetische, mitführen zu müssen. Wenn wir hier unseren Startpunkt suchen, dann können wir weiterfragen, wie Organisationen denn mit dieser gesellschaftlichen Form umgehen. Dadurch gewinnen wir einen Zugang zum Thema »Personal«, der sich deutlich von dessen betriebswirtschaftlichem, psychologischem oder pädagogischem Verständnis unterscheidet. Denn vor diesem Hintergrund müssen wir fragen, welche Erwartungen und 37 Die Psychologie hält dafür seit Tajfel (1978) die Unterscheidung von sozialer und personaler Identität bereit, deren Einheit als das »Selbst« bezeichnet wird. Soziales und personales Selbst werden infolgedessen als Funktionen der Selbst-Kategorisierung begriffen (vgl. Turner u.a. 1994) und somit als psychisches Phänomen, als internalisiertes Ergebnis der Sozialisation. Siehe auch Ashforth/ Mael (1989) für eine Anwendung dieser Perspektive auf das Verhalten in Organisationen. 38 Konditionierung heißt für Luhmann (1984: 44), dass »eine bestimmte Relation zwischen Elementen (…) nur realisiert [wird] unter der Voraussetzung, daß etwas anderes der Fall ist bzw. nicht der Fall ist«. <?page no="97"?> 4.1 Der Mensch als Person - Zum Personenverständnis in der Soziologie 97 Zurechnungen Organisationen mit der sozialen Form des Personals verbinden und welche Darstellungsformen sie uns als »Personal« eröffnen. Auch das ist Teil der »Personalpolitik« der Organisation. Auch das beginnt mit Sprache und Kleidung und endet nicht mit der Darstellung der eigenen Nützlichkeit und Loyalität im Kontext der Organisation. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich daher nicht mit dem »Menschenbild« der Organisationssoziologie, sondern damit, wie Personen und Personal durch organisationale und gesellschaftliche Zusammenhänge geprägt werden und umgekehrt diese prägen. Dabei versuchen wir zum einen, begriffliche Klarheit in der Konzeption des Zusammenhangs von Person, Personal und Organisation herzustellen. Zum anderen wollen wir zeigen, wie organisationale sowie gesellschaftliche Konditionierungen auf Personen und Personal wirken. Um dies tun zu können, gehen wir auf die Bedeutung von »Person« in der modernen Gesellschaft ein (4.1), um anschließend eine weitere Konkretisierung der Person in modernen Gesellschaften zu thematisieren, nämlich die für moderne Arbeitsgesellschaften dominante Form des »Personals« (4.2). Die Integrationsmodi der Organisation, also z.B. der Mitgliedschaftsvertrag und die Karriere, stabilisieren vor diesem Hintergrund die Motivlagen des Personals. Sie legen damit auch fest, welche Motive in der Organisation anerkannt sind und artikuliert werden können (4.3). Die Soziologie beschäftigt sich also auch damit, wie in Gesellschaften und Organisationen bestimmte Motive als Zurechnungs- und Artikulationsformen mit Anerkennung versehen und andere mit Missachtung gestraft werden. In der Analyse dieser gesellschaftlichen und organisationalen Motivproduktion kann demzufolge ein wichtiger Beitrag der Soziologie sowie der Organisationssoziologie zu diesem Thema gesehen werden. 4.1 Der Mensch als Person - Zum Personenverständnis in der Soziologie In allen drei hier vorgestellten Ansätzen wird die Person oder der*die Akteur*in als etwas Konstruiertes, Geschaffenes behandelt. Für Coleman ist es eine rein theoretische Konstruktion, die er mit Modellannahmen versieht. Er testet damit die Erklärungsreichweite seiner Annahmen aus. Für die System- und neue Institutionentheorie wird die Person bzw. der*die Akteur*in als ein reales Konstrukt in Gesellschaft und Organisation behandelt. Es erfährt durch gesellschaftliche Regeln, i.e. Institutionen oder in Kommunikation seinen historisch und kulturell spezifischen Sinnzuschnitt. Es erscheint als ein bewegliches »gesellschaftliches Korsett« (Mauss 1938/ 97), das jedem Einzelnen bestimmte Ausdrucksformen eröffnet und andere mit Missachtung straft. Die Stäbe bzw. elastischen Stoffe des Korsetts sind aus gesellschaftlichen und organisationalen Erwartungen und Pflichten sowie deren individuellen Aneignungsformen gemacht. Im Rahmen gesellschaftlicher und organisationaler Möglichkeiten <?page no="98"?> 98 4 Personal und Motivation kann es verziert, angemalt, gekürzt, versteift oder freizügig gestaltet werden und eröffnet uns auf diese Weise den Ausdruck von Individualität und Besonderheit. Ist es einmal verinnerlicht und selbstverständlich geworden, kann es nicht mehr ohne Weiteres abgelegt werden. Uns davon freizumachen, gelingt dann nur noch um den Preis unserer gesellschaftlichen Persönlichkeit. Da die Soziologie nicht darauf ausgerichtet ist, sich mit der inneren Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen zu beschäftigen, liegt in der gesellschaftlichen Form der Person oder des*der Akteur*in ein für sie sinnvoller Ansatzpunkt für ihre Analyse. Sowohl die neue Institutionentheorie als auch die Systemtheorie thematisieren die Person - mit ganz verschiedenen theoretischen Prämissen - als einen Rahmen für gesellschaftlich mögliche Ausdrucksformen von »Individualität« oder »Akteur*insein«. Zugleich dient die Person in diesem Rahmen auch als Zurechnungspunkt für gesellschaftliche Erwartungen, die von ihr in der Regel angeeignet, verinnerlicht und selbstverständlich werden. Um zu illustrieren, wie ein solches soziologisches Personenverständnis unsere Sichtweise verändern kann, nutzen wir das Beispiel eines Grubenunglücks in Chile (Leitbeispiel 4.1). Das Unglück hat 2010 erhebliche Medienresonanz erfahren: 33 Bergleute waren in 700 Meter Tiefe durch den Zusammenbruch des Stollens für 69 Tage eingeschlossen. Sie überlebten und konnten mit sehr aufwändigen Bohrungen schließlich gerettet werden. Anhand der Erzählungen der Bergleute hat Jonathan Franklin (2011) eine journalistische Aufarbeitung der Ereignisse in dokumentarischer Weise vorgenommen, auf die wir uns im Folgenden beziehen. Der Bezug auf eine reale Extrem- oder Krisensituation, in der es um Leben und Tod ging, soll uns helfen, die Realität und Wirkmächtigkeit solcher gesellschaftlichen Formen zu verstehen. Leitbeispiel 4.1: Das Minenunglück in Chile Es war Winter in Chile, als sich in der Mine San José am 5. August 2010 ein massiver Felsbrocken von der Größe eines Wolkenkratzers aus dem Berg löste und den Ausgang einer Mine der Compañía Minera San Esteban Primera versperrte (vgl. dazu ausführlich Franklin 2011: 9). 33 Bergleute wurden in einer Tiefe von fast 700 Metern eingeschlossen. Sie waren in dem Wüstengebiet im Norden Chiles vor allem auf der Suche nach Kupfer. Chile ist der größte Kupferlieferant der Erde und produziert rund ein Drittel des weltweiten Bedarfs. Der Kupferpreis hatte sich in den fünf Jahren vor dem Unglück nahezu verdreifacht, von 1,20 Dollar auf deutlich über drei Dollar pro Pfund (vgl. dazu Franklin 2011: 9). Dies führte dazu, dass ältere, unsicherere Betriebe, wie jene Mine San José, wieder rentabel wurden. Die Bergleute <?page no="99"?> 4.1 Der Mensch als Person - Zum Personenverständnis in der Soziologie 99 gingen vor allem wegen des guten Geldes in die Mine und nahmen dafür auch die bisweilen schlechten Arbeitsbedingungen in Kauf. In den Minen war es sehr heiß und es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit. Die Männer hatten in der Regel nur eine bescheidene Technik zur Verfügung und mussten sich in der seit 1889 betriebenen Mine durch ein Labyrinth von Stollen graben. Dabei hatten sich die Minenbetreiber zwar an einer Rationalisierung der Arbeit interessiert gezeigt, ohne jedoch viel in Sicherheit investieren zu wollen. Die Mine war bereits einmal nach einem tödlichen Arbeitsunfall im Jahre 2007 vorübergehend geschlossen und nur unter Auflagen wieder eröffnet worden, welche jedoch von den Minenbetreibern nicht eingehalten wurden. Trotzdem genehmigten die Behörden die Wiederinbetriebnahme. Diese Entscheidung hatte dramatische Folgen. Der Tunnel, in dem die Bergleute arbeiteten, wurde verschüttet und die Rettungsleitern für die Fluchttunnel standen entweder nicht zur Verfügung oder waren morsch. Alle Fluchtversuche scheiterten deshalb. Die Mine San José, so kommentiert Franklin in seiner Untersuchung des Falls lakonisch, war nie ein Ort, an dem die Sicherheitsbestimmungen streng eingehalten wurden (vgl. ebd.: 35). Viele der in den Fels getriebenen Hohlräume hatte man nicht mit Stützpfeilern abgesichert, manche Stützpfeiler sogar abgebaut. Trotz dieser sich verheerend auswirkenden Sicherheitslage zeigten die Besitzer der Mine zunächst wenig Bereitschaft, das Ausmaß der Katastrophe anzuerkennen und angemessen mit Hilfeleistungen zu reagieren (vgl. ebd.: 35). Erst der Einsatz von Regierung und Staat machte einen großangelegten Rettungsversuch möglich. Die 33 eingeschlossenen Bergleute versammelten sich nach und nach in einem Schutzraum der Mine. Einer sprach am nächsten Morgen ein Gebet und man beriet die zu ergreifenden Maßnahmen. Die formale Hierarchie, so berichtet einer der Bergleute, war fast augenblicklich aufgehoben (vgl. ebd.: 66): »Wir waren alle dreiunddreißig gleich, und wir führten ein demokratisches System ein«, so der Bergmann (ebd.). Die Männer stimmten auf Versammlungen ab und jeder hatte eine Stimme. Mit der Einführung des demokratischen Systems wurden auch die täglichen Routineabläufe und Arbeitsaufgaben geregelt. Die Bergleute beteten, hielten Versammlungen ab und einen strengen Tagesablauf ein. Toiletten- und Schlafplätze wurden eingerichtet. Dennoch gab es Unterschiede. Eine Gruppe von fünf Bergleuten, alle Angehörige eines Subunternehmens, fühlten sich auch jetzt noch an den Rand gedrängt und »wie Bürger zweiter Klasse« behandelt (vgl. ebd.: 106). Der Schichtführer, der erst seit kurzem in der Mine arbeitete, wurde — bei aller Gleichheit der eingeschlossenen Bergleute — in seiner Vorgesetztenposition zwar nicht hinterfragt, diese trat aber in den Hintergrund. Daneben übernahm mit Sepúlveda ein anderer Bergmann die informelle Führerschaft und moderierte bei Konflikten. Nach drei Tagen begannen manche Bergleute zu halluzinieren, andere verfielen in eine regelrechte körperliche Starre, um diese Situation ertragen zu können. Die Stimmung verschlechterte sich zusehends, als der ohnehin karge Proviant zur Neige Quelle: Wikimedia Commons, File: Mina San José - Los 33 in the Blue Room at Presidential Palace with President and First Lady - Gobierno de Chile.jpg; Los 33 miners posing with President Piñera and the First Lady of Chile in the Blue Room of the Presidential Palace on 24 October 2010 <?page no="100"?> 100 4 Personal und Motivation ging. Viele Männer waren starke Raucher, manche Trinker, die nun einen Zwangsentzug durchmachten. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen unter den Männern. Viele Bergleute, so Victor Segovia, der im Stollen Tagebuch schrieb, seien mit der »Situation überhaupt nicht zurecht« gekommen. Sepúlveda, der informelle Anführer, berichtet: »Ich hielt mich vor den anderen gerade, aber wenn sie schliefen, weinte ich« (vgl. ebd. 95). Doch am elften Tag brach er zusammen. Die anderen Bergleute stützten ihn. »Wir waren wie eine Familie, so ein weiterer Bergmann, wenn einer fiel, half man ihm wieder auf« (zit. in: ebd.: 102). Nach fünf Tagen hörten sie die Geräusche einer ersten Bohrung, die am 14. Tag immer näher kamen. Aber die Sonde hatte sich 700 Meter durch den Fels gegraben und die Männer verfehlt. »Wir saßen im Wartezimmer des Todes«, so berichtet einer der Bergleute, »ich wartete auf den Tod und war ganz ruhig« (ebd.: 109). Erst als die zweite Bohrung sie im Morgengrauen des 17. Tages erreichte, konnten die Bergleute zum ersten Mal etwas aufatmen. Durch das schmale Bohrrohr konnte zwar niemand in die Freiheit gelangen, doch es ermöglichte es, Briefe und Nachrichten sowie Nahrung und Flüssigkeit nach unten zu transportieren. Durch den Transportkanal wurde als Nächstes Shampoo, Seifen und Zahnbürsten etc. geschickt, die auf der Wunschliste der Bergleute ganz oben standen (vgl. Franklin 2011: 144). In der Zwischenzeit strengten die Regierung, die Familien und Organisationen der Bergarbeiter Klagen gegen die beiden verschuldeten Minenbesitzer an. In einem Radiointerview am 23. August 2010 im chilenischen Radiosender Cooperativa erklärte Bohn, einer der Minenbesitzer, dass man den rechtlichen Konsequenzen des Bergwerkunglücks »mit Gelassenheit« entgegensehe. Es gebe keinerlei Vorwarnung für eine solche Art von Unglück, weswegen man auch keine weiteren Vorsichtsmaßnahmen treffen könne. Die Arbeiter seien ausgebildet und mit Sicherheitsausrüstung ausgestattet gewesen. Zugleich deutete er an, gegebenenfalls die Lohnfortzahlungen für die 33 Eingeschlossenen und weitere 300 Beschäftigte einzustellen, was dann später auch geschah. Man habe kein Geld mehr dafür, so die Begründung (vgl. ebd. 139). Selbst eine Entschuldigung bei den Arbeitern und ihren Angehörigen lehnte der Minenbesitzer aus rechtlichen Gründen ab (vgl. Franklin 2011: 138 f.). Am 42.Tag, die Bergleute waren im Rahmen der Möglichkeiten mit allem Überlebenswichtigen und Gewünschten versorgt, lehnten sie sich gegen die Maßnahmen des Rettungsteams und insbesondere der Psychologen auf, weil diese die Briefe ihrer Angehörigen zensierten und ihre Lieferungen kontrollierten, um Verwerfungen bei den Eingeschlossenen zu verhindern. Nachdem die Bergleute um ein Haar verhungert waren, drohten sie jetzt mit Hungerstreik, um ihre Forderungen durchzusetzen, was schließlich geschah. Am 65. Tag erreichte der große Bohrkopf die eingeschlossenen Bergleute und am 69. Tag wurde mit der Rettung begonnen. Der Schichtführer stieg als Letzter in die Rettungskapsel und alle 33 Bergleute kamen wohlbehalten draußen an. Während sich der Staat und die Regierung um die nach 69 Tagen schließlich erfolgreichen und nicht nur in den Medien gefeierten Rettungsarbeiten gekümmert hatten, verhielten sich die Minenbesitzer immer noch zurückhaltend. Anders als die schnell reagierende Politik und die Behörden, welche die für die Wiederinbetriebnahme Zuständigen entließen, zeigten sich die Minenbesitzer auch danach, in einem lange währenden Rechtsstreit, wenig einsichtig. Aber nach der glücklichen Rettung der 33 Bergleute fanden sie sich schließlich doch noch bereit, den zurückgehaltenen Lohn für die Bergleute zu zahlen. <?page no="101"?> 4.1 Der Mensch als Person - Zum Personenverständnis in der Soziologie 101 Mit dem Unglück wurde alles anders. Aus der Arbeitssituation wurde eine existenzielle Krisensituation und die Bergleute wurden zu einer Schicksalsgemeinschaft. Sie wurden in dieser Extremsituation mit Leib und Leben vereinnahmt. Der begrenzte Zuschnitt der Erwartungen an sie als Personal der Mine wurde aufgehoben (siehe dazu auch die Ausführungen zur Partialinklusion in Kap. 2.2). Die Grenzen zwischen »Menschsein«, »Personsein« und »Personalsein« verschwammen in dieser Extremsituation. Alles gehörte nun dazu: die körperlichen Beschwerden, die Halluzinationen und depressiven Stimmungen sowie die Probleme und Sorgen um Angehörige, Ehefrauen und Kinder. Ängste, Panik, aber auch Verzweiflung und Resignation bestimmten jetzt das Zusammensein der Bergleute in dieser eingeschlossenen, fast aussichtslosen Situation. Die Frage, die sich uns sofort stellt, ist die, warum sich in dieser Situation nicht Fatalismus, Resignation, Chaos und Anarchie ausbreiten und die Bergleute sich nicht aufgeben. Denn auch in einer Lage, in der man »verrückt« werden könnte, bewahren die Bergleute ihren Verstand und ihre Selbstkontrolle. Das ist psychologisch interessant, aber auch aus soziologischer Perspektive spannend. Aus der Perspektive der Institutionen- und der Systemtheorie kann man daran erkennen, dass auch in Extremsituationen, wie jene der Bergleute, soziale Normen greifen und soziale Formen intakt bleiben (vgl. dazu auch am Beispiel der Titanic Frey et al. 2011; vgl. auch die Kritik daran aus der Perspektive der RC-Theorie bei Dieckmann 2012). So bewahren sie für sich und andere ihre Zurechnungsfähigkeit, dokumentieren ihre Handlungsfähigkeit. Sie halten an zivilisatorischen Standards fest. 39 Dies lässt sich u.a. daran erkennen, dass sogleich Toilettenplätze an abgeschiedenen Orten eingerichtet werden, das peinliche Geschäft hinter die Kulissen verlegt wird. Oder dass, sobald Hunger und Durst gestillt waren, die Bergleute nach Shampoo, Seife, Zahnpasta und Handtüchern verlangten, um sich selbst wieder auf den zivilisatorischen Standard einer gesellschaftlichen Person zu bringen. Auch orientieren sie sich weiterhin an Arbeit und Status - auch wenn demokratische Abstimmungsformen eingeführt werden. Zwar hat sich der Rahmen für die Interaktion geändert, aber gesellschaftliche und organisationale Formen werden nicht komplett über Bord geworfen, sondern so weit wie möglich bewahrt. Daran lässt sich nicht nur eine psychische, sondern auch eine gesellschaftliche Konditionierung der Person ablesen, wie sie die Systemtheorie und die neue Institutionentheorie mit unterschiedlichen theoretischen Prämissen im Blick haben. Sie liegt in der Aufrechterhaltung einer zurech- 39 Elias hat in seiner historischen Analyse gezeigt, wie sich unsere Scham- und Peinlichkeitsschwellen mit der Form der Gesellschaftlichkeit verändern und welches Korsett an verinnerlichten, selbstverständlich gewordenen gesellschaftlichen Ausdruckformen die Person in der jeweiligen Epoche ausmacht (Elias 1995a: 1-42; 1995b: 444-465). <?page no="102"?> 102 4 Personal und Motivation nungsfähigen gesellschaftlichen Person. Manche hielten bis zum Nervenzusammenbruch an dieser Darstellungsform fest. Und im Falle eines solchen war den Bergleuten daran gelegen, ihre »Zurechnungsfähigkeit« als Person schnell wiederherzustellen. Wir können daran auch sehen, dass diese gesellschaftliche Form nicht äußerlich bleibt und als solche nicht einfach abgelegt werden kann. Vielmehr übersetzt sie sich in Erwartungen an uns selbst, in verinnerlichte Zwänge. 40 Für die Institutionentheorie liegt die Antwort auf diese Frage also darin, dass die kollektive Geltung der Institutionen auch in dieser Extremsituation weitgehend intakt bleibt. Institutionen können nicht einfach abgeworfen und die soziale Situation nicht einfach auf Null gesetzt werden, sondern je stärker sie etabliert sind, umso mehr sind sie verinnerlicht und zu einer zweiten Haut der Akteur*innen geworden. Das Beispiel zeigt die Institutionalisierung der Person als Akteur*in ebenso an wie die kollektive Geltung von Spielregeln des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Beides sorgt individuell wie kollektiv für eine selbstverständliche Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit (neue Institutionentheorie). In der Theorievariante von Zucker (1977) erscheinen die Akteur*innen als mit gesellschaftlich institutionalisierten Erwartungen konfrontiert, die sie sich aneignen und verinnerlichen. Konkret bedeutet dies für die Person, dass sie auch in einer Extremsituation wie jener der Bergleute dazu tendiert, sich als Akteur*innen zu verstehen und von sich selbst und anderen zu erwarten, dass man seine Gefühle und sein Leben im Griff habe sowie zielführende Entscheidungen treffen könne. Mit dem Begriff der Person oder des Akteurs werden hier - anders als in der Variante von Meyer/ Rowan - nicht einfach die Handelnden selbst bezeichnet, sondern eine gesellschaftliche Form »Akteur«, die als institutionell verfestigte Struktur den Personen, mitsamt ihrer gesellschaftlich bestimmten Attribute, selbstverständlich wird (vgl. auch Meyer/ Hammerschmidt 2006: 165). Diese auf die gesellschaftliche »Konstitution« des »Akteurs« bezogene Variante ist allerdings von jener von Meyer/ Rowan (1977) zu unterscheiden, die Akteure einfach als Handelnde versteht, die sich die institutionellen Spielregeln aneignen und auf institutionalisierte Erwartungen (zunächst formal rational) reagieren (vgl. dazu auch Walgenbach/ Meyer 2008: 121). In der Perspektive der Systemtheorie ist bei der Antwort wichtig, dass gesellschaftliche Kommunikation dadurch fortgesetzt werden kann und Erwartungen sowie Zuschreibungen wieder an Personen adressiert werden (Systemtheorie). In der Notwendigkeit, »sich gesellschaftlich verständlich machen« zu müssen, liegt für jede*n Einzelne*n von uns also keine Beliebigkeit, sondern Gesellschaften legen 40 Dabei spielt sicherlich auch »Männlichkeit« als Darstellungs- und Zurechnungsform eine Rolle (Donaldson 1993, Connell/ Messerschmidt 2005). <?page no="103"?> 4.1 Der Mensch als Person - Zum Personenverständnis in der Soziologie 103 bestimmte Ausdrucksformen der Person nahe und negieren andere (vgl. dazu Luhmann 2000: 89 ff.). Selbst in der extremen Ausnahmesituation der in der Mine eingeschlossenen Bergleute greifen diese gesellschaftlichen Konditionierungen der Ausdrucksformen einer Person. Für Luhmann hingegen ist die Person eine soziale Form zum Zwecke der Kommunikation. Sie dient im Falle der Mine den Bergleuten dazu, in ihren Gesprächen Erwartungen zu adressieren und selbst zu artikulieren, ohne wissen zu können und zu müssen, was im jeweils anderen vor sich geht. Denn dies ist, trotz der Tatsache, dass man sich in dieser Extremsituation auch von anderen menschlichen Seiten kennenlernt, für Luhmann unmöglich. Wir können auch dann nicht wissen oder direkt beobachten, was in den anderen Menschen vorgeht. Personen entstehen für ihn daher aus der Unmöglichkeit direkter Beobachtung psychischer Systeme. Sie werden nur im Medium der Kommunikation konkret — in Reaktion auf das für uns zu lösende Problem der Undurchsichtigkeit des jeweils anderen bei gleichzeitiger Anwesenheit (Luhmann 2000: 89 ff.). Personen sind daher nicht mit Menschen oder Individuen gleichzusetzen, sondern der Begriff bezieht sich auf eine gesellschaftliche Form, ein Produkt des sozialen Systems der Gesellschaft. Individuen können nicht umhin, diese Form auch in Extremsituationen zu nutzen, um sich zu verständigen, um Erwartungen und Zurechnungen zu adressieren und sich gesellschaftlich zu artikulieren. Entlang der Rational-Choice-Theorie Colemans müssen wir diese Frage jedoch anders beantworten. Da die Akteur*innen in Colemans Theorie als »extrem vereinfachte Abstraktionen menschlicher Individuen« konzipiert werden, sind sie ausschließlich über ihr Interesse an Ressourcen (z.B. Nahrung) bzw. Ereignissen (z.B. der Rettung) sowie ihren Möglichkeiten, den Zugang zu Ressourcen oder den Eintritt von Ereignissen zu kontrollieren, definiert. Und ebenso wird die Beziehung zwischen den Akteur*innen konzipiert: als Interesse an Ressourcen, die andere kontrollieren, und Kontrolle von Ressourcen, die andere interessieren. Ein Ausgangspunkt der RC- Theorie bei der Beantwortung der Frage könnte vor diesem Hintergrund in der Annahme liegen, dass die egoistischen Interessen der einzelnen Bergleute die kollektiven Überlebenschancen beeinträchtigen und sich daher entlang etablierter Herrschaftsformen und -normen in der Extremsituation eine kollektive Ordnung etabliert hat. Zwar erscheinen die Kosten des kollektiven Handelns für jeden Einzelnen hoch, aber der Gewinn daraus als ungleich höher. Denn ohne Kooperation im Überlebenskampf scheint auch das Überleben jedes Einzelnen in Frage gestellt. So ist zwar das Interesse jedes Einzelnen an Nahrung groß, würde er sich aber viel Nahrung sichern, könnten die anderen Bergleute nicht überleben. Sie fielen als wichtige Kooperationspartner aus. Auch die Vorstellung, seine Ressourcen bei den eigenen Rettungsversuchen zu schonen und die anderen schuften zu lassen, könnte wiederum dazu füh- <?page no="104"?> 104 4 Personal und Motivation ren, dass alle zu wenig für die Rettung tun und diese daher nicht mehr möglich wird. Die Orientierung der Bergleute an einer bereits etablierten Ordnung mit klar definierten Verfahren und Hierarchien (Organisation) und entsprechenden Anreiz- und Sanktionsstrukturen für die Bergleute verhindert vor diesem Hintergrund den Kampf eines jeden gegen jeden und erhöht die Wahrscheinlichkeit für alle, dass ein Rettungsversuch durch die Bergleute selbst durchgeführt werden kann. Die Herstellung dieser Ordnung, wenn auch mit einigen demokratischen Modifikationen und informeller Anführerschaft, erhöht bei allen individuellen Einschränkungen die Wahrscheinlichkeit, dass eigene Rettungsversuche möglich werden und wird deswegen - so eine mögliche Antwort der RC-Theorie - der unsicheren Realisierung egoistischer Eigeninteressen mit der kollektiven Folge von Chaos und Anarchie vorgezogen. Tabelle 4.1: Das Verständnis von Person und Akteur im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neue Institutionentheorie Systemtheorie (Luhmann) Was wird unter einer »Person« verstanden? Ein auf Interesse und Kontrolle ausgerichteter Akteur als theoretische Abstraktion Eine als »Akteur« institutionalisierte soziale Struktur (Zucker) bzw. Handelnde, die auf institutionalisierte Erwartungen reagieren (Meyer/ Rowan) Ein Autor, eine Adresse und ein Thema in der Kommunikation 4.2 Personal — eine soziologische Bestimmung Das Beispiel der chilenischen Mine macht zugleich in drastischer Weise deutlich, dass die Bergleute durch das Unglück zwar zu einer menschlichen Schicksalsgemeinschaft wurden, aber zugleich ihre Rollen als Personal der Mine nicht ablegten. Für sie spielte, aus der Not der Situation geboren, nach wie vor eine Rolle, als Arbeitskraft nützlich zu sein. Und für ihren Arbeitgeber ebenfalls, da dieser keine Lohnfortzahlungen für die Minenarbeiter leisten wollte. Schließlich arbeiteten die Eingeschlossenen ebenso wie die anderen Bergleute der Mine nicht mehr. Sie hatten ihren Personalstatus verloren. Die Arbeitgeber behandelten die eingeschlossenen Bergleute noch in dieser Extremsituation als Personal, das nicht mehr — so zynisch das klingt — in der Lage war, die Arbeit fortzusetzen. Die instrumentelle Nutzung der Personen stand auch nach dem Unglück noch im Vordergrund. (siehe auch Infobox 1.1 in <?page no="105"?> 4.2 Personal — eine soziologische Bestimmung 105 Kap. 1 und siehe dazu auch ausführlich Kap. 8). Es mag ein Extremfall sein, jedoch ein solcher, der uns auf einen zentralen Punkt in der gesellschaftlichen Bestimmung dieser Form aufmerksam macht: Personalsein bedeutet immer auch entlohnte Nützlichkeit, und wer diese — ob mit oder ohne eigenes Verschulden — nicht mehr ausweisen kann, geht früher oder später seines Lohnes oder seiner Arbeit verlustig. Zugleich zeigt das Beispiel der Mine, dass die Bergleute immer noch eine Organisation simulierten. Trotz einer faktisch ganz anderen Situation blieben die Ordnung und die Sinngebung durch die Organisation für die eingeschlossene Schicksalsgemeinschaft bestimmend. Zwar warf man die formalen Hierarchien schnell über Bord oder drängte sie, wie im Falle des Schichtführers, in den Hintergrund. Aber zugleich war den Bergleuten an einer schnellen Regelung der täglichen Routineabläufe und der Verteilung der Arbeitsaufgaben gelegen. Trotz der widrigen Umstände unter Tage machte sich kein Fatalismus breit, sondern es wurde versucht, die Betriebsamkeit einer Organisation und das »Personalsein« faktisch wiederherzustellen. Die Bergleute verfolgten nun zwar einen anderen Zweck, aber die »rationale Betriebsförmigkeit« gab ihnen nach eigener Auskunft Rückhalt, da sie ansonsten kaum mehr tun konnten als zu warten und zu hoffen. Die Eingliederung in einen hierarchischen Herrschaftsverband blieb in Kraft. Noch immer erfuhr die Ordnung der Organisation, wenn auch in modifizierter Form, Anerkennung und es gab die Bereitschaft bei allen Beteiligten, Anweisungen auszuführen. Nicht nur das instrumentelle Nutzenverhältnis, sondern auch das qua Satzung konstituierte Herrschaftsverhältnis, das Personalsein umfasst, lässt sich in diesem Fall gut rekonstruieren. Dieses konstituiert sich für Weber durch die auf Gehorsamsbereitschaft und Legitimitätsglaube basierende Anerkennung von Anweisungen und gesatzten Ordnungen (vgl. Weber 1922/ 85: 541-550). Nicht das Problem der instrumentellen Verwertung, sondern jenes des regelgeleiteten Handelns steht hier im Vordergrund der Betrachtung des »Personals« der Organisation. Dadurch wird ein kosten-/ nutzenorientiertes Verständnis von Personal durch ein vertrags-, herrschafts- und institutionenorientiertes ergänzt. Dieses steht auch bei Coleman im Vordergrund. Er versteht unter »Personal« interessengeleitete, vertraglich gebundene Akteur*innen in einer Körperschaft. Sie haben einen Teil ihrer Rechte im Austausch gegen die Bezahlung eines Lohnes oder eines Gehalts auf die Körperschaft übertragen (vgl. Coleman 1991: 82 ff; Liebig 2002: 157). Dies trifft auch für die Bergleute zu. Auch sie haben einen Teil ihrer Kontrollrechte gegen eine Entschädigung in Form ihres Lohnes an den Minenbesitzer abgegeben. Daraus resultieren oft unterschiedliche Interessenlagen (bei Coleman: disjunkte Herrschaftsbeziehungen 41 ), wie sie auch am Beispiel des Minenunglücks erkennbar 41 Coleman unterscheidet zwei verschiedene Typen von Herrschaftsbeziehungen: konjunkte und disjunkte: »Den ersten der beiden Typen, bei dem die Übertragung mit der Überzeugung vorgenommen <?page no="106"?> 106 4 Personal und Motivation werden. So steht zum Beispiel das Interesse der Minenarbeiter an einem sicheren Arbeitsplatz jenem des Minenbesitzers an Kostenersparnis entgegen. Die Perspektive der instrumentellen Nutzung von Personen sowie ihre Verfügbarkeit als Ressourcen wird im Falle der verschütteten Bergarbeiter durch den Minenbesitzer schonungslos offengelegt. Diese Perspektive deckt sich mit einem betriebswirtschaftlichen Verständnis, das im Personal vor allem eine Ressource sieht 42 , die als Humankapital der Nutzung durch die Organisation zugeführt wird (Becker 1962, 1993; Oechsler 2006; Drumm 2008; Lindner-Lohmann u.a. 2012; Stock-Homburg 2010). Entsprechend werden auch die Personalverwaltung oder das Personalmanagement in der praxisbezogenen Literatur begriffen als »sämtliche Strategien, Methoden und Instrumente, die der Beschaffung, Erhaltung, Entfaltung, Nutzung und Freisetzung von Personal im Hinblick auf die Unternehmensziele« dienlich sind (Becker/ Schwarz 2001: 11). Die Perspektive der Arbeits- und Industriesoziologie schließt an diesem betriebswirtschaftlichen Verständnis kritisch an. In ihrer Tradition ist »Personalsein«— wie schon bei Marx (1890/ 1968: 557 ff.) — auch auf die Handelbarkeit und (unvollkommene) Warenform der »Ressource Arbeitskraft« bezogen. Die Arbeitskraft wird in Form des »Humankapitals« freigesetzt, gehandelt und verwertet. Sie unterscheidet sich aber von anderen Waren, weil die Arbeitskraft nicht von ihrem*ihrer Träger*in ablösbar und ihr Einsatz immer an die Kondition der Person geknüpft bleibt. Gleichwohl wird sie einem ökonomischen Nutzenkalkül unterworfen. Dies ist zunächst unabhängig davon, ob es sich um ein kapitalistisches Wirtschaftsunternehmen wie die Mine oder eine kirchliche Organisation handelt. Auch im letzteren Falle wird das Personal instrumentell behandelt und partiell dem Markt ausgesetzt. 43 Allerdings wird es anders als im kapitalistischen Unternehmen nicht dem Maßstab der Profitabilität der Ressource Arbeitskraft unterworfen. Dennoch ist klar, dass in dieser Perspektive Personalsein bedeutet, dem Handel von Humankapital ausgesetzt zu werden und seine Arbeitskraft nach dem Maßstab der Nutzbarkeit und/ oder der Profitabilität bewerten zu lassen. Wenn eine solche Bewertung dem Unternehmen nicht mehr positiv erwird, daß sie für den Untergebenen von Nutzen ist, werde ich konjunkte Herrschaftsbeziehung nennen. Den zweiten Typ, wo eine derartige Überzeugung fehlt, nenne ich eine disjunkte Herrschaftsbeziehung« (Coleman 1991: 92 f.). 42 Personal erscheint in der Betriebswirtschaftslehre als Ressource, die entlang der Differenz von Nutzen und Nicht-Nutzen von Personen (nicht: von Arbeitskraft) spezifiziert wird. Diese Ressourcen sind als Personal zwischen Organisationen austauschbar und werden nach Tauschprinzipien gehandelt, als ob ihre Arbeitskraft eine Ware wäre (vgl. dazu z.B. Jung 2008: 9, Hentze 2001, Ridder 2015). 43 Anders als die durch Privateigentum vor Austausch besser geschützte Unternehmerschaft wird das Personal vor diesem Hintergrund immer auch danach trachten, seine Marktposition zu erhalten oder zu verbessern und möglichst die Zeichen der eigenen Austauschbarkeit in der Organisation zu tilgen (siehe auch ausführlich Kap. 6). Es sieht sich insofern gezwungen, sich besser, origineller, flexibler, dynamischer, schneller etc. als andere darzustellen — eben als »wertvoller« und als schwerer ersetzbar. <?page no="107"?> 4.2 Personal — eine soziologische Bestimmung 107 scheint, läuft man Gefahr, wie im Falle der Bergleute, erst sein Gehalt und dann seinen Job zu verlieren. Der Nachweis der eigenen Nützlichkeit wird in der Arbeit des Personals verinnerlicht. Die Männer waren an ihrem Arbeitsplatz eingeschlossen, so einer der Expert*innen, und keine Tourist*innen. »Es war eine lange Schicht, gewiss, eine sehr lange Schicht, aber doch eine Schicht« (Franklin 2011: 97). Die Kumpel, so ein weiterer Experte vor Ort, waren vorher bereits ein Team und mussten sich in einer Weise organisieren, die das Überleben einer größtmöglichen Zahl an Menschen ermöglichte (ebd.). All dies aktualisierte das gewohnte, fest institutionalisierte Muster einer Organisation. Diese Verinnerlichung der institutionellen Form der Organisation lässt sich u.a. auch daran erkennen, dass selbst in einer existenziellen Situation wie dieser die Trennung zwischen der Randbelegschaft (der Beschäftigten des Subunternehmens) und der Stammbelegschaft (der direkt angestellten Minenarbeiter) aufrechterhalten wurde oder man schnell wieder, als die Versorgung unter Tage sichergestellt war, mit Streikmaßnahmen drohte. Das Verständnis der Institutionentheorie von Personal lässt sich daran gut verdeutlichen. In der neuen Institutionentheorie stehen nicht die Probleme von Interesse, Kontrolle oder Verwertung im Vordergrund (Perrow 1985, Beckert 1999, Wolf 2013, Walgenbach/ Meyer 2008). 44 Personalsein bedeutet hier, sich mit verfestigten Erwartungen und Regeln auseinandersetzen zu müssen, die in Organisation und Gesellschaft kollektive Geltung erlangt haben. Diese Erwartungen bestimmen mit, welche Motive das Personal äußert und welche Rollen es übernimmt. Bestimmte Motive und Rollen erscheinen in Gesellschaft und Organisation als legitim und werden mit Anerkennung versehen; andere werden mit Missachtung bestraft. Rangzuweisungen verbinden sich mit Positionen, welche das Personal bekleidet und Randbelegschaften werden z.B. von der Stammbelegschaft aufgrund ihres Status geringer geschätzt. Hier steht der institutionelle Einfluss auf Ziele und Motivlagen des Personals im Vordergrund (vgl. Scott 1987: 508, Walgenbach/ Meyer 2008). In diesem Sinne wird das Personal als Träger institutionalisierter Erwartungen aufgefasst; es befindet sich gleichsam in einem eisernen Käfig (»iron cage«) institutionell verfestigter Strukturen (DiMaggio/ Powell 1983). 45 So kann dann auch das Nachwirken oder Intaktbleiben der »rationalen« Betriebsform im Minenbeispiel erklärt werden. 44 »[I]nstitutional theories of organizations«, so DiMaggio (1988), »represent an important break with rational-actor-models and a promising strategy for modeling and explaining instances of organizational change that are not driven by processes of interest mobilization« (ebd.: 3, H.i.O.). 45 Als »iron cage« (eiserner Käfig) wurde Max Webers Dystopie vom »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« durch Talcott Parsons ins Englische übersetzt - eine freie Übersetzung, die zu vielfältigen Missverständnissen in der Weber-Rezeption führte (vgl. Swedberg 2005: 132 f.). <?page no="108"?> 108 4 Personal und Motivation Mit »Personal« thematisiert die neue Institutionentheorie somit eine gesellschaftlich institutionalisierte Form der Mitgliedschaft in Organisationen. Sie orientiert sich in Form und Ausprägung an gesellschaftlichen und organisationalen Spielregeln. Diese erscheinen ungeachtet ihrer tatsächlichen Vernünftigkeit als anerkennungswürdig und eine Orientierung daran signalisiert, dass man vernünftig zu handeln weiß. Man kann sich das am Beispiel der Personalauswahl gut verdeutlichen. Gerade weil die Bewerber*innenauswahl für die Organisation keine hinreichende Sicherheit darüber schaffen kann, ob man den richtigen Kandidaten bzw. die richtige Kandidatin gefunden hat, orientiert man sich gerne an Auswahlverfahren, welche als modern gelten und/ oder als legitim erscheinen. Damit signalisiert man »Rationalität« und erhält Ressourcen, ohne den Nachweis dafür führen zu müssen. Personalauswahl oder Personalpolitik ist in diesem Sinne immer auch eine organisationale »Strategie« zur Steigerung der Legitimität nach außen. Sie führt nicht selten zu einer Angleichung der Organisationen und ihrer Lösungsstrategien innerhalb des jeweiligen Felds (DiMaggio/ Powell 1983: 154 f.; siehe auch Walgenbach/ Meyer 2008). Tabelle 4.2: Das Verständnis von Personal und Personalpolitik im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neue Institutionentheorie Systemtheorie (Luhmann) Was wird unter »Personal« erstanden? Interessengeleitete, vertraglich gebundene Akteur*innen in einer Körperschaft Eine gesellschaftlich institutionalisierte Form der Mitgliedschaft, an institutionalisierten Erwartungen orientiert Eine Entscheidungsprämisse der Organisation mit einem spezifischen Sinnzuschnitt im Rahmen von Mitgliedschaft Was wird unter »Personalpolitik« verstanden? Eine Strategie zur Lösung der Prinzipal-Agenten-Probleme Eine Strategie zur Steigerung der Legitimität der Organisation Entscheidungen über Entscheidungsprämissen Die Systemtheorie Luhmanns fügt dem soziologischen Verständnis von Personal einen weiteren zentralen Aspekt hinzu. Auch hier werden unter Personal keine angestellten Menschen verstanden, sondern Entscheidungsbedingungen in Organisationen. Das Personal orientiert sich daran, dass Person A Entscheidungen anders trifft als Person B. Ebenso wie sich die Bergleute in ihren Entscheidungen auch an ihrem informellen Anführer Sepúlveda ausrichteten, werden bestimmte Personen als Bedingung des <?page no="109"?> 4.2 Personal — eine soziologische Bestimmung 109 Entscheidens gesetzt. 46 Das bindet die Entscheidungen an die erwarteten Einstellungen einer Person und es wird antizipiert, wie die Person entscheiden wird (vgl. Luhmann 2000: 284 ff.). Zugleich bedeutet Personalsein auch hier, Mitgliedschaftserwartungen erfüllen zu müssen. Das ermöglicht bestimmte Formen der Darstellung und schließt andere aus (Luhmann 2000: 285 f.). Im systemtheoretischen Sinne bezieht sich eine soziologische Beschäftigung mit »Personal« auch darauf, mit welchen Zurechnungen, Erwartungen man rechnen muss, wenn man Mitglied einer Organisation wird, an denen sich andere in ihren Entscheidungen orientieren. Vor diesem Hintergrund bedeutet Personalpolitik eine Entscheidung darüber, welche Entscheidungsbedingungen an den verschiedenen Stellen der Organisation gesetzt werden. Diese Entscheidung hängt nicht allein von der Organisation ab, sondern auch von den Personen, die sich um eine Mitgliedschaft bewerben. Sie ist daher immer kontingent. Da die Organisation nicht zwangsrekrutieren kann, kann sie nur aus den Personen auswählen, die sich für eine Stelle bewerben. Erst auf Basis einer solchen Selbstauswahl kann sie auswählen. Deswegen sind Karrieren für beide Seiten schwer plan- oder kalkulierbar. Die Organisation kann nicht kontrollieren, wer sich bewirbt und der*die Bewerber*in nicht, wer genommen wird. Gerade deshalb erfahren Karrieren eine hohe Aufmerksamkeit und geben durch die je verschiedene Positionsabfolge dem Personal seine Individualität. Das wichtigste Instrument der Personalpolitik ist daher für Luhmann (2000: 297 f.) die Karriere. Während der Arbeitsvertrag die Person als Personal partiell integriert und dadurch manche Start- und Rahmenbedingung des weiteren Verlaufs zu definieren vermag, sorgt die Karriere für eine rangorientierte Positionierung und hierarchische Einordung des Personals im Zeitverlauf. 47 Dieser Prozess ist zentral für Organisationen und ihre Mitglieder, nicht zuletzt weil auf diese Weise über die Verteilung von Anreizen, Belohnungen und Entlohnung entschieden wird — und die Organisation ihre (Entscheidungs-)Programme daran orientiert. Diese Programme sind nach Luhmann (2000: 297) in ihrer Wirkung »personalpolitisch« so einschneidend, weil es kaum möglich ist, unabhängig von der resultierenden hierarchischen Ordnung der Positionen über Anreize und Motive zu verfügen. 48 46 Zum Begriff der Entscheidungsprämisse siehe Kapitel 3.5. 47 Doch auch wer keine Karriere in einer Organisation, sondern z.B. die Perfektionierung seines Kontrabassspiels verfolgt, erfährt eine karriereorientierte Einordnung: Keine Karriere ist auch eine Karriere. Denn »Karriere« bezieht sich in einem soziologischen Verständnis nicht nur auf Wege nach oben, sondern ebenso auf Stillstand und Abstieg (vgl. Luhmann 2000: 102 f.; siehe zu Abstiegsprozessen u.a. Brüderl 1991: 76-81; Pollmann-Schult 2006 und Schmeiser 2003: 17 ff.). »Der Karrierebegriff umfasst folglich als Begriff die Differenz von erfolgreicher/ erfolgloser bzw. Positiv-/ Negativkarriere und Nullkarriere. Er öffnet sich damit für die Beobachtung unterschiedlicher Karrieremuster. Diese können sich sowohl auf die gesamte Lebenskarriere als auch auf Haupt- und Nebenkarrieren im Namen einzelner Phasen der Lebenskarriere beziehen« (Hohm 2000: 174). 48 Preise, Leistungszulagen und symbolische Auszeichnungen sind (in ihrer Wirkung nicht vergleichbare) funktionale Äquivalente, die - insbesondere wenn gleichzeitig auf »Teamwork« gesetzt wird - Probleme bei der individuellen Zurechnung bereiten (vgl. Luhmann 2000: 297). <?page no="110"?> 110 4 Personal und Motivation 4.3 Motive Eine soziologische Betrachtung von Motiven führt hinter die Vorstellungen und Fiktionen in der Praxis des Motivierens zurück. Betriebswirtschaftliche und pädagogische Ratgeber fassen die Motivation von Mitarbeitenden oft als eine von außen beeinflussbare Größe (siehe Nerdinger 2003, Stroebe 2004). 49 Es wird als bekannt angenommen, was Menschen anstreben, welche Bedürfnisse sie befriedigen wollen, und daraus leitet man Handlungsempfehlungen zum gezielten Einsatz von Anreizen ab (Nerdinger 2003, Stroebe 2005, Jost 2008). 50 Oder es wird untersucht, mit welchen Interventionen man welche Effekte erzielt (Kun/ Gadaneccz 2022; Gillison 2019; Knittle et al. 2018) und welche Rolle dabei „psychologische Sicherheit“ und „job crafting“ spielen (Edmondson 2018; Frazier, Tupper 2018; Zhang/ Parker 2019; Jiang 2019, Lichtentaler/ Fischbach 2019 u.v.a.). Doch auch in der daran anknüpfenden praxisnahen Literatur selbst wird zur Kenntnis genommen, dass diese Vorstellungen — so rational sie erscheinen mögen — in der Praxis nicht einfach funktionieren (vgl. Frey 1997; Sprenger 2002; Frey/ Osterloh 2000). Insbesondere wenn erreicht werden soll, dass das Personal sich »von sich aus« (also intrinsisch motiviert) für die Ziele der Organisation engagiert, führen die dazu gesetzten externen Anreize nicht selten zum Gegenteil, nämlich zu einem an den Anreizen selbst orientierten (und damit extrinsisch motivierten) Handeln (vgl. auch Mumford et al. 2020). Die hier herangezogenen soziologischen Ansätze gehen hingegen nicht von einer direkten empirischen Zugänglichkeit von Motiven als »inneren Beweggründen« aus. Veränderungen in der inneren Welt, so Coleman (1992: 252), treten nicht als beobachtbare Handlungen in Erscheinung. In der Reflexion darauf konzentriert sich die Soziologie deswegen auf die Erscheinungsformen von Motiven. Dort, wo sie als innerer Beweggrund der Handelnden in die soziologische Betrachtung eingeführt werden, wie z.B. bei Coleman, werden sie rein analytisch als Erklärungsprinzip behandelt, und es wird geprüft, wie weit man mit diesem Erklärungsprinzip kommt (vgl. Coleman 1991: 380 f.; 1992: 233 ff.). Im Rahmen des neuen Institutionalismus interessiert man sich erst gar nicht für Motive als innere Beweggründe eines*einer Akteur*in, sondern vielmehr für gesellschaftliche Regeln darüber, welche Beweggründe als legitim anerkannt werden und welche nicht. Oder Motive werden — wie in der Systemtheorie Luhmanns — als in Kommunikation dargestellte, zugeschriebene oder un- 49 Die Psychologie fasst Motivation als eine „aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand bzw. auf das Vermeiden eines negativ bewerteten Zustandes“ (Rheinberg/ Vollmeyer 2018: 16 f.) und Motiv bezieht sich auf die relativ zeitstabile Bevorzugung einer Person für eine bestimmte Inhaltsklasse von Anreizen (ebd.: 21). 50 So meint Nerdinger (2003: 4): »Mitarbeiter zu motivieren bedeutet, ihre Gedanken und Gefühle auf betriebliche Ziele auszurichten und die Arbeitssituation so zu gestalten, dass sie diese Ziele erreichen können«. <?page no="111"?> 4.3 Motive 111 terstellte Beweggründe aufgefasst und in ihrer Ausprägung und Wirkung als gesellschaftliche oder organisationale Konstrukte beobachtet. Denn welches sind beispielsweise die »Motive« des Minenbesitzers, der weder Mitleid noch Solidarität mit seinen Bergleuten zeigt? Natürlich könnten wir unterstellen: das Geld. Doch was steckt dahinter? Für Außenstehende ist dies undurchsichtig, und auch die Handelnden selbst sind sich ihrer Beweggründe möglicherweise gar nicht bewusst oder sie täuschen sich über ihre »wahren« Motive. Diese Ungewissheit öffnet Raum für Spekulation. Vielleicht versucht der Minenbesitzer etwaige Defizite in seiner Familie mittels äußerlicher Härte in der Firma zu kompensieren oder es ist ihm möglicherweise aufgrund einer Affektstörung nie gelungen, der Situation angemessene emotionale Reaktionen zu zeigen. Mögliche Beweggründe gibt es immer viele. Für eine soziologische Betrachtung ist dies ein unsicheres Terrain, das sie entweder mit spezifischen (Modell-)Annahmen überbrückt oder der Psychologie überlässt und gar nicht erst betritt. Bereits Max Webers Perspektive richtete sich vor dem Hintergrund dieser Unsicherheiten darauf, was uns selbst und anderen als Motiv erscheint. »Motiv« hieß für ihn »ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter ›Grund‹ eines Verhaltens erscheint« (Weber 1922/ 85: 5). Das Motiv war für ihn also eine Erscheinungsform einer inneren oder äußeren Bewegung als »Grund«, eine Form der Sinnkonstitution. Dessen Sinnhaftigkeit und kausale Wirkung werden von anderen nachvollzogen, um soziales Handeln verstehen und erklären zu können. Wenn wir in diesem Sinne von Motiven sprechen, beziehen wir uns also auf Annahmen, die wir unterstellen, um Handlungen verständlich und erklärbar zu machen. Sie bringen für jeden*jede Akteur*in eine spezifische Ordnung in das Neben- und Durcheinander von Beweggründen, Affekten und Wertungen, welches in der Realität die ständige Begleitmusik allen Handelns ist. Coleman sorgt daran anknüpfend in seiner Handlungstheorie wiederum für einen sehr engen und modifizierten Zuschnitt dieser Annahmen. Er geht von einer inneren Ordnung des*der Akteur*in aus, indem er die Interessen eines »Objektselbst«, das Interesse an bestimmten Ergebnissen von Ereignissen hat — also z.B. Bedürfnisse befriedigen will — von jenen eines »Handlungsselbst« unterscheidet. 51 Das Handlungsselbst besitzt die Kontrolle über bestimmte Ereignisse oder möchte sie erlangen und somit die Bedürfnisse und Interessen des Objektselbst realisieren (vgl. dazu Coleman 1992: 240 f.). Die Interessen an der Befriedigung des Selbst sind die zentrale Grundlage für 51 »Objektselbst« und »Handlungsselbst« beschreiben die zweigeteilte Struktur eines*einer Akteur*in. Individuelle Akteur*innen vereinen diese Facetten in einem Körper. Ebenso besitzen korporative Akteure diese zwei Seiten, diese werden allerdings durch unterschiedliche Personen oder Interessengruppen vertreten (vgl. Coleman 1992: 127; siehe auch Meier 2009; Münch 2002). <?page no="112"?> 112 4 Personal und Motivation die Motive des*der Akteur*in, handelnd in Erscheinung zu treten, und werden im Rahmen dieser Theorie im Sinne der Nutzenmaximierung modelliert. Ressourcen und Interessen der Akteur*innen sowie die Kontrollrechte, die sie dem korporativen Akteur übertragen, prägen die Körperschaften und bestimmen über das Niveau der Handlungsmotivation (vgl. Coleman 1992: 265). Dabei sorgen auch Sozialisierung und Norminternalisierung für eine Übereinstimmung der Interessen von Akteur*innen und Körperschaft (siehe dazu auch Kap. 7) und damit für die Bereitstellung von Motivlagen. Der Institutionalismus knüpft zwar — ebenso wie Coleman — an die Handlungstheorie Webers an, interessiert sich jedoch in erster Linie für die gesellschaftliche Anerkennung von Motiven und deren Wirksamkeit für die Institutionalisierung gesellschaftlicher Regeln. Man kann dies am Beispiel des Motivs der Faulheit erläutern. Es wird in der modernen Arbeitsgesellschaft — Max Weber hat dies bezogen auf die Rolle der protestantischen Ethik im historischen Entstehungsprozess des Kapitalismus herausgearbeitet (Weber 1910/ 91) — in seiner Legitimität untergraben und in der Auslebung auf kurze Zeiträume beschränkt (vgl. hingegen Lafargue 1848/ 2001; Schlegel 1799/ 1999; Schneider 2003). Für ein paar Stunden oder Urlaubstage hat das Motiv noch seine Berechtigung, wird aber ausdrücklich zur Ausnahme von der Regel (man darf faulenzen) und schließlich bei längerer Dauer als Motiv gesellschaftlich illegitim. Die Person droht in diesem Falle zu einem Objekt der Pädagogik oder gar der Psychotherapie zu werden oder schlicht ins soziale Abseits zu geraten (vgl. dazu auch Rammstedt 1982). Dass diese Erwartungen nicht nur bis heute gesellschaftlich strukturierend wirken, sondern auf der Organisationsebene spezifiziert werden, kann man z.B. daran erkennen, dass die Ratgeberliteratur Bewerber*innen dazu anhält, Phasen des Müßiggangs und längere Auszeiten als »berufliche Neuorientierung« im Lebenslauf auszuweisen oder durch Angaben zu Nebentätigkeiten zu »überbrücken«. Oder daran, wie Organisationen mit dem nun an Faulheit gemahnenden Schlafen während des Arbeitstages umgehen. Obwohl physiologische Studien nachweisen, dass die Effizienz und Effektivität des Arbeitens höher sind, wenn ein kurzer (nach)mittäglicher Schlaf gehalten wird 52 , erfahren die meisten, die dies in Organisationen tun, keine gesellschaftliche oder organisationale Anerkennung — ganz im Gegenteil: Karrieren werden heutzutage jedenfalls nicht im Schlaf gemacht. Organisationen sind also in der Perspektive des neuen Institutionalismus an der Motivproduktion insofern beteiligt, als sie die Regeln ihrer Artikulation festlegen und sie mit Anerkennung und Legitimität oder mit Sanktionen versehen, falls sie den organisationalen und/ oder gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen nicht entsprechen. 52 Siehe dazu Hecht (1993) und Steger (2004). <?page no="113"?> 4.3 Motive 113 Motive sind nicht so sehr als innere Beweggründe der Handelnden interessant, sondern als institutionalisierte gesellschaftliche oder organisationale Formen von Bedeutung, mit denen Legitimität und Anerkennung verbunden werden. Betrachtet man Motivation als den gesellschaftlichen und organisationalen Prozess der Motivproduktion, so sehen wir zum einen, dass Organisationen Anreize setzen, welche die Entstehung von Motiven stark beeinflussen. So lässt die Geldentlohnung von Leistungen in einem langen historischen Prozess Geldbesitz selbst als Motiv erscheinen und dieses kann in der Folge mit hinreichender Erwartungssicherheit unterstellt und zugeschrieben werden. Man kann nun sagen: Sie bekommen von uns viel Geld, also erwarten wir ein hochmotiviertes Arbeiten. Auch wenn faktisch die einfache Übersetzung von viel Geld in hohe Motivation nicht mit hinreichender Sicherheit und Dauer funktioniert (vgl. Frey 1997, Sprenger 2002; Frey/ Osterloh 2000; siehe auch Locke/ Schattke 2019: 13f.), erweist sich die diesbezügliche Erwartung als organisational fest verankert. Zum anderen sehen wir, dass organisationale Anreizstrukturen häufig nicht nur mit Verhaltens-, sondern auch mit Motiverwartungen einhergehen. Zur »Mitarbeiterin des Monats« kürt man nicht jene, die nur viel geleistet hat, sondern diejenige, deren Motive auch als vorbildlich auf das Wohl des Unternehmens ausgerichtet erscheinen. Dadurch werden organisationale Motive generiert, die als legitim Anerkennung finden. Andere schließt man als illegitim aus, mitsamt dem Personal, welches solche Motivlagen zu erkennen gibt. Von einem solchen Verständnis ausgehend ist der Übergang zu einer systemtheoretischen Betrachtung von Motiven fließend. Tabelle 4.3: Das Verständnis von Motiven und Motivation im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neue Institutionentheorie Systemtheorie (Luhmann) Was kann unter einem Motiv verstanden werden? Ein innerer Beweggrund, der dem Interesse an Bedürfnisbefriedigung und Kontrolle entspringt Ein dargestellter oder verinnerlichter Beweggrund, dessen Artikulation sich an der Legitimitätsgeltung orientiert Eine Artikulation von auf Personen zurechenbaren Gründen in Kommunikation Wie stellt die Organisation Motivation sicher? Durch auf Bedürfnisbefriedigung bezogene Anreizstrukturen, Sozialisation und Norminternalisierung Durch die Legitimierung und Delegitimierung von Motiven Durch spezifische Artikulationsformen von Motiven sowie durch Karriere <?page no="114"?> 114 4 Personal und Motivation Welche »Motivationsprobleme« treten dabei auf? Fehllaufende Anreizstrukturen der Körperschaft fördern zweck- und normabweichendes Verhalten Als legitim geltende Motive sind der Effizienz oder Effektivität der Organisation abträglich Die Artikulation von Motiven kann die Entstehung von inneren Beweggründen nicht direkt beeinflussen Organisationen orientieren ihre Selbstbeschreibungen daran, dass es ihnen gelingt, Motive »instrumentell zu generieren«. Von den Anreizstrukturen, die sie setzen, wird erwartet, dass sie die organisationale Motivproduktion kalkulierbar machen, indem sie entsprechende innere Zustände beim Personal produzieren. Dass diese Berechenbarkeit ihre Grenzen hat, liegt in systemtheoretischer Betrachtung aber in der fundamentalen Differenz zwischen der organisationalen Form des Motivs und den inneren Zuständen der psychischen Systeme begründet. Die Ungewissheitszone organisationaler Motivproduktion gründet darin, dass die Artikulation von Motiven in Entscheidungen nicht mit der Produktion von inneren Zuständen gleichgesetzt werden kann. Die Freiheit auf der einen Seite — andere Motive (zum Beispiel des Leistungsentzugs) unartikuliert aufrechtzuerhalten — schafft die Unberechenbarkeit auf der anderen Seite, nicht wissen und nicht steuern zu können, welche inneren Zustände sich mit der organisationalen Setzung von Anreizstrukturen tatsächlich verbinden. Daraus resultiert sowohl das grundsätzliche Problem als auch der fortwährende Antrieb für motivationsförderliche Personalpolitiken. Was machen nun aber Personal- und Organisationsentwickler*innen oder Führungskräfte, wenn sie meinen, dass sie »motivieren«? In der systemtheoretischen Perspektive lautet die Antwort darauf: Sie stellen Sinnzuschnitte und Formen für die Motivproduktion und organisationale Artikulation von Motiven zur Verfügung und versuchen die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass diese Formen genutzt werden. Wer Geldanreize setzt, legitimiert Geld als Mitgliedschaftsmotiv und erhält mit einer empirisch zu bestimmenden Wahrscheinlichkeit Personal, das seinen Handlungsvollzug daran orientiert oder zumindest als daran orientiert darstellt. In der systemtheoretischen Perspektive ist bei der Analyse dieser Formen des Motivierens auch die Praxis des Adressierens von Motiven wichtig. Die Organisation reguliert damit, inwieweit über Motive kommuniziert werden darf, für wen (für welche Segmente der Belegschaft bzw. des Arbeitsmarktes) sie bereitgehalten und an wen sie kommuniziert werden (Luhmann 2000: 96). Organisationen formen also — so lässt sich mit Ausnahme der Rational-Choice-Theorie Colemans und bei allen sonstigen Unterschieden die Quintessenz der Ansätze zu- <?page no="115"?> 4.4 Die Entgrenzung von Arbeit und das »unternehmerische Selbst« 115 sammenfassen — innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens die Motivproduktion weiter aus, indem sie Sinnzuschnitte für »mitgliedschaftsgerechte Motivation« bereithalten. Ein Kern der soziologischen Beschäftigung mit Motivation findet sich in der Aufklärung der Frage, welche Motive in Gesellschaft und Organisation generiert bzw. mit Anerkennung versehen und welche gesellschaftlich und organisational ausgegrenzt bzw. als falsch adressiert werden. 4.4 Die Entgrenzung von Arbeit und das »unternehmerische Selbst« 53 Mit der »Entgrenzung von Arbeit« deutet sich derzeit ein Erwartungswandel bezüglich der Leistungen des Personals an. Je wichtiger und je unsicherer die Karriere für das Personal erscheint, desto stärker wird Arbeit entgrenzt und selbsttätig von Leistungsgrenzen befreit. Waren früher in der Vorstellung einer »Normalleistung« Erwartungsgrenzen bezüglich der Nutzung der Arbeitskraft verankert, erweisen sich diese Grenzen heute als ausgeweitet. Eine tendenzielle Grenzenlosigkeit der Erwartung (nicht: der Nutzung) hat sich etabliert. Sie findet ihren Widerhall in Identifikationsformen, bei welchen der Anspruch entgrenzter Leistungserbringung verinnerlicht und als Kriterium der Selbst- und Fremdbewertung etabliert ist. Dies ist insbesondere bei Eliten und Professionals der Fall und findet dort seine entsprechende identitätsformierende Resonanz. Sie findet ihren Niederschlag aber auch in Form von Personalpolitiken, die den Arbeitsmarkt zum Weitertreiben der Anspruchsspirale bei gleichzeitiger Kostensenkung nutzen. Das beginnt bei den Praktika, geht über unsichere Projektarbeit bis hin zu indirekten Kennzahlensystemen der Leistungsbewertung. Diese legen den bestmöglichen Output fest (auch bei sog. Benchmarks), aber überlassen den Input der selbstverantwortlichen Leistungserbringung dem Personal, was in aller Regel die Leistungsspirale nur weiter nach oben treibt (Pohlmann et al. 2003; vgl. auch Schmidt-Wellenburg 2009; Brinkmann 2011). Der massive Einzug von hochqualifiziertem Personal lässt sich nicht nur an der zunehmenden Dominanz von angestellten Akademiker*innen in den Großorganisationen ablesen. Zugleich werden dadurch auch zentralistische, mit steilen Hierarchien versehene, unflexible Organisationsformen von Arbeit in Frage gestellt und Dezentralisierung sowie die Zuweisung von Verantwortung und Autonomie werden zu zentralen Rationalisierungsformen. Diskutiert wird, inwiefern heute der »Geist« selbstständiger »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz/ Voß 2000; Pongratz/ Voß 2002) in den Großraumbüros umgehe. Registriert wird ein personalpolitischer Erwartungswandel, 53 Das Unterkapitel ist bereits erschienen in: Pohlmann, Markus. »Das Personal der modernen Gesellschaft.« Menschen-Bilder. Springer Berlin Heidelberg, 2012. 309-322. <?page no="116"?> 116 4 Personal und Motivation der »Unternehmersein« als Anspruch an jeden Mann und jede Frau formuliert (vgl. zu dieser Diskussion Pongratz/ Voß 2000; Moldaschl/ Voß 2003; Negt 2006; Bröckling 2013; Schmidt-Wellenburg 2009 u.v.a.). So schreibt Negt: »Eine der größten Sumpfblüten im Morast der ideologischen Umdefinitionen von Leben und menschlichen Zwecken ist der „Mensch als Unternehmer“, seine unternehmerische Daseinsbestimmung als eine Art Existential. Unternehmer bezeichnet zukünftig keinen Beruf mehr oder eine Rolle oder einen Eigentumsstatus; vielmehr ist Unternehmersein der wesentliche Daseinszweck« (Negt 2006: 262). Der Mensch erscheint, entsprechend der Prinzipien der Humankapitaltheorie, ökonomisch nicht mehr nur als Tauschpartner, sondern als jemand, »der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Eigentumsquelle« (Foucault 1979: 314). Die (oft selbst geglaubte) Darstellung der eigenen Biographie wird nun hintergründig von einer Perspektive bestimmt, in der Wissen, Fertigkeiten, Gesundheit, äußeres Erscheinungsbild, Sozialprestige, Arbeitsethos und persönliche Gewohnheiten als knappe Ressourcen anzusehen sind, die aufzubauen, zu erhalten und zu mehren Investitionen erfordern (Bröckling 2013: 90). Der Mensch erscheint als Person gänzlich als Subjekt und Objekt seiner eigenen Entscheidungen, sich selbst verfügbar und nutzbar. Diese Vorstellung der unternehmerischen Verfügbarkeit des Selbst ist ein roter Faden, der das sich etablierende Deutungsmuster des »unternehmerischen Selbst« strukturiert. Für das Personal der modernen Gesellschaft wird kontrafaktisch ihre unternehmerische Daseinsbestimmung zu einer Art formgebender Identität. Entgrenzte Arbeit jedenfalls, die sich selbsttätig normierten Leistungsstandards entzieht, ist nach vielen Befunden zum Signum der Angestelltenarbeit geworden (Schmidt 1999; Minssen 2000; Moldaschl/ Voß 2003; Sauer 2005). Doch diese wird durch ihre »Selbstrationalisierung« keineswegs einer Verunsicherung der Beschäftigungsverhältnisse entzogen, sondern vielmehr zu immer weiterreichenden »Opfergaben« verpflichtet. Während die Rationalisierung der Produktion eine massive Reduktion der Produktionsarbeit erlaubt, ist auch die sich ausbreitende Angestelltenarbeit von der Rationalisierung nicht mehr ausgenommen. Im Gegenteil: eine neue »Ökonomie der Unsicherheit« (Sauer 2003 u.a.) trifft sie heute mit ungeahnter Wucht. Fällt aber das Konstrukt einer legitimen »Normalleistung«, sind die einen im »Hamsterrad« einer nicht enden wollenden Leistungsanforderung gefangen, dass sie schnell an die »natürlichen« Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit heranführt, während den anderen ein Aufspringen immer weniger möglich wird. Die negativen Begleiterscheinungen der Leistungsverausgabung werden im Karrieresystem jedoch entweder nicht oder anders thematisiert und individuell zugerechnet. <?page no="117"?> 4.5 Zusammenfassung 117 Es lag dann nicht an der Belastung im Job, sondern an der Person, die diese nicht oder nur mit »persönlichen Problemen« wie Alkoholismus, Tablettensucht, Neurosen aushalten konnte. So wird die sachliche und soziale Konditionierung der Selbstdarstellung zu einem Element des Karrieresystems, das nicht nur seine Auswahl daran orientiert, sondern auch einen Teil der Folgen der Leistungsverausgabung zu externalisieren vermag. Dafür sind dann die Familien, Therapeut*innen, Orthopäd*innen oder Entzugskliniken verantwortlich. Es ist dieser Erwartungshorizont, der also nicht nur Anforderungen an das Personal- Sein derzeit bestimmt, sondern auch die Formgebung personaler Identitäten. Denn wir alle kommen nicht umhin, in der selbstverantwortlichen Sinnsuche und Lebensführung darauf zu rekurrieren und unsere Selbst-Wertschätzung auch daran zu orientieren. Je mehr wir vor diesem Erwartungshorizont zurückbleiben, desto höher wird für uns der Anpassungsdruck. Damit hat sich nicht nur die Verwertungsseite des Personalseins verändert, welche die kritische Industriesoziologie und die BWL im Blick haben, sondern auch maßgebliche Formen der anerkannten Motivartikulation und der Sinnzuschreibungen, auf welche die Institutionen- und die Systemtheorie mit ihrer unterschiedlichen Herangehensweise fokussieren. 4.5 Zusammenfassung Die Soziologie beschäftigt sich nicht mit dem Menschen als Ganzes, sondern mit seiner sozialen Seite. Deswegen hat die Soziologie eine darauf ausgerichtete Analyseperspektive, die sich auf das richtet, was gesellschaftlich und organisational zum Ausdruck gebracht und von Personen erwartet werden kann. Die Person selbst ist der System- und Institutionentheorie zufolge eine Handlungs- oder Kommunikationsform, mit welcher der Rahmen bestimmt wird, in dem sich gesellschaftliche Erwartungen und Zurechnungen bewegen. Dieser Rahmen wird in Organisationen weiter spezifiziert. In diesem Sinne beschäftigen Organisationen keine Menschen, sondern Personal. Personal zu sein bedeutet zum einen, von der Organisation als handelbare Ressource gesehen zu werden und zum anderen als Mitglied der Organisation (in der Handlungstheorie Colemans) seine Kontrollrechte einer Körperschaft zu übertragen. Als Akteur*in wird man dann in seine*r Handlungs- und Strategiefähigkeit sowie in seine*r Nützlichkeit für die Belange der Organisation temporär beansprucht. Für Luhmann bündeln sich in der sozialen Form des „Personalsein“ zum einen organisationale und gesellschaftliche Erwartungen, Darstellungsmöglichkeiten und Pflichten. Zum anderen werden Entscheidungen auf das Personal zugerechnet und diese zugleich als eine Entscheidungsprämisse für weiteres Entscheiden behandelt. Die in Organisationen möglichen <?page no="118"?> 118 4 Personal und Motivation Karrieren des Personals versorgen dann die Organisation mit Motiven bzw. bestimmten Arten der Motivartikulation. Motive werden in den hier vorgestellten Ansätzen nicht als „innere Beweggründe“ einbezogen, sondern - vielleicht mit Ausnahme der Theorie rationaler Wahl bei Coleman - als das, was in der Organisation als Motiv erscheint bzw. als solches artikuliert wird. Der Institutionalismus und die Systemtheorie nehmen dabei Motivation als gesellschaftliche und organisationale Motivproduktion in den Fokus. Durch sie werden die in Organisationen artikulierbaren Motive zum einen mit Anerkennung versehen und zum anderen beschränkt. Bestimmte, nicht nützliche Motive wie z.B. Faulheit, Unentschiedenheit, zu großer Eigennutz oder zu großer Altruismus sind dann nicht ohne Sanktionsrisiko thematisierbar. Diesen Prozess der gesellschaftlichen und organisationalen Motivproduktion zu analysieren, ist Aufgabe einer so verstandenen Organisationssoziologie. Übung zu Kapitel 4: Naoko und der Lebenslauf Naoko hat ihr Studium der Soziologie unterbrochen. Zusammen mit anderen Studierenden hat sie sich einige Zeit auf Pellworm an einer neuen Form der Verbindung von Leben, Lehren und Lernen versucht. Da es ihr dort zu regnerisch war und das ganze Projekt ihres Erachtens zu sehr auf eine falsche Bahn geriet, hat sie sich mit ein paar Studierenden auf die Norfolk-Inseln begeben, um sich in Müßiggang zu üben. Nach ein paar schönen Monaten auf den Norfolk-Inseln (wo sich ein großer Teil der Nachkommen der Meuterer von der Bounty angesiedelt haben) hatte sie von dieser Kapitel 4: Fragen zur Vertiefung Was lässt sich aus systemtheoretischer Perspektive unter Personalpolitik verstehen? Worauf muss man achten, wenn man im Sinne der Coleman‘schen Theorie rationaler Wahl Motivationsprobleme in einer Körperschaft untersuchen möchte? Was tun Führungskräfte aus der Perspektive des neuen Institutionalismus, wenn sie Mitarbeitende motivieren? Quelle: Wikemedia Commons, File: Norfolk Island Ball Bay.jpg, Ball Bay, Norfolk Island, 2007 <?page no="119"?> 4.5 Zusammenfassung 119 Lebensweise genug, kehrte nach Deutschland zurück und nahm ihr Studium wieder auf. Nach Abschluss des Studiums absolvierte sie ein Praktikum. Nun möchte sie sich in der Personalabteilung eines großen Unternehmens bewerben. Doch wie soll sie die eineinhalb Jahre »Auszeit« darstellen, die sie auf Pellworm und den Norfolk- Inseln verbracht hat? Die Erwähnung der »Freien Universität Pellworm« erscheint ihr nunmehr als »zu alternativ« und der Aufenthalt auf den Norfolk Islands hört sich für sie zu sehr nach dem an, was es tatsächlich war. Sie nimmt an, dass das Unternehmen Müßiggang nicht so sehr schätzen werde. Deshalb entscheidet sie sich, das halbe Jahr auf den Norfolk Islands als Arbeit an einer Ethnografie der Meuterer und deren Nachkommen auszuweisen und mit dem Jahr auf Pellworm ähnlich zu verfahren. Da aus der freien Universität Pellworm mittlerweile eine zunächst von ihr heftig kritisierte »Shipmanagement Business School« geworden ist und sie den Gründungsrektor noch von früher kennt, bittet sie ihn um eine Bescheinigung über die Mitwirkung bei der Gründung der Business School, die sie nach kurzer Rücksprache auch bekommt. So gelingt es Naoko aus ihrer Sicht, das Jahr auf Pellworm nachträglich als konform mit fremden Erwartungen darzustellen. Der Personalleiter zeigt sich tatsächlich während des Vorstellungsgesprächs von ihrem Engagement im Studium begeistert. Daher kann sie, trotz ihres eher durchschnittlichen Abschlusszeugnisses, zwei Monate später die begehrte Stelle in der Personalabteilung des großen Unternehmens antreten. Erklären Sie die Darstellungsformen, die Naoko in ihrem Lebenslauf wählt, mit Bezugnahme auf die Argumentation des neuen Institutionalismus und leiten Sie her, welche Motive mit diesem Lebenslauf an ihren zukünftigen Arbeitgeber adressiert werden. Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Quellen Ashforth, Blake E./ Mael, Fred (1989), Social Identity Theory and the organization, in: Academy of Management Journal 14 (1), S. 20-39. Becker, Gary S. (1962), Investment in Human Capital: A Theoretical Analysis. In: Journal of Political Economy 70, S. 9-49. Becker, Gary S. (1993), Human capital: a theoretical and empirical analysis with special reference to education, 3. Aufl., Chicago, Ill. [u. a.]: Univ. of Chicago Press. Becker, Manfred/ Schwarz, Volker (Hrsg.) (2001), Theorie und Praxis der Personalentwicklung. München, Mering: Hampp. Beckert, Jens (1999), Agency, Entrepreneurs, and Institutional Change. The Role of Strategic Choice and Institutionalized Practices in Organizations. In: Organization Studies 20, S. 777- 799. Brinkmann, Ulrich (2011), Die unsichtbare Faust des Marktes: Betriebliche Kontrolle und Koordination im Finanzmarktkapitalismus. 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Macht und Geld ziehen in unserer Gesellschaft viel mediales Interesse auf sich, oftmals verbunden mit zugeschriebenen Helden- und Schurkenrollen. Die Mächtigen und Reichen oder umgekehrt, die Ohnmächtigen und Armen gehören zum Personal vieler Dramen, die moderne Gesellschaften und ihre Massenmedien schreiben. In der soziologischen Perspektive, wie wir sie vorstellen, wird Macht jedoch nicht als Eigenschaft von Personen verstanden, sondern an soziale Beziehungen oder soziale Verhältnisse geknüpft. Sowohl in der handlungstheoretischen als auch in der systemtheoretischen Perspektive ist z.B. Macht an soziale Beziehungen oder soziale Systeme gebunden und nicht einfach von einer Beziehung auf die nächste, von einem System auf das andere übertragbar. In der Familie sehen die Machtrelationen anders aus als in der Firma, im Segelclub oder in der Partei. Und je nachdem, auf welchen Ressourcen die Macht basiert, hat einmal der eine Akteur mehr Kontrollmöglichkeiten und einmal der andere. Wäre Macht also eine Eigenschaft oder im Besitz von Personen, wäre sie auf alle Beziehungen der Person übertragbar und in allen Handlungen zum Ausdruck gelangen. Doch so lässt sich Macht im Sinne der hier behandelten soziologischen Ansätze nicht begreifen. Für die handlungstheoretischen Ansätze ist Macht immer an eine Relation (zwischen Akteur*innen oder zu Ressourcen) gebunden. Für die systemtheoretischen Ansätze ist sie ein fluides Medium, das gerade durch seine ständige Zirkulation systembildenden Charakter entfaltet. Auch im Falle von Geld ist für diese Ansätze nicht so sehr der Besitz entscheidend, sondern die Frage, wie Geld als »Beziehungsmittel« oder »Systemmittel« ins Spiel kommt. So kann etwa der*die Eigentümer*in (oder Prinzipal*in) Geld einsetzen, um andere (Agent*innen) für sich arbeiten zu lassen und für eine Übereinstimmung ihrer Interessen mit den seinigen sorgen (vgl. Coleman 1992). Mittels Zahlungen, so Luhmann, wird die Bereitschaft, die von anderen getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren, erhöht. Organisationsbildung wird so erst möglich. Nicht Schatzbildung oder Reichtum sind dabei wichtig, sondern die fortwährende Zirkulation (Investition) des Geldes durch Zahlungen (Luhmann 1988). So bildet sich die Wirtschaft aus und re- <?page no="126"?> 126 5 Macht und Geld produziert sich mittels der Orientierung an Profit (verstanden als Zahlungen, um Zahlungen zu erhalten). Im Selbstverständnis von Organisationen wird Geld als Mittel, Veränderungen zu erreichen, häufig überschätzt. Man verspricht sich von mehr Geld mehr Motivation oder eine bessere Zielerreichung. Ein dauerhafter Motivationsschub oder eine fortgesetzte Identifikation mit der Organisation oder eine Veränderung ihrer Kultur (siehe Kap. 7) sind aber mit Geld allein — das zeigt die organisationssoziologische Forschung — kaum zu erreichen (vgl. Frey 1997; Sprenger 2002; Frey/ Osterloh 2000, Sass 2019; Locke/ Schattke 2019 u.v.a. siehe dazu auch Kap. 4). Trotz der erhofften Effekte von persönlichem und unternehmerischem Reichtum sind die durch Geldzahlungen erreichbaren Möglichkeiten begrenzt. Darauf wird in der Organisation durch die Verwendung anderer Mittel reagiert: Man setzt auf Sozialisation, auf Corporate Identity, auf nicht-materielle Anreizstrukturen oder auf Personalentwicklung. Macht und Geld tragen nicht nur zur Handlungskoordination bei, sondern darüber hinaus zur Entstehung von Ordnungen und Systemen. Im Falle von Macht wollen wir dies an einem Leitbeispiel zur Machtentstehung diskutieren (5.1) und anschließend aufzeigen, wo die Unterschiede zwischen den verschiedenen handlungs- und systemtheoretischen Machttheorien liegen (5.2). Dabei sehen wir uns in diesem Kapitel gezwungen, die neo-institutionalistische Perspektive durch die Machttheorie von Crozier/ Friedberg zu ersetzen, da sie kein originäres Machtkonzept entwickelt hat und Macht nur eine untergeordnete Rolle spielt. 54 Der Ansatz von Crozier/ Friedberg hingegen kann als ein Meilenstein in der organisationssoziologischen Beschäftigung mit dem Thema gelten (vgl. Bogumil/ Schmid 2001, Matys 2014). Unsere abschließenden Reflexionen gelten der Frage, welche Perspektive die jeweilige Machtkonzeption für eine Soziologie der Organisation eröffnet. Die daran anschließende Beschäftigung mit dem Thema »Geld« in Organisationen werden wir entlang der Diskussion von wachsenden Manager*innengehältern und der Rolle von Geld- und Habgier im System entwickeln und uns dabei auf die Unterschiede in den Sichtweisen von Handlungs- und Systemtheorie beschränken (5.3). 5.1 Macht Um zu verstehen, wie Macht und Geld zum Einsatz kommen sowie die Ordnungsbildung prägen, beziehen wir uns auf das hypothetische Liegestuhlbeispiel von Popitz 54 In einem allgemeinen Sinne kann in der Perspektive des neuen Institutionalismus unter »Macht« vor allem die Definitionsmacht über gesellschaftliche Prämissen verstanden werden, die zu einer Angleichung (Isomorphismus) organisationaler Rationalitätsformen und -fassaden führen (vgl. March/ Simon 1993, DiMaggio/ Powell 1983). <?page no="127"?> 5.1 Macht 127 (1976, 1992). Es ist sehr eng an die Realität angelehnt und stellt — man denke nur an den Handtuchkrieg zwischen Briten und Deutschen auf Mallorca — einen alltagsweltlichen Bezug zum Thema her. Wir haben das Beispiel für unsere Zwecke leicht verändert. Es soll uns einen soziologischen Zugang zum Thema eröffnen, und zwar anhand der Frage, wie soziale Ordnung möglich ist und welche Rolle Macht dabei spielt. Dazu begeben wir uns auf eine Südseereise, die u.a. zu den Pitcairn- und den Norfolk-Inseln führt. Leitbeispiel 5.1: Popitz und die Liegestühle Das Kreuzfahrtschiff läuft auf seiner Reise zu den Pitcairn-Inseln verschiedene Häfen an. Manche Passagier*innen verlassen das Schiff, andere steigen zu. Auf dem Sonnendeck gibt es etwa ein Drittel so viele Liegestühle wie Passagier*innen. Die Art der Nutzung ist den Passagier*innen freigestellt. In den ersten Tagen wechseln die Liegestühle ständig ihre Nutzer. Sobald jemand aufsteht, gilt der Liegestuhl als frei. Belegsymbole wie Handtücher, Bücher etc. werden kaum und wenn, dann nur kurzzeitig genutzt. Die Zahl der Liegestühle reicht für den jeweiligen Bedarf aus und die Passagier*innen reagieren flexibel, wenn Engpässe auftreten. Nach der Ausfahrt aus einem Hafen, in dem neue Passagier*innen hinzugekommen sind, bricht diese Ordnung jedoch plötzlich zusammen. Eine Gruppe von Neuankömmlingen besetzt zahlreiche Liegestühle und erhebt auch dann Besitzansprüche, wenn sie diese nicht nutzen. Ihre Belegsymbole werden zunächst nicht von allen Passagier*innen anerkannt. Doch durch gemeinsame Abschreckungsaktionen werden Passagier*innen, die einen als belegt markierten Liegestuhl nutzen wollen, zurückgewiesen. Nach und nach beginnen nun auch einige der anderen Passagier*innen, Liegestühle zu reservieren. Das geht solange gut, bis alle Liegen besetzt sind. Jetzt gibt es Privilegierte, welche die Liegestühle besetzt halten, und Nicht-Privilegierte, die von der Nutzung ausgeschlossen sind. Jetzt bieten einige der leer Ausgegangenen an, auf die Liegestühle aufzupassen, wenn sie diese im Gegenzug zeitweise nutzen können. Andere bekommen die Möglichkeit der zeitweisen Nutzung gegen Drinks an der Bar oder andere Gegenleistungen eingeräumt. Es entsteht nun ein Gefüge aus »Besitzenden«, »Wächter*innen« und »Mietenden« sowie den »Habenichtsen«. Damit ist zugleich eine wesentliche Klärung erreicht: Die vollständig Besitzlosen sind von nun an aus freien Stücken und eigenem Verschulden in der schlechtesten Lage (vgl. Popitz 1992: 188 f., 1976: 7 f.). Quelle: Wikimedia Commons, Bundesarchiv Bild 183- 74690-0025, MS "Völkerfreundschaft", Ostseerundfahrt, Jungarbeiter.jpg, 11.7.1960 Die besten Jugendbrigaden und Lehrlingskollektive auf der Völkerfreundschaft. <?page no="128"?> 128 5 Macht und Geld 5.1.1 Machtentstehung und Ordnungsbildung bei Popitz Die Geschichte beginnt in einem scheinbar rechtsfreien Raum, in dem die Nutzung der Liegestühle weder überwacht noch reguliert wird. Die Besetzenden der Liegestühle können unter beiden Ordnungen die Liegestühle nach Bedarf nutzen. Im Ordnungszustand mit dauerhaften Besitzansprüchen trifft dies aber für die Mehrheit der dann liegestuhllosen Passagier*innen nicht mehr zu. Allerdings möchten diese es offensichtlich vermeiden, sich unter Inkaufnahme des Risikos einer Körperverletzung für die Liegestuhlnutzung einzusetzen. Damit wird der neuen Ordnung weder massiv noch in Absprache untereinander widersprochen. Vielleicht erscheint den anderen Passagier*innen ein Kampf um die Liegestühle als unangebracht. Vielleicht setzen sie auf die Selbstverständlichkeit der bisher eingeübten Nutzungsregeln oder halten an weitverbreiteten Konventionen der Höflichkeit fest. Die neu hinzugekommenen Passagier*innen können dadurch den aktuellen Besitz eines Liegestuhles als Vorteil für die Durchsetzung einer neuen Ordnung nutzen. Für sie ist wichtig, dass das Besitzdenken in ihrer Gruppe als legitim erscheint. 55 Ihre Ordnung kann damit auf eine überlegene Organisationsfähigkeit der Interessen bauen, auf eine Art Dominoeffekt des Besitzdenkens. Dazu reicht es aus, wenn zunächst nur wenige Besitzende auf die Idee kommen, einen Liegestuhl dauerhaft für sich zu reklamieren. Ist die Idee der dauerhaften Besitznahme einmal in der Welt, ohne dass sie direkten Widerstand erfährt und daran zerbricht, so zerstört die von ihr ausgelöste Dynamik ihrerseits die ursprüngliche Ordnung. Nehmen wir an, wir säßen auf einem jener Liegestühle just in dem Moment, als die Gruppe der neu hinzugekommenen Passagier*innen die Liegestühle zum ersten Mal in Besitz nimmt. Wir werden dann — gesetzt den Fall, dass wir den Liegestuhl auch in Zukunft nutzen wollen — berücksichtigen müssen, wie die anderen »alteingesessenen« Passagier*innen mit der neuen Ordnungsvorstellung, d.h. der Idee dauerhaften Besitzes, umgehen. Selbst wenn wir diese Besitzidee nicht teilen, könnten wir zu dem Schluss kommen, dass andere alteingesessene Passagier*innen sich ihr anschließen werden, sofern sie zweckrational kalkulieren. Denn auch sie könnten die Gefahr erkennen, dass die anderen Alteingesessenen aus einem momentanen Vorteil einen dauerhaften machen. Wenn wir also aufstünden, ohne uns an der Liegestuhl- Besetzung zu beteiligen, liefen wir Gefahr, der Möglichkeit, einen Liegestuhl zu nutzen, dauerhaft verlustig zu gehen. Selbst für diejenigen, die nicht solchen Ordnungsvorstellungen anhängen, entsteht mithin ein Druck, diese zu übernehmen, um die 55 Diese Legitimität basiert für Popitz (1992) auf einer wechselseitigen Anerkennung in der Form: »Ich erkenne nicht nur meinen Anspruch an, sondern auch den Anspruch des anderen, der meinen anerkennt« (ebd.: 198). Die Legitimitätsgeltung bildet sich damit erst »horizontal« aus, bevor sie in einen Legitimitätsglauben von unten nach oben mündet (vgl. ebd.: 200). <?page no="129"?> 5.1 Macht 129 eigenen Interessen zu wahren. Dies macht die überlegene Organisationsfähigkeit dieser Ordnungsvorstellungen aus und verstärkt den Dominoeffekt, indem das Besitzdenken um sich greift. Die Ordnung (I) fluktuierender Nutzung ohne dauerhafte Besitzansprüche ist labil, weil ein nicht auf Widerstand stoßendes Besitzdenken diesen Dominoeffekt jederzeit auslösen kann. Sie hat eine unterlegene Organisationsfähigkeit, weil sie umgekehrt gegen den Ordnungszustand mit dauerhaften Besitzansprüchen (II) in der Regel nicht offen konkurrieren wird. Ist der »Unschuldszustand« fluktuierender Nutzung durch die einfache Organisationsfähigkeit der Besitzinteressen einmal verloren gegangen, ist er kaum mehr zurückzugewinnen. Eine Rückkehr in den »Zustand der Unschuld« wäre zumindest sehr schwer, da sowohl der Auslösemechanismus des Besitzdenkens als auch das mit ihm verbundene Verteilungsproblem existent bleiben. Jede gegen den Ordnungszustand II opponierende Ordnungsvorstellung muss klären, wie aus den Besitzenden wieder Besitzlose gemacht werden sollen, wie das Verteilungsproblem zu lösen ist und wie die Etablierung einer neuen Ordnungsvorstellung gelingen kann. Man muss Lösungsvorschläge anbieten können, die einen hohen Anreiz zur Kooperation schaffen. Während der Ordnungszustand I bereits durch eine kleine Initiative von wenigen gefährdet wird, ist Ordnungszustand II nur noch gezielt und kollektiv organisiert aufzuheben. 56 »Die Erwartung, die Besitzenden zu vertreiben«, so schreibt Popitz, »gibt noch keine Sicherheit für den Einzelnen, irgendetwas für sich zu erreichen. Die Einigkeit darüber, dass die bestehende Ordnung ungerecht sei, schafft noch kein Einverständnis, welche Neuordnung gerecht wäre« (Popitz 1976: 10). Dieses »Organisationsproblem« hat mehrere Dimensionen: a) Es entstehen unterschiedlichste Ordnungsvorstellungen. b) Art und Höhe der zu erwartenden Vorteile sind für jeden Einzelnen ungewiss. c) Es entstehen unterschiedliche Erwartungshorizonte, wann und wie etwas erreicht werden soll. d) Die Voraussetzungen einer kollektiven Organisation von Widerstand sind hoch. e) Eine freie Konkurrenz der Ordnungsvorstellungen ist unmöglich. Während also den neuen Liegestuhlbesitzenden ein Vorteil gleichsam in den Schoß fällt (nämlich: die sich aufdrängende Kooperationschance), stehen die Nicht-Besitzenden plötzlich vor einer ungewöhnlichen Schwierigkeit: »Das, was jeder will, umzusetzen in etwas, was alle wollen« (Popitz 1992: 196). 56 Hier liegen übrigens die Gründe für das Scheitern von Anarchien, da sie — gerade in der Konkurrenz der Ordnungsvorstellungen — die Vorstellung einer Rückkehr nicht mehr plausibilisieren und damit zu wenige Anreize für Kooperationen bieten können. <?page no="130"?> 130 5 Macht und Geld Es ist daher weder klar, mit welchen negativen Sanktionen die Besitzenden von einer neuen Ordnung (III) überzeugt oder falls nicht, wie sie ihr unterworfen werden können. Noch weiß man, mit welchen Vorteilen Besitzende und Nicht-Besitzende zur dauerhaften Kooperation bewegt werden können (vgl. dazu auch Coleman 1991: 125). Nicht nur, dass eine einseitige Aneignung der Vorteile durch die revoltierenden Nicht-Besitzenden vermieden werden muss; es ist auch wichtig, dass die Vorteile in der Zukunft hoch genug gewichtet werden (vgl. dazu auch Axelrod 2005). Es ist die »imaginäre Liegestuhlnutzung«, eine spekulative Solidarität, die motivieren muss — eine unvergleichlich höhere Leistung als sie den Besetzenden der Liegestühle zugemutet wird (vgl. Popitz 1976: 12). Daher kommen kollektivistische Ordnungsvorstellungen ins Spiel, die möglichst vielen Gruppenmitgliedern Anreize bieten — man denke etwa an das genossenschaftliche, an Gleichheit orientierte Prinzip. In der freien Konkurrenz der Ordnungsvorstellungen würde das Verteilungsproblem aber immer dann wieder virulent, wenn diejenigen mit dauerhaften Besitzansprüchen die Liegestühle besäßen. Diejenigen mit den temporären Besitzansprüchen wären dann immer wieder von Neuem Angreifende und Ruhestörende. Die Folgerung, so Popitz, ist nicht neu: »Die Vertreter des genossenschaftlich gleichheitlichen Prinzips können sich nur durchsetzen, wenn sie sich radikal durchsetzen. Entweder muß es ihnen gelingen, das Besitzdenken so zu unterdrücken, daß es praktisch nicht zur Geltung kommen kann — die ›Umerziehung‹ —, oder sie müssen eine geschlossene Gesellschaft bilden, an der die anderen nicht teilhaben, vom Gebrauchsrecht ausgeschlossen sind. Es entsteht damit jener merkwürdige Zwang zur Intoleranz, der einer bestimmten Ordnungsvorstellung ›an sich‹ anzuhaften scheint, der sich aber lediglich aus dem Verhältnis zweier Ordnungsvorstellungen ergibt. Spielregeln der freien Konkurrenz schaffen für den Konflikt dieser Ordnungsvorstellungen zwangsläufig ungleiche Chancen. Wer gegen das ›Haben‹ ist, kann nicht mit denen, die haben wollen, frei konkurrieren« (ebd.: 11). Hinzu kommt, dass die Besetzenden der Liegestühle das Angebot zukünftiger Vorteile für alle unterlaufen können, indem sie einigen Besitzlosen bereits jetzt einen selektiven Zugang zu ihrer Nutzung gewähren können — als Prämie für Loyalität und die Dienstleistungen der »Wächter*innen« (Popitz 1976: 12). Die Möglichkeit des »Teilens und Herrschens« (divide et impera) der Besetzenden beugt daher einer etwaigen Organisation der Besitzlosen vor. Popitz zeigt mit seinem Liegestuhlbeispiel auf eindrückliche Weise, wie auf Basis einer gleichberechtigten Nutzung von Ressourcen eine Ordnung mit wenigen Privilegierten und vielen Nicht-Privilegierten entstehen kann, ohne dass es dazu des Einsatzes von Gewalt oder massiver Konflikte bedarf. Nicht das Besitzdenken selbst, <?page no="131"?> 5.1 Macht 131 sondern seine überlegene Organisationsfähigkeit in sozialen Beziehungen ist die Machtquelle, die in der Folge zu erheblichen Macht- und Besitzdifferenzen führt (vgl. dazu Popitz 1992: 190). Diese überlegene Organisationsfähigkeit liegt im Dominoeffekt des Besitzdenkens ebenso begründet wie in der mit dem Besitz wachsenden Fähigkeit, zwischen den nicht-privilegierten Passagier*innen zu differenzieren. Einige von ihnen werden als Wächter*innen, andere als Mietende am »Machtapparat« beteiligt, dadurch festigt sich die Ordnung weiter. Das Liegestuhlbeispiel verweist damit auf typische Prozesse der Machtentstehung, die sehr viel mit der Organisationsfähigkeit von Interessen zu tun haben. Sie bestimmt maßgeblich, welche Macht- und Herrschaftsstrukturen sich ausbilden. Wir wollen vor diesem Hintergrund das soziologische Verständnis von Macht, wie es den von uns ausgewählten Ansätzen zugrunde liegt, weiter vertiefen und zeigen, welche Bedeutung Machtbeziehungen für Organisationen haben. 5.1.2 Macht und Interessen im Handlungssystem der Organisation: Colemans Theorie Wie Macht und die Organisation von Interessen zusammenhängen, führt Coleman in seinem handlungstheoretischen Ansatz genauer aus. In der Theorie rationaler Wahl wird Macht als Kontrolle von wertvollen Ressourcen oder Ereignissen verstanden. Ein Beispiel für solche Ressourcen wären in unserem Fall die Liegestühle. Ihr Wert bemisst sich im Sinne dieser Theorie daran, welche Interessen andere Akteur*innen damit verbinden. Für einen Kreis von Sonnenanbetern mögen sie von größerem Wert sein als für eine Gruppe von Menschen, die angesichts von Hautkrebsrisiken jede Sonneneinstrahlung meiden wollen. Zugespitzt: Wollte niemand einen Liegeplatz auf dem Sonnendeck, wären die Liegestühle wertlos. Da die Liegestühle den an Sonnenschein Interessierten nicht gehören, macht sich ihre Macht daran bemerkbar, wie stark ihre Nutzung im Interesse der anderen Passagier*innen liegt und inwiefern es ihnen gelingt, den Zugang zu ihrer Nutzung zu kontrollieren. Macht ist für Coleman also ein Maßstab für den systeminternen Wert der Ressourcen, die ein*e Akteur*in besitzt, oder der Ereignisse, die er kontrollieren kann (vgl. Coleman 1991: 170). Insofern setzt Macht Akteur*innen erst in Relation zu den für sie wichtigen Ressourcen, wie z.B. Liegestühlen, aber nicht die Akteur*innen direkt zueinander (im Sinne, dass der eine Macht über den anderen habe). Macht bemisst sich für ihn vielmehr an den Interessen und den Möglichkeiten der Kontrolle von Ressourcen oder Ereignissen im Handlungssystem. Wäre die exakte Verteilung der Interessen an den Liegestühlen und die Möglichkeiten ihrer Kontrolle auf dem Schiff bekannt, so könnte man nach Coleman die Macht jedes*jeder einzelnen Akteur*in in Relation zur Macht jedes*jeder anderen Akteur*in präzise berechnen (vgl. ebd.: 171). Mit diesem abgeleiteten, auf <?page no="132"?> 132 5 Macht und Geld ein Handlungssystem bezogenen Begriff der Macht interessiert sich Coleman also für den Wert einer Ressource innerhalb des Systems und gruppiert die Macht der Akteur*innen in Relation zu diesen Ressourcen (und nicht direkt in Relation zueinander). Dabei wird, wie in unserem Liegestuhlbeispiel, ein Wettbewerb um wertvolle Ressourcen vorausgesetzt und eine Verfassung (oder in unserem Beispiel: eine Ordnung), welche die Verteilungsmechanismen definiert (Ordnung I und Ordnung II in unserem Beispiel). Die Ordnungszustände, die entstehen, teilen uns nach Coleman mit, wie das System im Gleichgewichtszustand aussehen und/ oder welche Macht jede*r einzelne Akteur*in in diesem haben würde. Ein Gleichgewichtszustand ist für ihn dann erreicht, wenn kein weiterer Austausch von Kontrolle mehr stattfinden kann (vgl. ebd.: 172). Dies wäre in unserem Beispiel im Ordnungszustand II der Fall, wenn alle Positionen von Besitzenden, Wächter*innen, Mietenden und Besitzlosen stabil verteilt wären. Ein solcher Gleichgewichtszustand impliziert also keine Gleichheit oder Gleichverteilung. Im Ordnungszustand I ist die Macht der Akteure und Akteurinnen (z.B. von Akteur*in A und Akteur*in B) in Bezug auf die Nutzung der Liegestühle gleich. Das Interesse an der Nutzung ist einigermaßen gleich verteilt und somit ist auch der Wert, den sie für A und B haben, ungefähr gleich hoch. Kein*e Akteur*in realisiert mehr Kontrollmöglichkeiten als der oder die andere. Ihre diesbezüglichen Ressourcen sind daher ebenfalls gleich verteilt. Das Handlungssystem ist damit auf Basis einer Ordnung ohne dauerhafte Besitzansprüche — bei Coleman ähnlich einer Marktordnung gedacht — stabilisiert und von einer gleichmäßigen Verteilung der Kontrolle geprägt (siehe Abb. 5.1). Abbildung 5.1: Ordnungszustand I der fluktuierenden Nutzung nach Coleman Quelle: Eigene Darstellung <?page no="133"?> 5.1 Macht 133 Im Übergang zu Ordnungszustand II gelangen mit dem Besitzdenken des*der neu hinzugekommen Akteur*in C und seiner*ihrer Verbündeten andere Interessen ins Spiel. Die Stärke der Wertschätzung der Ressource bleibt zwar gleich, aber die Art des Interesses an ihrer Nutzung ändert sich. Das Interesse von A und B an einer temporären Nutzung wird mit jenem von C und seinen*ihren Verbündeten an einem dauerhaften Besitz konfrontiert. Durch die geringe Wehrhaftigkeit der Interessen von A und B sowie der überlegenen Organisationsfähigkeit des Besitzdenkens der Gruppe um C verändert sich nun auch die Ressourcenausstattung aller Akteur*innen. Die Kontrollmöglichkeiten von C und seinen Verbündeten wachsen, während jene von A und B — die sich weder gewehrt haben noch einen freien Liegestuhl ergattern konnten — schwinden. Es entsteht eine sehr ungleiche Verteilung der Kontrollmöglichkeiten, die bei gleicher Wertschätzung der Ressourcen zu einer ebenso ungleichen Machtverteilung in Bezug auf die Nutzung der Liegestühle führt (siehe Abb. 5.2). Während A diese durch die Übernahme einer Wächterfunktion abmildert, gehört B zu den Besitzlosen. Eine Machtordnung mit dauerhaften Besitzansprüchen und später gegebenenfalls auch Besitzrechten etabliert sich. Das Handlungssystem kommt dabei immer mehr ins Gleichgewicht, je weniger Austausch zwischen den Positionierungen noch möglich ist und je legitimer allen Beteiligten diese Ordnung erscheint. Abbildung 5.2 Übergang zu Ordnungszustand II der dauerhaften Besitzansprüche nach Coleman Quelle: Eigene Darstellung In einer Organisation oder Körperschaft ändert sich für Coleman daran anschließend zwar die Ordnungsform, aber nicht die Bedeutung, welche die Interessen und Ressourcen der Akteur*innen haben. Die Organisation ist für Coleman ein Handlungssystem, in dem eine Verteilung von Kontrolle auf Akteur*innen und eine Verteilung von Interessen der Akteur*innen auf Ereignisse oder Ressourcen vorliegt (Coleman 1992: 156). Prinzipiell ist jede Position im Handlungssystem der Körperschaft mit Macht ausgestattet. Sie wird auch in der Organisation empirisch für jede*n Akteur*in nach seinen*ihren Kontrollmöglichkeiten über wertvolle Ressourcen bestimmt. 57 Dabei steht die mit Positionen verbundene Übertragung von Kontrollmöglichkeiten über Ressourcen im Zentrum der organisationssoziologischen Argumentation. Die Or- 57 Webers Theorie, so Coleman, habe den Fehler gemacht, nur die zentrale Autorität als zielgerichteten Akteur zu behandeln, und dabei die Tatsache übersehen, dass das Personal ebenso aus zielgerichteten Akteur*innen mit Ressourcen und Kontrollmöglichkeiten besteht (vgl. Coleman 1992: 128). Wert der Ressource <?page no="134"?> 134 5 Macht und Geld ganisation erscheint als eine Art »Markt«, in dem Akteur*innen um Austausch- und Kontrollmöglichkeiten von Ressourcen konkurrieren. Je wertvoller dabei diese Ressourcen im Handlungssystem der Organisation sind und je größer damit die Macht des*der Akteur*in im Handlungssystem, desto mehr muss die Körperschaft gewährleisten, dass sich dessen*deren Interessen in eine Richtung entfalten, die mit den Zielen der Körperschaft in Übereinstimmung steht (vgl. Coleman 1992: 131 f.). Denn die Akteur*innen könnten diese von der Körperschaft verliehene Macht auch einsetzen, um Gewinne für sich selbst abzuzweigen (vgl. Coleman 1992: 180; siehe auch weiter unten sowie Kap. 6). 5.1.3 Probleme kollektiven Handelns in der Organisation: Crozier/ Friedbergs Theorie Eine andere Sichtweise bietet der Ansatz von Crozier/ Friedberg (1979). Ebenso wie bei Coleman stehen bei ihrer handlungs- und organisationstheoretischen Machtkonzeption Probleme kollektiven Handelns im Vordergrund. Allerdings sind Crozier und Friedberg nicht an einer Theorie rationaler Wahl interessiert, sondern bauen ihren handlungstheoretischen Ansatz auf konstruktivistischen Grundlagen auf. Ausgangspunkt ist dabei die Definition eines Problems kollektiven Handelns durch die Praxis des Organisierens. Organisation bedeutet, dieses Problem durch eine Strukturierung der Handlungsfelder zu definieren (vgl. ebd.: 10) und dabei, wenn möglich, »logische Sackgassen« und kontraintuitive Effekte zu vermeiden. Auf diesen Handlungsfeldern entwickeln sich Spielstrukturen, die selbst soziale Konstruktionen sind und sich im Laufe der Problembearbeitung immer wieder ändern können. Auch ihr Verständnis von Macht ist an diesen Umgang mit Problemkonstruktionen gebunden. Die beteiligten Akteur*innen versuchen bei der Definition der Probleme, Ungewissheitszonen aufzubauen, die von anderen nicht oder nur schwer kontrollierbar sind. In deren Kontrolle liegt ihre Macht begründet. Sie ist an die Unbestimmbarkeit und damit auch Unvorhersehbarkeit von Entscheidungen für andere geknüpft (Crozier/ Friedberg 1979: 14). Je weniger gewiss und vorhersehbar dabei die Handlungen eines*einer Akteur*in in Relation zum*zur anderen sind, desto größer fällt dessen*deren Macht aus. Sie ist eine Funktion der Größe der Ungewissheitszone, die der*die Akteur*in kontrolliert (vgl. ebd.: 43). Anders als bei Coleman erscheint Macht nun nicht mehr als Relation des*der Akteur*in zu den Ressourcen im Handlungssystem, sondern als »Rohstoff« einer direkten Beziehung zwischen Akteur*innen. Die Spielstruktur, an die sie gebunden ist, definiert dabei die Relevanz der Ungewissheitsquellen, welche die Akteur*innen kontrollieren <?page no="135"?> 5.1 Macht 135 können. Was bei Coleman das Interesse an Ressourcen war, wird bei Crozier/ Friedberg ersetzt durch die Relevanz der Ungewissheitsquellen für das kollektiv zu lösende Problem, welche die beteiligten Akteur* innen kontrollieren können (siehe Tabelle 5.1 weiter unten). Crozier/ Friedberg charakterisieren Machtbeziehungen darüber hinaus als instrumentell orientierte Tausch- und Verhandlungsbeziehungen auf der Basis von Abhängigkeit (vgl. ebd.: 39 f.). Die Akteur*innen sind auf die Handlungen der anderen verwiesen, um die Probleme lösen zu können. Dabei ist Macht eine Relation zwischen den jeweiligen Akteur*innen und nicht einfach auf andere Beziehungen übertragbar (vgl. ebd.: 41, siehe auch weiter oben). In unserem Beispiel treten die Akteur*innen zunächst auf Basis der Spielstruktur einer fluktuierenden Nutzung der Liegestühle in Tauschbeziehungen. Sie beinhaltet, wie wir bereits gesehen haben, die am persönlichen Interesse orientierte, jeweils nur temporäre Nutzung der Liegestühle. Da es geteilte Wach- und Ruherhythmen der Passagier*innen oder Tage mit weniger Sonnenscheinzeiten gibt, die für Knappheit sorgen können, liegt es im Interesse der Akteur*innen, solche Engpässe möglichst zu vermeiden. Die Vermeidung von Knappheit in der Liegestuhlnutzung ist das zentrale Problem des kollektiven Handelns auf dem Schiff. Und die Spielstrategien der Akteur*innen beziehen sich darauf. Sie wollen die Liegestühle so weit wie möglich nach eigenem Bedarf nutzen, aber sind im Ordnungszustand I der fluktuierenden Nutzung in Engpasszeiten bereit, auch einmal zu verzichten oder das Bedürfnis aufzuschieben. Die zentrale Ungewissheitszone liegt in der Offenheit der Frage, wann welche Liegestühle von wem okkupiert werden. Dabei sorgt die Spielstruktur der fluktuierenden Nutzung ohne dauerhafte Besitzrechte dafür, dass sich diese Spielstrategien der Akteur*innen in eine kollektive Problemlösung übersetzen, ohne dass die Akteur*innen ihre Macht ausspielen müssen. Dadurch werden keine großen Machtasymmetrien zwischen den Akteur*innen erzeugt. Sobald aber z.B. aufgrund des Wetters Engpässe massiver auftreten und/ oder die Flexibilität der Passagier*innen nachlässt, ist diese Spielstruktur der fluktuierenden Nutzung gefährdet. Einige Passagier*innen, etwa A und B, werden dann ein Interesse Begriffsbox 5.1 Die Machtkonzeption bei Crozier/ Friedberg Macht ist eine Beziehung, nicht ein Attribut der Akteure und Akteurinnen; eine Tausch- und Verhandlungsbeziehung; eine instrumentelle Beziehung; eine nicht-transitive Beziehung; eine gegenseitige, aber unausgewogene Beziehung (Crozier/ Friedberg 1979: 39 f.). <?page no="136"?> 136 5 Macht und Geld daran entwickeln, die Spielstruktur zu ihren Gunsten zu manipulieren. Wenn nun A und B gleiche Interessen an einer neuen Ordnung mit dauerhaften Besitzansprüchen in der Nutzung der Liegestühle haben, so hängt ihre Machtrelation zueinander nach Crozier/ Friedberg u.a. davon ab, wie sicher sich A sein kann, dass B seine Belegsymbole verteidigt, und wie sicher sich B sein kann, dass A mitzieht, wenn er dauerhaft einen Liegestuhl besetzt. Interessanter ist für Crozier/ Friedberg aber die Situation, dass A und B auf eine*n Gegenspielende*n, sagen wir C, treffen. Gesetzt den Fall, A und B gehören zu den Besetzenden der Liegestühle und sind an einer Ordnung mit dauerhaften Besitzansprüchen orientiert; C ist hingegen zum Besitzlosen geworden und an einer Ordnung mit einer planvollen Gleichverteilung der Nutzungsrechte interessiert. A und B kontrollieren in dieser Spielstruktur mit der aktuellen wehrhaften Verfügung über die Liegestühle eine zentrale Ungewissheitszone, so dass C dagegen weitgehend machtlos wirkt — also keine relevanten Unsicherheitszonen kontrolliert. Quelle: Eigene Darstellung Ihm*Ihr bleibt als letzte Ungewissheitszone (UZ), die er*sie kontrollieren kann, die Entscheidung über eine gewaltbereite Rückeroberung der Liegestühle. Je weniger wahrscheinlich er*sie diese für A und B machen kann, desto vorherbestimmbarer wird aber sein*ihr Verhalten und desto asymmetrischer die Machtbeziehung zugunsten von A und B. Abbildung 5.3 Übergang zu Ordnungszustand II der dauerhaften Besitzansprüche nach Crozier/ Friedberg <?page no="137"?> 5.1 Macht 137 Damit hat sich eine Spielstruktur eingependelt, die in Bezug auf die kollektive Problemlösung der Vermeidung von Knappheit suboptimal ist, weil mit der Spielstruktur der dauerhaften Besitzansprüche die Knappheit an Liegestühlen auf dem Schiff insgesamt zugenommen hat. Sie ist zudem nicht mehr auf Engpasszeiten beschränkt. Zwar können die Besetzenden nach wie vor die Liegestühle nach Bedarf nutzen, aber die Besitzlosen sind nun dauerhaft von der Nutzung ausgeschlossen — es sei denn, sie mieten diese oder verdingen sich als deren Wächter*innen. Je länger die Spielstruktur etabliert bleibt, desto legitimer wird diese Besitz- und Machtasymmetrie und desto unwahrscheinlicher wird das Risiko für die Besetzenden, dass die Besitzlosen die Liegestühle gewaltsam zurückerobern. Die Machtasymmetrie zwischen A, B und C verschärft sich damit weiter. Quelle: Eigene Darstellung Nehmen wir an, C sieht dies und beginnt deswegen seinerseits*ihrerseits die Spielbedingungen zu manipulieren. Er*Sie setzt nun, zusammen mit einigen anderen Besitzlosen (D, E), auf eine neue Guerilla-Strategie. In nächtlichen Aktionen werden immer wieder einzelne Liegestühle samt Besitzsymbolen über Bord geworfen. Die Strategie ist wirkungsvoll, weil sie bei den Besetzenden der Liegestühle Verteilungsprobleme auslöst, die durch das Besitzdenken nicht sofort gelöst werden können. Wenn überhaupt eine Teilung der Nutzung für die Besetzer in Frage kommt, stellt sich sogleich die Anschlussfrage, wer sich nun welchen Liegestuhl mit wem teilt und wie man ihn oder sie dazu bewegen kann. C kontrolliert dadurch im Gegenzug also ebenfalls eine Ungewissheitszone, die für A und B große Relevanz hat. Denn vielleicht ist deren Abbildung 5.4: Mögliche Strategien der Rückgewinnung von Macht durch C, D, E <?page no="138"?> 138 5 Macht und Geld Liegestuhl als Nächster an der Reihe. Nun erscheint das Spiel wiederum neu geordnet. Die Knappheit der Liegestühle auf dem Schiff hat aufgrund der machtpolitischen Strategien von A, B und C jedoch weiter zugenommen und die Verteilung der Liegestühle ist immer noch sehr ungleich. Allerdings sind die Besetzenden als Gruppe nun selbst von der Besitzungleichheit und einem Verteilungsproblem betroffen, das unter den Auspizien des Besitzdenkens nur schwer zu lösen ist. Eine Strategie wie jene »Guerilla-Taktik« der Besitzlosen richtet sich nach Crozier/ Friedberg auf die Manipulation der Handlungsbedingungen und Unsicherheitszonen aus. Immer geht es darum, welche Mittel oder Trümpfe der*die Gegenspielende hat und welche man selbst ins Spiel bringen kann. Gegenüber den relevanten Ungewissheiten eines Problems, so Crozier/ Friedberg, sind die Akteur*innen nicht gleichgestellt. Diejenigen, die dank der Situation, der Prioritäten, Fähigkeiten und Ressourcen dazu fähig und willens sind, diese Ungewissheit zu kontrollieren, werden ihre Macht dazu benutzen, ihren Standpunkt — wie im Falle von A und B — anderen aufzuzwingen (Crozier/ Friedberg 1979: 13). Sozialer Wandel ist daher ein Prozess kollektiver Schöpfung, in dem neue Spielweisen für das soziale Spiel der Zusammenarbeit und des Konflikts erlernt werden und sich eine neue soziale Praxis konstituiert. Dass dies, wie auf unserem Schiff, zu suboptimalen kollektiven Lösungen führen kann, ist für Crozier/ Friedberg eher die Regel als die Ausnahme (vgl. Crozier/ Friedberg 1979: 197 ff.). Macht ist bei Crozier/ Friedberg also in Spielstrategien gegossen, die auf Basis strukturierter Handlungssituationen zur Etablierung sozialer Praktiken in Organisationen führen (vgl. ebd.: 67). Sie ist im Prozess des Organisierens alltäglich. Organisationen versuchen dabei, über formale und informelle Spielstrukturen auch den Ablauf von Machtbeziehungen zu regulieren, indem sie über die Verteilung von Trümpfen und Einsätzen mitbestimmen (vgl. ebd.: 47). Die Machtquellen, die in Organisationen häufig eine Rolle spielen, sind für Crozier/ Friedberg zum einen auf Ungewissheiten durch die Monopolisierung von Fachwissen oder durch die Ausnutzung der Arbeitsteilung bezogen. Zum anderen bieten sich die Beziehungen zur Umwelt der Organisation mit einer entsprechenden Kontrolle der Informations- und Kommunikationskanäle sowie die Kontrolle über die Handhabung der organisatorischen Regeln an, um Ungewissheiten in der Organisation zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Sie sind organisationale Machtquellen par excellence (vgl. Crozier/ Friedberg 1979: 50 ff.). Im Vergleich sieht man, dass beide Theorien, jene von Coleman und jene von Crozier/ Friedberg, auf die Handlungskoordination der Akteur*innen durch Kontrolle zielen. Jedoch unterscheidet sich der Problembezug beider Ansätze sehr (siehe Tabelle 5.1). Crozier/ Friedberg interessieren sich nicht — wie Coleman — für den Zugriff auf <?page no="139"?> 5.1 Macht 139 Ressourcen oder Ereignisse selbst, sondern für die Art der kollektiven Problembearbeitung unter Unsicherheit, die diesen Zugriff prägt. Sie bilden mit dieser Umstellung auf »Problemdefinitionen« und »Unsicherheit« als Bezug ihrer Machtkonzeption eine Brücke zur Theorie Luhmanns. Diese sucht mit ihrem Bezug zur »Unsicherheitsabsorption« einen ähnlichen Ausgangspunkt, knüpft ihn jedoch radikal an Kommunikation sowie an formbare Medien, die diese Kommunikation mit (negativ) sanktionierbaren Präferenzen für bestimmte Antworten versehen und dadurch Strukturbildung auf der Ebene von Organisation und gesellschaftlicher Teilsysteme erst möglich machen. Tabelle 5.1: Das Verständnis von Macht im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Machttheorie von Crozier/ Friedberg Systemtheorie (Luhmann) Macht als Möglichkeit Des*der Akteur*in, wertvolle Ressourcen oder Ereignisse zu kontrollieren Des*der Akteur*in, die Ungewissheitszonen eines Problems zu kontrollieren im System, die Annahme von Entscheidungen durch Antizipation von negativen Sanktionen zu erreichen Welche Funktion/ Aufgabe hat Macht? Handlungskoordination und Ressourcenverteilung Handlungskoordination und Manipulation der Spielstruktur Kommunikationsmedium, das Struktur- und Systembildung möglich macht Welche Probleme für die Organisation treten auf? Sie kann gegen Gewinnabzweigungen von mächtigen Akteur*innen zu wenig tun. Auch kollektiv suboptimale Lösungen werden beibehalten. Sie läuft Gefahr, negative Sanktionen auch anwenden zu müssen. 5.1.4 Macht als Medium der Organisation: Luhmanns Theorie Macht ist für Luhmann daher, anders als für Coleman und Crozier/ Friedberg, kein Mechanismus der Handlungskoordination, sondern ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das sich auf die Unwahrscheinlichkeit der Akzeptanz von — in unserem Falle — Entscheidungen bezieht. Es soll, anders gesagt, zur Annahme von Entscheidungen bewegen. Da die Kommunikation die Möglichkeit eröffnet, eine Kommunikationsofferte auch mit Nein zu beantworten, haben Medien für Luhmann die Aufgabe, die Annahme dieser Offerte zu erreichen. Liebe, Macht oder Geld werden in Systemen eingesetzt, um ein Ja zu erhalten, wo andernfalls vielleicht ein Nein <?page no="140"?> 140 5 Macht und Geld oder Gleichgültigkeit artikuliert würde. Sie wandeln eine neutrale Wahlsituation zwischen Ja und Nein in eine Präferenz um, mit der deutlich wird, dass man die Annahme der Entscheidung gegenüber der Ablehnung bevorzugt (vgl. Luhmann 2000: 60). Nicht in der In-Aussicht-Stellung von positiven Anreizen wie Geld oder Gewinnen, sondern von negativen Sanktionen liegt die bewegende Kraft des Mediums Macht. Macht entsteht als symbolisch generalisiertes Medium nur, wenn und soweit die Akzeptanz von Entscheidungen problematisch ist (vgl. Luhmann 2000: 52). Wirtschaft und Politik sind für Luhmann auf die Nutzung unterschiedlicher Medien, nämlich Geld und Macht, ausgerichtet und konnten sich so als Funktionssysteme etablieren (vgl. ebd.: 46). Anders als die positiven Sanktionen mittels Zahlungen in der Wirtschaft müssen aber die negativen Sanktionen in der Politik nicht ausgeführt werden. Das Medium ist vielmehr auf ihre Nichtbenutzung angewiesen. Die bloße Antizipation, Anspielungen, Hinweise oder Drohungen mit Sanktionen reichen im Regelfall aus. Es kann normalerweise unterstellt werden, so Luhmann, dass beide Seiten es nicht auf negative Sanktionen, nicht auf einen offenen Konflikt ankommen lassen. Dabei ist physische Gewalt für Luhmann dasjenige Drohmittel, das sich am besten zur Erzeugung des symbolisch generalisierten Mediums Macht und zugleich zur Ausdifferenzierung des Funktionssystems der Politik eignet (vgl. ebd.: 55). Sie ist auch für Luhmann in besonderer Weise organisationsfähig. Beziehen wir dies nochmals auf das Liegestuhlbeispiel, so zeigt sich deutlich, dass im ersten Ordnungszustand der fluktuierenden Nutzung das Medium Macht kaum zum Einsatz kommt. Es handelt sich eher um eine sanfte Form von wechselseitigem Einfluss. Er ist allein dadurch gegeben, dass die Teilnehmenden in diesem sozialen System auf dem Schiff aufeinander angewiesen sind und deshalb den Unmut anderer Passagier*innen fürchten, wenn sie an der eingeübten Ordnung etwas ändern (vgl. zu dieser Form von Einfluss Luhmann 2000: 40). Erst mit den Neuankömmlingen gelangt Macht als Kommunikationsmedium zum Einsatz. So wird deren Machteinsatz durch Belegsymbole symbolisch generalisiert. Er ist von Androhungen negativer Sanktionen begleitet. Jeder kann antizipieren, was passieren wird, wenn man die Belegsymbole wegnimmt, also die Entscheidungen der Besetzenden nicht akzeptiert. Die machtvolle Durchsetzung der neuen Ordnung mit dauerhaften Besitzansprüchen kann auf die Anwendung von negativen Sanktionen verzichten und gleichwohl die neue Ordnung kollektiv verbindlich werden lassen. Dazu genügt es, dass den Entscheidungen der Neuankömmlinge nicht widersprochen wird. Macht im politischen System bedeutet für Luhmann, kollektiv verbindliche Entscheidungen möglich werden zu lassen (vgl. Luhmann 2000: 86). Und überall, wo dies (wie z.B. auf dem Schiff) passiert, findet Politik statt. Also in aller Regel auch alltäglich <?page no="141"?> 5.2 Geld 141 in der Organisation. Dabei nimmt Luhmann an, dass das Machtprofil einer Organisation, wie eingangs erwähnt, nicht mit der formalen Über- und Unterordnung in Stellen übereinstimmen muss (vgl. dazu Luhmann 2002: 201). Formalität stellt zwar eine Machtressource dar, aber mit Machteinsatz könne man allenfalls die Randzonen eines Systems ändern, während Tiefenwirkungen in den Systemstrukturen doch am Widerstand scheitern oder langsamen Anpassungsprozessen überlassen bleiben, in denen die zunächst latente Gegenmacht den Änderungsimpuls auf für sie akzeptable Bahnen umleitet. Der Machtbegriff verführte gleichsam dazu, so die Quintessenz Luhmanns für die Organisationsanalyse, Verantwortung zuzurechnen oder eine Stelle zu bestimmen, auf die man einwirken muss (vgl. Luhmann 2002: 200). Er führe damit aber an der Komplexität des Systems vorbei. Zugleich seien in einer Organisation zu viele Orientierungen an Wechselseitigkeit im Spiel, als dass man Macht ohne Selbstschädigung ausüben könne. Luhmann hält deswegen den Begriff der Unsicherheitsabsorption als für die Organisationsanalyse geeigneter. Er erteilt dem Machtbegriff in seinem Spätwerk — ebenso wie dem Herrschaftsbegriff — eine Absage, sieht aber dennoch eine Verbindung zur Unsicherheitsabsorption der Organisation. »Wenn die Variablen Unsicherheitsabsorption und Macht korrelieren«, so Luhmann, »sei es, dass Macht Unsicherheitsabsorption ermöglicht, sei es, dass Unsicherheitsabsorption Macht erzeugt, kann man vermuten, dass die Machtordnung eines Systems eine Gelegenheit gibt, diesen Vorgang zu beobachten« (ebd.: 220). 5.2 Geld Neben Macht hilft auch Geld, die Entscheidungen anderer annehmbar zu machen. So bekommen die Wächter*innen der Liegestühle Geld oder temporäre Besitzmöglichkeiten im Gegenzug für ihre Dienste. Die Entscheidung der Besetzenden wird für sie dadurch leichter annehmbar und sie erkennen damit zugleich die neue Ordnung auf dem Schiff an. Im Zweifelsfall müssen sich die Wächter*innen aber nicht an den Zwecken der Besetzenden orientieren, sondern können sich darauf beziehen, Geld oder geldwerte Vorteile (wie Nutzungszeiten für begehrte Liegestühle) für ihre Arbeit zu bekommen. Darin gleichen sie dem Personal der Organisation (siehe Kap. 4). Dies macht es für Arbeitsorganisationen möglich, Arbeitskräfte auch dann zu gewinnen, wenn der Organisationszweck diese nicht hinreichend motiviert oder sie nur Mitglied werden, um Geld zu verdienen. Zugleich kann die Organisation dadurch ihre Zwecke leichter modifizieren. Sie zahlt dann auch für gleichbleibendes Engagement bei wechselnden Zwecken. Ob Gummistiefel, Radmäntel oder Mobiltelefone, anders als bei Interessenorganisationen ist in Arbeitsorganisationen die gleiche Gültigkeit von verschiedenen Zwecken wichtig für das Mitgliedschaftsverhältnis. Und Geld macht <?page no="142"?> 142 5 Macht und Geld diese vorteilhafte »Gleichgültigkeit« möglich (vgl. für eine ausführliche Behandlung des Themas u.a. Ganßmann 1996; Deutschmann 1999). Dabei knüpfen Organisationen die Geldzahlungen an budgetierte Positionen, mit denen sie bestimmte Voraussetzungen, Erwartungen und Verpflichtungen verbinden. Diese Geldzahlungen nehmen in der Regel mit den Voraussetzungen und Dispositionsmöglichkeiten der Positionen zu. Sie unterfüttern so nicht nur Karrierepfade und sozialstrukturelle Differenzierungen, sondern sorgen auch für (durch hohe Gehälter und hohe Positionen) hervorgehobene Zurechnungspunkte von Leistung und Verantwortung, von Prestige und Erfolg, von Kompetenz und Inkompetenz in Organisation und Gesellschaft. Um uns eine genauere Vorstellung davon zu verschaffen, wie Organisationen Stellen mit Geldzahlungen versehen, wollen wir als Beispiel die viel diskutierten Spitzengehälter der Top-Manager*innen in der Wirtschaft aufgreifen (siehe Infobox 6.1). Auf der einen Seite kann man an ihrem Beispiel zeigen, wie Organisationen Geld zum Einsatz bringen, und zum anderen die verschiedenen Sichtweisen der Handlungs- und der Systemtheorie nutzen, um zu erklären, wie es zu diesen hohen Zahlungen für hervorgehobene Positionen in der Wirtschaft kommen kann. Nach den Untersuchungen der DSW und der TUM (2022) sind in Deutschland die Vorstandsgehälter der 40 DAX-Unternehmen im Jahr 2021 mit 24,0% stark gestiegen sind. Das war nach drei Jahren des Rückgangs, u.a. aufgrund der Corona-Krise, das erste Jahr mit einem Anstieg und zeigt, dass die Vergütungen der Vorstände wieder auf die Geschäftsentwicklungen reagieren. Während sich in der Zeit zwischen 1987 und 2010 die Vorstandsvergütung in den DAX-Unternehmen mehr als versechsfacht hat, ist die Entwicklung von 2011 eher durch eine im Durchschnitt stagnierende Vorstandsvergütung von zwischen 3,1 bis 3,4 Mio. € in Deutschland gekennzeichnet. Erst 2021 verdienen die Vorstände der DAX-Unternehmen im Schnitt mit 3,5 Mio. Euro wieder deutlich mehr, das 53-fache ihrer Mitarbeitenden (siehe ebd.). Zu den Spitzenverdienern unter den DAX CEOs gehören 2021 Steve Angel von Linde mit 19 Millionen Euro, Herbert Diess von Volkswagen mit 12 Millionen Euro und Christian Klein von SAP mit 9 Millionen Euro (siehe ebd.). Im Schnitt erhielten die Vorstandsvorsitzenden der DAX-Unternehmen 6,1 Mio. Euro und damit ebenfalls mehr als im Vorjahr. Welches sind die Gründe für diese sehr hohen Gehälter auf den Top-Positionen der Wirtschaft und wie kommt Geld hier als Beziehungsmittel zum Einsatz? Coleman versteht Geld in seiner Theorie rationaler Wahl zunächst ganz allgemein aus der Perspektive einer Aufteilung von Rechten (Coleman 1991: 75). Während z.B. bei einer Wählerstimme eine Aufteilung nicht möglich ist — man kann nicht eine <?page no="143"?> 5.2 Geld 143 halbe Wählerstimme an seine Partner*innen abgeben — lassen sich auch kleinere Mengen von Geld mit vollständigen Rechten verwenden. Die Geldressourcen können dann in Form von Rechtsbündeln etwa in Körperschaften genutzt, aufgeteilt und getauscht werden (vgl. ebd.: 80). Die moderne Organisation ist für Coleman auf der Basis der Verwendung von Geldressourcen immer mehr mit einem unbeschränkten Markt vergleichbar, dessen organisatorische Struktur von monetären Anreizsystemen und dem Bereitstellen von Ressourcen bestimmt ist. Wenn die Agent*innen kein Interesse an den Zielen der Eigentümer*innen haben, dann erklären sie sich eben gegen den Erhalt einer Geldkompensation bereit, im Interesse der Eigentümer*innen zu handeln (vgl. Coleman 1992: 164). Mittels Geld formt die Organisation für Coleman eine mit Stellen verbundene Anreizstruktur, um zum einen die Agent*innen im Interesse der Körperschaft handeln zu lassen und um zum anderen zu verhindern, dass sie die eingeräumten Nutzungsrechte für persönliche Zwecke nutzen. Mit je mehr Nutzungsrechten und Dispositionsspielräumen eine Organisation dabei eine Position ausstattet, desto größer wird die Geldkompensation sein, die sie erfährt. Die Gründe für die hohen Gehälter auf den Top-Positionen von Organisationen — insbesondere von Top-Manager*innen in der Wirtschaft — sind dann vor diesem Hintergrund einfach zu entschlüsseln. Für Coleman findet mit der Modernisierung der Organisationen eine weitere Verlagerung von Macht statt, fort von den Eigentümer*innen hin zu denjenigen, die von den Nutzungsrechten Gebrauch machen (vgl. ebd.: 181). Diese — nennen wir sie Manager*innen — können nun auf der einen Seite ihre Machtzugewinne in Geldgewinne umsetzen und innerhalb der Körperschaft höhere Gehälter bzw. Kompensationen durchsetzen. Auf der anderen Seite kommen ihnen in diesem Bestreben auch die Eigentümer*innen entgegen. Denn für die Eigentümer*innen nimmt das Kontrollproblem in Bezug auf ihre machtvollen Agent*innen zu. Sie sind, darin folgt Coleman der ökonomischen Theorie, dann bereit, mehr zu zahlen, um die sich verschärfenden Prinzipal-Agenten-Probleme in den Griff zu bekommen. Diesen wirkt man u.a. entgegen, indem immer größere Teile des Gehalts der Manager*innen an die Unternehmensergebnisse gekoppelt werden. Beides zusammen kann unter Anwendung der Theorie Colemans einen Erklärungsbeitrag zur Steigerung der Spitzengehälter auf den Top-Positionen der Organisationen in der Wirtschaft liefern und zugleich sichtbar machen, welche Rolle Geld in Organisationen spielt: Es fungiert als Anreizstruktur für Loyalität und Belohnungsstruktur für Machtzugewinne. Mit einer solchen Perspektive knüpft Coleman zugleich an zentrale Erklärungsansätze der Ökonomie an (siehe Infobox 5.1). <?page no="144"?> 144 5 Macht und Geld Infobox 5.1: Ausgewählte ökonomische Erklärungen für hohe Manager*innengehälter in Unternehmen In der Prinzipal-Agenten-Theorie der Ökonomie ist Geld, wie bei Coleman auch, ein Mittel des*der Prinzipal*in, um sich vor opportunistischem Verhalten des*der Agent*in (von Leistungszurückhaltung bis zum Betrug) zu schützen. Neben Kontrolle und Transparenz spielen dabei Ergebnisbeteiligungen eine Rolle, die dafür sorgen sollen, dass die Interessen des*der Prinzipal*in mit seinen*ihren Agent*innen in Übereinstimmung gebracht werden (vgl. Garen 1994: 1176). Dabei sind es insbesondere die Ergebnisbeteiligungen, welche die Spitzengehälter der Manager*innen in den letzten Jahren nach oben getrieben haben. 58 Bebchuk/ Fried nehmen in ihrer Theorie namens »pay without performance« diesen Faden der Argumentation auf und zeigen darüber hinaus, dass das Machtgefälle zwischen dem Board (bzw. Aufsichtsrat) und dem Vorstand mitentscheidend dafür ist, wie hoch die Gehälter der Manager*innen sind (Bebchuk/ Fried 2004, 2005). Je größer dieses Machtgefälle zugunsten des Vorstandes, desto höher sind deren Gehälter. Wie bei Coleman auch, sind es hier die Machtdifferenzen gegenüber dem* der Prinzipal*in, die sich in Gehaltsvorteile ummünzen lassen. Die tatsächlichen Leistungen der Manager*innen spielen dabei für die Höhe der Gehälter eine untergeordnete Rolle (vgl. Bebchuk/ Fried 2004: 25 ff.; 2005: 12 f.; siehe auch Van Essen et al 2015; Song/ Kam 2019). Die Vorstellung einer geringen Bedeutung der tatsächlichen Leistung wird auch von der »Tournament-Theorie« geteilt. Für diese orientiert sich die Mitarbeitendenvergütung nicht an der absoluten Leistung der Mitarbeitenden, sondern an deren Rang innerhalb des Unternehmens (vgl. Lazear/ Rosen 1981: 847; siehe auch De Angelis/ Grinstein 2016; Elsayed/ Elbardan 2018). Die Gehälter und Kompensationen der Manager*innen stellen den Preis für die Gewinner*innen von unternehmensinternen Wettbewerben dar. Ähnlich wie bei Hollywood-Stars, so Gaitanides, handelt es sich um Gagen, die sich an Reputationssignalen und Zuschreibungen orientieren (vgl. Gaitanides 2004: 185 ff.). Geldzahlungen für Manager*innen erscheinen hier nicht nur als schwer objektivierbare Leistungsgratifikationen der Organisation, sondern als Anerkennungsprämien für den Rang und Status, den ein*e Manager*in innehat. Im Reputationswettbewerb steigen deswegen die Gagen an, weil die Manager*innen ihren Status daran ablesen (vgl. dazu auch Edmans et al. 2021). Nicht so sehr die faktische Leistung, sondern insbesondere die Leistungsreputation in der Organisation oder im Netzwerk spielt also in diesen ökonomischen Ansätzen eine Rolle. Dies zeige sich in der Folge auch daran, dass die gezahlten Spitzengehälter nur zu geringen Teilen an die tatsächliche Leistung der Unternehmen (Umsätze und Gewinne) gebunden sind, sondern sich vielmehr an deren Größe und der (damit verbundenen) Manager*innenreputation orientieren (vgl. zu dieser Diskussion Gaitanides 2004; Conyon/ Schwalbach 1999; Tosi u.a. 2000, Menrath 2008; Claasen/ Ricci 2015; Beck et al. 2020 u.v.a.). 58 In diesem Ansatz, so die gängige Kritik, werden sowohl die Möglichkeiten einer kausalen Zurechnung von Unternehmensergebnissen auf Manager überschätzt als auch deren Möglichkeiten unterschätzt, Kurse zu beeinflussen, u.a. um ihr eigenes Gehalt nach oben zu treiben (vgl. dazu auch Kuhn 2008). <?page no="145"?> 5.2 Geld 145 In der systemtheoretischen Beschäftigung mit Geld in Organisationen steht nicht das Koordinationsproblem des*der Prinzipal*in im Vordergrund, der Geld als Anreizstruktur einsetzt, sondern das Problem der Bildung von Ordnung bzw. von Systemen. Geld zirkuliert als fluides Medium und mit der weiteren Verbreitung von Geld können schließlich »Organisationen gebildet werden, die ihrerseits auf dem Medium Geld beruhen, indem sie die Chance nutzen, festzulegen, was und wofür es gezahlt werden soll, und sich selbst durch ein Kalkül der Zahlungsfähigkeit zu erhalten« (Luhmann 1988: 309). Ein Teil der Zahlungsmittel wird dann eingesetzt, um »Arbeitsbereitschaft« und »Weisungsunterworfenheit« zu kaufen. Nun entscheidet man auf Stellen über Stellen. Diese werden hierarchisiert, mit Aufgaben versehen und mit Personal besetzt. Da sich auf diesen Stellen Machtchancen eröffnen, könne man Organisation auch als Transformation des Mediums Geld in das Medium Macht begreifen (vgl. ebd.: 310). Mit diesen Stellen sind nicht nur Machtchancen, sondern auch Karrieren verbunden (siehe auch Kap. 4), die der öffentlichen Symbolisierung bedürfen. Damit sind für Luhmann insbesondere auch Signale in Bezug auf die Einkommenshöhe angesprochen. Karrieren verbinden, wie wir bereits gesehen haben (siehe Kap. 4), Anreiz- und Belohnungstechniken in einschneidender Weise, und dabei kommt dem Einkommen als symbolischer Ausweis der organisationalen Rangordnung eine wichtige Bedeutung zu (vgl. Luhmann 2002: 297). Eine solche systemtheoretische Betrachtung ermöglicht zugleich eine Erklärung der Höhe der Manager*innengehälter: Sie symbolisieren Karriere und Status innerhalb der Organisation und versorgen diese dadurch dauerhaft mit Motiven. Sie inspirieren jenes Personal, das diese Karrieren noch durchlaufen möchte. 59 Sie sorgen zugleich für hervorgehobene Zurechnungspunkte von Status und Erfolg, die das System für alle sichtbar mit »hervorgehobenem Personal« als zentrale Entscheidungsprämissen versorgt. »Kausalität« wird durch die Zurechnung von Erfolgen und Misserfolgen der Organisation auf (durch Status und Einkommen hervorgehobene) Personen als Zurechnungsfiktion stabilisiert. Man muss im Misserfolgsfall dann nur noch das teure Personal austauschen und nicht notwendigerweise die Organisation grundlegend reformieren. Zugleich entstehen auf Arbeitsmärkten auch Preise für die Arbeitsbereitschaften von Manager*innen, die auf diese Signale und Zurechnungsfiktionen reagieren. Die Rekrutierung der »besten Köpfe« erscheint dann nicht nur als besonders wichtig, sondern auch als durch ihre Knappheit erschwert. Denn: Deren Kompetenzen und Qualifikationen erscheinen nun als ebenso herausragend wie rar. Wer so viel Geld wert ist, dessen Kompetenzen müssen zwangsläufig selten oder einzigartig sein. Ein sol- 59 Aber frustrieren vielleicht auch jene, die diese Karrieren nicht mehr durchlaufen können (siehe dazu auch Kap. 4). <?page no="146"?> 146 5 Macht und Geld cher, an Knappheitswahrnehmungen orientierter Arbeitsmarkt bildet den Zerrspiegel für die unsicheren Erwartungen der Organisationen, die sich nur an den eigenen Erfahrungen und Zurechnungsfiktionen sowie den Beobachtungen anderer Organisationen orientieren können. Im Spiegel des Marktes, um ein Bild von Harrison C. White zu verwenden, sehen die Organisationen dann sich und ihre Erwartungen von anderen Organisationen umstellt (vgl. White 1981). Je nachdem, mit welchen Zurechnungsfiktionen diese auf Preissignale reagieren, können »die besten Köpfe« als immer knapper erscheinen und dies die Preise für Top-Manager*innen hochtreiben. Und je höher sie steigen, desto wertvoller müssen diese Manager*innen wohl sein. Mit der Luhmann‘schen Systemtheorie lässt sich also aufzeigen, dass Geldzahlungen in Form von Spitzengehältern nicht nur einfache kausale Zurechnungen von Unternehmenserfolg oder -misserfolg auf Personen unterstützen und so helfen, Kritik und/ oder Frustrationen auf einfach austauschbares Personal auszurichten. Sie sorgen auch dafür, dass diese Erfolgszuweisungen einen Markt anheizen, also mit Knappheiten versorgen, der die Gehaltsspirale weiter nach oben treibt und so wiederum die einfache kausale Zurechnung auf Personen, »welche die Unternehmen zum Erfolg führen«, stabilisieren. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, wieso sollten dann hart kalkulierende Wirtschaftsorganisationen ihrem Personal so viel bezahlen? Die Geld- und Habgier auf Seiten der Akteur*innen, die von den Medien gerne angeführt wird, ist dabei für Luhmann — ebenso wie für Marx und Weber 60 — nicht für das System konstitutiv. Denn für Luhmann wird das Wirtschaftssystem durch das Kriterium des Profits gerade unabhängig von den Motiven, aus denen jemand sein Geschäft betreibt. Profite müssen für ihn in Zahlungen umgesetzt werden und sind nur Profite, wenn dies geschieht. Die Funktion des Profitmotivs für das System der Wirtschaft liegt daher nicht im Absaugen von Reichtümern, sondern gerade umgekehrt: in der selbstreferenziellen Schließung des Wirtschaftssystems durch Zahlungen, die getätigt werden, um Zahlungen zu erhalten. So werden durch das Profitmotiv Zahlungen im System reproduziert; und ob jemand aus Gier oder Kalkül oder ein anderer aus Anstand handelt, ist für die Funktionsweise des Systems bei Luhmann ganz nebensächlich. Geld- oder Habgier ist daher auch für die Systemtheorie mitnichten eine erfor- 60 Für Marx erscheint der Kapitalist als die Personifikation der ökonomischen Kategorie des Kapitals. Dessen Bewegung ist ihm Gesetz, nicht die Habgier. »Der Gebrauchswert ist also nie als unmittelbarer Zweck des Kapitalisten zu behandeln. Auch nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens.« (Marx 1890/ 1968: 168). Und auch nach Max Weber waren es gerade nicht die Geld- und Habgier (die es zu allen Zeiten gab), sondern rationale Berufsarbeit und Gewinnstreben auf Basis rationaler Kalkulation, welche zu den Triebfedern des modernen rationalen Kapitalismus gehörten. Geld- und Habgier, so zeigt Weber historisch auf, sind nicht die Wurzeln des modernen rationalen Kapitalismus und werden ethisch während seiner Heraufkunft gar geächtet (vgl. Weber 1910/ 91). Und genau dafür stehen ja auch die vieldiskutierten Fälle illegitimer oder gar betrügerischer Bereicherung von Top-Managern: für eine ethische, rechtliche und mediale Ächtung zügelloser Geld- und Habgier. <?page no="147"?> 5.3 Zusammenfassung 147 derliche Voraussetzung für das (durch den Profit reflexiv werdende) Operieren der modernen Wirtschaft. Die Unterschiede zwischen den Geldkonzeptionen von Coleman und Luhmann könnten also größer kaum sein. Und auch in den mit ihren Perspektiven möglichen Erklärungen der hohen Geldzahlungen von Organisationen für Spitzenpositionen gelangt man zu sehr verschiedenen Erklärungszusammenhängen. Sie werden abschließend in Tabelle 5.2 nochmals zusammengefasst: Tabelle 5.2: Zur Bedeutung von Geld in Organisationen: Coleman und Luhmann Theorie rationaler Wahl (Coleman) Systemtheorie (Luhmann) Geld als … Nutzungsrechte, um Anreizstrukturen auszubilden und Ressourcen zu akquirieren bzw. zu kontrollieren Medium im System, um die Annahme von Entscheidungen durch positive Sanktionen zu erreichen Welche Funktion/ Aufgabe hat Geld? Handlungskoordination durch den*die Prinzipal*in Kommunikationsmedium und Systembildung Wie lassen sich die Einkommenssteigerungen von Spitzenmanagern erklären? Als Gewinnabzweigungen von mächtigen Akteuren und Anreizstrukturen, welche die Eigentümer setzen Als symbolischer Ausweis von Karriere und Status sowie als Element der Stabilisierung von Kausalfiktionen auf Märkten 5.3 Zusammenfassung Die wesentliche organisationssoziologische Frage, die mit den Begriffen Macht und Geld verbunden ist, lautet: Wie lassen sich die Handlungskoordination sowie die Aufrechterhaltung von sozialer Ordnung im Kontext von Organisationen erklären? Im Hinblick darauf haben wir die Begriffe aus soziologischer Perspektive analysiert: Macht ist für uns deshalb nicht als etwas moralisch Verwerfliches interessant, sondern als Mittel der Handlungskoordination sowie als Medium zur Ordnungsbildung. Alltägliche Machtspiele in Organisationen gehören dazu und sorgen, wie wir anhand des Liegestuhl-Beispiels von Popitz gesehen haben, für die Entstehung ganz unterschiedlicher Ordnungen. Die Theorie rationaler Wahl setzt dabei die Akteur*innen in Relation zu den Ressourcen oder Ereignissen, die sie kontrollieren können, während bei Crozier/ Friedberg Macht auf die <?page no="148"?> 148 5 Macht und Geld Ungewissheitszonen bezogen wird, die man bei einer gemeinsamen Problemlösung kontrollieren kann. Für Luhmann hingegen ermöglicht u.a. das Medium Macht den Organisationen, zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu gelangen — gerade indem sie nur negative Sanktionen andeuten, aber nicht zur Anwendung bringen. Neben Macht haben wir auch Geld unter dem Vorzeichen seiner Effektivität bezüglich der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung untersucht und gezeigt, wie Coleman den Einsatz von Geld auf die Organisationsprobleme des*der Prinzipal*in bezieht und sich vor diesem Hintergrund Phänomene, wie z.B. die hohen Geldzahlungen für Managementpositionen in der Wirtschaft, erklären lassen. Für Luhmann bilden sich Organisationen anhand des Gebrauchs von Geld aus und bestimmen so zugleich einen Gutteil seiner gesellschaftlichen Verwendungsmöglichkeiten. Die Spitzengehälter erscheinen dabei sowohl als symbolischer Ausweis von Karriere, der die Organisation mit Motiven versorgt, als auch als ein Resultat von dadurch reproduzierten Knappheitsfiktionen auf Arbeitsmärkten. Macht und Geld, die auf den ersten soziologischen Blick wenig miteinander gemeinsam haben, sind also aus organisationssoziologischer Sicht zwei Möglichkeiten, Entscheidungen auszurichten und verbindlich zu machen und somit eine gewisse Stabilität des sozialen Gebildes »Organisation« zu gewährleisten. Übung zu Kapitel 5: Der Fall Kozlowski Die Endeavour, eine überholte und rekonstruierte America’s Cup Yacht, benannt nach dem Expeditionsschiff von James Cook, bildete die Ausnahme. Sie war von Dennis Kozlowski, dem CEO des Gemischtwarenkonzerns Tyco selbst bezahlt worden. Den Rest, wie sein 18-Millionen-Dollar-Apartment in New York, die mehr als eine Million teure Geburtstagsparty seiner Frau oder der 6.000 Dollar teure Dusch- Kapitel 5: Fragen zur Vertiefung Wieso ist in der systemtheoretischen Betrachtung von Macht die Anwendung von negativen Sanktionen für die Organisation bzw. die Vorgesetzten in einer Organisation problematisch? Worauf muss man achten, wenn man im Sinne der Coleman‘schen Theorie rationaler Wahl Machtkonstellationen in einer Organisation untersuchen möchte? Warum versuchen Organisationen ihre Mitglieder mittels Geld zu motivieren und welche Alternativen dazu kommen in Organisationen zum Einsatz? <?page no="149"?> 5.3 Zusammenfassung 149 vorhang hatte er sich auf Firmenrechnung spendiert. Auf diese Weise ist der Tycoon Kozlowski zum Inbegriff eines habgierigen Firmenbosses geworden. Er wurde in zweiter Verhandlung im Juni 2005 schuldig gesprochen und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er und sein Mittäter Swartz hatten sich illegal Boni im Umfang von mehr als 150 Millionen Dollar genehmigt. Zusätzlich trieben sie den Aktienpreis mit geschönten Angaben über die Finanzlage des Unternehmens nach oben und prellten Aktionäre so um 400 Millionen Dollar (siehe Handelsblatt 2005). Drei Jahre nach seiner Verhaftung äußerte sich Kozlowski zu den Vorkommnissen. 61 Angesprochen auf die Bedeutung des Geldes antwortete der ehemalige Topmanager, dass es für ihn vor der Zeit der Inhaftierung eine enorme Rolle spielte und sein Jahreseinkommen letztlich bestimmte, wer er war. Trotzdem sah er in Geld nicht seine primäre Motivation. Vielmehr war es der Erfolg der von ihm gemanagten Firma: »Tyco hat mich motiviert. Das war mein großer Fehler. Ging es der Firma gut, ging es mir gut. Florierte Tyco, florierte ich. Kriselte es, ging es mir nicht gut. Ich hatte kein Leben außerhalb von Tyco« (vgl. Hossli 2008). 1. Bitte zeigen Sie an diesem Beispiel auf, wie Geld in Organisationen ins Spiel kommt und welche Bedeutung es für die Spitzenmanager*innen entfaltet. 2. Wie lassen sich die Koordinationskraft des Geldes und die damit verbundenen Probleme aus der Sicht der Theorie rationaler Wahl Colemans interpretieren? Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Quellen Axelrod, Robert (2005), Scientia nova. Die Evolution der Kooperation, Studienausgabe, 6. Aufl., München: Oldenbourg. Bebchuk, Lucian/ Fried, Jesse (2004), Pay without performance: the unfulfilled promise of executive compensation, Cambridge, Mass. [u. a.]: Harvard Univ. Press. Bebchuk, Lucian/ Fried, Jesse (2005), Pay without Performance: Overview of the Issues. In: Journal of Applied Corporate Finance 17 (4), S. 8-23. Beck, Daniel, Gunther Friedl, and Peter Schäfer (2020), "Executive compensation in Germany." Journal of Business Economics 90, S. 787-824. 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Vom*von »Manager*in des Jahres« bis zum*zur »Verlierer*in des Jahres« vergeht oft nur wenig Zeit. Sie personalisieren den Erfolg einer Organisation ebenso wie ihren Misserfolg. Dies erstaunt umso mehr als »Manager*in« keine geschützte Bezeichnung ist. Managament ist keine Profession. Man kann Management nicht in einem Sinne studieren, dass das Studium eine Zugangsvoraussetzung zur Position ist. Jede*r kann sich als Manager*in bezeichnen, und tatsächlich machen dies auch viele. Das Reinigungspersonal am Flughafen gehört zum »facility management«, das Sekretariat nennt sich »office management« und der neu eingestiegene Sachbearbeiter*innen im Unternehmen »junior manager«. Doch sobald wir über hochrangige Führungskräfte in Organisationen sprechen, wird der Zugang sozial exklusiv. In den USA, England und Frankreich, in Japan, Südkorea und China kommen Manager*innen oft von Eliteuniversitäten, in Deutschland haben sie mit dem Doktortitel oft Eliteabschlüsse. Die soziale Herkunft wird von gehobenen sozialen Schichten und von Familien mit Erfahrungen in dem jeweiligen Sektor der Organisation dominiert. Die meisten Organisationen, auch jene außerhalb der Wirtschaft, haben nach und nach ein Management eingeführt. Seien es Krankenhäuser, Universitäten oder soziale Einrichtungen - alle haben in den letzten Jahrzehnten versucht, Managementstrukturen aufzubauen oder jedenfalls hochrangige Verwaltungskräfte so zu benennen. Es scheint so, als ob jede Organisation, die als modern erscheinen will und etwas auf sich hält, dieser ein »Management« verpasst. Und auch in der Wirtschaft spricht man In diesem Kapitel erfahren Sie welche Merkmale ein soziologischer Managementbegriff umfasst, wie man »Führung«, »Macht« und »Autorität« voneinander unterscheidet, wie der Strategiebegriff organisationssoziologisch gefasst wird. <?page no="154"?> 154 6 Management, Führung und Strategie von Managerkapitalismus, da nun auch viele Klein- und Mittelunternehmen managergeführt sind. Anders als Unternehmer*innen gehören Manager*innen zum Personal der Organisation, sind ebenso wie dieses austauschbar und trachten danach, die Insignien ihrer Austauschbarkeit durch »Alleinstellungsmerkmale« und den Nimbus des »Außerordentlichen« (z.B. in den Aspekten von Kompetenz, Wagemut, Voraussicht, Cleverness und Engagement) zu tilgen. Da Manager*innen entlang der Linie oft die höchsten Positionen besetzen, provoziert dies auch die gerne verbreitete Vorstellung, dass Manager*innen ihre Organisation im Griff haben, sie durch die Fährnisse der unberechenbaren Umwelten zum Erfolg führen. Mitarbeitendenführung und die Führung der Organisation werden ihnen als Kernaufgaben zugewiesen, unabhängig davon, ob dies tatsächlich gelingen kann. Das Management verkörpert buchstäblich die Idee der zielgerichteten Gestaltung der Organisation. Dies zeigt sich bereits an der Herkunft des Begriffs, der »Handhabbarkeit« oder »Machbarkeit« und »Führung« signalisiert. 62 Mit dem Management symbolisiert die Organisation, dass sie gestaltbar, führbar und veränderbar ist. Wie stark sie diesem Bild dann tatsächlich entspricht, ist eine empirische Frage. Jedenfalls nimmt die dadurch mögliche Zurechnung auf Personen den Organisationen das Abstrakte, Komplexe und Undurchsichtige und lässt einfache Kausalität zu. Im Zweifelsfall liegen Misserfolge dann am Management, das ja ausgetauscht werden kann, und nicht an der Erstarrung der Organisation. Die für Organisationen dann mögliche Symbolisierung, die Personalisierungen und Kausalitätsfiktionen helfen zu verstehen, wie »segensreich« das Management unabhängig von der tatsächlichen Steuerungswirkung für Organisationen ist. Auch wenn die Zuschreibungen sich mit dem Zeitgeist wandeln und die Manager*innen heute gerne als »Teamplayer«, »Coach« oder »agile Führungskräfte« verstanden werden, erweist sich die Vorstellung der Manager*innen als robust, welche Manager*innen als »Köpfe« korporativer Akteure sieht, die diese mittels Anweisungen und Anreizstrukturen strategisch zum Ziel führen. Sie gehört auch zur Selbstbeschreibung der Organisation und zum Selbstbild ihrer Manager*innen (vgl. dazu auch Pohlmann u.a. 1998; Buß 2007; Pohlmann u.a. 2011). Dabei bezieht sich der Begriff des Managements aber nicht nur auf die zugeschriebenen Funktionen der Orientierung, Gestaltung, Kontrolle und Koordination der Organisation, sondern es sind damit auch Positionen angesprochen, die in der Organisation hierarchisch übergeordnet und formal weisungsbefugt sind. Management ist immer auch strategisch ausgewiesene Unternehmens- und Mitarbeitendenführung. Mit dem Management thematisiert man auch die Manager*innen als Personen, welche die Entscheidungen der Organisation beeinflussen und prägen. 62 Staehle weist darauf hin, dass die etymologischen Deutungen des Begriffs kontrovers sind. Für manche kommt er von »manu agere«, mit der Hand arbeiten, andere halten mit Braverman (1974) »manus agere« (an der Hand führen, Pferd in allen Gangarten üben) für plausibler. Auch »mansionem agere« ist in der Diskussion (vgl. dazu Staehle 1994: 69). <?page no="155"?> 6.1 Die Funktion des Managements - Grundlegende Perspektiven 155 Auf Basis dieser Herangehensweise stellen wir zunächst grundlegende Überlegungen zur Funktion des Managements vor und zeigen, wie diese Funktion in den verschiedenen Theorieperspektiven der Organisationssoziologie ganz unterschiedlich bestimmt wird (5.1). Daran anschließend konzentrieren wir uns auf die Funktion der Führung, insbesondere der Mitarbeitendenführung und diskutieren, was Strategie im Kontext von Organisation und Management bedeutet (5.2). Die abschließenden Ausführungen sind dem Management als Personal der Organisation und dem Versuch gewidmet, sie als Sozialfiguren innerhalb der Sozialstruktur der Gesellschaft sichtbar werden zu lassen (5.3). 6.1 Die Funktion des Managements - Grundlegende Perspektiven In betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern wird Management als die Aufgabe der Führung, Koordination, Planung, Organisation und Kontrolle des Unternehmens beschrieben (vgl. dazu Fayol 1916/ 29; Staehle 1994: 78 f.). Diese sachbezogene Perspektive wird durch eine personenbezogene ergänzt. Sie richtet sich auf Manager*innen als besondere Gruppe von Personen, welche Managementaufgaben und entsprechende Rollen wahrnimmt (vgl. dazu Staehle 1994: 69; Steinmann/ Schreyögg 2005: 3). In dieser »Lehre für die Führung und von der Führung« (Kirsch 1977; Staehle 1994: 75) lautet die zentrale Frage nicht ob, sondern wie strategische Unternehmensführung funktioniert. In unterschiedlichen Konzeptionen wird daher eine Abfolge von Schritten der Planung, Zielausrichtung, Umsetzung und Kontrolle unter Einbezug sich ändernder Umweltbedingungen empfohlen, um die Unternehmen strategisch auszurichten (vgl. dazu Staehle 1994: 575 ff.; Steinmann/ Schreyögg 2005: 167 ff.). Dieser Lehre liegt die Vorstellung strategiefähiger und steuerbarer korporativer Akteure ganz selbstverständlich zugrunde. 63 Sie wählt damit einen ähnlichen Zugang wie Coleman (1992) mit seiner Theorie rationaler Wahl. Dessen Theorie ist jedoch von einer soziologischen Systematisierung 63 Anders die organisationssoziologisch argumentierende Betriebswirtschaftslehre; siehe dazu u.a. Ortmann (2008), Schreyögg (2008), zu Knyphausen (1988), Walgenbach/ Kieser (2010). Begriffsbox 6.1: Der Begriff des Managements Der Begriff des Managements bezieht sich auf 1. eine Funktion der Orientierung, Gestaltung, Koordination und Kontrolle in der Organisation; 2. eine Position, die in der Organisation hierarchisch übergeordnet ist und Führungsaufgaben beinhaltet; 3. eine Person, die als »Entscheidungstragende« der Organisation firmiert. <?page no="156"?> 156 6 Management, Führung und Strategie getragen (siehe Kap. 3.2). Auch in der Vorstellung Colemans erreichen die korporativen Akteure mit der Hilfe des zentralen Managements und entsprechender Anreizstrukturen ihre eigenen Ziele und zugleich den Zweck der Körperschaft (vgl. Coleman 1992: 166). Verträge, Hierarchien, Gehälter und Karrierechancen für das Personal sorgen in der Regel dafür, dass in Organisationen das passiert, was die Führungskräfte und ihre Mitarbeitenden wollen. Management ist in dieser Perspektive eine ordnungsstiftende Kraft, die für Kooperation oder Koordination der Untergebenen sorgt, indem sie sich an der Nutzenmaximierung der Akteur*innen orientiert und mit Kontrollrechten, Interessen und Ressourcen operiert (vgl. Coleman 1991: 196). Das Management ist gegenüber den Unternehmer*innen oder Aktionär*innen »Agent« (Auftragnehmer) und gegenüber den Beschäftigten »Prinzipal« (Auftraggeber). 64 Dadurch wird seine Funktion näher bestimmt. Sowohl als Agent als auch als Prinzipal liegt das zentrale Problem des Managements im Umgang mit Vertrauen und Kontrolle, um z.B. Leistungszurückhaltung oder Widerstände der Beschäftigten mit dem Setzen von Anreizen und Sanktionen zu vermeiden. Die Aufgabe des*der Prinzipal*in besteht für Coleman darin, »das Niveau der Überwachung und Kompensation so festzusetzen, dass sich sein Nutzen maximiert, vorausgesetzt, dass auch der Agent seinen Arbeitsaufwand so einsetzt, dass er seinen Nutzen maximiert« (ebd.). Die institutionentheoretische Perspektive vollzieht die handlungstheoretische Reduktion auf rein an der Nutzenmaximierung orientierte Akteur*innen der Theorie rationaler Wahl auch in diesem Fall nicht nach (siehe auch Kap. 4). Sie interessiert sich vielmehr für die Geltung von Regeln, die gesellschaftlich und organisational Rationalität versprechen und dadurch das Handeln der Akteur*innen und Organisationen legitimieren (siehe ausführlich Kap. 3.3). In der Denkweise des neuen Institutionalismus geht es darum, wie das Management (als Funktion, als Positionsstruktur und durch spezifisches Personal verkörpert) Einzug in die Organisationen hält, so dass jede Organisation, die als modern und rational erscheinen will, kaum mehr auf es verzichten kann. Infobox 6.1: Zur Einführung des »Managements« Als in den 1950er-Jahren die Bezeichnung »Manager« langsam in den Firmen Deutschlands und Europas Einzug hielt und in Deutschland jene der »Betriebsführer« ablöste, erregte dies noch große Widerstände. Sie bezogen sich einmal auf eine wahrgenommene »Amerikanisierung« der Wirtschaft. In anderen Fällen wurde in der neuen Positionsbezeichnung auch eine Statusentwertung gesehen. Im Vergleich zum »Betriebsführer« erschien in dieser Zeit der »Manager« genauso lapidar 64 Siehe Kapitel 3.3. <?page no="157"?> 6.1 Die Funktion des Managements - Grundlegende Perspektiven 157 wie der »Job« im Vergleich zum »Beruf«. Im Kampf der Bezeichnungen spiegelt sich eine Zeitenwende — und das nicht nur im Management. In den 1960er-Jahren, so schreiben Boltanski und Chiapello (2003: 100), sind die Manager dem eigenen Empfinden nach der Inbegriff von Modernität. Ihr Gegenbild ist die Logik der »familienkapitalistischen Welt« — einer Welt von Fürsorge und Unterordnung, von Führer*innen und Untergebenen. Sie wird in dieser Zeit von einer neuen Generation von Führungskräften verabschiedet (vgl. dazu Pohlmann 2008a: 242 ff.). Die Einführung des Managements signalisiert ein gesellschaftlich unterfüttertes, organisationspraktisches Freischwimmen von diesen Traditionen, orchestriert von der zeitgenössischen Managementliteratur. Zentralisierung, überbordende Bürokratien und Statushierarchien sollten aufgebrochen und der »moderne Manager« nach amerikanischem Vorbild etabliert werden (Pohlmann 2008a: 246). Nicht die »Amtsautorität« des Vorgesetzten (vgl. dazu auch Weber 1922/ 85: 551 ff.), sondern die Kooperation von Individuen zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles stand im Vordergrund. Eine Sichtweise, welche auch das Selbstverständnis einer neuen Generation von Führungskräften prägte (vgl. Pohlmann 2008b). Das Management konnte dabei den Mythos der in den Hintergrund tretenden Unternehmer*innen für sich nutzbar machen. Es hatte Erfolg darin, Intuition und Risikobereitschaft mit der Vorstellung einer überlegenen, wissenschaftlich disziplinierten Expertise zu verbinden. Während noch ein Jahrhundert zuvor von »Industriebeamten« oder »Privatbeamten« statt von Industriemanagern die Rede war 65 , ist die Chiffre vom Management heute als schillernder symbolischer Ausweis von Entscheidungskompetenz fest etabliert. Organisationen auf der ganzen Welt folgen in unterschiedlichem Ausmaß nun dieser gesellschaftlich anerkannten Idee des »Managements, um sich Anerkennung und Legitimität zu verschaffen. Als »ordentlich gemanagte« Organisation können sich diese leichter Ressourcen zugänglich machen als ohne Management. Dies sorgt für die Verbreitung von Managementstrukturen, die ihren Beitrag leisten, um die »Rationalität« der Organisation auszuweisen und abzusichern. Das zentrale Problem jeder Form des Managements besteht dann darin, die mit ihm verbundene rationale Ordnung der Organisation und die tatsächliche nicht zu weit auseinanderklaffen zu lassen. Management ist also, darauf weist der neue Institutionalismus hin, fester Bestandteil der Fassade moderner Organisationen geworden, ohne dass deren tatsächliche Effizienz und Effektivität dadurch gesichert wären (vgl. dazu auch Meyer/ Rowan 1977 und ausführlich Kap. 3.3 in diesem Band). Das liegt daran, so kann man aus systemtheoretischer Perspektive ergänzen, dass Organisationen komplexe Gebilde sind, in denen vieles zur selben Zeit geschieht, und die sich schon deswegen der einfachen Steuerbarkeit durch das Management entziehen (siehe auch Kap. 3 und 4). Es gibt zudem keinen Punkt im System, von dem aus das ganze System in seiner Komplexität erfasst werden kann. Jedes Management ist 65 Vgl. z.B. die Deutsche Industriebeamten-Zeitung, die im Zeitraum 1906-1919 erschien und die sozialen Interessen der technischen Privatangestellten im Fokus hatte. <?page no="158"?> 158 6 Management, Führung und Strategie daher zur Selektivität gezwungen und muss vieles ignorieren, was sonst noch im System passiert (vgl. Luhmann 2000: 183-195). Zugleich übersetzt sich nicht jede Absicht oder jedes Ziel einer Führungskraft im kollektiven Entscheidungsprozess in zielorientierte Handlungen der Mitarbeitenden. Die Eigendynamik des Systems 66 lässt sich nicht auf die Entscheidungen einzelner Akteur*innen reduzieren. Zwar fungiert das Management in der Organisation als Entscheidungsträger (bzw. Entscheidungsprämisse), indem es Prämissen für die Ausrichtung und den Aufbau der Organisation setzt, aber auch mit diesen kann nicht sichergestellt werden, dass die Reproduktion des Systems sich daran so orientiert, dass tatsächlich von einer Steuerung der Organisation gesprochen werden kann. Die Differenz zwischen dem Setzen von Entscheidungsprämissen und der Evolutionsdynamik des Systems bleibt für das Managementverständnis der Systemtheorie konstitutiv. Deswegen konzipiert sie die Gestaltungsfunktion des Managements nicht einfach als Resultante der Steuerungstätigkeit von Organisationen, sondern betrachtet die Resultate der Tätigkeit als Produkt eines evolutionären, zukunftsoffenen Wandels der Organisation (siehe dazu ausführlich Kap. 7). Damit ist umgekehrt aber in der Systemtheorie nicht gesagt, dass die Steuerungsimpulse des Managements keine Wirkung entfalten können, sondern nur, dass diese abhängig von der eigendynamischen Entwicklung des Systems sind. Eine Lenk- und Steuerbarkeit im engeren Sinne kann dann allerdings nicht mehr unterstellt werden. Denn diese würde voraussetzen, dass eine Anweisung A mit dem Ziel, B zu erreichen, die Organisation auch immer (oder zumindest regelmäßig, solange keine Fehler auftreten) zur Zielerreichung von B führt. Die Wahrscheinlichkeiten dafür variieren jedoch mit der Eigendynamik des Systems und dies in beträchtlichem Ausmaß. Den kollektiven Regeln der Organisation gelingt es mal mehr, mal weniger, die Handlungen ihrer Mitglieder an den Zielvorgaben zu orientieren. Davon hängt es dann auch ab, inwiefern die Organisation es schafft, ihre selbst gesetzten Ziele zu verwirklichen, und inwieweit die Ziele nachträglich der abweichenden Realität angepasst werden müssen. Dies hängt für die Systemtheorie auch von der Art der Entscheidungen und von den organisationalen Regeln ab. Eng gekoppelte Entscheidungszusammenhänge oder Routineoperationen mit hoher Standardisierung der Umwelt lassen sich relativ einfach reproduzieren. In Technik oder rechtliche Normen gegossene Wenn-dann-Regeln sorgen zum Beispiel dafür, dass die Autos das Band verlassen oder die Kfz-Zulassung diese auf einen Antrag hin zuverlässig anmeldet. Anders sieht es aus, wenn Entschei- 66 Um diese Dynamik auf den Begriff zu bringen, schlägt Luhmann (1984) vor, den der Biologie entlehnten Terminus »Autopoiesis« in die Soziologie zu übernehmen. Damit wird seither der Selbstbezug als konstitutiv für die Abgrenzung des Systems gegenüber der Umwelt behauptet sowie die autonome Selbstreproduktion der systemspezifischen Elemente und Operationen bezeichnet. (Siehe für die Einführung dieses Begriffs in die Organisationstheorie: Luhmann 2000: 39-80). <?page no="159"?> 6.1 Die Funktion des Managements - Grundlegende Perspektiven 159 dungen lose gekoppelt sind, ihre Zielerreichung an die Mitwirkung Dritter geknüpft ist oder die Umwelten nicht standardisierbar bzw. ihre Reaktionen nicht vorhersehbar sind. Wenn also die Entscheidung A nicht zwingend B hervorruft (lose Kopplung), ein Ministerium die Durchlässigkeit des Schulsystems für sozial Schwache erhöhen möchte (Interdependenz) oder ein Unternehmen nicht weiß, ob die Werbung für das eigene Produkt A nicht vielmehr den Verkauf des Produktes B eines Konkurrenten fördert (Marktförmigkeit). Ziele, wie z.B. die Steigerung der Rendite, sind oft nur in geringem Maße für die Organisation instruktiv, weil sich immer eine Vielzahl von Maßnahmen mit ganz ungewissem Ausgang für dieses Ziel finden lassen. 67 Vergleicht man also die Managementverständnisse in der Soziologie, werden bereits mit den drei hier gewählten Ansätzen sehr unterschiedliche Theorieoptionen, Fragestellungen und Perspektiven sichtbar, welche Tabelle 6.1 nochmals in einer Übersicht zusammenfasst. Tabelle 6.1: Das Managementverständnis in der Soziologie der Organisation im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neuer Institutionalismus Systemtheorie (Luhmann) Management als … an Nutzenmaximierung orientierte Koordinationsform dem Rationalitätsausweis/ der Legitimität der Organisation dienliche Repräsentationsform Entscheidungsprämisse 67 Aus systemtheoretischer Sicht wird daher die Frage nach der Güte oder Rationalität der Zielvorgaben sekundär und zugunsten einer soziologischen Erklärung fallengelassen, die danach fragt, warum es Organisationen dennoch oft gelingt, bestimmte Leistungen einigermaßen zuverlässig zu erbringen (siehe dazu auch Kap. 7). Natürlich kann der Praktiker auf Basis eigener mitgliedschaftsbasierter Erfahrungen in der Organisation Wahrscheinlichkeiten für den Erfolg bestimmter Entscheidungsvorlagen angeben, aber man kann es nie definitiv wissen — eben weil in der Evolution auch geringe Wahrscheinlichkeiten eine Chance haben (vgl. Luhmann 1997) und sich immer wieder »normale Katastrophen« ereignen (vgl. Perrow 1987/ 92). Dies gilt auch für die obersten Führungspositionen. Der*die Top-Manager*in eines Unternehmens, der*die Minister*in eines Ministeriums, der*die Rektor*in einer Universität — sie alle können Richtlinien vorgeben und mit formalen Befolgungswahrscheinlichkeiten versehen, aber sie können niemals für alle Fälle sicherstellen, dass genau das in der Organisation passiert, was diese sich wünscht. Vielleicht genügen Befolgungswahrscheinlichkeiten von 70 oder 80 Prozent, aber das bedeutet eben auch, dass in 20 bis 30 Prozent der Fälle etwas anderes passiert. Wenn man sich dies in der Abfolge von Entscheidungen vorstellt, können eine beträchtliche Unschärfe und Unsicherheit ins Spiel kommen, die typisch für nicht-triviale soziale Systeme sind. <?page no="160"?> 160 6 Management, Führung und Strategie Welche Aufgabe/ Funktion hat das Management in der Organisation? Koordination und Umgang mit Prinzipal-Agenten- Problemen Gestaltung und Legitimation der Organisation Setzen von Prämissen in Entscheidungsprozessen Welche Probleme gehen damit einher? Vertrauen und Kontrolle in Prinzipal-Agenten-Beziehungen sicherzustellen Die tatsächliche Gestaltungsrationalität und die legitime Rationalitätsfassade klaffen zu weit auseinander Das Setzen von Entscheidungsprämissen „steuert“ nicht die Evolutionsdynamik des Systems Die Theorie rationaler Wahl liegt mit ihrem analytischen Modell vergleichsweise nah an den Theorien und Selbstbeschreibungen der Praxis, während im neuen Institutionalismus diese selbst als »Rationalitätsformen mit gesellschaftlicher Geltung« zum Thema gemacht und in der Systemtheorie eine Gegenposition zu deren Annahmen formuliert wird. Alle drei Ansätze eröffnen mit ihren unterschiedlichen Bestimmungen der Aufgabe/ Funktion des Managements ganz unterschiedliche Zugänge zu der Frage, warum Organisationen ein Management brauchen. Die Antwort der Theorie rationaler Wahl lautet: um abweichende Interessen und entsprechendes Handeln der Einzelakteur*innen durch das Setzen von Anreiz- und Sanktionsstrukturen am Ziel der Körperschaft ausrichten zu können. Die Antwort der neuen Institutionentheorie liegt nicht nur im Verweis auf die Funktion der Handlungskoordination, sondern auch in dem auf die Legitimation und die durch sie mögliche Ressourcenbeschaffung der Organisation. Schließlich antwortet die Systemtheorie wie folgt: Die Etablierung des Managements ist eine Reaktion darauf, dass Organisationen in der Realität eben doch keine perfekten Maschinen sind 68 und Anordnungen von oben nicht ausreichen, um das Folgegeschehen zu determinieren (vgl. Luhmann 2000: 186 ff.). Einige Befunde der Organisationsforschung mögen weiter verdeutlichen, was damit gemeint ist. Infobox 6.2: Zu einigen Befunden der Organisationsforschung Die theoretisch begründete Skepsis der neuen Institutionen- und der Systemtheorie gegenüber der einfachen Annahme einer zielgerichteten Steuerung der Organisation durch deren »Managementköpfe« korrespondiert mit vielen empirischen Be- 68 Wenn mit Befehlsketten und formalen Anordnungen eine Organisation auch bei variablen Umweltbedingungen punktgenau steuerbar wäre, bedürfte es einer Managementfunktion gar nicht bzw. sie würde sich in der Programmierung der Entscheidungsabläufe der Organisation erschöpfen. <?page no="161"?> 6.1 Die Funktion des Managements - Grundlegende Perspektiven 161 funden der Organisationsforschung. Auch die analytische Theorie rationaler Wahl Colemans ist vor diesem Hintergrund aufgefordert, in konkreten empirischen Organisationsfallstudien die Erklärungsreichweite ihrer Annahmen zu prüfen. Bereits die empirische Kritik der Organisationsforschung am Bürokratiemodell Webers — mit seiner einfachen Zweck-Mittel-Rationalität (vgl. z.B. Luhmann 1968: 40 ff., siehe auch ausführlich Kap. 3.1) — hatte zu erkennen gegeben, dass in vielen Organisationen weder klare gemeinsame Zielvorstellungen noch eindeutige Präferenzordnungen existierten. Der Organisationszweck, genauso wie konkrete Zielvorgaben schienen oft widerspruchsvoll und nicht instruktiv formuliert. Viele Ergebnisse dieser frühen Organisationsforschung weisen darauf hin, dass es in der Regel keine Garantien dafür geben kann, dass die Gestaltung der Organisation den Intentionen des Managements folgt oder nur entspricht. Ziele und Intentionen sind selbst wiederum nur — wie die daraus abgeleiteten formalen Entscheidungsstrukturen auch — Elemente, die in einen Prozess des Organisierens mit seinen Aushandlungs- und Machtspielen eingebracht werden (vgl. dazu insbesondere auch Küpper/ Ortmann 1992 und ausführlicher Kap. 5). Sie können daher keine übergeordnete Rationalität und keine gemeinsame Handlungsweise in der Organisation garantieren. Das Management erscheint nicht mehr so sehr als ein entscheidender Faktor für eine vorprogrammierte Zielerreichung, sondern als ein wichtiger Einflussfaktor für die Zielorientierung und die Interpretation dieser Ziele der Organisation. Manager*innen sorgen für die Verfahrensregeln, die den »Fluss« von Entscheidungen innerhalb des sozialen Systems gewährleisten. Ein Management stellt in Form von Fiktionen, formalen Vorgaben, Entscheidungsprämissen und dem nötigen Personal gewissermaßen die »Kanäle« und »Brücken« zur Verfügung, damit künftige Entscheidungen überhaupt an die bereits getroffenen anknüpfen können. 69 Zu diesem Zweck lädt das Management den Entscheidungsprozess im Vor- und im Nachhinein mit Rationalität auf. Für Karl E. Weick war deswegen klar: Eine Vielzahl von Situationen ist entscheidungsinterpretiert und nicht entscheidungsgeleitet, eine Vielzahl von Entscheidungen und Aktionen sind zielinterpretiert und nicht zielgeleitet. Die Zieldefinitionen sind ebenso häufig nachwie vorgängige Produkte organisationalen Handelns (vgl. u.a. Weick 1969/ 98: 340 f.). Herbert Simon und andere haben vor diesem Hintergrund auf die kognitiven Schranken in der Abwägung von Alternativen hingewiesen und eine begrenzte Rationalität (»bounded rationality«) in organisationalen Entscheidungen festgestellt. Nicht die optimale, sondern die erste hinlängliche Alternative werde gewählt (Simon 1957: 33 ff.). Organisationen wurden im Kielwasser dieser Vorstellung zu »Mülltonnen« und zu »organisierten Anarchien«: »Eine Organisation ist eine Sammlung von Entscheidungen, die nach Problemen suchen, von Themen und Gefühlen, die nach Entscheidungssituationen suchen, von Lösungen, die nach Fragen suchen, auf die sie die Antwort sein könnten und von Personen in Entscheidungspositionen, die nach Arbeit suchen« (Cohen/ March/ Olsen 1972: 2). Die Präferenzen sind ebenso unklar wie die Entscheidungstechniken, die auf Versuchs- und Irrtumsaktivitäten beruhen. Publikum und Entscheidungstragende wechseln je nach Entscheidungsthema häufig. In dieser deskriptiven Theorie der Entscheidungsprozesse wurde eine Entscheidungstechnologie empfohlen, die stärker mit der Torheit der Beteiligten (»technology of foolishness«), den unterschiedlichen Koalitionen, Vereinbarungen und Machtspielen in Organisationen rechnet. Organisationen bestehen nach Cyert und March aus Koalitionen und jede Koalition wird versuchen, der Or- 69 Es erzeugt mithin ein organisationsspezifisches »soziales Gedächtnis« (Luhmann 2000: 86). <?page no="162"?> 162 6 Management, Führung und Strategie ganisation ihre Präferenzen, Ziele und ihre Verarbeitungslogik aufzudrängen. Zu diesem Zweck verbünden sich Koalitionen mit Hilfe von »Extrazuwendungen« als Anreiz zur Kooperation. Es entstehen dominierende Koalitionen, doch Simon konstatiert, »daß es zwischen den verschiedenen Parteien großer Organisationen wenig Gemeinsamkeit in den Zielen gibt« (Simon 1964: 9). Der Prozess des Organisierens produziert in jedem Fall Ergebnisse, so Weick (1969/ 98), die so interpretiert werden, als ob eine gezielte Entscheidung getroffen worden wäre. Und die Manager*innen halten sich — genau wie Politiker*innen und alle anderen Akteur*innen — die Möglichkeit nachträglicher Rationalisierung systematisch offen — denn nach einer Entscheidung ist man immer klüger als vorher. Das, was man hinterher daraus macht, orientiert die Lernprozesse und legt laufend fest, was als Erfolg und was als Misserfolg auf Basis welcher Kriterien verstanden werden soll. Dabei sind symbolische Repräsentation und soziale Integration des Entscheidungsprozesses in der Managementlehre deutlich unterschätzte Funktionen des Managements. Manager*innen können zwar den »flow« von Entscheidungen erleichtern, aber nicht immer entscheidend beeinflussen. Sie können stattdessen wie auf einem wackligen Surfbrett hoch auf den Stromschnellen vorführen, wo es langgeht (Westerlund/ Sjöstrand 1981: 163). Und sie können im Nachhinein für die Organisation deutend festlegen, was richtig und was falsch war. Auch darin liegt aus der Perspektive der Organisationsforschung eine wichtige Funktion des Managements. Es verkörpert Entscheidungs- und Strategiefähigkeit, Lenk- und Steuerbarkeit in einer Organisation, die diese im Prozess des Organisierens laufend in Frage stellt. Daher sind Manager*innen auch immer wieder gefordert, auf wachsende Unsicherheit zu reagieren. Dies kann rein symbolisch geschehen, durch sichtbare Führung, oder formal, durch das Setzen von Rahmen, Entscheidungskorridoren oder Prämissen, an denen sich Entscheidungen orientieren sollen. Management bedeutet auch vor diesem Hintergrund ein Leitung, Koordination und Kontrolle signalisierender Umgang mit der Entscheidungsunsicherheit der Organisation. Dazu bedarf es auch der »Führung« und der »Strategie«, deren soziologisches Verständnis sich zumindest teilweise auch an den dargestellten Ergebnissen der Organisationsforschung orientiert. 6.2 Führung und Strategie Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was es mit dem Management, seinen Zielen und Strategien sowie seiner Führung in einer Organisation auf sich hat, wenden wir uns zunächst einem historischen Beispiel zu und untersuchen den Fall des Kapitänleutnants Bligh und der Meuterei auf der Bounty im Jahre 1789. An diesem Fall von (vermeintlichem? ) Missmanagement lässt sich ablesen, welche Herausforderungen sich für das Management einer Organisation ergeben und wie sich Führung soziologisch begreifen lässt. Der Vorteil der Bounty-Geschichte ist, dass es sich um einen wahren und historisch gut untersuchten Fall handelt, um den sich gleichwohl bis heute - auch dank Hollywood - viele Mythen ranken. In der Art, wie übertriebene <?page no="163"?> 6.2 Führung und Strategie 163 Mythen in die Erzählung gewoben und Fakten ausgelassen werden, ist sie einem alltäglichen Verständnis von Management und Führung in der Praxis der Organisationen sehr nahe. Leitbeispiel 6.1: Die Meuterei auf der Bounty Die Bounty begann am 23. Dezember 1787 unter Führung von Kapitänleutnant William Bligh ihre Reise nach Tahiti. Ziel war es, von dort aus die Stecklinge des Brotfruchtbaums zu den Antillen zu bringen. Bligh hatte auf seinen Reisen mit Captain Cook bereits einschlägige Erfahrungen sammeln können, die auf der Bounty Anwendung fanden. Seine Führung war dadurch gekennzeichnet, dass er weniger und mildere Strafen anwandte als es in der Royal Navy üblich und rechtlich sogar geboten war. Er galt als diszipliniert, kompetent und um das Wohl seiner Matrosen mehr besorgt als viele andere Kapitäne. So verordnete er Bewegung, ließ die Matrosen regelmäßig tanzen und Sauerkraut gegen den Skorbut essen. Sehr vorteilhaft für die Mannschaft war auch, dass er ein anderes, moderneres Arbeitszeitsystem einführte. Von dem auf den Schiffen der Royal Navy gängigen Zwei-Schicht-System (mit zwei Wachen in vierstündigem Wechsel) stellte er auf ein Drei-Schicht-System um. Aus dem harten Wechsel von vier Stunden Wachen, vier Stunden Schlafen wurde auf einen bequemeren Modus umgestellt, der im Anschluss an vier Stunden Wachdienst acht Stunden für Ruhen, Schlafen und andere Verpflichtungen an Bord vorsah. Am 28. April 1789, sieben Tage vor der Französischen Revolution, beginnt die Meuterei auf der Bounty. Die Matrosen kamen aus dem Südseeparadies Tahiti, als sich die Spannungen an Bord zuspitzten. Dabei wurde die Meuterei keineswegs nur von einigen Matrosen angezettelt, sondern maßgeblich auch von einem Gehilfen in Offiziersfunktion, von Master’s Mate Fletcher Christian. Neun Personen beteiligten sich an der Meuterei, neun weitere können als Mitläufer gelten. 22 Matrosen waren loyal oder unentschlossen. Im Zuge der Meuterei wurde Kapitänleutnant Bligh auf einem Beiboot ausgesetzt Quelle: Wikimedia Commons, File: Mutiny HMS Bounty.jpg, The mutineers turning Lt Bligh and part of the officers and crew adrift from HMAV Bounty, 29 April 1789, published by B B Evans, National Martime Museum <?page no="164"?> 164 6 Management, Führung und Strategie und die Matrosen, die dies wollten, durften ihn auf dieser riskanten Fahrt begleiten. Nicht alle fanden jedoch in dem Beiboot Platz. Manche waren und wurden gezwungen, auf der Bounty zu bleiben. Bligh und seine Matrosen schafften dann tatsächlich in einer erstaunlichen Navigationsleistung den Rückweg nach dem 5800 Kilometer entfernten Kupang, wo die Barkasse nach 41 Segeltagen anlandete. Am 22. September 1789 - Bligh war bereits aus Kupang in Richtung England abgereist - trafen Christian und die anderen Meuterer nach einem Zwischenstopp auf Tubuai wieder auf Tahiti ein. Eine größere Zahl gerade auch jener, die von den Meuterern gezwungen worden waren, auf der Bounty auszuharren, entschied sich auf Tahiti zu bleiben. Christian und weitere acht der Meuterer setzten zusammen mit einer Gruppe von Polynesierinnen und Polynesiern die Segel Richtung der Pitcairn-Insel, die zuvor noch nicht von Europäern betreten worden war. Am 15. Januar 1790 wurde die Insel gesichtet und Tage später die Bounty in Brand gesteckt, um die Meuterer nicht zu verraten. Die Insel diente ihnen nun als — leider keineswegs friedliches — Versteck (vgl. dazu Lummis 2000; Alexander 2004; Pohlmann 2004). Bei genauerem Hinsehen konnte also Kapitänleutnant Bligh damals als ein moderner, nachweislich kompetenter Kapitän mit modernen Führungsmethoden und Arbeitsorganisationsformen gelten. Er hatte den historischen Überlieferungen zufolge wenig von jenem Tyrannen, als der er durch die Filmwelt Hollywoods paradierte. Warum aber dann der Widerstand gegen seine Führung und die Meuterei? 6.2.1 Führung Probleme direkter Führung 70 beginnen oft mit einem Autoritätsverlust der Vorgesetzten. Da es sich bei den der direkten Führung zugrundeliegenden Autoritäts- und Herrschaftsbeziehungen um soziale Zuschreibungsprozesse handelt, muss in einer soziologischen Betrachtung zwingend nicht nur der Autoritätsanspruch des Herrschenden, sondern insbesondere auch die Art der Autoritätszuweisung durch die Mitarbeitenden ins Licht gerückt werden. In der gängigen Führungsstil-Diskussion werden dagegen vor allem die Kompetenzen des Führungspersonals thematisiert (vgl. Northouse 2015, Yukl/ Lepsinger 2004, Rosenstiel 2014, Tannenbaum/ Schmidt 1958). 71 70 Wir unterscheiden direkte Führung von indirekter Führung. Von direkter Führung sprechen wir immer dann, wenn die Interaktion zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden im Mittelpunkt steht. Von indirekter Führung sprechen wir, wenn die Arbeitskontexte und -situationen so gestaltet werden, dass sie die Folgebereitschaft der Mitarbeitenden erhöhen sollen, z.B. durch Kennzahlen, Kontroll- und Anreizsysteme (vgl. Staehle 2013; vgl. dazu auch Elias/ Valarini 2021). 71 Sehr nahe lag der (älteren) Managementlehre offensichtlich die Idee, Führung als Fähigkeit der Manager*innen zu fassen und nur auf ihrer Seite Führungskompetenz bzw. -inkompetenz zu identifizieren und daran anschließend entsprechenden Lernbedarf für diese zu signalisieren. Die Mitarbeitenden gerieten auf diese Weise zum Objekt managerialen Führens, das im Wesentlichen zwei Zustände kannte: einen gutwilligen, leistungsbereiten und einen indifferenten, widerständigen oder unwilligen. Nach den jeweiligen Zuständen der Mitarbeitenden und den Turbulenzen der Unternehmensumwelten <?page no="165"?> 6.2 Führung und Strategie 165 Im Falle der Bounty lässt sich zunächst ein Autoritätsverlust des Kapitäns beobachten. Dieser lag nicht in seinen Fachkompetenzen, sondern in der Wahrnehmung seiner sozialen Kompetenzen begründet. In der Wechselwirkung zwischen Kapitänleutnant und den einfachen Mitgliedern des Bounty-Unternehmens wurde die Milde der Strafen und der verordnete Tanz und Gesang ebenso wenig mit Anerkennung quittiert wie die harten Ernährungsvorschriften zum Wohle der Mitarbeiter und die alltäglich geforderte, strenge Disziplin. Das eine sahen die Seeleute nach den Überlieferungen teilweise als Schwäche an, das andere als unnötige Disziplinierung (vgl. dazu Morrison u.a. 1935; Lummis 2000). Der moderne Führungsstil des Kapitäns erwies sich so als nur gering anschlussfähig. Er war der Aufgabe und der Situation einer Expedition um die Weltmeere angepasst, aber nicht den Erwartungen aus dem sozialen Umfeld der Matrosen. Bligh ging bei vielen Matrosen und einigen Offiziersanwärtern seiner Autorität verlustig und musste sich immer häufiger auf das Mittel bloßer Machtausübung zurückziehen. 72 Nicht die Machtausübung der Autoritätsperson steht nach Weber im Zentrum einer Autoritätsbeziehung. 73 Es ist vielmehr das innere Einverständnis, die innere Zustimmung des*der Autoritätszuweisenden. Wie am Beispiel der Bounty erkennbar, sind Autorität und Herrschaft keine Einbahnstraßen der Macht, sondern bauen auf Wechselseitigkeit und Interdependenz auf. Eine funktionierende Autoritätsbeziehung ist sowohl effektiv, weil sie auf »Einsicht« und »Überzeuwerden dann zwei Führungsstile empfohlen: der autoritäre und der partizipative Führungsstil mit seinen jeweils wieder neu benannten Zwischenabstufungen (vgl. Lewin u.a. 1939, Tannenbaum/ Schmidt 1958, McGregor 1960, Vroom/ Yetton 1973, zusammenfassend Lieber 2011, Schierenbeck 2012). 72 Auch in William Blighs Fall musste aber der Machthaber nachträglich zum Tyrannen gemacht werden, weil es sonst der Meuterei an vordergründiger Plausibilität fehlte. Wie in vielen anderen Fällen zeigt jedoch die hintergründige Plausibilität, dass die Tatsache, dass er gerade dieses nicht war - ein Tyrann - nicht unwesentlich zur Revolution beigetragen hatte (Pohlmann 2004). 73 Autorität bezieht sich bei Max Weber auf die Art, wie eine Herrschaft vollzogen wird. Als Herrschaft qua Autorität beruht sie - idealtypisch verstanden - auf einer von den Interessen absehenden »schlechthinigen Gehorsamspflicht« (Weber 1922/ 85: 542). Quelle: Wikimedia Commons, File: Mutiny bounty 9.jpg, Screenshot from the trailer for the film Mutiny on the Bounty, 1935. <?page no="166"?> 166 6 Management, Führung und Strategie gung« beruht, als auch effizient, weil sie die Konflikte einer bloßen Machtbeziehung zu umgehen weiß. Denn der Einsatz von Macht ist aufwendig und mühsam, sobald er über die bloße Antizipation von Vermeidungsalternativen hinausgeht. So kennt jeder Matrose auf dem Schiff die Palette von Strafen und weiß, wann er seinen Rang verliert und in Ketten gelegt wird. Dasselbe gilt auch für die Offiziere. Solange die Machtkonstellation nur der Rahmung der Wechselwirkung dient, ist diese produktiv. Sobald aber Macht darüber hinaus im Alltag der Interaktion aktualisiert werden muss, verliert diese an Produktivität und Geschmeidigkeit. Das Risiko steigt für beide Seiten. Denn unterhalb der Schwelle der Aktualisierung von Strafen und Vermeidungsalternativen besteht auch bei den Machtunterworfenen ein Spielraum im Befolgen von Weisungen, der alltäglich widerständig genutzt werden kann. Bloße Macht- und Erzwingungsverhältnisse sind ebenso aufwendig wie unzuverlässig. Fehlt die Einbettung in eine Autoritätsund/ oder Herrschaftsbeziehung, ist die Revolution einen Schritt näher gerückt. Autorität wird also in einer solchen soziologischen Perspektive von den Mitarbeitenden zugewiesen. Sie eröffnet der Autoritätsperson aufgrund zuerkannter Überlegenheit Bestimmungsmöglichkeiten über die Autoritätszuweisenden, ohne weitere Prüfung der Gründe (vgl. dazu auch Sofksy/ Paris 1994: 21 ff.). Auch für Luhmann (Luhmann 2000: 203 f.) sind das Vertrauen und der Kredit der Autoritätszuweisenden entscheidend (Luhmann 1968). Sie können jederzeit, wie im Bounty-Fall, ohne Zustimmung der Autoritätsperson entzogen werden. Die Autorität steht daher fortwährend in dem Zwang, ihre Überlegenheit unter Beweis zu stellen, indem sie sich als Autorität inszeniert (vgl. dazu auch Popitz 1992), was Kapitänleutnant Bligh nach den Überlieferungen immer weniger gelang. Jede Autoritätsperson, die, wie Kapitänleutnant Bligh, ihre Autorität bewahren möchte, ist deswegen von der Entscheidung der anderen Seite ebenso abhängig wie diese von ihr. Die Meuterei entbrannte aber erst, als sich auch der Legitimitätsglaube an die Ordnung der britischen Krone in Teilen der Mannschaft in Auflösung befand. Die tahitianische Gesellschaft zeigte, dass die Ordnungsvorstellungen des britischen Empires keineswegs alternativlos waren. Sie ließ für viele Seeleute ein anderes, besseres Leben aufscheinen und verhieß nicht nur sexuelle Freizügigkeit, sondern auch Gastfreundschaft und eine weitgehend klassenlose Gesellschaft (vgl. dazu Danielsson 1956; Ferdon 1981; Pohlmann 2004). Der Glaube an die Ordnung des britischen Empires wurde so in Teilen der Mannschaft erschüttert. Erst als Autorität und Herrschaftsglaube dahinschwanden und die Macht immer häufiger ohne Autoritätsanerkennung zur Anwendung kommen musste, war eine Gelegenheitsstruktur geschaffen, die klar artikulierte Widerstände und gar eine Meuterei möglich machte. Hier liegen die zentralen Gründe für die Destabilisierung <?page no="167"?> 6.2 Führung und Strategie 167 von Führung und Management. Jede Führung, die auf Dauer eine Reduktion auf bloße Machtverhältnisse erfährt, läuft Gefahr, instabil zu werden. Führung ist in einem sozialwissenschaftlichen Sinne daher keine Fähigkeit der Manager*innen, sondern das Resultat einer Führungsbeziehung. Der Führungsstil ergibt sich aus dieser Beziehung, nicht allein aus dem Führungsanspruch der Manager*innen. Er bildet sich aus dem »Aufeinander-Eingestellt-Sein«, aus wechselseitigen Erwartungen und Verpflichtungen heraus. Vor diesem Hintergrund ist es selbstverständlich, dass auch die Vorgesetzten in einer Führungsbeziehung »geführt« werden, also auch »Führung von unten« erwartet werden kann (Baecker 1994: 32). Deswegen kann es nicht den einen, besten Führungsstil eines oder einer Vorgesetzten geben, sondern gelingende Führungsbeziehungen passen sich den wechselseitigen Führungserwartungen und Führungssituationen an. Dabei steht im Mittelpunkt jeder Führungsbeziehung die Frage der Autorität. Wie wir gesehen haben, beruht sie immer auf freiwilliger Anerkennung der Überlegenheit der Autoritätsperson durch andere, denn wenn sie eingefordert oder erzwungen wird, ist der Autoritätsglaube bereits erschüttert. Ob die viel besprochene „digitale Transformation“ etwas an der zentralen Bedeutung der Autorität sowie an den Zuweisungsformen ändert, ist derzeit noch unklar (siehe dazu auch Elias/ Valarini 2021). Im Managementdiskurs werden diesbezüglich neue Führungskonzepte unter dem Label „digital leadership“ oder „agile Führung“ diskutiert (Boes 2018; Boes et al. 2021; Gergs 2020a, b). Zur Digitalisierung von Führungsbeziehungen fehlen bisher aber weitgehend noch fundierte empirische Beiträge (Pfeiffer 2019). Der Praxisdiskurs mit seinen Verlautbarungen überwiegt (Lenz/ Grützmacher 2018; Franken/ Franken 2018) ebenso wie die Theorien des digitalen Kapitalismus (Pfeiffer 2021) einen Aufschwung erfahren. Eine solche soziologische Fassung von Führung als eine der zentralen Aufgaben des Ma- Begriffsbox 6.2: Führung im sozialwissenschaftlichen Sinne Führung ist das Resultat einer wechselseitigen Beziehung, nicht allein eines einseitigen Anspruchs. Führung findet deswegen ‚von oben‘ und ‚von unten‘ zugleich statt. Es gibt nicht den einen, besten Führungsstil, sondern je nach Situation verschiedene angemessene. Nicht Macht allein, sondern insbesondere Autorität steht im Mittelpunkt jeder Führungsbeziehung. Eine Vorgesetztenposition kann die Autoritätszuweisung erleichtern, aber nicht garantieren. Es gibt verschiedene Quellen der Autorität. <?page no="168"?> 168 6 Management, Führung und Strategie nagements kann durch eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Strategiebegriff ergänzt werden. Im Ausweis der Fähigkeit zur strategischen Führung des Unternehmens wird eine Kernkompetenz des Managements gesehen und die »Strategie« scheint - sowohl in den Selbstbeschreibungen der Manager*innen als auch im Diskurs der praxisnahen Literatur (vgl. dazu auch Pohlmann u.a. 2011) — seine Königsdisziplin zu sein. 6.2.2 Strategien Coleman zeigt in seiner Analyse von Revolutionen auf, warum diese (ebenso wie die Meuterei auf der Bounty) nicht am tiefsten Punkt der Verelendung anheben, sondern auf halbem Wege zur Besserung der Zustände (vgl. dazu Coleman 1992: 202 ff.). Zu diesem Zeitpunkt sind seines Erachtens die machtpolitischen Chancen wieder größer, die Widerstände der alten Ordnung zu brechen. Dies trifft für Coleman insbesondere dann zu, wenn der*die Herrscher*in — in unserem Falle Kapitänleutnant Bligh - auch noch Zugeständnisse macht oder durch milde Strafen den potenziellen Revolutionären oder Meuterern entgegenkommt. Diese Strategie des Kapitänleutnants ging also nicht auf, sondern verschlechterte seine Situation noch. Coleman argumentiert mit dem subjektiv erwarteten Gewinn aus einer Revolution, der mit der Wahrscheinlichkeit der Beteiligung anderer Revolutionäre und dem Risiko bei einem Misserfolg »verrechnet« wird (vgl. ebd.: 206 ff.). Da diese Beteiligung für eine erhöhte Gewinnchance wichtig ist, müssen Ressourcen und Motivationen gesellschaftlich verfügbar sein, die auf dem Tiefpunkt einer Entwicklung meistens erschöpft sind. Gleichzeitig wird deutlich, wie stark die Vision eines freieren Lebens auf Tahiti oder an einem anderen Ort in der Südsee gewichtet werden musste, um die Meuterei als Unternehmen angesichts der Todesstrafe, die auf sie stand, interessant werden zu lassen. Ebenso wie in der organisationalen Praxis und der Betriebswirtschaftslehre definiert die Handlungstheorie also das Verfolgen einer Strategie — wie im Falle der Bounty — über das zu erreichende Ziel und den Erfolg in diesem Bestreben. Die notwendigen Handlungen sind sowohl auf andere und deren Handlungen (z.B. die Matrosen) als auch auf Veränderungen der äußeren Situation bezogen. Im Mittelpunkt der Definitionen des Strategiebegriffs mit handlungstheoretischem Bezug befindet sich daher der*die handelnde Akteur*in im Zusammenspiel mit anderen Akteur*innen. 74 Die Theorie rationaler Wahl unterstellt den Akteur*innen — wie wir auch am Beispiel der 74 »Strategien« beziehen sich nach Habermas immer auf ein Gegenüber. Dies unterscheidet strategisches von teleologischem Handeln (Habermas 1995). Teleologisches Handeln setzt die Beziehung eines*einer handelnden Akteur*in zu einer objektiven Welt der Gesamtheit der Sachverhalte voraus. Diese Sachverhalte können bestehende sein, sie können eintreten oder durch gezielte Intervention herbeigeführt werden. Das Handeln bezieht sich dabei auf die Meinungen des*der Handelnden über bereits existierende Sachverhalte und seine Absicht, erwünschte Sachverhalte zur Existenz zu bringen. <?page no="169"?> 6.2 Führung und Strategie 169 Meuterei sehen — Strategiefähigkeit und prüft, wie weit man mit einer solchen Annahme im Erklärungsmodell kommt. Diese Strategien der Akteur*innen übersetzen sich dann auf Basis bestimmter Spielsituationen — wie im Falle der Bounty — in kollektive Handlungsergebnisse, die sich weitgehend bruchlos aus diesen erklären lassen (Coleman 1992: 159, siehe dazu auch ausführlich Kap. 3). Dabei stehen vielfach spieltheoretische Überlegungen im Vordergrund. In der Spieltheorie wird unter Strategie Folgendes verstanden: »Planung einer bestimmten Folge von Spielzügen (Handlungen), wobei in dem Plan für jede Entscheidung spezifiziert ist, welche Handlung je nach den vorausgegangenen Zügen der Mitspielenden und den eigenen Zügen ausgeführt werden soll. Strategie liefert also [in diesem Verständnis] eine vollständige Beschreibung, welche Handlungen ein*e Spielende*r auszuführen plant, und zwar für jedes Entscheidungsproblem, vor dem er im Verlaufe des Spiels steht« (Holler/ Illing 2000: 32) . Es wird zwischen Strategien und Handlungen genau unterschieden. Strategien sind Regeln über die Reaktionen und Handlungen für alle Situationen im Spielverlauf (Esser 2000: 31). Damit bezieht diese Perspektive die soziologische Beschäftigung mit Strategien vor allem auf das Problem der Strategiewahl von Akteur*innen. 75 Tabelle 6.2: Das Strategieverständnis in der Soziologie der Organisation im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neuer Institutionalismus Systemtheorie (Luhmann) Strategie als … Planung einer bestimmten Folge von Spielzügen (Handlungen) Ein der Legitimität dienlicher Ausweis instrumenteller, langfristiger Rationalität Eine Zurechnung von Erfolg oder Misserfolg, die ebenso der Unsicherheitsabsorption wie der Organisation von Lernprozessen dient 75 Abhängig ist die Strategiewahl nach spieltheoretischen Annahmen im Wesentlichen von drei Komponenten: von der Informationsmenge, z.B. über die Zahl der Spielzüge, von der Art der Mitspielenden — hier wird zwischen Spielen »gegen die Natur« und Spielen gegen andere Spielende unterschieden — sowie von der je eigenen Nutzenfunktion des*der Spielenden. Mit dieser kommt für die Orientierung von Entscheidungen die Präferenzordnung des*der Spielenden »ins Spiel«. Entlang einer Nutzenfunktion, die sich aus der individuellen Präferenzordnung ergibt, werden Kosten und Nutzen — also Aufwand, Opportunitätskosten und Folgen von alternativen Handlungsmöglichkeiten — gegeneinander abgewogen und diejenige Handlungsoption gewählt, welche, ins Verhältnis gesetzt, den größtmöglichen Nutzen verspricht (vgl. dazu auch Coleman 1991; 1992). <?page no="170"?> 170 6 Management, Führung und Strategie In der Systemtheorie Luhmanns steht hingegen die Erkenntnis, dass die Strategien der Manager*innen nur ein Element in der Evolution des Systems sind, jedem emphatischen Verständnis von Strategie entgegen. 76 Der Fall der Bounty erscheint deswegen nicht überraschend, sondern zeigt dies vielmehr in aller Klarheit auf. Selbst mit der Befehlsgewalt, die ein Kapitän eines Schiffes zur Verfügung hat, können dessen strategische Absichten auf Basis der Eigendynamik des sozialen Systems des Schiffes zur Makulatur werden. In einer systemtheoretisch inspirierten, organisationssoziologischen Perspektive geht es denn auch vielmehr darum, was in Organisationen als »Strategie« erscheint und als solche deklariert werden kann, zunächst unabhängig davon, was sich langfristig dem Fortbestand der Organisation tatsächlich als dienlich erweist. »Strategie« ist in den Augen der Systemtheorie eine Zurechnung, die ebenso der Unsicherheitsabsorption wie der Organisation von Lernprozessen dient. Von Strategien ist immer dann die Rede, wenn diese Deutung auf Basis organisational selbstgeschaffener Kriterien nachträglich rationalisierbar ist, und das meint: die Maßnahmen als erfolgreich oder als gescheitert dargestellt werden können. In einem solchen Ansatz wird die »Strategie« als organisationales Kommunikationsmuster verstanden. An »Strategien« kann man hier die Art und Weise ablesen, wie Organisationen ihren bisherigen Erfolg oder Misserfolg begründen, wie immer fiktional diese Zurechnungen sein mögen. 77 Im Falle des Kapitänleutnants Bligh erscheint seine Strategie der Schiffsführung zwar als gescheitert, interessant aber ist, welche Lehren die » Organisation« der britischen Marine daraus zog. Denn anders als die Hollywood-Filme, die ihn nachträglich zum Tyrannen machten, sprach ihn diese von jedem Fehlverhalten frei und beauftragte ihn mit weiteren Expeditionen. Seine Strategie scheiterte für diese wegen der aufsässigen Matrosen und einer fehlenden Schutzgarde zur Durchsetzung seines Willens. Auch hier zielte also die nachträgliche Rationalisierung der Geschehnisse auf personelle Unzulänglichkeiten und nicht auf Fehler in den strategischen Zielen und der Art, sie umzusetzen. »Strategie« erscheint in der systemtheoretischen Perspektive als ein Bewertungshorizont der Zielorientierungen (bzw. Programmstrukturen) einer Organisation, der dazu dient, Lern- und Anpassungsprozesse zu organisieren. Das Management handelt bis auf Widerlegung so, »als ob« die Umwelt überschaubar und beherrschbar wäre. 76 Jede noch so strategische Planung, das konstatierte bereits der frühe Luhmann (1971), kann die Veränderungen nicht einplanen, welche die Planung selbst erzeugt (oder führt in eine Endlosschleife der Regulierung der Abweichungen von den Abweichungen etc.). 77 Aus einer konstruktivistischen Perspektive, wie jener Karl E. Weicks (1969/ 98), wird »Strategie« im organisationalen Kontext als eine Form von retentionaler Entscheidungsrationalität gedeutet, die den Prozess des Organisierens ermöglicht und steuert. Aufgrund der Komplexität der Situation und des mangelnden Wissens über alle Alternativen können Strategien soziologisch als nachträglich rationalisierte Entscheidungen analysiert werden, die die Funktion der Unsicherheitsabsorption erfüllen. <?page no="171"?> 6.2 Führung und Strategie 171 Und genau in diesem Sinne handelt es »strategisch«. Denn die Zurechnung von Erfolg oder Misserfolg ist aufgrund der Vielzahl der Variablen, die im Spiel sind, erschwert. Sie geben der Organisation bereits Halt, bevor diese sich sicher sein kann, dass der Erfolg sich einstellen wird. Weil sie dem*der Akteur*in — genauso wie der Organisation — Handlungseinheit und Handlungsfähigkeit in besonderem Maße unterstellen, können diese sich auch überzeugend darstellen und entschlossen auftreten. Hier setzt dann auch die institutionentheoretische Perspektive an. In deren Rahmen kann man sehen, dass der*die »Manager*in« als Akteur*in durch die ihm*ihr zugerechnete Strategiefähigkeit mit besonderen Rationalitätszuweisungen ausgestattet und geadelt wird. Der oder die Manager*in erscheint noch mehr als andere als berechnende Einheit, als listige*r Spielende*r (vgl. dazu Negt 2006). Er oder sie verfolgt seine oder ihre Ziele langfristig. Dass er*sie dies kann, signalisiert der Strategiebegriff, und genau darin liegt seine Legitimationsleistung für die gesellschaftliche und organisationale Praxis: Er weist sie als instrumentelle Rationalität in Potenz 78 und damit als Königsdisziplin der Manager*innen aus. Dies schlägt sich dann sowohl in der Betonung der strategischen Unternehmensführung in der Betriebswirtschafts- und der Managementlehre nieder 79 als auch darin, dass Organisationen ihren Fortbestand oft nur sichern können, wenn sie die Erfüllung von Strategieerwartungen signalisieren und dokumentieren. Businesspläne in Unternehmen, Struktur- und Entwicklungspläne an Universitäten 80 , Lehrpläne an Schulen weisen deren strategische Handlungsfähigkeit aus. Der Strategiediskurs versorgt in dieser Perspektive das Personal (und insbesondere die Manager*innen) und die Organisationen mit — wie immer fiktiven — Akteurseigenschaften, Rationalitätszuweisungen und Legitimität. Eine soziologische Beschäftigung mit dem Strategiebegriff kann sich daher — in dieser Perspektive — in einer handlungstheoretischen Problematisierung von Handlungsstrategien nicht erschöpfen, sondern muss ebenso den Prozess der Institutionalisierung sowie dessen gesellschaftliche wie organisationale Folgen einblenden. 78 Dabei ist die Rede von Strategie immer ein Signal, dass wir es mit instrumenteller Vernunft zu tun haben. Strategisches Denken kann nicht helfen zu bestimmen, ob irgendein Ziel an sich wünschenswert ist oder nicht (vgl. Horkheimer 1992: 19). Es ist gleichgültig gegenüber der Wahl der Ziele. Die Frage, ob Gerechtigkeit besser als Ungerechtigkeit ist, kann strategisches Räsonnement nur entscheiden, wenn es beide als Mittel zu einem übergeordneten Zwecke erscheinen lässt (z.B. der Stabilität von Herrschaft); über den Zweck selbst kann das strategische Räsonnement nichts sagen, ohne diesen zu instrumentalisieren. 79 Strategische Unternehmensführung orientiert sich, folgt man der Betriebswirtschaftslehre, an langfristigen Zielen und interessiert sich vor allem für deren Umsetzung (vgl. Bergmann/ Bungert 2013, Thomsen 2006, Ringlstetter/ Kirsch 2003). 80 Die Hochschulen, beispielsweise in Baden-Württemberg, sind gesetzlich verpflichtet (§7 des Landeshochschulgesetzes), Struktur- und Entwicklungspläne aufzustellen, die die Ziele und die Weiterentwicklung der Hochschule für die nächsten fünf Jahre beinhalten. <?page no="172"?> 172 6 Management, Führung und Strategie Mit diesen Erfolgszurechnungen werden die Manager*innen zugleich innerhalb und außerhalb der Organisation als sozialstrukturell hervorgehobene Zurechnungspunkte sichtbar und bekommen neben der Unternehmerschaft einen eigenen Stellenwert als Sozialfiguren, denen man in den Medien — im schnellen Wechsel — gleichermaßen Helden- und Schurkeneigenschaften zuschreibt. Wir interessieren uns daher im letzten Abschnitt dieses Kapitels für das Management als sozialstrukturell hervorgehobenes Personal innerhalb von Organisationen. 6.3 Manager*innen - Person und Personal Wie Kapitänleutnant Bligh als Offizier im Auftrag der britischen Krone zur Trägerschicht gesellschaftlichen Wandels in England gehörte, so bilden heute Manager*innen und Unternehmer*innen in modernen Arbeitsgesellschaften eine der Trägerschichten sozialen Wandels. Ihre Positionen sind durch hohe Einkommen und steile Karrieren sozial hervorgehoben. Sie kontrollieren die Allokation knapper gesellschaftlicher Ressourcen. Durch Funktion, Vermögen und Position gehören sie zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Eliten und sind - ob sie wollen oder nicht - zu Taktgeber*innen organisationalen Wandels geworden. Max Weber, aber auch Werner Sombart und Joseph Schumpeter hatten schon früh auf die Folgen der Modernisierung der Organisation für Unternehmer*innen und Manager*innen aufmerksam gemacht. Der »bürgerliche Betriebskapitalismus« (Weber 1904/ 88: 10) aber, so sahen es nach Weber auch Schumpeter (1942/ 93) und Chandler (1962/ 84; 1980), habe sehr schnell die »überlegene Bastion« des Unternehmertums geschliffen (vgl. Schumpeter 1942/ 93: 213 ff.). Hinter der Entwicklungsdynamik der modernen rationalen Organisation blieben aber nicht nur die Unternehmer*innen, sondern auch die immer häufiger an ihre Stelle rückenden Manager*innen zurück. Mit der Entwicklung der Großunternehmen, so Chandler/ Daems (1979) u.a., ersetzte zwar die sichtbare Hand der Manager*innen die unsichtbare des Marktes 81 , aber sofern Manager*innen über eine bloße Verwalterrolle hinaus Profil gewinnen wollten, stand ihnen (wie zuvor den Unternehmer*innen) die bürokratisierte Organisation mit ihren verbindlichen formalen Regeln entgegen. Der »heroische Anspruch« organisationaler »Führer*innen« erwies sich ihres Erachtens durch die verwissenschaftlichte Organisation als obsolet. 81 Am Beispiel der Eisenbahnen zeigte Chandler, wie die schwierigen Koordinationsprobleme die Etablierung einer Managerhierarchie erforderlich machten. Die Frage der »Efficient Boundaries« (Williamson 1990) und der »Organizational Economy« wurde zugunsten der Mechanismen hierarchischer Koordination entschieden. Große, managerkoordinierte Unternehmen ersetzten nun Marktbeziehungen, die sichtbare Hand des Managements die unsichtbare des Marktes (Chandler 1977; Williamson 1990, S. 238 ff.; Kocka/ Siegrist 1979 u.v.a.). <?page no="173"?> 6.3 Manager*innen - Person und Personal 173 Klassische Autoren wie Weber, Sombart und Schumpeter hatten in Bezug auf die Durchsetzung verwissenschaftlichter Organisationsformen der Arbeit zwar recht, überbetonten jedoch deren Perfektion. Denn gerade deren Unbestimmtheiten und Unsicherheiten schaffen bis heute Raum für hervorgehobene Individualität und eine Projektionsfläche für heroische Inszenierungen von Unternehmer*innen und Manager*innen. Zum einen stießen die anhaltenden Bestrebungen zur Rationalisierung der Organisation von Arbeit innerhalb von Unternehmen immer wieder an die Grenzen der Technisierung sozialer Beziehungen und der Prognostizierbarkeit von Entwicklungen in sozialen Systemen. Zum anderen trug die strukturelle Kopplung der Organisationen an volatile Märkte deren Unbestimmtheiten in die Unternehmen hinein. Das Management konnte dabei den Mythos der in den Hintergrund tretenden Unternehmer*innen für sich nutzbar machen, um sich in dieser Situation zu profilieren (siehe auch Kap. 5.1). »Die Trennung von Management und Eigentum«, so Staehle, »hat den Manager als Vertreter einer neuen Berufsgruppe, eines neuen sozialen Standes, hervorgebracht« (Staehle 1994: 10). Dies gelang trotz der Tatsache, dass der Zugang zu Vorstandspositionen in Deutschland und Europa durch Profession und Ausbildung nicht fachspezifisch geschlossen ist. Man muss weder Management noch Unternehmertum studiert haben, um Manager*in oder Unternehmer*in werden oder die Bezeichnung führen zu können. Jede*r kann sich daher Unternehmer*in und/ oder Manager*in nennen oder sich als solche*r verstehen. Daher ist es sinnvoll, in formaler Weise Manager*in und Unternehmer*in anhand ihrer Positionen zu unterscheiden. Ein*e Unternehmer*in ist, anders als ein*e Manager*in, selbstständig und gehört nicht zum Personal des Unternehmens. Er oder sie ist durch Gründung oder Übernahme Mit- oder Haupteigentümer*in eines Unternehmens und ggf. in dieser Position geschäftsführend und nicht einfach austauschbar. Der*die Manager*in hingegen ist eine vom Unternehmen angestellte Person, welche qua Position mit Führungs-, Koordinations- und Kontrollaufgaben in der Organisation betraut ist, und gehört damit zum Personal der Organisation. Aus institutionentheoretischer Perspektive ist es dabei bemerkenswert, dass diese Offenheit durch eine fehlende professionspolitische Schließung nicht dazu geführt hat, dass Manager*innenkarrieren ausschließlich an der im Berufsalltag erbrachten Leistung orientiert sind. Vielmehr spielen hohe formale Bildungsabschlüsse oder exzellente Bildungsstätten für die Rekrutierung des Managementpersonals in der Wirtschaft ebenso eine Rolle wie Faktoren sozialer Herkunft. In den meisten Ländern ist es keineswegs so, dass weitgehend unabhängig von der sozialen Herkunft ähnliche Karrierechancen für die meisten Schichten bestehen, wie dies die Unternehmen und <?page no="174"?> 174 6 Management, Führung und Strategie ihre Personalabteilungen propagieren. 82 Da die individuelle Persönlichkeit auch Entscheidungen beeinflussen kann, so macht auch Luhmann deutlich, kommen in Organisationen nicht formalisierte Rekrutierungs- oder Beförderungskriterien zum Einsatz, die sich an Personenmerkmalen, Patronage oder, wie im Falle des Managements, an Kriterien sozialer Herkunft orientieren (vgl. Luhmann 2000: 292). Der Managementbegriff umfasst demzufolge nicht nur die Funktion, die das Management im Unternehmen erfüllt, sondern bezeichnet auch eine soziale Berufsgruppe mit bestimmten Interessen, biografischen Prägungen und spezifischen Karrierepfaden, die Aufschluss über die gesellschaftlich legitimierbaren Regeln der Eliterekrutierung geben. Infobox 6.3 Die neue »Weltklasse« des Managements Bezogen auf die Karrieren und die Herkunft der Top-Manager*innen hat sich mit der Globalisierungsliteratur die Annahme verbreitet, es habe sich mit den transnationalen Unternehmen auch eine neue globale Elite, eine »Weltklasse« des Managements ausgebildet (Kanter 1996, Robinson/ Harris 2000, Sklair 2001). Dazu haben zum einen die Vorstellungen der Entstehung einer transnationalen Klasse beigetragen (vgl. für eine Zusammenfassung Carroll 2013), zum anderen jene der grenzenlosen Karrieren von Top-Manager*innen (Hall 1976, Arthur 1994). Auch die in Deutschland u.a. von Beck (1997) vertretene These einer Entstehung globaler Eliten fügt sich hier ein. Aber die Ergebnisse der Forschung sind diesen Globalisierungsthesen gegenüber ernüchternd. Die Analyse der Netzwerkbildung der 500 weltweit größten Unternehmen durch interlocking directorates von 1976 bis 2013 hatte bereits für die erste Periode (1976-1996) nur eine moderate Zunahme der Personalverflechtungen durch Aufsichtsratsmandate und für die zweite Periode (1996-2013) gar eine drastische Abnahme auf weniger als die Hälfte der Verflechtungen zum Ergebnis (Carroll 2013; Heemskerk 2016). Carroll konstatiert zudem: »… most corporate networkers remained national in their directorships…« und »… most financial-industrial interlocks, were confined within national boundaries …« (Carroll 2013: 16 f.). Die Suche nach der neu entstehenden transnationalen Klasse hatte zum Ergebnis, dass nationale Muster der Netzwerkbildung immer noch stark sind und dass 82 Die Chance, aus großbürgerlichen Verhältnissen in das Top-Management zu wechseln, ist nach den Ergebnissen von Hartmann (2002, 2008) signifikant höher als bei einer Herkunft aus kleinbürgerlicher Familie. Beim Weg in die Vorstände sind die Söhne des gehobenen Bürgertums doppelt, die des Großbürgertums sogar dreimal so erfolgreich wie jene aus der breiten Bevölkerung (Hartmann 2008: 139). Dabei lässt sich aber auch erkennen, dass eine überproportionale Rekrutierung nach sozialer Herkunft — die Hartmann (2002; 2007) zu Recht konstatiert — nicht so zu verstehen ist, dass eine Form der Elitenreproduktion oder eine Reproduktion des Großbürgertums aus den Top-Management- oder Top- Unternehmer-Positionen das dominante Strukturmuster darstellt. Zieht man die Anteile von Manager*innen heran, deren Väter Elitepositionen bekleideten — also selbst Vorstände von Großunternehmen, Bankdirektoren, Professoren, Richter oder Ähnliches waren — so ist dieser Anteil der Elitenreproduktion relativ gering (Pohlmann/ Bär 2011). <?page no="175"?> 6.4 Zusammenfassung 175 grenzüberschreitende Bande vor allem zwischen Konzernen aus Europa und Nordamerika geknüpft werden (siehe auch Sapinski/ Carroll 2018; Valeeva et al. 2020; Huijzer/ Heemskerk 2021). Auch in Bezug auf die Internationalisierung der Manager*innenkarrieren zeigten verschiedene internationale Studien (Hartmann 2007, 2015, 2016, 2018, 2020; Pohlmann 2009; Pohlmann/ Lim 2014; Minssen 2009, 2019; Mense-Petermann/ Wagner 2006; Mense-Petermann et al. 2013; Park/ Mense-Petermann 2014; Spiegel et al. 2019 etc.), dass die Internationalisierung des Managements in Deutschland, Europa, Ostasien und in den USA mit wenigen Ausnahmen nicht der forcierten Internationalisierungsdynamik der Unternehmen folgt. Die Globalisierung des Managements findet also in Form einer forcierten Entsendedynamik statt, bei welcher die Karriere nach wie vor überwiegend im global operierenden Mutterkonzern vollzogen wird (Pohlmann/ Lim 2014). 6.4 Zusammenfassung Dieses Kapitel zeigt, worauf sich die Soziologie der Organisation bezieht, wenn sie Management thematisiert: auf eine Funktion in der Organisation, auf so bezeichnete Führungspositionen und auf die Personen, die diese Stellen besetzen. Während mit dem Wort »Management« im Alltag sehr viel Verschiedenes verbunden wird, haben wir entlang von drei Theorieansätzen das Managementverständnis in der Soziologie konkretisiert: In der Theorie rationaler Wahl erscheint Management als das an Nutzenmaximierung orientierte Setzen von Anreiz- und Sanktionsstrukturen, um Prinzipal-Agenten-Probleme beim korporativen Akteur zu vermeiden. In der Institutionentheorie wird diese Perspektive ergänzt und Management als eine gesellschaftlich anerkannte, als rational ausgewiesene Form der Leitung von Organisationen verstanden. Die Systemtheorie thematisiert hingegen Management als das Setzen von Entscheidungsprämissen durch Entscheidungsträger*innen, die als solche in die Evolutionsdynamik des Entscheidungssystems eingehen, ohne dieses determinieren zu können. Von diesen Perspektiven ausgehend haben wir uns dann auf ein soziologisches Verständnis von Führung und Strategie konzentriert. In Abgrenzung von der einseitigen, auf den Führungsanspruch der Vorgesetzten bezogenen Typisierung von Führungsstilen haben wir deren Wechselseitigkeit betont und den darauf verweisenden Autoritätsbegriff ins Zentrum des soziologischen Führungsverständnisses gestellt. So bekommt man, wie am Beispiel der Meuterei auf der Bounty zu sehen war, auch einen Zugang zur Erklärung von Führungsproblemen. Führung findet demnach von beiden Seiten ausgehend statt (von den Vorgesetzten und von den Mitarbeitenden) und erst im Zusammenspiel von wechselseitigen Erwartungen und Verpflichtungen ergibt sich der Führungsstil. Auch den Strategiebegriff haben wir nicht nur als Verfolgung und Umsetzung langfristiger Ziele gefasst, sondern an »Strategien«, so haben wir gesagt, kann man auch die Art und Weise ablesen, wie Organisa- <?page no="176"?> 176 6 Management, Führung und Strategie tionen ihren bisherigen Erfolg begründen. Wie immer fiktional diese Zurechnungen sein mögen, sie geben in der Organisation Sicherheit. Mit diesen Erfolgszurechnungen ebenso wie mit ihren Gehältern und schillernden Karrieren bekommt man Manager*innen dann als soziale Schicht in den Blick — mit dem Ergebnis, dass sie neben der Unternehmerschaft einen eigenen, gesellschaftlich herausgehobenen Stellenwert bekommen haben und sich gehobene Schichten auf ihren Positionen reproduzieren. Übung zu Kapitel 6: Führung und Strategie in Veränderungsprozessen Dass das im Rahmen des Kapitels bereits eingeführte Beispiel der Meuterei auf der Bounty auch in der heutigen Zeit als Lehrstück für das Verständnis von Führung und Management gelten kann, verdeutlicht die folgende Fallstudie. Der junge Manager Thomas Weber ist nach Abschluss eines MBA an einer renommierten europäischen Business School bereits einige Jahre in verschiedenen leitenden Positionen eines weltweit agierenden Gesundheitskonzerns tätig. Aufgrund eines mehr oder minder glücklichen Zufalls — sein Vorgänger fällt wegen gesundheitlicher Probleme aus — wird der »High Potential« als Projektleiter einer Firmenintegration mit der späteren Übernahme der Führungsposition vorgeschlagen. Seine Erfahrung und Ausbildung prädestinieren ihn für diese Herausforderung. Er entscheidet sich, den Job anzunehmen, obwohl er dafür mehrere Jahre nach Taiwan muss. Das neue Unternehmen — Elba — ist ein traditionsreiches deutsches ehemaliges Familienunternehmen, das nach erfolgreichen Jahrzehnten aufgrund interner und externer Probleme in der jüngsten Vergangenheit zu kämpfen hatte. Der neue Mutterkonzern aus Taiwan avisiert ehrgeizige Wachstumsziele. In der ersten Vorstandssitzung analysiert Weber präzise die Defizite des Unternehmens, prä- Kapitel 6: Fragen zur Vertiefung Worin unterscheidet sich ein soziologisches Verständnis von Führung von der Führungsstildiskussion, wie sie in der Betriebswirtschaftslehre geführt wird? Welches sind die Argumente, die eine systemtheoretische Sicht gegen die Vorstellung einer »Steuerung« der Organisation durch das Management bereithält? Welche Folgen hat es für die Sozialstruktur einer Gesellschaft, dass Manager*innen Spitzengehälter realisieren und wie könnte sich dies auf das Führungsgeschehen in einer Organisation auswirken? <?page no="177"?> 6.4 Zusammenfassung 177 sentiert seine strategische Vorstellung und stellt die Erwartungen des neuen Mutterkonzerns vor — eine Präsentation wie aus dem Lehrbuch, so könnte man meinen. Er spricht die Fehler offen an und nennt die Stellen beim Namen, von denen er sich verspricht, dass sie Verantwortung für ihre Fehler übernehmen. Dem indirekten Managementstil des taiwanesischen Unternehmens entspricht dies gar nicht. Die Führungsmannschaft, insbesondere die älteren Kräfte, quittieren die Ausführungen mit Zurückhaltung. In den folgenden Wochen verbessert sich das Klima im Managementteam zusehends. Trotzdem bleibt Weber skeptisch. Jeden Morgen um neun Uhr gibt es Manager*innenmeetings, aber die großen Probleme kommen dort nicht auf den Tisch. Wenn man merkt, dass es in einen Konflikt ausartet, heißt es: »We discuss it after that meeting.« Es wird solange gesprochen und diskutiert, bis alle Seiten damit leben können. Das dauert manchmal unnötig lange und führt nach Webers Erachten zu nichts. Aus seiner Sicht sind die Entscheidungsprozesse in Taiwan zu langwierig und viele der Führungskräfte und Mitarbeitenden zu sehr in »alten Zeiten« verhaftet. Dem Unternehmen fehlt der nötige Antrieb, um neue Innovationen auf den Markt zu bringen und so den ehrgeizigen Zielen der neuen Eigner zu genügen. Weber nutzt die folgenden Vorstandssitzungen, um zahlreiche Vorschläge zu machen. Er führt Gespräche mit den einzelnen Verantwortlichen, um sie auf die neuen Herausforderungen einzuschwören, doch vieles verläuft im Sand. In der nächsten Vorstandssitzung wird Weber sehr deutlich und fordert endlich Ergebnisse. Am Tag nach der Veranstaltung wird ihm von einem jungen ambitionierten Mitarbeiter zugetragen, dass sich seine Führungsmannschaft am Vorabend nach der Veranstaltung in hitzige Debatten über ihn verstrickt hatte. Sie planten bereits, ihn bei der Konzernleitung in Verruf zu bringen und so seine Absetzung zu betreiben. 1. Worin liegen die Führungsprobleme von Weber begründet? 2. Wie werden seine strategischen Gestaltungsimpulse möglicherweise aufgenommen und verarbeitet? Welche Theorie bietet sich dabei für eine Analyse an? Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Quellen Alexander, Caroline (2004), Die Bounty: Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty, Berlin: Berlin-Verlag. Arthur, Michael (1994), The boundaryless career: A new perspective for organizational inquiry. In: Journal of Organizational Behavior 15, S. 295-306. Baecker, Dirk (1994), Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin: Merve. 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Die kulturellen Errungenschaften der tahitianischen Gesellschaft, welche die Matrosen zuvor so sehr bewegt hatte, wurden jedenfalls von diesen schnell aufgegeben. In dieser außergewöhnlichen Umgebung, im Mikrokosmos des Insellebens, kamen vielmehr hintergründige »Kulturbestände« und »Wissensvorräte« zum Tragen (vgl. dazu Schütz/ Luckmann 1979/ 94; Habermas 1995), welche die Situation für alle Beteiligten unerträglich werden ließ. Leitbeispiel 7.1: Ordnungs- und Organisationsformen im Paradies - Die Meuterer und der Kampf der Kulturen Neun Seeleute flohen zusammen mit sechs männlichen Tahitianern, 12 tahitianischen Frauen und einem Baby weiter auf die unbewohnten Pitcairn-Inseln. Hier konnten sie von vorne anfangen. Sie waren scheinbar frei darin, welche Ordnung sie sich gaben. Essen und Trinken gab es reichlich, auch für „weibliche Gesellschaft“ und Unterhaltung war gesorgt. Welche soziale Ordnung etablierte sich nun in dieser eigentlich »paradiesischen« Situation? Es war eine, von der Kultur der Matrosen dominierte Ordnung, nur in viel schlimmerer Ausprägung als jene der britischen Krone. Zwar wurde die Rangordnung der In diesem Kapitel erfahren Sie was die Soziologie unter Organisationskultur versteht, wie sich Veränderungen der Organisationskultur denken und gestalten lassen, was Change Management so schwierig macht. <?page no="188"?> 188 7 Organisationskultur britischen Marine aufgehoben 83 , aber schnell setzte sich das Denken in Kategorien des Privatbesitzes durch. Die tahitianische Kultur des Gemeineigentums hatte keine Chance, sich zu etablieren. Das Land der Insel wurde von den Matrosen in Parzellen auf- und zugeteilt. Dasselbe galt für die Frauen. Auch sie wurden wie Objekte zugeteilt und im Streitfalle verlost, wobei erst die britischen Seeleute versorgt wurden, bevor die tahitianischen Männer zum Zuge kamen. Mit der in der tahitianischen Kultur üblichen sexuellen Freizügigkeit sowie einer fast »klassenlosen« Gesellschaft war es sofort vorbei. Die kulturellen Regeln einer weitgehend kontrollierten, männlich dominierten Monogamie hielten Einzug. Dabei wurden die tahitianischen Frauen und Männer faktisch versklavt. Obwohl sich unter den tahitianischen Männern der Sohn eines Häuptlings befand, zwang man ihn mit Gewalt zur Sklavenarbeit. Das tahitianische Geben und Nehmen wurde von Ausbeutung und Sklaverei abgelöst, Gemeineigentum wurde in Privateigentum umgewandelt und auch Klassenunterschiede sowie Sexismus und Rassismus etablierten sich schnell in dem kleinen Südseeparadies. Es gab keinen anerkannten Gesellschaftsvertrag, keine Magna Charta und damit keine grundlegenden Rechte und Ansprüche, welche den Matrosen Einhalt gebieten konnte. Die Schatten der Vergangenheit und der Kultur der Matrosen hatten die Pitcairn-Gesellschaft schnell eingeholt. Die Meuterer fielen auf viel schlechtere kulturelle und gesellschaftliche Standards zurück, als sie auf der Bounty, oder in England selbst, jemals bereit gewesen wären, zu erdulden. Aus dem Südseeparadies entwickelte sich in den Händen der Meuterer eine schwer erträgliche Gesellschaftsform mit wenig paradiesischen Zügen und gravierenden Folgen. Was in jedem Bounty-Film ausgeblendet wird, ist denn auch das spätere Schicksal der Meuterer. Von den neun britischen Seeleuten auf den Pitcairn-Inseln war nach Ablauf von zwei Jahren nur noch ein Einziger am Leben. Im gleichen Zeitraum waren auch alle tahitianischen Männer verstorben. Mit einer Ausnahme wurden sie allesamt Opfer eines gewaltsamen Todes. Nachdem die Europäer erkennen ließen, dass sie die polynesischen Männer keineswegs als Personen mit Rechten anerkannten, eskalierte die Situation schnell. Eine Revolte der tahitianischen Männer gegen die Meuterer hob an, der ein wechselseitiges Gemetzel folgte. Ihm fielen (mit Ausnahme von John Adams) alle Meuterer, aber auch alle tahitianischen Männer zum Opfer (vgl. dazu u.a. Lummis 2000: 90 ff.). 84 Vordergründig war es ein Kampf um knappe Güter, Konkurrenz und Neid, der die Ordnung der britischen Seeleute auf Pitcairn aus den Angeln hob. Dahinter prallten jedoch zwei sehr verschiedene Kulturen mit gravierenden Folgen aufeinander. 83 Damit war die Gesellschaft der Briten auf der Insel weitgehend führungslos. Dies äußerte sich u.a. darin, dass die Bounty in einem nächtlichen Streich ohne Ankündigung und gegen den Willen der ehemals Vorgesetzten verbrannt wurde. Sie sollte die Meuterer nicht verraten können. Damit war eine sichere Rückkehr ausgeschlossen. 84 Der Letzte der Meuterer lebte mit zahlreichen Frauen und Kindern auf der Pitcairn-Insel, bis diese sehr viel später von einem Schiff der Royal Navy entdeckt wurde. Quelle: Wikimedia Commons, File: Fletcher Christian's house.jpg House of Fletcher Christian, leader of mutiny on Bounty, Pitcairn Island, 19 th Century, Author unknown <?page no="189"?> 189 Vieles an dieser Geschichte erinnert an einen Rückfall in den von Thomas Hobbes beschriebenen »Naturzustand«, in dem der Mensch »des Menschen Wolf« ist (vgl. Hobbes 1651/ 1980: 114 ff.). Doch hier ist nicht so sehr der Wegfall zivilisatorischer oder kultureller Standards spannend, sondern ihr Fortbestand. Selbst wenn die Meuterer in bester Absicht einen kompletten Neuanfang hätten wagen wollen, es wäre ihnen kaum gelungen, ihre kulturelle Sozialisation wie einen Mantel abzulegen. Sie fielen in dieser Grenzsituation (auch gegenüber ihren eigenen Visionen von einem besseren Leben und einer besseren Ordnung) auf sehr einfache Standards zurück, wie Dinge zu tun und zu sehen sind. Die Diskrepanz zu ihrer Herkunftsgesellschaft ist frappierend: Ihnen fehlten in dieser extremen Situation gesellschaftliche Institutionen, die ihnen mittels Normen und Sanktionen Orientierung hätten geben können. In dem geschilderten Prozess des Zurückfallens auf einfachere Standards tritt die Problematik des Nachwirkens von kulturellen Wissensvorräten und Traditionen deutlich zu Tage. Für die Meuterer gab es keine neue Zeitrechnung, keine historische »Stunde null«; stattdessen reproduzierten sie zentrale Elemente der Ordnung des britischen Empire, ohne jedoch an deren zivilen Standards festzuhalten. Mit diesem selektiven Rückgriff auf überkommene kulturelle Standards spitzten sich die Konflikte innerhalb der Inselgesellschaft dramatisch zu. Zwar konnten sich diese Standards gegenüber der tahitianischen Tradition durchsetzen, doch sie forderten einen Blutzoll, der die männliche Inselgesellschaft beinahe komplett ausgelöscht hat (vgl. dazu ausführlich Lummis 2000: 90 ff.; Pohlmann 2004). Dies Beispiel zeigt, dass sich Kulturen — gerade im Falle eines drastischen Wandels der Lebensverhältnisse — nur sehr langsam ändern und sich gleichsam »unsichtbar« und »hintergründig« reproduzieren. Mit solch langsamem kulturellem Wandel haben in aller Regel auch Änderungsversuche von Kulturen, gerade auch von Organisationskulturen, zu kämpfen. Die Versuche stehen nicht außerhalb der Kultur, die sie ändern wollen, sondern sind selbst ein Teil davon. Die Probleme vieler Veränderungsversuche bei der Generierung einer besseren kulturellen oder gesellschaftlichen Ordnung hängen in einer soziologischen Sichtweise auch damit zusammen, dass sie die unsichtbare Reproduktion von Kultur weder außer Kraft setzen noch effektiv bekämpfen können. Im Falle der Bounty entzündeten sich die Konflikte zwar an Verteilungsfragen, aber im Hintergrund prallten unterschiedliche Traditionen und Kulturen aufeinander, von denen jene für die Reproduktion der Inselgesellschaft Ungünstigere die Oberhand gewann. Edgerton (1994) hat in seiner Analyse von »kranken« Gesellschaften (»sick societies«) gezeigt, dass dies kein Einzelfall ist und sich nicht selten in Kulturen Regeln und Bräuche durchsetzen, die dem Fortbestand der Kultur oder gar der Bevölkerung schaden (vgl. Edgerton 1994). Kulturentwicklung funktioniert nicht einfach nach Kriterien der Nützlichkeit oder des evolutionären Fortschritts, wie es noch die älteren Modernisierungstheorien konzipierten (vgl. z.B. Lerner 1958; Parsons 1966/ 86 und zu dieser Diskussion Knöbl 2001). In den Augen der Kognitionstheorie, der Institutionen- oder der Systemtheorie (siehe weiter unten) wird Kultur viel eher nach gesellschafts- <?page no="190"?> 190 7 Organisationskultur oder organisationseigenen Regeln produziert und reproduziert, die weder zu einer höheren Rationalität noch zu mehr Fortschritt führen müssen. Da die Frage der Gestaltbarkeit von Kultur sowie nach der Durchsetzungsbarkeit von als vorteilhaft erscheinenden kulturellen Errungenschaften zentral für jede Kulturtheorie ist, kann man diese auch danach unterscheiden, wie sehr sie die gezielte Veränderbarkeit von Kultur für möglich halten, wie sehr sie Kulturentwicklung an kollektive und eigendynamische Wandlungsformen knüpfen und ihren Kulturbegriff daran ausrichten. Dies gilt auch für die Soziologie der Organisation. Ein Teil der Autoren betrachtet »Kultur« als eine Variable, welche zum Nutzen der Organisation gezielt verändert werden kann. Bei den anderen bezieht sich der Begriff auf kollektiv verankerte Deutungs- und Handlungsweisen, die sich nur kollektiv und nach eigenen Regeln, aber nicht von einzelnen Akteur*innen geplant verändern lassen. Die Beschäftigung mit Organisationskultur ist für uns dabei nicht so sehr eine Frage von Definitionen (die in ihrer Vielfalt eine passende Formel für jeden Zweck bereithalten und somit für sich betrachtet kaum Orientierung bieten), sondern von einer ausgeführten soziologischen Theorie. Wir werden uns daher wieder auf die für uns wichtigen Theorieansätze rückbesinnen. Sie sollen uns auch hier helfen, einen soziologischen Zugang zum Thema der Organisationskultur zu finden. Allerdings werden wir diesmal die Theorie rationaler Wahl Colemans nur streifen (7.1), da sie uns für das Thema der Organisationskultur nicht so einschlägig scheint, wie jene kognitionsorientierte Theorie Karl Weicks (1969/ 98). Im Zentrum steht daher die Betrachtung der neuen Institutionentheorie (7.1) und der Systemtheorie (7.1) sowie von Weicks Perspektive (7.2), anhand derer wir das jeweilige Verständnis von Organisationskultur und die Antwort auf die Frage nach den Chancen eines Veränderungs- oder »Change Managements« innerhalb der Organisation herausarbeiten (7.3). 7.1 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regeln, die sich der gezielten Veränderung entziehen? Wie diese Theorien mit dem Thema Kultur umgehen, wollen wir im Folgenden wiederum an einem Leitbeispiel diskutieren, das sich in der Zeit der asiatischen Finanzkrise in Südkorea ereignete. Leitbeispiel 7.2: Unausgesprochene Kündigung in Südkorea Ein junger koreanischer Geschäftsführer eines großen Automobilzulieferunternehmens vollzog während der asiatischen Finanzkrise als Morgengabe für seinen Präsidenten eine Verschlankung des Unternehmens im Geiste des Lean Managements. Die Entscheidungsstrukturen wurden zwar nicht verändert, aber das mittlere Management sollte abgebaut werden. Bei seinem Amtsantritt richtete er daher eine »Taskforce« bestehend aus 25 überwiegend jüngeren, mittleren Manager*innen und Führungskräften ein, der er jedoch keine Aufgaben zuwies. Damit war die unausge- <?page no="191"?> 7.1 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regeln? 191 sprochene Erwartung verbunden, dass diese im Laufe eines halben Jahres das Unternehmen verlassen würden. Gesprochen wurde darüber kein Wort. Und tatsächlich hatten nach einem halben Jahr 20 von 25 Führungskräften das Unternehmen verlassen. Fünf der Angestellten weigerten sich jedoch. Sie saßen noch ein Jahr später in leeren Büros ohne jedes Mobiliar und bar jeder Tätigkeit. Sie mussten sich Tag für Tag stehend oder gehend in den leeren Räumen die Zeit vertreiben. In der Belegschaft waren sie nur noch geduldet und wurden von jeder formalen wie informalen Kommunikation ausgeschlossen. Gleichwohl war ihr Fall nun in der Belegschaft Diskussionsgegenstand Nummer eins und die Richtigkeit der Maßnahme ebenso umstritten wie die neue, an asiatischen Werten orientierte, vom Management proklamierte Unternehmensphilosophie (vgl. dazu Pohlmann 2002; 2004). Ein praxisnaher Zugang zur Thematisierung der Organisationskultur bietet das Kulturmodell von Schein (1992) an. Es ist in der Organisationspsychologie verankert und spielt in den Studien zum »Organizational Behavior« sowie in der Betriebswirtschaftslehre eine wichtige Rolle. Wie auch in der Praxis der Unternehmen wird Kultur hier als Variable gesehen, die man zur Verbesserung der Gewinnsituation des Unternehmens gezielt ausrichten und gestalten kann. Für Edgar Schein (1992) bezieht sich die Organisationskultur auf »die Gesamtheit gemeinsam geteilter Grundannahmen, Werthaltungen, Normen und Orientierungsmuster« von Menschen in einer Organisation. Sie werden in Organisationen zur äußeren Anpassung und inneren Integration entwickelt und an neue Mitglieder weitergegeben (Neubauer 2003: 22). Für Schein ist Kultur nichts Abstraktes, sondern gehört zu einer »Gruppe« von Menschen, die diese Kultur durch ihre gemeinsamen Erfahrungen und Lernprozesse weiterentwickelt. Besonders in der Gründungsphase einer Organisation gibt die Führung Handlungsanweisungen vor, die zur äußeren und inneren Stabilität der Organisation beitragen sollen. Werden diese von den Mitarbeitenden des Unternehmens in dieser Form befolgt, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sich daraus bestimmte Überzeugungen und Werte etablieren, die für diese Gruppe spezifisch sind und die Gruppe gewissermaßen auszeichnen. Nur unter Berücksichtigung von drei Ebenen - der Artefakte, der bekundeten Werte sowie der Grundannahmen - kann die Kultur einer Organisation für Schein angemessen aufgeschlüsselt werden. Infobox 7.1: Cultural Fit - Die betriebswirtschaftliche Perspektive Fusionen von Unternehmen werden zwar häufig vorgenommen, aber sie führen nach verschiedenen Untersuchungen in der Mehrzahl nicht zum ökonomischen Erfolg (vgl. nur Claasen et al. 2019; Renebog/ Vansteenkiste 2019; Tampakoudis/ Anagnostopoulou 2019 u.v.a.). So zeigte eine frühe Analyse der Effekte von Fusionen und Unternehmensübernahmen in Europa und Deutschland durch Gugler et al., dass Fusionen im Durchschnitt weder zu Gewinn- oder zu Umsatzsteigerungen führten noch zu einer Erhöhung des Marktwertes der Unternehmen. Der Marktwert der <?page no="192"?> 192 7 Organisationskultur Unternehmen sank vielmehr in über 60% der Fälle (Gugler et al. 2003). Und Malmendier et al. (2012) zeigen daran anschließend in einem Vergleich zwischen den Gewinnern und Verlierern im Wettbewerb (»bidding contest«) um den Erwerb eines Unternehmens: »We find that winner and loser returns are closely aligned in the years before the contest, but diverge afterwards: Winners underperform losers by 50 percent over the following three years.« In der reichhaltigen betriebswirtschaftlichen Literatur bzw. der Literatur aus dem Bereich des »Organizational Behavior« zum Thema wird konstatiert, dass es bei Unternehmensfusionen vor allem auf die Art und die Geschwindigkeit der Integration, die strategische Passförmigkeit sowie den »Cultural fit« der Unternehmen ankomme (vgl. Bauer et al. 2014; 2016; Steigenberger 2016; Dauber 2012; Koo 2012; Lee et al. 2015; Appelbaum et al. 2009; Savocíc 2017; Kretschmer/ Dehne 2020 u.v.a.). Diese Variablen bestimmen den ökonomischen Erfolg von Unternehmensfusionen. Dabei ist bemerkenswert, dass mittlerweile auch in dieser Literatur der nationalen sowie der Unternehmenskultur ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Oft wird die These formuliert: Je größer der »Cultural Fit« zwischen den Unternehmen, desto ökonomisch erfolgreicher ist die Fusion (vgl. Bauer et al. 2014: 273). Im Vordergrund steht immer die Frage, wie die Integration der Unternehmen gestaltet werden muss, um kulturelle Differenzen gewinnbringend nutzen zu können (vgl. Bauer et al. 2014: 283 f.; Savocìc 2017: Kretschmer/ Dehne 2020). Diese Prämisse der Gestalt- und Veränderbarkeit der Organisationskultur teilt auch Colemans Theorie rationaler Wahl. Unter »Organisationskultur« lässt sich nach Coleman verstehen: eine Form der Identifikation der Akteur*innen mit der Organisation, deren Interessen sie sich zu eigen machen und deren normative Ordnungen sie verinnerlichen. Sie erscheint in dieser Perspektive durch die Organisation oder deren Management gestaltbar und hilft, hintergründige Prinzipal-Agenten-Probleme zu lösen. Für die Theorie rationaler Wahl ist zum einen klar, dass Körperschaften starke Identifikationen hervorrufen können. So ist es in unserem Beispiel das Ziel des jungen koreanischen Präsidenten, mit der neuen Unternehmensphilosophie die »Corporate Identity« des Unternehmens zu stärken. Eine solche Internalisierung der Interessen der Körperschaft verschaffe dieser mehr Kontrolle (vgl. ebd.: 249) und dem*der Akteur*in zugleich persönlichen Nutzen (vgl. ebd.: 253). Zum anderen entstehen in Körperschaften mit der Übertragung von Handlungsrechten der Individuen auf den korporativen Akteur normative Ordnungen, inklusive ungeschriebener Regeln, Anstandsfragen, Bräuchen und Konventionen etc. (vgl. Coleman 1991: 332). Auch diese normativen Ordnungen sind gestaltbar, allerdings immer rückgebunden an den Konsens bzw. ihre Geltung in der Organisation. Im Konfliktfalle kann es zur kollektiven Hinterfragung der herrschenden Ordnung und damit auch zum Herrschaftsentzug kommen, aber dieser setzt ein bestimmtes Maß an Beteiligung der anderen Belegschaftsmitglieder voraus, die in unserem Beispiel erkennbar nicht zustande kommt. Aus der Perspektive des neuen Institutionalismus zeigt das koreanische Beispiel zudem, wie sich der junge koreanische Geschäftsführer westlicher Führungs- und Managementkonzepte für einen formalen Rationalitätsausweis bedient. Sie werden je- <?page no="193"?> 7.1 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regeln? 193 doch an Rationalisierungsinteressen geknüpft und in ihrem Rationalitätsversprechen offen unterlaufen, was ihre Legitimität unterhöhlt. So wird die geplante Personalreduktion nicht, wie beispielsweise im schnell herbeizitierten »Lean Management-Konzept« vorgesehen, mit einer Veränderung der Entscheidungsstrukturen verbunden. Er macht sich zwar mit der »Verschlankung des Managements« ein weltweit etabliertes Rationalisierungskonzept der 1990er-Jahre zu eigen 85 , jedoch nur, um die vorgesehenen Entlassungen oberflächlich zu kaschieren. Diese »Leistung« wird noch durch die Einführung einer »Taskforce« 86 überboten, der keine Aufgaben zugewiesen werden. Er versucht damit nicht nur, sein Vorgehen auf ungeschriebene Harmonieregeln der koreanischen Kultur zu stützen, sondern auch eine darauf basierende Organisationskultur ins Spiel zu bringen. 87 Diese sorgt für einen organisationsspezifischen Zuschnitt der unausgesprochenen Erwartungen und Regeln. Der junge Geschäftsführer formuliert einen Autoritätsanspruch als Präsident und eröffnet im Gegenzug der anderen Seite, selbst zu gehen und so ihr Gesicht zu wahren. Doch die ungeschriebenen Regeln der Organisationskultur, auf die der Geschäftsführer anspielt, finden im Unternehmen nicht mehr durchgehend Anerkennung. Sie waren Teil einer »hidden agenda«, welche in dieser Firma zum Streitpunkt wurde. Die Rationalitätsfassade des schlanken Managements, die nur durch die ungeschriebenen Regeln der Organisationskultur aufrechterhalten werden konnte und (im unausgesprochenen Einverständnis in der Organisation) nie mehr als Fassade sein sollte, bröckelte mit den fünf widerständigen Angestellten für alle Mitarbeitenden sichtbar. Erst die ungeschriebenen Handlungs- und Deutungsregeln der Organisation sorgen also in dieser Sichtweise für die Institutionalisierung von angeeigneten oder überkommenen Rationalitätsmustern und damit dafür, wie weit Rationalitätsfassade und tatsächliches Operieren der Organisation entkoppelt werden können. Sehr deutlich wird hier, womit man es zu tun hat, wenn Organisationskulturen ins Spiel kommen: Mit hintergründigen Erwartungen, ungeschriebenen Regeln und Werten, die nicht offen angesprochen werden. Die neue Institutionentheorie interessiert sich hier — sofern sie an Meyer/ Rowan orientiert argumentiert — vor allem für das 85 Dies ist ein Konzept, das einer westlichen Deutung japanischer Produktionskonzepte aus den 1980er-Jahren entstammt. Dessen Aneignung, im Verbund mit den Rationalisierungsinteressen der westlichen Industrie, haben in den 1990er-Jahren zu einer Welle der »Verschlankung« des mittleren Managements und des »Downsizing« im Sinne des Schlagworts »Lean Management« geführt (vgl. u.a. Czarniawska-Joerges / Sev Ó n 1996). 86 Unter einer »Taskforce« kann man eine außerhalb der Organisationshierarchie angesiedelte, nur zeitweise eingerichtete Aufgabeneinheit zur Verfolgung genau bestimmter, oft außerordentlicher Ziele der Organisation verstehen. Mit ihr wird ein westliches, ursprünglich vom Militär übernommenes Organisationskonzept zur Anwendung gebracht. 87 So kommen z.B. implizite Senioritätsvorstellungen ins Spiel, die offiziell längst von der Firmenagenda gebannt waren, aber dennoch ihre Wirkungen entfalteten. Denn für die Autoritätszurechnungen war es sehr wichtig, dass ein junger Präsident mit geringerem Autoritätsvorschuss als der alte diese Maßnahmen durchführte, für ihre Akzeptanz jedoch gleichzeitig, dass von ihr kaum ältere Führungskräfte betroffen waren. <?page no="194"?> 194 7 Organisationskultur Spannungsverhältnis zwischen dem formalen Rationalitätsausweis und den ungeschriebenen Handlungs- und Deutungsregeln der Organisation, die ihre Kultur ausmachen. In der Luhmannschen Perspektive handelt es sich bei diesen ungeschriebenen Regeln der Organisationskultur um eine in der Kommunikation nicht-thematische Aktualisierung von Wertehorizonten (vgl. dazu auch Luhmann 1986, 1997). Man erkennt, wie Wertehorizonte z.B. des Gesichtswahrens, der Harmonie sowie der Anerkennung von Autorität unterstellt und in dieser Unterstellung zunächst rekursiv verfestigt werden. Der junge Manager spielt (z.B. in Form der Entscheidung über die Einrichtung einer »Taskforce«) auf diesen gemeinsamen Wertehorizont als Basis der Kommunikation an, ohne natürlich wissen zu können, ob er ihn als »geltend« oder »unumstritten« voraussetzen kann. Er kann dies jedoch keinesfalls zum Thema machen, ohne die Kommunikation zu sehr zu belasten und die »Harmonie«, auf die er anspielt, zu zerstören. »Harmonie« ist ein abstrakter kultureller Wert und wäre, wenn man ihn thematisieren würde, in der koreanischen Firma wahrscheinlich mit äußerst widersprüchlichen Deutungen versehen. Nur die Anspielung und die Behandlung als Nicht- Thema in der Kommunikation, so Luhmann, schaffen einen Deutungs- und Handlungshorizont, der die Entscheidungen orientiert, ohne diese zu determinieren (vgl. dazu auch Luhmann 1986, 1997: 341). Deswegen bezeichnet Luhmann die »Kultur« der Organisation als einen Komplex von unentscheidbaren Entscheidungsprämissen. Der Einfluss der Organisationskultur erscheint in dieser Theorie dann als einer, der — neben offensichtlichen Stereotypen, Symbolen und Abgrenzungen — oft hintergründig und unsichtbar den Horizont des Organisierens bestimmt. Mit unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als den Elementen von Organisationskulturen sind also auch Erwartungshaltungen angesprochen, die als »gemeinsame« unterstellt werden und, das ist der zweite wichtige Aspekt, unhinterfragt Entscheidungen orientieren (vgl. Luhmann 1997: 799). Das Ansprechen solcher latenten Entscheidungsvoraussetzungen ist nur in seltenen Fällen möglich und kann sogar kontraproduktiv werden, da es sich um normativ geladene Sinnstrukturen handelt, die, einmal aufgedeckt, ihre Wirkungskraft verlieren und für die zeitraubende Austragung von Konflikten in der Organisation sorgen. Entsprechend utopisch wäre es zu hoffen, per Entscheidung alle Mitarbeitenden darauf verpflichten zu können, eine einzige Meinung zu teilen, wenn es sich z.B. um die Außendarstellung der Organisation oder um eine neue Unternehmensphilosophie handelt. Aus diesem Grund sind unentscheidbare Entscheidungsprämissen nur schwer zu beeinflussen. Setzt man dort an, macht man sich unwillkürlich verdächtig und muss mit Widerständen rechnen, da die fraglichen Prämissen die unhinterfragte Wertebasis der Organisation widerspiegeln. Eine gezielte Veränderung der Organisationskultur bedeutet ein In-Frage-Stellen der Werte, die Anhaltspunkte der Kommunikation sind. Tut man dies, muss man mit Chaos, Unsicherheit und einer im besten Fall kurzfristigen Beeinträchtigung der Entscheidungsproduktion rechnen. <?page no="195"?> 7.2 Organisationskultur als Regeln, wie Dinge gesehen werden Das Werk von Karl E. Weick (1969/ 98, 1995) bietet eine ebenso grundlegende Perspektive auf das Thema der Organisationskultur an wie die zuvor behandelten Ansätze, konzentriert sich dabei allerdings in einem kognitionsorientierten Kulturverständnis darauf, wie in Organisationen Dinge gesehen und verstanden werden. Wie sich an dem von Starbuck (1996) beschriebenen Beispiel verdeutlichen lässt, erscheint Weick auch die externe Welt als eine systeminterne Konstruktion der Organisation. Sie wird erst durch Prozesse der Wahrnehmung und Interpretation im Rahmen kulturell geprägter kognitiver Schemata erzeugt. Weicks Begriff des »Sensemaking« spielt genau darauf an (Weick 1995). Die Bedeutung im Prozess des Organisierens entsteht, wenn Signale aus der Umwelt mit den vorhandenen kulturellen kognitiven Schemata angeeignet werden (vgl. dazu auch Hiller 2002: 3). Leitbeispiel 7.3: Starbuck und die schwedische Marine So berichtet William H. Starbuck (1996) über einen Fall, der sich in der schwedischen Marine zugetragen hat. Ab Mitte der 1970er-Jahre beobachtete die schwedische Marine sowjetische Unterseeboote, die sich vor der Küste Schwedens aufhielten. Die schwedische Regierung erhöhte in der Folgezeit die entsprechenden Posten in ihrem Verteidigungsetat, und man brachte schwere Abwehrgeschütze in Stellung. Unterwasserbomben und ferngesteuerte Minen wurden auf die feindlichen U-Boote abgefeuert. Allein im Mai/ Juni 1988 haben neun schwere Feuergefechte zwischen der schwedischen Marineabwehr und den russischen U-Booten stattgefunden. Das schwedische Verteidigungsministerium erweiterte daraufhin die Feuererlaubnis ihrer Kommandeure. Gegen eines der russischen U-Boote eröffneten die Schweden den größten Feuereinsatz, der je von der schwedischen Marine ausging. Der Sprecher des Ministeriums berichtete, dass das feindliche U-Boot entkommen sei. Anhand der Unterwasseraufnahmen ließ sich aber rekonstruieren, dass sich das feindliche U- Boot genau an der Stelle aufgehalten habe, an der es vermutet wurde. Dies sei, so der Sprecher, ein deutliches Zeichen für den hohen Leistungsstandard der schwedischen Marineabwehr, der kontinuierlich verbessert wurde. Dass es in all den Jahren nicht gelang, eines der russischen U-Boote zu vernichten, war nicht überraschend. Quelle: Wikimedia Commons, File: U-359 in Nakskov.jpg, sowjetisches Patroullien-U-Boot der Whiskey-V Klasse (S- 359), aufgenommen im Sommer 2002 <?page no="196"?> 196 7 Organisationskultur Niemand erwartete, dass Schweden mit seinem eher bescheidenen Verteidigungsarsenal dem russischen Goliath Paroli bieten könnte. Die Sowjetunion hingegen wies die schwedischen Proteste wegen Verletzung ihrer Hoheitsgewässer permanent zurück. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Schweden und Russland spielten sich mit großer Regelmäßigkeit (und zwar vornehmlich in der wärmeren Jahreszeit! ) über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren ab. Ihr überraschendes Ende fanden sie mit einer Rede des schwedischen Verteidigungsministers im Februar 1995. Der Minister berichtete, dass die Marine im Jahre 1992 mit neuen hydrophonischen Instrumenten ausgestattet wurde. Der Einsatz dieser Geräte habe zu der Erkenntnis geführt, dass Wale in der Lage seien, ähnliche Laute zu erzeugen wie man sie von Unterseebooten kennt. Es sei durchaus möglich, schlussfolgerte der Minister, dass sich niemals ein sowjetisches Unterseebot vor der schwedischen Küste aufgehalten habe. Eine genauere Untersuchung dieses Falles habe ergeben, dass Robbenexperten schon seit 1987 vermutet hatten, die schwedische Marine jage Wassertiere. Diese Deutungsalternative wurde jedoch von den Spezialisten und Spezialistinnen im Verteidigungsministerium verworfen. Indem Schemata die »Erkundung«, also das Wahrnehmen und Handeln lenken, konstituieren sie den Gegenstand, der wahrgenommen wird (Neisser 1976) - hier die Umwelt der Organisation. Sie dienen dabei nicht nur als Aufmerksamkeitsfilter (zur Selektion auffälliger Vorkommnisse vor der schwedischen Küste etwa), sondern formen das, was als Umwelt, und wie diese Umwelt gesehen wird. So werden die Signale im Falle der Wale oder Nerze nicht nur auf U-Boote zurückgeführt, sondern auch als aggressiver Akt im Freund-/ Feind-Schema westlicher Militärorganisationen verstanden. Die Auswahl der Ereignisse und ihre wiederholte Einordnung in ein etabliertes Interpretationsmuster zeigt auch in diesem Fall, wie sehr Sinnerzeugungsprozesse darauf ausgerichtet sind, bestehende Selbstbeschreibungen aufrecht zu erhalten und zu bestätigen (vgl. dazu ausführlich Hiller 2002: 3). Für Organisationen ist es schwer, bewährte Schemata aufzugeben, weil sie Rechtfertigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, die an die Selbstbeschreibungen anschließen können. Da die Erwartung der schwedischen Marineorganisation darin bestand, dass die Sowjetunion zu feindlichen Übergriffen bereit sei, wurden die Signale aus der Umwelt so interpretiert, dass sie die Erwartung bestätigten (vgl. Hiller 2002: 4). Dies verdeutlicht ein Blick auf die Ursachen, die Starbuck (1996) für den hartnäckigen Irrtum der schwedischen Marine verantwortlich macht. Demzufolge waren sowohl ein Regierungswechsel in Schweden als auch der Zusammenbruch der Sowjetunion Gründe dafür, dass das schwedische Verteidigungsministerium seine Problemwahrnehmung im Jahr 1995 revidierte. Denn die Annahme, dass die Sowjetunion (bzw. seit 1991/ 92: Russland) mit einer hochtechnisierten U-Boot-Flotte Schweden angreifen wolle, verlor nun an Plausibilität. Für die Organisation der schwedischen Marine wurde dies — zusammen mit den Messungen der neuen hydrophonischen Instrumente — als relevantes <?page no="197"?> 7.2 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regel 197 Wissen behandelt, welches einen Wechsel des Deutungsschemas einleitete. Für das Schicksal von Organisationen sind diese oft unsichtbaren Prozesse der Auswahl und Stabilisierung von Deutungsschemata, so Hiller, »vermutlich bedeutsamer als Entscheidungen über Strukturänderungen« (Hiller 2002: 4). Für Weick sind also organisatorische Prozesse nichts anderes als Sinnerzeugung. Von Interesse ist daher der Prozess des Organisierens, nicht die Organisation als solche. Die Organisation ist auf der einen Seite das Ergebnis von Sinngebungsprozessen, auf der anderen Seite schafft sie es vorzüglich, die Mehrdeutigkeit im Prozess der Selektion zu reduzieren. In diesem Sinne ist die Organisationskultur das Ergebnis ähnlicher, durch Prozesse der Deutungsmacht verfestigter kausaler Landkarten, die für die Reduktion der Komplexität und Handlungsfähigkeit sorgen. Organisationskultur ist für ihn also bestimmt durch die Art der Sinngebung im Prozess des Organisierens. Leitbeispiel 7.4: Patient*innentötungen im Krankenhaus „Rettungs-Rambo“ oder „Todes-H.“ waren die Bezeichnungen des für Reanimationskompetenzen geschätzten Pflegers Niels H. Am 6. Juni 2019 wurde H. in 85 Fällen von Patient*innentötungen schuldig gesprochen und zum zweiten Mal zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil am 11. September 2020. H. war von 1999 bis Mitte 2005 als Krankenpfleger in Krankenhäusern in den Städten O. und D. tätig und beging dort zahlreiche Morde, die vermutlich die größte Mordserie in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte darstellen. Insgesamt leiteten die Behörden in 332 Fällen Ermittlungsverfahren wegen Mordverdachts ein. Niels H. brachte Patient*innen mit Medikamenten in lebensgefährliche Situationen, um dann bei deren Reanimation als unverzichtbar zu erscheinen. Weil er unterschiedliche Antiarrhythmika oder auch Kaliumchlorid hoch dosiert verabreichte, blieben die Reanimationen jedoch häufig ohne Erfolg. Denn diese Medikamente selbst können lebensbedrohliche Rhythmusstörungen auslösen. Wie konnten also diese Serienmorde in den beiden Krankenhäusern so lange Zeit unentdeckt bleiben? Wendet man Weicks Theorie bezogen auf die kognitiven Rahmungen und kausalen Landkarten auf diesen Fall an, so wird klar, dass die Tat zunächst als solche erkannt werden muss und nicht unter den üblichen Deutungsroutinen der Organisation verbucht wird. Ein wichtiger Teil der jeweiligen Organisationskultur im Weickschen Sinne ist, dass Menschen Interpretationsroutinen und -gewohnheiten entwickeln, die ihnen helfen, Dinge einordnen zu können, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Diese Rahmen, so auch Goffman (1996), werden oft selbstverständlich und solange aufrechterhalten, bis uns etwas zwingt, Dinge anders einzuordnen: Also wie im Falle H‘s, die <?page no="198"?> 198 7 Organisationskultur Reanimationsursache nicht im Rahmen eines Krankheitsgeschehens zu deuten, sondern als Folge einer gezielten Manipulation zu erkennen. Dieser zunächst alltägliche Konservatismus wird in Organisationen noch gesteigert. Deren hektische Betriebsförmigkeit lässt kollektive Deutungsgewohnheiten entstehen, die sich fest etablieren (siehe nur Hodgson 2008; Goh/ Pentland 2019; Annosi et al. 2020 u.v.a.). Je stärker dabei die Organisationskultur ist, desto stärker rahmen solche Deutungsgewohnheiten den Alltag in Organisationen. Das sorgt regelmäßig für Widerstände, wenn Veränderungen anstehen. Denn die eingespielten Routinen bedeuten für die Angestellten in Krankenhäusern Sicherheit und gewährleisten, dass man sich „blind“ auf jemanden verlassen kann, insbesondere wenn es um Leben und Tod geht. Diese Rahmen werden beibehalten und sorgen dafür, dass die Entdeckungswahrscheinlichkeiten für Patient*innentötungen sinken. Die manipulative Tötung von Patient*innen fällt aus dem Rahmen heraus und wird daher als unwahrscheinlich abgetan. Auf dem Radar der Organisation schrillen die Warnglocken nicht auf. Alles, was aus dem Rahmen fällt, kann schon aufgrund des extremen Zeitdrucks, der hohen Arbeitsbelastung und des existenziellen Drucks keine Beachtung finden — es sei denn, man wird zur Beachtung gezwungen. Dabei ist die Selektivität dessen, was wahrgenommen wird, jedoch stets hoch und sorgt für den kollektiven organisationalen Tunnelblick, der notwendig ist, um alltäglich selbstverständlich operieren zu können. Vor diesem Hintergrund erscheinen Todesfälle nach Re-Animationen Normalität zu sein und erst ihre Häufung kann auffallen. Die „Zuschauenden“ sind — neben den Angehörigen, welche nur den Einzelfall sehen können — selbst Personal, das unter diesen extremen Bedingungen arbeitet. Gleichzeitig ist im Krankenhaus das operative Radar auf lebenserhaltende, heilende Maßnahmen in der Krankenbehandlung und deren Risiken eingestellt. Daran orientiert sich auch das Set an Warnzeichen, die regelmäßige Beachtung finden. Diese „professionelle Deformation“, welche für die Patienten und Patientinnen überlebenswichtig ist, lässt die andere Seite der Unterscheidung: Nicht heilen wollen, abwarten, manipulieren und Leben vernichten, zur Tabuzone werden. Die Professionsorientierung an der Krankenbehandlung ist in der Regel so stark, dass alle Indizien einer Abkehr davon solange ausgeblendet werden, wie sie nicht zur Kenntnis genommen werden müssen. Selbst wenn, wie im Falle der als Wuppertaler „Todesengel“ bekannt gewordenen Michaela R., ein Verdacht entsteht und nach längerem Zögern gemeldet wird, so wird eher an der Glaubwürdigkeit der Beobachtungen gezweifelt als an der professionellen Loyalität der einer Tat Verdächtigten (vgl. zur Erklärung von Patiententötungen auch: Bär 2022; Doberentz et al. 2021; Pohlmann 2021; Starystach/ Höly 2021 u.v.a.). Dabei bringt jeder Prozess eine Art Grammatik ins Spiel, also Regeln und Konventionen dafür, wie Dinge gesehen oder getan und wie z.B. Variablen und Kausalrelationen bestimmt und zugeordnet werden. Organisieren bedeutet für ihn die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer Grammatik der Sinngebung — und Organisationskultur das, was daraus an Sicht- und Handlungsweisen entsteht und sich reproduziert. Diese organisationale Grammatik bringt sinnvolle, für die Handelnden verständliche soziale Prozesse und Strukturen hervor und reduziert somit die verwirrenden Mehrdeutigkeiten und Undurchsichtigkeiten der Welt. Eine solche Grammatik wird durch Konsens oder Einverständnis »gültig« gemacht (Weick 1969/ 98: 12). Sie besteht daher aus kollektiv geteil- <?page no="199"?> 7.3 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regel 199 ten Rezepten oder »Montageregeln«, wie Dinge getan werden sollen und wie Getanes interpretiert werden soll. Der externen Welt kommt also keine eigene, intrinsische Bedeutung zu, sondern sie hat immer nur die Bedeutung, die wir ihr zuschreiben: >>Wir können die äußere Welt nicht anders kennen und mit ihr interagieren als im Rahmen unserer Prozesse der Sinnerzeugung.« (Bonazzi 2014: 365). Diese Sinnerzeugung orientiert sich an »kausalen Landkarten«, die als Teil der Organisationskultur dazu beitragen, neue Reize (Variation oder Gestaltung) nach vorhandenen Schemata zu systematisieren (Selektion), wodurch schließlich unser Verhalten strukturiert wird. Die »kausalen« oder »normativ-kognitiven« Landkarten enthalten Deutungen und Schlussfolgerungen, die sich aus der Perspektive des Handelnden bewährt haben und immer wieder angewandt werden, um das Erfahrene zu verarbeiten und einzuordnen (Retention). 7.3 Organisationskulturen und die Veränderung der Organisation Wenn wir die Frage der Steuerbarkeit von Organisationskultur mit Hilfe von Weicks kognitionsorientiertem Ansatz beantworten wollen, müssen wir uns zwangsläufig abermals mit den Mechanismen der Sinnerzeugung auseinandersetzen. Auf dieser tiefen, unsichtbaren Ebene sollte der Steuerungsprozess beginnen, damit er erfolgreich verläuft. Die bloße Änderung der Unternehmensphilosophie wie im koreanischen Beispiel oder Schulungen und Workshops fürs Personal sind kein Garant für die Gestaltung einer neuen »effektiveren« Unternehmenskultur. Nötig ist ein Gewinn an Deutungsmacht und eine Veränderung der für die Organisation spezifischen kausalen Landkarten, die für eine Handlungsfähigkeit der Akteur*innen im Rahmen der Organisation sorgen. Der erste Schritt wäre also, wie im Falle der Patienten- und Patientinnentötungen, Selbstverständlichkeiten aufzudecken und in Frage zu stellen, die für den Prozess der Sinngebung essenziell sind. Eine Veränderung der Organisationskultur heißt aber auch, dass sich — wie im Falle der schwedischen Marine — neue Deutungsmuster durchsetzen, und ihrerseits den Status von unhinterfragten Tatsachen erreichen. Die Komplexität kognitiver Prozesse in Organisationen macht jedoch eine Kulturveränderung in eine vom Management gewünschte Richtung eher schwierig. Erst durch das Eindringen in die tiefen Schichten der Organisation werden die Prozesse der Kulturproduktion sichtbar. Tut man dies nicht, bewegt man sich nur auf der Oberfläche und verändert etwas anderes — nur nicht die Organisationskultur, denn diese ist lediglich in Ausschnitten thematisierbar (Froschauer 1997). Die Vorbehalte gegenüber der strategischen Steuerung von Organisationskulturen rührt bei Weick daher, dass Kultur in seinem Ansatz keine einheitliche Gestalt annimmt, sie existiert vielmehr als ein Prozess der fließenden Sinnerzeugung in den Köpfen der Organisationsmitglieder. <?page no="200"?> 200 7 Organisationskultur Hinzu kommt, so Weick, dass ein Großteil der mannigfaltigen Inputs in Organisationen »unberührt« bleibt. Der Fall der Patienten- und Patientinnentötungen ist dafür ein tragisches Beispiel. Keineswegs interpretiert die Organisation die im Gestaltungsprozess produzierten Ergebnisse immer so, als ob eine relevante Entscheidung getroffen worden wäre. Erst wenn dies geschieht und Wissen durch die retrospektive Sinngebung der Organisation als relevant ausgewählt wird, hat sich eine Intervention des Managements, eine Beratung oder Organisationsentwicklungsmaßnahme als organisational anschlussfähig erwiesen (vgl. dazu Pohlmann 2002; 2003). Aus den Erkenntnissen, die der neo-institutionalistische Ansatz liefert, ist eine klare Antwort auf die Steuerungsfrage nicht möglich. Er macht uns aber darauf aufmerksam, welche Wechselwirkungen zwischen Organisation und institutioneller Umwelt bestehen und in welchem Umfang sie den Erwartungen aus der Umwelt ausgesetzt sind. Letztere haben einen wesentlichen Einfluss auf das organisationale Geschehen und bedingen dadurch auch den Prozess der Kulturproduktion. Obwohl Organisationen eigene Logiken entwickeln und Erfordernisse von außen rein instrumentell behandeln können, ohne dass damit tiefgreifende organisationale Veränderungen verbunden sein müssen, ist eine direkte Steuerung der Kulturproduktion sehr schwierig. Dies kann geschehen, wenn z.B. Führungspersönlichkeiten für die Institutionalisierung neuer Werte in einer Organisation eintreten, die aber mit den Werten in der Umwelt der Organisation übereinstimmen. Aus diesem Grund ist auch jede gezielte Gestaltung der Organisationskultur eine Herausforderung, weil Kultur erstens nicht nur in den Führungsetagen produziert wird, sondern von allen Organisationsmitgliedern. Zweitens ist sie das Ergebnis des nicht endenden komplexen Zusammenspiels zwischen organisationalen Deutungs- und Handlungsmustern und solchen, die aus der Umwelt der Organisation entspringen. Organisationskultur zu gestalten und steuern zu wollen, würde in diesem Fall bedeuten, die Einflüsse der institutionellen Umwelt auf das organisationale System und seine Mitglieder stets richtig einschätzen und die negativen Einflüsse abfedern zu können. Inwiefern dies realistisch scheint, ist eine empirische Frage. Die Komplexität und die Tiefe organisationskultureller Prozesse sorgen diesbezüglich eher für Ernüchterung. »Ernüchterung« ist auch das richtige Wort, wenn es um die Gestaltung der Organisationskultur durch die Führungskräfte aus systemtheoretischer Perspektive geht. Denn die absichtsvolle Organisationskulturänderung beinhaltet die Formulierung und Kommunikation der impliziten, grundlegenden Werte durch das Management. Was passiert aber, wenn sich das Management vornimmt, die selbstverständlichen Werte zum Thema der internen Kommunikation zu machen? Dies sorgt meistens für Verwirrung und Misstrauen: Es wird angenommen, »dass Organisationskultur der Selbstdarstellung des Führungspersonals dient oder dass sie ein Mittel der Erzeugung unbezahlter Motive ist« (Luhmann <?page no="201"?> 7.4 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regel 201 2000: 246). Plötzlich zeigen sich verborgene Interessen, Konflikte und Machtspiele. Ein Eingriff seitens der Führung ist in dieser Hinsicht kontraproduktiv, da der Sinn der Organisationskultur in ihrer Unsichtbarkeit für die organisationale Kommunikation liegt. So bleibt sie unangreifbar und im besten Falle höchst funktional für die Entscheidungsproduktion. Die gewisse Veränderungsresistenz der Organisationskulturen liefert eine Erklärung für die »Trägheit« von Organisationen, wenn es um die Implementierung neuer Werte oder Praktiken geht. Die Organisation als nicht-triviale Maschine operiert nach eigenen Regeln, die den direkten Zugriff von außen (z.B. die gezielte Veränderung der Organisationskultur durch das Management) stoppt bzw. in Form einer Irritation intern bearbeitet. Was das genaue Ergebnis eines solchen Eingriffs sein wird, ist nicht ohne Weiteres vorhersehbar. Die soziologische Skepsis hinsichtlich der Steuerung kultureller Prozesse in Organisationen bedeutet jedoch nicht, dass ein Wandel der Organisation nicht stattfinden kann, sondern nur, dass es von den ungeschriebenen Regeln der Organisation oder ihrer Eigendynamik abhängt, welche Veränderungsimpulse zu einem organisationalen Wandel führen oder beitragen. Die wichtigste Erkenntnis, die uns die soziologische Organisationsanalyse der neuen Institutionentheorie, der Theorien Weicks und Luhmanns liefert, ist, dass ein durch das Management gesteuerter kultureller Wandel als absichtsvolle organisationale Änderung an die Bedingungen der kollektiven Kulturentwicklung der Organisation und damit an Voraussetzungen geknüpft ist, die sich der Kontrolle und Bestimmung durch das Management entziehen. 7.4 Organisationskulturen im Theorienvergleich Wir haben in diesem Kapitel sehr unterschiedliche Ansätze mit ihrem je eigenen Verständnis von »Organisationskultur« kennengelernt. Für die Theorie rationaler Wahl erscheint Organisationskultur als eine Identifikationsform, welche es für Akteur*innen erleichtert, sich die Interessen der Organisation zu eigen zu machen. Sie spiegelt zugleich die Entstehung von Normen, die im Konsens der Organisationsmitglieder Geltung erlangen, auch wenn es bloße Konventionen oder ungeschriebene Regeln sind. In jedem Fall ist sie durch das Management mittels Identifikationsstrategien und Normensetzung gestaltbar. Sie teilt— wenn auch auf anderer theoriesystematischer Basis — diese Perspektive mit vielen Autor*innen der Betriebswirtschaftslehre (siehe Infobox 7.1). Die Organisationskultur bestimmt also mit, ob und wie Dinge für die Organisation getan werden. Sie wird grundsätzlich als ein auf Interessen, Identifikationen und Normen bezogenes Verhältnis von Akteur*in und Organisation (bzw. Körperschaft) verstanden und hilft der <?page no="202"?> 202 7 Organisationskultur Organisation, ihre Kontrolltätigkeit zu optimieren und etwaige Differenzen zwischen dem*der Prinzipal*in und dessen Agent*innen abzumildern. Der kognitionstheoretische Ansatz ist von dieser Perspektive weit entfernt. Organisationskulturen sorgen im Sinne Weicks dafür, wie Akteur*innen in Organisationen die Dinge sehen. Er interessiert sich vor diesem Hintergrund für die Deutungs- und Handlungsregeln der Organisation. Diese hängt in ihren selbstgesponnenen Bedeutungszusammenhängen, die sich evolutionär weiterentwickeln und Entwicklungsimpulse aus der Umwelt nach eigenen Deutungsregeln verarbeiten. Die Organisationskultur sorgt durch ihre nachträgliche Geschichtsschreibung für ein konsensuales Validieren von Erfolg und Anpassung. Sie ist darin von jedem und jeder Einzelnen gestaltbar, doch erst die kollektive Sinngebung mit ihrer Grammatik und ihren Deutungsregeln entscheidet, welche Gestaltungsimpulse aufgenommen und als Änderungen stabilisiert werden. Auch der Institutionalismus interessiert sich für die ungeschriebenen Handlungs- und Deutungsregeln der Organisation. Sie sorgen dafür, wie formale Veränderungen, Organisations- und Managementkonzepte in der Organisation aufgenommen und verarbeitet werden. Damit geschieht nicht nur eine Anpassung an das institutionelle und kulturelle Umfeld der Organisation, sondern es wird auch die Differenz zwischen formaler Fassade und dem tatsächlichen Operieren der Organisation bestimmt. Die Art, wie eine Organisationsänderung aufgenommen und geänderte Gestaltungskriterien mit Geltungschancen versehen werden, passiert nicht nur durch Anreiz- und Sanktionsstrukturen, sondern ganz maßgeblich auch durch die Kultur der Organisation. Erst wenn einzelne Maßnahmen des Managements kollektive Geltung erfahren, ändert sich die Organisation. Die Geltungsregeln selbst sind aber wiederum nur kollektiv verfüg- und veränderbar, so dass jedes Management der Organisation auf diese kollektive Verankerung angewiesen ist. Die Systemtheorie wiederum sieht in den unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als dem zentralen Element der Organisationskultur einen dem Management nicht direkt zugänglichen Deutungshorizont von Entscheidungen. Dieser erhöht die Wahrscheinlichkeit der Beachtung konformer Entscheidungen, ohne dass über die hintergründigen Prämissen abgestimmt oder anderweitig entschieden werden könnte. Wie auch bei Weick entscheidet für Luhmann die Eigendynamik (oder spezifischer: die Autopoiesis) des Entscheidungssystems über die Anschlussfähigkeit der Gestaltungsimpulse des Managements. Statt darüber zu bestimmen, sind sie also den Regeln des Systems genauso unterworfen wie alle anderen Mitglieder auch. <?page no="203"?> 7.4 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regel 203 Tabelle 7.1: Das Verständnis von Organisationskultur im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Kognitionstheorie (Weick) Neue Institutionentheorie Systemtheorie (Luhmann) Organisationskultur als … Identifikationsform der Akteur*innen und normative Ordnung der Organisation Art und Weise der Sinnerzeugung mittels Grammatiken, Schemata und Regeln ungeschriebene Deutungs- und Handlungsregeln mit Geltung in der Organisation Unentscheidbare Entscheidungsprämissen Welche Aufgabe/ Funktion erfüllt die Organisationskultur? Die Akteur*innen machen die Interessen der Organisation zu ihren eigenen. Sie hilft, die Kontrolle zu optimieren und Prinzipal-Agenten-Probleme abzumildern Sie dient der Konstruktion von Wirklichkeit unter dem Aspekt der Anpassung Sie dient der Anpassung an das kulturelle Umfeld der Organisation, der Institutionalisierung von Deutungs- und Handlungsmustern hinter der formalen Fassade der Organisation Als Deutungshorizont von Entscheidungen erhöht sie die Wahrscheinlichkeit der Entscheidungsproduktion Ist sie durch das Management gestaltbar/ steuerbar? Sie ist in Form von Normensetzung und Identifikationsstrategien (Corporate Identity) für das Management steuerbar Sie ist gestaltbar, aber in der Evolution der Sinnsysteme nicht durch das Management steuerbar Sie ist nur kollektiv veränderbar, nicht durch einzelne Maßnahmen des Managements steuerbar Über unentscheidbare Entscheidungsprämissen kann nicht entschieden werden; über die Wirkung von Gestaltungsimpulsen entscheidet die Eigendynamik des Systems <?page no="204"?> 7.5 Zusammenfassung Die vorgestellten soziologischen Ansätze beleuchten das Phänomen der Organisationskultur aus verschiedenen Perspektiven und bearbeiten unterschiedliche Forschungsfragen. Karl Weick unterstreicht die Rolle der kognitiven Prozesse auf der Akteursebene bei der Untersuchung organisationaler Phänomene wie z.B. die Organisationskultur und widmet sich der Frage: Wie entsteht eine Organisationskultur? Die neo-institutionalistischen Ansätze interessieren sich dagegen dafür, welche Einflussfaktoren bei der Entstehung und Etablierung einer Organisationskultur wirkmächtig sind und betonen die Rolle der institutionellen Umwelt für die internen Vorgänge in der Organisation. Die systemtheoretisch angeleitete soziologische Analyse gibt uns eine Antwort auf die Frage: »Welche Funktion erfüllt die Organisationskultur für das Fortbestehen des sozialen Systems? « und liefert dadurch eine Erklärung für die Komplexität und den Eigensinn von Organisationen. Berücksichtigen wir einerseits die Vielschichtigkeit kultureller Prozesse und andererseits die oft undurchsichtigen organisationsspezifischen Verarbeitungsmechanismen von Umwelteinflüssen, wird schnell klar, dass die Veränderungsimpulse des Managements selbst der organisationskulturellen Verarbeitung unterworfen sind und es von deren Regeln abhängt, ob und inwieweit sie zu Veränderungen führen. Übung zu Kapitel 7: Entlassungskulturen Eva Stotz erzählt in ihrem Dokumentarfilm »Sollbruchstelle« anhand der wahren Geschichte ihres Vaters, welche Entwicklung Konflikte in Unternehmen nehmen können. 88 Herr Stotz hat sich im Tochterunternehmen einer europäischen Firma in Deutschland bis in eine Position mit Führungsverantwortung hochgearbeitet. Nach 88 Ein Interview mit der Filmemacherin findet sich in Meiners (2009). Kapitel 7: Fragen zur Vertiefung Wie verändert man nach den Annahmen der Coleman‘schen Theorie rationaler Wahl die Organisationskultur einer Körperschaft? In welcher Weise beeinflussen sich aus der Perspektive des neuen Institutionalismus die ungeschriebenen Regeln und die formalen Regeln einer Organisation? Warum gestaltet sich aus systemtheoretischer Perspektive der gezielte Wandel der Organisationskultur so schwierig? 20 7 Organisationskultur <?page no="205"?> 40 Jahren Betriebszugehörigkeit bekommt Herr Stotz im Zuge einer Restrukturierung einen neuen Vorgesetzten. Nach und nach werden alle Kollegen und Kolleginnen ausgetauscht. Bald wird auch Herr Stotz zum Personalleiter zitiert und betriebsbedingt gekündigt. Das Unternehmen expandiert jedoch weiterhin und so entscheidet sich Herr Stotz auf Wiedereinstellung in gleichwertiger Position zu klagen - mit Erfolg. Herr Stotz wird von seinem ehemaligen Vorgesetzten begrüßt und wiederum zum Personalleiter geschickt. Der teilt ihm mit, dass der Vorgesetzte »ihn nicht mehr in seiner Abteilung haben möchte«. Sein altes Büro wird ihm verwehrt und man stellt ihm ein anderes Büro auf einem anderen Stockwerk, weit weg von seiner alten Abteilung, zur Verfügung. Ihm wurde ebenfalls mitgeteilt, dass er einer Kontaktsperre zu seinen ehemaligen Mitarbeitenden unterliege und daher den Kontakt zu seinen Mitarbeitenden »unterlassen möge«. Es bleibe alles wie bisher, nur dass er eben keine Aufgabe habe. Herr Stotz geht nun jeden Tag in sein Büro, liest Zeitung und arbeitet kleinere Schriftsätze ab oder bringt sich nach eigenem Bekunden Arbeit mit. Der Personalchef hätte nach Aussage von Herrn Stotz damit abgewendet, dass er jeden Tag eine Aufgabe bekommen würde, die dann jeden Abend vor seinen Augen »im Papierkorb landen würde«. Wenn er Fragen hätte, könne er jederzeit ins Personalbüro kommen. Neun Monate geht Herr Stotz ohne Aufgabe zur Arbeit. Er gewinnt einen weiteren Prozess gegen die Firma, doch die will seine Arbeitskraft nicht mehr. Er empfindet die Situation als Verlust seiner gesellschaftlichen Stellung. Zunehmend weicht seine Frustration nach eigenem Bekunden Hass auf das Management und seinen ehemaligen Vorgesetzten. Der Personalleiter sagt ihm, er sei überzeugt, die Isolation und die zusätzlichen Auflagen würden langfristig dafür sorgen, dass Herr Stotz »über die Wupper ginge« und »er nicht damit gerechnet hätte, dass er es durchstehen würde«. (Dem Personalleiter wird später aufgrund seines Misserfolges in der Causa Stotz ebenfalls gekündigt.) Irgendwann hält Herr Stotz diese »Isolationsfolter« nicht mehr aus, wird krank und geht zu einem Psychiater, der ihn nach Schilderung der Situation sofort für arbeitsunfähig erklären will. Das lehnt Herr Stotz ab, denn er möchte weiter arbeiten. Immer stärker erlebt er einen Zustand permanenter Erschöpfung. Der neu eingesetzte Personalleiter gibt ihm sporadisch Aufgaben, jedoch keine Arbeit in wirklich vergleichbarer Position. Nach sechs weiteren Jahren nimmt Herr Stotz ein Abfindungsangebot seiner Firma an und geht endgültig. 1. Bitte arbeiten Sie die Unterschiede dieses Falles zu jenem der »unausgesprochenen Entlassung« in Südkorea heraus (Leitbeispiel 7.2). Wo werden Ihres Erachtens kulturelle Unterschiede sichtbar? 2. Welche selbstverständlich gewordenen Deutungsschemata und ungeschriebenen Regeln der Organisation kommen in diesem Fall zum Tragen? 3. Wenn Sie die Interpretation der Filmemacherin und Tochter zugrundelegen: Gibt es im systemtheoretischen Sinne unentscheidbare Entscheidungsprämissen, die bei der Analyse des Falles von Bedeutung sind? Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation 7.4 Kultur als veränderbare Variable oder als ungeschriebene Regel 20 <?page no="206"?> 206 7 Organisationskultur Quellen Annosi, Maria Carmela, et al. (2020), Learning in an agile setting: A multilevel research study on the evolution of organizational routines. In: Journal of Business Research 110, S. 554-566. Appelbaum, Steven H./ Roberts, Jessie/ Shapiro, Barabara T. 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So hat z.B. das in Deutschland am 1.1.2023 verabschiedete Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) das Ziel, die internationale Menschenrechtslage zu verbessern, indem es Anforderungen an ein verantwortliches Management von Lieferketten festlegt (vgl. nur Kaltenborn 2023; Lukas/ Schneider 2023; Klein 2023 u.v.a.). “Mit den im333 Gesetz festgelegten Sorgfaltspflichten, die sich an den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte orientieren, werden nun private Unternehmen in die Pflicht genommen, menschenrechtliche Risiken in ihrer Lieferkette zu identifizieren und Menschenrechtsverletzungen durch angemessene Präventions- und Abhilfemaßnahmen zu verhindern, zu beenden oder wenigstens zu minimieren” (Klein 2023: 1053). Zugleich hat der normative Druck, der auf den Organisationen lastet, sehr stark zugenommen und die Berichtspflichten, wie z.B. jene auf die Umwelt, auf die soziale Verantwortung und die „Governance“ bezogenen Berichtspflichen (ESG - Environment, Social, Governance) wurden weiter institutionalisiert. 89 Damit wird nicht nur erwartet, dass Organisationen 333sich einfach an herrschende Gesetze halten. Sie sollen darüber hinaus auch so operieren, dass sie die negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Aktivitäten reduzieren. So sollen etwa Manager*innen ihre Boni in wirtschaftlich schlechten Zeiten nicht einfordern, auch wenn diese ihnen rechtlich zustehen. Oder sie sollen bestimmte Geschäfte in fernen Ländern unterlassen, auch wenn es das dortige Rechtssystem zulässt. Oder Löhne 89 Die ESG-Berichterstattung bezieht sich auf die formale Offenlegung und Kommunikation der Nachhaltigkeitsziele eines Unternehmens, genauer gesagt der Ziele in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung sowie die Fortschritte bei der Erreichung dieser Ziele. Diese Berichtspflichten sollen die Unternehmen motivieren, ihre negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen zu reduzieren (Michelon et al. 2015; Darnall et al., Ye et al. 2022 u.v.a.). In diesem Kapitel erfahren Sie welche Rolle Moral in Organisationen spielt, was sich organisationssoziologisch hinter organisationaler Devianz und Korruption verbirgt, ob die Maßnahmen der Organisationen (Compliance ) diese verhindern können. <?page no="212"?> 212 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption sollen in einer Höhe gezahlt werden, die man dort nicht zahlen müsste. Die Agenda öffentlicher Skandalisierungen von entsprechenden Verfehlungen der Organisationen ist lang und macht darauf aufmerksam, wie der Zusammenhang von Organisation und Moral gesellschaftlich bestimmt wird. Als gute »corporate citizens«, so die Vorstellung, müssten sich die Organisationen den gesellschaftlichen Moralvorstellungen anpassen. Aber inwiefern spielt Moral in Organisationen überhaupt eine Rolle? Diese Frage wird uns im Folgenden ebenso beschäftigen wie jene, unter welchen Bedingungen Organisationen legale und ethisch gebotene Pfade verlassen. Erst auf dieser Grundlage kann dann auch die Frage beantwortet werden, wie sich dies verhindern lässt. Die Vorbemerkungen (8.1) sollen zunächst das Verhältnis von Organisation, Moral und Ethik soziologisch bestimmen und theoretisch fundieren. Anschließend (8.2) werden wir dann in das Themenfeld der organisationalen Devianz einführen, um auf der Grundlage von zwei empirischen Beispielen - den Manipulationen in der deutschen Transplantationsmedizin sowie einem Korruptionsfall in der Wirtschaft - verschiedene Erklärungsweisen dafür diskutieren, warum Organisationen und ihre Mitarbeitenden von Normvorgaben abweichen und wo die Schwierigkeiten liegen, die Normeinhaltung und Compliance sicherzustellen (8.3 und 8.4). Wir enden mit Überlegungen (8.5) zur Frage, wie man sich nach unterschiedlichen Ansätzen »Korruptionsbekämpfung« vorstellen kann und ob Compliance-Maßnahmen dabei hilfreich sein könnten. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse schließt dann das Kapitel ab (8.6). 8.1 Organisation und Moral — einige Vorbemerkungen In einer sozialwissenschaftlichen Analyse des Zusammenhangs von Organisation und Moral kann es nicht darum gehen, den eigenen moralischen Standpunkt zu dokumentieren. Wichtig ist es hingegen, die gesellschaftlichen Voraussetzungen, Praktiken und Folgen der organisationalen Handhabung von Moral und Ethik zu untersuchen. Sozialwissenschaftlich ist deren »Objektivität« nicht durch einen absoluten Wahrheitsanspruch oder eine höhere Moral begründbar. Vielmehr steht die Analyse der kulturellen Geltungsstandards von Moral und Ethik im Vordergrund (Weber 1922/ 85: 18 f.). Die empirischen Geltungsstandards in einer Kultur entscheiden darüber, was als Moral oder Ethik verstanden werden kann - und nicht die Moralstandards derjenigen, die sich mit Moral beschäftigen. Weder für Luhmann noch für Coleman gibt es einen objektiven Beobachtungspunkt außerhalb eines sozialen Systems, von dem aus eine moralische Beurteilung gefällt werden kann (vgl. Coleman 1992: 84). <?page no="213"?> 8.1 Organisation und Moral — einige Vorbemerkungen 213 Dennoch kann man sagen, was je nach theoretischem Ansatz in der Soziologie (fernab der eigenen Moral) unter Moral verstanden wird. Für Max Weber erscheinen moralische Handlungen als wert- und ethikorientierte Handlungen, die im Dienste einer Überzeugung vollzogen werden und im praktischen Leben Geltung beanspruchen 90 (vgl. Weber 1910/ 91: 386; vgl. dazu auch Schluchter 2006: 308 ff.). 91 Im Hintergrund stehen Werte, Wertrationalitäten und irrationale Weltanschauungen, die mehr oder weniger unversöhnlich aufeinandertreffen (vgl. Weber 1922/ 88: 507). 92 Man muss sie glauben, ihnen anhängen, ohne sie am Erfolg oder Nicht-Erfolg wertorientierter Handlungen zu messen (vgl. Weber 1922/ 85: 13; Schluchter 2006). 93 Moral wird bei Weber also nicht substantiell, nach der vorherrschenden gesellschaftlichen Ethik bestimmt, sondern nach der Sinnstruktur, die sie sozialen Handlungen unterlegt. Ein »ethischer« Maßstab ist für ihn ein solcher, der eine spezifische Art von wertrationalem Glauben von Menschen als Norm des »Geltensollenden« an menschliches Handeln legt, welches das Prädikat des »sittlich Guten« in Anspruch nimmt (Weber 1922/ 85: 18 f.). Darin erscheint die Moral als ein historisch variables Phänomen und ist in ihren jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen zu analysieren. Anders als Coleman, der u.a. ein prozedurales Verständnis des »moralisch Richtigen« vorschlägt 94 , nimmt Luhmanns Systemtheorie den Weber‘schen Faden auf und radikalisiert seine Perspektive. In der systemtheoretischen Weiterführung von Luhmann wird Moral als eine spezifische Form von Sinnzuschreibungen begriffen, welche mit der Leitunterscheidung von Gut und Böse operieren. Sie finden ihren Ausdruck in der Artikulation von Achtung und Missachtung. Ethiken sind im Anschluss an Luhmann dadurch definiert, dass sie sich mit den Prinzipien moralischer Bewertung als eine Art »Reflexionstheorie« der Moral beschäftigen (Luhmann 1989: 37). Sie bleiben aber in ihrer Argumentation dem Moralcode unterworfen. Denn jede Ethik ist im gesellschaftlihen 90 »Es kommt natürlich hier für uns nicht sowohl darauf an, was die theologische ethische Theorie begrifflich entwickelte, sondern darauf, was im praktischen Leben der Gläubigen geltende Moral war, wie also die religiöse Orientierung der Berufsethik praktisch wirkte« (Weber 1922/ 88: 386). 91 »Wert kann man definieren«, so Schluchter in Anknüpfung an Weber, »als die Vorstellung einer Geltung, die zur Ursache einer Handlung wird« (Schluchter 2006: 308). 92 »Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ›Gott‹ und ›Teufel‹. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem Sinn nach nicht. Denn es gibt sie, wie jedermann im Leben erfährt, der Tatsache und folglich dem äußeren Schein nach, und zwar auf Schritt und Tritt. In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären« (Weber 1922/ 88: 507). 93 »Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja umso weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt« (Weber 1922/ 85: 13). 94 Für Coleman kann sich das moralisch Richtige in einer idealen Situation einer Gruppe oder Körperschaft aus der Kenntnis der Interessen der anderen sowie ihrer Berücksichtigung nach Maßgabe ihrer Bedeutung für das Funktionieren des Kollektivs ergeben und wäre dann mit sozialer Effizienz gleichzusetzen (vgl. Coleman 1992: 83). <?page no="214"?> 214 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption Diskurs darauf verwiesen, so Luhmann, etwas Gutes und nichts Schlechtes zu wollen, will sie als solche verstanden werden (Luhmann 1989: 37). Tabelle 8.1: Das Verständnis von Moral und Ethik im Theorienvergleich Theorie rationaler Wahl (Coleman) Handlungs- und Institutionentheorie (Weber) Systemtheorie (Luhmann) Moral als… Verfolgen des Ideals des gerechten Interessenausgleichs, bezogen auf die Bedeutung des*der Akteur*in für die Gruppe Orientierung an Wertüberzeugungen, die auf irrationale Weltanschauungen zurückgehen Artikulation von Achtung und Missachtung in der Kommunikation Ethik als… Moralphilosophie mit Reflexion über gerechte Bedingungen der Handlungskoordination (Reflexions-)Prinzipien des wertrationalen Glaubens als Norm für menschliches Handeln Reflexionstheorie der Moral, die sich selbst als »moralisch gut« versteht Deutlich zu erkennen ist anhand dieser Unterscheidungen bereits, dass Moral vor Organisationen nicht Halt machen kann, da diese »Verkörperungen« von Gesellschaft darstellen. In der beruflichen Lebenswelt der Organisationsmitglieder spielen Fairness und Gerechtigkeit, Wertüberzeugungen sowie die Artikulation von Achtung und Missachtung eine wichtige Rolle. Jede Handlung und jede Kommunikation kann selbstverständlich einer moralischen Bewertung unterzogen werden. Die Frage ist nur, ob Organisationen, sofern ihre Zwecke nicht in der Verfolgung oder Etablierung von Moralstandards liegen, sich daran orientieren oder nicht. Denn darin sind sie innerhalb eines normativ-gesetzlichen Rahmens 95 frei. Das bedeutet: In diesem Rahmen können sie selbst bestimmen, ob und inwieweit sie moralischen Orientierungen folgen. Dies ist Teil ihrer instrumentellen Orientierung, für die sie freigesetzt ist und gesellschaftliche Anerkennung beansprucht. Wirtschaftsunternehmen pflegen vor diesem Hintergrund einen auf den wirtschaftlichen Erwerb ausgerichteten Sinnzuschnitt, der sich an eine als rational ausgewiesene 95 Jede Organisation - vielleicht mit Ausnahme von kriminellen Vereinigungen - wird sich in der Verfolgung ihrer Zweckorientierung an gesellschaftlichen Normen orientieren und innerhalb dieses Rahmens selbst Normen setzen. An der Orientierung an rechtlichen Standards bemisst sich zum einen die Legalität der Organisation. Zum anderen beansprucht sie für ihre Aktivitäten auch gesellschaftliche Akzeptanz oder Legitimität. <?page no="215"?> 8.1 Organisation und Moral — einige Vorbemerkungen 215 Betriebsform knüpft. Ihrem Sinn nach sind die Erwerbsbetriebe an Marktchancen, also an »verkehrswirtschaftlicher Bedarfsdeckung« (Weber) bzw. dem Erhalt ihrer Zahlungsfähigkeit (Luhmann) orientiert; im Falle kapitalistischer Betriebe am Wirtschaften nach Maßgabe der Profitabilität oder der Rendite. Die für sie handelnden Akteur*innen werden also der Regelerwartung ausgesetzt, sich am wirtschaftlichen Zweck der Organisation zu orientieren, und darin als Personal beansprucht. Eine fortwährende Enttäuschung dieser Erwartungen wird mit entsprechenden Risiken für die Karriere, das Einkommen oder die Mitgliedschaft selbst verbunden. Konkret bedeutet das, dass ein*e Vorstandsvorsitzende*r, der*die das Geld des Unternehmens an Arme und Notleidende verteilt, anstatt den Aktionär*innen des Unternehmens eine Dividende zu zahlen, seiner*ihrer Aufgaben bald entledigt sein wird. Das bedeutet nicht, dass Manager*innen keine moralischen Orientierungen pflegen, sondern nur, dass sie nicht wirtschaften, wenn sie Entscheidungen allein oder vorrangig nach Wertüberzeugungen (Weber) oder Maßgabe gesellschaftlicher Achtung oder Missachtung (Luhmann) treffen. Sie bewegen sich dann außerhalb der Zweckorientierung der Unternehmen, es sei denn, deren „Moral“ wird zum Bestandteil der Renditeorientierung der Organisation. 96 So kann ein Unternehmen selbstverständlich entscheiden, Felder gesellschaftlicher Missachtung konsequent zu meiden. Es kann in einem Verhaltenskodex (»Code of Conduct«) bestimmen, dass Geschäfte auch in Ländern mit hoher Korruptionsrate nur ohne Korruption oder gar nicht gemacht werden. Oder es kann festlegen, sich nur in Geschäftsbereichen zu bewegen, die nach Maßgabe von Expert*innengremien, Ethikkommissionen oder Stiftungen und nach reiflicher ethischer Reflexion unbedenklich erscheinen. Dennoch ist auch eine solche, vielleicht nach den derzeit gängigen ethischen Standards der Gesellschaft willkommene Form moralischer Orientierung von Unternehmen eine Strategie, die sich instrumentell an Nutzleistungen oder Zahlungen orientiert. Das heißt: Es handelt sich um eine Form des Wirtschaftens und nicht: des moralischen Handelns. Dies ist auch dann so, wenn Unternehmen zunehmend darauf reagieren, dass NGOs ihre Aktivitäten unter Dauerbeobachtung stellen. Vor diesem Hintergrund eines soziologisch präzisierten Zugangs zum Thema von Ethik und Moral wollen wir im Folgenden zeigen, wie Reibungspunkte zwischen instrumenteller Zweckverfolgung und der normativen Ordnung von Organisation und Gesellschaft entstehen. Aus soziologischer Perspektive kann am Beispiel von Manipulationen und aktiver Korruption gezeigt werden, warum Organisationen legale Pfade verlassen und warum es ihnen schwer fällt, sich immer normgerecht zu verhalten. 96 Kritisch argumentiert Schreyögg (2008) aus betriebswirtschaftlicher Perspektive gegen eine derartige »Zweitcodierung« wirtschaftlichen Handelns. <?page no="216"?> 216 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption 8.2 Organisationale Devianz und organisationale Kriminalität Eigentlich könnte die Welt der Organisationen in bester Ordnung sein. Innerhalb einer normativen Ordnung sind ihnen die Art der Zweckverfolgung sowie die Wahl der Zwecke freigestellt. Doch die vielen Skandalisierungen machen darauf aufmerksam, dass instrumentelle Zweckverfolgung und gesellschaftliche Normorientierung oft konflikthaft aufeinandertreffen. Dies wirft zwei Fragen auf: 1. Wie lässt sich das nonkonforme, normabweichende Handeln von und in Organisationen begründen? 2. Welche Möglichkeiten haben Organisationen, es zu unterbinden bzw. sich selbst und ihr Personal in dieser Hinsicht zu kontrollieren? Wir interessieren uns bei den Antworten auf diese Fragen allerdings nicht für individuelles Fehlverhalten oder Formen persönlicher Bereicherung, wie sie auch in anderen sozialen Gebilden vorkommen, sondern für die Rolle der Organisation bei der Entstehung sowie der Kontrolle von normabweichendem Handeln. Sicherlich sind auch individuell motivierte opportunistische Handlungen der Arbeitnehmenden zum Schaden der Organisation von großer Bedeutung (Green 1990). Organisationssoziologisch ist jedoch die interessantere Frage, wie Organisationen mit Regelabweichungen umgehen, von denen sie selbst profitieren - also z.B. Straftaten, die von Mitarbeitenden im Auftrag oder zum Wohle des Unternehmens begangen werden (Clinard/ Quinney/ Wildeman 1994; siehe dazu auch Infobox 8.1). Hierunter fallen auch Formen aktiver Korruption, beispielweise wenn bestochen wird, um Aufträge zu erhalten. Die organisationssoziologische Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass bei der Analyse eines solchen Kriminalfalls der Verstoß der Organisation gegen gesellschaftliche Normen sowie der Verstoß des Personals gegen die formalen Normen der Organisation im Vordergrund stehen. 97 Um von organisationaler Devianz oder organisationaler Kriminalität sprechen zu können, muss dazu in einem ersten Schritt geklärt werden, inwiefern wir es in der Organisation und im organisationalen Feld mit einer Verbreitung der Manipulationen oder der Korruption zu tun haben, die für eine Regelhaftigkeit in der Ausübung eines »cleveren Brauchs« sprechen. Zugleich muss die organisationale Nützlichkeit der Regelabweichungen und die Nachrangigkeit illegaler persönlicher Bereicherung erkennbar werden. Dies sind in den konzeptionellen Ansätzen zur organisationalen Devianz bzw. Kriminalität wichtige Voraussetzungen, um Regelabweichungen entsprechend einordnen zu können (siehe dazu auch Pohlmann et al. 2023). Wenn auch andere Organisationsmitglieder so handeln, ist dies ein Indikator dafür, dass es zu einer »Normalisierung« von Regelabweichungen gekommen ist (siehe auch Palmer 2012). Zentral ist darüber hinaus, dass es sich um organisationale Praktiken handelt, die den Zielen der Organisation entsprechen. Sie werden nicht betrügerisch zu ihrem Schaden und vorrangig zur eigenen persönlichen Bereicherung durchgeführt. Zwar 97 In der Kriminologie ist der Verstoß gegen organisationale Normen eher ein nachrangiges Problem, wohingegen der Gesetzesverstoß den Forschungsgegenstand konstituiert (vgl. Schwind 2013). <?page no="217"?> 8.2 Organisationale Devianz und organisationale Kriminalität 217 kann eine soziologische Analyse nichts zu den wahren Motiven hinter den Regelabweichungen sagen. Aber sie kann prüfen, inwiefern die Jurist*innen in den Gerichtsverfahren auf illegale persönliche Bereicherungsformen gestoßen sind, die mit den Regelabweichungen in Verbindung stehen. Sollte dies nicht der Fall sein, spräche dieser Indikator für das Vorliegen organisationaler Kriminalität. Um die Entstehung einer solchen Form von organisationaler Devianz dann erklären zu können, beschäftigt sich die Soziologie weiter mit den Institutionalisierungsmechanismen von organisationaler Kriminalität. Die konzeptionellen Anregungen der anglo-amerikanischen Forschung zum Thema sind hier vielfältig (siehe nur Ashfort/ Anand 2003; Pinto et al. 2008; Palmer 2012 sowie Campbell/ Göritz 2014). Insbesondere vier Institutionalisierungsmechanismen werden häufig angeführt: (1) Konkurrenzdruck: Häufig wird davon ausgegangen, dass sich der Konkurrenzdruck auf eine Organisation in Deutungs- und Handlungsregeln ihres Personals übersetzt, welche die Umgehung von hinderlichen oder umständlichen formalen Regeln nahelegen (vgl. dazu Ashfort/ Anand 2003; Campbell/ Göritz 2014). (2) Hierarchischer Druck: Zwar muss man mit Ashfort/ Anand (2003) nicht davon ausgehen, dass organisationale Kriminalität sich vorrangig von oben nach unten ausbreitet (vgl. Ashfort/ Anand 2003: 7; Pinto et al. 2008: 689). Aber es bleibt eine zentrale Annahme des Ansatzes organisationaler Kriminalität, dass in der Regel hochrangige Akteur*innen der Organisation beteiligt sein oder die devianten Praktiken dulden müssen, damit sich organisationale Kriminalität etablieren kann (vgl. dazu auch Palmer 2012: 174; Campbell/ Göritz 2014). (3) Rationalisierung und Legitimierung: Rationalisierungen und Legitimierungen von Abweichungen begleiten häufig, so die Annahme des Ansatzes, organisationale Devianz. Sie befördern ihre Duldung oder Anerkennung, indem sie einen Deutungsrahmen für die Abweichungen schaffen, der nicht die Gültigkeit universeller Normen in Frage stellt (Ashfort/ Anand 2003: 17). (4) Sozialisation: Durch Sozialisation werden auch die ungeschriebenen Regeln in der Organisation sowie jene der Profession verinnerlicht (Ashforth und Anand 2003). Zugleich etabliert sich das notwendige persönliche Vertrauen für in der Organisation beobachtbare Abweichungen (vgl. dazu auch Luhmann 1964: 311). Insbesondere diese Mechanismen sorgen, so die Annahme der Ansätze organisationaler Kriminalität, für die Institutionalisierung von Korruption und Manipulationen in Organisationen. Die ungeschriebenen Regeln der Organisation, welche die Taten in ambivalenter Weise mit Gründen der Anerkennung oder ihrer Duldung versehen, werden für die Mitglieder stabil verinnerlicht. Sie werden zu einer selbstverständlichen <?page no="218"?> 218 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption Form des Operierens der Organisation, auch wenn keineswegs alle Mitglieder der Organisation beteiligt sind (vgl. Ashfort/ Annand 2003: 4). Vielmehr entstehen oft loyale Untereinheiten, Subkulturen in der Organisation. In diesen gehen aktiv tätiges und passiv duldendes korruptes Verhalten eine Verbindung ein (vgl. Campbell/ Göritz 2014: 292 f.). Der entstehende Normenkonflikt wird in der Organisation durch eine Entkopplung von vordergründiger Politik und hintergründiger Praxis (»decoupling«) gelöst, also durch die Entstehung von Vorder- und Hinterbühnen der Organisation (vgl. dazu grundlegend Meyer/ Rowan 1977; Bromley/ Powell 2012; Haack et al. 2012; Wijen 2014; MacLean et al. 2015). Die daran anschließende empirische Frage jedoch ist, wie auf der Hinterbühne darauf reagiert wird, wenn sich die Spielregeln auf der Vorderbühne gravierend verändern (vgl. dazu auch MacLean et al. 2015: 363; Tacke 2015: 54 f.). 8.3 Aktive Korruption bei Siemens Im Folgenden wollen wir genauer verstehen, wo die Probleme der Abweichung und Befolgung von Normen aus der Sicht einer Soziologie der Organisation liegen. Wir wenden uns dazu der Analyse eines Kriminalfalles zu, der seit 2006 sehr große Aufmerksamkeit erfahren hat und daher gut dokumentiert ist: die Korruptionsaffäre der Siemens AG. Hinsichtlich des Umfangs der Bestechungs- und der anschließenden Strafzahlungen hat Siemens neue Maßstäbe gesetzt. Es ist der »wohl größte bisherige Korruptionsfall der Bundesrepublik Deutschland« (Wolf 2009: 9). Die Gesamtkosten der Affäre werden für die Firma bisher auf 2,5 bis 3,5 Milliarden Euro geschätzt. Diese Summe enthält Geldbußen in Höhe von etwa 1,2 Milliarden Euro, die in den USA und in Deutschland zu entrichten waren. Das Unternehmen, das zuvor als Pionier der Compliance- und CSR-Bewegung gelten Begriffsbox 8.1: Aktive und passive Korruption Als Korruption bezeichnen wir allgemein die Vorteilsnahme/ -gewährung zweier Parteien zum Schaden Dritter. Wir orientieren uns damit an einem engeren, rechtswissenschaftlich präformierten Korruptionsverständnis (Bannenberg 2014). Diesem zufolge geht es »[i]m Kern [...] bei der Korruption darum, dass eine Person, die bestimmte Aufgaben wahrzunehmen hat, für ein Handeln oder Unterlassen im Rahmen der Aufgabenerfüllung unzulässige Vorteile erhält« (Dölling 2007: 3). Die Annahme eines solchen Vorteils heißt »passive Korruption«, während der*die Geber*in, der*die den Vorteil gewährt, der ›aktiven Korruption‹ bezichtigt wird (vgl. von Alemann 2005: 19). <?page no="219"?> 8.3 Aktive Korruption bei Siemens 219 konnte, sah sich spätestens seit November 2006 mit immer neuen Korruptionsvorwürfen konfrontiert (siehe Leyendecker 2007). Im Zuge der Ermittlungen von Strafverfolgungsbehörden in Deutschland, den USA und vielen weiteren Ländern sowie durch interne Recherchen wurden Bestechungszahlungen in massivem Umfang aufgedeckt, die über Jahrzehnte sowohl an staatliche als auch an privatwirtschaftliche Stellen geflossen waren. Befürchtungen hinsichtlich des Ausmaßes und der Normalität von Korruptionsdelikten in Deutschland (Bannenberg 2003; Bannenberg und Schaupensteiner 2007) haben sich durch den Fall der Firma Siemens mindestens bestätigt. Durch die Ermittlungen wurden Korruptionsstrukturen sichtbar, die in ganz unterschiedlichen Abteilungen über Jahre, teilweise über Jahrzehnte bestanden hatten. Schon lange vor der Durchführung der aufgedeckten Straftaten hatte das Unternehmen ein formales Korruptionsverbot erlassen und die Mitglieder — insbesondere das Führungspersonal, das für die Implementierung der Vorgaben verantwortlich war — umfassend informiert und geschult (vgl. Dombois 2009: 132; Siemens 2006: 2). Wie also war es möglich, korrupte Strukturen innerhalb der Siemens AG auf Dauer zu stellen und warum griffen die präventiven Maßnahmen des Managements nicht? 98 Ein Korruptionsfall wie jener bei Siemens ist weder einfach zu analysieren noch zu bewerten. Indem wir uns auf das »Hellfeld« der vor Gericht verhandelten aktiven Korruption beziehen (und nicht auf das »Dunkelfeld« der im Verborgenen stattfindenden Korruption), können wir zwar Bezug auf Dokumente der Rechtsprechung oder auf autorisierte Interviews mit Angeklagten und Verurteilten nehmen. Dennoch können unsere Schlussfolgerungen in diesem Fall nur vorläufige sein. Sie basieren auf einer exemplarischen Fallanalyse. Die Darstellung des Falls dient uns daher als Heuristik, um die bereits vorgestellten organisationssoziologischen Denkweisen empirisch zu vertiefen. Sie kann und soll daher keinesfalls in eine ethische Stellungnahme münden. Diese bleibt jedem*jeder Leser*in selbst überlassen. 98 Die Besonderheit dieses Korruptionskomplexes wurde bereits wissenschaftlich in einem interdisziplinär angelegten Sammelband (Graeff u.a. 2009) aufgearbeitet. Dieser enthält drei Beiträge (Dombois 2009; Graeff 2009; Grieger 2009), die soziologische und organisationstheoretische Erklärungen des Siemens-Komplexes anbieten. Aus unterschiedlichen Perspektiven greifen die zitierten Beiträge auf den organisationswissenschaftlichen Ansatz der »Normalisierung« der Korruption zu, den Ashforth und Anand (2003) entwickelt haben (siehe dazu Infobox 8.1). Die Normalisierung korrupter Geschäftspraktiken könne (zumindest partiell) den bemerkenswerten Befund erklären, dass die vermeintlich korrupten Siemens-Mitarbeitenden sich, »soweit den veröffentlichten Informationen zu entnehmen, nicht persönlich finanziell bereichert« (Dombois 2009: 133) hätten. <?page no="220"?> 220 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption Leitbeispiel 8.1: Auf den Spuren der Unternehmenskorruption — Der Fall Siemens Die polizeilichen Durchsuchungen von Firmengebäuden der Siemens AG am 15. November 2006 markierten den Beginn einer mehrjährigen Episode der Aufarbeitung der bis dato »größten und folgenreichsten Korruptionsaffäre« (Leyendecker 2007: 292) in der deutschen Unternehmensgeschichte (vgl. Wolf 2009). Die Gesamtkosten der Affäre werden auf ca. 2,5 bis 3,5 Mrd. Euro geschätzt. Darin sind Kosten für interne Ermittlungen und Geldbußen enthalten. Nicht enthalten sind Belastungen, die aus der Skandalisierung und dem damit verbundenen Reputationsverlust resultieren. Bis zum November 2006 galt die Siemens AG vielen Beobachtern geradezu als Vorbild im Umgang mit den Risiken der Korruption. Moderne »Corporate-Governance-Strukturen«, der eigene moralische Anspruch, ein »guter Bürger« (Corporate Citizen) zu sein sowie auf die Globalisierung und die Anforderungen des Finanzmarktkapitalismus abgestimmte Geschäftspraktiken trugen zu diesem Eindruck bei (vgl. Grieger 2009: 103; Verschoor 2007; Zugehör 2003). Seit 1998 und noch bis zu den ersten Verdachtsmomenten gegen Siemens-Mitarbeitende im Jahr 2004, war die Firma korporatives Mitglied des deutschen Ablegers von Transparency International - einer Organisation, die sich dem aktiven Kampf gegen Korruption verschrieben hat. Von Anbeginn der Ermittlungen wurde daher die Frage diskutiert, wie es in einem der größten (nach Umsatz und Mitarbeitendenzahl) und traditionsreichsten deutschen Unternehmen zu einem Korruptionsskandal dieses Ausmaßes kommen konnte. Eine Woche nach den Razzien hatte Siemens noch suggeriert, eine kriminelle »Bande« habe den Konzern um mehrere hundert Millionen Euro betrogen. Selbst als sich die Ermittlungen ersichtlich auf die Vorstandsebene erstreckten, stellte sich die Konzernleitung, in Person des Aufsichtsratsvorsitzenden Heinrich von Pierer, noch demonstrativ hinter die Verdächtigten, die von Pierer als »verdiente […] Mitglieder unseres Hauses« bezeichnete. 1. Szenenwechsel: Ende 1998 wurde der Siemens-Manager K. von einem Mitarbeiter aus der Buchhaltung seines Geschäftsbereichs über die Existenz einer sogenannten »schwarzen Kasse« in der Schweiz informiert. Sie gehörte zum Besitzstand der von Siemens übernommenen Kraftwerk Union AG (KWU). Die KWU, die 1977 in den Siemens-Bereich Energietechnik integriert worden war (vgl. Siemens 2009: 3), hatte die aus der offiziellen Buchführung ausgegliederten Gelder für Bestechungsleistungen vorgesehen. Statt die Gelder in die reguläre Buchhaltung der Siemens AG zu überführen, beauftragte K. den scheidenden Buchhalter, das verbliebene Vermögen von rund 12 Millionen Schweizer Franken auf das Konto einer neu zu gründenden Stiftung in Liechtenstein zu transferieren. Mit der Gründung und Verwaltung des Vermögens dieser Stiftung, die den Namen »Gastelun« erhielt, betraute er V., Quelle: Wikimedia Commons, File: Vladimir Putin 15 June 2000- 4.jpg HOTEL PALACE, BERLIN. President Putin with Siemens CEO Heinrich von Pierer. Presidential Press and Information Office <?page no="221"?> 8.3 Aktive Korruption bei Siemens 221 einen ehemals leitenden Siemens-Angestellten, der bis Anfang der 1990er-Jahre in der KWU beschäftigt gewesen war. Der gesamte Betrag wurde von da an sukzessive zum Zweck der Auftragsakquise eingesetzt. Zuvor hatte K., einer von vier Vorständen des Geschäftsbereichs »Siemens Power Generation« (PG), bereits auf ein »etabliertes System zur Leistung von Bestechungsgeldern (sog. nützlichen Aufwendungen) […] bei diversen liechtensteinischen Banken« (BGH 2 StR 587/ 07: Rn. 9) zurückgreifen können. Die auf verschiedene Konten verteilten Gelder waren bei vorherigen Projekten, die sich »nützlicher Aufwendungen« bedienten, nicht aufgebraucht worden. Sie standen darüber hinaus nicht in den offiziellen Büchern des Geschäftsbereichs. Dieses Vermögen verhalf K. dazu, im Jahr 1999 einen Siemensintern als »La Casella« bezeichneten Auftrag über die Lieferung von Gasturbinen an den italienischen Kraftwerkskonstrukteur Enelpower S.p.A. zu akquirieren. Ein zweiter vom Enel-Konzern ausgeschriebener Auftrag schien für Siemens noch lukrativer als der erste. Wieder signalisierte der Geschäftsführer der Enel Produzione, dass ein Bestechungsgeld in Millionenhöhe an ihn und seinen Kollegen bei der Firma Enelpower zu zahlen sei, um den Geschäftsabschluss in diesem - Siemens-intern als »Repowering« bezeichneten - Fall zu ermöglichen. K. autorisierte auch diesen Vorgang. Allerdings wies er seine Mitarbeitenden zuvor ausdrücklich auf die Möglichkeit der Aufdeckung der illegalen Absprache hin und machte auch die Konsequenzen deutlich, die sie persönlich zu gewärtigen hätten. In diesem Fall »müsse jeder für sich kämpfen, die Siemens AG könne sie dann nicht decken.« (BGH 2 StR 587/ 07: Rn. 19; Herv. d. Verf.). Nichtsdestotrotz kam es am 3. August 2001 vereinbarungsgemäß zur Unterzeichnung des Vertrags, der dem Konsortium, an dem Siemens-PG beteiligt war, den Auftrag sicherte. Um die getroffene Absprache zu finanzieren, wurde diesmal auf Gelder der Anfang 1999 gegründeten Stiftung »Gastelun« zurückgegriffen. Die beiden Ausschreibungen »La Casella« und »Repowering« hatten ein gemeinsames Auftragsvolumen von etwa 450 Millionen Euro, woran Siemens mit einem Anteil von über 338 Millionen Euro beteiligt war. Veranschlagt man darüber hinaus insgesamt circa 6 Millionen Euro als Bestechungssumme, die an die zwei Geschäftsführer der Enel gezahlt wurden, dann beläuft sich diese Summe auf 1,7 Prozent des Auftragsvolumens. Den Gesamtgewinn, den Siemens (vor Steuern) aus den beiden Aufträgen erwirtschaftete, beziffert das Landgericht Darmstadt mit 103,8 Millionen Euro (vgl. LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 93, 98, 104). 2. Szenenwechsel: Gegen die beiden Enel-Manager und zwei Mitarbeitende von Siemens-PG, darunter der zuständige kaufmännische Leiter, wurde in Italien Anklage erhoben. Das Landgericht Mailand urteilte am 25. Juni 2006, dass die beiden Siemens-Mitarbeitenden der Amtsträgerbestechung schuldig seien. Sie erhielten Bewährungsstrafen. Gegen die Siemens AG erging ein einjähriges Verbot für Vertragsschlüsse mit Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung, eine Geldstrafe in Höhe von 500.000 Euro sowie eine Gewinnabschöpfung von 6.121.000 Euro. Schon 2003 hatte sich Siemens außerdem mit dem Enel-Konzern auf ein Arrangement verständigt, das Zahlungsverpflichtungen im Wert von 113 Millionen Euro beinhaltete, um etwaige Schäden aus den gesetzeswidrigen Absprachen auszugleichen (vgl. BGH 2 StR 587/ 07: Rn. 21 ff; LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 113 f.). In Deutschland wurde Anklage gegen K. und V. erhoben. Das Landgericht Darmstadt stellte in seiner Entscheidung fest, dass weder K. noch V. ein finanzieller Vorteil aus den beiden Aufträgen der Enel S.p.A. erwachsen sei (vgl. LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 104). Zugunsten der Angeklagten sprach ferner, dass sie »im falsch verstandenen Interesse der S[iemens-]AG gehandelt« (LG Darmstadt <?page no="222"?> 222 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 190) hätten, »also nicht eigennützig« (ebd.). Die Straftaten hätten sich zudem in einer rechtlichen »Umbruchsituation« ereignet, in der die Geltung der Rechtsnormen nicht eindeutig zu bestimmen gewesen sei (vgl. LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 190 f.). Das Landgericht verurteilte die beiden Manager im Mai 2007, K. wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr nach § 299 Abs. 2 StGB und V., weil er dazu Beihilfe geleistet habe. Im Akt der Schmiergeldzahlung sah das Gericht außerdem den Tatbestand der Untreue (§ 266 StGB) als erfüllt an. Indem K. dadurch die Gelder der schwarzen Kasse vorsätzlich und unwiderruflich nicht in die offizielle Buchhaltung seiner Firma überführte, machte er sich der Veruntreuung von Vermögenswerten der Siemens AG schuldig. Schließlich ordnete das Gericht auch einen Wertersatzverfall in Höhe von 38 Millionen Euro gegen die Firma Siemens als Nebenbeteiligte an (vgl. BGH 2 StR 587/ 07: Rn. 25 ff.; LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 149 ff.). Das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof später revidiert und teilweise korrigiert. 99 Die Handlungsrationalität der Akteure bei Siemens orientierte sich, soweit sie im Quellenmaterial nachvollziehbar wurde, an den instrumentellen Sinnzuschnitten und den wirtschaftlichen Nutzenkalkülen des Unternehmens. Mit Coleman kann man sagen: Es wurde im (unterstellten) Interesse des*der Prinzipal*in gehandelt. Unabhängig von vermögensmindernden Folgen der späteren Enthüllung betrachtet, waren die 6 Millionen Euro Bestechungsgeld im oben geschilderten Fall des Siemens-Geschäftsbereichs PG eine riskante, aber einträgliche Investition, die einen Bruttogewinn in Höhe von über 100 Millionen Euro erzielte. Ein formales Verbot der Bestechung war den Beteiligten bekannt, mögliche strafrechtliche Konsequenzen wurden noch vor der zweiten illegalen Absprache thematisiert. 100 Für V. musste schon aufgrund der Umstände der Anbahnung des »La Casella«-Auftrages und der auffällig »informellen Vorgehensweise« der italienischen Geschäftspartner klar erkennbar sein, dass der Gegenstand der Verhandlungen eine wahrscheinlich verbotene Geldzahlung beinhaltete (vgl. LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 90 f.). Sein Vorgesetzter setzte sich wissentlich über die dem Vorgang widersprechenden formalen Regeln hinweg. 101 Er deckte also die illegale Praxis und sanktionierte die Abweichung von der formalen Norm nicht. Sein Interesse galt daher ganz offensichtlich ebenfalls den Unternehmensaufträgen. 99 Für eine ausführliche Darstellung des Falles siehe Klinkhammer (2011) sowie für die juristischen Implikationen der sogenannten Siemens-Entscheidung des Bundesgerichtshofs Satzger (2009). 100 Folgt man den Ausführungen des Landgerichts, kann man ausschließen, dass es innerhalb des Geschäftsbereichs aufgrund geringer Salienz der relevanten Norm zu einer kognitiven Normalisierung korrupter Praktiken gekommen war. 101 Das Landgericht Darmstadt hat ausführlich die Rolle von Andreas K. als Bereichsvorstand und formal verantwortlichem Mitarbeiter für die Einhaltung geltender Regeln und Gesetze (Compliance) beschrieben (vgl. LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 4). Im Rahmen seiner Tätigkeit hatte K. insbesondere im Jahr 1999 Rundschreiben selbst verfasst oder veranlasst, die auf Folgen der Umsetzung der Anti-Korruptions-Konvention der OECD in deutsches Recht aufmerksam machten - für den Geschäftsbereich Siemens-PG und für dessen Mitarbeitende - und die auf das bestehende, arbeitsvertraglich abgesicherte Verbot von Schmiergeldzahlungen auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Relevanz hinwiesen (vgl. BGH 2 StR 587/ 07: Rn. 8, 41). <?page no="223"?> 8.3 Aktive Korruption bei Siemens 223 8.3.1 Korruption als Risikokalkulation Aus Colemans Perspektive ist auch normabweichendes, kriminelles Handeln Ergebnis einer rationalen Wahl der Akteur*innen. Das Management nimmt für den korporativen Akteur (den Prinzipal) die Rolle einer erziehenden und steuernd eingreifenden Instanz ein, die das Personal im Falle des Abweichens von den Normen des Prinzipals sanktionieren wird, um die kollektiven Interessen zu wahren (siehe Kap. 3). Da sich für die Agent*innen (das Personal) oft Situationen und Gelegenheiten ergeben werden, in denen betrügerisches Verhalten vorteilhaft sein könnte, ist der Prinzipal darauf angewiesen, in die Anreizstruktur der Mitgliedschaft und auf das regelkonforme Verhalten seiner Mitglieder zu vertrauen — und dieses nach Möglichkeit zu kontrollieren. Rechtliche Sanktionen gehen als Risiken in die Kalkulation der Akteur*innen ein. Aus der Perspektive der Theorie rationaler Wahl ist daher die Risikokalkulation interessant, auf die K. und seine Mitarbeitenden ihre Entscheidungen gründeten. Vor Gericht behauptete K., er habe zwischen Angestellten- und Amtsträgerbestechung unterschieden. Danach sei er angeblich zu dem Schluss gekommen, dass es sich im Falle der Enel-Manager bloß um Bestechung ausländischer Angestellter handele, die in Deutschland keinem strafrechtlichen Verbot unterliege (vgl. LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 128). Eine Ansicht, die der Bundesgerichtshof mit seinem Urteil als (zum damaligen Zeitpunkt) konform mit deutschem Recht bestätigte. Da K. nicht wissen konnte, ob Siemens den »La Casella«-Auftrag nicht auch ohne zusätzliche Bestechungszahlung zugesprochen bekommen würde, richtete er sich an den allgemeinen Zielen des Prinzipals aus. Die Risikokalkulation erfolgte »nicht zuletzt im Hinblick auf eine langfristige Positionierung im italienischen Markt« (LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 91) und die Einwerbung eines »äußerst profitablen« (ebd.) Auftrags. Auch die gering geschätzte Entdeckungswahrscheinlichkeit verschaffte der rational begründeten Entscheidung ein positives Kosten-Nutzen-Kalkül. Bis hierhin ist der Erklärungsbeitrag einer Theorie rationaler Wahl überzeugend. Komplizierter wird es jedoch, wenn die persönlichen Interessen der Täter*innen zum Gegenstand der Analyse werden. Für die Theorie rationaler Wahl ist es keineswegs ausgeschlossen, dass auch kriminelles Verhalten der Agent*innen im Interesse des*der Prinzipal*in sein kann. Wenn Mitarbeitende des Unternehmens sich der aktiven Korruption bedienen, indem sie Beamt*innen oder Angestellte bestechen (etwa um Aufträge für das Unternehmen zu gewinnen, Verwaltungsvorgänge zu beschleunigen oder dem Unternehmen Kosten zu ersparen), dann ist kein Verlass auf die effektive Kontrollausübung des Managements. Denn derartige Transaktionen sind für den*die Prinzipal*in von Nutzen und erhöhen den erwirtschafteten Profit, solange eine mögliche Bestrafung unwahrscheinlich ist <?page no="224"?> 224 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption (vgl. Rose-Ackerman 1978: 189-209; 2010: 234). Doch selbst diese Form der Unternehmenskriminalität wird letztlich auf die Interessen der Akteur*innen zurückgeführt; auch dann, wenn sie von den wirtschaftlichen Interessen des*der Prinzipal*in nicht abweichen. Die Theorie rationaler Wahl legt in diesem Fall die These nahe, dass den Agent*innen zusätzliche materielle oder immaterielle Anreize geboten werden müssen, damit es ihnen rational erscheint, das persönliche Risiko strafrechtlicher Sanktionen auf sich zu nehmen und kriminelle Handlungen zu vollziehen. Dazu vorweg: 1999 war der jüngste der insgesamt neun verurteilten Angeklagten 43, der älteste im Jahr seiner Verurteilung (2007) 73 Jahre alt. Zu Beginn des jeweiligen Tatzeitraums hatten alle Täter das 40. Lebensjahr vollendet, fünf von ihnen bereits ihr 50. Die Verurteilten sind ohne Ausnahme männlichen Geschlechts. Nur einer von ihnen war bereits zuvor in einem Strafverfahren verurteilt worden - wegen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG). Unter den übrigen Verurteilten befanden sich hingegen ein Honorarprofessor der Technischen Universität Berlin sowie ein Träger des Bundesverdienstkreuzes, dem das Gericht, genau wie seinem Mitangeklagten, ein »völlig untadeliges Leben« (LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 188) attestierte. Dass es sich demnach um Personen handelte, die als sogenannte »Siemensianer« ein hohes Maß an Anerkennung für sich beanspruchten und auch außerhalb organisationaler Grenzen der Kommunikation einen hohen sozialen Status zugeschrieben bekamen, steht außer Zweifel. Für alle Verurteilten ist darüber hinaus eine hohe Verweildauer im Unternehmen, eine Hauskarriere, typisch. In Bezug auf ihr persönliches Interesse befanden die Gerichte, dass die Mehrzahl der Angeklagten nicht eigennützig, sondern ganz überwiegend im vermeintlichen Interesse des Unternehmens gehandelt hat. 102 Der juristische Untreuetatbestand (§ 266 StGB), der auf sechs der sieben Täter Anwendung fand, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur einem von ihnen eine persönliche Bereicherung nachgewiesen werden konnte. Alle Indizien sprechen dafür, dass die Verurteilten ihr Handeln an den Brauchbarkeitsbedingungen der Organisation und nicht vorrangig, wie von der Theorie rationaler Wahl nahegelegt, an ihrem persönlichen Interesse orientierten. Auch ein, durch die illegalen Aktivitäten vielleicht nahegelegtes Erreichen weiterer Sprossen auf der Karriereleiter lässt sich nicht nachweisen. 103 Viele hatten bezogen auf ihr Alter und ihre Position bereits die Endstufe ihrer Karriere erreicht. 102 Rein rechtlich betrachtet wurde in letzter Instanz allerdings eine Veruntreuung des KWU-Siemens- Vermögens und somit eine formal illegitime Zweckentfremdung, im Sinne einer Beeinträchtigung der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens, festgestellt. Sie hat jedoch nichts mit einer persönlichen Bereicherung der Angestellten zu tun. 103 In den Legitimationserzählungen eines der Täter hört sich die Begründung wie folgt an: »Ich hab' das als Dienstleister getan«, begründet [S.], warum er nicht für seine eigene Sparte, sondern die eines Kollegen Schmiergeldzahlungen organisierte. Die Aufgabe sei nun einmal »qua Position hängen geblieben« (Manager Magazin vom 26. Mai 2008). <?page no="225"?> 8.3 Aktive Korruption bei Siemens 225 8.3.2 Korruption als Anpassung und Nachahmung Aus institutionentheoretischer Perspektive betrachtet sind daher einige Ergänzungen und Korrekturen der Erklärungsperspektive der Theorie rationaler Wahl nötig. In diesem Rahmen ist wichtig, dass V. vor Gericht behauptete, Bestechung sei »gängige Praxis« gewesen (vgl. Leyendecker 2007: 131). Eine solche Interpretation wird durch Aussagen gestützt, wonach Bestechungsleistungen organisationsintern als »nützliche Aufwendungen« ausgewiesen werden konnten. Darin drückt sich eine Alternative zum strafrechtlich belastenden Vokabular aus, welche die betriebswirtschaftliche Rationalität der Handlungen als Investitionen akzentuiert und sich somit auf die Instrumentalität der Zahlung für den Geschäftsabschluss bezieht (siehe dazu LG Darmstadt 712 Js 5213/ 04 - 9 KLs: Rn. 126). Wer Bestechungsleistungen in diesem Sinne als nützliche Aufwendungen deklariert, legt eine informale Akzeptanz für derartige Handlungen nahe. Sie erscheinen auch dann als »rational« und nach den ungeschriebenen Regeln der Organisation als »legitim«, wenn ihr zweifelhafter legaler Status den Entzug der formalen Anerkennung erwarten lässt. Insbesondere die Vorstellung, dass Organisationen allzeit legal und im Rahmen geltender Gesetze operieren (können), wird in institutionalistischer Perspektive als »rationaler Mythos« entlarvt. Zwischen den Rationalitätsfassaden formaler Organisation und den rituellen Praktiken, die sie aufrechterhalten, besteht meist eine eher lose Kopplung. Dennoch sieht der Ansatz in der sichtbaren Fassade mehr als ein notwendiges Feigenblatt und verweist stattdessen auf die Schwierigkeit, die vielfältigen, teils widersprüchlichen Anforderungen der Umwelt in die Praxis umzusetzen (vgl. dazu Meyer/ Rowan 1977). Eine institutionalistische Perspektive zeigt dabei auf, dass Korruption nicht isoliert als opportunistisch-kriminelles Verhalten einzelner Mitarbeitender verstanden werden muss, sondern an institutionalisierte, also selbstverständlich gewordene Erwartungen und Praktiken in ihrem organisationalen Feld anknüpfen kann. Innerhalb des jeweiligen organisationalen Feldes ist es möglicherweise rational und legitim, sich im Interesse einer Steigerung des Unternehmensgewinns korrupt zu verhalten, denn auch hinter den Fassaden formaler Vorgaben der Unternehmen, die Korruptionsprävention betreiben, stehen ungeschriebene Regeln. Wie lange und in welchem Umfang derartige Praktiken in diesem Geschäftsbereich von Siemens zuvor bereits bestanden hatten, ist nicht eindeutig nachvollziehbar. Eine isolierte Betrachtung könnte daher den Schluss nahelegen, dass es sich um ein lokal begrenztes Problem, um einen einzelnen korrumpierten Geschäftsbereich oder um eine korruptionsförderliche regionale Umwelt handelte. Oder dass hier besonders kreative Mitarbeitende am Werk waren, die ihr Handeln an lokalen Gelegenheits- <?page no="226"?> 226 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption strukturen (einige wenige schwarze Kassen) orientierten. Gegen diese These (und für eine institutionalistische Interpretation) spricht aber die Einbettung der Bestechung von Enel-Managern in einen umfassenderen, für Korruptionsfälle typischen Geldwäsche-Plot (vgl. Levi u. a. 2007), der als Indiz für systematische Korruption gilt (vgl. Satzger 2009: 298). Nach den bislang bekannt gewordenen Indizien zu urteilen, war die Zahlung von Bestechungsgeldern insbesondere im internationalen Geschäftsverkehr kein lokalisierbares Problem einzelner Geschäftsbereiche (siehe dazu auch die Beiträge in Graeff u.a. 2009) und längst nicht auf Manager K. und seine Mitarbeitenden beschränkt. Im April 2008 vermutete Siemens, dass konzernweit circa 1,3 Milliarden Euro zu Bestechungszwecken verwendet worden waren. Von diesem Betrag ent el der mit 301 Millionen Euro zweithöchste Einzelposten auf den Geschäftsbereich PG. Damit kann die Nachahmungsthese des neuen Institutionalismus zumindest für die Organisation, aber auch für das organisationale Feld der Elektrizitätserzeuger plausibilisiert werden (Gulati/ Rao 2007). 8.3.3 Korruption als »brauchbare Illegalität« Die systemtheoretische Analyse zeigt demgegenüber, dass es sich bei der aktiven Korruption um eine Form von »brauchbarer Illegalität« handelt, die für die Bestandserhaltung der Organisation als »notwendig« erachtet wird. So berichteten zentrale Akteure des Geschäftsbereichs Kommunikationstechnik (Siemens-COM) von den dortigen Korruptionsstrukturen, dass man intern wiederholt über die existenzielle Gefährdung des Bereichs durch legales, bestechungsfreies Wirtschaften gesprochen hatte. Die Legitimität der Korruption war daher in der Organisationskultur so fest verankert, dass die formalen Vorgaben der Korruptionsprävention die hintergründigen Werthorizonte der Organisation nicht erreichten. Durch die individualisierende Zurechnung des Illegalen auf die verantwortlichen Mitarbeitenden wurde dies im Nachhinein verdunkelt. Gerade die Unterstellung eines Konsenses, der angeblich innerhalb des Unternehmens für die illegalen Geschäftspraktiken sprach, macht darauf aufmerksam, wie sehr kulturelle Prämissen unausgesprochen Geltung erlangten. Denn für die Aufrechterhaltung der Korruptionsstrukturen musste keine Umfrage und keine Abstimmung unter den Mitarbeitenden durchgeführt werden; es reichten Anspielungen, dass man in diesem Punkt einer Meinung sei. Die Korruption der Siemens AG fungierte daher in systemtheoretischer Perspektive nicht als das Instrument einer bestimmten Entscheidung, die unter Unsicherheit zu treffen ist, sondern als organisationskulturelle Entscheidungsprämisse, die für alle weiteren Entscheidungen im Prozess der Unsicherheitsabsorption Geltung beanspruchen und vorausgesetzt werden konnte - unter der Bedingung der offenkundigen Brauchbarkeit von Korruption für den Erhalt des Systems. <?page no="227"?> 8.3 Aktive Korruption bei Siemens 227 Im soziologischen (nicht: im juristischen) Sinne sind Organisationen - so die Pointe der Systemtheorie Luhmanns — auf »brauchbare Illegalität« verwiesen. Sie können ihre Formalstrukturen nicht so ausbilden und ihre Entscheidungsprämissen nicht so setzen, dass es Regeln und Vorschriften für alle Fälle gibt und deren Befolgung in allen Fällen zweckdienlich ist. Ein »voll formalisiertes System«, so Luhmann, wäre »nicht überlebensfähig« (Luhmann 1964: 27). Für das Verhalten, das »formale Erwartungen verletzt« (ebd.: 304), reserviert Luhmann den Begriff der Illegalität. Eine Erwartung gilt für ihn dann als formalisiert, wenn »erkennbar Konsens darüber besteht, daß die Nichtanerkennung oder Nichterfüllung dieser Erwartung mit der Fortsetzung der Mitgliedschaft unvereinbar ist.« (Luhmann 1964: 38; Herv. i. Orig.). Diese Definition muss für die Zwecke empirischer Analyse noch genauer gefasst werden. »Erkennbarer Konsens« bedeutet dann im Sinne Luhmanns, dass sich die Organisation bzw. das Mitglied als »Benutzer*in« der Norm im Konfliktfalle auf diese Erwartungen und Regeln berufen können muss, 104 weswegen formalisierte Regeln oft in schriftlicher Form vorliegen. Sie müssen jedenfalls explizit als Bedingung der Mitgliedschaft ausgewiesen und offen bekundet sein und lassen sich darin von »ungeschriebenen Regeln« und impliziten Erwartungen unterscheiden. Statt informale Erwartungen aber nur als Abweichung vom formalen Regelwerk zu behandeln, so Luhmann, sei es sinnvoll anzuerkennen, dass die informale Organisation »die eigentliche Arbeit« (Luhmann 2000: 207) erledige, wohingegen die »Hierarchie mit ihren Notstandskompetenzen des formal bindenden Entscheidens nur eine Hilfsfunktion erfüllt« (ebd.). Das zentrale Problem im Umgang der Organisation mit der Illegalität ihrer Handlungsweisen liegt genau darin, dass es sich für diese zum großen Teil um brauchbare Illegalität handelt. Während man Formen des Betrugs an der Organisation oder der persönlichen Bereicherung in der Organisation einfacher diskriminieren und identifizieren kann, weil sie für diese »unbrauchbar« sind und insofern in keinem gesellschaftlichen oder unternehmerischen Wertehorizont - außer in einem kriminellen — verankert werden können, fällt dies bei der »brauchbaren Illegalität« schwerer. Die Akteur*innen verstehen ihre Handlungen - wie im Falle von Siemens — als zweckdienliche und sehen sie durch die Nutzenerwartungen der Organisation gedeckt. Weder die vermeintliche Gier der Manager noch das oft unterstellte persönliche Interesse der Angestellten an den illegalen Geschäftspraktiken können demnach den empirischen Befund erklären, dass die Akteure sich an den Wert- und Zielvorgaben der Organisation orientierten und ihre formal illegitimen Handlungen durch den hintergründigen Werthorizont der Organisation gedeckt sahen (Klinkhammer 2011). Nicht selten sind es die loyalen — und nicht die illoyalen — Mitarbeitenden, die solche 104 Erkennbarer Konsens ist für Luhmann (1964) auch eine empirische Frage - die sich nur vom »Standpunkt des Benutzers« erschließt (ebd.: 308). <?page no="228"?> 228 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption Risiken im (vermeintlichen) Interesse der Organisation in Kauf nhmen. Die Ergebnisse unserer Analyse stehen somit in scharfem Kontrast zu den Erklärungsansätzen der Organisationsforschung, die das Problem der Korruption in Wirtschaftsorganisationen als eine Frage des Missbrauchs organisationaler Autorität zu privaten Zwecken, insbesondere zu persönlicher Vorteilsnahme, verstehen. Persönliche Bereicherung konnte für acht von neun verurteilten Tätern explizit ausgeschlossen werden und auch im einzigen Ausnahmefall nicht die Korruptionsstruktur — die Gelegenheitsstruktur der Bereicherung — erklären. Infobox 8.1: Indiviuelle und organisationale Devianz Die Perspektive von Einzeltäter*innen, welche im Kontext der Organisation kalkuliert zum Zwecke der persönlichen Bereicherung Gesetze unterlaufen, ist in der Kriminologie stark repräsentiert. Hier hat der Ansatz der Rational-Choice-Theorie große Bedeutung. Er bezieht sich grundlegend auf die Abwägung von Kosten und Nutzen sowie der Wahrscheinlichkeit, dass diese durch die kriminelle Handlung eintreten. Zugleich werden die soziale Situation und die Neigung bzw. Präferenz der Akteur*innen in Betracht gezogen (vgl. dazu grundlegend: Becker 1968; Coleman 1990; für Korrekturen daran: Gottfredson/ Hirschi 1990; in jüngerer Zeit: Shover/ Hochstetler 2002: 13; Matsueda 2013; Perrson et al. 2013; Simpson 2013 u.v.a.). In psychologisch fundierten Ansätzen individueller Devianz wird dabei zugleich auf die devianten psychischen Dispositionen der Täter*innen verwiesen (vgl. u.a. Knecht 2009; Nerdinger 2008; Rabl et al. 2008; Rabl 2011; Zettler/ Blickle 2011). Die Sichtweise von Devianz bleibt aber in beiden Ansätzen auf »corrupt individuals« konzentriert, welche »primarily for their personal benefit« korrupt handeln (Pinto et al. 2008: 688). Die Organisation bildet zwar den Kontext für sich persönlich bereichernde Täter*innen. Sie gehört aber - außer in Bezug auf die Gelegenheitsstrukturen, die sie bietet - nicht zum Verursachungszusammenhang der Taten (ebd.: 689). Andere Zugänge eröffnet die soziologische Perspektive auf organisationale Devianz. Nicht das opportunistisch-kriminelle Verhalten einzelner Mitarbeitender allein wird in den Fokus gerückt, sondern zugleich die Strukturen der Organisation sowie die Normalisierungsformen von Devianz in der Organisation (vgl. Brief et al. 2001; Bannenberg 2002: 347 f; Ashforth/ Anand 2003; vgl. dazu auch Ashforth et al. 2008: 672; Snider 2008). In Deutschland setzt diese Perspektive u.a. bei den frühen Arbeiten von Luhmann zur »brauchbaren Illegalität« an (Luhmann 1964; darauf bezogen: Ortmann 1999; Koch 2004; Vogd 2004, Kühl 2007, 2010; Pohlmann 2008; Klinkhammer 2013; Bergmann 2014; kritisch zum Konzept: Ortmann 2010: 20 f.; kritisch zur Verwendung des Konzepts: Tacke 2015: 70 ff.). Der grundlegende Gedanke dahinter ist, dass jede Organisation auf die Abweichung von formalen Regeln angewiesen ist, um funktionieren zu können (siehe weiter oben in diesem Kapitel). Damit erscheint die Devianz als normale Begleiterscheinung von Organisation. Der Widerspruch zwischen formaler Ordnung und informaler Abweichung wird in die Normordnung der Organisation aufgenommen. Abweichung und Nichtabweichung <?page no="229"?> 8.4 Individuelle, organisationale und professionsgeleitete Devianz 229 sind dann zugleich gerechtfertigt (Luhmann 1964: 305 f.). Diese Idee der organisationalen Devianz als »brauchbare Illegalität« hat bislang jedoch nur wenig empirische Fundierung erfahren (vgl. aber für exemplarische Analysen des Siemens-Korruptionsfalls und weiterer Korruptionsfälle Klinkhammer 2011, 2013; Bergmann 2014; Pohlmann/ Bitsch/ Klinkhammer 2016). In der anglo-amerikanischen Diskussion ist das Konzept der organisationalen Devianz hingegen konzeptionell weiter ausgearbeitet worden (siehe insbesondere Vaughan 1999; Brief et al. 2001; Ashfort/ Anand 2003; Anand/ Ashfort 2005, Joshi et al. 2007, Pinto et al. 2008; Palmer 2012; für eine Zusammenfassung auch Campbell/ Göritz 2014). Hier stehen nicht die Kalküle und Präferenzen der Täter*innen im Vordergrund. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass organisationale Praktiken verinnerlicht und oft »mindless« praktiziert werden (Palmer 2012). Sie werden als für die Organisation nützliche Praktiken institutionalisiert. Sie orientieren sich an organisationalen Anreizsystemen und den ungeschriebenen Regelerwartungen in der Organisation (vgl. dazu insbesondere Ashfort/ Anand 2003 sowie Palmer 2012). In jüngerer Zeit sind hier auch Survey-Studien unter dem Stichwort des »unethical pro-organizational behavior« entstanden. Sie weisen nach, dass die Bereitschaft zum unethischen pro-organisationalen Verhalten umso höher ist, je loyaler das Personal der Organisation gegenübersteht (Umphress et al. 2010; Umphress/ Bingham 2011; Ilie 2012, Matherne et al. 2012; Miao et al. 2013; Dahling et al. 2012; Liu/ Qiu 2015; Lee et al. 2015; Kong 2016). 8.4 Individuelle, organisationale und professionsgeleitete Devianz: Die Manipulationen der Wartelisten in der deutschen Transplantationsmedizin 105 Das Drama begann mit einem anonymen Hinweis an die Bunderärztekammer in Deutschland, bei welchem der Verdacht des Organhandels im Vordergrund stand. Die Bundesärztekammer begann den Fall zu prüfen und entdeckte am Universitätsklinikum Göttingen viele Unregelmäßigkeiten bei der Aktenführung von Patient*innen, die eine Leber transplantiert bekommen hatten. Zum Teil war es zu Falschangaben gekommen, die dazu angetan waren, die eigenen Patient*innen auf der Warteliste bei Eurotransplant nach oben zu befördern. Auf diese Weise bekamen sie früher ein Organ zugeteilt, auf Kosten der Zuteilungschance für eine*n andere*n Patient*in. Die Bundesärztekammer stellte die Ergebnisse ihrer ersten Prüfung der Presse zur Verfügung und der Skandal war in der Welt. Die Medien waren schnell in ihren Urteilen. Die Botschaft war, dass die Transplantationsmediziner*innen sich persönlich aus Gründen der Gier und des Karrierismus zum Schaden der (deutschen/ europäischen) Patient*innen und des Allgemeinwohls bereichert hatten. Die Prüfungs- und Überwachungskommissionen der Bundesärztekammer (PÜK) prüften für den Zeitraum von 2010 bis 2012 nun weitere Kliniken, systematisch über alle Organgruppen hinweg und deutschlandweit. Gegen den Transplantationschirurgen wurde ermittelt und er 105 In diesem Unterkapitel finden sich Auszüge eines Artikels, der bei der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie unter dem Titel: Manipulationen in der Transplantationsmedizin - Ein Fall von organisationaler Devianz? eingereicht wurde. <?page no="230"?> 230 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption wurde wegen versuchten Totschlags angeklagt und in erster Instanz freigesprochen. Der für die Transplantationen ebenfalls zuständige Internist in Gottingen wartet noch auf sein Verfahren. Dass es zu Manipulationen der Wartelisten gekommen war, wurde jedoch weit überwiegend vom Gericht bestätigt 106 . Während die Organgruppen Niere und Pankreas keine Auffälligkeiten zeigten 107 , wurde bei Leber, Lunge und Herz ein vergleichsweise großes Ausmaß an Manipulationen sichtbar. In 17 Prozent der geprüften Fälle (zwischen 2010 und 2012 wurden insgesamt 2120 Transplantationsfälle geprüft) wurde nach den Angaben der PÜK systematisch manipuliert. In 12 von 47 Zentren wurden 354 Richtlinienverstöße angemahnt. Damit betrug der durchschnittliche Anteil der Manipulationen pro Zentrum mit Verstößen 38 Prozent, d.h. innerhalb eines Zentrums wurde im Durchschnitt in mehr als einem Drittel der Fälle manipuliert. Die Zahlen zeigen, dass diese Praxis innerhalb der jeweiligen Zentren regelhaft verbreitet war, und sprechen dafür, dass wir es mit einem »manipulativen Brauch« im organisationalen Feld der Transplantationsmedizin zu tun hatten. Zumeist wurde mittels Falschangaben oder Medikamentengaben manipuliert. Nicht nur die Medien, sondern auch die verfahrensbeteiligten Jurist*innen stellten sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob wir es bei den Manipulationen mit Fällen individueller Devianz oder mit organisationaler Devianz zu tun haben. Stand persönliche Bereicherung im Vordergrund? Für diese, durch die Presse vertretenen Unterstellungen ließen sich bisher kaum Indizien finden. Der für Göttingen zuständige Haftrichter formulierte denn auch: »… für die ursprüngliche Annahme (der Staatsanwaltschaft), der Angeklagte habe sich für die Manipulation der Reihenfolge bezahlen lassen, (gibt es) keinen Beleg« (Haftprüfungsbericht v. 11.02.13, AZ 9 Qs 20/ 13). Auch der Vorsitzende Richter des Landgerichts Göttingen kommt in seinem Urteil vom 06.05.2015 zu dem Schluss, dass das normabweichende Handeln des Chirurgen Dr. O. nicht maßgeblich davon bestimmt war, finanzielle Vorteile zu erlangen (Landgericht Göttingen Schwurgericht 2015, S. 63, 320) 108 . Im Jahr 2011, in dem die meisten Richtlinienverstöße nachgewiesen werden konnten, hatte der Arzt bereits einen pauschalisierten Bonus bezogen. Auch Interviews mit an weiteren Verfahren beteiligten Jurist*innen bestätigen, dass in der Regel keine bereichernde Vorteilnahme 106 Wenn wir im Folgenden von Manipulationen sprechen, dann beziehen wir uns damit nicht auf einen juristischen Tatbestand. Die Rechtswidrigkeit der angemahnten Verstöße muss jeweils im Einzelnen, nach Maßgabe des Strafrechts und des Berufsrechts, von den Gerichten festgestellt werden. Wir beziehen uns stattdessen auf die von der Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer (PÜK) angemahnten, systematischen Verstöße gegen ihre Richtlinien zur Organvergabe (vgl. zur juristischen Einschätzung der Richtlinien: Dannecker und Streng (2014). 107 Der Grund dafür liegt nach Ansicht der von uns interviewten Expert*innen in dem ungleich größeren Aufwand, hier zu manipulieren. 108 Das Verfahren endete in erster Instanz mit einem Freispruch. Der Freispruch war in der überwiegenden Zahl der angeklagten Fälle ein rechtlicher Freispruch. Das heißt, es wurden zwar Richtlinienverstöße festgestellt, aber diese wurden vom Gericht im Sinne der Anklage nicht als strafbar erachtet. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein. <?page no="231"?> 8.4 Individuelle, organisationale und professionsgeleitete Devianz 231 außerhalb der organisationalen Anreizsysteme stattgefunden hat. Ebenso endete die Pressemitteilung zu den Ermittlungen der Leipziger Staatsanwaltschaft mit der Feststellung: »Der Staatsanwaltschaft liegen bisher keine Hinweise auf ein korruptives Verhalten der beschuldigten Ärzte vor« (Staatsanwaltschaft Leipzig, Pressemitteilung vom 26.03.2013). Wenn also persönliche Bereicherung nach bisherigen Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden keine entscheidende Rolle spielte, worin lagen die Manipulationen dann begründet? Um zu prüfen, ob es sich um einen Fall organisationaler Devianz handelt, muss zunächst wiederum der organisationale Nutzen der Manipulationen festgestellt werden. Auch wenn wir nicht davon ausgehen, dass die Kliniken die Manipulationen gewollt haben, spielt doch eine Rolle, ob sie diesen nützten. Dabei zeigt sich sehr schnell, dass für die Unikliniken und ihre Vorstände, ebenso wie für die Landespolitik, die Anzahl der Transplantationen als ein wichtiges Kriterium für den Erfolg ihrer Transplantationsmedizin gesehen wurde. Dies wird teilweise auch in den Geschäftsberichten klar ausgewiesen. Im Geschäftsbericht der Universitätsklinik Leipzig von 2010 heißt es z.B.: »Eine überdurchschnittliche Entwicklung nahm der Bereich der Transplantationsmedizin. (…) So nahm 2010, entgegen dem bundesweiten Abwärtstrend, die Zahl der Lebertransplantationen im UKL auf 85 deutlich zu. Damit steht Leipzig gemeinsam mit der Medizinischen Hochschule Hannover und den Universitätsklinika Heidelberg und Hamburg-Eppendorf in einer Vierergruppe auf Platz 3 hinter Essen und Berlin«. Auch für die Ziele der anderen Zentren erschien eine Stagnation oder ein Rückgang der Anzahl der Transplantationen als sehr ungünstig. Es liegt daher nahe, dass die Oberärzt*innen und Chefärzt*innen dieses Kriterium nur schwer außer Acht lassen konnten. Betrachtet man die Anzahl der Lebertransplantationen und die Geschäftsberichte vor diesem Hintergrund, so ist schnell klar, dass eine Ausweitung der Transplantationszahlen den Zielen der Zentren und Kliniken entsprach. In manchen Zentren wurde sie sogar für deren Fortbestand als notwendig erachtet. Damit ist für uns das Kriterium der »Brauchbarkeit« der illegalen Handlungen für die Zentren erfüllt. Dass ihre Aufdeckung dazu geführt hat, die Ziele der Zentren und Kliniken zu konterkarieren, ändert daran nichts. Doch neben der Nützlichkeit müssen wir zeigen, wie es zur organisationalen Institutionalisierung dieser Manipulationen kommen konnte. Auch hier bewegen wir uns auf dem Terrain einer Hellfeldanalyse 109 , die sich ex-post mittels Akten- und Interviewanalysen mit den Fällen beschäftigt, welche bereits zur Aufdeckung gekommen sind. Da es keine Studien aus dem »Dunkelfeld« der Manipulationen für den Prüfzeitraum 109 Mit dem Begriff »Hellfeld« wird in der Regel »der Ausschnitt aus dem gesamten Kriminalitätsgeschehen bezeichnet, der den Institutionen der Strafverfolgung bekannt und dort registriert wird. Taten, die nicht angezeigt werden und somit nicht zur Kenntnis der Ermittlungsbehörden gelangen, bilden demgegenüber das Dunkelfeld« Kersting und Erdmann (2014, S. 11) . <?page no="232"?> 232 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption gibt, ist dies jedoch der einzige Zugang, der zur Verfügung steht - so begrenzt dieser sein mag. Eine einfache Übertragung auf den je konkreten Einzelfall schließt sich aus. Wie immer steht in diesem Lehrbuch die Heuristik der soziologischen Erklärung im Vordergrund und nicht eine juristisch belastbare Einzelfallprüfung. In Anlehnung an den Ansatz organisationaler Devianz, wie er von Ashfort/ Anand 2003; Pinto et al. 2008; Campbell/ Göritz 2014 u.a. vertreten wird, wollen wir uns die oben bereits benannten Institutionalisierungsmechanismen von organisationaler Devianz (siehe weiter oben Kap. 8.2) für den Fall der Manipulationen genauer ansehen: (1) Konkurrenzdruck, (2) hierarchischer Druck, (3) Rationalisierung und Legitimierung sowie (4) Sozialisation. (1) Konkurrenzdruck: Im Aspekt des Konkurrenzdrucks können wir sehen, dass sich der Rückgang der Anzahl der Organtransplantationen beim Herzen bis 2010 zusammen mit den Mindestvorgaben von 20 Transplantationen bei der Lebertransplantation auf die Wettbewerbssituation der einzelnen Zentren niederschug. Der auf den Zentren lastende, auf die Anzahl der Transplantationen bezogene Wettbewerbsdruck nahm in diesem Zeitraum zu. Der Konkurrenzdruck auf die Kliniken schlägt sich aber vielen Interviews zufolge nicht so sehr in Deutungsmustern der Mediziner*innen nieder, die auf die ökonomische Situation der Zentren fokussieren, sondern auf den Reputationswettbewerb innerhalb der Profession. Dieser steht im Vordergrund und stellt u.E. einen zentralen Institutionalisierungsmechanismus organisationaler Devianz dar. Er artikuliert sich in diesem Feld vor allem professionsbezogen. (2) Hierarchischer Druck: Vor dem Hintergrund der Regelhaftigkeit der manipulativen Praxis ist es wahrscheinlich, dass deviante Handlungen für nicht direkt beteiligte Organisationsmitglieder sichtbar und im Regelfall geduldet statt gemeldet wurden - sonst hätten die Klinikleitungen oder die Bundesärztekammer vermehrt Hinweise auf solche Praktiken erhalten müssen. In den kollektiven Deutungsroutinen in diesem Feld erscheint denn auch die Hierarchie, entlang der Linie der medizinischen Fachautorität, als nach wie vor weitgehend intakt (Wilkesmann/ Jang-Bormann 2015, S. 227ff.). Als schwer hinterfragbare medizinische Fachautorität steht sie unverändert im Zentrum der professionellen Organisation der Transplantationszentren. (3) Rationalisierung und Legitimierung: Die meisten Stellungnahmen der medizinischen Expert*innen zu den Richtlinienverstößen sind ablehnend. Sie liefern also - nicht zuletzt aufgrund der angespannten Wettbewerbssituation - keine Anerkennungsgründe für Manipulationen in diesem Feld. Dennoch gibt es Rationalisierungen der Abweichungen. Sie knüpfen an die tragische Situation an, die durch die Vorrangigkeit schwerstkranker Patient*innen entstanden ist. In Deutschland waren in diesem Zeitraum - im Vergleich mit den anderen Ländern, die sich Eurotransplant angeschlossen haben - die Erkrankungsscores, wie z.B. bei der Lebertransplantation, am <?page no="233"?> 8.4 Individuelle, organisationale und professionsgeleitete Devianz 233 höchsten. Zugleich waren die Überlebensraten nach der Transplantation, nicht nur bei den Lebertransplantationen, am geringsten (vgl. Schlitt et al. 2011; Eurotransplant 2012). Bei den Lebertransplantationen schlägt sich dies in den Deutungsmustern der Mediziner*innen nieder. Das objektive Handlungsproblem bestand für die Mediziner*innen darin, dass sie die Patient*innen zu dem Zeitpunkt, an dem sie noch heilend helfen können, nicht transplantieren durften. Später, wenn sie endlich transplantieren durften, konnten sie den Patient*innen nicht mehr heilend helfen. Die Manipulationen wurden als eine Umgehung irreführender Indikatoren, welche dem Wohle der noch heilbaren Patient*innen diente, rationalisiert. (4) Sozialisation: In Bezug auf das Personal hatten wir es in der Transplantationsmedizin im Regelfall mit erfahrenen Mediziner*innen zu tun. Sie waren im Durchschnitt 50 Jahre alt, seit 20 Jahren in der medizinischen Profession aktiv und seit neun Jahren in dem jeweiligen Klinikum/ Transplantationszentrum tätig. Häufig handelte es sich um die zweite Generation von Transplantationsmediziner*innen, die unter den Pionieren und Koryphäen des Faches gelernt und Anerkennung erfahren haben. Wie diese erste Generation ist auch die zweite Generation noch in einer eher gering regulierten Welt der Organvergabe sozialisiert worden 110 . Die Manipulationen erscheinen in den Interviews als Folge eines »cultural lag«. Die Mediziner*innen waren an die früheren Selbstbestimmungsspielräume gewöhnt. In diesem Deutungsmuster spielt also das Festhalten an professioneller Selbstregulierung bei der Fallbearbeitung eine wichtige Rolle. Durch die extern gesetzten, inkonsistenten Regelungen und die tragische Situation der Organknappheit operierten die Kliniken und ihr Personal in einem widersprüchlichen Setting, das auch die Abweichung von den Regeln zu einer rationalen Alternative werden ließ. Für die Wahl dieser Alternative bedurfte es keiner devianter Persönlichkeiten, sondern nur entsprechender Anreizstrukturen der Organisation und der Profession, aber - vielen Interviews zufolge - auch einer eher passiven Haltung des unbeteiligten Personals. Die teilweise Entkopplung von Vorder- und Hinterbühne der professionellen Organisation verstehen wir als eine typische organisationale Reaktion auf die widersprüchlichen Anforderungen, mit denen sich die Transplantationszentren und ihre Mediziner*innen konfrontiert sahen. Die Befunde unserer Studie deuten jedenfalls sehr klar darauf hin, dass wir die These organisationaler Devianz 110 Das Feld der Transplantationsmedizin gehört zu einem juristisch und politisch erst spät, mit dem Transplantationsgesetz von 1997 regulierten, wissenschaftlichen Pionierfeld der Medizin. Auf diesem verpflichtet das Transplantationsgesetz die Bundesärztekammer in §16 TPG, den Stand der medizinischen Erkenntnisse zu Regeln der Aufnahme der Patient*innen in eine Warteliste für die Organtransplantationen festzustellen. Die Bundesärztekammer hat daraufhin Richtlinien erlassen, gegen die nach umfassenden Prüfungen der von ihr eingesetzten Kommissionen (Prüfungs- und Überwachungskommissionen der Bundesärztekammer) zahlreiche Kliniken und Mediziner*innen durch Falschangaben oder nicht notwendige Medikationen verstoßen haben. <?page no="234"?> 234 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption bejahen müssen, um die beanstandeten Manipulationen verstehen zu können. Zwar fehlt der Mechanismus der Legitimierung der Abweichungen, doch zugleich spricht die Empirie für eine tiefgreifende Institutionalisierung von Devianz über alternative Mechanismen, die an professionelle Regeln anknüpfen und auf eine damit eng verbundene »professionsbezogene Devianz« hindeuten. Zumindest spielt die Profession nicht nur bei der externen Regulierung durch die Ärztekammer, sondern auch bei der Institutionalisierung der Abweichungen von deren Richtlinien eine ganz entscheidende Rolle. Für Iseringhausen/ Staender (2012) liegt in Krankenhäusern die Möglichkeit der »Entkopplung« von formalen Strukturen und faktischen Aktivitäten auch »in den Grundstrukturen professionellen Handelns begründet« (ebd.: 194). Insbesondere die Unverzichtbarkeit professioneller Kompetenz, der medizinischen Einzelfallorientierung und die Interaktionsabhängigkeit der Arbeitsergebnisse spielten dabei eine Rolle (ebd.: 195; vgl. dazu auch Wilkesmann/ Jang-Bormann 2015, S. 227ff.). Aus organisationssoziologischer Perspektive schafft die professionelle »gemeinwohlorientierte« Organisation im Sektor der Medizin eine andere Form von Devianz. Sie unterscheidet sich von den Regelabweichungen in der Privatwirtschaft zum einen dadurch, dass der ökonomische Nutzen für die Zentren nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der medizinische Nutzen und medizinische Kontext der Abweichungen stehen im Vordergrund. Zum anderen macht auch die zugrundeliegende Unterstellung von Organknappheit und tragischen Wahlsituationen einen entscheidenden Unterschied. Sie schafft für die professionelle Organisation und die Mediziner*innen eine Struktur, bei der sowohl die Einhaltung als auch die Abweichung von den Regeln Menschenleben kostet. Das unterscheidet den Wettbewerb in den Kliniken maßgeblich von den Problemen, die wir in Wirtschaftsunternehmen beobachten. Denn das abweichende Verhalten erscheint auch in diesem Fall als professional und organisational mitbegründet — als ein kollektives Phänomen, das einer soziologischen Erklärung bedarf. 8.5 Compliance, Moral und die Bekämpfung von Korruption und Manipulationen Wie können Organisationen vermeiden, dass sie von legalen Pfaden abkommen, und wie finden sie wieder auf diese zurück? Aus der Perspektive der Theorie rationaler Wahl ist es eine Frage insbesondere der Risikoerwartungen, d.h. der Strafen (Art/ Höhe) und der Wahrscheinlichkeit, dass diese eintreten (Becker 1968, 1976). Insbesondere Gesetze und Kontrollorganisationen erhöhen die Strafen und das Risiko einer negativen Sanktion für den*die Prinzipal*in. Wenn diese also das abweichende Handeln sehr teuer machen, werden in der Organisation die Anreiz- und Sanktionsstrukturen für die Agent*innen anders gesetzt. Das erhöht, so die Annahme, die Wahrscheinlichkeit, dass diese die präventiven Interessen des*der Prinzipal*in zu ihren eigenen machen. <?page no="235"?> 8.5 235 In der Institutionentheorie sind dabei nicht nur die Rechtsnormen und die justizielle Sanktionspraxis wichtig, sondern auch die wachsende Inakzeptanz und Illegitimität solcher Praktiken. Je mehr diesen im organisationalen Feld die Anerkennung oder Duldung entzogen wird, desto eher könnte der Dominoeffekt der Nachahmung für wachsende Chancen einer effektiven Kontrolle von Korruption und Manipulationen sorgen. Zwar tendiert der Neo-Institutionalismus dazu, Compliance-Maßnahmen und CSR- Maßnahmen als Lippenbekenntnisse zu entlarven. Sie erscheinen in diesem Ansatz als Elemente einer formal korrekten Fassade, mit denen keine tatsächliche Veränderung der Geschäftspraktiken einhergehen muss (Meyer/ Rowan 1977). »Decoupling«, so Meyer/ Rowan, ist eine Antwort der Organisation auf externen Druck. Sie erlaubt Organisationen »to maintain standardized, legitimating, formal structures while their activities vary in response to practical considerations« (Meyer and Rowan 1977: 357). Aber die auf diesen Grundannahmen aufbauende Argumentation vermag gleichwohl zu zeigen, dass die Einführung solcher Fassaden die Unternehmen auf lange Sicht zu einem tatsächlichen Wandel in den Aktivitätsstrukturen führen kann (Hiß 2005). Denn sie werden nun intern und extern an ihren selbstgesetzten Standards gemessen und mit der Erwartung konfrontiert, dem »Window-Dressing« auch effektive Aktivitäten folgen zu lassen. 111 Wenn Organisationen z.B. Ethik-Programme zu sehr von ihren tatsächlichen Aktivitäten abkoppeln, ernten sie »negative legitimacy perceptions« ihrer Mitglieder (siehe dazu MacLean et al. 2015: 363). An diese Argumentation kann auch Luhmanns Ansatz anknüpfen, allerdings mit anderen Akzentuierungen. Da die Organisation die Abweichung von formalen Vorgaben weder verhindern noch regulieren kann, ist sie auf einen evolutionären Wandel in den normativen Orientierungen der Organisation angewiesen. Das Management kann diesen Prozess zwar beeinflussen, z.B. indem die Brauchbarkeit illegaler Praktiken in Abrede gestellt und Verstöße konsequent sanktioniert werden. Dies kann auch dadurch geschehen, dass Personal ausgetauscht wird. Aber ob derlei Änderungen in den Entscheidungsparametern tatsächlich zu neuen Entscheidungsprämissen führen, hängt nicht allein vom Management, sondern von der Evolution der organisationalen Binnenkulturen ab. Das Problem der Illegalität ist dem systemtheoretischen Ansatz zufolge eindeutig nicht durch eine optimierte Normstruktur zu lösen. Die Formalisierung löst nur einen 111 Hiß weist an dieser Stelle auf den Druck hin, »wenn die Diskrepanz zwischen Formalstruktur und Aktivitätsstruktur offenbar wird« (Hiß 2005: 227). MacLean et al. zeigen in einer Zufallsstichprobe von 182 Angestellten des Finanz- und Pharmaservice auf, dass die Fassade eines ethischen »Code of Conduct« zwar die Legitimität gegenüber den externen Stakeholdern erhöht, aber die interne Legitimät bei zu starker Abweichung schwächt (MacLean et al. 2015: 363). <?page no="236"?> 236 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption schmalen Ausschnitt der Ordnungsprobleme eines Systems. Sie kann die Abweichung von den Regeln auch nicht einer neuerlichen Normierung unterziehen, ohne damit logisch in einen infiniten Regress einzutreten (vgl. dazu auch Pohlmann 2008: 171). Denn »brauchbare Illegalität« ist dadurch bestimmt, dass sie sich jeder formalen Vorschrift entzieht. Sie ist dem Dezisionismus der Organisation entzogen. Jedes Compliance-Management bekommt es deswegen mit der Kultur eines Unternehmens zu tun. Denn nur die Kultur einer Organisation generiert jene hintergründigen Wertorientierungen und Handlungsschemata, welche auch die Handhabung von brauchbarer Illegalität limitieren. Natürlich kann das Management der Organisation Normen setzen und bestimmte Formen der Illegalität mit scharfen Sanktionen bedrohen, aber deren Wirksamkeit hängt maßgeblich von einem kulturellen Wandel der Organisation ab, der sich der Verfügung darüber entzieht. Für den Umgang der Organisation mit Kulturen und Werten ist charakteristisch, dass man diese nicht einfach verordnen oder durch Entscheidungen verändern kann. Denn in systemtheoretischer Perspektive sind es vor allem nicht-thematische Relevanzen und unentscheidbare Entscheidungsprämissen (vgl. Luhmann 2000: 239), welche die Kultur einer Organisation ausmachen (siehe Kap. 7 und weiter unten). Mit dem Compliance-Management werden in systemtheoretischer Betrachtung nur neue formale Regeln und eine Semantik bereitgehalten, welche die Organisation im Entscheidbaren, im Thematischen hält. Denn das Typische für Organisationen ist für Luhmann, dass sie dort Entscheidbarkeit signalisieren, wo Unentscheidbarkeit vorherrscht: in der Handhabung der Unternehmenskultur als »Corporate Identity« oder in der Handhabung der Unterscheidung von brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität als Compliance-Management. Der mit dem Compliance-Management betriebene Aufbau einer innenorientierten Wertesemantik hat die Funktion, das Problem der Unentscheidbarkeit im Entscheidbaren zu behandeln und so Unsicherheiten in Wahrscheinlichkeiten zu transformieren. Es ist wie beim Pfeifen im Walde: Man gewinnt an Sicherheit, ohne diese tatsächlich durch Entscheidung generieren zu können. Der Vergleich der verschiedenen Ansätze zeigt, dass nur die Theorie rationaler Wahl — ähnlich wie Teile der kriminologischen Forschung — die persönlichen Interessen der Akteur*innen in den Vordergrund einer Erklärung des normabweichenden Handelns in und von Organisationen stellt. <?page no="237"?> 237 Tabelle 8.2: Abweichung von formalen Normen und Probleme der Kontrolle nach verschiedenen Theorieansätzen Theorie rationaler Wahl (Coleman) Neue Institutionentheorie Systemtheorie (Luhmann) Warum kommt es zur Abweichung von formalen Normen? Weil dies im Interesse der Mitglieder (Agent*innen) und ggf. der Organisation (Prinzipal) ist Weil und solange es innerhalb eines Feldes als »rational« und »legitim« erscheint, wenn die legale Fassade gewahrt wird Weil Organisationen auf »brauchbare Illegalität« angewiesen sind Warum kann die Organisation das (falls beabsichtigt) nicht immer verhindern? Weil das Kosten- Nutzen-Kalkül des Prinzipals zur nachlässigen Kontrolle durch das Management führt Weil das Management selbst es als legitim empfindet, solange es die anderen auch tun und die Wahrscheinlichkeit einer Sanktion gering erscheint Weil sich »brauchbare Illegalität« den formalen Vorgaben bzw. der formalen Kontrolle des Managements entzieht Welche Möglichkeiten zur Bekämpfung aktiver Korruption sind vorstellbar? Erhöhung der Risiken des Prinzipals durch effektive Regulation (Gesetze, behördliche Maßnahmen), die von dessen Agent*innen in Sanktions- und Anreizstrukturen der Organisation »übersetzt« wird Durch Gesetze Zwang ausüben, durch internationale Organisationen & NGOs den Wandel im organisationalen Feld vorantreiben und die Selbstbindung der Organisation durch CSR erhöhen Einen evolutionären Wandel der kulturellen Brauchbarkeitsbedingungen illegaler Handlungen anstoßen sowie die Verantwortlichkeit der Organisation erhöhen (z.B. durch Organisationsstrafen) Für den neuen Institutionalismus verbirgt sich dahinter viel eher ein Nachahmungseffekt, der die aktive Korruption auch für das Management als legitim und rational erscheinen lässt. Es übt deswegen seine Kontrollfunktion nur in Grenzen aus. Dieser Effekt der Institutionalisierung akzeptabler illegaler Praktiken erklärt das normabweichende Handeln in und von Organisationen und nicht vorrangig das persönliche 8.5 <?page no="238"?> 238 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption Interesse der Akteur*innen. Die systemtheoretische Erklärung einer solchen Abweichung gewichtet individuelle Nutzenkalküle schon deswegen anders, weil sie unterstellt, »dass Organisationen fortbestehen können, ohne dass ein Individuum seinem Selbstverständnis nach davon profitiert« (Luhmann 2000: 87 f.). Für die Systemtheorie sind Organisationen in ihrer Funktionsweise grundsätzlich auf brauchbare Illegalität angewiesen. Ohne die Abweichung von formalen Vorgaben wäre keine Organisation überlebensfähig. Nicht Nachahmung, sondern das Interesse an der Bestandssicherung erklärt die illegale Praxis. Sie lässt sich nicht einfach kontrollieren, weil sie gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich formalen Vorgaben oder Normierungen entzieht und nicht qua Entscheidung geändert werden kann. Ob das Management von Ethik also zum Zuge kommt oder als »Feigenblatt« die Praxis »brauchbarer Illegalität« verdeckt, hängt maßgeblich nicht vom Management oder der Art der Implementierung der CSR-Maßnahmen ab, sondern von den kulturellen Prämissen der Organisation bzw. von ihrem Wandel. Dieser dauert gemeinhin sehr viel länger und erweist sich als sehr viel weniger steuerbar als die Semantik des CSR- Managements suggeriert. Ob die Mitglieder zur Korruption als formal illegitimem, aber gleichwohl brauchbar-illegalem Instrument der Geschäftspraxis greifen, ist daher aus Luhmanns Perspektive eine empirische bzw. eine historisch und fallweise zu beantwortende Frage, die nach den organisationskulturellen Dunkelfaktoren forschen muss, die einem solchen Verhalten als Quelle informaler Legitimation dienen können. 8.6 Zusammenfassung Der Zugang der Soziologie zu der Frage, wie Organisation und Moral zusammenhängen, ist nicht moralisch. Sie unterwirft die Analyse nicht den eigenen ethischen oder moralischen Standards. Im Ergebnis weisen die herangezogenen Ansätze darauf hin, dass an legalen Zwecken orientierte Organisationen zwar in einem gesellschaftlich normierten Rahmen operieren, aber innerhalb dieses Rahmens zur Zweckverfolgung fernab moralischer Imperative freigesetzt sind. Jedoch reiben sie sich in ihrer instrumentellen Zweckverfolgung an diesem normativen Rahmen. Während dabei die Abweichung von formalen Vorgaben in der Soziologie eher als die Regel erscheint, kommt es auch immer wieder zu rechtswidrigen Handlungen von und in (legale Zwecke verfolgenden) Organisationen. Diese erscheinen in der Theorie rationaler Wahl durch die betrügerischen Interessen der Akteur*innen begründet und im neuen Institutionalismus durch die Legitimität solcher Praktiken in der Organisation, in der Branche und in der Wirtschaft selbst. Die Systemtheorie sieht darüber hinaus jede Organisation als abhängig von »brauchbarer Illegalität«. Aber diese entziehe sich formalen Vorgaben, weswegen die Normkontrolle der Organisation schwerfalle. <?page no="239"?> 8.6 239 Diese unterschiedlichen Theorieoptionen ließen sich am empirischen Fall der Korruptionsaffäre bei Siemens weiter vertiefen. Die Analyse hatte zum Ergebnis, dass eine Zurechnung auf die persönlichen Interessen der Akteure im Falle der aktiven Korruption bei Siemens schwerfiel. Damit verlor die Theorie rationaler Wahl an Plausibilität, und der Neo-Institutionalismus und die Systemtheorie konnten diese Erklärungsperspektive mit dem Hinweis auf die Selbstverständlichkeit des korrupten Handelns und seiner Brauchbarkeit für die Organisation ergänzen und korrigieren. Alle drei Ansätze führen zu sehr verschiedenen (hypothetischen) Möglichkeiten der Korruptionsbekämpfung. In der Coleman‘schen Perspektive müssen durch Gesetze und Skandalisierungen die Kosten für den*die Prinzipal*in (wie im Falle Siemens) in die Höhe getrieben werden, während der neue Institutionalismus darüber hinaus auch auf die Möglichkeiten der Selbstbindung durch CSR verweist. Da die Luhmann‘sche Theorie im CSR-Management eher ein Signal von Entscheidbarkeit sieht, wo Unentscheidbarkeit vorherrscht, verweist sie auf eine evolutionäre, zukunftsoffene Veränderung der Kultur einer Organisation, welche die informale Akzeptanz von »brauchbarer Illegalität« verändere. Übung zu Kapitel 8: Ein kniffliger Fall — Führung einer gelben Gewerkschaft 112 durch einen ehemaligen Siemensianer Im Herbst des Jahres 2000 erhielt Johannes F., Vorstandsmitglied im Geschäftsbereich Automatisierungstechnik, einen Anruf aus dem Zentralvorstand der Siemens AG. Er wurde von seinem Vorgesetzten gebeten, mit dem Vorsitzenden einer Gewerkschaft namens »Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger e.V.« 112 Als »gelbe« Gewerkschaften werden Arbeitnehmervereinigungen bezeichnet, die eine arbeitgeberfreundliche Betriebspolitik auf Basis wirtschaftsliberaler Ideale anstreben, statt der »roten« sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Semantik des Kampfes ›Arbeit vs. Kapital‹ zu folgen. Kapitel 8: Fragen zur Vertiefung Schildern Sie aus der Sichtweise der Theorie rationaler Wahl die Problematik für die*den Arbeitnehmende*n, wenn der*die Arbeitgeber*in seine*ihre Interessen auch mittels aktiver Korruption verfolgt. Beurteilen Sie die Möglichkeiten eines »Wertemanagements« in systemtheoretischer Sichtweise. Welche Möglichkeiten gibt es aus der Sichtweise der neuen Institutionentheorie, Korruptionspraktiken ihre Legitimität zu entziehen? <?page no="240"?> 240 8 Organisationale Devianz, Moral und Korruption (AUB) einen Rahmenvertrag abzuschließen. Der Gegenstand desselben blieb jedoch noch im Unklaren. Beim Treffen mit dem Gewerkschaftsvorsitzenden Wilhelm S. informierte ihn dieser über seine langjährige und intensive Zusammenarbeit mit den Personalabteilungen der verschiedenen Siemens-Bereiche. Insbesondere eine intensive Zusammenarbeit bei der Auswahl »geeigneter« Kandidat*innen der Gewerkschaft für Betriebsratswahlen hatte sich als erfolgreich erwiesen. Allerdings benötige man für die weitere Zusammenarbeit eine neue Finanzierungsquelle. F. machte seine Zustimmung davon abhängig, dass die zu leistenden Zahlungen nicht die Bilanz seiner Abteilung beeinträchtigen sollten, sondern letztlich von der Siemens-Zentrale zu begleichen seien. Unter dieser Bedingung kam die Vereinbarung am 21. Januar 2001 zustande. Sie beinhaltete ein Basishonorar von jährlich 2 Millionen Euro für die Unternehmensberatung, die der Gewerkschaftsvorsitzende nebenbei betrieb. Die Mittel wurden zur Finanzierung der Gewerkschaft verwendet. F. setzte sich mit dieser Vereinbarung allerdings über die Vertretungsregeln der Siemens AG hinweg, die bei derartigen Verträgen die Unterschrift zweier Prokuristen vorschrieben. Im Gerichtsverfahren, das im November 2008 mit einem ersten Urteil endete, befand der Richter diese Regelverletzung als eine vorsätzliche, mit dem Ziel, den eigentlichen Zweck der Vereinbarung zu verdecken. Beide Parteien waren informell übereingekommen, dass S. statt der vorgeschriebenen Leistungen in der Rahmenvereinbarung die Mittel tatsächlich zur Finanzierung der Gewerkschaft einsetzen solle. Im Gegenzug wurde dem Führungspersonal von Siemens die Möglichkeit der Vorauswahl bequemer Betriebsratskandidat*innen für Gewerkschaftslisten eingeräumt. Über diese Absprache sowie eine vorteilhafte Pensionszusage an den Unternehmensberater S. wurde Stillschweigen vereinbart (vgl. (LG Nürnberg-Fürth 3 KLs 501 Js 1777/ 2008: Rn. 116-140, 238, 441 f., 460, 484). Die insgesamt 16 Jahre währende Siemens-Finanzierung der Gewerkschaft AUB fand 2006 ein jähes Ende, kurz nach Beginn der Ermittlungen zum Siemens-Komplex in Deutschland. In seiner Urteilsbegründung dokumentierte das zuständige Landgericht ausführlich, dass Betriebsräte der Gewerkschaft AUB in mehreren Fällen Entscheidungen des Managements unterstützt hatten, die mit teils drastischen Nachteilen für die Arbeitnehmenden verbunden waren. Dennoch sah es das Gericht als erwiesen an, dass der Siemens AG aus der unterlassenen Prüfungstätigkeit F.s - der die korrekte Verwendung der Mittel durch S. im Sinne der Rahmenvereinbarung kaum kontrolliert hatte - ein Schaden in Höhe der Investitionen (insgesamt 30,3 Millionen Euro) entstanden sei, »[d]a den so erfolgten Zahlungen (…) jedenfalls kein unmittelbarer wirtschaftlicher Vorteil gegenüberstand« (LG Nürnberg- Fürth 3 KLs 501 Js 1777/ 2008: Rn. 147). Das Landgericht verurteilte F. wegen Untreue zu einer Bewährungs- und einer Geldstrafe, hielt ihm in der Urteilsbegründung allerdings zugute, dass er »als ›Siemensianer‹ klassischer Herkunft jedenfalls glaubte, ›im Interesse der Firma Siemens‹ zu handeln« (LG Nürnberg-Fürth 3 KLs 501 Js 1777/ 2008: Rn. 558) und sich durch sein Handeln »auch nicht persönlich bereichert hat« (ebd.). Wilhelm S. wurde komplementär dazu wegen Beihilfe zu F.s Veruntreuung verurteilt, da er diese erst ermöglicht habe. Außerdem wurde er wegen verschiedener Steuerdelikte und schließlich wegen Betrugs belangt, denn schon seit einiger Zeit - etwa ab dem Jahr 2003 - hatte er von den Geldern, die Siemens auf das Konto seiner Unternehmensberatung einzahlte, eine ganze Reihe von Rechnungen beglichen, die mit der ursprünglichen Zweckvereinbarung in keinem Zusammenhang standen. <?page no="241"?> 8.6 241 Schlussendlich verhängte das Landgericht gegen S. eine Gesamtfreiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Es gab zu Lasten S.s »zu bedenken, dass er als ›zentrale Figur‹ konspirativen Zusammenwirkens über Jahre hinweg inmitten [der] Straftaten stand« (LG Nürnberg-Fürth 3 KLs 501 Js 1777/ 2008: Rn. 585). Die Revision des ehemaligen Gewerkschaftsvorsitzenden vor dem Bundesgerichtshof hatte teilweise Erfolg, zumindest wurde der Vorwurf der Beihilfe zur Untreue fallengelassen (vgl. BGH 1 StR 220/ 09). 1. Könnte die Siemens AG durch andersgeartete formale Regeln (bspw. schärfere Sanktionen, detailliertere Verhaltensvorschriften, etc.) ein derartiges Fehlverhalten ihrer Mitarbeitenden künftig verhindern? 2. Analysieren Sie den Fall mit Hilfe des Begriffs der brauchbaren Illegalität: Haben die Akteure F. und S. im Interesse der Siemens AG gehandelt? Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Quellen Alemann, Ulrich von (2005), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. In: Alemann, Ulrich von (Hrsg.), Politische Vierteljahresschrift. Sonderheft; 35. 1. Aufl. ed. Wiesbaden. Anand, Vikas/ Ashforth, Blake E. (2005), Business as Usual: The Acceptance and Perpetuation of Corruption in Organizations. In: The Academy of Management Executive 19 (4), S. 9- 23. Ashforth, Blake E./ Anand, Vikas (2003), The Normalization of Corruption in Organizations, in: Research in Organizational Behavior 25, S. 1-52. 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Es sind aber nicht immer die gleichen Organisationstypen am Dirigentenpult, sondern sie unterscheiden sich je nach dem gesellschaftlichen Feld, in dem sie sich bewegen. Und genau diese Unterschiede wollen wir uns in diesem abschließenden Kapitel genauer ansehen. Die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Organisationen sind für uns fast mehr Bestandteil unseres Alltagswissens als es ihre Gemeinsamkeiten sind. Wenn wir z.B. irgendwo in einer Stadt in Deutschland in ein Bürgerbüro gehen, um unseren Reisepass verlängern zu lassen, erwarten wir bereits eine antragsorientierte Vorgehensweise (auch in Zeiten der Digitalisierung) mit einem elektronisch zur Verfügung gestelltem Formular, mit freundlichen Kommunalbeamt*innen, die den Vorgang vorschriftsgemäß abwickeln und einem Entgelt, das an die Stadtkasse zu entrichten ist. Wir haben In diesem Kapitel erfahren Sie, worin sich die Schlüsselorganisationen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche unterscheiden; lernen Sie im idealtypischen Vergleich die Gemeinsamkeiten und zentralen Unterscheidungsmerkmale von Organisationen kennen, lernen Sie eine Heuristik kennen, mit der Sie selbst Organisationen analysieren und wissenschaftlich einordnen können. Quelle: eigene Darstellung <?page no="250"?> 250 9 Organisationstypen im Vergleich es mit einer staatlichen, hier: kommunalen Organisationsform zu tun, mit einer Verwaltungsorganisation, die sich nicht selbst Regeln und Ziele gibt, sondern darin der in Deutschland föderal organisierten Politik unterworfen ist. Den Hintergrund dieses Vorganges im politischen System - dass wir es mit der hoheitlichen Ausstellung von Identifikationspapieren für deutsche Staatsbürger*innen zur Dokumentation ihrer Mitgliedschaft im Rahmen gesatzter Rechtsnormen und politischer Entscheidungen von gewählten Regierungen zu tun haben - blenden wir im Regelfall aus. Wenn wir uns dann danach ein Brötchen bei einer Bäckerei holen, stellen wir hingegen keinen Antrag und füllen auch kein elektronisches Formular aus, sondern legen für das Brötchen einen Euro auf die Ladentheke, den der*die Bäckereifachverkäufer*in kassiert. Auch hier sind die Erwartungen in Bezug auf einen einfachen, produktbezogenen Kauf- und Verkaufsvorgang klar. Auch hier blenden wir den Hintergrund eines Vorganges im Wirtschaftssystem - dass wir es mit einer profitorientierten privaten Organisation, einem Unternehmen zu tun haben, das sich durch Zahlungen entlang mehr oder weniger marktorientierter Preise reproduziert - im Regelfall aus. Hinterher gehen wir zur Vorlesung an einer staatlichen Universität, ohne dass wir dem*r Dozent*in das Hörergeld für die Vorlesung auf das Pult legen werden, sondern erwarten in Deutschland eine - bis auf den Semesterbeitrag - für uns unentgeltliche Dienstleistung einer hochqualifizierten Person in Anspruch zu nehmen. Diese Person ist ggf. als Professor*in verbeamtet, d.h. mit einem Dienstvertrag an das Land gebunden, kann aber - anders als der*die Kommunalbeamt*in - weitgehend selbst entscheiden, wie und in welcher Form er oder sie diese Dienstleistung anbietet. Auch hier spielt der Hintergrund einer grundgesetzlich garantierten Freiheit in Forschung und Lehre für professionell ausgebildetes Personal, das sich zugleich an Kollegial- und Verwaltungsprinzipien orientiert, für uns keine dominante Rolle. Dass wir uns in einer professionsbasierten Verwaltungsorganisation mit Prinzipien einer Kollegialverwaltung für das wissenschaftliche Personal befinden, sich diese also in wissenschaftlichen Belangen selbst verwalten dürfen oder müssen, blenden wir aus. Die Unterschiede der Organisationen und ihrer Schnittstelle zu uns sind so stark in unsere alltäglichen Erwartungen und Erfahrungen übergegangen und die Hintergründe so stark ausgeblendet, dass wir uns anstrengen müssen, die verschiedenen Logiken der gesellschaftlichen Bereiche dahinter sichtbar zu machen und die verschiedenen Logiken des Organisierens als verschiedene Arten von “Organisation” genauer zu erfassen. Diese Anstrengung wollen wir im Folgenden unternehmen. 113 113 Dazu gibt es bereits einige Vorläufer in der Literatur, die uns diese Anstrengung erleichtern können. Bereits früh, seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden verschiedene Typologien von Organisationen angeführt (siehe nur Parsons 1960; Etzioni 1961; Blau/ Scott 1962; Perrow 1967; Mintzberg 1979 u.v.a.), welche uns bis heute helfen können, diese Heuristik zu entwickeln, auch wenn wenig an empirischen Studien nachfolgte (siehe dazu Apelt/ Tacke 2012: 11). Auch der Sammelband von Apelt und Tacke zu Organisationstypen (Apelt/ Tacke 2012) diente uns als Quelle, <?page no="251"?> 251 Es kommen zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen alle Organisationstypen vor - z.B. professionsbasierte Interessenverbände in der Wirtschaft oder Unternehmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit - und es gibt Myriaden von Mischformen. Aber es lassen sich ebenfalls „Schlüsselorganisationen“ identifizieren, die sich mit den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entwickelt haben und sich daher in den jeweils dominanten Formen und Mustern unterscheiden. Sie sind im Verhältnis zu diesen Bereichen entstanden (vgl. dazu auch Apelt/ Tacke 2012: 9, 12 f.) und gewinnen ihre Legitimität aus diesen. Sie stehen oft im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Bereiche, die durch sie entscheidungsfähig werden und in ihrer Funktionsweise durch sie geprägt werden. Dazu gehören z.B. Unternehmen in der Wirtschaft, Parteien in der Politik, Krankenhäuser im System der öffentlichen Gesundheit oder Kirchen auf dem Feld der Religion. Schlüsselorganisationen im Lichte der verschiedenen Theorien Wenn wir unter Zugrundelegung der Rational-Choice-Theorie Colemans argumentieren, so können wir ein zentrales Merkmal von Schlüsselorganisationen darin sehen, dass sie sich insbesondere durch die Zusammenlegung feldspezifischer Ressourcen konstituieren, welche ihre Relevanz und Reichweite auf dem jeweiligen Feld erhöhen (siehe weiter oben Kap. 3). Dazu gehören z.B. Wähler*innenstimmen und Mandate in der Politik, Kapital in der Wirtschaft, Gläubige in der Religion. Die Schlüsselorganisationen entfalten dadurch ihre besondere Schlagkraft und Strategiefähigkeit gegenüber Einzelakteur*innen und anderen Organisationen. Wenn wir das Verständnis der neuen Institutionentheorie zugrunde legen, so sehen wir, dass diese sich ganz maßgeblich an den je spezifischen Legitimitätserwartungen in einem gesellschaftlichen Feld orientieren und ihre Operationsweisen entsprechend dieser Legitimitätserwartungen ausweisen (siehe weiter oben Kap. um die Vergleichssystematik weiterzuentwickeln. Hinzu kamen auch die speziellen, auf verschiedene Sektoren (vgl. z.B. Weinberg/ McDermott 2002; Herbrechter/ Schemmann 2010; Brinkmann 2010) sowie auf verschiedene Arten von Organisationen (Wagner/ Mense-Petermann 2006, Kühl 2012, 2014; Kette 2018; Brunnengräber 2023) konzentrierten Analysen, die herangezogen werden konnten. Begriffsbox 9.1: Schlüsselorganisationen Die Bezeichnung als Schlüsselorganisation bedeutet, dass es einen Organisationstypus gibt, der für ein gesellschaftliches Feld steht, dessen Entstehung und spezielle Ausrichtung repräsentiert. Solche Organisationen sind maßgeblich an zentralen Entscheidungen, an der Verteilung wichtiger Ressourcen beteiligt und geben den Takt für Karrieren auf diesen gesellschaftlichen Feldern vor. Sie schöpfen ihre gesellschaftliche Legitimität aus ihrem Bezug zu diesem Feld. <?page no="252"?> 252 9 Organisationstypen im Vergleich 3) - so legitimieren sich z.B. Krankenhäuser durch die Vorrangstellung der Krankenbehandlung oder Unternehmen durch die Vorrangstellung der Gewinnerwirtschaftung auf Märkten. Legen wir hingegen ein systemtheoretisches Verständnis nach Luhmann an, so ist zentral, dass sich eine solche Schlüsselorganisation an der jeweiligen Sinnspezialisierung in einem gesellschaftlichen Teilsystem orientiert und mit dieser als Leitdifferenz operiert, also an Zahlungen im Wirtschaftssystem, an der transzendentalen Herstellung und Befriedigung von Glaubens- und Heilserwartungen im Religionssystem, an der Herstellung und Befriedigung von Heilungserwartungen durch medizinische Krankenbehandlung im Gesundheitssystem etc. (siehe weiter oben Kap. 3). Wenn wir an dieser Stelle von „Schlüsselorganisationen“ sprechen, bedeutet das aber nicht, dass es eine Hierarchie gäbe, in der diese und nur diese Organisationen in einem gesellschaftlichen Bereich „das Sagen“ hätten. Es bedeutet jedoch, dass diese Organisationsform für einen gesellschaftlichen Bereich steht, seine Entstehung und spezielle Ausrichtung repräsentiert und in diesem Feld seine vorrangige gesellschaftliche Legitimation sucht. Zugleich sind diese Schlüsselorganisationen an zentralen Entscheidungen, an der Herstellung und Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen sowie an der Herausbildung gesellschaftlicher Eliten auf diesen Feldern beteiligt. Ihre Analyse und Typisierung haben in diesem Kapitel vor allem heuristische Zwecke. Sie sollen helfen, eine analytische Ordnung in das „Chaos“ der Empirie zu bringen und mittels einiger Indikatoren, empirisch vorzufindende Organisationen selbst einordnen zu können. Dazu haben wir für dieses Kapitel vier Felder herausgegriffen und vier Organisationsformen ausgewählt, die auch in Alltag von vielen von uns eine starke Präsenz haben: Religion, Politik, öffentliche Gesundheit und Wirtschaft. Wichtig war für uns auch, dass wir gemessen an den herangezogenen Vergleichskriterien die Heterogenität der Schlüsselorganisationen verdeutlichen können. So haben wir je zwei Interessen- und je zwei Arbeitsorganisationen ausgewählt. Zugleich haben wir auch im Hinblick auf die aufgabenbezogene Autonomie, die formale Hierarchie und die Professionsgebundenheit sowie die eigentums- und ressourcenbezogene Autonomie jeweils Organisationsformen in die Darstellung aufgenommen, die sich an den jeweiligen Enden der verschiedenen Ausprägungen von gering bis stark befinden. Dadurch erlaubt diese Auswahl zum einen die Vergleichssystematik und zum anderen die Heterogenität der Organisationsformen von Schlüsselorganisation besser kennenzulernen. Da kulturelle Varianzen die Organisationsformen maßgeblich mitbestimmen, haben wir den Kulturraum konstant gehalten und uns in unseren Beispielen überwiegend auf den deutschen Kulturraum konzentriert. Beim Bezug auf klassische Analysen der jeweiligen Organisationsformen müssen wir <?page no="253"?> 9.1 Die feldspezifische Ausrichtung der Organisation 253 leider in diesem Kapitel auf Bezüge zur neuen Institutionentheorie verzichten, weil deren Autoren in der Regel keine klassisch gewordenen Analysen zu den verschiedenen Organisationstypen9 vorgelegt haben. 9.1 Die feldspezifische Ausrichtung der Organisation Wir orientieren uns dabei grundlegend an den unterschiedlichen institutionellen Ordnungen der verschiedenen Wertsphären (Weber) oder, mit Luhmann ausgedrückt, an den Eigenlogiken der Teilsysteme, welche bestimmte Organisationen als “Lebensmittelpunkt” gewählt haben. So erwarten wir in einer christlichen Kirche, basierend auf einer transzendentalen Vorstellung von Gott, ein „Gespräch mit Gott“ führen, ein Gebet sprechen oder gemeinsam eine Messe zu seinen Ehren zelebrieren zu können. Würden wir uns in einer (nicht verkauften oder umfunktionierten) christlichen Kirche stattdessen auf einer gewinnorientierten, vom Pfarrer moderierten „Verkaufsmesse“ für Computerspiele wiederfinden oder auf einer Parteiversammlung der AfD, würde dies auf Dauer die Legitimität der Kirche unterhöhlen und aus der transzendentalen Glaubensorganisation etwas anderes, eine andere Organisationsform werden lassen. Aus diesen Sinnspezialisierungen resultieren also Unterschiede in den Leitorientierungen oder Leitdifferenzen, mittels derer die Schlüsselorganisationen ihre Identität reproduzieren, ihre Ressourcen akquirieren und, institutionentheoretisch ausgedrückt, ihre Legitimität aufrechterhalten. Einen ersten Überblick, worauf wir uns im Folgenden konzentrieren, kann nachstehende Tabelle geben, deren Ausprägungen in den jeweiligen nachfolgenden Unterkapiteln genauer erläutert werden. Tabelle 9.1: Die Schlüsselorganisation im Vergleich der verschiedenen Felder Schlüsselorganisation Kirche Partei Krankenhaus Unternehmen Beispiel Christliche Kirchen Politische Parteien Öffentliche Krankenhäuser Privatunternehmen Kulturraum Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland Feld Religion Politik Öffentliche Gesundheit Wirtschaft Bezug von Entscheidungen & Legitimation Transzendenz, Glaube Macht, Interessen, Ideen Krankenbehandlung, Heilung, Linderung Subsistenz und Gewinn auf Märkten Typ der Schlüsselorganisation professionsbasierte Interessenorganisation machtbasierte Interessenorganisation professionsbasierte Verwaltungsorganisation gewinnorientierte Organisation in Privateigentum <?page no="254"?> 254 9 Organisationstypen im Vergleich Dabei lernen wir bereits ein erstes Analysekriterium kennen, um Organisationen analytisch einordnen zu können: Die feldspezifische Ausrichtung der Organisation. Diese bezieht sich auf die Art und Weise sowie das Ausmaß, in dem die Organisation auf ein bestimmtes Feld, eine gesellschaftliche Wertsphäre oder einen gesellschaftlichen Teilbereich ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung ist für uns ein erstes Prüfkriterium für die empirische Analyse und war ein Auswahlkriterium für die von uns vorgestellten Organisationen. Eine Organisation mit einer starken feldspezifischen Ausrichtung erfordert in der Regel eine Leitorientierung der Organisation, welche sich ganz vorrangig in den Entscheidungen (1), der gesuchten Legitimität (2) sowie der „beanspruchten“ Ressourcen (3) an der jeweiligen Logik des Feldes orientiert. 9.2 Ein Besuch in der Kirche Wenn wir in eine Kirche in Deutschland gehen, dann betreten wir ein Gebäude, welches mit den Accessoires des jeweiligen Glaubens ausgestattet ist. Sie repräsentieren, den Glauben sowie die Glaubensgemeinschaft in symbolischer Form. Darin kann zu bestimmten Anlässen auch gegessen und getrunken werden. Es wird in der Regel gebetet und gepredigt, aber teilweise auch gesungen und musiziert. Einen solchen Ort für die Zusammenkunft von Gläubigen bezeichnen wir gemeinhin als Kirche. Im soziologischen Sinne steckt jedoch hinter dieser Glaubensgemeinschaft und ihrem Gebäude eine hybride Interessenorganisation, welche die Aktivitäten der Glaubensgemeinschaft ins Leben ruft oder begleitet, koordiniert, kontrolliert und teilweise auch finanziert. Diese Interessenorganisation, welche das Gebäude nutzt oder auch besitzt, wollen wir im Folgenden Kirche nennen. Sie ist hybrid, weil sie eine große Vielfalt sozialer Gebilde unter ihrem Dach beherbergt, von Arbeitsorganisationen bis hin zu totalen Institutionen, wie wir sie z.B. in Klöstern vorfinden. Für diese Interessensorganisationen der Kirchen gilt, dass sie - wie andere religiöse Organisationen auch - ihren Lebensmittelpunkt im Religionssystem haben. Im Mittelpunkt stehen damit Bezugnahmen auf Transzendenz - auf nicht empirisch direkt Erfahrbares, auf Metaphysisches, auf jede Art von Glauben. Immer wenn wir über Gott, Göttinnen, diverse Gottheiten, den Teufel und Dämonen oder z.B. über Horoskope, schlechte Omen wie schwarze Katzen und Freitag, den 13. sprechen, bewegen wir uns im Meer der Transzendenz, und damit auf dem Feld der Religion, von Glaube und „Aberglaube“. Und auch der christliche Glaube kennt Myriaden an Auslegungen, Spielarten, Glaubensvorstellungen und Glaubenspraktiken. Genau hier kommen die Organisationen ins Spiel, die sich mit dem Feld der Religion als Lebensmittelpunkt herausgebildet haben. <?page no="255"?> 9.2 Ein Besuch in der Kirche 255 Die Aufgaben und Funktionen der Kirchen Organisationen, wie z.B. die Kirchen oder Tempel, sorgen in diesem offenen Meer der Transzendenz für eine Art metaphysische Ordnung, mit der Gläubige Heilsvorstellungen verbinden. Sie vertreten diese Ordnung als Glaube entlang eines ausgebildeten Dogmas, eines Kanons an geordneten Glaubensvorstellungen (Rationalisierung). Sie organisieren auf diese Weise die Zugehörigkeit zur Kirche und binden diese an Glaubensbekenntnisse zu diesen Glaubensgrundsätzen (Konfession). Hinzu kommt ein festgelegtes Set an Glaubenspraktiken, welche die Zugehörigkeit nach außen und innen erkennbar werden lassen. Zugleich diskriminieren sie in der Regel die Nicht-Zugehörigkeit und versuchen im Falle missionarischer Religionen die „Heiden“, die Nicht- oder Andersgläubigen zu bekehren. Wer der Organisation angehört, nimmt nun nicht nur Einschränkungen in der Art und Praxis des Glaubens in Kauf, sondern zelebriert diesen Glauben nicht selten als die alleinseligmachende Form. Organisationen im religiösen Feld: Geschlossen im Glauben, exklusiv im Zugang und entscheidungsfähig wird dieser gesellschaftliche Bereich der Religion erst durch Interessensorganisationen, wie z.B. durch die christlichen Kirchen, die im religiösen Feld ihren Lebensmittelpunkt und ihre Leitorientierung sehen. Religiöse Organisationen sorgen also in diesem Meer von Glaubensvorstellungen für Exklusivität, indem sie z.B. definieren, wer, welcher Glaube und welche Glaubenshandlungen zu Ihnen gehören und wer bzw. welche Vorstellungen (z.B. der „Aberglaube“) nicht. Das Leitbeispiel 9.1: Der Besuch einer katholischen Messe Wenn wir uns z.B. als Gläubige in eine christliche Kirche begeben und einer Messe beiwohnen, dann folgen wir auch darin oft den durch die Kirche festgelegten und in der Kirche gelernten Glaubenspraktiken. So ist der Ablauf einer Messe z.B. in einer katholischen Kirche strikt vorgegeben und auch die Gebetspraktiken sind festgelegt. „Der Beginn der Messfeier (in einer katholischen Kirche, d.V.) wird mit einem Glockenläuten angezeigt. Als Zeichen ihrer Bereitschaft für die Feier stehen alle <?page no="256"?> 256 9 Organisationstypen im Vergleich Anwesenden auf. Der Priester und die ihn Begleitenden gehen zum Altar. Der Einzug ist ein Zeichen für den Weg des Menschen auf unser Ziel hin, auf Gott hin. Der Priester küsst den Altar, das Symbol für Christus, und bringt so seine Verehrung zum Ausdruck. (…) Alle stehen und machen das Kreuzzeichen, während der Priester spricht: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Alle: Amen. Daraufhin begrüßt der Priester die Gemeinde z.B. mit den Worten: Der Herr sei mit euch. Alle: Und mit deinem Geiste“ (https: / / www.vivat.de/ magazin/ christliches-leben/ gottesdienst/ ablauf-der-hei-li-gen-messe/ ). Unsere Glaubenspraxis besteht darin, dass wir als Gläubige in diesem Kontext Amen sagen, die Hände falten, uns bekreuzigen und das „Vater unser“ beten. Auch wenn wir das Bedürfnis danach haben, beben und zucken wir bei unserem Gebet also nicht in einem fort oder wälzen uns in erweckter Verbundenheit mit Gott auf dem Boden, um Heilsgewissheit zu erlangen oder zu demonstrieren. Als Gläubige ist für uns diese regulierte Glaubenspraxis selbstverständlich und wir müssen dabei nicht vor Augen haben, worauf sie beruht - auf einer organisationalen Schließung des Glaubenssystems durch einen Kanon von akzeptierten Glaubenssätzen, von tolerierten und rituell festgelegten Glaubenshandlungen. Information 1: Das klassische Verständnis von „Kirchen“ in den Sozialwissenschaften Max Weber: Für Max Weber ist eine Kirche eine „Gnadenanstalt“, welche religiöse Heilsgüter verwaltet. Die Zugehörigkeit zu ihr ist obligatorisch, in dem Sinne, dass ein Teil der Mitglieder in sie „hineingeboren“ werden. Deswegen sagt die Zugehörigkeit in diesem Falle für Weber nichts über die Qualität der Mitgliedschaft aus. (Weber 1920; RSI, PE). Das unterscheidet sie für Weber von „Sekten“ mit deren voluntaristischen, religiös qualifizierten Zugehörigkeit. Sie ist für Weber als Anstalt ein geordneter Herrschaftsverband, der sich legitimieren muss. Zugleich ist die Kirche aber auch ein religiöser Verband, der außeralltägliche religiöse Gnadengüter spendet. Insbesondere die Spende von „Gnadengewissheit“ ist in diesem Zusammenhang für die Gläubigen wichtig (Bienfait 2006: 7 f.; Weber 1922: 308f.; 1980: 326). Das Spenden und Versagen von Heilsgütern ist dabei das „Herrschaftsmittel“ des hierokratischen Verbandes der Kirche (vgl. dazu auch Tyrell 2011: 46) und bestimmt zugleich seine Aufgabe und Funktion: Das Spenden von Gnadengewissheit (WuG: 29; vgl. dazu auch Tyrell 2011; Schluchter 2023 u.v.a.). <?page no="257"?> 9.2 Ein Besuch in der Kirche 257 K IRCHE ALS O RGANISATION M AX W EBER R ATIONAL C HOICE T HEORIE N IKLAS L UHMANN T YPUS Gnadenanstalt Korporativer Akteur/ religiöse „Firma“ Religiöse Organisation Z IELE UND A UFGABEN Spende von Gnadengewissheit Glaube und Gehorsam / Verkauf religiöser Produkte Herstellung selbsterzeugter Glaubenssicherheiten H IERARCHIE hierokatischer Herrschaftsverband zentralisierte Herrschaftsform/ ineffiziente Hierarchie sakral gestützte Hierarchie P ERSONAL M ITGLIEDSCHAFT obligatorisch „Konsument“ und „Anbieter“ Sakrament und Exkommunikation S CHLÜSSELPERSONAL Berufspriesterschaft „Staatsbedienstete“ Priestertum und Laien Rational Choice Theorie: Während Coleman (1979) sich in seiner Gesellschaftstheorie für die Entstehung der Kirche als eigenständiger korporativer Akteur interessiert, betrachtet insbesondere die anglo-amerikanische Rational-Choice-Theorie seit den 1990er-Jahren Kirchen und Religionen aus einer ökonomischen Perspektive heraus (Stark/ Bainbridge 1985; Iannacone 1992; Stark/ Iannacone 1994; vgl. dazu auch: Stolz 2011). In der ökonomischen Rational-Choice-Theorie der Religion werden daran anschließend dann religiöse Gruppen oder Organisationen als „religiöse Firmen“ betrachtet, analog zu Unternehmen, welche ein mehr oder weniger attraktives religiöses Produkt anbieten (Stolz 1992: 2). Als christliche Kirchen haben sie Probleme, weil sie durch eine ineffiziente Hierarchie gebremst werden und ihr Schlüsselpersonal wie „Staatsbedienstete“ behandeln. Auf diese Weise werden religiöse „Konsument*innen“ abgeschreckt. Denn diese könnten in der Gegenwart zwischen verschiedenen Anbietern wählen und träfen ihre Wahl nach Kosten und Nutzen, immer auf der Suche nach dem Gewinn aus ihren spirituellen Investitionen. (Iannaccone 1992: 123; Stark/ Iannacone 1994: 236 ff.). Niklas Luhmann: Nach Luhmann bilden sich religiöse Organisationen, wie z.B. christliche Kirchen, in der Organisationsform aus, um eine glaubens- und kirchenpolitische Entscheidungsfähigkeit zu erreichen und zuverlässig selbsterzeugte Glaubenssicherheiten zur Verfügung zu stellen (Luhmann 2000a, S. 227, 237). Die sich herausbildende Organisationsform ist rechtlich ausgeformt und wird von einer Hierarchie mit sakralen Stützen geprägt (ebd.). In der Frage der Mitgliedschaft <?page no="258"?> 258 9 Organisationstypen im Vergleich schafft die christliche Kirche zunächst keine Eintritts- oder Austrittsregulierungen, sondern mit der Taufe ein Sakrament - ein sichtbares Zeichen der Heilswirklichkeit - welches den Sündenstand verändert und die Heilsaussichten erhöht (ebd.: 228). Mit der Exkommunikation werden dann diese Heilsaussichten wieder verringert. Erst später entstehen daraus für Organisationen typische Mitgliedschaftsregeln. Die Aufgabe der christlichen Kirchen liegt also in der Organisation der Glaubensgemeinschaft, ihrer Zusammenkünfte und Missionen, aber auch in der Festlegung der zu glaubenden Inhalte entsprechend der Kanonisierung des jeweiligen Glaubens, also in der Glaubensorganisation. Der Autonomiegrad der Kirchen in der Festlegung ihrer Aufgaben ist dabei sehr hoch: Sie können ihre Glaubensgrundsätze, Ziele und Missionen selbst definieren (1) und sind auch in der Durchführung, neben gesetzlichen Regularien, nur eigenen Regeln unterworfen (2). Ihre „heilige“ hierarchische Ordnung geben sie sich selbst (3). Die Mitgliedschaft in der Kirche und ihr Personal Der Eintritt in die Organisation: Für jene, die nicht qua Geburt, durch die Taufe der Neugeborenen, Mitglied werden, reicht ein Glaubensbekenntnis, eine Konfession aus, um Mitglied zu werden. Im theologischen Sinne begründet die Taufe aber keine Mitgliedschaft, sondern die Teilhabe an den Sakramenten. Erst faktisch und praktisch ist daraus eine Mitgliedschaft geworden. Darüber hinaus ist die Mitgliedschaft für die Gläubigen selbst nicht an die Voraussetzung kontinuierlichen Engagements gebunden: Man kann sich in der Kirche engagieren, muss dies aber nicht tun. Manche der Gläubigen zelebrieren nur die wichtigsten Feiertage, Ostern, Pfingsten und Weihnachten, mit der Glaubensgemeinschaft in der Kirche, ohne dass darüber hinaus ein für die Kirche erkennbares Engagement für die Glaubensgemeinschaft oder den Glauben erfolgt. Viele nehmen gar nicht am kirchlichen Leben teil. Die Entwicklung der Mitgliedschaft in den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland Die Mitgliederzahl der beiden Kirchen in Deutschland ist - gemessen an der Mitgliedschaft anderer Organisationen - hoch. Beide christliche Kirchen in Deutschland haben zusammen noch etwas mehr als 40 Millionen Mitglieder (Regniet 2023). 20,9 Millionen sind in der katholischen Kirche und 19,2 Millionen Mitglieder in der evangelischen. Knapp jede*r zweite Deutsche ist also Mitglied einer der beiden Kirchen zugehörig. Auch wenn die Anzahl der Kirchenmitglieder 2021 erstmals unter die Marke von 50 Prozent der Gesamtbevölkerung gefallen ist (siehe ebenda), sind dies zusammen immer noch doppelt so viele Mitglieder wie z.B. der ADAC als die nächste größere Interessenorganisation mit rund 21 Millionen Mitgliedern vorweisen kann (Aumiller 2023). <?page no="259"?> 9.2 Ein Besuch in der Kirche 259 Wenn die Messe dann in einer christlichen Kirche beginnt und die Priester oder Pfarrer*innen Einzug halten, betritt nun nicht eine von den Gläubigen ausgewählte Person die Vorderbühne des Gebäudes, die z.B. den Glauben besonders intensiv lebt oder sich dazu berufen fühlt, diesen zu verbreiten. Vielmehr hält das hoch qualifizierte Personal der Organisation Kirche Einzug. Dieses hat in der Regel Theologie studiert und wird nach einer zusätzlichen langjährigen Ausbildung sowie nach einer längeren Probezeit auf Lebenszeit ernannt (vgl. z.B. Evangelische Kirche Hessen, Nassau 2016). Für das Personal, welches dann die Messe leitet und zelebriert, ist typisch, dass es sich um professionell ausgebildetes, theologisches Personal handelt. Und ausschließlich dieses darf die Gläubigen denn auch im Glauben unterrichten. In der katholischen Kirche wird diese exklusive Zuständigkeit für die Glaubensvermittlung bis heute mittels der Exkommunikation (des Ausschlusses aus der Glaubensgemeinschaft) abgesichert. So hat z.B. die pensionierte Religionspädagogin Martha H. mit ihrem Mann regelmäßig in ihrem Privathaus Messen gefeiert, gemeinsam mit anderen Gläubigen, aber ohne geweihte Priester. Diese Praxis wurde 2014 mit der Exkommunikation des Ehepaars durch Papst Franziskus beendet (Drobinski 2014). Der Verwaltungs- und Leitungsapparat der Kirche: Die Personalstrukturen im Verwaltungs- und Leitungsapparat großer christlicher Kirchen in Deutschland beruhen also auf einer hochqualifizierten beamteten Berufspriesterschaft bzw. Pfarrerschaft mit der fest etablierten Monopolstellung einer Profession: der Theologie. Die Trennung zwischen der Arbeitswelt und der privaten Lebenswelt wird in der hybriden Interessenorganisation der Kirche für dieses Personal in der Regel aufgehoben. Die Pfarrer*innen oder Priester haben z.B. seelsorgerische Pflichten, die sich nicht auf ihre Arbeitszeit beschränken und Erwartungen an ihre private Lebensführung, welche ein Vorleben des Glaubens nicht nur in der Kirche, sondern auch im privaten Alltag zum wichtigen Bestandteil der Ausübung des Berufes werden lassen. Die hierokratische Ordnung, so hat es Weber früh formuliert, beinhaltet ein umfassendes System ethisch-religiöser Lebensreglementierung. Zugleich sind auch totale Institutionen mit vollständiger Aufhebung der Trennung von Arbeits- und privater Lebenswelt, wie z.B. Klöster, wichtige Elemente des Verwaltungs- und Leitungsapparats der christlichen Kirchen (Nolte 2020). Die Top-Positionen: Die Voraussetzungen, um in eine Führungsposition der Interessenorganisation Kirche gewählt zu werden, sind dabei sehr hoch und an ein Studium der Theologie geknüpft. Von 44 katholischen Bischöfen in Deutschland, Österreich <?page no="260"?> 260 9 Organisationstypen im Vergleich und der Schweiz hatten nach unseren Recherchen 2023 43 Bischöfe katholische Theologie studiert, 38 hatten einen Doktortitel und 8 von diesen konnten sogar eine Professur in katholischer Theologie aufweisen. Diese akademisch-professionellen Voraussetzungen zeigen sich auch bei der Rekrutierung des höheren Leitungspersonal in der evangelischen Kirche in Deutschland: Von den 20 Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland haben nach unseren eigenen Recherchen 2023 alle leitenden Geistlichen, in der Regel Landesbischöfe, Theologie studiert und acht von diesen haben sogar einen Doktortitel in evangelischer Theologie. „Der Entlassruf ist gleichzeitig die Sendung: Das »Gehet hin in Frieden« entsendet die Gemeinde hinaus in die Welt. Jetzt ist die Messfeier beendet, es kommt darauf an, das Leben nun nach dem Gefeierten zu gestalten und den Mitmenschen die Botschaft von der Liebe Gottes weiterzusagen. Der Priester küsst wie zum Beginn des Gottesdienstes den Altar und zieht dann nach einer Kniebeuge gemeinsam mit dem Altardienst aus der Kirche aus. Das ist ein Zeichen dafür, dass alle durch die Messfeier in die Welt gesandt sind, um Zeuginnen und Zeugen für die Frohe Botschaft von Jesus, dem Christus, zu sein“ (https: / / www.vivat.de/ magazin/ christliches-leben/ gottesdienst/ ablauf-der-hei-li-gen-messe/ letzter Aufruf am 08.11.2023). Austritt und Kündigung: Ein Kirchenaustritt ist für die Mitglieder der Kirche ohne weitere Begründung möglich. Allerdings muss man bei der zuständigen Behörde mit Personalausweis erscheinen, um den Kirchenaustritt amtlich werden zu lassen. In theologischer Sicht bleibt man allerdings durch die Taufe dem Glauben und der Kirche verbunden. Auch die Pfarrer*innen und Priester können ihr Amt einfach niederlegen, bleiben jedoch aus theologischer Sicht Pfarrer*innen und Priester. Da sie auf Lebenszeit berufen werden, fällt ihr Austausch den Interessenorganisation schwer und zieht besondere Begründungslasten nach sich. Es gibt kirchenrechtlich streng geregelte Dienstenthebungs- und Laisierungsverfahren. Die Schwelle dazu ist sehr hoch (Schmitz 2020). Eine Exkommunikation erfolgt nur dann, „wenn man den Glauben der katholischen Kirche ablehnt oder einzelne Glaubenswahrheiten beharrlich leugnet oder dem Gehorsam zu Papst und Bischöfen die Gefolgschaft verweigert“ (https: / / www.domradio.de/ artikel/ eine-erklaerung-der-exkommunikation-der-katholischen-kirche). Die Heilige Ordnung und die Organisationsform der Kirche Die christliche Kirche entscheidet als Organisation selbst darüber, was als heilige Ordnung, als Hierarchie Geltung erlangt sowie darüber, wer als Bischof die religiöse Führung übernimmt oder wer als Andersgläubige*r ausgeschlossen wird. In der Deutungsweise der „heiligen katholischen“ Kirche steht die zu schützende, heilige Ordnung über dem Verhalten einzelner. Der formale Hierarchiegrad ist hier <?page no="261"?> 9.2 Ein Besuch in der Kirche 261 hoch. Es bestehen klare formale Weisungsbefugnisse (1), von oberster Stelle bis zur untersten Position im Verwaltungs- und Leitungsapparat (2). Diese heilige Ordnung prägt auch die Organisationskultur, die ungeschriebenen Regeln im Umgang mit der Hierarchie sowie ihre religiös gefassten Autoritätsquellen (3). Leitbeispiel 9.2: Die „heilige Ordnung“ der katholischen Kirche und die Missbrauchsvorwürfe Doris W. wurde 1983 in Deutschland geboren. Im Alter von 19 Jahren, trat sie der katholischen Ordensgemeinschaft "Das Werk" bei, welche enge Verbindungen zur römischen Kurie unterhält. Als junge Schwester erlitt sie laut eigenen Angaben in dieser Gemeinschaft verschiedene Arten von Missbrauch, von spiritueller Manipulation bis hin zu Vergewaltigung durch einen Priester. Im Jahr 2011 verließ sie Gemeinschaft und ihr religiöses Leben. Im Jahr 2014 schloss W. ihr Theologiestudium in Deutschland ab. Ihre Erfahrungen sexueller Gewalt beschrieb und verarbeitete die Theologin in einem Buch. Verschiedene deutsche Diözesen luden sie als Referentin über das Thema des geistlichen Missbrauchs in der katholischen Kirche zu sprechen. Doris W. hat danach ihre Doktorarbeit in analytischer Philosophie geschrieben. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. STANDARD: Sie haben diese Manipulation selbst erlebt. Hatten Sie vor der Vergewaltigung schon manchmal das Gefühl, dass es Ihnen zu viel der Fremdbestimmung wird? Wagner: Nein, das kam erst mit der Vergewaltigung. Davor hatte ich die feste Überzeugung, dass meine Oberen die Stelle Gottes vertreten und dass sie mehr wissen als ich. Dass Leiden dazugehört und dass mich mein begrenzter menschlicher Verstand daran hindert, zu verstehen, was gut für mich ist. Erst als ich vergewaltigt wurde, wusste ich, dass irgendwas an dieser Überzeugung falsch ist. Doch um zu verstehen, dass mein Gewissen, mein Verstand und mein Gefühl Instanzen sind, denen ich trauen kann und denen ich trauen muss - dafür habe ich noch Jahre gebraucht. Meine Vorgesetzten waren für mich die Stellvertreter Gottes, welche von der Kirche berufen waren und von der Kirche anerkannt waren. Gott hat mich in diese Gemeinschaft gerufen, das heißt, was immer sie von mir verlangen, kommt von Ihm und ist gut so. [...] Und das habe ich geglaubt, da war ich mir sicher. Das war immer in Ordnung. Bis zu dem Moment, als ein Priester in meinem Zimmer stand, mich auszog und vergewaltigte. Da wusste ich: Das ergibt keinen Sinn mehr. (...) Warum lässt Gott das zu? "(...)" Mein erster Impuls war: Ich kann es niemandem erzählen, und das Wichtigste ist, dass niemand jemals etwas lernt, weil die Menschen sonst an der Kirche zweifeln würden. [...] Die Verantwortlichen fühlen sich genauso, wenn man ihnen davon erzählt. Das Wichtigste ist, dass der Kirche nichts <?page no="262"?> 262 9 Organisationstypen im Vergleich passiert. Und das ist für Menschen wie uns ganz selbstverständlich, denn die Kirche ist ihre Heimat und niemand möchte seine Heimat verlieren (Hausbichler 2019). Die Gleichsetzung von Hierarchie mit der Stellvertretung Gottes in den Aussagen von Doris W. macht auf die religiöse Ausdeutung der Ordnung aufmerksam. Dazu gehört auch die Aussage, nicht selbst zu wissen, „was gut für mich ist“. Die Zurechnung in Gottes Hand oder in der Hand der Oberen zu sein, beinhaltet auch eine Selbstzurechnung: nicht selbst Herr oder Frau seiner Geschicke zu sein. Die Art der Berufung selbst ist sakral ausgedeutet: Gott hat mich in diese Gemeinschaft berufen, und alles, was verlangt wird, wird von ihm verlangt und ist gut. Erst die Vergewaltigung sorgt für den Bruch. Doch auch dann steht noch der Schutz der Gemeinschaft im Vordergrund. „Das Wichtigste ist, dass der Kirche nichts passiert“. Das gewählte Beispiel hier ist ein ebenso tragisches wie extremes. Es kommt aus dem Kontext einer totalen Institution, dem Kloster, welches unter dem Dach der hybriden Interessensorganisation der Kirche seinen Platz hat, aber nicht für diese steht. Wir erkennen an diesem Beispiel, dass die Hierarchie in Kirchen teilweise durch Autoritätsquellen unterstützt wird, welche anderen Organisationen außerhalb des religiösen Feldes in der Regel nicht zur Verfügung stehen. Dabei kommt nicht einfach nur Fachwissen ins Spiel, sondern es kommt eine religiöse Ausdeutung des oberen Personals hinzu, welche z.B. in der katholischen Kirche als „Stellvertreter Gottes“ erscheinen. „Der Priester ist sakral, der ist unberührbar, der ist der Herr Pfarrer, und wenn dieses Priesterbild vorherrscht, ist natürlich Autoritarismus die ständige Gefahr. Der Pfarrer bestimmt alles, es ist die Gefahr, dass der Pfarrer sich mehr leisten darf als die anderen." (Kardinal Christoph Schönborn, 07.02.2019). Gleichwohl bleibt das Prinzip der Interessenorganisation Kirche in Kraft, dass in diesen die Hierarche von unten gebildet wird (1), durch die Wahl der Mitglieder selbst, und teilweise an die Interessen der Mitglieder gebunden wird (2). In der katholischen Kirche wird diese Konstitution der Hierarchie „von unten“ allerdings nicht ganz durchgehalten. Aber auch hier wird das Führungspersonal von Ranggleichen gewählt (3) und die Hierarchie selbst geschaffen (4). Allerdings kommen bei der Bestimmung der Kandidaten für das Bischofsamt der Gesandte des Papstes, der Apostolische Nuntius, sowie bei der Berufung ins Amt der Papst zum Einsatz, der das letzte Wort hat. Auch am Beispiel des Organisationsaufbaus der Evangelischen Kirche in Deutschland kann man sehr gut erkennen, auf welche Weise das Prinzip der Interessenorganisation bei den christlichen Kirchen strukturierend wirkt. Ihr Führungspersonal, z.B. die Lan- <?page no="263"?> 9.2 Ein Besuch in der Kirche 263 desbischöfe, wird von Pfarrer*innen und Theolog*innen, aber auch von ganz normalen Gläubigen in den Synoden gewählt (1). Die Synoden sind so etwas wie die Parlamente der Landeskirchen (2). Die Mitglieder, die diese Wahl vornehmen, sind dabei prinzipiell ranggleich mit dem Führungspersonal (3). Die Bischöfe und Leitungen der Gliedkirchen wählen dann wiederum die Kirchenkonferenz und die Synode, welche den Rat wählt, der wiederum den Ratsvorsitzenden durch Wahl bestimmt (4). Dieser formale Organisationsaufbau ist jedoch nicht gleichzusetzen mit den faktischen Abläufen in der Organisation. Diese sind vom Organisationsaufbau zu unterscheiden und nur teilweise an diesem orientiert. Die Finanzierung der christlichen Kirchen Während der Gabenbereitung Im Rahmen der Eucharistiefeier findet dann in der katholischen Messe an Sonn- und Feiertagen die Kollekte statt. Der „Klingelbeutel“ wird herumgereicht und danach zusammen mit den eucharistischen Gaben an den Altar gebracht. In den evangelischen Landeskirchen werden in jedem Gottesdienst Kollekten veranstaltet. „Während der Gabenbereitung wird oft Geld gesammelt, das kirchlichen Hilfswerken oder der konkreten Pfarrei zugutekommt (Kollekte). Das »Opfer« der Gemeinde hat eine lange Tradition. Teilen ist eine der größten christlichen Tugenden. Außerdem kann es ein Symbol dafür sein, dass wir einen Teil von uns selbst zum Altar Quelle: Wikimedia Commons, File: Ekd organigramm.jpg, 2009, „Organigramm Evangelische Kirchen in Deutschland (EKD)“ Abbildung 9.1 Der Organisationsaufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland <?page no="264"?> 264 9 Organisationstypen im Vergleich geben“ (https: / / www.vivat.de/ magazin/ christliches-leben/ gottesdienst/ ablaufder-hei-li-gen-messe/ ). Wie andere Interessenorganisationen auch finanzieren sich die christlichen Kirchen in Deutschland über ihre Mitgliedsbeiträge, Spenden und Kollekten sowie über staatliche Alimentierungen. „Eine der Haupteinnahmequellen der Kirche ist die Kirchensteuer - im Jahr 2021 etwa sechs Milliarden Euro für die evangelische und 6,7 Milliarden Euro für die katholische Kirche.“ Damit tragen die christlichen Kirchen für die Hauptquellen ihrer Finanzierung selbst Verantwortung und haben darüber volle Verfügungsgewalt. Auch die Vermögenswerte der christlichen Kirchen gehören ihnen selbst, sie können frei darüber verfügen (1). „Darüber hinaus finanzieren sich die Kirchen aus diversen Quellen. Eine davon sind die sogenannten Staatsleistungen, die an die evangelische und katholische Kirche fließen: über 500 Millionen jährlich, im Jahr 2022 sogar an die 600 Millionen - direkt vom deutschen Staat“ (Deutschlandfunk 2023). Es sind also zugleich staatlich unterstützte Interessenorganisationen. So zahlt der deutsche Staat z.B. die Gehälter des Personals der christlichen Kirchen sowie den Unterhalt für bestimmte Gebäude. Die Gesamtsumme steigt bisher jährlich (siehe ebenda), ohne damit eine Abhängigkeit der christlichen Kirchen von der staatlichen Finanzierung begründen zu können (2). Die Besonderheiten christlicher Kirchen Die christlichen Kirchen sind also keine Interessensorganisation wie viele andere. Sie haben zahlreiche Besonderheiten, von denen wir sechs zentrale Merkmale hervorheben wollen: (1) Meta-Organisation: Zu ihren Besonderheiten gehört erstens, dass sie Meta-Organisationen in dem Sinne sind, dass ihre Mitglieder teilweise selbst wiederum Organisationen sind (Eberl et al. 2011; Ahrne/ Brunnson 2008; 2012). (2) Hybride Organisation: Sie sind zweitens hybrid. Das heißt, sie nutzen eine große Vielfalt sozialer Gebilde unter ihrem Dach. Sie reicht vom ehrenamtlichen Engagement der Gläubigen über Formen der Interessens- und Arbeitsorganisation bis hin zu totalen Institutionen, wie wir sie z.B. in den Klöstern und Priesterseminaren vorfinden. (3) Globale Organisation: Diese große Vielfalt realisieren sie in einem weltumspan- Anbeginn an global, also überall auf der Welt, etabliert. Sie erheben im Weberschen Sinne universalistische Ansprüche und haben die Gebundenheit an ethnisch-nationale Schranken von Anbeginn an überwunden (WuG 692). (4) Staatlich garantierte Autonomie und Alimentierung: Den christlichen Kirchen in Deutschland ist es dabei viertens gelungen, eine staatlich garantierte Autonomie sowie eine staatliche Finanzierung zu erlangen. Zu ihren Sonderrechten und <?page no="265"?> 9.3 Interessen- oder Arbeitsorganisation als Vergleichskriterium 265 Privilegien gehören teilweise eine eigene interne Gerichtsbarkeit (ohne dass sie heute dem weltlichen Recht enthoben sind) und teilweise ein eigenes Arbeitsrecht oder z.B. in Deutschland eine Finanzierung mit Hilfe einer vom Staat eingezogenen Kirchensteuer. (5) Räumliche und regionale Differenzierung: Anders als viele andere Interessenorganisation sind auch die Kirchen in Deutschland nach dem Territorialprinzip räumlich und regional gegliedert. Dadurch sind sie flächendeckend territorial präsent. (6) Eigener monarchischer Staat (katholische Kirche): Die katholische Kirche hat darüber hinaus (und sechstens) ein, als eigener Stadtstaat etabliertes Headquarter, in dem das Oberhaupt der Kirche, der Papst, als Monarch, gewählt von Kardinälen, regiert. Dieser wird auf Lebenszeit gewählt und kann nicht abberufen oder abgewählt werden, sondern nur der (in der Vergangenheit oft herbeigeführte 114 ) Tod oder der freiwillige Rücktritt können ihn von diesem Amt trennen. Wir ordnen die christlichen Kirchen also als professionsbasierte Interessensorganisationen mit staatlichen Privilegien ein. Es sind global etablierte, hybride Dachorganisationen mit Sonderrechten, einem hohen Maß an staatlich garantierter Autonomie sowie mit Mitgliedschaftsverhältnissen, die von „Feiertagschristen“ bis hin zu totalen Institutionen wie Klöstern reichen. Da sich religiöse Organisationen, wie z.B. die christlichen Kirchen in Deutschland, im Kontext transzendentaler Sinnproduktion bewegen, versuchen sie hier durch (a) Glaubensgrundsätze, Dogma und Kanon in ihrer Programmatik, durch (b) Kirchenorganisation, Amt und Hierarchie, und (c) einer in besonderer Weise gekürten Berufspriesterschaft Exklusivität und kirchlich bestimmte „Heilsgewissheit“ herzustellen und aufrechtzuhalten. 9.3 Interessen- oder Arbeitsorganisation als Vergleichskriterium In allen gesellschaftlichen Bereichen gibt es Organisationsformen, welche vorrangig einer Verfolgung ideeller oder gemeinschaftlicher Interessen dienen und in denen das an ideelle oder gemeinschaftliche Zwecke gebundene Engagement der Mitglieder im Vordergrund steht. Das Mitgliedschaftsmotiv wird in diesen normativen Organisationsformen (Etzioni 1961), den Interessenorganisationen, an den Organisationszweck gebunden (Schimank 2002). Das bedeutet, dass Organisationen wie z.B. eine christliche Kirche, eine politische Partei oder Greenpeace nicht einfach die Organisationszwecke der ideellen und gemeinschaftlichen Interessensverfolgung - Glaube 114 https: / / www.katholisch.de/ artikel/ 13270-paepste-im-fadenkreuz <?page no="266"?> 266 9 Organisationstypen im Vergleich und Seelsorge, bestimmte politische Interessen sowie Umweltschutz - grundlegend ändern können, ohne ihre Mitgliedschaftsbasis zu gefährden. Sie können nicht einfach vorrangig an Geld orientiert wirtschaften oder Wissenschaft betreiben, ohne die Organisationsform wechseln und ggf. neue Mitglieder rekrutieren zu müssen. Interessenorganisation: Die enge Verknüpfung zwischen Mitgliedschaftsmotiv und Organisationszweck ist konstitutiv für diesen Typus von Organisation. Sie versorgt die Organisation zum einen mit einem teilweise unentgeltlichen, intrinsisch motivierten Engagement und schafft zum anderen Probleme in Bezug auf die Flexibilität in der Wahl der Ziele der Organisation sowie der Legitimität ihrer Vorgehensweisen. Im Gegensatz dazu gibt es Organisationen, die Arbeitsorganisationen, bei denen das Mitgliedschaftsmotiv und der Organisationszweck nur lose verknüpft sein können. Diese Organisationen stellen Geld und Karrieren als „kalkulierte“ Mitgliedschaftsmotive zur Verfügung (Etzioni 1961), ohne dass die Mitglieder mit dem Organisationszweck ideell verbunden sein müssen. Man kann, aber muss es nicht toll finden, Farben zu produzieren, in einem Pub zu bedienen, Kinder oder ältere Menschen zu betreuen, Versicherungen zu verkaufen, Kranke zu pflegen etc. Es reicht, wenn wir uns als Personal an unserem Einkommen oder unserer Karriere orientieren und unser Engagement auf die Erfüllung der Mitgliedschaftserwartungen während der vorgeschriebenen Arbeitszeit beschränken. Arbeitsorganisation: Mitgliedschaftsmotiv und Organisationszweck können bei diesen Organisationsformen auseinandertreten und schaffen so für beide Seiten Freiheitsgrade. Das Personal muss sich nicht an den Organisationszweck binden und die Organisation kann die Zwecke und Produkte leichter verändern, also heute Autos und morgen Spielzeug produzieren oder umgekehrt, ohne das Personal komplett austauschen zu müssen oder an Legitimität zu verlieren. Da es in allen gesellschaftlichen Bereichen beide Organisationsformen gibt und größere Interessenorganisationen in ihrem Kern oft auch Arbeitsorganisationen mit hauptamtlichen Mitarbeiter*innen und Führungspersonal sind, ist es ein weiteres wichtiges Prüfkriterium für die vergleichende empirische Analyse von Organisationen, inwieweit bzw. in welchem Ausmaß diese Charakteristika von Interessenund/ oder von Arbeitsorganisationen aufweisen. Sind die Leitorganisationen in gesellschaftlichen Feldern, auf denen ideelle und gemeinschaftliche Interessen im Vordergrund stehen, eher Interessenorganisationen? Und finden sich in gesellschaftlichen Bereichen, in denen eine dauerhafte materielle Deckung gesellschaftlicher Bedarfe im Vordergrund steht, vermehrt Arbeitsorganisationen? <?page no="267"?> 9.3 Interessen- oder Arbeitsorganisation als Vergleichskriterium 267 Tabelle 9.2: Interessen- und Arbeitsorganisationen im Vergleich der verschiedenen Felder Schlüsselorganisation Kirche Partei Krankenhaus Unternehmen Beispiel Christliche Kirchen Politische Parteien Öffentliche Krankenhäuser Privatunternehmen Kulturraum Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland Art der Organisation Interessenorganisation Interessenorganisation Arbeitsorganisation Arbeitsorganisation Im Idealtypus der Interessenorganisation besteht eine ursprüngliche Ranggleichheit der Mitglieder, die nach und nach durch repräsentativ-demokratische Verfahren ersetzt werden kann. So wie im Falle der katholischen Kirche die Bischöfe oder der Papst oder in einer Partei oder einer Gewerkschaft der Vorstand und die Vorsitzenden gewählt werden. Es entsteht eine, durch die Mitglieder gewählte Hierarchie, bei der jedoch mehrere Leute an der Spitze stehen und die oft mehrere Leitungsfiguren kennt. So sind die Vereins- oder Verbandsvorsitzenden oder die Päpste »primi inter pares«, ohne dass die anderen Mitglieder des Verbandes, der Partei oder die Kardinäle 115 nichts mehr zu sagen hätten. Anders als in Arbeitsorganisationen üblich schaffen sich also die Mitglieder hier selbst diese hierarchische oder polyarchische Struktur, der sie sich dann unterordnen (vgl. Schimank 2002: 31-35). Auch hier haben wir wieder im idealtypischen Vergleich der Merkmale vier Prüfkriterien, die als Heuristik für die empirische Analyse herangezogen werden können: Tabelle 9.3: Idealtypischer Vergleich der Merkmale von Interessen- und Arbeitsorganisationen (vgl. Kapitel 3) Interessenorganisation (z.B. Verbände, Vereine, Parteien, Kirchen etc.) Arbeitsorganisation (z.B. Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser etc.) (1) von »unten« gebildet (1) von »oben« gebildet (2) an die Interessen der Mitglieder rückgebunden (2) an die Interessen des*der Träger*in bzw. Prinzipal*in gebunden (3) Ranggleichheit der Mitglieder (3) Rangungleichheit der Mitglieder (4) selbst geschaffene Hierarche/ Polyarchie (4) vorgegebene Hierarchie 115 Wahlberechtigt sind alle Kardinäle, die am Tag vor dem Eintritt der Sedisvakanz (zum Beispiel dem Todestag des Papstes) ihr 80. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. <?page no="268"?> 268 9 Organisationstypen im Vergleich Bei Arbeitsorganisationen wird oft die formale Organisation »von oben«, durch eine*n Träger*in, Prinzipal*in oder Eigentümer*in konstituiert. Dies kann z.B. ein Individuum, ein Unternehmen, eine Landesbehörde oder eine Landesregierung sein. Die Interessen des Trägers sollen mittels Organisation realisiert werden, wozu es oft weiterer Mitglieder bedarf. Ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist in der Regel eine Arbeits-, und keine Interessenorganisation mehr. Denn deren Mitglieder können auch ohne Übereinstimmung mit den gesetzten Zielen der Organisation an deren Leistungsproduktion mitwirken. Anders als bei der Kirche als Interessenorganisation müssen Mitgliedschaftsmotiv und Organisationszweck nicht mehr übereinstimmen oder eng verbunden sein, sondern die Mitarbeitenden oder Führungskräfte können ihren Job auch vorrangig wegen des angebotenen Gehaltes machen. Auf Basis dieses Tausches lässt sich in Arbeitsorganisationen eine Hierarchie aufbauen, die hierarchisch geordnete Stellen mit entsprechenden Qualifikationen und Vergütungen verknüpft. Der Geschäftsführende des Unternehmens erfüllt in diesem Sinne eine ganz andere hierarchische Funktion als ein Parteivorstand für seine Partei, weil dieser nicht mehr direkt an die Interessen der Mitglieder rückgebunden ist, sondern auch gegenüber Angestellten mit anderen Interessen Weisungsbefugnis hat. Arbeitsorganisationen sind in der Regel also keine Interessenzusammenschlüsse, sondern bauen vor allem auf Tauschbeziehungen auf (vgl. ebd.: 34). Deswegen muss es, wie z.B. bei Vereinen, auch keine Satzung mehr geben, sondern es reichen je bilaterale Vereinbarungen, wie Arbeits- oder Honorarverträge. Für festgelegte Anreize, z.B. den Arbeitslohn, werden hier die erwarteten Beiträge zur Leistungsproduktion formuliert - auch wenn man diese nicht präzise spezifiziert, sondern nur ungefähr benennt (vgl. dazu Berger/ Offe 1982). Die enge Verbindung zwischen der Einbringung der je individuellen Einflusspotenziale und deren Einsatz im Sinne substanziell geteilter Interessen fehlt bei der Arbeitsorganisation in der Regel oder ist zumindest für diese nicht konstitutiv. Erkennbar ist das umgekehrt auch daran, dass man in Arbeitsorganisationen ohne Weiteres auch dann entlassen werden kann, wenn man mit ihren Zielen übereinstimmt - und sei es nur, weil man zu teuer geworden ist. 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? Politische Parteien sind den meisten von uns im Alltag ebenso vertraut wie Kirchen oder Krankenhäuser. In den Städten sind Parteigebäude entsprechend gekennzeichnet und bei Wahlen werden die Stimmenanteile u.a. nach Parteien geordnet ausgewiesen. Teilweise wählen wir auch Parteien, welche dann den Zugang zu den politischen Ämtern organisieren. Zugleich sind sie im medialen Diskurs außerordentlich präsent. Irgendwo ist immer eine Wahl und da es sich um die politischen Geschicke eines Ortes, eines Bundeslandes oder eines ganzen Landes sowie um hervorgehobene <?page no="269"?> 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? 269 Personen dreht, ist das mediale Interesse immer groß. Gerade weil politische Parteien für uns so selbstverständlich und in ihrer Gestalt so vielfältig sind, fällt uns ihre Einordnung als Organisationstypus bisweilen schwer. Doch genau dies wollen wir im Folgenden tun. Information 2: Das klassische Verständnis politischer Parteien in den Sozialwissenschaften Max Weber: Parteien sind für Max Weber auf formal freier Werbung beruhende Vergesellschaftungen. Sie haben den Zweck, ihren Leitenden innerhalb eines Verbandes Macht und für ihre Teilnehmenden die Chancen zur Durchsetzung von sachlichen Zielen zu erhöhen und ihnen zugleich persönliche Vorteile zu verschaffen (WuG 1922/ 80: 167). Damit ist für Weber die Funktion von politischen Parteien klar bestimmt. Manchmal stehen die Erlangung der Macht sowie die Besetzung der Positionen in Regierung und Verwaltung stärker im Vordergrund, manchmal sind es ständische oder Klasseninteressen und manchmal Weltanschauungen und sachliche Zwecke (ebd.). In demokratischen Gesellschaften sind sie für Weber jedoch primär Organisationen für die Werbung von Wähler*innenstimmen sowie um den parlamentarischen Abstimmungen die priorisierte Richtung zu geben. (MWG I/ 22-4, 509 f.; Breuer 2020: 131 f., vgl. dazu u.a. Schmidt 2019; Manow 2020 u.v.a.). Bürokratische, aber auch oligarchische Tendenzen sieht Weber die Folge einer Entwicklung zu Massenparteien. Die einfachen Mitglieder werden dabei zu „Akklamanten“, zum applaudierenden Publikum erfolgreicher Berufspolitiker*innen. P ARTEIEN ALS O RGANISATION M AX W EBER A NTHONY D OWNS / R ATIONAL C HOICE T HEORIE N IKLAS L UHMANN T YPUS Auf formal freier Werbung beruhende Interessentenbetrieb Koalition von Personen, um den Regierungsapparat unter Kontrolle zu bringen Politische Organisation in der Peripherie des Staates Z IELE UND A UFGABEN Durchsetzung sachlicher Ziele und persönlicher Vorteile Politik als Mittel zur Gewinnung von Wählerstimmen Formierung staatlicher Politik H IERARCHIE Parteiapparat mit bürokratischen/ oligarchischen Tendenzen Gruppe von Personen mit gleichen Interessen formale Hierarchie, heterarchische Entscheidungen <?page no="270"?> 270 9 Organisationstypen im Vergleich P ERSONAL M ITGLIEDSCHAFT „Akklamanten“ „Konsument*innen“ und „Anbieter*innen“ Publikum S CHLÜSSELPERSONAL Berufspolitiker*innen „Status- und Gewinnorientierte“ Berufspolitiker*innen Anthony Downs: Die ökonomische Theorie der Demokratie von Anthony Downs untersucht die demokratische Politik aus einer ökonomischen Perspektive. Er fragt, was wir sehen, wenn wir das Verhalten der Akteur*innen des politischen Bereichs, Parteien und Wähler*innen, so interpretieren, als ob sie Anbieter*innen und Nachfrager*innen auf einem Markt der politischen Möglichkeiten wären. Für Anthony Downs in seiner ökonomischen Rational-Choice-Theorie der Politik verfolgen in dieser Perspektive politische Parteien, wie bei Max Weber auch, das Interesse, an die Macht zu kommen. Sie erscheinen in dieser Perspektive als Koalitionen von Personen, die einen Regierungsapparat mit legalen Mitteln unter Kontrolle bringen wollen (Downs 1957; 1993: 24). Politische Parteien in einer Demokratie formulieren Politik in diesem Modell vorrangig als Mittel zur Gewinnung von Wähler*innenstimmen. Dazu richten sie ihr Parteiprogramm so aus, dass es möglichst viele Bürger*innen anspricht. Die Politiker*innen verfolgen bestimmte Interessen vorrangig mit dem Ziel, Regierungsämter zu gewinnen und wollen nicht umgekehrt Regierungsämter einnehmen, um bestimmte Interessen realisieren zu können. (vgl. Downs 1957; 1993). Niklas Luhmann: Nach Luhmann gehören Parteien zur Peripherie der zentralen territorialen Staatsorganisation und unterstützen diese mittels der Verdichtung politischer Anliegen auf Entscheidungsmöglichkeiten darin, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen (Luhmann 2000b: 245). Da in der Welt parteipolitischer Programmatiken noch nicht kollektiv bindend entschieden werden kann, ist der Spielraum für Wunschvorstellungen und klientelorientierte Dramatisierungen noch ungleich größer als in der Regierungspolitik (ebd.: 246). Politische Parteien dienen für Luhmann daher in vielfacher Hinsicht der Formierung der staatlichen Politik und bestücken Parlamente, Regierungen und andere Staatsorganisationen mit Personal. Sie bilden formale Hierarchien aus, um Entscheidungsfähigkeit zu signalisieren, bekommen es intern jedoch oft mit Heterarchien zu tun, welche eine zentrale Entscheidungsfähigkeit einschränken (ebd. 268). Parteien sichern in dieser Perspektive Karrieren von „Berufspolitiker*innen“ ab, weil sie damit Motivation und Engagement auch vor dem Hintergrund auf Dauer stellen können, dass Themen, Inhalte und Abstimmungsprioritäten in der Politik oft wechseln müssen. (Luhmann 2000c, S. 267). Das Leitbeispiel 9.3: Die Gründung der PPU Nehmen wir an, wir ergreifen Partei für jene Gruppen, die in der gängi gen Politik selten Gehör finden. Wir sind eine Gruppe Studierender, am Spätwerk von Bourdieu orientiert, und wollen aktiv deren Interessen vertreten. Wir sehen uns als Studierende selbst als in der Politik Ungehörte und als eine Minderheit ohne entsprechende politische Vertretung. Wir beschließen, zusammen eine Partei zu gründen. Dazu gründen wir zunächst einen Verein und nennen uns <?page no="271"?> 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? 271 „Partei der politisch Ungehörten“ (PPU). Wir wissen, dass die Voraussetzungen für eine Teilnahme bei einer Wahl sind nicht sehr hoch sind und streben eine solche möglichst zeitnah an. Für eine gemeinsame Liste für alle Bundesländer sind Unterschriften von 4.000 Wahlberechtigten erforderlich, für eine Liste für ein einzelnes Bundesland die Unterschriften von einem Tausendstel der Zahl der Wahlberechtigten im Land bei der letzten Europawahl, höchstens aber 2000 Unterschriften. Wir denken, dass wir das einfach erreichen werden, um dann auch offiziell als Partei firmieren zu können. Die Entstehung neuer Parteien: Auf diesem Weg entstehen in Deutschland immer wieder neue politische Parteien. Einer Wikipedia-Liste zufolge sind seit dem Jahr 2000 59 politische Parteien in Deutschland neu gegründet worden und haben in den letzten sechs Jahren an Landtags- oder Bundestagwahlen teilgenommen (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_der_politischen_ Parteien_in_Deutschland). 11 Parteien zwischen 2000 und 2009, 29 zwischen 2010 und 2019 und immerhin bereits 19 Parteien zwischen 2020 und 2023. Dazu gehören u.a. Parteien wie die V-Partei³ - Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer (1200 Mitglieder, angetreten in Brandenburg und Sachsen), Die Violetten - für spirituelle Politik (678 Mitglieder, angetreten in NRW), Menschliche Welt für das Wohl und Glücklich-Sein aller (669 Mitglieder, angetreten in Berlin) oder die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung (289 Mitglieder, angetreten in Bremen). Die letztgenannte Partei hat nach eigenen Angaben bisher an Landtagswahlen in 14 Bundesländern, an den Bundestagswahlen 2017 und 2021 sowie der Europawahl 2019 teilgenommen (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Partei_f%C3%BCr_schulmedizinische_Verj%C3%BC ngungsforschung). Aber zugleich ist auch die Überlebensrate im Zeitverlauf für solche peripheren politischen Parteien in der Regel nicht sehr hoch. Dies ist ein wichtiges Element des politischen Systems in Deutschland: Es kann zwar viele politische Blumen in der politischen Parteienlandschaft blühen lassen, aber deren Chancen, in den Kern des Zugangs zu Regierungspolitiken vorzustoßen, sind gering. Wie das Beispiel der AfD aber zeigt, gelingt es immer wieder vormals peripheren Parteien in den Kern der politischen Parteienlandschaft vorzustoßen. Der Kern der derzeit etablierten Parteien (SPD, CDU/ CSU, FDP, Grüne, Linke), die dies regelmäßig bewerkstelligen, ist in Deutschland mit einer durchschnittlichen Bestandszeit von 76 Jahren im schnelllebigen politischen Geschäft langfristig etabliert und kann auf diese Weise auch politische Karrieren mit langfristiger politischer Organisation von Wahl- und Durchsetzungschancen verbinden. Wir sind parteiisch, in dem wir uns an den Interessen der Ungehörten sowie an unseren Interessen und Anliegen orientieren. Wir sind aber auch an universellen Werten orientiert und finden, dass in einer Demokratie alle gleichermaßen Gehör finden sollen. Insbesondere wollen wir den Randgruppen in unserer Gesellschaft Gehör ver- Quelle: Wikimedia Commons, Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung Quelle: eigene Darstellung <?page no="272"?> 272 9 Organisationstypen im Vergleich schaffen. Wer sich uns anschließt, sollte dies auch tun wollen und wer das nicht oder etwas anderes möchte, sollte woanders bzw. für jemand anderen Partei ergreifen. Unser Ziel ist es, Möglichkeiten zu schaffen, unsere Interessen oder Ideen politisch zu verwirklichen. Und wir wissen: Dies geht nur mit Macht. Die Durchsetzung von Interessen: Im Zentrum der Politik, ob in einer Familie, in einem Unternehmen oder in einem Nationalstaat, stehen zumeist die auf einen sozialen Kontext bezogenen Chancen, seine Ideen und Interessen für sich und andere durchzusetzen. Die Aufgaben und Funktionen politischer Parteien Die eigenen Interessen und/ oder Ideen durchsetzen zu können, bedeutet in der Politik auch immer, Dritte, welche andere Ideen und Interessen haben, an die eigenen Entscheidungen binden zu können. Das Ausmaß und die Art, in dem diese kollektive Bindung dann faktisch gelingt, ist unterschiedlich und eine empirische Frage. Vieles dreht sich in der Politik aber um die Chancen und Möglichkeiten, dass dies gelingen kann. Und wir schätzen unsere Chancen als eher hoch ein. Wir wollen die politische Meinung auf unsere Seite bringen und eine sichtbare Insel im Meer der Meinungs- und Interessenvielfalt für die Ungehörten und Studierenden werden, welche sich uns anschließen. Die Aufgaben und Funktionen politischer Parteien: Die Aufgabe der politischen Parteien liegt in der Organisation einer politischen Gesinnungs- und Interessenvertretungsgemeinschaft, in der Festlegung der vertretbaren politischen Inhalte, der angestrebten Ämter sowie in der Werbung für ausgewählte Personen und Programmpunkte. Sie erfüllen vor diesem Hintergrund drei grundlegende Funktionen: (1) office seeking: In vielen Ländern sind sie die Gatekeeper, welche den Zugang zu Parlaments- und Regierungsämtern sowie zu bestimmten politischen Ämtern in der Administration z.B. der Ministerialverwaltung regulieren. Es sind also die Organisationsformen, welche in vielen Gesellschaften ganz maßgeblich die politischen Eliten konstituieren und prägen. In dieser Hinsicht erfüllen sie eine gesellschaftliche Selektionsfunktion, in dem sie die Kriterien definieren und exekutieren, die in der Regel (keineswegs immer) Anwendung finden und den Zugang zu politischen Elitefunktionen an parteilich bestimmte Voraussetzungen binden. (2) policy seeking: Politische Parteien dienen der organisierten Artikulation von Interessen, Ideen und Weltanschauungen. Sie sind die Gatekeeper in Bezug auf die Ideen und Policies, von denen sie sich und ihrem Leitungspersonal erhöhte Macht- und Durchsetzungschancen versprechen und versehen ausgewählte Ideen und Policies zugleich durch ihre Aufnahme in die Parteiprogramme mit erhöhten Macht- und Durchsetzungschancen. (3) vote seeking: Dabei stehen in Demokratien mit einem Parteienwettbewerb immer die Wähler*innenstimmen im <?page no="273"?> 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? 273 Vordergrund. Parteien wählen und testen Themen und Policies mit Bezug zur potentiellen Wählerschaft aus und organisieren damit auch die politische Meinungsbildung in einer Gesellschaft mit. Wenn Themen sich bewähren, weil sie bei der Wählerschaft Anklang finden, rücken sie auf der Agenda nach vorne, während „Ladenhüter“-Themen nach hinten rücken. Das schließt aber nicht aus, dass Parteien die Themen, welche im Markenkern des Parteien-Brandings stehen, auch dann mitführen, wenn der Anklang bei der Wählerschaft nicht sonderlich groß ist. (vgl. dazu Zohlnhöfer 2019 142 f.) Die Mitgliedschaft in der Partei und ihr Personal Der Eintritt in die Organisation: Der Eintritt ist jedem und jeder frei und wir lassen als junger Verein möglichst viele als Mitglieder zu, unabhängig davon, ob sie zu den Randgruppen gehören oder nicht. Wer Mitglied werden möchte, sollte sich zwar zur Linie der PPU bekennen können, aber wir prüfen das nicht weiter. Formal hat aber jedes Mitglied die Pflicht, die Ziele der PPU zu unterstützen. Darüber hinaus ist die Mitgliedschaft voraussetzungslos. Man sollte nur nicht gleichzeitig Mitglied einer konkurrierenden Partei sein. Wenn dies nicht der Fall ist, kann man auf unserer Website online innerhalb von fünf Minuten einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Dann entscheidet formal der Ortsverband des Ortes, an dem das Mitglied wohnt, über dessen Aufnahme. Danach bekommt jedes Mitglied eine digitale Mitgliedskarte zugeschickt, mit der auch kleinere Privilegien einhergehen. Neben der Möglichkeit, sich als Mitglied auszuweisen, bietet die Karte auch einige weitere Vorteile, die mit uns kooperierende Firmen den Parteimitgliedern anbieten. Wichtig ist für uns das freiwillige Engagement. Aber jene, die sich nicht über die Mitgliedschaft hinaus engagieren wollen, sind uns auch willkommen. Wenn sie es nicht anders wollen, lassen wir ihre Mitgliedschaft auf einer Art „Minimalinklusion“ beruhen. Die Minimalinklusion der Mitglieder: Eine Minimalinklusion bedeutet, dass die Organisation, deren Mitglied wir sind, nur so weit auf unsere Arbeitszeit und Engagement zugreifen kann, wie wir das wollen und zulassen. Und wenn wir dies gar nicht mehr wollen, muss die Organisation dies faktisch akzeptieren. Sie kann nicht mittels Anweisungen unser Engagement erzwingen. Sie kann nur an dieses appellieren. Je stärker unsere Mitgliederzahl bundesweit wächst, desto stärker müssen wir unserem Verein Form und Struktur geben. Wir organisieren ihn territorial und rollen ihn im Bundesgebiet aus, mit möglichst vielen Ortsvereinen in den Grenzen der Bundesrepublik. Wir sind dabei im Rahmen des Parteiengesetzes sowie des Grundgesetzes in der Wahl unserer Ziele und Aufgaben frei (1) und können auch die Durchführung <?page no="274"?> 274 9 Organisationstypen im Vergleich ihrer Aufgaben (2) sowie die Wahl unserer Vorstände und unserer Hierarchien selbst bestimmen (3). Mitgliedschaftsregeln: Wir entscheiden, dass alle Mitglieder unserer Partei gleichrangig sind und dass wir gemeinsam entscheiden, welche Interessen welcher Randgruppen wir in welcher Weise vertreten wollen. Wir legen dazu unsere Ressourcen (Geld, Zeit, Energie, Fachkompetenzen etc.) zusammen. Die einfachen Mitglieder können dies in dem Maße tun, wie sie es wollen und können. Da unser Verein nach einiger Zeit bereits mit kleineren Erfolgen als PPU an Landtags- und Bundestagswahlen teilnimmt, werden wir als politische Partei anerkannt und erhalten neben den Mitgliedsbeiträgen nun auch Erstattungen der Wahlkampfkosten von staatlicher Seite Nun entstehen auch bezahlte Positionen für Mitglieder, welche in einem „full-time- Job“ für die Partei arbeiten. Für diese ist die Partei Interessen- und Arbeitsorganisation zugleich. Manche von uns werden aber auch gewählt, werden zu Mandatsträgern und Regierungsmitgliedern. Für jene von uns, welche politische Verantwortung übernehmen, ist der Job nicht mehr nur ein Job, sondern wird entgrenzt, auf Basis entgrenzter Verfügbarkeit für dringende politische Aufgaben ausgeübt. Der „Parteiapparat“: Im Kern unserer Partei entsteht auf diese Weise ein Parteiapparat“, also eine Arbeitsorganisation mit Partialinklusion. Hier, im Parteiapparat, bewegen sich die Organisationsmitglieder in einer Doppelrolle: Sie sind zugleich gleichrangige Mitglieder der Partei und können ihre Vorgesetzten wählen sowie Mitarbeitende in der Arbeitsorganisation, die teilweise weisungsgebunden und „untergeordnet“ sind. Sobald aber hervorgehobene Wahlund/ oder Regierungsämter ins Spiel kommen, tendieren die Arbeitsverhältnisse zu Formen der Entgrenzung nach Art einer eher totalen Inklusion - ohne dass sich dadurch eine totale Institution etablieren würde. Wie Pfarrer*innen auch können Parteimitglieder mit Verantwortung für das Gemeinwesen in politisch hervorgehobenen Positionen sich nicht durchgängig an die Formen der Partialinklusion halten, ohne ihr politisches Amt zu riskieren. Im Falle von Hochwasser, von Wahlen, von politischen Krisen ist immer entgrenzte Verfügbarkeit gefordert. Wir können als Politiker*innen in solchen Fällen nicht einfach sagen: Ich gehe jetzt in den Urlaub, oder: Ich habe jetzt Feierabend, oder: Meine Familie wartet auf mich oder ähnliches. Auch hat die Wählerschaft die Erwartung, dass Politiker*innen ein offenes Ohr den für Sie wichtigen Belangen gegenüber haben. Und natürlich sind wir selbst auch keine Heiligen, die von Luft und Liebe, Ideen und Interessen allein leben können und wollen, sondern mit dem außerordentlichen Engagement für die Sache der Partei verbinden sich nach und nach auch das Interesse von uns, dies dauerhaft tun zu können und zugleich unsere Existenz und die unserer Familien absichern zu können. Gerade weil Wahlämter immer unsicher, die Mandate zeitlich befristet sind und wir Teile unserer Einkünfte aus diesen an die Partei zu- <?page no="275"?> 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? 275 rückgeben, erwarten wir als besonders Engagierte auch eine dauerhafte Organisationsform, welche in der Lage ist, unsere Existenz und unsere Karriere abzusichern. Karrieren in der Politik: Die politischen Karrieren, die in Deutschland und Europa durchlaufen werden, werden in der Regel in den politischen Parteien vollzogen und durch diese abgesichert. Bereits die Vergabe von Listenplätzen, also von Nominierungen, bevorzugt in vielen europäischen Ländern die Amtsinhabenden sowie die älteren und erfahrenen Politiker*innen (siehe Fiva/ Rohr 2018; Cirone et al. 2021; Stockemer/ Sundström 2021; Höhne 2023). Auch in experimentellen Studien mit lokalen Parteivorsitzenden in Deutschland wurde festgestellt, dass die politische Vorerfahrung, das mittlere Alter und das große Engagement innerhalb der Partei die wichtigsten Merkmale für eine erfolgreiche politische Karriere sind (Berz/ Jankowski 2022: 1142 f.). Entsprechend lag der Anteil von Minister*innen unter 40 Jahren in den Kabinetten in Frankreich, UK und Deutschland in den letzten 40 Jahren auch nur bei 7 % (Stockemer/ Sundström 2021). Diese Ergebnisse verschiedener Studien unterstreichen gerade aufgrund der Tatsache, dass die europäischen Parlamente inzwischen mehr „Seiteneinsteiger*innen“ kennen, die Bedeutung von innerparteilichen Sozialisationsprozesse für die Entwicklung von Gruppennormen, Loyalität und einer gemeinsamen Orientierung an der Einheit der Partei. Auch die Entwicklung homogener (politischer) Präferenzen wird durch die politische Sozialisation in der Partei geleistet (Rehmert 2022: 1090; Ohmura 2018; Rehmert 2020a, b). So haben z.B. die Minister*innen des Scholz-Bundeskabinetts 2023 im Durchschnitt rund 31 Jahre Parteizugehörigkeit vorzuweisen. Führend ist der Bundeskanzler Olaf Scholz mit 47 Jahren SPD-Zugehörigkeit und Annalena Baerbock bildet mit 18 Jahren Parteizugehörigkeit in der noch jungen grünen Partei das Schlusslicht. Wenn man das Durchschnittsalter des Kabinetts von rund 54 Jahren heranzieht, wurde also im Durchschnitt mehr als die Hälfte der Lebenszeit (57%) als Mitglied einer, und nur einer Partei vollzogen. Parteilose Minister*innen finden sich keine. Dabei lässt sich auch die funktionale Spezialisierung in den Karrieren ablesen. 6 der 17 Kabinettsmitglieder haben sie durchgängig im politischen System verbracht und bei allen anderen spielten Tätigkeiten von kurzer Dauer eine Rolle, die es erlaubten, viel Zeit für die Parteipolitik zu reservieren. 8 weitere Kabinettsmitglieder waren meistens für kürzere Phasen als Rechtsanwälte (5) oder in selbständigen, freiberuflichen Positionen (3) tätig. Insgesamt lässt sich bei der politischen Führungsriege in der Regierungspolitik des Bundes also erkennen, dass bereits früh die Weichen hin zu einer parteipolitischen Karriere gestellt wurden und dass die Partei die Personen und Karrieren auswählt, welche bis ganz nach oben in das Bundeskabinett führen. Auch in Bezug auf die qualifikatorischen Voraussetzungen zeigt sich, dass das politische Feld weitgehend die Entwicklungen nachvollzieht, die andere Felder bereits vollzogen haben. Auch die politischen Eliten sind heute weit überwiegend sehr hoch qualifiziert. Im derzeitigen Bundeskabinett haben alle Minister*innen ein Stu- <?page no="276"?> 276 9 Organisationstypen im Vergleich dium abgeschlossen und vier von 17, also knapp ein Viertel, vermag sogar eine Promotion aufzuweisen. Akademische Bildung bringt sowohl Vorteile für den Einstieg in eine politische Karriere als auch für den Aufstieg in höhere Hierarchieebenen. Dabei spielt auch die Art des Studiums eine Rolle. Auch wenn das Juristenmonopol in Politik und Verwaltung der Geschichte angehört, haben rund 40% des derzeit amtierenden Bundeskabinetts, 7 von 17, Jura studiert, gefolgt von Politikwissenschaften mit rund 30% (5 von 17). Auch in Europa stellt ein Jurastudium weiterhin die am häufigsten vertretene Studienrichtung unter den Regierungsmitgliedern dar (Vogel 2022). Dabei spielen im Hintergrund bei uns ganz verschiedene Qualifikationen eine Rolle. Zwar haben alle studiert und mittlerweile auch ihren Abschluss gemacht, aber manchen kommen aus der Soziologie, aus der Politikwissenschaft, haben Jura oder Ökonomie studiert. Es lässt sich bei uns - wie bei vielen anderen politischen Parteien in Deutschland auch - keine Professionsgebundenheit der Organisation erkennen. Keine einzelne Profession prägt die Definition der Aufgaben oder bestimmt die Hierarchie (1). Eine politische Partei lässt sich auch ohne Jurist*innen oder Politikwissenschaftler*innen betreiben (2) und auf den Leitungspositionen ist keine professionelle Beteiligung vorgeschrieben (3). Insofern haben Parteien - wie die unsere auch - im Regelfall ein Gemisch verschiedener Professionen und Berufen vorzuweisen, auch wenn bestimmte Fächer überwiegen. Austritt und Ausschluss aus der Partei: Wie auch bei anderen Parteien üblich, kommt es auch bei uns zwischen den verschiedenen Mitgliedern, Ortsverbänden und Fraktionen innerhalb der Partei zu Meinungsverschiedenheiten, Konflikten und Verwerfungen. Insbesondere sind in letzter Zeit immer mehr Mitglieder eingetreten, die einen eher rechten, aus Sicht der Mehrheit der Partei undemokratischen Einfluss erkennen lassen. Sie sind der Überzeugung, dass gerade die rechtsorientierten Teile der Bevölkerung, die Reichsbürger und Querdenker, zu den ungehörten und politisch ignorierten Minderheiten gehören und die PPU dafür Sorge tragen müsse, diesen ungehörten Minderheiten zu Gehör zu verhelfen. Dies sei schließlich der recht verstandene Auftrag der Partei. Dafür solle sie einstehen. Die potentiellen Zugewinne an Wähler*innen seien dabei enorm. Auf dem Bundesparteitag empfiehlt dann die Mehrheit der Delegierten, auf Antrag der Parteivorsitzenden, diese Mitglieder zum Austritt aufzufordern oder, falls sie nicht freiwillig gehen, ihren Ausschluss zu beantragen. Wer irgendwann nicht mehr Mitglied sein möchte, so der Parteivorsitzende, weil ihre oder seine Interessen in der PPU nicht vertreten werden, könne doch einfach austreten und seine Mitgliedskarte zurückgeben. Aber natürlich weigern sich die rechtsgesinnten Mitglieder, dieses zu tun. Schwieriger wird es für den PPU-Vorsitz <?page no="277"?> 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? 277 nun jedoch, ein Mitglied im Zuge eines Parteiordnungsverfahrens aus der Partei auszuschließen. Politische Meinungsverschiedenheiten reichen hier als Begründung nicht mehr aus. Für die Partei ist es also schwer, bestimmte Gruppen oder Flügel auszuschließen, welche nicht mehr vorrangig die Interessen von sozialen Randgruppen vertreten wollen, sondern jene der rechten Minderheiten. Denn ein Parteiausschluss setzt einen vorsätzlichen Satzungsverstoß oder erheblichem Verstoß gegen die Grundsätze der Partei voraus, wenn dieser der Partei einen schweren Schaden zufügt (§ 10 Abs. 4 ParteiG). Die „Stratarchien“ Dabei wählen wir unsere Vorsitzenden und Delegierten selbst und bauen eine territoriale Gliederung auf, mit Orts-, Kreis- und Landesverbänden sowie der Bundesebene mit dem Bundesvorstand. Aber wir wollen nah an den Interessen der Ungehörten vor Ort agieren, unsere Partei so dezentral wie möglich aufbauen und wollen damit verhindern, dass es auch in unserer Partei Ungehörte gibt. Jeder unserer Verbände bleibt daher selbständig, wählt selbst seine Leitung und seine Delegierten und muss sich von niemanden außerhalb des eigenen Verbandes etwas sagen lassen. Der Parteitag ist dabei das oberste Organ der Partei. Er setzt sich zusammen: Aus den 350 von den Bezirksparteitagen in geheimer Abstimmung gewählten Delegierten sowie aus den Mitgliedern des Parteivorstandes. Dieser wird vom Parteitag gewählt und führt die Geschäfte der Bundespartei. Wir orientieren uns dabei am bewährten Aufbau von anderen politischen Parteien und gestalten unser Organigramm entsprechend. Abbildung 9.2 Gliederung und Organe der PPU (nach dem deutschen Parteienmodell) <?page no="278"?> 278 9 Organisationstypen im Vergleich Stratarchien und ihre Effekte: Gemeinhin wird diese Organisationsform als Stratarchie (von lat.: stratum, Lage) bezeichnet. Stratarchie bezieht sich darauf, dass sich Parteien vertikal und horizontal in verschiedene Teilorganisationen untergliedern, und als solche unterschiedliche, im Extremfall sogar widersprüchliche Handlungen vollziehen können. „Die Möglichkeit, beide Beine wechselweise in einem gleichmäßigen Takt nach vorne zu bewegen und damit laufen zu können, erhält die Partei nur, wenn ihre verschiedenen Teilorganisationen an einem Strang ziehen, Kompromisse schließen und sich auf eine einheitliche Richtung verständigen“ (Jun 2016). Dies ist jedoch nicht selten ein schwieriger Prozess. Themen und Personenvorschläge der Bundespartei sowie der Landesverbände stellen Impulse für die Ortsverbände dar, von denen manche aufgenommen und andere ignoriert werden. Zugleich wird die Agenda durch ortsspezifische Themen und Personenvorschläge ergänzt und von diesen dominiert. Die Bundespartei sowie die Landesverbände sind von unten konstituierte Dachverbände, die ihren eigenen Regeln folgen und die tatsächliche Ausgestaltung der Policies und Wahlen in den Ortsverbänden weder steuern noch determinieren können. Sie müssen für bestimmte Policies und Personen also nicht nur nach außen, sondern auch nach innen werben. Diese fehlende Betriebsförmigkeit der Parteien entlang der föderalen Strukturen schafft nicht nur Koordinationsschwierigkeiten, sondern auch Raum für Differenzen und Distanzierungen, welcher auf dem jeweiligen Politikfeld zum Gewinn von Wähler*innenstimmen genutzt werden kann. Was die Bundespartei verlautbart und was der Ortsverband tut, können zwei ganz verschiedene Dinge sein, solange sie als zum „Parteienbranding“ passend gelabelt werden können. Wir arbeiten also mit einer „von unten“ gebildeten (1), an die Interessen der ranggleichen (3) Mitglieder rückgebundenen (2), selbst geschaffenen (4) Hierarchie, auch wenn wir im Kern Elemente einer Arbeitsorganisation ausgebildet haben. Dies macht die Sache im Kern unserer Partei komplizierter. Es reicht nun für uns „Parteifunktionäre“ nicht mehr hin, uns einfach an Entscheidungen und Regeln zu halten, sondern zugleich wird von uns auch politische Loyalität und außerordentliches politisches Engagement für die Ziele der Partei erwartet. Als hauptamtliche*r Mitarbeiter*in stehen wir nicht nur für die Ziele der Partei ein, sondern müssen für diese zugleich nach außen und innen werben. Die Finanzierung politischer Parteien Die Verteilung der staatlichen Unterstützung politischer Parteien erfolgt bezogen auf den Erfolg, den eine Partei bei den Wähler*innen bei Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen erzielt, die Summe ihrer Mitglieds- und Mandatsträgerbeiträge sowie dem Umfang der von ihr eingeworbenen Spenden (§18, Abs. 1 PartG). Die Finanzierung politischer Parteien: „Parteien finanzieren sich aus Mitgliedsbeiträgen, Mandatsträgerbeiträgen und ähnlichen regelmäßigen Beiträgen, Spenden natürlicher und juristischer Personen, staatlichen Mitteln <?page no="279"?> 9.4 Die PPU oder: Welche Organisationsformen haben politische Parteien? 279 und sonstigen Einnahmen, worunter vor allem Einnahmen aus Unternehmenstätigkeit, Beteiligungen, Vermögen, Veröffentlichungen und Veranstaltungen fallen. Insgesamt konnten die acht aktuellen Bundestagsparteien 2020 Einnahmen in Höhe von 519,4 Mio. Euro verbuchen. Die größte Einnahmequelle waren dabei die staatlichen Mittel, die mit 190,7 Mio. 36,7 Prozent der Gesamteinnahmen ausmachten. An zweiter Stelle kamen mit 145,9 Mio. Euro (28,1 Prozent) die Mitgliedsbeiträge, gefolgt von den Mandatsträgerbeiträgen in Höhe von 74,5 Mio. Euro (14,3 Prozent). An Spenden von natürlichen und juristischen Personen nahmen die Parteien 71,2 Mio. Euro ein (13,7 Prozent der Gesamteinnahmen). Die sonstigen Einnahmen beliefen sich auf 36,6 Mio. Euro (7,0 Prozent). Bei allen Parteien außer dem SSW machten die staatlichen Mittel den größten Anteil an den Gesamteinnahmen aus“ (Niedermeyer 2022). Als politische Partei kann die PPU also selbst über ihre Vermögenswerte verfügen (1), erweist sich aber überwiegend als abhängig von den staatlichen Zuschüssen, deren Höhe vom Bundestag festgelegt wird und mit dem jeweiligen Wahlerfolg variiert (2). In dieser Hinsicht ist also die Ressourcen- und Finanzierungsautonomie für politische Parteien eingeschränkt. Die Besonderheiten politischer Parteien Wie bereits zu erkennen ist, haben politische Parteien einige Besonderheiten, in denen sie sich von anderen Interessenorganisationen unterscheiden: (1) Sie bewegen sich im Rahmen eines Nationalstaates oder eines Staatenverbundes (z.B. EU) und sind darüber hinaus selten global etabliert: Zu den Besonderheiten von Parteien gehört, dass sie nationalstaatlich, regional oder auch kommunal gegliederte Interessenorganisationen sind. Es gibt zwar länderübergreifende Verbünde, aber die Parteiorganisation selbst ist auch aus Gründen der im Rahmen von Nationalstaaten durchgeführten Wahlen in der Regel an die territorialen Schranken eines Nationalstaates gebunden. (2) Sie sind auf eine staatstragende Rolle verpflichtet: Politische Parteien erfüllen in Deutschland durch das Grundgesetz vorgesehene und abgesicherte Aufgaben der politischen Willensbildung. Dies unterscheidet sie von vielen anderen Interessenorganisationen auf dem Feld der Politik. Sie erfüllen, dem Parteiengesetz zufolge, eine öffentliche Aufgabe (§1 PartG). (3) Sie haben Offenlegungspflichten gegenüber der Öffentlichkeit: Da Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken, sind sie zur Offenlegung interner Belange gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet. Sie müssen z.B. ihre Satzung öffentlich zugänglich vorlegen und für jede Person einsehbar halten oder einen öffentlich zur Verfügung gestellten Rechenschaftsbericht abgeben. (§6, § 23 PartG) <?page no="280"?> 280 9 Organisationstypen im Vergleich (4) Sie dürfen nicht hoheitlich beeinträchtigt werden und sind staatlich alimentiert: Politische Parteien dürfen dem Grundgesetz in Deutschland zufolge, solange sie nicht verfassungsfeindlich agieren, nicht hoheitlich beeinträchtigt werden. Die Parteien erhalten zugleich finanzielle Mittel als Teilfinanzierung der ihnen nach dem Grundgesetz zugewiesenen Tätigkeit. (5) Sie sind territorial verankert: Parteiverbände sind in der Regel nach dem Ortsgebiet, den Kreisen, Wahlkreisen, den Bundesländern sowie dem Bund differenziert und nach dem Ortsprinzip aufgebaut. (6) Ihr Status als Partei ist staatlich definiert: Eine Partei verliert nach dem Parteiengesetz ihren Status als Partei, wenn sie sechs Jahre lang nicht an Bundestags- oder Landtagswahlen teilnimmt. Wir ordnen politische Parteien in Deutschland also als machtbasierte Interessensorganisationen mit staatlichen Anerkennungs- und Finanzierungsformen ein. Es sind oft national etablierte, territorial aufgebaute Organisationsformen mit einem hohen Maß an staatlich garantierter Autonomie und staatlich definierten Pflichten. Sie versuchen durch (a) Politikformulierungen (b) stratarchische Organisationsformen, und (c) der Insider-Rekrutierung und Entwicklung von Berufspolitikern die politische Willensbildung zu beeinflussen, Wählerstimmen zu gewinnen und den Zugang zu politischen Ämtern zu regulieren. 9.5 Aufgabenautonomie, Hierarchie und Professionsgebundenheit als Vergleichskriterien Als empirische Prüfkriterien für den Vergleich von verschiedenen Organisationen dienen uns ebenfalls die Freiheiten bei der Festlegung von Aufgaben und Zielen, der formale Hierarchiegrad und die Professionsgebundenheit der Organisationen. Grad der Autonomie in der Festlegung von Zielen und Aufgaben: Der Autonomiegrad einer Organisation bezieht sich als empirisches Prüfkriterium auf den Grad der Entscheidungsfreiheit, den diese bei der Ausführung der selbst gewählten oder zugewiesen Aufgaben hat. Bei einem hohen Autonomiegrad ist es (1) der Organisation möglich, ihre Ziele selbständig zu definieren, ihre Aufgaben weitgehend selbständig zu planen und durchzuführen. (2) Zugleich ist die Organisation in der Wahl der Besetzung ihrer Stellen und der Art ihrer formalen Über- und Unterordnung (Art der Hierarchie) frei, d.h. nicht (über den für alle Organisationen üblichen normativen Rahmen hinaus) durch externe Regeln (Gesetze oder Statuten) gebunden. (3) Auch die Art der Finanzierung der Organisation ist dann unabhängig, d.h. die Organisation ist in der Regel nicht durch externe Träger an Finanzressourcen gebunden, über deren Auswahl, deren Höhe sowie deren Art sie selbst nicht bestimmen kann. Ein prototy- <?page no="281"?> 9.5 Aufgabenautonomie, Hierarchie und Professionsgebundenheit 281 pisches Beispiel für Organisationen mit einem eher hohen Autonomiegrad sind Unternehmen. Eine Organisation mit einem niedrigen Autonomiegrad bedeutet dann umgekehrt, dass Aufgaben und Ziele durch externe Träger ebenso vorgegeben sind wie die Qualifikationen des Personals und ihre Über- und Unterordnung. Diese Organisationen sind dann auch in ihrer Finanzierung heteronom. Ein prototypisches Beispiel für Organisationen mit einem eher geringen Autonomiegrad sind Verwaltungsorganisationen. Tabelle 9.4: Aufgabenautonomie im Vergleich der verschiedenen Felder Schlüsselorganisation Kirche Partei Krankenhaus Unternehmen Beispiel Christliche Kirchen Politische Parteien Öffentliche Krankenhäuser Privatunternehmen Kulturraum Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland Autonomiegrad hoch hoch gering hoch Formaler Hierarchiegrad stark gering mittel stark Professionsgebundenheit sehr stark gering sehr stark gering Formaler Hierarchiegrad: Der formale Hierarchiegrad einer Organisation bezieht sich auf die Weisungsbefugnisse der Prinzipal*innen und leitenden Führungskräfte gegenüber untergeordneten Einheiten und Positionen. Eine Organisation mit einem hohen Hierarchiegrad weist (1) klare formale Weisungsbefugnisse gegenüber untergeordneten Einheiten und Positionen bis auf die unterste Hierarchiestufe auf. Die oberste Position kann entlang der Linie der Weisungsgebundenheit der untersten Position Anweisungen geben. (2) verbindet sich im Falle eines hohen Hierarchiegrades auf den Führungskräftepositionen die Positionsautorität (Autoritätszuweisungen aufgrund der Positionshöhe) mit der Fachautorität (Autoritätszuweisungen aufgrund des Fachwissens) und schafft so doppelt abgesicherte Autoritätszuweisungen. (3) sind mit der formalen Hierarchie auch Sanktionsmöglichkeiten verbunden, welche die Möglichkeit der Beendigung bzw. Kündigung der Mitgliedschaft in einfacher, gesetzlich regulierter Form regelhaft bereitstellen und auch Personal auf gehobenen und höchsten Führungspositionen von dieser Möglichkeit nicht ausschließen. Professionsgebundenheit: Die Professionsgebundenheit einer Organisation bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Organisation auf eine bestimmte Profession aus- <?page no="282"?> 282 9 Organisationstypen im Vergleich gerichtet ist. Eine Organisation mit einer hohen Professionsgebundenheit weist oft eine Monopolstellung einer Profession auf, wie z.B. der Theologie in den christlichen Kirchen oder der Medizin in den Krankenhäusern, welche in der Definition der Aufgaben sowie in der Prägung der Hierarchien eine dominante Stellung aufweist. (1) Sie lässt sich erstens daran erkennen, dass ohne eine Beteiligung der Profession ein dauerhafter Betrieb der Einrichtungen der Organisation nicht möglich oder untersagt wäre. Ein Krankenhaus ließe sich nicht dauerhaft ohne Ärzt*innen betreiben und genau dies wäre auch rechtlich untersagt. (2) Auf den Leitungspositionen der Organisation ist eine Beteiligung der Profession vorgeschrieben. (3) Das Mandat zur autonomen Problembearbeitung durch die Profession ist formal abgesichert. Über medizinische Fragen dürfen z.B. neben den Patient*innen sowie ggf. ihren Familien nur Mediziner*innen entscheiden, ggf. unter Beteiligung der Gesundheitsberufe. 9.6 Das öffentliche Krankenhaus Wenn wir ein Krankenhaus betreten, dann bewegen wir uns im Kontext einer Arbeitsorganisation. Es gibt einen Träger (z.B. das Land, die Kirche oder ein kommerzielles Unternehmen), d.h. die Organisation wird „von oben“ geschaffen (1) und die Beschäftigten sind in ihrer Arbeit teilweise an die Interessen des Trägers gebunden Für die im Rang ungleichen Mitarbeitenden (3) ist die Organisation der Kontext, in dem sie ihren Beruf als Erwerbsarbeit ausüben und Karriere machen können. (2). Sie arbeiten nicht nur im Dienst der öffentlichen Gesundheit, sondern auch wegen der Entlohnung und der Karrieremöglichkeiten für die Organisation. Die Art der Hierarchie ist vom Träger vorgegeben (4). Im Zentrum steht dabei ein hohes Gut der Gesellschaft sowie für jeden Einzelnen von uns: die Gesundheit. Leitbeispiel 9.4: Die Behandlung in einer orthopädischen Universitätsklinik Nehmen wir an, wir haben Probleme mit dem linken Fuß. Beim Fußballspielen am Strand haben wir einen anderen Spieler gefoult und uns dabei selbst verletzt. Die Schmerzen werden immer schlimmer und der Fuß immer dicker. Mittlerweile denken wir, dass etwas gebrochen ist und gehen erst zum niedergelassenen Facharzt, der uns dann eine Überweisung für die orthopädische Klinik gibt. Wir wollen die Schmerzen loswerden und bald wieder spielen können. In der Klinik erwarten wir eine professionelle Behandlung unserer Krankheiten und Gebrechen mit der Aussicht auf Linderung oder Heilung. Es gibt zwar Myriaden von Organisationen im Gesundheitssystem, aber wenn die Schmerzen groß, die Gesundheitsrisiken hoch sind oder gar Gefahr für Leib und Leben droht, wenden sich die meisten von uns an eine*n niedergelassene*n Ärztin* <?page no="283"?> 9.6 Das öffentliche Krankenhaus 283 Arzt und wenn das nicht reicht, an ein Krankenhaus. Wenn unser Fuß schmerzt, könnten wir auch eine Heilcreme kaufen, welche Linderung verspricht. Wir könnten ihn selbst bandagieren oder zu einem*r Heilpraktiker*in gehen. Oder wenn wir einen Bruch an Bein oder Fuß vermuten, könnten wir auch einen befreundeten Handwerker bitten, das Schienen desselben vorzunehmen. Immer dann aber, wenn die Schmerzen überhand nehmen, größere Risiken in Bezug auf Leib und Leben zugerechnet werden, die Leiden dauerhaft oder unerträglich werden, wenden wir uns in der Regel an „Profis“, also an Leute, die Medizin studiert, eine Approbation als „Arzt oder Ärztin“ und ein Mandat zur autonomen Krankenbehandlung haben. Das Krankenhaus ist eine Arbeitsorganisation im Gesundheitssystem mit der Leitorientierung der Behandlung von Krankheiten zum Zwecke ihrer Linderung oder Heilung. Und die Orte, an welchen wir viele solcher „Professionals“ antreffen, die auch größere Eingriffe vornehmen können, sind Arztpraxen und Krankenhäuser. Die Professionsgebundenheit einer solchen Organisation, eines Krankenhauses, ist daher in allen drei Aspekten sehr hoch: Die Medizin weist eine dominante Stellung auf (1), ohne Mediziner*innen könnte ein Krankenhaus nicht betrieben werden (2), auf den medizinischen Leitungspositionen ist deren Rekrutierung in öffentlichen Krankenhäusern vorgeschrieben (3). Es ist bereits Nachmittag und wir lassen uns zur Klinik fahren und nehmen notgedrungen in der Notaufnahme der orthopädischen Klinik Platz. Nachdem wir unsere Personen- und Versicherungsdaten mitgeteilt und die Karte von unserer Versicherung überreicht haben, werden wir registriert und müssen warten. Die Stunden ziehen ins Land und mehrere andere Notfälle an uns vorüber, bevor wir endlich an der Reihe sind. Der diensthabende Arzt nimmt sich unser an. Um abzuklären, ob der Zeh gebrochen oder verstaucht ist, werden wir zum Vorgang befragt, der zu dieser Verletzung geführt hat (Anamnese) sowie zu unseren Beschwerden. Danach wird der linke große Zeh vom Arzt untersucht. Der Arzt schickt uns zum Röntgen. Wir unterstellen dabei, dass diese Verfahren der medizinischen Diagnostik dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft genügen und gehen davon aus, dass wissenschaftlich anerkanntes medizinisches Wissen - universell, abstrakt und geprüft - unserer Behandlung zu Grunde gelegt wird, aber auch, dass das Personal mit unseren individuellen physischen Besonderheiten medizinisch umgehen kann. Auch vom Krankenhauspersonal, das uns dann zum Röntgen begleitet, erwarten wir die geprüfte Aneignung von Ausbildungsstandards. Wir erwarten, dass sie dafür Sorge tragen, dass beim Röntgen alles ordnungsgemäß abläuft und z.B. die Schutz- und Hygienevorschriften eingehalten werden und zusätzliche Gesundheits- und Infektionsrisiken möglichst vermieden werden. <?page no="284"?> 284 9 Organisationstypen im Vergleich Das öffentliche Krankenhaus als professionsbasierte Verwaltungsorganisation mit Elementen der Selbstverwaltung: Das Krankenhaus ist also eine Organisation, welche - ähnlich wie Kirchen oder Gerichte - von der Monopolstellung einer Profession sowie von der Berufsausübung des Gesundheitspersonals geprägt ist. Ihre Leitorientierung wird durch eine Leitprofession abgesichert. Öffentliche Krankenhäuser lassen sich daher als professionsbasierte Verwaltungsorganisationen einordnen. Denn neben der Monopolstellung einer Profession sowie der Gesundheitsberufe sind sie als öffentliche Krankenhäuser zugleich als Verwaltungsorganisationen zu charakterisieren - in dem Sinne, dass sie - anders als Unternehmen - sich ihre zentralen Zielvorgaben nicht selbst geben können und Durchführungsbestimmungen unterliegen, die sie nicht selbst gewählt haben. Beides, Ziele und Durchführungsbestimmungen, werden in Deutschland im Falle öffentlicher Krankenhäuser in der Regel durch die jeweiligen Bundesländer vorgegeben. Da Krankenhäuser dem Schutz eines kollektiven Gutes, der öffentlichen Gesundheit, dienen, sind sie oft staatlich kontrolliert, aber zugleich auch durch Formen der Selbstverwaltung reguliert. Die Klinik für Orthopädie, welche wir gewählt haben, gehört zu einer Universitätsklinik, ist staatlich getragen und hat rund 350 Betten. Die öffentliche Trägerschaft ist dabei kein Sonderfall. Zwar liegt die Anzahl der öffentlich getragenen Krankenhäuser in Deutschland 2021 nur bei rund 29%, aber sie halten im Vergleich der verschiedenen Träger mit rund 48% die weitaus größte Anzahl der Krankenhausbetten (Destatis 2021). Häuser der Zentral- oder Maximalversorgung haben dabei eine auch überregionale Versorgungsfunktion und zählen häufig zu den größeren Krankenhäusern, manchmal mit mehr als 1.000 Betten (Gerlinger 2021). Sie befinden sich weit überwiegend in öffentlicher Hand. Der Grad der Autonomie in der Festlegung von Zielen und Aufgaben ist daher eher gering: Öffentliche Krankenhäuser können also als professionsbasierte Verwaltungsorganisationen ihre zentralen Zielvorgaben nicht selbst oder alleine bestimmen (1). Sie unterliegen Durchführungsbestimmungen, die sie nicht selbst gewählt haben (2) und sind in der Finanzierung von Ressourcen abhängig, über welche sie ebenfalls zum größeren Teil nicht selbst verfügen können (3). Wir kommen nun aber nicht zum Assistenzarzt zurück, sondern werden (als Privatpatient*innen) zum diensthabenden Oberarzt geschickt, der inzwischen die Röntgenaufnahmen vorliegen hat. Er erklärt uns, dass sie den vorliegenden einfachen Zehenbruch in der Regel konservativ behandeln, indem sie einen sogenannten Pflasterzügelverband anlegen. Mit einem dachziegelartig angelegten Heftpflasterverband werde in diesem Falle die gebrochene Zehe mit einem benachbarten gesunden Zeh fixiert (buddy taping). Da bei uns aber nicht nur der große Zeh gebrochen, sondern mehrere Zehen verletzt seien, bekommen wir einen Gipsschuh („Geisha-Schuh“). Der <?page no="285"?> 9.6 Das öffentliche Krankenhaus 285 Fuß lässt sich damit nicht mehr abrollen und damit auch nicht voll belasten. 116 Wir werden zum „Gipsraum“ geschickt und nach einiger Wartezeit legt uns das geschulte Pflegepersonal den Gipsschuh an. Es lässt sich darüber aus, dass früher ein Pflasterzügelverband gereicht hätte, stellt aber die Behandlungsentscheidung des Chefarztes nicht in Frage. Die Aufgaben und Funktionen von Krankenhäusern Die feldspezifische Ausrichtung der Krankenhäuser ist bezogen auf die Festlegung der Art ihrer Entscheidungen auf die Krankenbehandlung (1) sowie auch der daran geknüpften Legitimation (2) hoch. Sie sind in Deutschland jedem Patienten und jeder Patientin mit einer entsprechenden Indikation zugänglich. Die Behandlung in einem Krankenhaus ist gesetzlich sogar vorgeschrieben, wenn eine Person akut erkrankt ist oder sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet. In solchen Fällen kommt eine exklusive Zuständigkeit der Krankenhäuser für die Krankenbehandlung ins Spiel und wer diese nicht beachtet, macht sich u.U. strafbar. Auch deswegen werden - als weiteres Merkmal der starken feldspezifischen Ausrichtung - staatliche Ressourcen zum Schutz dieses öffentlichen Gutes beansprucht (3). Die gesellschaftliche Funktion der Krankenhäuser: Ihre Funktion liegt darin, angesichts einer großen Anzahl von Behandlungsideen bestimmte Behandlungspraxen auf Basis der individuellen Behandlungserfahrungen sowie der medizinischen Wissenschaft auszuwählen, und laufend nach eigenen Maßstäben zu prüfen, ob mit diesen bessere Linderungs- oder Heilungschancen einhergehen. Sie ist eng mit den Reproduktionsnotwendigkeiten in jeder Gesellschaft verbunden und liegt in der laufenden Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Handlungs- und Zurechnungsfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder. Die Aufgabe eines öffentlichen Krankenhauses ist vor diesem Hintergrund, dass es mittels der Krankenbehandlung durch medizinisch professionelles Personal sowie staatlich kontrollierter Gesundheitsberufe für die Allgemeinheit tätig wird, also der Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit (public health) dient und damit einen öffentlichen Zweck verfolgt. Auch aus diesem Grund sind Elemente der Selbstverwaltung fest integriert. Die Selbstverwaltung: Die Krankenhausversorgung gehört dabei zu jenen öffentlichen Aufgaben, die der Staat nicht selbst übernimmt, sondern zu deren eigenständiger Sicherung er die Beteiligten in Form einer gemeinsamen Selbstverwaltung in Anspruch nimmt. Konkret sind dies der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), die Deutsche Krankenhausgesellschaft(DKG) und die Spitzen- 116 https: / / www.netdoktor.de/ krankheiten/ fraktur/ zehenfraktur/ <?page no="286"?> 286 9 Organisationstypen im Vergleich verbände der gesetzlichen (GKV) und privaten Krankenversicherung (PKV) bzw. deren Sub-Institutionen auf Landesebene, die diese Aufgabe wahrnehmen und z.B. die Konkretisierung der Rahmengesetzgebung vornehmen. Unter anderem gehören auch die Ausgestaltung und Umsetzung des Entgeltsystems zu den Aufgaben der Selbstverwaltung. Die Mitgliedschaft in öffentlichen Krankenhäusern Die Eintrittsvoraussetzungen: Das Personal, welches zur Krankenbehandlung in Krankenhäusern zum Einsatz kommt, seien es Expert*innen der Gesundheitsberufe oder Angehörige der medizinischen Profession, muss im Regelfall staatlich geprüfte und durch die Profession der Medizin festgelegte Ausbildungsstandards vorweisen. Dies unterscheidet das Krankenhaus von vielen anderen Organisationen 117 . Während Unternehmen darin frei sind, unabhängig von den Ausbildungsstandards, das Personal zu rekrutieren, das sie benötigen und viele Verwaltungsorganisationen ihre staatlich geprüften Ausbildungsgänge selbst festlegen, ist es hier das enge Zusammenspiel von einer Profession und dem Staat, welches die auf die Mitgliedschaft bezogene Besonderheit in einem öffentlichen Krankenhaus darstellt. Das Leitungspersonal der öffentlichen Krankenhäuser: Die Krankenhausgesetze der Länder in Deutschland regeln auch, welche Voraussetzungen das Leitungspersonal der öffentlichen Krankenhäuser haben muss. Das Leitungspersonal in öffentlichen Krankenhäusern: Im Falle der Pflegedirektion gehören z.B. zu den wichtigsten qualifikatorischen Voraussetzungen: eine abgeschlossene Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpfleger*in oder als Anästhesie- und Intensivpfleger*in, mehrjährige Berufserfahrung in der Pflege sowie ggf. eine Weiterbildung zum Fachwirt für Gesundheits- und Sozialwesen oder zum Master of Arts in Healthcare Management. Für die ärztliche Leitung ist in der Regel ein abgeschlossenes Medizinstudium vorgeschrieben und aus den früheren Verwaltungsdirektoren sind heute Kaufmännische Direktoren geworden und deren Stellen nicht mehr mit Jurist*innen, sondern mit Kaufleuten besetzt sind (Franke 2007, S. 34ff.; Baumann 2008, S. 42; Salfeld et al. 2009, S. 27ff.; Blum et al. 2015; vgl. hierzu auch Bär 2011; Krieg 2015). Zugleich werden Chefärzt*innen in ihren Verträgen immer stärker auf die Beachtung wirtschaftlicher Faktoren verpflichtet und vertraglich zunehmend als leitende Angestellte geführt (vgl. Bär 2010, 2011; Bär/ Pohlmann 2017). Hinsichtlich der Patient*innenversorgung ist der Chefarzt bzw. die Chefärztin nicht mehr nur zum „zweckmäßigen, wirtschaftlichen und sparsamen“ Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Krankenhauses verpflichtet, sondern wird auch für den entsprechenden Mitteleinsatz durch 117 So ist in § 5 des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG) beispielsweise geregelt, dass Personen, welche keine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger*in nachweisen können, auch keine Pflegekraft in einem öffentlichen Krankenhaus sein dürfen. <?page no="287"?> 9.6 Das öffentliche Krankenhaus 287 nachgeordnete Ärzt*innen und die anderen Mitarbeitenden in der Abteilung verantwortlich gemacht. Neu ist auch die Umstellung der Regelungen für die Privatambulanz und -liquidation. So können Chefärzt*innen die inhaltliche Ausrichtung des privaten Ambulanzbetriebes nicht mehr als Unternehmen im Unternehmen unabhängig vom Krankenhaus gestalten. Die ambulante Tätigkeit wird nun in den Dienstaufgabenkatalog integriert. Dies bedeutet, dass die private Liquidation der ambulanten Tätigkeit entfällt (Bär/ Pohlmann 2017). Austritt und Kündigung: An Universitätskliniken wie der orthopädischen Klinik, an der wir uns behandeln lassen, sind allerdings die Sanktionsmöglichkeiten mittels Kündigung oder Beendigung des Vertragsverhältnisses durch die regelmäßige Verbeamtung des medizinischen Führungs- und Leitungspersonals auf Lebenszeit enger begrenzt. Der Chefarzt, in dessen Namen der Oberarzt schließlich privat liquidiert, ist nicht nur Direktor der Fußchirurgie in der orthopädischen Klinik, sondern zugleich auch verbeamteter Professor. Bei Angestellten gilt allerdings das normale Arbeitsrecht mit entsprechenden Kündigungsmöglichkeiten. Die Hierarchie in einem öffentlichen Krankenhaus Anders als in der Wirtschaft stehen in einer Klinik auch der*die praxiserfahrene Kolleg*in ohne Medizinstudium vor fachautoritär verschlossenen Türen, welche die Mitsprache in medizinischen Belangen eng begrenzt. Es gibt klare formale Weisungsbefugnisse entlang der jeweiligen Hierarchien (1) und die jeweilige Positionsautorität ist eng mit der Fachautorität verknüpft (2). Aber die Sanktionsmöglichkeiten in Form einer Kündigung sind an Universitätskliniken teilweise für das Personal durch eine Verbeamtung eingeschränkt (3) (siehe oben). In der Universitätsmedizin z.B. mit seiner dreifachen medizinischen Laufbahn: (1) Approbation, (2) klinische und (3) akademische Karriere, können z.B. die Chefärzt*innen, Oberärzt*innen oder Klinikdirektor*innen nicht nur für die klinische, sondern zugleich auch für die akademische Karriere den Weg bereiten oder ihren Mitarbeitenden Steine in den Weg legen. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist man in der Krankenbehandlung, in der es häufig - anders wie beim linken großen Zeh - auch um Leben oder Tod geht, zugleich ungleich stärker als in Unternehmen aufeinander angewiesen (Pohlmann 2018). Wegen der hochgradigen Arbeitsteilung im Krankenhaus kann keine*r ohne Zuarbeit anderer seine Arbeit machen. Das ist schon in unserem einfachen Beispiel der Fall: Anamnese, Röntgen, Gipsen, schon hier ist man auf Zusammenarbeit angewiesen. Ohne Röntgen kann der Arzt nicht sagen, ob etwas gebrochen ist, aber selbst röntgen kann er nicht. Ohne Diagnose kein Gips, der Gipser muss aber auch gar nicht diagnostizieren können, dafür kann der Arzt in der Regel nicht gipsen. Darüber hinaus prägen die stets prä- <?page no="288"?> 288 9 Organisationstypen im Vergleich senten Risiken für Leib und Leben der Patienten und Patientinnen prägen die Zusammenarbeit und setzen diese einem „Überlebensdruck“ aus, der in anderen Organisationen selten ist. Die Finanzierung öffentlicher Krankenhäuser Nach vier Wochen kehren wir in die orthopädische Klinik zurück. Der Gipsschuh wird wieder entfernt und es findet eine Kontrolluntersuchung statt. Alles ist wieder okay. Es gibt keine Fehlstellung der Zehen und der Bruch scheint verheilt. Der Zeh wird für den Übergang nochmals ein wenig getapt und wir humpeln nach Hause. Da wir Privatpatient*innen sind, flattert drei Wochen später eine Rechnung über 1.784 € für unsere Behandlung ins Haus. Wir begleichen sie nach einiger Zeit, nachdem wir das Geld dafür von unserer Krankenversicherung erhalten haben. Das Krankenhaus hat dadurch keinen Gewinn gemacht - das darf es als öffentliches Krankenhaus nicht - aber nach bestimmten, extern festgelegten Sätzen seine Ausgaben erstattet bekommen. Infobox 9.1: Die Vergütungsformen für Krankenhausleistungen in Deutschland Die Höhe der Vergütung von Krankenhausleistungen wird in zweiseitigen Pflegesatzverhandlungen von den Krankenhausträgern und den Verbänden der Krankenkassen vereinbart. Dabei weist das Verhandlungsbeziehungsweise Vertragssystem gegenüber dem im ambulanten Sektor zwei wichtige Unterschiede auf: Die Verbände der Krankenkassen haben Vergütungsvereinbarungen einheitlich zu treffen. Nach Kassenarten getrennte Verträge sind also nicht möglich, und entsprechend sind bei stationären Leistungen die Entgelte für alle Benutzer*innen unabhängig von der Kassenzugehörigkeit identisch (§ 17 Abs. 1 KHG). -Auf der Seite der Leistungserbringer ist bei den Budgetverhandlungen nicht eine Kollektivvertretung Vertragspartner der Krankenkassen, sondern das einzelne Krankenhaus beziehungsweise der jeweilige Krankenhausträger. Allerdings werden die Bewertungsrelationen für die Diagnosis Related Groups (DRGs), die seit dem 1. Januar 2004 in Kraft sind, auf Bundesebene festgelegt und sind für alle Krankenhäuser verbindlich (Gerlinger 2017). So schreiben Bär/ Pohlmann: „Das DRG-System erzeugt mit der Mittelung der durchschnittlichen Kosten des Vorjahres bezogen auf einzelne DRGs tendenziell eine Kostenabwärtsspirale mit Gewinnern - solche Krankenhäuser, die mit ihren Fallkosten unter dem Mittel liegen, und Verlierern - jene Krankenhäuser, die über dem Mittel der Durchschnittskosten liegen (vgl. Simon 2013). Die Kenntnisse und Kontrolle über die eigenen Kostenstrukturen besitzt daher für alle Krankenhäuser höchste Relevanz. Tendenziell hat diese Veränderung im Krankenhaus jedoch nicht zur Transformation des öffentlichen Krankenhauses in ein profitori- <?page no="289"?> 9.6 Das öffentliche Krankenhaus 289 entiertes Privatunternehmen geführt, sondern hat (von außen angestoßene) interne Verwaltungsreformen, die in Richtung eines New Public Managements zielen, in Gang gesetzt. Hier haben sowohl die Einführung eines strategischen Managements auf der Ebene der Führungskonstellationen als auch z.B. die Zuweisung von Mitteln mit Festlegung von Outputzielen ihren Ort“ (Bär/ Pohlmann 2016: 243). Die veränderte Budgetverantwortung hat für die öffentlichen Krankenhäuser die Spielräume nicht erweitert, sondern diese vielmehr zur zentralen Steuerung sowie einem zentralen Controlling, u.a. über die Deckungsbeitragsrechnung, veranlasst (ebd.). Wenn also immer wieder von „Vermarktlichung“ gesprochen wird, dann bezieht sich das bei öffentlichen Krankenhäusern vor allem auf die Einführung von betriebswirtschaftlich orientierten Managementinstrumenten im engen Rahmen der Erfüllung öffentlicher Zwecke sowie der Vorgaben der Erstattungsökonomie. Ihre Ressourcenautonomie bleibt eng begrenzt. Das öffentliche Krankenhaus ist kein profitorientiertes Unternehmen, weil es institutionell auf den Kernprozess der Krankenbehandlung festgelegt ist, und zwar unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Dies trifft zu, sobald eine Klinik in die staatliche Krankenhausplanung einbezogen ist (Bär/ Pohlmann 2016: 242 f.). Anders als bei Industrieunternehmen könnte sein Management daher nicht einfach entscheiden, dass bspw. nur noch Gipsschuhe verkauft werden, weil hiermit am meisten Rendite erzielt werden kann. „Zwar kann, die entsprechende medizinische Kompetenz vorausgesetzt, eine Spezialisierung in einzelnen medizinischen Teilgebieten vorgenommen werden, wenn dies als Investition lukrativ erscheint - jedoch stehen versorgungsrelevante Fachbereiche unabhängig von ihrer Kostenbilanz nicht zur Disposition, da sie in der staatlichen Krankenhausplanung fixiert sind“ (ebd.). Die Finanzierung öffentlicher Krankenhäuser: Für die Krankenhäuser in Deutschland gilt das Prinzip der dualen Finanzierung: „Die Bundesländer sind für Investitionsmittel zuständig und entscheiden zum Beispiel, wo ein Krankenhaus gebaut oder geschlossen wird. Jedes Land stellt einen eigenen Investitionsplan auf und vergibt Gelder an die Kliniken. Die Betriebskosten der Krankenhäuser, also alle Ausgaben für die Behandlung von Patienten und Patientinnen, werden von den Krankenkassen finanziert. Das sind bis zu 90 Prozent des Klinikbudgets. Wie viel dabei für welche Behandlung abgerechnet werden kann, ist durch sogenannte Fallpauschalen festgelegt (Simon 2013). Bezogen auf die Eigentums- und Ressourcenautonomie lässt sich festhalten, dass öffentliche Krankenhäuser nur im geringen Umfang über ihre Vermögenswerte selbst verfügen können (1). So gehören z.B. die Immobilien in der Regel dem Land oder der Kommune, in der sich das Krankenhaus befindet. In der Regel sind die Bundesländer auch für die Re-Finanzierung der medizinischen Geräte verantwortlich, so dass diese oft in deren Besitz bleiben und die Krankenhäuser nur für deren Wartung und Pflege verantwortlich sind. Die Eigentums- und Ressourcenautonomie ist bei öffentlichen <?page no="290"?> 290 9 Organisationstypen im Vergleich Krankenhäusern gering ausgeprägt. Sie sind abhängig von externen Quellen der Finanzierung sind, deren Zuweisung außerhalb ihrer Kontrolle liegt (2). 118 Das DRG-System erzeugt, so Bär/ Pohlmann, „mit der Mittelung der durchschnittlichen Kosten des Vorjahres bezogen auf einzelne DRGs tendenziell eine Kostenabwärtsspirale mit Gewinnern - solche Krankenhäuser, die mit ihren Fallkosten unter dem Mittel liegen, und Verlierern - jene Krankenhäuser, die über dem Mittel der Durchschnittskosten liegen (vgl. Simon 2013). Die Kenntnisse und Kontrolle über die eigenen Kostenstrukturen besitzt daher für alle Krankenhäuser höchste Relevanz. Tendenziell hat diese Veränderung im Krankenhaus jedoch nicht zur Transformation des öffentlichen Krankenhauses in ein profitorientiertes Privatunternehmen geführt, sondern hat (von außen angestoßene) interne Verwaltungsreformen, die in Richtung eines New Public Managements zielen, in Gang gesetzt. Hier haben sowohl die Einführung eines strategischen Managements auf der Ebene der Führungskonstellationen als auch z.B. die Zuweisung von Mitteln mit Festlegung von Outputzielen ihren Ort“ (Bär/ Pohlmann 2016: 243). Die veränderte Budgetverantwortung hat für die öffentlichen Krankenhäuser die Spielräume nicht erweitert, sondern diese vielmehr zur zentralen Steuerung sowie einem zentralen Controlling, u.a. über die Deckungsbeitragsrechnung, veranlasst (ebd.). Wenn also immer wieder von „Vermarktlichung“ gesprochen wird, dann bezieht sich das bei öffentlichen Krankenhäusern vor allem auf die Einführung von betriebswirtschaftlich orientierten Managementinstrumenten im engen Rahmen der Erfüllung öffentlicher Zwecke sowie der Vorgaben der Erstattungsökonomie. Ihre Ressourcenautonomie bleibt eng begrenzt. Information 3: Das Krankenhaus aus Sicht der Rational-Choice sowie der Systemtheorie James Coleman: Wenn wir uns aus der Perspektive von Colemans Rational Choice-Theorie heraus mit dem Krankenhaus als Organisation beschäftigen, ist es zunächst wichtig, dass wir es bei einem Krankenhaus mit einer juristischen Person, einem korporativen Akteur zu tun haben. Ein Krankenhaus hat dabei die 118 Öffentliche Krankenhäuser in Deutschland werden aus verschiedenen Quellen finanziert. Die Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen bezahlen die stationäre und ambulante Behandlung von ihren Versicherten und manche Patienten und Patientinnen, die nicht versichert sind, zahlen selbst. Die Beiträge für die Krankenkassen werden von den Versicherten bezahlt, je nach dem Einkommen und dem Familienstand des Versicherten. Die Hälfte des Beitrages übernehmen die Arbeitnehmenden und die andere Hälfte die Arbeitgeber. Selbstständige sowie Freiberufler*innen müssen den Beitrag selbst aufbringen. Hinzu kommt eine umfassende staatliche Alimentierung der öffentlichen Krankenhäuser mit vielen Milliarden Euro, mit der u.a. die Investitionskosten für den Neubau von Krankenhäusern gedeckt werden sowie in geringeren Umfange Spenden von privaten Personen, Stiftungen und Unternehmen. Der Bundeszuschuss wird aus Steuergeldern ebenfalls an den Gesundheitsfonds gezahlt (BMG 2023). <?page no="291"?> 9.6 Das öffentliche Krankenhaus 291 Aufgabe, entlang der Interessen des öffentlichen Prinzipals die Versorgung der jeweiligen Bevölkerung mit notwendigen medizinischen Dienstleistungen in der Krankenbehandlung sicher zu stellen. Da bei einem öffentlichen Krankenhaus die Prinzipal*innen selbst wiederum Organisationen in öffentlicher Trägerschaft sind, macht dies die Verfasstheit eines Krankenhauses für die Agent*innen kompliziert und sorgt für die gleichzeitige, und teilweise konfligierende Präsenz mehrerer Prinzipal*innen. Hinzu kommt, dass ein zentrales Management in öffentlichen Krankenhäusern oft nur formal gegeben ist. Öffentliche Krankenhäuser haben faktisch nicht nur eine, sondern oft mehrere zentrale Leitungen und Hierarchien. Dies erhöht die Schwierigkeiten, diesen korporativen Akteur mit für alle wirkungsvollen Regeln, Anreizen und Sanktionen zu versorgen. Da das Schlüsselpersonal, die Agent*innen zu einem wichtigen Teil der medizinischen Profession angehören, ist die Frage der Interessenkongruenz zwischen Prinzipal*in und Agent*in stets virulent. Denn Professionen beanspruchen nicht nur ein Mandat zur autonomen Problembearbeitung, sondern müssen auch dem jeweiligen Einzelfall gerecht werden. Eine organisations- oder politikbezogene Beschränkung der Spielräume für die Profession durch den*die Prinzipal*in wirft damit immer die - mit immer neuen Regeln und Verfahren behandelte - Frage auf, wie die professionellen Akteur*innen motiviert oder gar gezwungen werden können, auf die Kosten einer Krankenbehandlung zu achten oder sich an die allgemeinen Regeln der Krankenhausorganisation zu halten. Diese Konfliktkonstellation zwischen Profession und Organisation ist typisch für ein Krankenhaus und wird in der Colemans Perspektive widergespiegelt, überlagert und zugespitzt im Interessenkonflikt zwischen Prinzipal*in und Agent*in. Ö FFENTLICHES K RANKENHAUS ALS O RGANISATION J AMES C OLEMAN N IKLAS L UHMANN T YPUS Korporativer Akteur mit Prinzipal- und Agent*innenvielfalt Formale Organisation mit Sonderstellung einer Profession, strukturell gekoppelt an Politik Z IELE UND A UFGABEN Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen Dienstleistungen Medizinische Krankenbehandlung, strukturell an Politik gekoppelt H IERARCHIE Nur formal „zentrales Management“, parallele Managementstrukturen Hypertrophes Wachstum von Entscheidungen, verschärftes hierarchisches Gefälle S CHLÜSSELPERSONAL Medizinische Profession als „Agent*innen“ Medizinische Profession und Gesundheitsberufe Niklas Luhmann: Wenn wir versuchen, die Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns auf das Krankenhaus als Organisation anzuwenden, so erscheint das Krankenhaus als eine Organisationsform im gesellschaftlichen Teilsystem der Krankenbe- <?page no="292"?> 292 9 Organisationstypen im Vergleich handlung 119 . Dieses bildet sich, wie auch Parsons gezeigt hat (Parsons 1951; 56; 63), als eigenständiger gesellschaftlicher Teilbereich entlang der Unterscheidung von „krank sein“ und „nicht krank sein“ aus. Das gesellschaftliche Teilsystem ist inklusiv, ist also offen gegenüber jeder Kommunikation, welche das Thema von Kranksein und Krankenbehandlung mit sich führt, wird dann aber durch darauf spezialisierte Organisationen, den Krankenhäusern, exklusiv. In den Programmstrukturen, in ihren Aufgaben, sind diese nun auf die medizinische Krankenbehandlung fokussiert, orientiert am Paradigma einer wissenschaftlich begründeten Medizin (der sog. „Schulmedizin“). Zugleich ist das Krankenhaus aber als öffentliches Krankenhaus auch strukturell an politische Programmatiken, welche die jeweiligen Träger betreffen, gekoppelt und dabei beispielsweise gezwungen, auf eine bestimmte, vorgeschriebene und geplante Weise auf Kosten oder auch politische Priorisierung eines Landes oder einer Kommune zu achten. Die parallelen Hierarchien in der Organisation des Krankenhauses können, wenn wir es systemtheoretisch weiterdenken, zu einem hypertrophen Wachstum von Entscheidungen führen, welches dann unter Zeitdruck das hierarchische Gefälle nicht vermindert, sondern erhöht. Es eröffnet in dieser weitergedachten Perspektive zugleich Spielräume für Willkür und eine Informalität, die sich dem formalen Zugriff durch die Organisation entzieht (siehe oben Kap. 8). Dadurch erhöhen und reproduzieren sich in der Organisation die Unsicherheiten, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Das Schlüsselpersonal der medizinischen Profession sowie der Gesundheitsberufe rückt dadurch weiter in den Vordergrund - trotz aller Bemühungen, durch die Organisationsform die davon abweichende Gestaltung durch das dominante professionelle und berufliche Personal einzudämmen. Die Besonderheiten öffentlicher Krankenhäuser Auch die öffentlichen Krankenhäuser in Deutschland haben wieder einige Besonderheit, welche im Vergleich der verschiedenen Arten von Schlüsselorganisationen Erwähnung finden sollten: (1) Gesetzliche Regeln: Wie bei den Parteien auch ist das Betreiben von Krankenhäusern in Deutschland durch extra dafür verabschiedete Gesetze reguliert. Dies zeigt das nationalstaatliche Interesse am Schutz des öffentlichen Gutes der Gesundheit an. (2) Räumliche und regionale Differenzierung: Auch Krankenhäuser sind in Deutschland nach dem Territorialprinzip räumlich und regional gegliedert, um die möglichst flächendeckende Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. 119 Für Talcott Parsons bilden sich erst die Medizin und dann medizinische Organisationen als Formen der Zielerreichung aus (Parsons 1956), weil Gesellschaften zum einen die Nützlichkeit der Gesellschaftsmitglieder sicherstellen wollen (Parsons 1951) und zum anderen individuell agierende Mediziner weder den gesellschaftlichen Bedarf an einer wissenschaftlich orientierten Medizin noch jener der Patient*innen an einer umfassenden Krankenpflege befriedigen können (Parsons 1963). <?page no="293"?> 9.7 Die Eigentums- und Ressourcenautonomie als Vergleichskriterium 293 (3) Die Selbstverwaltung: Die Finanzierung der Krankenhäuser sowie die Ressourcenbereitstellung ist nicht nur staatlich, sondern zugleich auch durch die Selbstverwaltung verschiedener Träger geregelt. (4) Parallel geführte Hierarchien: Die nach Berufsgruppen und Professionen in öffentlichen Krankenhäusern parallel geführten Hierarchien gehören ebenfalls zu den Besonderheiten der Krankenhausorganisation. (5) Kampf um Leben und Tod: Krankenhäuser haben es nicht nur regelmäßig mit der Behandlung von Menschen zu tun, sondern zu ihrer Besonderheit gehört es, dass sie mit dem höchsten Gut für jede*n Einzelne*n von uns und für die Gesellschaft befasst sind: In einem Teil ihrer Entscheidungen geht es um Leben und Tod. Wir ordnen öffentliche Krankenhäuser in Deutschland also als professionsbasierte Verwaltungsorganisationen mit Elementen der Selbstverwaltung ein. Es sind von den jeweiligen Bundesländern, von Kommunen, Städten oder Landkreisen getragene Arbeitsorganisationen, deren Autonomiegrad in der Festlegung von Aufgaben und Zielen eher gering ist. Sie weisen eine starke Professionsgebundenheit auf. Durch die Aufgabe der Krankenbehandlung stehen professionelles medizinisches Personal und Gesundheitsberufe als Schlüsselpersonal im Vordergrund. Da Krankenhäuser dem Schutz eines kollektiven Gutes, der öffentlichen Gesundheit, dienen, sind sie oft staatlich kontrolliert und reguliert. Ihre Eigentums- und Ressourcenautonomie ist dadurch stark eingeschränkt. Sie selbst dürfen keine Gewinne machen, können aber über die Erlöse aus den Pflegesätzen frei verfügen. 120 Ihre parallellaufenden Hierarchien sowie der professionsbezogene Autonomieanspruch schaffen oft Konflikte zwischen Prinzipal*innen- und Agent*inneninteressen sowie zwischen Profession und Organisation. 9.7 Die Eigentums- und Ressourcenautonomie als Vergleichskriterium Um Organisationen vergleichend zu analysieren, ist es ebenfalls zielführend, nach ihren Trägerschaften, Eigentums- und Finanzierungsformen zu fragen. Auch hier dreht es sich darum, welchen Freiheitsgrad Organisationen haben, über ihre Vermögenswerte selbst zu verfügen und wie abhängig sie von Ressourcen sind, deren Beschaffung sie nicht selbst kontrollieren können. Dadurch bestimmt sich ihr Grad der Eigentums- und Ressourcenautonomie. 120 Im Gegensatz zur Zweckbindung der Investitionsfördermittel besteht keine Zweckbindung für Erlöse aus Pflegesätzen; der Krankenhausträger kann vielmehr über die aus den Pflegesätzen erwirtschafteten Einnahmen frei verfügen. So bestimmt § 17 Abs. 1 S. 3 KHG: „Überschüsse verbleiben dem Krankenhaus; Verluste sind vom Krankenhaus zu tragen.“ (https: / / www.bundestag.de/ resource/ blob/ 490512/ efd95a8e740f289070a86d6c66708f6d/ WD-9-076-16-pdf-data.pdf). <?page no="294"?> 294 9 Organisationstypen im Vergleich Tabelle 9.4: Eigentumsformen, Trägerschaften und Finanzierungsformen im Vergleich der verschiedenen Felder Schlüsselorganisation Kirche Partei Krankenhaus Unternehmen Beispiel Christliche Kirchen Politische Parteien Öffentliche Krankenhäuser Privatunternehmen Kulturraum Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland Autonomiegrad hoch mittel gering hoch Trägerschaft / Eigentum Dachverband Mitglieder der Partei Länder und Kommunen Privateigentümer, Aktionäre, Holdings Hauptquellen der Finanzierung Mitglieder, Staat, Spenden Mitglieder, Staat, Spenden Staat, Mitglieder Versicherungen, Arbeitgeber Erlöse aus Verkauf und Handel Auf der einen Seite stellt sich die Frage: Wem gehört die Organisation? Und auf der anderen Seite müssen wir klären: Inwiefern kann diese über ihre Finanzierung und die Beschaffung sowie Verteilung ihrer Ressourcen selbst entscheiden? In den beiden Aspekten lassen sich die Schlüsselorganisationen also danach unterscheiden, welchen Freiheits- oder Autonomiegrad sie formal in der Verfügung über die Vermögenswerte einer Organisation haben (1) und wie abhängig sie von externen Quellen der Finanzierung sowie externen Ressourcen sind, deren Zuweisung außerhalb ihrer Kontrolle liegt (2). Organisationen mit einem hohen Freiheitsgrad an Eigentums- und Ressourcenautonomie können also über ihr Vermögen selbst verfügen, über die Art und Menge ihrer Ressourcen selbst entscheiden sowie über die Quellen ihrer Finanzierung. 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt Unser Alltag wird begleitet von zahlreichen Produkten und Dienstleistungen verschiedener Unternehmen. Wir rufen Google auf, posten etwas auf LinkedIn, lesen die neuesten Nachrichten in unseren News Feeds, öffnen einen Podcast auf Spotify und schlüpfen dann in unsere Nike Air Force 1, setzen uns auf unser Gravelbike und fahren zur Uni, wo wir uns im Starbucks nebenan noch einen Dirty Chai Latte holen, bevor die Vorlesung beginnt. An allen diesen Aktivitäten verdienen Unternehmen Geld mit uns als Kund*innen. Wir hinterlassen also jeden Tag, mit fast jeder Aktivität eine von Unternehmen „getrackte“ Spur von Zahlungen, die wir tätigen. Insofern ist für uns Kund*in-Sein, Konsument*in-Sein, inklusive unseres Smart Phone als allzeit bereitem <?page no="295"?> 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt 295 Mittel, zu einer zweiten ökonomischen Haut geworden - auch dann, wenn wir wenig Geld haben. Dahinter stehen in der Regel Arbeitsorganisationen, welche sich u.a. am Zugewinn durch unsere Zahlungen orientieren, also an Profit orientiert wirtschaften. Sie stellen für uns Produkte und Dienstleistungen gegen Zahlungen zur Verfügung oder verdienen z.B. Geld an uns, in dem sie unsere Kundendaten oder mit uns als Kund*innen Slots für Werbung verkaufen. Sie treiben Handel und versuchen u.a. mit Finanzmarktprodukten ihre Gewinne zu mehren. Sie können sehr groß, ja riesig werden und viele hunderttausende von Mitarbeitende beschäftigen. Sie arbeiten dann mit Haushalten, welche denen kleinerer Nationalstaaten entsprechen. Bezogen auf ihre Eigentums- und Ressourcenautonomie kommen oft private Eigentümer*innen ins Spiel, welche die Gewinnmargen abschöpfen oder reinvestieren. Als Arbeitsorganisation wird ihre Hierarchie durch die Eigentümer*innen gebildet (1) und von diesen versucht, die Aktivitäten ihres Personals an ihren Interessen zu orientieren (2). Die Hierarchie ist von den Eigentümer*innen und ihrem Management vorgegeben (4) und sorgt für eine prinzipielle Rangungleichheit der Mitglieder (3). Diese Organisationsformen nennen wir Unternehmen. Das Unternehmen ist eine Arbeitsorganisation im Wirtschaftssystem mit der Leitorientierung, zur Mehrung von Subsistenz- oder Gewinnchancen auf Märkten Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen und/ oder zu handeln. Unternehmen sind sehr alt, so alt wie der Kapitalismus, und bereits in der ägyptischen Antike oder im Römischen Reich zahlreich zu finden. Bis heute sind sie myriadenhaft verbreitet. Jede Person, die ein Unternehmen gründen möchte, kann dies ohne große Voraussetzungen tun. Anders als bei einer „Firma“ ist das „Unternehmen“ keine geschützte Bezeichnung und selbst dort, wo es genauer definiert ist, wie im Umsatzsteuerrecht, schafft diese Regelung keine großen Hürden: Diesem zufolge ist man Unternehmer*in, wenn man „eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbstständig ausübt“, um Einnahmen zu erzielen (https: / / finanzamt-bw.fv-bwl.de/ , Lde/ Startseite/ Service/ Wer+ist+Unternehmer_). Information 4: Das klassische Verständnis von „Unternehmen“ in den Sozialwissenschaften Max Weber: Für Max Weber spielten Unternehmen in der Heraufkunft des modernen rationalen Kapitalismus eine zentrale Rolle. Er ist im Weberschen Sinn „Unternehmerkapitalismus“ und lässt sich von der grundherrlichen Besitzakkumulation ebenso klar unterscheiden wie vom ökonomisch bedingten Rentner- und vom politisch bedingten Kriegs-, Beute- und Abenteurerkapitalismus (vgl. für eine instruktive Zusammenfassung auch Schluchter 1980: 139). Weber sieht das Unternehmen im Kontext einer auf Tausch auf Märkten (1) zu Zwecken des Gewinns (2) ausgerichtete Verkehrsform (3) von Akteuren und Akteurinnen, die sich rein am <?page no="296"?> 296 9 Organisationstypen im Vergleich Rentabilitätskalkül orientierend (4) der Methode der exakten Kalkulation und Kapitalrechnung (5) bedienen. Sie ist in Form einer rechnerisch vom Familienhaushalt getrennten (6) Unternehmung (7) auf Dauer gestellt (8) und von einem Unternehmer (9) geführt. Ein Unternehmen ist für Weber also eine Organisation, welche friedlich, an Gewinnen auf Märkten orientiert wirtschaftet. Es ist ein Erwerbsbetrieb, der sich der freien Arbeit (10) (verstanden als Trennung der Arbeiter*innen von den Produktionsmitteln) bedient, die er mittels berufsethischer Motivation (11), bürokratischer Organisation (12) und technischen Zwangs (13) in friedlich (14) tauschender Weise organisiert (vgl. WuG: 709; WG: 299; GPS: 253). Unternehmen als Organisation Max Weber Rational Choice Theorie Niklas Luhmann Typus Erwerbsbetrieb Ressoucenzusammenlegungen, Korporativer Akteur an Zahlungen orientierte Organisationen Ziele und Aufgaben Gewinn und Rentabilität Gewinne und Löhne erwirtschaften Zahlungen, um Zahlungen zu erhalten Hierarchie bürokratischtechnische Herrschaftsform zentralisierte hierarchische Koordination reflexiv verfügbare Organisationsform Personal Mitgliedschaft freie Lohnarbeit kontraktuell gebundene Akteur* innen Sinnspezialisierung als Personal Schlüsselpersonal Unternehmer*in Prinzipal*in, zentrales Management Management als Kausalfiktion Rational Choice Theorie: Unternehmen sind für James Coleman Ressourcenzusammenlegungen von einzelnen Akteur*innen mit einer Delegation von Handlungsrechten. Der Ausgangspunkt ist z.B., dass ein*e Akteur*in über ein besonderes Wissen oder über Kapital verfügt und durch eine Bündelung von Ressourcen mittels hierarchischer Koordination Vorteile für alle Beteiligten erwirtschaften kann. Das kontraktuell gebundene Personal wird entgolten und die Unternehmer*innen realisieren Gewinne (Maurer 2008: 19; Coleman 1991, 1992). „Unternehmen sind so gesehen als eine vorteilhafte Verteilung von Handlungsrechten zu erklären, deren Effekte aus der zentralen Koordination vieler Einzelhandlungen resultieren und deren Anerkennung aus den zu verteilenden Nutzenzuwächse folgt. Im Falle von Unternehmen erfolgt die Koordination bezogen auf die Kapitalinteressen, andere Interessen werden mittels vertraglicher Vereinbarungen ‚entlohnt’ und legitimiert, was deren Einhaltung zumindest bei der Annahme egoistischen Handelns aber nicht sichert“ (Maurer 2008: 19 f.). <?page no="297"?> 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt 297 Niklas Luhmann: Für Luhmann sind Unternehmen soziale Systeme, welche sich im Feld der Wirtschaft orientiert an Märkten bewegen und Zahlungen tätigen, um weitere Zahlungen auf Basis von Gewinnen realisieren zu können (vgl. Luhmann 1988). Sie orientieren sich an Märkten, in deren Spiegelbild sie sich und andere Produzenten sehen. Als Organisationen fügen sie sich nicht einfach unternehmerischen Entscheidungen, sondern haben ein Eigenleben (Luhmann 2020). Sie halten sich ihre Programm-, Organisations- und Personalstrukturen in Entscheidungen reflexiv verfügbar, die jedoch jederzeit darin beansprucht werden können, sich als weiteren Zahlungen, weiteren Gewinnen dienlich ausweisen zu können (vgl. Luhmann 1988). Dies sind jedoch für Luhmann nur für Unternehmen typische Kausalfiktionen der Profitablität, welche angesichts deren Unsicherheit von Unternehmen aufrechterhalten und mit einer weiteren Kausalfiktion, der zentralen Steuerung durch das Top-Management, verbunden werden (siehe Kap.5, Kap. 6). Die Aufgaben und Funktionen von Unternehmen Für Unternehmen gilt, dass sie ihren Lebensmittelpunkt im Wirtschaftssystem haben. Während alle Personen und Organisationen wirtschaften müssen, auch wenn sie sonst ganz andere Zwecke verfolgen, gibt es nun aber Organisationen, welche in ihrer feldspezifischen Ausrichtung genau dieses erwerbs- und gewinnorientierte Wirtschaften zum Ziel haben (1). Gleich ob Sneaker oder Fahrräder, ob Brötchen, Kaffee oder Bubble Tea, ob Autos oder Ikea-Regale produziert und verkauft werden - wichtig ist vor allem, dass der Handel und Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen, die in einer Gesellschaft oder Wirtschaft benötigt oder gekauft werden, zum einen ihre Legitimität absichert (2) und zum anderen die Chance beinhaltet, den Bestand zu sichern oder zu erweitern sowie die Gewinne mehren zu können. Dabei werden sowohl die verkauften Produkte und Dienstleistungen als auch die benötigten Ressourcen zu „Waren“ und auch noch in der unvollkommenen Form der Arbeitskraft als solche „behandelt“ (3). Auch im Falle, dass Subsistenzziele im Vordergrund stehen, ist die an Gewinnchancen auf Märkten orientierte Herangehensweise konstitutiv für diesen Organisationstypus. In Unternehmen werden daher die konkreten Ziele und Aufgaben durch die Herstellung sowie dem Handel von Gütern und Dienstleistungen auf Märkten sowie durch die begleitenden Aktivitäten von Finanzierung, Gewährleistung, Anpassung an Rechtsordnungen etc. bestimmt. Ihre Funktion liegt nicht nur darin, gesellschaftliche Bedarfe zu befriedigen, sondern auch materiellen gesellschaftlichen Mehrwert zu generieren. Vor allem auch durch sie kann gesellschaftlich im großen Umfang über materielle Ressourcen und Geld verfügt werden, die ohne sie gesellschaftlich schwieriger dauerhaft zu generieren wären. Die fortwährende Rationalisierung ist mit ihnen als Erwartungsprinzip auf Dauer gestellt und zugleich versorgen sie die Gesellschaft mit industrialisierten Träumen von Reichtum, Wohlstand, Schöner Wohnen, künstli- <?page no="298"?> 298 9 Organisationstypen im Vergleich cher Intelligenz, aber heute auch von Klimaschutz, Nachhaltigkeit und einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das Leitbeispiel 9.5: Ikea Wenn wir uns z.B. für einen Besuch eines Ikea-Möbelhauses entscheiden, um ein „Billy“-Regal, eine „Slânspinnmal“-Decke oder einen „Trotten“-Schreibtisch zu erstehen, wissen wir in der Regel bereits genau, was uns erwartet - und dass wir mit mehr und anderen Dingen zurückkehren werden als jene, die wir eigentlich kaufen wollten. Wir absolvieren einen durchschnittlich 3,5 km langen Parcours und nehmen uns am Eingang eine der viel zu großen Einkaufstaschen, die insgeheim in uns den Wunsch weckt, sie nicht gänzlich ungefüllt zu lassen. Der „Zwangslauf“, den wir nun bei Ikea absolvieren, sieht im Durchschnitt über 80 Richtungsänderungen vor. Immer wieder stehen uns sog. “Hotspots” im Weg und führen uns an prominent platzierte Produkte heran, z.B. mit dem stets wiederkehrenden Ohrensessel „Strandmon“. Darunter sind immer wieder Produkte, die unschlagbar günstig sind und uns als Kund*innen zu spontanen Mitnahmeeffekten bewegen sollen. Die Ausstattung der Räume folgen den jeweils neu entwickelten “homestories”, so dass wir uns in diesen wohlfühlen oder gar - nach ca. 1,5 km in der Bettenabteilung - ein „Powernap“ halten können. Danach gehen wir weiter und kommen unweigerlich am Ikea-Restaurant vorbei, mit dem unvermeidlichen „Kötbullar“, günstigen Pommes und den ersehnten Refills von Kaffee oder Limonade, so oft und lange, wie es das Herz begehrt und unser Kreislauf es verkraftet. Im Anschluss daran gehen wir die Treppen in die Markthalle hinunter, im Ikea-Jargon „Open the wallets” genannt, wo viele weitere Verkaufsschnäppchen auf uns warten, so z.B. eine Wegwerf-Bratpfanne „Tagghaj“ aus Aluminium für 5 €. Danach kommen wir ins Verkaufslager, suchen uns die kleineren Zusammenbaumöbel aus den nummerierten Regalen und gehen an die Scan-Kassen, um unnötiges Anstehen zu vermeiden. Das Schöne oder Tragische an den Verkaufstricks von Ikea ist, dass sie in der Regel auch dann funktionieren, wenn wir als Kund*innen um diese Manipulationen wissen. Der vegane Hotdog, den wir uns zum Abschluss gönnen, bestätigt dies. Und auch danach befördert der viel beschriebene Ikea-Effekt noch die Profitabilität des schwedischen Konzerns: Wir müssen unsere Möbel nun selbst nach Hause transportieren und, bisweilen langwierig, selbst zusammenbauen, und viele von uns finden das auch noch gut. Als kapitalistisch agierende Organisationen sind Unternehmen, wie z.B. Ikea, am Erreichen von Renditezielen orientiert. Die Sicherstellung der Profitabilität einer Organisation ist jedoch auch für Ikea ein wenig instruktiver Zweck. Da das Unternehmen sich strukturell an Märkte, hier: der Endverbraucher, koppelt, bleibt die Frage des Verwertungserfolgs oft offen, d.h. einer im Vorhinein werden immer unbestimmten Relation von Angebot und Nachfrage überlassen. Wie viele „Varmblixt“-Leuchten sollen produziert werden und wie viele davon werden verkauft? Unternehmen wie Ikea <?page no="299"?> 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt 299 haben zwar langjährige Erfahrungswerte, aber auch sie können im Vorhinein nicht wissen, wie sich der Absatz jeweils entwickelt. Hinzu kommen Fragen, wie z.B. welche Konkurrenz für Ikea neu auf den Markt kommt, wie sich die Holz- und Energiepreise entwickeln und wie sich die Reputation von Ikea bei den Endverbrauchern verändert. Diese grundlegende Unsicherheit gilt sowohl für die Ressourcen, welche das Unternehmen braucht als auch für die Produkte und Leistungen, mit denen es handelt. So listet Ikea seine lustigsten Misserfolge als Teil seiner Markenstrategie der „Swedishness“ und des „Ikea-Way“ 121 gleich selbst auf, wie z.B. aufblasbare Sofas und Sessel, die sich nicht verkauften, zu schwere Klaviere oder fehlentwickelte Sofagestelle und -bezüge (Steuerwald 2023). Unternehmen wie z.B. Ikea lösen sich aus dem Meer der für uns alle durch Märkte oder Tausch vermittelten Möglichkeiten heraus, indem sie Nischen besetzen oder Märkte okkupieren, um auf diese Weise für die Konkurrenz den profitablen Marktzugang zu erschweren. Nicht mehr jede Person oder jedes Unternehmen kann dann profitabel auf diesen Märkten operieren, da entweder die Technologie, das Wissen und die Reichweite fehlen oder die Ressourcen, um preiswert auf den Märkten zu operieren. So ist das Ikea-Prinzip zwar vielfach kopiert, aber Ikea im Möbelhandel bis heute nicht eingeholt worden. Durch die Bildung von Monopolen und Oligopolen, durch Fusionen, Unternehmenskäufe und strategische Allianzen versuchen Unternehmen dort, wo es (rechtlich) möglich ist, Exklusivität herzustellen und die Markteintrittsbarrieren für potenzielle Konkurrent*innen zu erhöhen. Wenn sie größer werden, haben sie nicht das Interesse, Märkte aufrechtzuerhalten, sondern vielmehr sie zu kontrollieren, um auf diese Weise u.a. höhere Gewinnen zu erzielen und eine höhere Berechenbarkeit herzustellen. Durch das, auch dadurch ausgelöste Größenwachstum der Unternehmen, der Unternehmensgruppen und Konzerne bilden sich Inseln im Meer wirtschaftlicher Aktivitäten, auf denen teilweise mit enormer Marktmacht operiert werden kann. Viele von uns lassen sich z.B. durch Amazon Waren zuliefern und verwenden Google, um sich Plattformen für Preisvergleiche angeben zu lassen. Viele von uns streamen Filme und Serien bei Netflix und versenden Textnachrichten mit Whatsapp. Bei der Arbeit nutzen wir Microsoft Office und präsentieren unsere Ergebnisse mit Powerpoint. Auch das Ranking der größten Möbelhersteller wird in Deutschland mit großem Abstand von Ikea angeführt: Mit rund 5,7 Mrd. € Umsatz weist Ikea 2022 fast ein Drittel mehr Umsatz aus als der zweitplatzierte Möbelkonzern (vgl. Hubert 2023). Und weltweit rangiert Ikea mit mehr als 40 Mrd.€ Umsatz weit vor dem zweitplatzierten Möbelhändler Walmart (vgl. Hubert 2022). Es sind u.a. die Milliarden an Umsätzen und Gewinnen, welche Unternehmen als Schlüsselorganisationen der Wirtschaft hervorheben. 121 “Only while sleeping one makes no mistakes. Making mistakes is the privilege of the active - of those who can correct their mistakes and put them right”. (Kamprad 1976/ 2016: 18). Kamprad, Ingvar. "The testament of a furniture dealer." Retrieved July 16.2016 (1976): 2. <?page no="300"?> 300 9 Organisationstypen im Vergleich In allen gesellschaftlichen Bereichen finden sich große Unternehmen, an welche teilweise staatliche oder gar hoheitliche Aufgaben delegiert werden. So werden z.B. bewaffnete Konflikte oder Kriege unter Zuhilfenahme von international operierenden externen Dienstleistungsunternehmen, welche Söldner, Technologie und Know-How zuliefern, geführt oder auf dem Finanzmarkt operieren große Banken, welche einen Großteil des Zahlungsverkehrs abwickeln und die Vermögensbildung organisieren. Egal, wo wir hinsehen, sehen wir in gesellschaftlich prägender Weise große Unternehmen aktiv werden, welche - oft unterstützt durch nationalstaatliche Politiken - im Zugang zu Technologie, Wissen, Humanressourcen, Märkten etc. exklusiv werden. Die Träger sind bei Unternehmen in der Regel die Eigentümer*innen, Aktionäre, institutionelle Investoren etc. Ihre private Verfügungsgewalt unterscheidet sich im Ausmaß der Autonomie der Verfügung von den oft kollektiven Trägern anderer Organisationen 122 . Der Grad der Autonomie in der Festlegung von Zielen und Aufgaben ist daher bei Unternehmen sehr hoch. Als Einzeleigentümer können sie ohne weitere Rechtfertigung über den Bestand der Organisation sowie deren Ziele frei entscheiden (1) und zugleich kann ihnen diese Verfügungsgewalt bis in die Planung und Durchführung von Aufgaben hinein nicht einfach entzogen werden (2). Die Unternehmer*innen müssen ihr Eigentum schon verkaufen wollen oder durch Insolvenz zum Verkauf gezwungen sein, ansonsten können sie außerhalb staatlicher Verfügungswillkür nicht zum Rücktritt gezwungen werden. Sie legen auch die Hierarchie, die Art und Weise der Über- und Unterordnung eigenständig fest (3). Mitgliedschaft und Personal in Unternehmen Der Eintritt: Dabei erfolgen der Eintriit und die Mitgliedschaft des Personals formal kontraktuell mit Arbeitsverträgen, welche in Bezug auf die konkreten Tätigkeiten oft allgemein und unbestimmt bleiben, um eine höhere Flexibilität des Arbeitseinsatzes zu gewährleisten. Im Unterschied zu anderen Organisationsformen wird der Einsatz von Arbeitskraft als Humankapitalinvestition verstanden und kann regelmäßig einer Berechnung des „return on investment“ ausgesetzt. Dabei werden nicht nur Leistung und Output geprüft, sondern die Arbeitskraft kann auch danach bewertet werden, wie gut sie zur Gewinnerzielung auf Märkten beiträgt. Für die Organisationsform der Unternehmen ist typisch, dass die Bewertung der Arbeitskraft an den Markterfolg des Unternehmens gekoppelt werden kann, auch wenn dies faktisch nicht laufend und wenn, dann mit oft fiktiven Kausalzurechnungen geschieht. Aber wenn dieser Markterfolg ausbleibt, können ganze Abteilungen geschlossen oder Standorte aufgegeben 122 Allerdings gibt es auch Staats- oder Parteiunternehmen, welche weitreichende Einschränkungen ihrer Autonomie durch externe kollektive Träger erfahren (siehe z.B. Kowalski et al, 2013; Bruton et al. 2015 u.v.a.). <?page no="301"?> 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt 301 werden. In größeren Unternehmen kommen dazu u.a. Kennzahlensysteme zum Einsatz, die bestimmte „Benchmarks“ 123 und Outputziele festlegen, an deren Erreichen der Fortbestand von Stellen und Abteilungen geknüpft wird. Auch Ikea nutzt solche Kennzahlensysteme, z.B. um die Verkaufssteuerung eines Einrichtungshauses sowie den Personaleinsatzes strategisch auszurichten. Nun stellt jede Organisation, soweit sie kann, Personal ein, dass ihren Zwecken dienlich sein soll und hängt von relevanten Umwelten ab, Gläubigen, Gläubigern, Parteimitgliedern und Wähler*innen, Banken, Kund*innen, Patient*innen etc. Der Unterschied liegt aber darin, dass der Fortbestand der Stellen und Positionen nicht nur von politischen Entscheidungen oder der Willkür der Träger abhängt, sondern auch vom Markterfolg der Organisation, welche aufgrund ihrer Finanzierungsform ohne diese Verwertungserfolge schnell in ihrer Existenz gefährdet ist. Der Verwaltungs- und Leitungsstab: Typisch für Unternehmen ist im Vergleich zu anderen Organisationsformen, dass sie ihrem hochqualifiziertem Personal Karrieren eröffnen, das mit sehr hohen Vergütungen einhergehen können. Während z.B. der Bundeskanzler in Deutschland 2022 ca. 270.000€ und seine Bundesminister*innen ca. 210.000€ Bruttogehalt im Jahr realisiert haben, verdienen die Vorstände der größten Unternehmen in Deutschland im Durchschnitt 3,4 Millionen Euro (siehe oben Kap. 6.2). Diese Gehälter spiegeln zum einen die private Finanzierungsform der Unternehmen mit teilweise sehr hohen Gewinnen wider und zum anderen die Tatsache, dass ein Unternehmen Eigentümer*innen gehört, welche ihre Agent*innen mit Aktienoptionen als variablen Gehaltsbestandteilen und mit am Marktwert orientierten Vergütungen an die Interessen der Eigentümer*innen binden wollen. Diese außertariflichen hohen Vergütungen für Manager*innen und Top-Manager*innen sind ein Signum der Unternehmenswelt, welches entsprechende Zurechnungen und Personalisierungen auf sich zieht (siehe Kap. 6.2). Die Unternehmer*innen: Besonders für die Organisationsform des Unternehmens ist es, dass Personen, Familien oder Eigentümer*innen in Holdings den Ton angeben und den Finanzrahmen für die Organisation setzen, welche selbst nicht zum Personal der Organisation gehören und der Austauschbarkeit enthoben sind. Sie müssen sich innerhalb der Organisation weder kontrollieren lassen noch vor anderen verantworten, wenn sie dies nicht durch die Wahl einer bestimmten Gesellschaftsform anders organisiert haben. 123 Benchmarking ist der kontinuierliche Vergleich von Produkten, Dienstleistungen sowie Prozessen und Methoden mit (mehreren) Unternehmen, um die Leistungslücke zum sog. Klassenbesten (Unternehmen, die Prozesse, Methoden etc. hervorragend beherrschen) systematisch zu schließen. Grundidee ist es, festzustellen, welche Unterschiede bestehen, warum diese Unterschiede bestehen und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt (https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ definition/ benchmarking-29988). <?page no="302"?> 302 9 Organisationstypen im Vergleich Unternehmen können entsprechend ihrer Rechtsform und in dem von den Eigentümer*innen bestimmten Maß über ihre Vermögenswerte selbst verfügen. Allerdings gehen verschiedene Rechtsformen mit verschiedenen Verfügungsmöglichkeiten und Haftungsrisiken einher. Die Eigentümer*innen gehören nicht zum Unternehmen und sind im engeren Sinne nicht „Personal“ des Unternehmens. Sie entscheiden in verschiedenen Varianten darüber, was z.B. mit den Gewinnen eines Unternehmens passiert. So gehören zwar die Immobilien eines als Aktiengesellschaft geführten Unternehmens den Aktionär*innen und sie können diese z.B. verkaufen, aber nur mittels der Entscheidungen der Geschäftsführung des Unternehmens direkt nutzen oder in Besitz nehmen. Hierarchie und Führung in Unternehmen Auch in Unternehmen wie Ikea wird die Eignung zur Führung immer wieder in Frage gestellt und an Bewährungsproben mit Erfolgs- und Misserfolgszurechnungen geknüpft. Die immanente Logik steter Rationalisierungs- und Innovationsversuche in Unternehmen macht hier auch vor der Hierarchie und der Führung nicht halt, deren Formen immer wieder verändert und in Frage gestellt werden, ohne dass die instruktive Form der Abkürzung von Entscheidungsprozessen durch Über- und Unterordnung in der Weisungsbefugnis, den Berichtspflichten und der Verantwortungsübernahme faktisch durchbrochen wird. Sie wird immer dann benötigt, wenn z.B. die Zeit nicht reicht und/ oder die Fehlerverantwortung nach oben oder nach unten delegiert wird. Auch Mitarbeitende lehnen eine Verantwortungsdelegation an sie häufiger ab, wenn damit auch die Übernahme einer Fehlerverantwortung, einer Verantwortung für die Folgen einer wichtigen Entscheidung verbunden ist. Ein Unternehmen hat in der Regel klare formale Weisungsbefugnisse bis auf die untersten Hierarchieebenen (1). Oft werden mit Bezug auf Fachwissen Autoritätszuweisungen doppelt abgesichert (2), auch wenn dies keineswegs zwingend der Fall sein muss. Kündigungen im Rahmen der jeweiligen gesetzlichen Regelungen sind einfach möglich (3). Dabei sieht der vielbeschriebene „Ikea-Way“ hier in der schwedischen Tradition flache Hierarchien vor. Zur Ikea-Doktrin gehört es, dem „Testament“ von Kamprad zufolge, dass von allen Mitarbeitenden ungewöhnliche Ideen willkommen sind 124 , die Vorgesetzen als Mitarbeiter*innen betrachtet werden, welche vorbildhaft zusammen mit anderen in Großraumbüros arbeiten sollen. Statussymbole und Luxus werden abgelehnt 125 (Kamprad 1976/ 2016: 34). Ikea präferiert dabei Hauskarrieren - also Führungspersonal, das langjährig in und mit Ikea Erfahrungen sammeln konnte. 91% der 124 “We encourage our co-workers to come up with unconventional ideas and to dare to try them out. Of course, this has to happen under controlled conditions within the framework of our concept, and it is certainly no excuse for foolhardiness. After all, you only need to invent the wheel once“ (Kamprad 1976/ 2016: 31). 125 “We claim that we don’t need status symbols. What we really mean by that is that setting a good <?page no="303"?> 9.8 Unternehmen oder: Der Ikea-Effekt 303 Management-Positionen bei Ikea sind denn auch mit Insidern besetzt. So begann z.B. Walter Kadnar, der CEO von Ikea Deutschland, in Österreich im Jahr 1988 als Management-Trainee, gefolgt von verschiedenen Funktionen in Einrichtungshäusern und im Service Office. Er war zuvor bei Ikea in Frankreich, Polen, Russland, immer auf verschiedenen Managementpositionen tätig und hat damit ebenfalls die für Ikea typische Insiderkarriere durchlaufen. Im Vergleich zu anderen Organisationstypen wie Verwaltungen, Parteien oder Kirchen sind in größeren Unternehmen Managementstellen dauerhaft eingerichtet, so dass Organisations- und Führungskompetenzen unabhängig von den Fachkompetenzen einen festen Platz in der Organisation zugewiesen bekommen. Anders als im Falle von Kirchen und Krankenhäusern ist die Professionsgebundenheit im Sinne der Gebundenheit der Organisation an eine Profession im Regelfall gering. Die Besetzung von Führungspositionen wird, wie auch bei Ikea, nicht im soziologischen Sinne durch eine, wie auch immer geartete “Managementprofession“ monopolisiert (1). So hat ein Self-Made Unternehmer wie Ingvar Kamprad Ikea aufgebaut und das Unternehmen lässt sich bis heute gänzlich ohne die Bindung an eine Profession führen (2). Und auch auf den Leitungspositionen ist die Beteiligung einer Profession nicht vorgeschrieben (3). Aber das Personal auf Führungspositionen weist in den größeren Unternehmen heute in der Regel akademische Qualifikationen auf, d.h. die Besetzung von Führungspositionen wird häufig an ein abgeschlossenes Universitätsstudium geknüpft. Auch dies wird z.B. bei Ikea häufiger durchbrochen. Der Nachweis von juristischen Kompetenzen auf diesen Stellen wurden vom formalen Nachweis von wirtschafts- und (insbesondere bei Produktionsunternehmen) ingenieurswissenschaftlichen Kompetenzen abgelöst. Die Finanzierung von Unternehmen Die größten Unternehmen in Deutschland wie z.B. SAP realisieren dabei 2022 eine Marktkapitalisierung von rd. 145 Mrd.€ und einen Gewinn von rd. 6 Mrd. € (Buske 2023). Weltweit gehört z.B. Amazon mit einem Marktwert 2022 von 1,5 Billionen Dollar, Gewinnen von 33 Mrd. Dollar und einem Vermögen von 421 Milliarden Dollar zu den reichsten Unternehmen. Im Ranking der größten Unternehmen der Welt 2022 liegt Berkshire Hathaway mit einem Marktwert von 742 Milliarden Dollar, einem Gewinn von 90 Milliarden Dollar und einem Vermögen von 959 Milliarden Dollar auf dem ersten Platz (Buske 2023). Das Unternehmen ist u.a. auf Finanzdienstleistungen, Erst- und Rückversicherungen spezialisiert. Dessen Vermögenswerte sind also höher als das BIP von Ländern wie der Türkei (817 Mrd. USD) oder der Schweiz (800 Mrd. USD (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt). example should be the manager’s most persuasive quality” (Kamprad 1976/ 2016: 34). <?page no="304"?> 304 9 Organisationstypen im Vergleich Anhand dieser Zahlen kann man nicht nur den möglichen Riesenwuchs privater Wirtschaftsorganisationen ablesen, sondern auch wie sehr deren feldspezifische Ausrichtung auf Zahlungen und Gewinne zu Markt- und Vermögenswerten führen kann, welche außerhalb staatlicher und politischer Organisationsformen kaum von anderen Organisationsformen erreicht werden kann. Unternehmen haben dabei die Quellen ihrer Finanzierung in der Regel unter Kontrolle, d.h. sie können, mit der Ausnahme von Insolvenzen, selbst entscheiden, von welchen externen Finanzierungsquellen sie sich ggf. abhängig machen. So wurde Ikea 1943 von Invar Kamprad gegründet und war lange Zeit ein vom Gründer geführtes Unternehmen, ganz im Eigentum des Gründers. Als dieser aber 2018 im Alter von 91 Jahren starb, gehörte ihm Ikea bereits seit 1982 nicht mehr. Ingvar Kamprad hat Ikea in eine Reihe von Stiftungen überführt. Die wichtigste davon ist die Stichting Ingka. Sie hat ihren Sitz in den Niederlanden und verwaltet die meisten Filialen des Möbelkonzerns. Ikea ist in Form einer Aktiengesellschaft organisiert, wobei die Stichting Ingka 99,9% der Aktienanteile hält. Wie andere Stiftungen auch, hat sie gemeinnützige Ziele. Sie darf den jeweils von Ikea benötigten Teil der Gewinne in das Ikea-Geschäft re-investieren, aber hat sich für den restlichen Teil dazu verpflichtet, die Gewinne für gemeinnützige Zwecke zu spenden. Damit ist der Grad der Eigentums- und Ressourcenautonomie des Konzerns in der Verfügung über die Vermögenswerte unter Einbezug der Stiftung (wie für Unternehmen üblich) hoch (1) und der Konzern ist nur in geringer Weise abhängig von externen Quellen der Finanzierung, deren Zuweisung außerhalb seiner Kontrolle liegt (2). „Die Stiftung (Ingka, d.V.) gehört dabei sich selber, es kann also keiner von außen Einfluss nehmen. Sie selbst hat aber Einfluss auf eine zweite Stiftung, die Interogo aus Liechtenstein. Der gehören alle Markenrechte und das Design der Ikea-Produkte. Außerdem ist sie wiederum Eigentümer von Inter Ikea, welche die globalen Franchises der Möbelkette verwaltet“ (Sackmann 2018). Die Familie sowie die Kinder Kamprads haben durch diese Konstruktion keine direkte Macht über Ikea mehr, sondern stattdessen nach dem Tod des Vaters u.a. den Mischkonzern der „Ikano-Gruppe“ von diesem übernommen. Die Besonderheiten der Organisationsform der Unternehmen Als Besonderheiten von Unternehmen sind folgende Aspekte erwähnenswert: (1) Privatbesitz: Unternehmen können in Privatbesitz sein. So gibt es zahlreiche, sehr große Familienunternehmen in Deutschland. Die Trennung zwischen der Verfügung über die Vermögenswerte sowie der Gewinne und der Organisation/ dem Betrieb des Unternehmens ist für diese typisch und in verschiedenen Rechtsformen geregelt. <?page no="305"?> 9.9 Zusammenfassung 305 (2) Strukturelle Kopplung an Märkte: Unternehmen wirtschaften in der Regel an Marktlagen orientiert, je größer, desto eher mit der Tendenz, diese beherrschen zu wollen bzw. zu versuchen, die Märkte mittels Marktmacht zu kontrollieren. (3) Riesenwuchs: Wenn Unternehmen Erfolg haben, können sie sehr groß werden, Hundertausende von Mitarbeitende beschäftigen und Hunderte Milliarden USD an Vermögen ansammeln. (4) Kommodifizierung von Ressourcen: Unternehmen sind maßgeblich mit daran beteiligt, dass Ressourcen verschiedenster Art Warenform annehmen, also für den Handel auf Märkten generiert und reproduziert und mit Preisen ausgestattet werden. Dies bezieht sich auch auf unvollkommene Waren wie beispielsweise die Humanressource Arbeitskraft. (5) globale Organisation: Je größer Unternehmen werden, desto eher tendieren sie dazu, global zu operieren, also Güter und Dienstleistungen weltweit zu produzieren, zu verkaufen oder zu handeln. Ihre Operationsweise ist dann nicht mehr territorial an die Grenzen eines Nationalstaates gebunden. Wir ordnen Unternehmen gewinnorientierte Organisation in Privateigentum ein, deren Autonomiegrad in der Festlegung von Aufgaben und Zielen sehr hoch ist. Sie weisen als Arbeitsorganisationen eine eher starken formalen Hierarchiegrad auf, haben akademisches Schlüssel- und Leitungspersonal, aber sind in der Regel nicht durch eine starke Professionsgebundenheit gekennzeichnet. Sie sind im Besitz von Privatpersonen in verschiedenen Gesellschaftsformen, Aktionären oder institutionellen Investoren, deren Austauschbarkeit an das Eigentum geknüpft ist und die damit nicht zum Personal der Organisation gehören. Ihre Eigentums- und Ressourcenautonomie ist durch die Eigentumsformen moderiert und außerhalb von Staatsunternehmen oder Genossenschaften eher hoch. 9.9 Zusammenfassung Innerhalb der Gattung von Organisationen gibt es also ganz verschiedene Arten, welche ganz verschiedene Organisationsformen annehmen und praktizieren. Wir haben uns dabei auf Schlüsselorganisationen konzentriert, die ihren Lebensmittelpunkt in zentralen gesellschaftlichen Bereichen gesucht haben und für diese stehen, diese in ihren eigenen Unterscheidungen in klar bestimmter Weise repräsentieren. Dazu gehören Krankenhäuser im System öffentlicher Gesundheit, politische Parteien in der Politik, Unternehmen in der Wirtschaft oder Kirchen im Feld der Religion. Wir haben hier aus Platzgründen nur vier dieser verschiedenen <?page no="306"?> 306 9 Organisationstypen im Vergleich Schlüsselorganisationen ausgewählt, aber weitere sind uns im Alltag stets präsent: Universitäten im Wissenschaftssystem, Schulen im Erziehungssystem, Gerichte im Rechtsystem etc. Wir haben zum einen in unserer Heuristik gesehen, dass alle diese Schlüsselorganisationen klar der „Gattung“ der Organisationen zuzuordnen sind und es daher auch viele Gemeinsamkeiten zwischen den Schlüsselorganisationen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche festzustellen sind. Dazu gehört die organisationstypische Exklusivität, welche sie in ihren Entscheidungen in diesem Feld herstellen, oft zusammen mit der Delegitimierung von Entscheidungen, welche ohne ihre Beteiligung getroffen wurden. Dazu gehört der Anspruch, die Herstellung und Verteilung relevanter Ressourcen in diesem Feld maßgeblich mitzubestimmen. Und dazu gehört auch die Akademisierung und teilweise Professionalisierung ihres Leitungspersonals, um auch damit Legitimitäts- und Ressourcengewinne realisieren zu können. Wir haben zum anderen auch mittels unserer Heuristik gesehen, dass sie teilweise auch hybride Formen annehmen und eine große empirische Vielfalt innerhalb einer Art der Organisationen erkennbar wird. So finden sich unter dem Dach der Kirchen z.B. auch totale Institutionen oder es gibt im Wirtschaftsbereich z.B. auch Staatsunternehmen oder im Bereich politischer Parteien auch Parteiunternehmen. Konstitutiv für unsere Heuristik war aber, dass sich je nach Feld und damit gesellschaftlichen Kontext unterschiedliche Schlüsselorganisationen ausbilden. (1) Dort, wo sich das Feld um Ideen und Interessen dreht, bilden sich die Schlüsselorganisationen in der Tendenz eher als Interessenorganisationen aus. Das bedeutet nicht, dass sie keine Elemente von Arbeitsorganisationen integrieren, sondern nur, dass sich ihre Organisationsform vorrangig als Interessenorganisation ausbildet. In den Feldern, in denen es z.B. vor allem um die Herstellung, den Verkauf oder den Handel von Gütern und Dienstleistungen geht, bilden sich vorrangig Arbeitsorganisationen aus. (2) Immer dort, wo kollektive Güter von hoher gesellschaftlicher Relevanz im Mittelpunkt stehen, wie z.B. das Seelenheil oder die öffentliche Gesundheit, bilden sich Professionen aus, an denen sich dann auch die Organisationsform orientiert. In solchen Feldern lässt sich klar erkennen, dass professionsgebundene oder professionsbasierte Organisationen Schlüsselrollen übernehmen. (3) Immer dann, wenn Nationalstaaten die Herstellung und Verteilung kollektiver Güter kontrollieren und koordinieren, entstehen in der Tendenz Organisationsformen mit geringeren Autonomiegraden in der Festlegung von Zielen und Aufgaben, aber auch in der Finanzierung und dem Zugang zu Ressourcen wie beispielsweise bei öffentlichen Krankenhäusern oder anderen Verwaltungsorganisationen. <?page no="307"?> 9.9 Zusammenfassung 307 (4) Immer dort, wo es gesellschaftliche Erwartungen gibt, welche sich an Gemeinschaftsformen und -interessen orientieren, etablieren sich Interessenorganisationen, welche zumindest formal eine Rückbindung an die Gemeinschaftsinteressen aufbauen. Übung zu Kapitel 9: Scientology Auszug aus dem Verfassungschutzbericht 2022 des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (https: / / www.verfassungsschutz.de/ SharedDocs/ publikationen/ DE/ verfassungsschutzberichte/ 2023-06-20-verfassungsschutzbericht-2022startseitenmodul.pdf? __blob=publicationFile&v=3) „Scientology-Organisation“ (SO) „Die „Scientology-Organisation“ (SO) beabsichtigt, weltweit eine „scientologische Gesellschaft“ zu etablieren. Sie orientiert sich an einem Gesellschaftsbild, das auf den Schriften des Gründers und der Leitfigur Lafayette Ron Hubbard (1911-1986) basiert. In seinem erstmalig 1950 veröffentlichten Buch „Dianetik“ entwickelte Hubbard eine Methode, die er als „Technologie“, „Dianetik“ beziehungsweise „Scientology“ bezeichnete. Diese soll den Nutzer von jeglichen psychischen und physischen Belastungen befreien und somit die Erschaffung des perfekten Menschen (auch „Clear“ oder „Nichtaberrierter“ genannt) vorantreiben. Im Zuge dieses Prozesses sollen Menschen, die nicht zu den „Clears“ beziehungsweise „Nichtaberrierten“ gehören, Grundrechte und die Menschenwürde abgesprochen werden. „Eines Tages wird es vielleicht ein viel vernunftgemäßeres Gesetz geben, das nur Nichtaberrierten erlaubt, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen.“ (L. Ron Hubbard, „Dianetik - Der Leitfaden für den menschlichen Verstand“, 3. überarbeitete Ausgabe, Kopenhagen, 2007, S. 373). Laut Hubbard ist „wahre Demokratie“ nur dann zu erreichen, wenn das demokratische Subjekt ausschließlich aus „Nichtaberrierten“ besteht. In diesem Kontext erachtet sich die SO selbst als Führungselite, die durch die Anwendung der Lehren Hubbards den Rest der Menschheit regieren sollte. Ein solches - die Demokratie ersetzendes - System einer allein herrschenden, scientologischen Regierung ist mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes unvereinbar. Alle Staatsgewalt ginge in Kapitel 9: Fragen zur Vertiefung Anhand welcher Kriterien lassen sich verschiedene Arten von Organisationen untersceiden? Welche Organisationen haben in der Regel einen eher geringen Autonomiegrad? Warum binden sich manche Organisationsformen an Professionen? Warum sind manche Organisationsarten territorial organisiert und andere nicht? <?page no="308"?> 308 9 Organisationstypen im Vergleich solch einem System weder vom Volke aus noch wäre sie durch eine ununterbrochene Legitimationskette an das Volk gebunden. Eine Distanzierung von den verfassungsfeindlichen Aussagen Hubbards durch die heutige SO findet nicht statt. In Deutschland besitzt die SO neben drei repräsentativen Zentren, sogenannten Idealen Orgs, zwölf weitere Niederlassungen, die je nach Größe und Ausstattung „Missionen“ beziehungsweise „Orgs“ genannt werden. Darüber hinaus besitzt die SO zwei sogenannte Celebrity Centres. Bei diesen Einrichtungen handelt es sich um besonders serviceorientierte Niederlassungen, die prominenten Persönlichkeiten vorbehalten sind. Die Mitgliederzahl der SO in Deutschland liegt wie im Vorjahr weiterhin bei rund 3.600 Personen.“ Bitte erläutern Sie am Beispiel der Scientology „Organisation“, ob es sich Ihres Erachtens um eine „Kirche“ handelt und wie diese sich ggf. von einer christlichen Kirche unterscheidet. Eine Musterlösung finden Sie im Internet unter www.utb.de/ soziologie-der-organisation Quellen Ahrne, Göran/ Brunsson, Nils (2008), Meta-organizations. Edward Elgar Publishing. Ahrne, Göran/ Brunsson, Nils (2012), How much do meta-organizations affect their members? . In: Koch, Martin (Hrsg.), Weltorganisationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 57-70. Apelt, Maja/ Tacke, Veronika (2012), Handbuch Organisationstypen. Wiesbaden: Springer-Verlag. Aumiller, S. (2023), ADAC auf Wachstumskurs: Mitgliederzahl wächst weiter. 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Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck. <?page no="317"?> 10 Schlagwortverzeichnis Agent 23, 75, 108, 125, 143, 144, 156, 160, 175, 192, 202, 203, 223, 224, 234, 237 Akteur 46, 57, 59, 68, 74, 75, 96, 97, 102, 104, 111, 112, 117, 125, 131, 132, 133, 134, 168, 171, 175, 192, 201, 223 Akteur, individueller 72 Akteur, korporativer 68, 72, 74, 75, 154, 155, 156 Anreizstrukturen 113, 114, 126, 147, 154, 156, 233, 237 Arbeitsmarkt 33, 114, 145, 146, 148 Arbeitsorganisationen 252, 266 Autopoiesis 158, 202 Autorität 24, 42, 48, 75, 133, 153, 165, 166, 167, 194, 228 Autoritätsverlust 164, 165 Besitz 125, 128, 131, 133, 137 Bürokratie 20, 58, 61, 62, 65 Bürokratietheorie 58 Change Management 187 Compliance 211, 212, 234 Corporate Identity 126, 192, 203, 236 Corporate Social Responsibility (CSR) 218, 235, 237, 238, 239 Devianz 211, 216, 228, 230, 234 Devianz, organisationale 211, 216, 217, 228, 230, 231, 232 Ein- und Austritt, organisationaler 28, 29, 31, 33, 43, 46, 48, 60, 73, 267 Entscheidung 80, 81, 82, 83, 99, 102, 108, 116, 136, 140, 141, 159, 162, 166, 169, 194, 200, 221, 222, 223, 226, 236, 238 Entscheidungshierarchie 83 Entscheidungsprämissen 25, 82, 83, 108, 109, 145, 158, 160, 161, 175, 194, 202, 203, 205, 227, 236 Entscheidungsprämissen, unentscheidbar 194 Ethik 112, 211, 212, 213, 214, 215, 238 Evolution 80, 159, 170, 203, 235 Familie 18, 27, 29, 31, 33, 36, 37, 38, 44, 71, 81, 100, 111, 125 Führung 154 Führungsbeziehung 167 Führungskraft 24, 33, 74, 114, 153, 156, 157, 158, 177, 193, 200, 268 Führungsmethoden 164 Führungsposition 159, 175, 176 Führungsstil 164, 165, 167, 175 Geld 18, 24, 70, 71, 82, 100, 111, 113, 114, 125, 126, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 215 Beziehungsmittel 24, 125 fluides Medium 125, 145 Gestaltung 24, 79, 154, 160, 161, 199, 200 Gruppe 18, 21, 22, 27, 33, 41, 44, 45, 46, 48, 77, 80, 81, 155, 191, 213, 214 Handeln, soziales 45, 111 Herkunft, soziale 153, 173 Herrschaft 43, 48, 59, 60, 72, 74, 105, 165, 171 Herrschaftsformen 35, 48, 49, 59, 60, 103 Herrschaftsverband 105 Hierarchie 29, 33, 45, 46, 48, 49, 72, 73, 74, 75, 99, 105, 115, 156, 227, 232, 267, 268 Humankapital 106, 116 <?page no="318"?> 318 10 Schlagwortverzeichnis Idealtypus 41, 58, 59, 62, 73, 267 Illegalität, brauchbare 226, 227, 236, 237, 238 Individualität 98, 173 Individuum 73, 76, 103, 157, 192, 238, 268 Inklusion 40 Partialinklusion 33, 43, 49, 101 Totalinklusion 31, 33, 43, 44, 60 Institution 22, 31, 32, 33, 41, 42, 43, 48, 60, 62, 67, 76, 77, 78, 79, 84, 96, 97, 102, 160, 189 Institution, totale 33, 42, 43 Neuer Institutionalismus 69, 159, 169 Interaktion 45, 101, 166 Interesse 20, 47, 69, 71, 75, 103, 104, 105, 111, 113, 131, 132, 133, 135, 143, 197, 221, 222, 223, 224, 225, 227, 237, 238 Interesse, organisationales 201, 203, 228 Interessenorganisationen 265 Interessensorganisationen 254 Isomorphismus 126 Karriere 17, 33, 95, 97, 109, 112, 113, 115, 116, 118, 145, 147, 148, 172, 174, 175, 176, 215 Karrierechancen 40, 82, 156, 173 Managerkarrieren 173 Kirche 253, 254 Kommunikation 45, 47, 80, 81, 97, 102, 103, 104, 110, 113, 139, 194, 200, 214, 224 Kommunikationsmedium 139, 140, 147 Konflikt 24, 130, 140, 166, 177, 189, 201, 204 Kontrolle 61, 74, 75, 103, 104, 105, 111, 113, 131, 132, 133, 134, 138, 144, 154, 155, 156, 160, 162, 192, 201, 203, 216, 235, 237 Konzentrationslager 58, 59, 61, 62, 63, 64 Körperschaft 23, 75, 105, 108, 112, 114, 117, 133, 134, 143, 156, 160, 192, 201, 213 Korruption 25, 211, 212, 215, 216, 219, 220, 223, 225, 226, 228, 231, 234, 235, 237, 238, 239 Krankenhaus 282 Kriminalität 27, 29 Kultur 24, 67, 96, 97, 126, 187, 189, 190, 191, 193, 194, 199, 200, 202, 212, 236, 239 Kulturbegriff 190 Lebenslauf 17, 112, 118, 119 Legalität 77 Legitimität 33, 64, 69, 77, 78, 108, 112, 128, 157, 159, 169, 171, 193, 226, 234, 238 Legitimitätsglaube 77, 105, 128, 166 Leistung 17, 116, 130, 142, 144, 173, 193, 221 Macht 17, 24, 35, 60, 64, 125, 126, 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 140, 141, 143, 145, 147, 148, 153, 165, 166 bei Coleman 131, 132, 138 bei Crozier/ Friedberg 134, 135, 136, 138 bei Luhmann 139, 140, 141 bei Popitz 128, 130 Macht, absolute 35, 60 Machtbeziehung 131, 135, 136, 138, 166 Mafia 22, 27, 28, 29, 31, 32, 33, 36, 38, 39, 40, 41, 42 Management 24, 71, 75, 153, 154, 155, 156, 157, 159, 160, 161, 162, 167, 170, 172, 173, 174, 175, 176, 192, 193, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 223, 235, 236, 237, 238, 239 Managementbegriff 153, 174 <?page no="319"?> Schlagwortverzeichnis 319 Managementfunktion 160 Managementkonzept 192, 202 Managementstrukturen 153, 157 Manager 142, 143, 144, 146, 153, 154, 155, 156, 159, 161, 162, 164, 167, 168, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 194, 211, 215, 220, 221, 223, 224, 226, 227 Herkunft, soziale 17, 173, 174 Managergehälter 24, 144, 145 Markt 21, 22, 23, 41, 46, 47, 48, 73, 106, 134, 143, 146, 147, 177, 223 Mensch 31, 97, 189 Mitgliedschaft 23, 27, 28, 31, 32, 44, 46, 47, 48, 49, 80, 82, 108, 109, 215, 223, 227 Mitgliedschaftsrolle 32 Moral 25, 211, 212, 213, 214, 215, 234, 238 A-Moral 238 Motiv 111, 112, 113, 118 Motiverwartung 113 Motivlage 97, 112, 113 Motivproduktion 23, 97, 112, 113, 114, 115, 118 Motivation 23, 95, 110, 113, 115, 118, 126, 149, 168 Mythos 157, 173, 225 Naturzustand 189 Netzwerk 18, 41, 46, 48, 72, 144 Norm 18, 25, 32, 35, 46, 48, 78, 79, 101, 158, 189, 191, 201, 213, 214, 215, 216, 218, 222, 223, 227, 236, 237 Norm, gesellschaftliche 216 Norm, organisationale 25 Normen 103 Ordnung, soziale 127, 187 Organisation 57, 60, 66, 67, 97, 104, 105, 106, 108, 109, 115, 153, 154, 232, 233, 234 Begriff 78 Organisation als Institution 18, 76 Organisation als System 79 Organisation, bürokratische 57, 58, 61, 62, 65 Organisation, formale 19, 29, 41, 59, 73, 75, 268 Organisation, rationale 57, 59, 62, 76 Organisationsstruktur 33, 66, 75 Organisationszweck 74, 141, 161, 215, 268 Organisationskultur 24, 187, 191, 192, 193, 194, 195, 197, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 226 Veränderung, Gestaltung 194, 199, 201 Organisationssoziologie, Geschichte der ~ 66 Organisationstypen 249, 253 Organisieren als Prozess 138, 161, 162, 170, 195, 197 Parteien 268 Person 23, 24, 31, 32, 33, 40, 45, 47, 48, 49, 61, 68, 72, 73, 74, 76, 77, 80, 85, 95, 96, 97, 98, 101, 102, 103, 104, 106, 108, 109, 111, 112, 113, 116, 117, 125, 145, 146, 154, 155, 161, 163, 172, 173, 175, 188, 220, 224, 267 bei Luhmann 103 Personal 19, 23, 29, 31, 32, 33, 35, 39, 43, 47, 60, 80, 83, 95, 96, 97, 101, 104, 105, 106, 108, 109, 110, 113, 114, 115, 116, 117, 125, 133, 141, 145, 146, 154, 155, 156, 161, 171, 172, 173, 199, 215, 216, 223, 233 Personalentwicklung 126 Personalpolitik 108, 109 Personalpolitik 97, 109, 115 Prinzipal 108, 125, 143, 144, 145, 147, 148, 156, 160, 175, 192, 202, 203, 222, 223, 224, 234, 237, 239 <?page no="320"?> 320 10 Schlagwortverzeichnis Profit 126, 146, 147, 223 Profitmotiv 146 Programm 66, 70, 82 Rationalität 59, 68, 77, 108, 156, 157, 159, 161, 169, 171, 190, 225 Rationalitätsfassade 69, 160, 193, 225 Regeln, ungeschriebene 193, 194, 201, 205, 225, 227 Ressource 23, 69, 70, 72, 73, 75, 77, 84, 103, 106, 108, 112, 116, 117, 125, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 143, 147, 156, 157, 168, 172 Sanktion 78, 112, 130, 139, 140, 147, 148, 156, 189, 211, 223, 224, 234, 236, 237 Schema Deutungsschema 24, 197, 205 Schema, kognitiv 195 Zweck-Mittel-Schema 68 Selbstreferenz 146 Sinnerzeugung 197, 199, 203 Status 31, 61, 101, 144, 145, 147, 199, 224, 225 Stelle 47, 109, 119 Steuerung 24, 75, 158, 160, 199, 200, 201 Strategie 108, 137, 153, 155, 162, 168, 169, 170, 175, 176, 215 Strategiefähigkeit 76, 162, 169, 171 Tausch 23, 47, 48, 135 Tradition 37, 77, 189 Umwelt, institutionelle 84, 200, 204 Ungewissheitszone 114, 134, 135, 136, 137, 139, 148 Unternehmen 294 Unternehmenskultur 192 Verein 273 Vergemeinschaftung 48 Vergemeinschaftungsform 33, 37, 40 Vergesellschaftung 47 Wandel, organisationaler 172, 201 Willkür 58, 59, 64, 65 <?page no="321"?> BUCHTIPP Das Lehrbuch stellt das statistische Grundlagenwissen nicht nur für die soziologische Grundausbildung, sondern auch für die benachbarten Fächer in den Sozialwissenschaften zusammen: von der numerischen und grafischen Beschreibung einzelner Variablen, über die Analyse von Zusammenhängen zweier Variablen bis hin zu multivariaten Analyseverfahren wie lineare und logistische Regression. Rainer Diaz-Bone Statistik für die Soziologie 6., überarbeitete Auflage 2023, 314 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-5976-1 eISBN 978-3-8385-5976-6 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="322"?> BUCHTIPP Dieses Buch gibt einen Überblick über die Grundlagen des Projektmanagements. Schritt für Schritt erfahren die Leser: innen, wie Projektmanagement funktioniert und worauf zu achten ist. Durch zahlreiche Fallstudien und Unternehmensbeispiele ist das Lehrbuch besonders praxisnah. Merksätze, Zusammenfassungen und Aufgaben erleichtern das Verständnis und helfen das Gelernte zu überprüfen. Das Buch gliedert sich in insgesamt sechs Kapitel: Es beginnt mit den wesentlichen Grundlagen und Begrifflichkeiten des Projektmanagements. Es folgt eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur selbständigen Organisation eines Projekts entlang der typischen Phasen Initiierung, Planung, Anleitung, Durchführung und Abschluss. Das Buch endet mit einer Zusammenfassung und Hinweisen der Autorin, warum in der Praxis viele Projekte scheitern. Antje Ries Projektmanagement Schritt für Schritt Arbeitsbuch 2., überarbeitete Auflage 2022, 184 Seiten €[D] 29,90 ISBN 978-3-8252-5973-0 eISBN 978-3-8385-5973-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="323"?> BUCHTIPP Die Organisation eines Unternehmens hat erhebliche Auswirkungen auf Kosten, Produktivität, Qualität und auf das Verhalten und die Motivation der Mitarbeiter. Damit ist sie ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Die vielen Reorganisationen in den letzten Jahren zeigen, dass die Bedeutung der Organisation erkannt wurde. Sie gilt heute als strategische Managementfunktion und damit als wesentlicher Baustein für die zielorientierte Steuerung und langfristige Erfolgssicherung. Dieses kompakte und praxisorientierte Lehrbuch behandelt die zentralen Themen Aufbauorganisation und Prozessorganisation und gibt einen Überblick über neuere, praxisrelevante Konzepte. Die Themen organisatorischer Wandel und Zukunftstrends werden ebenfalls aufgegriffen. Christiana Nicolai Betriebliche Organisation 4., überarbeitete Auflage 2023, 367 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8252-8815-0 eISBN 978-3-8385-8815-5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="324"?> Der Band lädt zum organisationssoziologischen Denken ein. Anhand empirischer Beispiele und Fallstudien wird in zentrale Begriffe, Konzepte und Perspektiven der Organisationssoziologie eingeführt und den Leser: innen ein ebenso fundierter wie praktischer Einstieg in deren Fragestellungen, Themen und Erklärungsformen ermöglicht. Dabei spannt sich der inhaltliche Bogen von der Darlegung eines sozialwissenschaftlichen Verständnisses der Organisation und der Klassifizierung von Typen der Organisation über die Beschreibung zentraler Ansätze der Organisationssoziologie bis zu den Themenbereichen Motivation, Macht, Führung und Strategie. Nicht zuletzt analysiert der Autor auch Fragen der Organisationskultur und der organisationalen Kriminalität. Das Buch bietet Studierenden sozialwissenschaftlicher und auch betriebswirtschaftlicher Studiengänge einen idealen Einstieg in dieses Thema. Soziologie ISBN 978-3-8252-5508-4 Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag UVK. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel
