Die Beobachtung als Methode in der Sportwissenschaft
0613
2022
978-3-8385-5776-2
978-3-8252-5776-7
UTB
Edda van Meurs
Vera Vergeld
Bernd Strauss
Volker Gehrau
10.36198/9783838557762
Die Beobachtung ist ein zentrales Verfahren der wissenschaftlichen Datenerhebung. Sie gewinnt durch die technische Entwicklung noch weiter an Bedeutung: Geräte ermöglichen die automatisierte Aufzeichnung von Verhalten, Bewegungen und (Körper-)Reaktionen auch über längere Zeiträume.
Die Autor:innen stellen die methodischen Spezifika von Beobachtungen dar und erläutern die Durchführung von qualitativen und quantitativen Formen der Beobachtung sowie die daraus entstehenden Daten. Auf dieser Grundlage werden exemplarisch relevante Beobachtungsstudien aus der Sportwissenschaft vorgestellt und fachtypische Fragestellungen untersucht. Dabei gehen die Autor:innen unter anderem auf Spielanalysen, Bewegungsanalysen und die Beobachtung von physiologischen Prozessen ein.
<?page no="0"?> Edda van Meurs | Vera Vergeld Bernd Strauss | Volker Gehrau Die Beobachtung als Methode in der Sportwissenschaft <?page no="1"?> utb 5776 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 23: 51 23.03.2022 10: 23: 51 <?page no="2"?> Edda van Meurs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Sportpsychologie in Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind sozialer Einfluss im Sport sowie motorische Entwicklung. Dr. Vera Vergeld ist Psychologin am Schmerzzentrum des Bonifatius Krankenhauses Lingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind sportpsychologische Themen in Prävention und Rehabilitation, Bewegungsangst und Bewegungsvorstellung. Prof. Dr. Bernd Strauss ist Professor für Sportpsychologie an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind Expertise, sozialpsychologische Fragen und Forschungsmethoden. Prof. Dr. Volker Gehrau lehrt Kommunikationswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster. <?page no="3"?> Edda van Meurs | Vera Vergeld Bernd Strauss | Volker Gehrau Die Beobachtung als Methode in der Sportwissenschaft UVK Verlag · München <?page no="4"?> Umschlagabbildung: © Anna_leni/ shutterstock.com Abbildungen im Innenteil: Abbildung 13: © Benito Santos, Theron, Losada, Sampaio, Lago-Peñas, CC-BY; Abbildung 15: Mit freundlicher Genehmigung des Medienlabors IfS Autor: innenfotos: Edda van Meurs: privat; Vera Vergeld: privat; Bernd Strauss: © FEPSAC 2019 (Peter Leßmann, Markella Moraki); Volker Gehrau: privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838557762 © UVK Verlag 2022 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5776 ISBN 978-3-8252-5776-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5776-2 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5776-7 (ePub) <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................................. 9 Literatur ............................................................................................................... 12 1 Einleitung .............................................................................................. 13 Literatur ............................................................................................................... 17 2 Methode der Beobachtung.................................................................. 19 2.1 Gegenstand.......................................................................................................... 19 2.1.1 Definition............................................................................................................. 19 2.1.2 Abgrenzung......................................................................................................... 20 2.1.3 Entwicklung ........................................................................................................ 22 2.2 Varianten und Merkmale ................................................................................. 24 2.2.1 Interne versus externe Beobachtung ............................................................. 26 2.2.2 Selbstversus Fremdbeobachtung.................................................................. 28 2.2.3 Teilnehmende versus nichtteilnehmende Beobachtung ........................... 30 2.2.4 Offene versus verdeckte Beobachtung.......................................................... 33 2.2.5 Wissentliche versus unwissentliche Beobachtung..................................... 34 2.2.6 Feldversus Laborbeobachtung...................................................................... 36 2.2.7 Beobachtung mit versus ohne Stimulus ....................................................... 37 2.2.8 Standardisierte versus nichtstandardisierte Beobachtungsprotokolle... 38 2.2.9 Manuelle versus apparative Beobachtungsprotokolle............................... 42 2.2.10 Direkte versus indirekte Beobachtung.......................................................... 43 2.2.11 Unvermittelte versus vermittelte Beobachtung .......................................... 45 2.2.12 Kombinationen von Beobachtungsvarianten .............................................. 46 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung.................................................................. 47 2.3.1 Qualitätssicherung bei quantitativen Beobachtungen .............................. 48 2.3.2 Qualitätssicherung bei qualitativen Beobachtungen ................................. 55 2.3.3 Forschungsethik ................................................................................................. 59 Literatur ............................................................................................................... 63 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 3 Durchführung von Beobachtungsstudien....................................... 67 3.1 Qualitative und quantitative Beobachtungsstudien .................................. 67 3.2 Qualitative Beobachtung : Konstitution des Forschungsfeldes ................. 71 3.2.1 Forschungsfeld und Forschungsfrage ........................................................... 72 3.2.2 Feldzugang .......................................................................................................... 74 3.3 Qualitative Beobachtung : Aktivitäten im Feld............................................. 76 3.3.1 Transparenz herstellen und Regeln vereinbaren ....................................... 77 3.3.2 Teilnehmen ......................................................................................................... 78 3.3.3 Beobachten.......................................................................................................... 80 3.3.4 Erhebung weiterer Daten ................................................................................ 82 3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung ................... 84 3.4.1 Feldnotizen.......................................................................................................... 84 3.4.2 Beobachtungsprotokolle .................................................................................. 85 3.4.3 Aufbereitung und Analyse weiterer Daten ................................................. 87 3.4.4 Codierung............................................................................................................ 87 3.4.5 Theoretical Sampling........................................................................................ 92 3.4.6 Beobachtungsbefunde ...................................................................................... 93 3.5 Quantitative Beobachtung: Konzeption ......................................................... 93 3.5.1 Fragestellung ...................................................................................................... 94 3.5.2 Untersuchungsanlage ....................................................................................... 95 3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl .............................................................. 96 3.6.1 Grundgesamtheit und Beobachtungsobjekte .............................................. 97 3.6.2 Auswahlverfahren ............................................................................................. 99 3.6.3 Beobachtungsobjekt und Beobachtungsfall............................................... 103 3.7 Quantitative Beobachtung : Erhebungsverfahren ...................................... 105 3.7.1 Vorüberlegungen ............................................................................................. 105 3.7.2 Operationalisierung ........................................................................................ 108 3.7.3 Formatierung .................................................................................................... 112 3.7.4 Standardisierung anderer Protokollierungsformen ................................. 114 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase .......................................................... 116 3.8.1 Pretest ................................................................................................................ 116 3.8.2 Schulung ............................................................................................................ 117 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 3.8.3 Feldzugang ........................................................................................................119 3.8.4 Datenerhebung .................................................................................................121 3.8.5 Auswertung und Darstellung........................................................................123 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft .................................. 127 4.1 Gegenstand und Systematik ..........................................................................127 4.1.1 Die Sportwissenschaft ....................................................................................127 4.1.2 Sport, Bewegung, physische Aktivität und ihre Determinanten ..........130 4.1.3 Arten von Daten ..............................................................................................133 4.1.4 Systematik von Beobachtungsverfahren in der Sportwissenschaft .....136 4.2 Verhaltensbeobachtung ..................................................................................139 4.2.1 Spielanalyse.......................................................................................................139 4.2.2 Ermittlung der physischen Aktivität...........................................................143 4.2.3 Messung von Blickverhalten .........................................................................145 4.2.4 Stichproben- und situationsspezifisches Verhalten..................................147 4.3 Bewegungsbeobachtung.................................................................................152 4.3.1 Bewegungsanalyse ..........................................................................................152 4.3.2 Motorische Tests ..............................................................................................154 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität .....158 4.4.1 Physiologische Messungen ............................................................................159 4.4.2 Dynamometrie..................................................................................................162 4.4.3 Elektrophysiologische Verfahren .................................................................163 4.4.4 Bildgebende Verfahren ...................................................................................166 4.4.5 Transkranielle Magnetstimuluation ............................................................168 4.5 Fazit und Ausblick ...........................................................................................169 Literatur .............................................................................................................171 <?page no="9"?> Vorwort Wenn Menschen Informationen brauchen, beobachten sie ihre Umwelt, d.h., sie nehmen ihre Umwelt bewusst mit ihren Sinnen - insbesondere visuell und auditiv - wahr. Auch im Kontext erfahrungsbasierter Wissenschaften ist die Beobachtung seit jeher die zentrale Methode der Informationsbeschaffung, so auch in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Wissenschaftliche Beobachtungsverfahren haben in jüngster Zeit durch technische Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Zum einen ermöglichen Geräte die automatisierte Aufzeichnung von Verhalten, Bewegungen oder (Körper-)Reaktionen auch über längere Zeiträume. Zum anderen hinterlassen Menschen bei der Mobilkommunikation und bei der Nutzung des Internets Spuren, die sich auslesen und in Bezug auf das zugrunde liegende Verhalten analysieren lassen. Beides führt bereits jetzt zu einem gewissen Boom von Beobachtungsverfahren in speziellen Fächern, welche Anregungen für andere Disziplinen bieten können. Auch der Bedeutungsgewinn qualitativer und ethnographischer Forschungen geht mit einem wachsenden Interesse an Beobachtungsverfahren einher. Vor dieser Entwicklung hatte die Beobachtung in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften eher an Bedeutung verloren, insbesondere zugunsten der wissenschaftlichen Befragung, weil es einfacher und deutlich kostengünstiger ist, Personen zu ihrem Verhalten zu befragen als sie dabei zu beobachten. Oft ist aber erinnertes und berichtetes Verhalten kein guter Indikator für tatsächliches Verhalten. Deshalb war und ist die Beobachtung gerade in Bereichen, in denen komplexe individuelle und soziale Verhaltensweisen im Mittelpunkt stehen, die geeignetere Methode. Recherchen vor der Konzeption dieses Buches ergaben, dass im Gegensatz zur Befragung, Inhaltsanalyse oder zu anderen speziellen Erhebungsverfahren kein aktuelles Einführungsbuch zur Beobachtung existiert. Und vorhandene ältere Darstellungen zur Beobachtung berücksichtigen die Anforderungen und Chancen nicht, die die Beobachtung durch die technische und methodologische Entwicklung erfährt. So reifte der Entschluss, eine aktuelle und übergreifende Darstellung der wissenschaftlichen Beobachtung zu verfassen. Die Darstellung ist unabhängig von Disziplinen sowie Forschungstraditionen konzipiert und kann damit nicht allen spezifischen Ansprüchen gerecht werden, zumal der übergreifende Charakter bestimmte eher unübliche Entscheidungen nötig machte: Entscheidung 1: Disziplinäre Verortung . Das vorliegende Buch ist ein Band einer Reihe einführender Methodenbücher zur Beobachtung, die jeweils unterschiedliche Sozial- und Verhaltenswissenschaften fokussieren. Die Grundidee und Grundlage zu dieser Reihe lieferte das Buch Die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft (Gehrau 2002). Die methodischen Teile dieses Buches wurden <?page no="10"?> 10 1 Einleitung im Wesentlichen von Volker Gehrau aktualisiert und so verfasst, dass sie ohne Bezüge und Beispiele zu einem bestimmten Fach auskommen und verständlich sein sollten. Die speziellen Abschnitte zur qualitativen Beobachtung wurden von Christoph Weischer und Volker Gehrau neu hinzugefügt. Diese allgemeinen methodischen Teile werden durch die fachwissenschaftlichen Vertreterinnen und Vertreter jeweils um Beispiele aus den einzelnen Disziplinen ergänzt. In einer ersten Runde werden so gleichzeitig drei Bände publiziert: Die Beobachtung in der Erziehungswissenschaft (van Ophuysen, Bloh & Gehrau 2017), Die Beobachtung in der Kommunikations- und Medienwissenschaft (Gehrau 2017), Die Beobachtung in der Soziologi e (Weischer & Gehrau 2017) sowie Die Beobachtung in der Politikwissenschaft (Schlipphak, Treib & Gehrau 2020). 2022 kam dann Die Beobachtung in der Sportwissenschaft von Edda van Meurs, Vera Vergeld, Bernd Strauss und Volker Gehrau hinzu. Die gemeinsame Arbeit an den Büchern führte uns einerseits immer wieder vor Augen, wie stark die theoretische und methodische Einbettung der Beobachtung in und zwischen den jeweiligen Disziplinen variiert. Andererseits wurde deutlich, wie inspirierend der Blick über den Tellerrand des eigenen Faches sein kann. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, haben wir uns dafür entschieden, alle Variationen gleichberechtigt zu diskutieren. Dies impliziert, dass durchaus Aspekte vorgestellt werden, die in der jeweiligen Disziplin von eher untergeordneter Bedeutung sind, wohingegen andere Aspekte, die sonst klar im Zentrum stehen, hier vergleichsweise kurz angerissen werden. Das mag zu Unzufriedenheit in einzelnen Bereichen führen, soll aber anregen, auch über alternative Beobachtungsvarianten nachzudenken. Entscheidung 2: Quantitatives versus Qualitatives Paradigma. Mit dem vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, qualitative und quantitative Beobachtungsansätze gleichberechtigt darzustellen. Bislang haben alle uns bekannten Darstellungen einen klaren Fokus, oft wird sogar ausschließlich eine Variante diskutiert. Das ist insofern verständlich, als sich beide Varianten grundlegend unterscheiden und viele (Teil-)Disziplinen nahezu ausschließlich nach einer Variante vorgehen. Der interdisziplinäre Ansatz der vorliegenden Buchreihe sowie der Anspruch der beteiligten Autorinnen und Autoren machen es aber erforderlich, beide Varianten möglichst angemessen zu präsentieren. Die vorliegende Fassung ist der erste Versuch, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden. Ob dies gelungen ist, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden. So werden in dem Buch fast durchgängig Beispiele und Besonderheiten sowohl qualitativer als auch quantitativer Zugänge nebeneinander vorgestellt. Lediglich im dritten Kapitel werden zunächst die typischen Schritte und Entscheidungen qualitativer Beobachtungsstudien beschrieben und anschließend die typischen Schritte und Entscheidungen quantitativer Beobachtungsstudien. So können Leserinnen und Leser, die sich nur für eine der beiden Varianten interessieren, deren Durchführung in unterschiedlichen Spielarten kennenlernen, ohne die jeweils andere zur Kennt- <?page no="11"?> 1 Einleitung 11 nis nehmen zu müssen. Nichtsdestotrotz ist es unseres Erachtens für alle anregend, sich auch mit der jeweils anderen Variante vertraut zu machen. Entscheidung 3: Wege der Vermittlung . Wissen über Beobachtung als Methode der Datenerhebung kann über drei verschiedene Wege vermittelt werden: (1) über die Darstellung der methodischen Besonderheiten wissenschaftlicher Beobachtungen, (2) über die Darstellung der Anforderungen bei der praktischen Durchführung von Beobachtungsprojekten oder (3) über die Darstellung exemplarischer Beobachtungsstudien in einem Fach. Die Kapitel zwei bis vier des vorliegenden Buches sollen alle drei Zugänge ermöglichen, und zwar in einer Darstellungsweise, die auch in anderer als der hier vorgeschlagenen Reihenfolge verständlich sein sollte. Insofern ist es den Leserinnen und Lesern überlassen, wie sie in das Thema einsteigen möchten. Die drei Kapitel unterscheiden sich auch deutlich in ihrem Rückgriff auf einschlägige Literatur. So wird in Kapitel zwei (Methode) auf die für die Beobachtung relevante Methodenliteratur verwiesen, und zwar insbesondere auf solche, die disziplinübergreifend wichtig erscheint. Da bestimmte Disziplinen besondere methodische Anforderungen an die Beobachtung stellen, wird an entsprechenden Stellen aber auch mit fachspezifischen Methodenbüchern gearbeitet. Hingegen folgt das Kapitel drei (Praktische Durchführung) eher der Logik eines Tutorials, in dem unterschiedliche Varianten, Wege und dazugehörige Entscheidungen aufgezeigt werden. Dieses Kapitel verbleibt ohne zusätzliche Literaturhinweise, da es weitgehend auf Ideen aus der Literatur des vorherigen Kapitels zurückgreift. Um die Lesbarkeit zu fördern und um den Fokus nicht auf einzelne Positionen und Vorlieben bei der Beobachtung zu verengen, wurde bewusst ohne Einzelverweise gearbeitet. Im abschließenden vierten Kapitel (Exemplarische Studien) liegt der Fokus auf der fachspezifischen Anwendung wissenschaftlicher Beobachtungen. Dies erfolgt weitgehend anhand der Darstellung publizierter empirischer Studien aus der jeweiligen Disziplin, in der jeweils fachtypische Fragestellungen untersucht werden. Wir bedanken uns hierfür über die kritische Prüfung und richtungweisenden Anmerkungen von Dominik Krüßmann, Dr. Nils Pixa, Dr. Sydney Querfurth und Dr. Linda Schücker. Wir hoffen, uns mit den skizzierten Entscheidungen nicht gänzlich zwischen die Stühle gesetzt zu haben und bei den Leserinnen und Lesern Interesse an der Beobachtung zu wecken, relevantes, anwendbares Wissen über diese zu vermitteln. Münster, im Frühjahr 2022 Edda van Meurs, Vera Vergeld, Bernd Strauss und Volker Gehrau <?page no="12"?> Literatur Gehrau, Volker (2002). Die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UTB. Gehrau, Volker (2017). Die Beobachtung als Methode in der Kommunikationswissenschaft . Konstanz & München: UTB. Schlipphak, Bernd, Treib, Oliver & Gehrau, Volker (2020). Die Beobachtung als Methode in der Politikwissenschaft. Konstanz & München: UTB. Van Ophuysen, Stefanie, Bloh, Bea & Gehrau, Volker (2017). Die Beobachtung als Methode in der Erziehungswissenschaft. Konstanz & München: UTB. Weischer, Christoph & Gehrau, Volker (2017). Die Beobachtung als Methode in der Soziologie. Konstanz & München: UTB. 12 Literatur <?page no="13"?> 1 Einleitung „Wie geht’s? “ Diese Frage stand hinter einem Beobachtungsverfahren, das Bestandteil der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933/ 1975) war. Die Forschergruppe hatte das Ziel, die Auswirkung der hohen Arbeitslosigkeit auf die Befindlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner Marienthals Anfang des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei verwendeten sie ganz unterschiedliche Datenerhebungsverfahren. Sie beobachteten z.B., wie die Bewohner von Marienthal einen öffentlichen Platz überquerten. Die so erhobenen Daten förderten ein Bild einer müden Gesellschaft zutage, in der es kaum Antrieb und Hoffnung gab, und die gleichzeitig durch einen doppelten Zeitverlauf gekennzeichnet war. Als Maß dafür diente einerseits die Gehgeschwindigkeit - Frauen gingen deutlich schneller als Männer - und andererseits die Häufigkeit des Stehenbleibens. Männer blieben öfter stehen als Frauen. Die Männer hatten durch die Arbeitslosigkeit die Zeitstruktur verloren - die Zeit verging für sie, ohne dass Wichtiges geschah. Bei den Frauen strukturierte demgegenüber die Arbeit für Haus und Familie noch einen Großteil des Lebens - ihre Zeit war verarbeitete Zeit ( Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1933/ 1975 sowie Diekmann 1995: 459-466). Mit einer klassischen Befragung hätte man wahrscheinlich eher geschönte Auskünfte über die Befindlichkeit der Menschen in Marienthal erhalten; so wie bei den typischen Antworten auf die Frage: „Wie geht’s? “ Ähnlich wie die Forscherinnen und Forscher in der Marienthal-Studie beobachten auch Menschen im Alltag ihr Umfeld und insbesondere die darin agierenden Personen, um alltagsrelevante Informationen zu erhalten. Die zur Informationsgewinnung im Alltag genutzten Vorgehensweisen gehen jedoch über das Beobachten hinaus. Sie lassen sich grob in drei Bereiche einteilen, wobei die Grenzen unschärfer sind als hier idealtypisch dargestellt. Ausgangspunkt des Illustrationsbeispiels sei eine Person, die auf einen Platz in einer größeren Stadt kommt, dort eine Gruppe von Menschen vorfindet, die auf ungewöhnliche Art miteinander interagieren. Sie möchte verstehen, was die Gruppe macht. Dazu wird sie vermutlich zunächst stehenbleiben und zuschauen, was die Menschen in der Gruppe tun. Wenn das zu keinem befriedigenden Resultat führt, wird die Person wahrscheinlich jemanden fragen, was die Gruppe macht. Wenn auch das nicht die gewünschte Erkenntnis bringt, wird sie eventuell noch versuchen, Informationen über aktuelle Veranstaltungen oder über den Ort zu recherchieren, um herauszufinden, was dort gerade passiert. In diesem Beispiel werden drei Arten der alltäglichen Informationsbeschaffung genannt, die sich in ähnlicher Weise als Methoden der wissenschaftlichen Datenerhebung wiederfinden lassen. Dem Geschehen zuzusehen ähnelt der wissenschaftlichen Beobachtung, mit Menschen zu reden, um von diesen bestimmte Informationen zu erhalten, entspricht der <?page no="14"?> 14 1 Einleitung Grundidee wissenschaftlicher Befragungen, und die Suche von Informationen in Texten zum interessierenden Phänomen weist Parallelen zur wissenschaftlichen Inhaltsanalyse auf. Wenngleich sich die wissenschaftlichen Datenerhebungen mittels Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse durchaus deutlich von den angesprochenen Alltagspraktiken unterscheidet (die wissenschaftliche Beobachtung ist insbesondere systematisch angelegt und dokumentiert ihr Vorgehen ebenso wie ihre Ergebnisse) sind die Grundlogik des jeweiligen Vorgehens und die dabei auftretenden Probleme dennoch ähnlich gelagert. Diese entstehen bei der Gewinnung der nötigen Angaben (Können diese überhaupt erlangt werden? ) und deren Interpretation (Können aus diesen die nötigen Informationen gezogen werden? ). Aus der Analogie zwischen wissenschaftlicher Datenerhebung und alltäglichem Problemlösen lassen sich also nicht nur die grundlegenden Verfahren Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse ableiten, sondern auch ihre Besonderheiten. Eine Einschränkung der Beobachtung ist weitreichend: Es können nur Sachverhalte beobachtet werden, die sich beobachten lassen, also sinnlich oder apparativ von außen feststellen lassen. Dinge, die im Privaten, Geheimen oder im Inneren einer Person stattfinden, können nicht beobachtet werden. Bei zu untersuchenden Dingen, die beobachtet werden können und dürfen, treten typischerweise zwei weitere Fragen auf. Zunächst muss reflektiert werden, ob das Beobachtete natürlich war und nicht durch die Beobachtung selbst bzw. die Beobachter erst veranlasst oder in relevanter Weise beeinflusst wurde. Vor allem ist zu erwarten, dass Personen, die wissen, dass sie beobachtet werden, eher akzeptierte und sozial erwünschte Verhaltensweisen ausführen und unerwünschte vermeiden werden. In diesem Punkt weist die Beobachtung Parallelen zur Befragung auf, weil auch bei dieser typischerweise eher gewünschte Angaben gemacht und unerwünschte vermieden werden. Beide Verfahren sind also von möglicher Reaktivität betroffen. Das zweite Problem der Beobachtung liegt in der Identifikation und Interpretation beobachteter Aspekte. Beides ist stark abhängig von denjenigen, die die Beobachtung durchführen. Hier ergeben sich Parallelen der Beobachtung zur Inhaltsanalyse , da es bei beiden nötig ist, denjenigen, die die Datenerhebung ausführen, klarzumachen, wann Aspekte auf welche Art festzuhalten sind und wann nicht. Dadurch ergeben sich bei beiden Verfahren Probleme der Reliabilität bzw. der Objektivität . Beim Verständnis der wissenschaftlichen Beobachtung ist es deshalb nötig, an bestimmten Stellen auch die wissenschaftliche Befragung und die wissenschaftliche Inhaltsanalyse zu betrachten. <?page no="15"?> 1 Einleitung 15 Abb. 1 | Basisverfahren der Datenerhebung Die wissenschaftliche Beobachtung ist der Gegenstand der weiteren Darstellung und wird ab jetzt zur Vereinfachung als Beobachtung bezeichnet. Sie ist das klassische Verfahren, um Verhalten und Reaktionen von Personen zu erfassen. Hierin ist sie beiden anderen Datenerhebungsverfahren deutlich überlegen. In Inhaltsanalysen lassen sich nur Handlungsergebnisse der Autoren bzw. Produzenten der Text erfassen. Zwar umfassen die Texte selbst auch Handlungen der dargestellten Akteure. Diese sind aber nur sehr eingeschränkt als Indikatoren für Alltagshandlungen brauchbar, da ihre Darstellung stark von den Aufbereitungsregeln der jeweiligen Textsorte geprägt ist. Deshalb sagt der Umgang von Ärztinnen und Ärzten mit Patientinnen und Patienten in Krankenhausserien wahrscheinlich mehr über die Produktionslogik von Serien aus als über den Krankenhausalltag. Solange es sich bei zu untersuchenden Verhaltensweisen um außergewöhnliche und bewusst ausgeführte Handlungen handelt, lassen sich diese auch in Befragungen ermitteln, z.B. dem Vorgehen beim Kauf eines teuren Fahrrades. Wird das interessierende Verhalten aber im Alltag oft und unbewusst ausgeführt, wie z.B. das Grüßen anderer Personen, lassen sich diesbezüglich kaum brauchbare Informationen erfragen. Beobachtungen sind auch dann als Mittel der Datenerhebung angezeigt, wenn mit dem Untersuchungsobjekt nicht angemessen kommuniziert werden kann, z.B. weil es noch nicht reden kann (wie Kleinkinder) oder Forschende und Untersuchte keine gemeinsame Sprache sprechen. Beobachtungsstudien sind zwar aufwändig, liefern aber, wenn es um Verhalten und Reaktionen von Menschen geht, alltagsnahe und aussagekräftige Ergebnisse. Phänomene, die quasi im Inneren einer Person stattfinden, die sein Wissen, seine Gefühle, Vorstel- Beobachtung Befragung Inhaltsanalyse ansehen einholen lesen Handlungen Auskünfte Texte Reaktivität Reliabilität <?page no="16"?> 16 1 Einleitung lungen und Gedanken betreffen, lassen sich hingegen in der Regel nicht direkt beobachten. Eine Ausnahme stellen z.B. starke Emotionen wie Ekel dar, die sich über die Mimik einer Person erfassen lassen. Wegen ihrer Stärken im Bereich der Erfassung von Verhalten und Reaktionen von Personen wird die Beobachtung in den unterschiedlichen sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen bei Fragestellungen zum Alltagverhalten eingesetzt. Das betrifft in unterschiedlichen Fachdisziplinen unterschiedliche typische Anwendungsfelder der Beobachtung. Hier einige nicht systematisch ausgewählte Beispiele: In ethnologischen Studien wird beobachtet, wie sich das Alltagsleben in einfachen Gemeinschaften gestaltet oder wie sich Alltagspraxen in Subkulturen entwickeln und vollziehen. In der Soziologie wird beobachtet, wie der Alltag in Familien abläuft oder wie Alltagsgespräche stattfinden. Forschende in den Wirtschaftswissenschaften beobachten die Arbeitsweisen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie das Kaufverhalten von Konsumentinnen und Konsumenten. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft wird beobachtet, wie Kommunikatoren Medienangebote erstellen und das Publikum diese Medienangebote im Alltag nutzt. Aggressionsverhalten junger Erwachsener ist ebenso Gegenstand psychologischer Studien wie die Exploration eines Spielzimmers von Kleinkindern. In der Sportwissenschaft werden Sportlerinnen und Sportler beim Training und bei Wettkämpfen beobachtet. In Rahmen erziehungswissenschaftlicher Studien wird beobachtet, wie sich Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte im Unterricht verhalten oder Kleinkinder in Kitas untereinander interagieren. In der Politikwissenschaft wird das Verhalten von Politikinnen und Politikern im Wahlkampf beobachtet oder diejenigen, die gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen, werden bei den dazu durchgeführten Handlungen beobachtend begleitet. In den Verkehrs- oder Geowissenschaften wird beobachtet, wie Personen Distanzen überbrücken und wie sie sich in bestimmten Verkehrssituationen verhalten. Selbst in medizinischen Studien wird beobachtet, wie die Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten erfolgt oder welche gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen Menschen mit bestimmten Krankheitsrisiken zeigen. Die Liste der Disziplinen ließe sich problemlos erweitern. So unterschiedlich die aufgeführten Beispiele auch sein mögen, ein Merkmal haben sie alle gemeinsam: Es handelt sich um relativ eindeutige Verhaltensweisen, die sich gut extern beobachten lassen, aber kaum über Befragungen zu erheben wären, weil die Befragten die zu untersuchenden Verhaltensweisen eher unbewusst und beiläufig ausführen und deshalb über diese in Befragungen nur ungenau Auskunft geben können. Man könnte diese Beispiele als das klassische Terrain der Beobachtung bezeichnen. Mit der Verbreitung von Computern und dem Siegeszug von Internet, sozialen Netzwerken und mobiler Kommunikation hat sich schließlich ein neuer Typ von Beobachtungsstudien entwickelt: die Beobachtung von Verhaltensspuren, die bei der Nutzung von digitalen Endgeräten und Angeboten anfallen. Durch Erfassung <?page no="17"?> Literatur 17 und Aufbereitung solcher Verhaltensspuren lassen sich große Teile des heutigen Arbeits- und Alltagsverhaltens nachvollziehen und analysieren. Je nachdem, welche technischen und inhaltlichen Bereiche der Kommunikation und welche Akteure man dabei betrachtet, lassen sich relevante Informationen für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und Fragestellungen generieren. Die Daten müssen dafür nicht mehr extra erhoben werden, da sie technisch sowieso anfallen. Sie müssen jedoch aufbereitet und analysiert werden, was gegebenenfalls auch einen erheblichen Aufwand mit sich bringen kann. Vordergründig mag diese Entwicklung in Richtung von Big-Data-Studien gehen. Das ist aber nicht zwangsläufig, da sich so auch typische qualitative und quantitative sozial- und verhaltenswissenschaftliche Studien mit Verhaltensspuren im Netz durchführen lassen. Die umfassende Darstellung dieser Vielfalt an möglichen wissenschaftlichen Beobachtungsverfahren, ihrer methodischen Voraussetzungen und Implikationen ist Thema der folgenden Kapitel. Literatur Diekmann, Andreas (2010). Empirische Sozialforschung . Reinbek: Rowohlt. Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul F. & Zeisel, Hans (1933/ 1975). Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziologischer Versuch über die Wirkung langandauernder Arbeitslosigkeit. Leipzig: Hirzel / Frankfurt a.M.: Suhrkamp. <?page no="19"?> 2 Methode der Beobachtung 2.1 Gegenstand Die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Beobachtung ist ein empirisches Verfahren zur Untersuchung menschlicher Verhaltensweisen und Reaktionen im weitesten Sinne. Sie grenzt sich damit von naturwissenschaftlichen Beobachtungsverfahren ab, mit denen z.B. physikalische Zustände wie die Temperatur eines Gases gemessen oder das Verhalten von Tieren in ihrem natürlichen Umfeld erfasst wird. Es ist aber auch von einer Verwendung des Begriffs Beobachtung als Synonym für alle Arten von empirischen Untersuchungen zu unterscheiden. Entsprechende Studien analysieren z.B. Phänomene anhand von hoch aggregierten Daten im Zeitverlauf und werden oft als Beobachtungen der Kriminalitätsentwicklung, Beobachtung von Marktbewegungen oder Beobachtung von Gesellschaftstrends bezeichnet. 2.1.1 Definition Die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Beobachtung ist die systematische Erfassung und Protokollierung von sinnlich oder apparativ wahrnehmbaren Aspekten menschlicher Handlungen und Reaktionen, solange diese nicht rein auf durch Forschende initiierte Kommunikation basieren oder in Form editierter Dokumente vorliegen. Sie dient einem wissenschaftlichen Ziel, ist prinzipiell wiederholbar und legt alle relevanten Aspekte offen. Diese Definition basiert auf einer systematischen Zusammenstellung wissenschaftlicher Definitionen und der daraus resultierenden Arbeitsdefinition von Gehrau (2002: 25-27) sowie der berechtigten Kritik daran von Brosius, Haas und Koschel (2016: 183-185). Zum besseren Verständnis lohnt es, die wesentlichen Komponenten einzeln zu betrachten: • Bei der Beobachtung handelt es sich um ein systematisches Vorgehen, d.h., es gibt Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens und Reflektierens, denen die wissenschaftliche Beobachtung folgt. Das bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass das Vorgehen standardisiert stattfindet. Auch nichtstandardisierte Beobachtungen folgen bestimmten Regeln und sind nicht der Willkür der Forschenden überlassen. • Das Interessierende wird protokolliert bzw. erfasst, d.h., es wird in ein Symbolsystem für die weitere Bearbeitung überführt, wobei nicht festgelegt ist, ob es sich dabei um Texte oder Zahlen handelt. • Gegenstand der Beobachtung sind theoretisch alle Aspekte menschlichen Handelns bzw. menschlicher Reaktionen. Das schließt sowohl alle Verhaltens- <?page no="20"?> 20 2 Methode der Beobachtung weisen ein als auch körperliche Reaktionen, wie z.B. Herzklopfen oder Schwitzen. • Die beobachteten Aspekte müssen sinnlich oder apparativ wahrnehmbar sein. Sie müssen also entweder von einem Menschen gesehen, gehört oder auch gerochen werden oder durch entsprechende Apparate erfasst werden können. • Beobachtungen dienen einem wissenschaftlichen Ziel und damit zumindest einem avisierten Erkenntnisgewinn. Ob sie aber z.B. Theorien entwickeln helfen oder diese testen sollen, ist nicht entscheidend. • Ihr Vorgehen ist so angelegt, dass es zumindest in ähnlicher Form von anderen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern wiederholt werden kann, um zu überprüfen, ob die Resultate replizierbar und die daraus gezogenen Schlüsse angemessen sind. • Dazu ist es nötig, dass alle für das Vorgehen relevanten Entscheidungen expliziert und offengelegt werden, so dass sie kritisiert und nötigenfalls in Folgestudien verbessert werden können. • Die Aspekte der von Forschenden initiierten Kommunikation und der editierten Dokumente grenzt die Beobachtung von der Befragung sowie der Inhaltsanalyse ab. In einigen Forschungskontexten ist es kaum möglich, Beobachtungen, Befragungen und Inhaltsanalysen voneinander zu trennen, da sie parallel durchgeführt werden und das durch sie entstandene Material gemeinsam ausgewertet wird. Entsprechende Settings waren insbesondere zu Beginn der wissenschaftlichen Beobachtung häufig vorzufinden. 2.1.2 Abgrenzung Zunächst einmal lässt sich die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Beobachtung von der Alltagsbeobachtung durch ihre Systematik und ihr wissenschaftliches Ziel abgrenzen. Alltagsbeobachtungen dienen zwar auch der Orientierung und dem Informationsgewinn; sie dienen aber keinem primär wissenschaftlichen Zweck. Wissenschaftliche Beobachtungen sollen demgegenüber Alltagsphänomene explorieren und beschreiben, um daraus wissenschaftliche, insbesondere theoretische Aussagen entwickeln oder die Gültigkeit entsprechender wissenschaftlicher Aussagen anhand von Alltagsphänomenen überprüfen zu können. Darüber hinaus geht die wissenschaftliche Beobachtung systematisch vor. Sie folgt also nicht allein dem Gutdünken der Forschenden, sondern Regeln, welche die Erreichung des wissenschaftlichen Ziels sicherstellen und von unterschiedlichen Forschenden auf ähnliche Weise befolgt werden. Die Einschränkung, dass Beobachtungen nicht auf primär von Forschenden initiierter Kommunikation beruhen, soll die Beobachtung von der Befragung abgrenzen. Streng genommen könnte man bei der Befragung behaupten, es handele <?page no="21"?> 2.1 Gegenstand 21 sich um eine Beobachtung der Antworten der Untersuchten. Zwar kann man die Antworten der Untersuchten mit Recht als Handlungen verstehen, die sich beobachten lassen. Solche Handlungen sind aber insoweit unnatürlich, als sie nur wegen der Untersuchung stattfinden. Es handelt sich nicht um eigenständige Handlung, weil diese von den Untersuchenden durch deren Fragen initiiert wurden. Wichtiger ist aber die Tatsache, dass allein die Untersuchung selbst Anlass für die Handlungen ist, die so in keinem natürlichen Kontext stattfinden würden. Insofern handelt es sich bei der Befragung um eine Untersuchungssituation und Konstellation, die gänzlich anders gelagert ist als bei der Beobachtung. In Befragungen und zwar selbst in nichtstandardisierten Interviews werden alle interessierenden (Antwort-)Handlungen von den Forschenden initiiert und ihr Ablauf bestimmt. Die eigentlichen Handlungen der Untersuchten interessieren den Forschenden dabei in der Regel gar nicht, sondern allein die darüber transportierten Inhalte. In Beobachtungsstudien wäre von Interesse, wie geantwortet wird: schnell oder langsam, hektisch oder überlegt etc. In Befragungsstudien interessiert demgegenüber, was geantwortet wird. Parallelen zwischen der Beobachtung und der Befragung ergeben sich z.B. dann, wenn der verbale Informationsaustausch oder von den Forschenden initiiertes Verhalten beobachtet wird, wobei die Beobachteten angehalten sind, ihr Verhalten zu kommentieren, dem parallelen sogenannten Lauten Denken. Auch wenn Beobachtungen von Personen durchgeführt werden und die Beobachteten wissen, dass sie beobachtet werden, weist die Beobachtung deutliche Parallelen zur Befragung auf. In beiden Verfahren treten ähnliche Probleme in Bezug auf die Rekrutierung der Untersuchten sowie von Einflüssen der Untersuchenden auf die Untersuchten auf. Mit editierten Dokumenten soll eine Grenze zwischen Beobachtung und Inhaltsanalyse gezogen werden: Beobachtungen sind auch anhand von aufgezeichneten Handlungen oder Handlungsspuren möglich. Damit können auch Videoaufnahmen oder z.B. Briefe Gegenstand von Beobachtungsstudien sein. Die Beobachtung interessiert sich dann für die dort festgehaltenen, natürlichen Alltagshandlungen. Anders sind Medieninhalte oder z.B. offizielle Dokumente anzusehen. In diesen mögen zwar Alltagshandlungen nachgespielt oder erwähnt werden, diese sind aber nicht selbst festgehalten. Das Festgehaltene folgt einer bestimmten Aufbereitungs- oder Editierlogik und nicht der Logik von Handlungen im natürlichen Kontext. Medieninhalte und Dokumente lassen sich inhaltsanalytisch untersuchen, und zwar sowohl in Bezug auf die Art ihrer Aufbereitung als auch in Bezug auf die mit ihnen vermittelten Inhalte. Dabei können zwar auch Handlungen und Reaktionen von Menschen Gegenstand der Analyse sein; diese können aber nicht als Alltagshandlungen angesehen werden. Vom Vorgehen sind beide allerdings oft sehr ähnlich, z.B. die Inhaltsanalyse einer Sportübertragung und die Beobachtung von Sportausübung anhand von Videos. Dementsprechend ergeben sich Ähnlichkeiten bei beiden Verfahren in Bezug auf die Art der Codierung des Materials und der dabei auftretenden Fehler durch die Codierer. <?page no="22"?> 22 2 Methode der Beobachtung 2.1.3 Entwicklung Eine einheitliche Darstellung der Entwicklung der Beobachtung liegt nicht vor. Stattdessen verweisen Autoren unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen auf verschiedene Ursprünge, aus denen sich die (teilnehmende) Beobachtung entwickelt hat. Kalthoff (2006: 146; vgl. auch Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 13) geht dabei am weitesten zurück und verweist auf die Entdecker als Ursprung der ethnologischen Forschungstradition. Gemeint sind hiermit ebenso Abenteurer oder Missionare wie Kartographen oder Handelsreisende, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert in die neuen Kolonien gereist sind, dort einige Zeit gelebt haben, um die Kultur kennen zu lernen und dann Reiseberichte oder Dokumentationen in Europa publiziert haben. Zunächst sollten diese helfen, die Kolonien von Europa aus sinnvoll zu administrieren. Darüber hinaus wurden mit ihnen Techniken entwickelt, unterschiedliche Kulturen und deren gesellschaftlichen Praktiken zu dokumentieren und zu analysieren. In dieser Tradition ist z.B. die Publikation Die Argonauten des westlichen Pazifiks von Malinowski (1922) über die Lebensweise der Landbevölkerung in Neuguinea und Malinesien zu erwähnen (Schönhagen 2011: 305). Diese frühen ethnographischen Praktiken werden inzwischen sehr kritisch betrachtet (vgl. Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 19-20). Atteslander (2010: 74) verweist bei seinen Angaben zur Geschichte der Beobachtung auf die Publikation Zur Lage der arbeitenden Klasse in England von Engels aus dem Jahr 1845. Dieser hatte einige Jahre in Manchester verbracht, um die englische Industrialisierung, insbesondere im Bereich der Weberei kennen zu lernen. Dazu trug er sowohl umfassendes statistisches Material zusammen als auch Erfahrungen aus vielfältigen Beobachtungen und Befragungen vor Ort. Vor allem in Bezug auf die zum Teil unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Entsprechende Berichte wurden im England der damaligen Zeit unter dem Stichwort Social Survey erstellt (Atteslander 2010: 74). In den Ausführungen von Diekmann (2010: 548-549) wird daneben auf literarische und journalistische Formen als Vorgänger der Beobachtung hingewiesen. Namentlich erwähnt werden Sinclairs Roman über die Zustände in Chicagoer Schlachthöfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die Publikationen von Kisch zur Lebenssituation von Obdachlosen in London, Hopfenpflückern in Böhmen oder Fischern auf Rügen. Einig sind sich alle Autoren darin, dass der Grundstein zur Etablierung der (teilnehmenden) Beobachtung als Verfahren der wissenschaftlichen Datenerhebung durch die Studien der sogenannten Chicagoer Schule in den 1920er-Jahren gelegt wurde (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 20-25). Unterschiedliche Wissenschaftler begleiteten Personen oder Gruppen, die am Rande der Chicagoer Gesellschaft lebten, über einen längeren Zeitraum, beobachteten und befragten sie, um darüber dichte und authentische Beschreibungen des jeweiligen sozialen Lebens zu erhalten. Als Beispiele <?page no="23"?> 2.1 Gegenstand 23 werden oft die Studien Street Corner Society von Whyte (1943) oder The Gang von Trasher (1927) genannt (z.B. Dieckmann 2010: 549-550). Den wohl wichtigsten europäischen Beitrag lieferten Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933) mit ihrer Studie Die Arbeitslosen von Marienthal . In dieser dokumentieren sie das Leben in einem kleinen, von Massenarbeitslosigkeit betroffenen Ort nahe Wien. Sie erhoben sozialstrukturelle Angaben, befragten Betroffene und beobachteten sie; so diente z.B. das eingangs des Buches erwähnte Gehen über einen öffentlichen Platz als Indikator für die individuelle Motivation und Zielstrebigkeit. Mit dieser Studie sind die ersten, ernsthaften Bestrebungen verbunden, die beobachteten Angaben zu standardisieren, indem jene gezählt und gemessen wurde (siehe auch Dieckmann 2010: 552-560). Als Paradebeispiel für ein voll standardisiertes Beobachtungsverfahren wird von vielen Autoren (z.B. Friedrichs 1980: 276-278) die Interaktionsprozessanalyse von Bales (1956) herangezogen. Mit dieser lässt sich die verbale Interaktion innerhalb kleiner Gruppen anhand von zwölf Kategorien in sechs Dimensionen beschreiben. Die Kategorien waren das Ergebnis theoretischer Vorüberlegungen sowie empirischer Vortests, die auf das Minimum der notwendigen Kategorien reduziert wurden. In den verschiedenen Fachkontexten werden unterschiedliche Standardisierungsbestrebungen verfolgt. In der psychologischen sowie der erziehungswissenschaftlichen Literatur werden z.B. gern die Aufgaben genannt, die Piaget kleinen Kindern aufgegeben hat, um anhand der Lösungsstrategien ihren kognitiven Entwicklungsstand festzustellen (z.B. Sedlmeier & Renkewitz 2013: 104- 105). Im Kontext der Wirtschaftswissenschaft nennen z.B. Hague, Hague und Morgan (2013: 81) die systematische Analyse von Verkäufen in Läden sowie die vor Ort durchgeführten Beobachtungen des Käuferverhaltens in den 1930er-Jahren in den USA sowie Großbritannien als Initialzündung der heute üblichen systematischen Beobachtungen im Bereich Marketing und Marktforschung. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts findet eine deutliche Differenzierung wissenschaftlicher Beobachtungstechniken statt. Diese wird insbesondere durch die technische Entwicklung und methodische sowie methodologische Diskussionen in den einzelnen Fächern vorangetrieben. Automaten und Sensoren machten Beobachtungsverfahren möglich, die nicht mehr von menschlichen Beobachtern durchgeführt werden mussten. So ließ sich z.B. mittels Lichtschranken oder Drehsperren feststellen, wie viele Personen pro Zeiteinheit einen bestimmten Punkt passieren. Sensoren hielten Trainings- oder Arbeitsleistungen fest. Geräte zur Erfassung von aktuellen Körpermerkmalen wie der Herzfrequenz oder der Hautleitfähigkeit ließen Rückschlüsse auf Erregungszustände von Personen zu und führten zur Etablierung sogenannter physiologischer Messungen. Nicht zuletzt wurden so auch sehr spezielle apparative Messverfahren entwickelt, wie z.B. die Telemetrie zur genauen Erhebung der Reichweite bestimmter Fernsehsender und Fernsehsendungen, die sogenannte Einschaltquote. Für jedes einzelne Fach <?page no="24"?> 24 2 Methode der Beobachtung ließen sich hier wahrscheinlich mehrere solcher Spezialverfahren anführen. Der letzte große Schub für die Differenzierung und Verbreitung wissenschaftlicher Beobachtungsverfahren ergab sich durch das Internet und die mobile Kommunikation. Bei dieser lässt sich quasi jede ausgeführte Handlung bei deren Durchführung technisch beobachten oder nach deren Ausführung anhand von Spuren technisch auslesen und analysieren. Die kurze Skizze von Vorläufern und Entwicklungen der wissenschaftlichen Beobachtung macht sichtbar, dass eine Vielzahl von Studien und Verfahren als wissenschaftliche Beobachtung anzusehen sind, die sich in Bezug auf ihre Varianten und Merkmale aber deutlich voneinander unterscheiden. 2.2 Varianten und Merkmale Gehrau stellte 2002 eine Metaanalyse von wichtigen Methodenbüchern vor, in denen die Beobachtung als Verfahren wissenschaftlicher Datenerhebung eingehend behandelt wurde. Die dabei diskutierten Varianten und Merkmale der Beobachtung wurden systematisiert und in drei grobe Bereiche eingeteilt: (1) den Beobachtenden betreffend, (2) die Beobachtungssituation betreffend sowie (3) das Erhebungsverfahren betreffend. Aus den untersuchten Publikationen wurden dann einzelne Merkmale extrahiert und den drei Bereichen zugeordnet. Beobachtende Interne Beobachtende versus extern beauftragte Beobachtende Selbstversus Fremdbeobachtung Teilnehmende versus nichtteilnehmende Beobachtung Beobachtun gssituation Offene versus verdeckte Beobachtung (wissentliche versus unwissentliche Beobachtung) Feldversus Laborbeobachtung Beobachtungen mit versus ohne Stimulus Erhebungsverfahren Standardisierte versus nichtstandardisierte Protokollierung Direkte Beobachtung versus indirekt über Verhaltensresultate Unvermittelte Beobachtung versus vermittelt über Aufzeichnung Manuelle versus apparativ-automatisierte Protokollierung Abb. 2 | Systematik von Beobachtungsvarianten Drei Merkmale betreffen den Beobachtenden: intern versus extern, selbst versus fremd und teilnehmend versus nichtteilnehmend; vier charakterisieren die Situation: offen versus verdeckt, wissentlich versus unwissentlich, Feld versus Labor, <?page no="25"?> 2.2 Varianten und Merkmale 25 mit Stimulus versus ohne Stimulus; und vier spezifizieren die Datenerhebung: standardisierte versus nichtstandardisierte, direkt versus indirekt, vermittelt versus unvermittelt sowie manuell versus automatisch 1 (siehe Abbildung). Die Metaanalyse zeigte, dass auf drei Merkmale von Beobachtungen in allen Publikationen ausführlich eingegangen wurde: teilnehmend versus nichtteilnehmend, offen versus verdeckt sowie standardisiert versus nichtstandardisiert. In knapp der Hälfte der Publikationen wurden zudem Unterschiede zwischen Selbstversus Fremdbeobachtung bzw. Feldversus Laborbeobachtungen erörtert. Die anderen Aspekte wurden jeweils nur in einer oder zwei Publikationen berücksichtigt, meist jeweils aufgrund einer speziellen Fachperspektive. Offenbar sind die Fragen, ob internes oder externes Beobachtungspersonal sowie ob dabei Stimuli zum Einsatz kommen oder nicht, für viele Autorinnen und Autoren keine Fragen der Konzeption von Beobachtungen, sondern von deren Durchführung. Auch die Aspekte direkt versus indirekt, vermittelt versus unvermittelt sowie manuell versus apparativ scheinen dann an die Frage nach dem Einsatz von Technik geknüpft zu sein. Da all diese Punkte aber grundlegende Auswirkungen auf die Art der Beobachtung und die damit verbundenen methodischen Probleme haben, werden sie im Weiteren als eigenständige Varianten bzw. Grundmerkmale von Beobachtungen behandelt. Gehrau und Hamachers (2017) haben die vorliegende Systematik als Basis einer Inhaltsanalyse aktueller internationaler Fachzeitschriftenpublikationen im Bereich der Kommunikationswissenschaft genutzt. Die Frage, ob Interne oder Externe beobachtet haben, ließ sich anhand der Publikationen nicht klären. Ansonsten erwies sich die vorliegende Systematik als geeignet, um die entsprechenden Publikationen zu den jeweiligen Beobachtungsstudien zu klassifizieren. Probleme ergaben sich lediglich in Bezug auf die Frage, ob wissentlich oder unwissentlich beobachtet wurde. Dies lag aber nicht an Problemen bei der Anwendung des entsprechenden Kriteriums, sondern in dessen Erfassung, da in den analysierten Beiträgen oft nicht das entsprechende Vorgehen deutlich gemacht wurde. Für das vorliegende Buch wurde 2017 eine erneute Sichtung aktueller Fachbücher durchgeführt. Dabei zeigten sich unterschiedliche Aspekte. Neuauflagen derjenigen Bücher, die bereits 2002 von Gehrau berücksichtigt wurden, haben ihre Beobachtungskapitel, wenn überhaupt, nur wenig verändert. Neuere technische Entwicklungen werden in diesen meist nicht berücksichtigt. Das ist bei den neu hinzugezogenen Büchern durchaus anders. In der Regel diskutieren diese deutlich mehr unterschiedliche Merkmale und Varianten von Beobachtungen. Infolgedessen ist die Matrix aus Publikationen versus Varianten deutlich besser ausgefüllt. Es finden sich keine Merkmale mehr, die nur in einem oder in zwei 1 Im Gegensatz zur Darstellung von 2002 wird statt strukturiert nachfolgend standardisiert und anstelle von automatisch im vorliegenden Band apparativ verwendet. <?page no="26"?> 26 2 Methode der Beobachtung Methodenbüchern diskutiert werden. Vor allem diejenigen Merkmale und Varianten, die mit Beobachtungstechnik verbunden sind, werden deutlich häufiger in Betracht gezogen. Insofern scheint sich die Beobachtung in der aktuellen Methodenliteratur gegenüber früheren Publikationen als modernes und technikaffines Erhebungsverfahren etabliert zu haben. Bei den nachfolgend aufgezeigten Varianten der Beobachtung handelt es sich um idealtypische Beschreibungen, die anhand von Gegensätzen dargestellt werden. Im Forschungsalltag handelt es sich aber nicht um Entscheidungen zwischen den Gegensätzen, sondern um Abstufungen zwischen den jeweiligen Extrempolen, die aber aus Gründen der Textlänge und Lesbarkeit nicht in ihren möglichen Zwischenvarianten dargestellt werden. 2.2.1 Interne versus externe Beobachtung Die Unterscheidung interne versus externe Beobachtung gibt an, wer die eigentliche Beobachtung durchführt, also das Beobachtete protokolliert. Bei der internen Beobachtung protokollieren die Forscherinnen und Forscher, die die Beobachtungsstudie konzipiert haben. In externen Beobachtungen erstellen demgegenüber Personen die Beobachtungsprotokolle, die nicht dem Forscherteam angehören, das die Studie konzeptioniert hat. Um eindeutig externe Beobachtungen handelt es sich, wenn externe Dienstleister mit der Durchführung der Feldarbeit beauftragt werden. Der zentrale Unterschied zwischen internem und externem Beobachtungspersonal liegt in dessen Vorwissen bzw. der Vertrautheit mit der Untersuchungsanlage. Internes Beobachtungspersonal kennt die Fragestellung der Untersuchung sowie die vorgesehene Art der Protokollierung genau. Sie sind sensibilisiert, um relevante Aspekte zu bemerken und durch die Beteiligung an der Vorbereitung trainiert, diese angemessen zu protokollieren. Extern beauftragtes Personal weiß zunächst einmal weder über die Fragestellung der Studie noch über die vorgesehene Technik der Protokollierung Bescheid; es kennt nur das, was es vom Forscherteam vermittelt bekommt. Aus dieser Perspektive sind z.B. Studierende, die an der Datenerhebung in einer Beobachtungsstudie mitarbeiten, als Interne zu betrachten, wenn sie an der Konzeption der Studie beteiligt waren. Wurden sie demgegenüber lediglich für die Datenerhebung angelernt und angestellt, handelt es sich auch bei ihnen um externe Beobachtende. Die Frage, ob es sich um interne oder externe Beobachtungen handelt, spielt in der aktuellen Methodenliteratur kaum noch eine Rolle. Das war Mitte des letzten Jahrhunderts anders, als die ersten großen Abhandlungen zur wissenschaftlichen Beobachtung verfasst wurden, wenngleich die Problematik nicht als interne versus externe Beobachtung bezeichnet wurde. Stattdessen ging es um Beobachtungsfehler, die aufgrund der Selektion und Interpretation der Beobachtenden entstehen, sowie allgemein um das Streben nach Objektivität bei der Beobachtung. Die ersten systematischen Ausführungen hierzu stammen von Katz (1953) <?page no="27"?> 2.2 Varianten und Merkmale 27 und wurden von Friedrichs und Lüdtke (1977: 34) in die Forderung nach Trennung von Forschenden und Beobachtenden konkretisiert. Die interne Beobachtung stammt aus der ethnographischen Tradition, in der Forscherinnen oder Forscher über längere Zeiträume fremde Kulturen und Gesellschaften beobachtet haben (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 13-20). Sowohl die Authentizität als auch die Praktikabilität sprechen für ein solches Vorgehen, da die Forschenden selbst genau wissen, welche Aspekte für ihre Forschung protokollierungswürdig sind und wie diese angemessen interpretiert werden können. Externe hätten kaum brauchbare Protokolle anfertigen können, welche von den Forschenden hätten angemessen interpretiert werden können, sofern diese nicht beobachtend selbst vor Ort gewesen sind. In seiner Theorie der Beobachtung macht König (1967; 1973) aber die Probleme dieser Konstellation deutlich. Diese resultieren aus der Unmöglichkeit unschuldiger Wahrnehmungen (König 1973: 10). Individuelle Wahrnehmungen sind die Grundlage wissenschaftlicher Beobachtungen, sodass in erster Linie Aspekte beobachtet werden, für die die Beobachtenden sensibilisiert sind bzw. die sie erwarten. Haben die Beobachtenden erst einmal etwas Bestimmtes festgestellt, dann kann es im Folgenden zu selektiver Wahrnehmung kommen, die König (1973: 7) als die „Unbelehrbarkeit der einmal bezogenen Position“ bezeichnet. Das dürfte interne wie externe Beobachtende gleichermaßen betreffen. Problematisch ist auch eine Fokussierung der internen Beobachtenden auf diejenigen Aspekte, die das Forscherteam erwartet bzw. unterstellt. Um entsprechende Fehler zu vermeiden, fordert König (1973: 29) die Wiederholung von Beobachtungen durch weitere Personen und damit die Ergänzung der intrapersonalen Evidenz durch interpersonale Gültigkeit (König 1973: 29). In Analogie dazu diskutieren Friedrichs und Lüdtke (1977: 30-33) die Probleme aus der Perspektive der Objektivität und damit der Forderung, dass das Resultat wissenschaftlicher Datenerhebung möglichst unabhängig von der Person sein soll, die die Daten erhebt, was bei der Beobachtung allerdings nie vollständig erreicht werden kann. Deshalb fordern Friedrichs und Lüdtke (1977: 34) nicht nur: „Es sollten nicht länger Forscher (oder Forscherteam) und Beobachter dieselben Personen sein.“ Sondern auch: „Die Forscher sollten mehrere Beobachter (mindestens zwei) schulen und für sich ins Feld schicken.“ Das Forschungsteam muss die externen Beobachtenden dann nicht nur im Vorgehen schulen, sondern auch die Regeln des Vorgehens festlegen, Definitionen und Operationalisierung vornehmen und in angemessenem Umfang den wissenschaftlichen Hintergrund offenlegen. König (1973: 35) betont an dieser Stelle die Notwendigkeit der Sensibilisierung und Formalisierung. Sensibilisierung betrifft die Motivation des Beobachtungspersonals, nach relevanten Informationen zu suchen und bereit zu sein, sich gemäß der Forschungsfrage auf die Beobachtung einzulassen. Formalisierung beschreibt die Notwendigkeit, die Ideen des Forschungsteams in Definitionen festzuhalten und <?page no="28"?> 28 2 Methode der Beobachtung dem Beobachtungsteam angemessen zu vermitteln. Friedrichs und Lüdtke (1977: 219-227) schlagen darüber hinaus vor, dem Beobachtungsteam Supervision anzubieten, und zwar nicht nur in Bezug auf das Vorgehen beim Protokollieren, sondern auch in Bezug auf ihre Rolle in der Beobachtungssituation. Aber selbst bei guter Formalisierung der Beobachtungsinstruktionen plus ausführlicher Schulung und angebotener Supervision sind bei externen Beobachtenden Probleme zu erwarten. Diese resultieren daraus, dass angestelltes Beobachtungspersonal selten so motiviert und akkurat beobachten wird wie Mitglieder des Forschungsteams. Zumal die Beobachtung für viele eine Pflicht und Notwendigkeit zum Geldverdienen sein wird, was zu einem unmotivierten Abarbeiten des Notwendigen führen könnte, wenn nicht sogar Anreiz zum Fälschen von Daten bietet. Größere Beobachtungsstudien, die von vielen extern angeworbenen Personen durchgeführt werden, haben mit denselben Problemen zu kämpfen wie entsprechende Befragungen oder Inhaltsanalysen. Sie können nur durch angemessene Bezahlung, stetige Motivation und angemessene Kontrolle des Personals minimiert werden. Zudem sollte dem Beobachtungsteam nicht zugemutet werden, was das Forscherteam selbst nicht tun wollen würde. Dazu zählt einerseits der Umgang mit komplexen Anweisungen, die sich in der Beobachtungssituation nicht angemessen umsetzen lassen, andererseits betrifft das die Rolle und das Verhalten im Beobachtungsfeld, z.B. beim Einholen von Genehmigungen zur Beobachtung. Externes Beobachtungspersonal wird nur adäquat arbeiten, wenn die Beobachtung selbst praktikabel angelegt ist. Ideal wäre eine Kombination aus interner und externer Beobachtung. Das Forschungsteam selbst würde auch im Feld beobachten und Erfahrung mit dem Beobachtungsinstrument sammeln. So könnte es selbst besser beurteilen, worin die Einschränkungen des methodischen Vorgehens bestehen. Zudem entstünde ein authentischer Eindruck vom Beobachtungsfeld, der später bei der Datenauswertung und Interpretation das Risiko von Fehlschlüssen minimiert, weil das Forschungsteam den Forschungsgegenstand aus eigener Anschauung kennt. Das Forschungsteam wäre aber gezwungen, sein Vorgehen zu formalisieren und zu kommunizieren, sodass Externe es verstehen. Nicht zuletzt ergeben sich so Möglichkeiten der Entlastung durch Arbeitsteilung, was nach Friedrichs und Lüdtke (1977: 34) dem Forschungsteam und dem Forschungsprojekt zugutekommt. 2.2.2 Selbstversus Fremdbeobachtung Das Charakteristikum Selbstversus Fremdbeobachtung gibt an, wen die Beobachtenden beobachten, sich selbst oder andere. Üblicherweise werden bei wissenschaftlichen Beobachtungen andere beobachtet. In bestimmten Konstellationen ist es allerdings nötig und sinnvoll, sich selbst zu beobachten. Dazu zählen zum einen private oder sogar intime Situationen, in denen es Personen weder zuzumuten ist, in diesen beobachtet zu werden, noch Beobachtenden zugemutet <?page no="29"?> 2.2 Varianten und Merkmale 29 werden kann, andere in solchen Situationen beobachten zu müssen. Abgesehen davon kann auch das Forschungsinteresse Selbstbeobachtungen nahelegen, und zwar immer dann, wenn psychische Prozesse von Interesse sind, die sich nicht anhand extern feststellbarer Merkmale beobachten lassen. Die Selbstbeobachtung, auch Introspektion genannt, hat sich aus früheren Studien der Psychologie entwickelt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Theorien über psychologische Phänomene aufgestellt und diese an sich selbst getestet, indem sie ihre eigenen Reaktionen beobachtet und protokolliert haben. Da es sich bei den meisten um Hochschullehrer handelte, charakterisieren Sedlmeier und Renkewitz (2013: 109) die Selbstbeobachtung mit „Professoren beobachten sich selbst“. Entsprechende Studien haben zwar zu interessanten Ergebnissen geführt; sie waren allerdings wissenschaftlich umstritten, da die Ergebnisse notwendigerweise durch die Person geprägt waren und sich kaum replizieren lassen. Insbesondere die Verhaltenspsychologie orientierte sich stärker an den wissenschaftlichen Kriterien der Kontrolle, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit und lehnte daher Selbstbeobachtungen als Datenerhebungsverfahren ab, sodass seit Mitte des letzten Jahrhunderts in der Psychologie nur noch selten Selbstbeobachtungen durchgeführt wurden. Auch in der Soziologie war infolgedessen Introspektion in Misskredit geraten (König 1956: 20), ebenso wie in vielen anderen Fächern. Seitdem werden Beobachtungen fast ausnahmslos als Fremdbeobachtungen organisiert. Dabei werden dem Beobachtungspersonal Ziele und Regeln vorgegeben, mithilfe derer sie das Verhalten oder Reaktionen von anderen Personen beobachten. Allein diese Konstellation zwingt dazu, nach explizierbaren Regeln vorzugehen, die die Beobachtung zumindest ansatzweise kontrollierbar, nachvollziehbar und wiederholbar machen. Unter solchen Bedingungen lassen sich vom Forscherteam die Qualität und Brauchbarkeit der Beobachtungsprotokolle einschätzen. Bei der Selbstbeobachtung kann das demgegenüber nur die Person, die sich selbst beobachtet hat. Huber (1993: 128) weist über die fehlende externe Kontrolle hinaus darauf hin, dass sich mit Selbstbeobachtungen keine unbewussten Prozesse erfassen lassen und die Selbstbeobachtung die zu beobachtenden Prozesse stören könnte. Zumal das Beobachtete oft nur unzureichend erinnert wird. Er sieht den Sinn von Selbstbeobachtung deshalb allenfalls in der Exploration und Generierung von Hypothesen. Es ist aber weder sinnvoll noch notwendig, die Selbstbeobachtung gänzlich aus dem Repertoire der Verfahren wissenschaftlicher Datenerhebung zu verbannen. In solchen Fällen werden statt Beobachtungen dann oft Befragungen zu den entsprechenden Verhaltensweisen durchgeführt. Die Antworten der Befragten basieren aber auch auf Selbstbeobachtungen. Da die Befragten jedoch vorher weder angewiesen noch geschult wurden, ist nicht plausibel, dass diese Angaben besser sein sollten als die von Personen, die zuvor angewiesen und geschult wurden, <?page no="30"?> 30 2 Methode der Beobachtung sich selbst bei bestimmten Verhaltensweisen genau zu beobachten. Döring und Bortz (2016: 329) verweisen auf Parallelen zwischen der Selbstbeobachtung und der Befragungstechnik des Lauten Denkens bzw. des Vorgehens in Tagebuchstudien sowie der Autoethnographie. Häder (2015: 311) weist auf die Parallelen von Selbstbeobachtung und soziologischen Zeitbudgetstudien hin. Ein weiterer Grund, warum Selbstbeobachtungen das Repertoire wissenschaftlicher Methoden sinnvoll ergänzen können, liegt darin, dass sie in vielen Fällen die einzige Möglichkeit sind, an die nötigen Daten zu gelangen; Sedlmeier und Renkewitz (2013: 110) führen hier insbesondere die Forschung zu Bewusstseinszuständen an. Allerdings müssen solche Beobachtungen so weit wie möglich kontrolliert stattfinden. Die Personen, die sich selbst beobachten sollen, müssen genaue Anweisungen zum Vorgehen erhalten und eingehend geschult werden (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 109). Wichtig ist dabei vor allem, die relevanten Aspekte an sich selbst zu erkennen und sie sich so lange merken zu können, bis die Möglichkeit gegeben ist, sie zu protokollieren. Hierzu finden sich in der Psychologie unterschiedliche Techniken zur Selbsterfahrung, die allerdings nicht dazu verleiten dürfen, die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Selbstbeobachtung und dem eigenen Streben nach Selbsterfahrung zu überschreiten. Eine ganz neue Qualität hat die Selbstbeobachtung durch die technische Entwicklung erhalten. Es gibt eine Reihe von Geräten, mit denen Personen ihr eigenes Verhalten sowie physiologische Körpermerkmale ohne großen Aufwand aufzeichnen können. Es handelt sich z.B. um Fitnessuhren, die sowohl Körpermerkmale wie den Herzschlag feststellen können als auch Position, Bewegung oder Geschwindigkeit. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Apps und Computerprogrammen, mit denen Personen auf einfache Weise Angaben über sich selbst festhalten können. Das entsprechende Verhalten wird als Self-Tracking (Neff & Nafus 2016) bezeichnet. Mit Quantified Self hat sich zudem eine Bewegung von Menschen gegründet, die regelmäßig Daten über sich selbst erheben und sich über Probleme und Erfahrungen austauschen (quantifiedself.com). Entsprechende Daten werden bereits im wissenschaftlichen Kontext genutzt, und zwar insbesondere zu Fragen von Gesundheit und Fitness. Die Frage der Kontrolle, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit der Datenerhebung ist beim Self-Tracking gegeben und individuelle Interpretationen spielen praktisch keine Rolle. Es handelt sich trotzdem um Selbstbeobachtungen, da die Beobachteten die Protokollierung der Daten an sich selbst vornehmen und selber steuern und entscheiden, wann das geschieht. 2.2.3 Teilnehmende versus nichtteilnehmende Beobachtung Das dritte Kriterium für Beobachtungsstudien spezifiziert die Art, wie sich das Beobachtungspersonal am beobachteten Geschehen beteiligt. Bei der teilnehmenden Beobachtung agieren die Beobachtenden im Beobachtungsfeld wie die- <?page no="31"?> 2.2 Varianten und Merkmale 31 jenigen, die beobachtet werden. Demgegenüber agieren bei nichtteilnehmenden Beobachtungen die Beobachtenden nicht, sondern konzentrieren sich unbeteiligt auf das Durchführen der Beobachtung. Laut König (1977: 49) und Häder (2015: 310) geht die Terminologie der teilnehmenden Beobachtung auf eine Publikation von Lindemann (1924) zurück. Die teilnehmende Beobachtung gilt als der Prototyp zur Datenerhebung in der Kulturanthropologie, der Ethnologie (Atteslander 2010: 94) bzw. der Ethnographie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015). In dieser Variante der Beobachtung nehmen die Forschenden über einen längeren Zeitraum am von ihnen untersuchten gesellschaftlichen und kulturellen Geschehen teil, beobachten dieses und versuchen, es angemessen zu protokollieren. Ein entsprechendes Vorgehen findet sich auch in den frühen soziologischen Studien insbesondere zu gesellschaftlichen Randgruppen. Ziel der Teilnahme am beobachteten Geschehen ist es, das Geschehen selbst durch angemessene Beteiligung möglichst wenig zu stören und einen möglichst authentischen Eindruck vom Geschehen zu erhalten, um das Beobachtete nachvollziehen und verstehen zu können. In den benannten Wissenschaften galt die teilnehmende Beobachtung als die einzige Möglichkeit, über entsprechende Gruppen und deren Verhaltensweisen angemessene und vor allem authentische Informationen zu erhalten. Um mit den beobachteten Personen und Verhaltensweisen vertraut zu werden, dauerten solche Beobachtungsstudien typischerweise sehr lange. Ein Vorteil lange andauernder Beobachtungen liegt darin, dass sich die Beobachteten an die Beobachtung und vor allem an die beobachtenden Personen gewöhnen und infolgedessen weniger durch die beobachtende Person gestört werden (Friedrichs 1980: 283-284). Allerdings bringt die Teilnahme am Geschehen auch grundlegende Probleme mit sich. Ein Problem beschreibt Häder (2015: 310) mit dem Begriff Distanzverlust und rekurriert damit auf die Anforderung an die Beobachtenden, eine kritische Distanz zum Forschungsobjekt zu wahren. Mayntz, Holm und Hübner (1972: 101) geben zu bedenken, dass wenn die Beobachtenden versuchen, am Geschehen teilzunehmen und ihre Rolle möglichst gut spielen, es zu einer Identifikation mit der Rolle oder sogar zu einer Rollenübernahme kommen kann. Dadurch würde eine distanziert objektive Beobachtung nahezu unmöglich und beim Beobachtenden könnten ähnliche Probleme auftreten wie bei der Selbstbeobachtung. Diesem Problem kann mittels Regeln bei der Teilnahme begegnet werden. In der Literatur werden dazu meist zwei Idealtypen skizziert (z.B. Atteslander 2010: 93): Der „Beobachter als Teilnehmer“ ist in erster Linie die beobachtende Person und nimmt am Geschehen nur so weit teil wie nötig. Demgegenüber ist der „Teilnehmer als Beobachter“ hauptsächlich am Geschehen beteiligt und versucht dabei so gut wie möglich zu beobachten. Grundsätzlich kann aber jede Form der Teilnahme das beobachtete Geschehen verändern, sodass dieses nicht mehr dem natürlichen Verlauf entspricht. Das Geschehen ist dann als Reaktion auf die aktive <?page no="32"?> 32 2 Methode der Beobachtung Teilnahme der Beobachtenden zu verstehen, was in der Literatur unter dem Stichwort Reaktivität vor allem als Problem der teilnehmenden Beobachtung diskutiert wird. In der Ethnographie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 66-70) wird das Problem allerdings auch als Vorteil gesehen, da die Forschenden Veränderungen, die durch ihre Teilnahme am Geschehen entstehen, wiederum zum Gegenstand der Forschung machen können und daraus Erkenntnisse ziehen. Hier ähnelt das Vorgehen der Beobachtung mit Stimulus. Die Ethnographie sieht die Teilnahme am Geschehen oft als notwendige Voraussetzung, um das Geschehen überhaupt adäquat verstehen zu können. In den meisten wissenschaftlichen Kontexten hingegen wird ein Eingriff des Beobachtungspersonals in den zu beobachtenden Handlungsverlauf als problematische Verzerrung betrachtet. Auch deshalb werden in vielen Bereichen Beobachtungsstudien nichtteilnehmend durchgeführt. Bei solchen Beobachtungen konzentrieren sich die Beobachtenden nur auf die Beobachtung und die Protokollierung des Geschehens. In der Psychologie (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 106) und in der Marktforschung (Fantapié Atobelli 2011: 94) sind nichtteilnehmende Beobachtungen der Standard. Der Hauptgrund für den Verzicht auf die Teilnahme liegt darin, dem Beobachtungspersonal eine konzentrierte Protokollierung des Geschehens ohne zusätzliche Aufgabe zu ermöglichen. Atteslander (2010: 92) sagt, nur eine passiv beobachtende Person „ist in der Lage, sekundenschnell hochstrukturierte Aufzeichnungen zu machen“. Nach Huber (1993: 133) bindet die Teilnahme am Geschehen einen Teil der Aufmerksamkeit, was zwangsläufig das Beobachten erschwert. Darüber hinaus soll auch Reaktivität vermieden werden, also Reaktionen der Beobachteten auf die Aktionen der Beobachtenden. Friedrichs (1980: 282) weist aber zu Recht auf die wenig diskutierten reaktiven Effekte durch Nichtteilnahme hin. Wenn Personen bei einem Geschehen anwesend sind, ohne sich an diesem in irgendeiner Form zu beteiligen, so werden diese in der Regel von den anderen als Störung empfunden. Als einen entscheidenden Grund dafür führt Friedrichs (1980: 282) die fehlenden sozialen Rollen für anwesende Nichtmitglieder eines sozialen Systems an. Mitglieder haben Rollen, die mit entsprechenden Verhaltensweisen verbunden sind. Damit sind Personen, die keinerlei entsprechende Verhaltensweisen zeigen, automatisch Nichtmitglieder, die allein durch ihre Anwesenheit die Gruppe und ihre Dynamik stören. Aus dieser Überlegung leitet Friedrichs (1980: 283) Bedingungen ab, in denen die Störung durch Nichtteilnahme als eher gering einzuschätzen sind: erstens, wenn die Konstellation keine oder nur unspezifische Interaktionserwartungen an die Beobachtenden mit sich bringt, z.B. weil mehrere unbeteiligte Personen anwesend sind. Zweitens, wenn das beobachtete Geschehen für die Beteiligten so absorbierend ist, dass Anwesende kaum wahrgenommen werden. Und drittens, wenn es für die Anwesenheit <?page no="33"?> 2.2 Varianten und Merkmale 33 und Tätigkeit der Beobachtenden einen aus Sicht der Beobachteten plausiblen Grund gibt. In der Praxis empfiehlt es sich, einen Mittelweg zwischen nichtteilnehmend und teilnehmend vorzusehen, wenn die Beobachtenden vor Ort inmitten des Geschehens beobachten. Dieser ließe sich als passiv-teilnehmend charakterisieren. Ein Minimum an Teilnahme am Geschehen ist nötig, um das Geschehen selbst nicht als Fremdkörper zu stören. In einem Gespräch könnten sie z.B. Aufmerksamkeit durch Ansehen der jeweiligen Sprechenden zeigen und gelegentlich z.B. durch Nicken Zustimmung signalisieren. Ihre Teilnahme sollte aber passiv sein, d.h., sie sollten selbst keine eigenen Impulse in den Handlungsverlauf geben, bei dem skizzierten Gespräch also keine eigenen gesprächsrelevanten Inhalte beitragen. Wenn es die Situation erfordert, dass die Beobachtenden Informationen für die Protokollierung festhalten, dann sollte diese Tätigkeit als Teil ihrer Rolle am Geschehen vor Ort erklärt werden. Bei der Beobachtung eines Gespräches könnte eine solche Erklärung z.B. im Führen des Protokolls liegen, wenn es sich um Gespräche in Gremien handelt. Besonders wichtig ist eine natürliche, aber passive Teilnahme der Beobachtenden, wenn die Beobachteten nicht nur nicht gestört werden sollen, sondern gar nicht bemerken dürfen, dass sie beobachtet werden. 2.2.4 Offene versus verdeckte Beobachtung Unter offener versus verdeckter Beobachtung wird hier die Frage diskutiert, ob das Beobachtungspersonal (und im Prinzip auch die Beobachtungstechnik) getarnt sein sollte oder nicht. Die Tarnung kann sowohl dazu dienen, die Beobachteten nicht wissen zu lassen, dass sie beobachtet werden, als auch dazu, sie trotz ihres grundsätzlichen Wissens, dass sie beobachtet werden, während der Beobachtung möglichst wenig daran zu erinnern. Durch beides soll vermieden werden, dass die Beobachteten ihr Verhalten ändern, weil ihnen in der Situation bewusst ist, dass sie beobachtet werden. Im Band von Webb et al. (1975: 147) wird deshalb vom sichtbaren Beobachtenden gesprochen. Dann ist die Beobachtung als reaktives Verfahren einzuschätzen, bei dem ein Teil der Ergebnisse eine Reaktion auf das Datenerhebungsverfahren darstellt. Behnke (2010: 260) sagt deshalb: „Die verdeckte Beobachtung ist unter dem Aspekt der Reaktivität im Prinzip vorzuziehen, wirft aber forschungsethische Probleme auf “. Die forschungsethischen Probleme resultieren daraus, dass die Beobachteten mit der Tarnung bewusst getäuscht werden. Darüber hinaus wird ihre Entscheidung eingeschränkt, ob sie beobachtet werden wollen oder nicht. Die Frage nach der Tarnung des Beobachtungspersonals sowie der dazugehörigen Technik ist auch relevant, weil sie in der Regel mit Einschränkungen für die Durchführbarkeit verbunden ist. Eine insbesondere in der Psychologie sowie der Marktforschung lange Zeit übliche Tarnung besteht in der Beobachtung durch einen Einwegspiegel (Kuß, Wildner & Henning 2014: 311). Mit entsprechendem <?page no="34"?> 34 2 Methode der Beobachtung Vorgehen ist aber automatisch eine große räumliche Distanz zwischen Beobachtungspersonal und Beobachteten sowie meist ein eingeschränktes Sichtfeld verbunden, was die Möglichkeit zur Protokollierung verändert. Dabei mag negativ zu Buche schlagen, dass relevante Aspekte so nicht gesehen werden können, positiv hingegen, dass die Materialien und Hilfsmittel zur Beachtung frei und ungestört genutzt werden können. Vor der Konzeption der Beobachtung muss deswegen genau abgewogen werden, ob eine Tarnung der Beobachtung nötig ist, wie diese sinnvollerweise aussehen könnte und welche Auswirkungen sie auf die Durchführbarkeit der Protokollierung mit sich bringt. Dabei spielt oft auch eine Rolle, wie am Beobachtungsgeschehen teilgenommen wird, denn das könnte Teil der Tarnung sein. In der Beobachtungsliteratur wird der Begriff offene Beobachtung (vor allem im Kontext der teilnehmenden Beobachtung) oft für qualitative Untersuchungsanlagen gebraucht, bei denen die Art der Protokollierung nicht festgelegt ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird der Begriff offen für nichtstandardisierte Erhebungsverfahren vermieden und hier für die Frage nach der Tarnung reserviert. Die Unterscheidung zwischen offener und verdeckter Beobachtung wird in praktisch allen Einführungskapiteln zur Beobachtung diskutiert, allerdings fast ausnahmslos mit einem anderen Fokus, nämlich der Transparenz. Bei der verdeckten Beobachtung dürfen die Beobachteten nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Dabei wird die Frage der Tarnung, um auch den eingeweihten Beobachteten die Beobachtungssituation möglichst nicht bewusst werden zu lassen, eher am Rande behandelt. Um die Vorgehensweise bei Beobachtungen und dabei auftretenden Probleme besser differenzieren zu können, wird die grundsätzliche Frage, ob die Beobachteten wissen, dass sie beobachtet werden, hier nicht als offen versus verdeckt, sondern als wissentlich versus unwissentlich erörtert. 2.2.5 Wissentliche versus unwissentliche Beobachtung Die Terminologie wissentliche versus unwissentliche Beobachtung stammt von Huber (1993: 132). Sie argumentiert von den Beobachteten aus und spezifiziert, ob diese wissen, dass sie beobachtet werden, oder nicht. Solange die Beobachteten gar nicht wissen, dass sie beobachtet werden, können sie ihr Verhalten nicht danach ausrichten, indem sie z.B. sozial unerwünschte Verhaltensweisen vermeiden oder Verhaltensweisen zeigen, um den Beobachtenden zu helfen oder zu gefallen. Wissen sie es aber, ist eine Ausrichtung ihres Verhaltens gemäß üblicher Konventionen oder Erwartungen naheliegend. Wissentliche Beobachtungen sind somit zu den reaktiven Verfahren zu zählen, weil die Untersuchten auf die Untersuchung reagieren. Unter methodischen Gesichtspunkten bringt das oft Schwierigkeiten mit sich, weil sich im Nachhinein <?page no="35"?> 2.2 Varianten und Merkmale 35 nicht differenzieren lässt, welche beobachteten Verhaltensweisen natürlich und welche der Reaktivität geschuldet sind. Aus ethischen Gründen sollten Personen, bevor sie untersucht werden, vorab informiert und um Einverständnis gebeten werden (Huber 1993: 132). Wird dem entsprochen, handelt es sich quasi automatisch um eine wissentliche Beobachtung, da die Beobachteten durch das Vorgespräch zur Klärung des Einverständnisses grob informiert sind. Auch andere Merkmale von Beobachtungsstudien, wie z.B. deren Durchführung im Labor oder mittels an den Personen angebrachten Geräten, führen dazu, dass die Untersuchten zwangsläufig gewahr werden, dass sie untersucht werden. Verschiedene Studien belegen den negativen Einfluss von Reaktivität, der allerdings mit fortschreitender Beobachtungszeit in der Regel deutlich abnimmt (Webb, Campbell, Schwartz & Sechest 1975: 147-148). Wissen die Beobachteten aber nichts von der Beobachtung, so handelt es sich um ein nichtreaktives Datenerhebungsverfahren. Wenn dabei das Verhalten bestimmter Personen eingehend beobachtet wird, ergeben sich ernsthafte ethische Probleme, weil den Untersuchten die Entscheidung zur Teilnahme verwehrt wird. Das kann aber nötig werden, wenn das Wissen der Untersuchten die Untersuchung selbst unmöglich macht. In entsprechenden Fällen sollten die Personen zumindest im Nachhinein informiert und um Einverständnis gebeten werden. Die individuellen Daten müssen vernichtet werden, falls das Einverständnis nicht gegeben wird. Anders sind Beobachtungen zu beurteilen, die an öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen durchgeführt werden und lediglich allgemeines Verhalten ohne Bezug zu der individuell ausführenden Person berücksichtigen. Ethisch sind zwar solche Untersuchungen auch nicht gänzlich unbedenklich; sie sind aber deutlich unproblematischer, weil den Untersuchten nicht geschadet wird und sie als Person anonym bleiben. Zunächst mag es kaum sinnvoll erscheinen, Beobachtungen quasi ohne Bezug zu individuellem Verhalten und ausführenden Individuen in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften durchzuführen. Webb und Kollegen (1975) haben aber schon vor gut 50 Jahren eine auch heute noch lesenswerte Sammlung nichtreaktiver Messverfahren vorgelegt, von denen etliche als unwissentliche Beobachtungen einzuordnen sind, wie z.B. das Erfassen von Kleidung, Ausdrucksverhalten, räumlichen oder persönlichen Konstellationen oder auch der Zeit, die bestimmte Verhaltensweisen in Anspruch nehmen. Durch die technische Entwicklung vor allem in den Bereichen Internet und mobile Kommunikation ergeben sich hierzu immer neue Möglichkeiten. Bei deren Verwendung für wissenschaftliche Zwecke muss allerdings immer deren ethische Angemessenheit geprüft werden. <?page no="36"?> 36 2 Methode der Beobachtung 2.2.6 Feldversus Laborbeobachtung Zur Entscheidung, ob im Feld oder im Labor beobachtet wird, finden sich Angaben in praktisch allen Publikationen zur Beobachtung. Eine ausführliche Diskussion der Vor- und Nachteile ist demgegenüber selten. Wahrscheinlich liegt das daran, dass unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen klar eine der beiden Varianten bevorzugen. Feldbeobachtungen finden an den Orten statt, an denen sich das zu beobachtende Verhalten üblicherweise abspielt: an öffentlichen Plätzen, in Bars, Restaurants, Supermärkten, Klassenzimmern oder zuhause in Privaträumen. Laborbeobachtungen finden demgegenüber in künstlichen Situationen statt, bei denen meist in geschlossenen Räumen die interessierende Situation nachgestellt wird. In Laborbeobachtungen werden bestimmte Handlungen von einzelnen Personen sehr genau untersucht. Dementsprechend werden psychologische Studien oder z.B. Produkttests der Marktforschung vornehmlich im Labor durchgeführt. Im Gegensatz dazu eignen sich Feldstudien zur Beobachtung von sozialem Alltagsverhalten. Daher sind Feldbeobachtungen der Standard in der Ethnologie, der Soziologie sowie den Medien- und Kulturwissenschaften. Huber (1993: 129) sieht insbesondere folgende Vorteile bei der Durchführung im Labor: Es können optimale Bedingungen zur Durchführung der Beobachtung geschaffen werden. Das betrifft sowohl die Sicht auf das zu Beobachtende als auch den Einsatz von Geräten. Darüber hinaus können im Labor Störfaktoren weitgehend ausgeschlossen bzw. kontrolliert werden. Ferner können Aspekte der Situation gezielt manipuliert werden, wenn z.B. bestimmte Stimuli gesetzt werden sollen. Die Situation bringt aber auch Nachteile mit sich. So ist es fraglich, wie gut sich das im Labor Beobachtete auf Alltagssituationen außerhalb des Labors übertragen lässt. Zudem macht es die Laborsituation nahezu unmöglich, Personen unwissentlich zu beobachten. Darüber hinaus wird die Untersuchungssituation für viele ungewohnt sein und ihnen immer wieder die Tatsache ins Bewusstsein rufen, dass sie gerade untersucht werden. Insofern eignen sich Laborstudien eher dazu, individuelle Mechanismen und weniger soziales Alltagsverhaltens zu untersuchen. Letzteres lässt sich besser in seinem natürlichen Umfeld beobachten. Huber (1993: 130) betont, dass Alltagsverhalten in seinem natürlichen Umfeld durch die Untersuchung deutlich weniger beeinflusst werde und privates Verhalten praktisch nur dort zu beobachten sei, weil es sich im Labor quasi nicht künstlich erzeugen lasse. Darüber hinaus lassen sich Ergebnisse aus Feldbeobachtungen besser generalisieren und eröffnen die Möglichkeit, unwissentliche und damit nichtreaktive Beobachtungen durchzuführen. Auf der anderen Seite ist die Beobachtungssituation im Feld kaum kontrollierbar. Störungen z.B. durch andere Personen oder unvorhergesehene Ereignisse lassen sich nicht ausschließen und die Bedingungen, um das Interessierende zu erkennen und zu protokollieren, sind meist nicht ideal. <?page no="37"?> 2.2 Varianten und Merkmale 37 Zudem lässt sich privates und insbesondere intimes Verhalten auch in Feldbeobachtungen in der Regel nicht untersuchen. In der Beobachtungspraxis sollte deshalb immer vorab genau überlegt werden, ob und wie bei Feldbeobachtungen durch leichte Eingriffe in die Situation größere Kontrolle und bessere Machbarkeit erreicht bzw. durch angemessene Gestaltung von Labor- und Untersuchungsräumen eine zumindest alltagsnahe Untersuchungssituation geschaffen werden kann. Von besonderer Bedeutung sind Feldstudien in der Ethnograhphie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015) bzw. qualitativen Einzelfallstudien (Brüsemeister 2008). Bei diesen ist die Definition des Feldes quasi konstitutiv für die gesamte Studie. Breidenstein und Kollegen (2015: 46-60) unterscheiden dabei: (1.) die Selbstkonstitution eines Feldes, wenn dieses quasi natürliche Grenzen hat wie eine Schulklasse, (2.) räumliche, zeitliche und soziale, analytische Konstitution eines Feldes, wenn diese aufgrund des Forschungsinteresses definiert wird, und (3.) Prozesskonstitution, bei der das Feld in Interaktion zwischen den Gegebenheiten und dem Forschungsinteresse im Zuge der Durchführung festgelegt wird. Darüber hinaus stellt bei der Feldforschung die Organisation des Feldzugangs eine besondere Herausforderung dar, deren Fundierung und Realisation ebenso aufwändig sein kann wie die dann folgende Erhebung der Daten, zumal der praktische Aufwand für den Feldzugang den der Datenerhebung weit übersteigen kann, wenn dafür Sprachen gelernt, in ferne Länder gereist, Gesetzen und Auflagen entsprochen und das Vertrauen der zu beobachtenden Personen gewonnen werden muss. 2.2.7 Beobachtung mit versus ohne Stimulus Wenn ein ungestört natürlich ablaufender Verhaltensprozess beobachtet wird, dann handelt es sich um eine Beobachtung ohne Stimulus. Wird aber vom Forscherteam in den Verhaltensprozess eingegriffen oder dieser künstlich initiiert, so findet die Beobachtung mit Stimulus statt. Beobachtungen ohne Stimulus sind der Normalfall und sind zu bevorzugen, weil die Handlungen natürlich entstehen und ablaufen. So ist am besten sicherzustellen, dass valide und generalisierbare Daten erhoben werden. Beobachtungen ohne Stimulus sind angezeigt, wenn Verhalten beobachtet werden soll, das in der gewählten Untersuchungssituation typischerweise häufig auftritt. Es ist aber kaum möglich, in diesem Setting Handlungen zu untersuchen, die nur selten auftreten, da über extrem lange Zeiträume beobachtet werden müsste, um auch nur wenige dieser Handlungen beobachten zu können (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 104). Sollen spezielle Handlungen oder seltene Verhaltensweisen beobachtet werden, so ist es nötig, die entsprechenden Handlungen zu stimulieren. Das kann durch Instruktionen oder Interventionen geschehen. Interventionen sind gezielte Ein- <?page no="38"?> 38 2 Methode der Beobachtung griffe in den Handlungsverlauf, um die zu untersuchenden Handlungen zu provozieren. Wenn z.B. die Reaktion auf bestimmte Handlungen untersucht werden soll, ist es naheliegend, das Initiieren der Handlung von einer getarnten Person aus dem Forschungsteam ausführen zu lassen, um dann die Reaktion der untersuchten Personen zu beobachten. So ließe sich z.B. durch systematische Intervention beobachten, unter welchen Bedingungen Personen anderen helfen (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 105). Eine andere Art der Intervention liegt in der Bereitstellung bestimmter Gegenstände, wenn der Umgang mit diesen beobachtet werden soll. Zum Beispiel könnten in einer Wartesituation bestimmte Zeitschriften ausgelegt werden, um zu beobachten, welche Personen sich wie lange welche Zeitschriften ansehen. Beobachtungen mit Interventionen ähneln klassischen Experimentalsettings. Etwas anders funktionieren Beobachtungen mit Instruktionen. Bei diesen werden den Beobachteten Aufgaben gestellt oder sie werden gebeten, bestimmte Dinge zu tun. Die Aufgaben oder Bitten sollen dann diejenigen Verhaltensweisen initiieren, die beobachtet werden sollen. Ein klassisches Beispiel solcher Beobachtungen stammt von Piaget, der kleinen Kindern Aufgaben stellte und ihre Lösungsstrategien beobachtete, um damit bestimmte Entwicklungsstufen der Kinder zu identifizieren (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 105). Huber (1993: 130-132) betrachtet die Methode des gleichzeitigen Lauten Denkens als eine Variante der Beobachtung mit Instruktionen. Bei dieser erfüllen die Beobachteten bestimmte Aufgaben und sind aufgefordert, parallel dazu ihre Gedanken zu äußern und ihre Handlungen zu erklären. Zwar wäre es theoretisch besser, ohne Stimulus zu beobachten. In der Praxis ist es bei vielen interessierenden Verhaltensweisen aber nicht umsetzbar. Beim gezielten Setzen von Stimuli muss eine Veränderung gegenüber dem natürlichen Verhalten zwar unterstellt werden, wie groß aber die Differenz zwischen natürlichem und stimuliertem Verhalten ist, lässt sich nur empirisch prüfen (Huber 1993: 130). 2.2.8 Standardisierte versus nichtstandardisierte Beobachtungsprotokolle Die Art der Standardisierung betrifft die Art, wie die beobachteten Informationen protokolliert werden. Aus dieser Perspektive ist die wissenschaftliche Beobachtung ein systematisches Vorgehen, um beobachtete Handlungen, Handlungspuren oder Körperreaktionen in ein Zeichensystem zu überführen, das es den Forschenden möglichst einfach macht, aus dem Beobachteten die gewünschten Erkenntnisse zu ziehen. Die Standardisierung betrifft sowohl die Art der Durchführung als auch den eigentlichen Vorgang des Protokollierens. Die Frage nach der Standardisierung wird in allen Methodenbüchern diskutiert, in der Regel unter dem Begriff systematische versus unsystematische Beobachtung. Hier wird die <?page no="39"?> 2.2 Varianten und Merkmale 39 Unterscheidung in nichtstandardisiert versus standardisiert bevorzugt, weil auch nichtstandardisierte Beobachtungen nach bestimmten Systemen vorgehen und insofern nicht als unsystematisch anzusehen sind. Zudem legt die technische Entwicklung nahe, die standardisierten Beobachtungen in zwei unterschiedliche Teilbereiche zu unterteilen: die standardisierte Beobachtung und die apparative Beobachtung. Wird die Beobachtung als die systematische Überführung beobachteter Aspekte in ein Zeichensystem verstanden, so arbeiten die drei Beobachtungsvarianten mit unterschiedlichen Zeichensystemen, die mit unterschiedlichen Problemen verbunden sind. Bei der nichtstandardisierten Beobachtung werden interessierende Aspekte in Text überführt. Bei den typischen standardisierten Beobachtungen werden die interessierenden Aspekte mit Zahlen festgehalten. Apparative Beobachtungen protokollieren die interessierenden Aspekte demgegenüber als Datenreihen. Nichtstandardisierte Beobachtungsprotokolle werden von Personen erstellt. Sie beobachten das Geschehen, machen sich Notizen und erstellen ein Beobachtungsprotokoll, das im Wesentlichen aus Text besteht. Solche Beobachtungen sind fester Bestandteil der qualitativen Sozialforschung. Sie stammen aus der Ethnologie, sind aber auch in der Soziologie sowie der Medien- und Kulturwissenschaft verbreitet. Darüber hinaus kommen nichtstandardisierte Beobachtungen oft zum Einsatz, um unbekannte Gesellschaftsbereiche und bislang wenig untersuchte Verhaltensweisen zu explorieren und gegebenenfalls Theorien und Hypothesen zu entwickeln. Weil solche Beobachtungen nicht von bestimmten Modellen oder Hypothesen ausgehen, sondern inhaltlich offen angelegt sind, werden sie zum Teil auch als offen-qualitative Beobachtungen bezeichnet. Da in der vorliegenden Systematik der Begriff „offen“ für nicht getarnte Beobachtungen vorgesehen ist, wird hier „offen“ nicht im Sinne von nichtstandardisiert verwendet. Die Art, wie die Beobachtenden das Geschehen protokollieren, ist nicht festgelegt, sondern den Beobachtenden überlassen. Darüber hinaus ist auch dem Beobachtungspersonal überlassen, wann sie protokollieren und inwiefern sie ihre eigene Interpretation dabei einfließen lassen. Nicht zuletzt gibt es bei nichtstandardisierten Beobachtungen keine klare Trennung zwischen Datenerhebung und Datenauswertung. Zum einen umfassen die Protokolle schon Anteile der Auswertung und Interpretation. Zum anderen ist es in vielen qualitativen Methoden vorgesehen, nach jedem Erhebungsschritt eine Auswertung vorzusehen, um nötigenfalls die folgenden Erhebungsschritte entsprechend anzupassen. Das Vorgehen dabei ist durchaus systematisch, es folgt aber keinen festgelegten Standards, sondern orientiert sich jeweils am vorhandenen Material. Die nichtstandardisierte Beobachtung gilt als valide, weil das beobachtete Geschehen umfassend protokolliert werden kann und je nach Verlauf Aspekte umfassen kann, die nicht erwartet wurden. Die Durchführung solcher Beobachtungen ist allerdings schwierig, da gleichzeitig das Geschehen beobachtet und das <?page no="40"?> 40 2 Methode der Beobachtung Relevante protokolliert werden muss. Thierbach und Petschick (2014: 862-864) differenzieren deswegen zwischen Feldnotizen und Beobachtungsbzw. Feldprotokollen. Feldnotizen bestehen aus kurzen Sätzen sowie Kürzeln, die allein den Anforderungen der jeweiligen Beobachtenden entsprechen und während der Beobachtung schnell gemacht werden können. Aus diesen werden nach der eigentlichen Beobachtung die Beobachtungsprotokolle erstellt, die im Gegensatz zu den Feldnotizen nicht nur für die beobachtende Person verständlich sein müssen, sondern für das gesamte Forschungsteam. Die Art, wie solche Protokolle inhaltlich aussehen und gestaltet sind, ist sehr unterschiedlich. Lüders (2009: 396) vergleicht das Erstellen ethnographischer Protokolle mit dem Verfassen literarischer Texte und infolgedessen die Beobachtenden mit Autorinnen und Autoren. Klammer (2005: 208-216) vergleicht demgegenüber das Vorgehen bei nichtstandardisierten Beobachtungsprotokollen mit dem Vorgehen von Journalistinnen und Journalisten bei der Recherche und Erstellung von Beiträgen. Bei nichtstandardisierten Beobachtungsprotokollen ist es wichtig sicherzustellen, dass alle relevanten Aspekte in das Protokoll aufgenommen werden. Hierzu zählen insbesondere Angaben zu den beteiligten Personen, zum Ort der Beobachtung, zur Situation sowie zu Art und Zweck der ablaufenden Handlungen (Selltiz, Jahoda, Deutsch & Cook 1972: 245-257). Das Hauptproblem dabei ist die Absorption des Beobachtungspersonals, die zum einen dazu führt, dass nicht alle relevanten Aspekte bemerkt werden, und zum anderen dazu, dass Aspekte, die dem Beobachtungspersonal vor Ort normal erscheinen, nicht in die Protokolle aufgenommen werden. Deshalb ist es wichtig, möglichst umfangreiche Feldnotizen anzufertigen und Techniken zu erlernen, um sich relevante Dinge möglichst lange und genau merken zu können. Zumeist wird bei einem nichtstandardisiertem Vorgehen zunächst der Protokolltext erstellt und anschließend analysiert, also relevante Aspekte selektiert, paraphrasiert und kategorisiert. Allerdings ist in vielen Varianten qualitativer Sozialforschung (Bürsemeister 2008) oder der Ethnographie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015) keine Trennung zwischen Erstellen von Protokollen und Auswerten von Protokollen vorgesehen. Diese Trennung ist z.B. nicht möglich, wenn bei der Erstellung des Protokolls aus den Feldnotizen sowohl das eigentliche Geschehen festgehalten wird als auch inhaltliche Interpretationen sowie methodische Reflexionen, die aus einer anderen Wissenschaftsperspektive nicht zu Erhebung, sondern zur Auswertung gerechnet würden. Nach dem Forschungsprinzip der Grounded Theory (z.B. Strauss & Corbin 1996) wird die Art der Datenerhebung ständig auf der Basis erster Auswertungen angepasst und z.B. das axiale und selektive Codieren der Angaben aus den Protokollen als integraler Bestandteil der Datenerhebung verstanden. Bei der standardisierten Beobachtung ist demgegenüber vorab genau festgelegt, wie die Beobachtung durchzuführen ist: Was die zu beobachtenden Einheiten <?page no="41"?> 2.2 Varianten und Merkmale 41 sind, wie die Beobachtung abläuft und wie die Protokolle erstellt werden. Die standardisierte Beobachtung hat Validitätsprobleme, wenn die Festlegungen und Standardisierung nicht gut zur tatsächlichen Beobachtungssituation und zum beobachteten Geschehen passen. Demgegenüber haben standardisierte Beobachtungen Vorteile bei der Reliabilität und Objektivität, weil sichergestellt und kontrolliert werden kann, ob die Art der Beobachtung stabil ist und von unterschiedlichen Personen in gleicher Art durchgeführt wird. Das Herzstück standardisierter Beobachtungen sind die Beobachtungsanweisungen plus die standardisierten Protokollbögen. In den Anweisungen ist festzulegen, wie vorzugehen ist und welche Kategorien mit welchen Ausprägungen erfasst werden. In den Protokollbögen werden dann die entsprechenden Zahlencodes eingetragen und gegebenenfalls durch kurze Texte ergänzt. Damit wird sichergestellt, dass das Beobachtungspersonal in kurzer Zeit sehr viele Informationen festhalten kann. Da in standardisierten Beobachtungen vornehmlich mit Zahlencodes gearbeitet wird, liegen die Informationen unterschiedlich skaliert vor und können später mit den üblichen statistischen Verfahren ausgewertet werden. Die Gestaltung der Beobachtungsanweisungen und der standardisierten Protokollbögen hängt stark von der untersuchten Fragestellung sowie der Beobachtungssituation ab. In Anlehnung an Döring und Bortz (2016: 342) lässt sich hier zwischen nicht komplexen Beobachtungen und Verhaltensbeobachtungen differenzieren. Nicht komplexe Beobachtungen zielen auf einfach zu erfassende Merkmale ab, die gezählt werden können. Entsprechende Beobachtungen werden z.B. in der Marktforschung benutzt, um die Beachtung von Regalen und Produkten zu erfassen, oder in der Sozialforschung, um den Zustand und die Qualität von Wohngebieten oder einzelnen Häusern einzuschätzen (siehe z.B. Häder 2015: 320-323). Verhaltensbeobachtungen sind demgegenüber komplexer, weil sie vom Beobachtenden die Interpretation des beobachteten Geschehens erfordern. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Interaktionsprozessanalyse von Bales (1976), die den Umgang von Personen in Gesprächen erfasst (siehe z.B. Friedrichs 1980: 278-280). Andere typische Beispiele betreffen das Spielen von Kindern (siehe z.B. Schnell, Hill & Esser 2011: 384-385) oder das Verhalten in Schulklassen (siehe z.B. Döring & Bortz 2016: 350). Verhaltensbeobachtungen sind aber auch deshalb komplex, weil die beobachteten Verhaltensweisen auf verschiedenen Ebenen (z.B. Individual- und Gruppenverhalten) erfasst werden müssen. Ein gutes Beispiel dazu liefert Friedrichs (1980: 297-300) aus einer Gefängnisstudie. Beide dargestellten Varianten von Beobachtungen werden von Personen durchgeführt. In einer dritten Variante erheben stattdessen Apparate die interessierenden Sachverhalte. Die entsprechenden Sachverhalte müssen nicht manuell festgehalten werden. Die Protokolle bestehen rein aus zeitbezogenen Zustandsangaben meist in Form von digitalen Datenreihen. Oft repräsentiert ein einzelner Dateneintrag ein kurzes Zeitintervall, wobei sich die Beobachtung oft über lange <?page no="42"?> 42 2 Methode der Beobachtung Zeiträume erstreckt. In dieser Konstellation werden also Handlungen direkt in Daten überführt. Da diese Überführung automatisch funktioniert, treten dabei praktisch keine Probleme der Reliabilität und Objektivität auf, fraglich ist aber immer, wofür die Daten stehen und ob sie valide sind. Die Daten lassen sich in Messungen bzw. Parameter umwandeln und stehen danach für statistische Auswertungsverfahren zur Verfügung. Bei der standardisierten Erhebung besteht oft das Problem, dass ausreichend viele Angaben ausreichend schnell codiert werden müssen. Bei der hochstandardisierten apparativen Erhebung stellt sich demgegenüber eher das Problem von zu vielen, zu individuellen und oftmals zu unspezifischen Daten. Diese müssen dann geeicht, gefiltert und aggregiert oder auch in Bezug zu anderen Daten gesetzt werden, bevor sie sinnvoll ausgewertet und interpretiert werden können. 2.2.9 Manuelle versus apparative Beobachtungsprotokolle Die Einteilung in manuelle versus apparative Beobachtungen betrifft die Frage, wer oder was die Beobachtungsprotokolle erstellt: Personen oder Apparate. Zu Beginn der Entwicklung von Beobachtungsstudien Anfang des letzten Jahrhunderts wurden Beobachtungen ausnahmslos manuell durchgeführt, also von Personen, die beobachten und protokollieren. Im Zuge der Entwicklung und Miniaturisierung von Geräten und Sensoren wurde es zunehmend möglich, Handlungen apparativ zu erfassen. Die manuelle Beobachtung bringt immer den Vorteil mit sich, dass beobachtende Personen vor Ort sind, die Erfahrung mit der Beobachtungssituation und den beobachteten Personen sammeln und ans Forscherteam weitergeben können. Das beugt Fehlinterpretationen vor und hilft, die vorhandenen Resultate angemessen interpretieren und darstellen zu können. Ein Problem der manuellen Beobachtungen ist es aber, wenn sehr viele Informationen in kurzer Zeit erfasst werden sollen und sich die Beobachtung über einen langen Zeitraum erstreckt. In solchen Fällen ist abzuwägen, ob die entsprechende Beobachtung dem Beobachtungspersonal überhaupt zumutbar ist. Zudem bringt der Beobachtende immer Reaktivitätsprobleme mit sich, wenn sich die Beobachteten in ihrem Verhalten auf den Beobachtenden einstellen. Um diesen Problemen zu entgehen und Kosten zu sparen, die längere Beobachtungen mit großen Teams von Beobachtenden verursachen, entstand das Bestreben, Handlungen und Reaktionen mittels Apparaten und Sensoren festzuhalten. So kann z.B. mittels Lichtschranken festgestellt werden, wie viele Personen wann einen Raum betreten oder verlassen, ohne dass jemand beobachtend agieren muss. Die Lichtschranken können aber nur festhalten, wann sie jemand in welche Richtung und in welcher Geschwindigkeit passiert. Angaben zu den Personen, z.B. ihr Geschlecht oder ihr ungefähres Alter betreffend, sind mit diesen Apparaten nicht zu erheben, dazu wären wieder menschliche Beobachtende von Nöten. <?page no="43"?> 2.2 Varianten und Merkmale 43 Der Vorteil apparativer Beobachtungen liegt in der Reliabilität der Messung, und zwar über lange Zeiträume hinweg. Wenn die erfassenden Apparate zu der natürlichen Handlungssituation gehören oder von den Beobachteten nicht bemerkt werden, dann handelt es sich bei apparativen Beobachtungen um nichtreaktive Messverfahren. Sind die Apparate demgegenüber direkt an den zu beobachtenden Personen angebracht, wie z.B. physiologische Messsensoren oder Brillen zum Nachvollziehen des Blickverlaufs, ist fast zwangsläufig mit einer Störung oder zumindest Veränderung des natürlichen Geschehens zu rechnen. In einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen haben sich mittlerweile bestimmte apparative Beobachtungsverfahren etabliert. In der Mediaforschung wird die Fernsehnutzung mit einem apparativen Verfahren erhoben, das Telemetrie genannt wird (Brosius, Koschel & Haas 2016: 187-188). In der Psychologie werden physiologische Messungen von Hautwiderstand, Puls, Atemfrequenz etc. (z.B. Fahr & Hofer 2013) verwendet, um kognitive, emotionale oder motivationale Prozesse zu beobachten. Fantapié Altobelli (2011: 104-107) stellt unterschiedliche apparative Verfahren vor, die in der Marktforschung häufig zum Einsatz kommen: Verfahren wie das Tachistoskop zur Kurzzeitpräsentation von Bildern, physiologische Messungen oder Verfahren der Blickregistrierung. In vielen Bereichen wie z.B. dem Sport und der Gesundheit mussten gar keine speziellen Messgeräte entwickelt werden, weil z.B. Trainingsgeräte bestimmte Dinge automatisch erfassen. Zudem sind entsprechende Geräte zum Teil mittlerweile klein und preiswert zu erwerben, weshalb sie vielfach bereits sogar im privaten Gebrauch sind, wie z.B. Fitnessuhren, die nicht nur zurückgelegte Strecken und Geschwindigkeiten festhalten können, sondern auch Körpermerkmale wie den Puls. Bei apparativen Beobachtungsdaten muss aber reflektiert werden, wie gut die Daten die eigentlich interessierenden Verhaltensweisen und Reaktionen von Menschen widerspiegeln. Darüber hinaus fallen bei den apparativen Beobachtungen große Datenmengen an, die entsprechend aufbereitet werden müssen. Die praktischen, methodischen und ethischen Probleme, die dabei auftreten, werden derzeit unter dem Stichwort Big Data diskutiert (Brosius, Koschel & Haas 2016: 195-197) und sollten bei der Konzeption und Durchführung apparativer Beobachtungen angemessen berücksichtigt werden. 2.2.10 Direkte versus indirekte Beobachtung Bei der direkten Beobachtung wird das interessierende Geschehen selbst beobachtet. Wenn das Essverhalten untersucht werden soll, werden also Personen beim Essen beobachtet und wenn es um das Surfen im Internet geht, werden Personen hierbei beobachtet. Indirekte Beobachtungen analysieren demgegenüber nicht das Geschehen selbst, sondern stellvertretend dafür Handlungsspuren. Im ersten Fall könnten statt des Essens selbst Essensreste untersucht werden, um <?page no="44"?> 44 2 Methode der Beobachtung daraus das Essverhalten zu rekonstruieren, und im zweiten Fall könnte eine Logfile-Analyse dabei helfen, das Verhalten im Internet nachzuvollziehen. Viele direkte Beobachtungen bringen, wie bereits erwähnt, Probleme mit sich. Diese werden unter dem Reaktivitätsbegriff in Beobachtungsstudien diskutiert. Reaktivitätsprobleme werden durch die Beobachtung selbst hervorgerufen, wenn die Beobachteten ihr Verhalten in unnatürlicher Weise ändern, weil sie wissen, dass sie beobachtet werden (Webb, Campbell, Schwartz & Sechert 1975: 146-150). Diese Effekte werden zwar im Verlauf der Beobachtung geringer, sie lassen sich aber nie ganz ausschließen. Reaktive Effekte treten meist umso stärker auf, je weniger das natürlicherweise auftretende Verhalten sozial akzeptiert ist, weil solche Verhaltensweisen in Beobachtungen typischerweise vermieden werden. Noch problematischer sind direkte Beobachtungen, wenn Verhaltensweisen untersucht werden sollen, bei denen typischerweise niemand sein/ ihr Einverständnis für die Beobachtung erklären würde. In solchen Fällen ist zu überlegen, ob, anstatt der Handlung direkt, das Interessierende indirekt anhand von Handlungsspuren analysiert werden kann. Dann handelt es sich um ein nichtreaktives Verfahren, da die Beobachteten ihr Verhalten nicht auf die Beobachtung ausrichten können, weil die Analyse erst stattfindet, wenn die Handlungen bereits abgeschlossen sind. Sehr lesenswerte Anregungen für unterschiedliche nichtreaktive Messverfahren stellten Ende der 1960er-Jahre Webb, Campbell, Schwartz und Sechert (1975) vor, von denen etliche als indirekte Beobachtung einzustufen sind. So kann z.B. die Stellung der Stühle in einem Raum nach einem Therapiegespräch Auskunft über die dort stattgefundene Interaktion geben sowie Trampelpfade über die bevorzugten Wege von Fußgängern. Bei der Analyse solcher Handlungsspuren muss aber immer geprüft werden, wie gut die Spuren die interessierenden Handlungen repräsentieren. So muss ein Stuhlkreis nicht zwangsläufig anzeigen, dass sich in einer Gruppe eher gleichberechtigt ausgetauscht wurde, sondern kann auch daher rühren, dass die Gruppe einen Stuhlkreis vorgefunden hat, den sie später wiederhergestellt hat, um den Raum ordentlich zu verlassen. Wenn aber der Schluss von der Spur auf die interessierende Handlung relativ sicher erscheint, ist die indirekte Beobachtung ein methodisch gutes Verfahren, um die entsprechenden Handlungen zu analysieren. Durch die Entwicklung und Verbreitung von Internet und mobiler Kommunikation hat die indirekte Beobachtung mittels Handlungsspuren deutlich Auftrieb erhalten. Die Abwicklung von Internet- und mobiler Kommunikation erfordert es, dass an unterschiedlichen Stellen Daten über die ausgeführten Handlungen gespeichert werden. Wenn jemand im Internet eine bestimmte Seite aufruft, so wird z.B. festgehalten, mit welcher IP-Nummer wann welche Internetseite angefragt wurde und auf dem Server der Internetseite wird festgehalten, wann die Seite wie oft aufgerufen wurde. Solche Daten lassen sich nutzen, um Aktivitäten <?page no="45"?> 2.2 Varianten und Merkmale 45 im Internet nachzuvollziehen, sodass sich alle Handlungen (Musik hören, Filme ansehen, Informationen recherchieren, Produkte kaufen etc.), die im Internet durchgeführt werden, anhand von Analysen der digitalen Spuren im Nachhinein beobachten lassen. In der Mediaforschung werden entsprechende Daten genutzt, um die Verbreitung von Internetangeboten und die sich darauf befindliche Werbung zu messen. Die Marktforschung verwendet Clickstream-Analysen , um nachzuvollziehen, welche Geschäfte wann, von wem, wie im Internet abgewickelt werden (Kuß, Wildner & Kreis 2014: 139-141). Bei der Analyse von Verhaltensspuren im Netz muss aber immer geprüft werden, ob diese ethisch vertretbar ist, weil diejenigen, die die Spuren hinterlassen, kein Einverständnis zu deren Analyse gegeben haben. Ethisch unbedenklich sind in der Regel Analysen, die keinerlei Rückschlüsse auf die Personen zulassen. Sollen solche möglich sein, müssen über die ethischen Belange hinaus auch die rechtlichen Vorgaben des Datenschutzes berücksichtigt werden. 2.2.11 Unvermittelte versus vermittelte Beobachtung Die meisten Beobachtungen finden unvermittelt statt. Die Beobachtung wird am Ort und zur Zeit des beobachteten Geschehens durchgeführt. Unvermittelte Beobachtungen bringen einen Authentizitätsvorteil mit sich. Die Beobachtenden sind vor Ort und kennen die Situation aus eigener Anschauung. Sie bekommen ein Gefühl für mögliche Einschränkungen oder Störfaktoren bei der Beobachtung und lernen die Beobachteten zumindest ansatzweise kennen. Ein Beispiel wäre, einzelne Kinder während einer Unterrichtsstunde zu beobachten, wobei die beobachtende Person z.B. hospitierend im Klassenraum anwesend wäre. Diese Beobachtung erscheint unproblematisch, da jeweils ein Kind beobachtet wird und das beobachtete Geschehen eher langsam voranschreitet. Problematisch wird es aber immer dann, wenn mehrere Objekte beobachtet werden bzw. sich das Geschehen rasch ändert, wie z.B. bei der Beobachtung einer gesamten Klasse während des Sportunterrichts. Dann müssen entweder sehr viele beobachtende Person zum Einsatz kommen, oder das Geschehen wird per Video aufgezeichnet und im Nachhinein codiert. Solche vermittelten Beobachtungen ermöglichen es, auch komplexe Situationen zu beobachten. Vom Vorgehen her ähneln sie dem Codieren von audiovisuellem Material bei Inhaltsanalysen. Sie bringen den entscheidenden Vorteil mit sich, das Geschehen später in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abspielen, hin und her springen sowie einzelne Szenen mehrfach abspielen zu können. Zudem verlieren vermittelte Beobachtungen ihren sonst typischen flüchtigen Charakter, da Handlungen selbst nicht mehr vorliegen, wenn sie beendet sind. Damit können auch Aspekte, die erst im Laufe der Untersuchung in den Fokus der Forschenden geraten, später anhand der Aufzeichnungen noch berücksichtigt werden. Nicht zuletzt bringen Aufzeichnungen die Möglichkeit mit sich, das Material mehrfach <?page no="46"?> 46 2 Methode der Beobachtung codieren zu lassen, um die Reliabilität sowie die Objektivität des Vorgehens abzuschätzen. Bei standardisierten Verfahren kann das anhand von berechneten Parametern geschehen, bei nichtstandardisierten Verfahren wird es sich demgegenüber um Absprachen und Konsensbildung innerhalb des Teams von Beobachtenden handeln. Schon Selltiz, Jahoda, Deutsch und Cook (1972: 252) wiesen darauf hin, dass gerade bei qualitativen (nichtstandardisierten, teilnehmenden) Beobachtungen Aufzeichnungen die Genauigkeit der Beobachtung erheblich verbessern können. Sie dachten dabei aus Kostengründen insbesondere an Tonaufnahmen. Da heutzutage auch Filmaufnahmen (z.B. mit dem Smartphone) kostengünstig realisiert werden können, trifft diese Einschränkung nicht mehr zu. Aus ethischer Sicht ist aber zu bedenken, dass Aufzeichnung in jedem Fall die Einwilligung der Beobachteten erfordert. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob die Aufzeichnung selbst sowie die dazu nötigen Geräte die Natürlichkeit der beobachteten Handlung beeinträchtigen und das Erhebungsverfahren dadurch an Reaktivität gewinnt. Ein Grundproblem vermittelter Beobachtungen liegt in dem erheblichen Aufwand, der durch die Codierung der Aufzeichnungen entsteht. Dieser ist oft deutlich größer als eine standardisierte Erfassung der wesentlichen Aspekte unvermittelt vor Ort. Der Codierungsaufwand kann aber zunehmend durch Hilfsmittel verringert werden. Bei Audioaufnahmen sei hier insbesondere auf Verfahren der Stimmen- und Worterkennung hingewiesen, die automatisch Grundgerüste für ein wörtliches Transkript liefern. So weit ist die Technik für Bilderkennung zwar noch nicht fortgeschritten, sie entwickelt sich aber schnell, sodass auch hier in naher Zukunft brauchbare Hilfsmittel zu erwarten sind (siehe z.B. Geise, Rössler & Kruschinski 2016). 2.2.12 Kombinationen von Beobachtungsvarianten Theoretisch lassen sich die Beobachtungsvarianten und Merkmale zwar weitgehend frei kombinieren, in der Forschungspraxis finden sich allerdings bestimmte Kombinationen deutlich häufiger als andere. Zudem lassen sich einige Merkmale gar nicht frei kombinieren, da eine Entscheidung für eine Beobachtungsvariante automatisch bestimmte andere Merkmale mit sich bringt. Soll z.B. eine Beobachtung nichtstandardisiert vorgehen, weil dabei Interpretationen nötig sind, so muss diese manuell von Personen durchgeführt werden, da Apparate nicht interpretieren können. Apparative Beobachtungen setzen demgegenüber ein hohes Maß an Standardisierung voraus, damit diese überhaupt sinnvoll durchgeführt werden können. Auch der Blick in die Entwicklung der wissenschaftlichen Beobachtung deutet auf einzelne Beobachtungsvarianten hin, die mit bestimmten Kombinationen von Beobachtungsmerkmalen verbunden sind. Aber selbst bei diesen Kombinationen bleiben einzelne Entscheidungen den Forschenden überlassen. Die Entscheidungen über sinnvolle Kombinationen von Beobachtungs- <?page no="47"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 47 merkmalen sind nötig, um die jeweilige Beobachtungsstudie optimal an die aktuellen Bedingungen sowie deren wissenschaftliche Ziele anzupassen. Der Klassiker sind offene, teilnehmende, wissentliche, nichtstandardisierte Fremdbeobachtungen, die direkt, unvermittelt, manuell im Feld von den Forschenden durchgeführt werden. Zu ihnen zählen ebenso ethnologische Studien wie die frühen teilnehmenden Beobachtungen in der Soziologie. Groß angelegte standardisierte Beobachtungen z.B. von Mobilitäts- oder Kaufverhalten sind ähnlich konfiguriert, jedoch finden diese nichtteilnehmend, unwissentlich, aber standardisiert von Externen durchgeführt statt. Eine typische Studie mit physiologischen Messverfahren ließe sich demnach folgendermaßen charakterisieren: Es handelt sich um interne, offene, wissentliche, nichtteilnehmende, standardisierte Fremdbeobachtungen, die mit dem jeweiligen Stimulus, direkt, unvermittelt, apparativ im Labor durchgeführt werden. Von den Daten her ähnlich, vom Vorgehen her allerdings sehr unterschiedlich sind Self-Tracking-Studien einzuschätzen, bei denen Personen ihre eigenen Körperreaktionen mit kleinen Messgeräten festhalten. Bei diesen handelt es sich um interne, teilnehmende, offene, wissentliche Selbstbeobachtungen im Feld, die ohne Stimulus, standardisiert, direkt, unvermittelt, aber apparativ Daten erheben. Zunehmend werden auch Studien von Verhaltensspuren im Internet durchgeführt. Nach der vorliegenden Systematik handelt es sich dabei um externe, nichtteilnehmende, verdeckte Fremdbeobachtungen, die ohne Stimulus, standardisiert, indirekt, aber unvermittelt und apparativ im Handlungsfeld erhoben werden. Je nach speziellen Anforderungen ist eine Vielzahl weiterer Kombinationen denkbar. Ziel sollte es immer sein, durch die Kombination Einschränkungen von Beobachtungen ebenso wie damit einhergehende Probleme möglichst zu umgehen. 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung Der gesamte Prozess der empirischen Sozialforschung und die einzelnen Forschungsschritte bedürfen fortwährender kritischer Reflexion und daran anknüpfender Strategien zur Qualitätssicherung und -verbesserung. Wichtige Orientierungspunkte liefern dabei zunächst die allgemeinen Regeln wissenschaftlichen Arbeitens und die Regeln bzw. Konventionen der jeweiligen disziplinären wissenschaftlichen Gemeinschaften. Darüber hinaus gibt es spezifische Verfahrensregeln und Konventionen für die eingesetzten Forschungsdesigns, für die Verfahren des Samplings, für die Erhebung und die statistische oder interpretative Analyse der Daten. Bei der kritischen Reflexion der einzelnen Forschungsschritte ist es wichtig, die Qualität des Gesamtprozesses im Blick zu haben; Fehler oder blinde Flecken in der Konzeption oder in der Phase der Erhebung lassen sich an späterer Stelle kaum noch kompensieren. <?page no="48"?> 48 2 Methode der Beobachtung Die Einbettung von Beobachtungsverfahren in unterschiedliche Forschungsdesigns erfordert es, Verfahren der kritischen Reflexion und der Qualitätssicherung zu entwickeln, die der Logik dieser Forschungsdesigns entsprechen. So ist z.B. eine Identifizierung von Fehlern, in Anlehnung an naturwissenschaftlich-technische Konzepte des Messens, im Kontext quantitativer Forschungsdesigns ein durchaus sinnvolles Konzept; in der qualitativen Forschung ergibt das keinen Sinn. Bei letzterer geht es eher um Probleme und Verzerrungen, die mit der Rolle der Forschenden verknüpft sind. Daher werden im Folgenden die Strategien der Reflexion und der Qualitätssicherung separat für die quantitative und die qualitative Forschung behandelt. 2.3.1 Qualitätssicherung bei quantitativen Beobachtungen Viele Probleme bei der Beobachtung entstehen durch Fehler der Beobachtenden, wenn die Beobachtung von Personen durchgeführt wird. Solche Probleme sowie Lösungen dazu sind Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte, die sich an einer Systematik von Greve und Wentura (1997) orientiert sowie an deren Konkretisierungen von Döring und Bortz (2016) bzw. Häder (2015). Für weitere Anregungen ist es ratsam, sich darüber hinaus in der Methodenliteratur zur Inhaltsanalyse zu informieren, denn die Probleme durch die Beobachtenden ähneln in vielerlei Hinsicht den Problemen der Codierer bei Inhaltsanalysen. Die erste Fehlerquelle liegt in der richtigen Identifikation der Aspekte , die laut Untersuchungsanlage beobachtet werden sollen. In der Literatur wird dieses Problem als selektive Wahrnehmung diskutiert. Oft besteht schon ein Problem in mangelnder Motivation, das zu Beobachtende aufmerksam und genau genug zu verfolgen. Dieses Problem tritt insbesondere bei externen Beobachtenden auf, die die Beobachtung lediglich durchführen, um damit Geld zu verdienen oder sie z.B. als Leistung im Studium oder im Zuge einer Ausbildung anerkannt zu bekommen. Das Problem verschärft sich durch die Flüchtigkeit der beobachteten Handlungen, weshalb kaum nachzuprüfen ist, ob die Einzelnen genau gearbeitet haben. Das zweite Problem besteht in mangelndem Vorwissen. Wenn das Beobachtungspersonal keine genauen und vollständigen Anweisungen erhalten oder diese nicht richtig verstanden hat, können trotz vorhandener Motivation nicht alle relevanten Aspekte erfasst werden, weil ihnen gar nicht klar ist, dass diese erhoben werden sollen. Vorwissen kann aber auch zu verzerrter Wahrnehmung führen. Ein zentrales Problem besteht darin, dass Aspekte, die z.B. aufgrund theoretischer Vorüberlegungen erwartet werden, besser entdeckt werden als unerwartete Aspekte. Ähnliche Verzerrung gibt es bei auffälligen Aspekten. Bei den identifizierten Aspekten tritt dann das Problem der richtigen Einordnung auf, was in der Literatur meist als selektive Interpretation diskutiert wird. Probleme dabei ergeben sich meist durch das Vorwissen der Beobachtenden in Kombination mit der möglichen (parasozialen) Beziehung, die sie zu den beobachteten <?page no="49"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 49 Personen entwickelt haben. Bekannt ist z.B. der Effekt der Verstetigung erster Eindrücke. Dieser bringt mit sich, dass erste Urteile, z.B. „eine Person agiert aggressiv“, dazu verleiten, auch nachfolgende Aktionen eher als aggressiv einzuschätzen. Wenn sich eine positive Beziehung zwischen Beobachtungspersonal und beobachteten Personen ergibt, was bei länger andauernden Beobachtungen eher die Regel sein wird, ist die Tendenz zur Mitte bzw. Milde bekannt. Diese bringt es mit sich, insbesondere bei sympathischen Personen extreme Handlungen als weniger extrem wahrzunehmen. Bekannt sind aber auch Kontrasteffekte. Diese führen zu eher extremen Einschätzungen; eine Tendenz, die insbesondere dann auftritt, wenn im beobachteten Geschehen lange nichts Außergewöhnliches passiert ist. Etliche Probleme ergeben sich beim Erstellen der Beobachtungsprotokolle . Bei nichtstandardisierten Beobachtungen entstehen viele Fehler durch selektive Erinnerung. In der Regel werden während der Beobachtung allenfalls Notizen gemacht und das eigentliche Beobachtungsprotokoll erst nach Abschluss der Beobachtung verfasst. Aspekte, die später nicht mehr erinnert werden oder aufgrund der Notizen und der Erinnerung im Nachhinein falsch eingeschätzt werden, können nicht adäquat in den Beobachtungsprotokollen wiedergegeben werden. Raab, Unger und Unger (2009: 132) diskutieren darüber hinaus Probleme des Sprachgebrauchs. Damit die Protokolle richtig bearbeitet werden können, ist es nötig, die Protokolle in einer Art zu verfassen, die bei der Auswertung richtig interpretiert wird. Bei der standardisierten Beobachtung treten demgegenüber oft Probleme bei der Umsetzung der Vorgaben auf. Diese resultieren aus unverständlichen oder ungenauen Vorgaben oder aus einem zu schnellen und zu komplexen Geschehen, das sich gar nicht angemessen protokollieren lässt. Wenn solche Probleme auftauchen, haben sie negative Auswirkungen auf die weitere Beobachtung, die dann oft ungenau stattfindet, weil die Beobachtenden vermuten, die Beobachtungsvorgaben und die Protokollbögen seien ungeeignet. Nicht zuletzt besteht insbesondere bei externen Beobachtenden die Gefahr von Fälschungen, bei denen die Beobachtenden die Daten erfinden; ein Problem, das insbesondere aus der Umfrageforschung bekannt ist. Das in der Literatur am häufigsten diskutierte Mittel, um die durch die Beobachtenden bedingten Fehler zu minimieren, ist deren Schulung . Bei dieser muss dem Beobachtungspersonal genau vermittelt werden, wie es bei der Beobachtung vorgehen soll und wie die eigentliche Protokollierung stattzufinden hat. Das sollte vom Forscherteam demonstriert, von den Beobachtenden ausprobiert und in einem Pretest kontrolliert werden. Wenig diskutiert, aber ebenso wichtig ist die Konzeption alltagstauglicher Erhebungsverfahren. Oft sind die Ziele der Untersuchung sowie die Anweisung zur Durchführung der Beobachtung in einem wissenschaftlichen Sprachduktus verfasst, der für die Durchführenden nur schwer verständlich ist. Zudem werden aufgrund wissenschaftlicher Genauigkeit gern <?page no="50"?> 50 2 Methode der Beobachtung extrem komplexe Protokollbögen entworfen, die bei der Beobachtung nur sehr schwer angemessen ausgefüllt werden können und wegen ihrer Komplexität bei der Auswertung oft wieder zusammengefasst werden. Um Fehler bei der Erhebung zu vermeiden, wäre es sinnvoller, bei der Beobachtung gleich die weniger komplexe Variante zu erheben, um die Beobachtenden nicht zu demotivieren. Das führt zum letzten und vielleicht wichtigsten Punkt der Fehlervermeidung: Motivation gekoppelt mit Supervision und angemessener Vergütung. Nur das Forschungsteam selbst ist intrinsisch an der Erhebung guter Daten interessiert, für alle anderen ist die Datenerhebung potenziell eine Last. Sie müssen deswegen kontinuierlich dazu motiviert werden, ihnen sollte Supervision angeboten werden, insbesondere zum angemessenen Verhalten in der Beobachtungssituation und beim Einholen des Einverständnisses zur Beobachtung. Schließlich sollten sie zumindest angemessen, besser noch gut entlohnt werden, damit sie ein Interesse haben, weiter am Projekt mitarbeiten zu dürfen. Erste Ergebnisse dazu, wie externe Beobachtende ihr eigenes Vorgehen und Probleme bei der Beobachtung einschätzen, finden sich bei Podschuweit (2017). Fehler, die aufgrund der Beobachtungssituation entstehen, sind genau genommen entweder auf die zu beobachtenden Personen oder auf situative Einschränkungen zurückzuführen. Auch hierzu orientiert sich die nachfolgende Darstellung an Überlegungen von Greve und Ventura (1997) sowie deren Weiterentwicklung von Döring und Bortz (2016) bzw. Häder (2015). Da die hier diskutierten Probleme der Beobachtung denen bei persönlichen Befragungen ähneln, liefert die entsprechende Methodenliteratur hierzu weitere Hinweise. Ein Grundproblem der Beobachtung liegt in der Umsetzung des geplanten Auswahlverfahrens . Beobachtungen sind auf das Einverständnis und die Teilnahme der Beobachteten angewiesen. Es ist aber oft schwierig, die in der Theorie sinnvollen Auswahlanweisungen in der Praxis umzusetzen und zu erfüllen. Deshalb sind bei wissenschaftlichen Beobachtungen echte Zufallsauswahlen die Ausnahme. Zudem führen nicht nur Verweigerung auf Seiten der Untersuchten zu Ausfällen bei der Auswahl, sondern oft auch situative Einflüsse, die eine Beobachtung verhindern, wie z.B. starker Regen bei Beobachtungen draußen. Die meisten Probleme der Beobachtungssituation werden unter dem Stichwort Reaktivität erörtert. Diese beschreibt Reaktionen der Beobachteten aufgrund der Beobachtungssituation, die so bei einem natürlichen Handlungsverlauf nicht aufgetreten wären und deshalb als Fehler zu klassifizieren sind. In Analogie zu Befragungen lassen sich die meisten dieser Fehler als Fehler aufgrund sozialer Erwünschtheit charakterisieren. Demnach neigen Personen, denen bewusst ist, dass sie gerade beobachtet werden, eher zu sozial akzeptierten oder sogar erwünschten Verhaltensweisen und vermeiden andererseits eher Verhaltensweisen, die unerwünscht, tabuisiert oder persönlich und intim sind. Andere Fehler entstehen als Reaktion auf die beobachtenden Personen oder die eventuell auch nur unter- <?page no="51"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 51 stellten Ziele der Untersuchung. Einige Personen neigen dazu, den Beobachtenden gefallen zu wollen und sich gemäß den unterstellten Zielen der Untersuchung zu verhalten. Andere Personen, und zwar insbesondere solche, die der Untersuchung und ihren Zielen skeptisch gegenüberstehen, werden demgegenüber eher Verhaltensweisen zeigen, die den Annahmen und Zielen der Untersuchung widersprechen. Entsprechende Probleme ähneln dem Phänomen der Reaktanz. Nicht zuletzt erzeugt die eher künstliche und oft erzwungene Situation bei der Beobachtung bei vielen Personen Hemmungen. Dann werden sich die Personen kaum noch spontan verhalten, wie sie es vielleicht natürlicherweise tun würden. Sie würden stattdessen ihre Verhaltensweise kontrollieren und reflektieren, wahrscheinlich auch, weil sie sich selbst kontrolliert fühlen. Auch die Beobachtungssituation bringt Fehlerquellen mit sich, und zwar vor allem dann, wenn es sich um natürliche Alltagssituationen handelt. Dann treten oft Störungen auf, die den zu beobachtenden Handlungsfluss unterbrechen. Bei solchen Störungen kann es sich z.B. um andere Personen handeln, die in die Beobachtungssituation eintreten und diese unterbrechen. Störungen können aber auch von externen Faktoren ausgehen wie z.B. Wetter, Stromausfall, Straßensperrungen etc., die die nachfolgenden Handlungen beeinträchtigen oder die Beobachtung unmöglich machen. Ein zweiter Faktor sind Einschränkungen der Beobachtbarkeit. Hierunter sind alle Faktoren zu fassen, die die Möglichkeit, das Geschehen zu sehen oder zu hören, einschränken. Einschränkungen können sich auch durch Gegebenheiten außerhalb der eigentlichen Beobachtungssituation ergeben, wenn diese Aufmerksamkeit erregen und von der Beobachtung ablenken. Nicht zuletzt verursacht oft die Funktionalität der Beobachtungsinstrumente in der jeweiligen Situation Probleme. Eine Fehlerquelle sind die Protokollbögen. Wenn z.B. die Beobachtungsprotokolle nicht an den natürlichen Ablauf der Beobachtungssituation angepasst sind, dann ist es für die Beobachtenden oft schwierig, diese angemessen auszufüllen. Entsprechende Fehler entstehen vor allem durch die Notwendigkeit, zwischen unterschiedlichen Protokollbögen hin- und herzublättern, oder durch Probleme bei der Zuordnung einzelner Protokollbögen zu Personen oder Handlungen. Aber auch die Beobachtungsgeräte bringen Einschränkungen mit sich. Bei vermittelten Beobachtungen wird Aufzeichnungstechnik benötigt, bei apparativen Beobachtungen Geräte, die die Handlung oder Körperreaktion erfassen. Der Einsatz von Geräten wird empfohlen, um Fehler durch die beobachtenden Personen zu vermeiden. Die Geräte selbst sind aber auch fehleranfällig oder funktionieren vor Ort nicht in gewünschter Weise. Ein banales, aber nicht selten auftretendes Problem entsteht oft aus unzureichenden Akkulaufzeiten, die dazu führen, dass die Geräte nicht oder nicht lange genug arbeiten. Zum Teil lassen sich diese Probleme durch Schulung des Beobachtungspersonals in Bezug auf ihr Verhalten in der Situation und ihren Umgang mit der Technik vermeiden. Hilfreich ist auch ein möglichst realistischer Pretest , der dem For- <?page no="52"?> 52 2 Methode der Beobachtung schungsteam vor der eigentlichen Untersuchung bestimmte Fehlerquellen deutlich macht, sodass diese bei der eigentlichen Untersuchung vermieden werden können. Natürlich sollte vor jedem einzelnen Untersuchungsdurchgang die Vollständigkeit des Untersuchungsmaterials und die Funktionsfähigkeit der Untersuchungstechnik geprüft werden. Nicht zuletzt sollte ein Rückmeldesystem etabliert werden, in dem diejenigen, die die Untersuchungen vor Ort durchführen, die dabei auftretenden Probleme melden können. Zumindest sollte bei jeder einzelnen Beobachtung als Fehlernotiz festgehalten werden, ob situative Besonderheiten aufgetreten sind und inwiefern diese zu Verzerrungen der Ergebnisse geführt haben könnten. Die genannten Fehlerquellen können bei allen Beobachtungsstudien auftreten. Um festzustellen, wie stark sie aufgekommen sind, werden bei Beobachtungsstudien dieselben Gütekriterien benutzt wie bei standardisierten Verfahren zur Datenerhebung. Die Gütekriterien betreffen das Auswahlverfahren, die Beobachtenden und die Beobachtungssituation. Gütekriterien für das Auswahlverfahren und die realisierte Auswahl werden eher selten diskutiert. Das verwundert insofern, als dass die Auswahl der Untersuchungsobjekte genauso einflussreich auf die erzielten Resultate ist wie das Erhebungsverfahren. Trotzdem wird sowohl bei qualitativen Studien als auch bei bewussten Auswahlverfahren selten diskutiert, wie gut die realisierte Auswahl, also die tatsächlich untersuchten Elemente, zur Fragestellung passen und geeignet sind, über diese Aussagen zu machen. Das anzulegende Kriterium hierbei wäre die Angemessenheit der realisierten Auswahl. Grundsätzlich ist dabei die Frage zu stellen, ob die angestrebte Auswahl passend war oder ob sie z.B. bestimmte relevante Bereiche gar nicht abdeckt. Praktisch sollte reflektiert werden, inwieweit die tatsächlich untersuchten Elemente der angestrebten Auswahl entsprechen. Gerade wenn nur wenige Personen untersucht werden, ist es ratsam, festzuhalten, welche Personen die Teilnahme an der Untersuchung verweigert haben, um abzuschätzen, ob bestimmte Aspekte außen vor bleiben. Diese Grundlogik entspricht der Ausschöpfung bei quantitativen Studien, insbesondere solchen mit Zufallsstichproben. Wie bei Befragungen lässt sich die Relation zwischen Personen, die um Mitarbeit bei der Studie gebeten wurden, und denjenigen, die tatsächlich untersucht wurden, als Ausschöpfungsquote berechnen. Wenn Angaben über die Verweigernden vorliegen oder Angaben aus der Grundgesamtheit bekannt sind, sollte zudem die Systematik der Ausfälle geprüft werden. Auf dieser Ebene ergeben sich wieder Parallelen zwischen der wissenschaftlichen Beobachtung und der wissenschaftlichen Befragung. Demgegenüber weisen die Gütekriterien zum Vorgehen der Beobachtenden Parallelen zu denen für codierende Personen bei Inhaltsanalysen auf. Gemäß der üblichen Methodenliteratur lassen sie sich unter Reliabilität fassen. Die Reliabilität gibt an, inwieweit zwei Beobachtungen desselben Geschehens übereinstimmen. <?page no="53"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 53 Ziel einer wissenschaftlichen Studie sollte weitgehende Übereinstimmung sein. Dabei lassen sich zwei Arten von Reliabilität unterscheiden (Schnell, Hill & Esser 2011: 394-395): die Intracoder-Reliabilität und die Intercoder-Reliabilität, die mit verschiedenen Koeffizienten berechnet werden können. Die Intracoder-Reliabilität gibt an, inwieweit eine Beobachtung mit einer Wiederholungsbeobachtung durch dieselbe Person übereinstimmt, was sich nur bestimmen lässt, wenn Videoaufzeichnungen des beobachteten Geschehens vorliegen. Die Frage, inwieweit die Beobachtungen desselben Geschehens durch zwei oder mehr unterschiedliche Personen übereinstimmen, betrifft die Intercoder-Reliabilität. In der Literatur wird diese Frage oft unter dem Stichwort „Objektivität“ diskutiert. Die anzustrebende Objektivität ist dann gegeben, wenn das Ergebnis der wissenschaftlichen Erhebung unabhängig von den Personen ist, welche die Erhebung durchführen. Soweit das möglich ist, sollten die Kriterien geprüft und die entsprechenden Koeffizienten berechnet und auf die einzelnen Beobachtenden bezogen werden. Damit lässt sich herausfinden, ob bestimmte Beobachtende systematisch unzuverlässiger oder abweichend von den anderen Beobachtenden protokolliert haben, um zu entscheiden, ob alle Beobachtungen, die von bestimmten Personen stammen, wegen mangelnder Reliabilität von der Analyse ausgeschlossen werden sollten. Als Gütekriterium für die Erhebungssituation wird in der Regel die Validität herangezogen. Sie gibt an, wie gut das, was untersucht werden sollte, tatsächlich untersucht werden konnte. Typischerweise werden dabei interne und externe Validität unterschieden. Die interne Validität gibt an, wie gut die eigentliche Beobachtung durchgeführt werden konnte oder ob es dabei systematisch zu Fehlern gekommen ist. Mangelnde interne Validität entsteht zum Teil durch Fehler der Beobachtenden, häufiger allerdings durch Störungen der Beobachtungssituation oder Einschränkungen der Beobachtungsmöglichkeit. Die interne Validität betrifft also die Frage, wie gut die Messung durchgeführt werden konnte. Im Gegensatz dazu taxiert die externe Validität, wie gut sich die erhaltenen Ergebnisse verallgemeinern lassen. Hier sind die Hauptprobleme die Reaktivität der Beobachteten sowie die Künstlichkeit der Beobachtungssituation. Beide können dazu führen, dass das beobachtete Geschehen nicht dem interessierenden Alltagsverhalten entspricht und sich deshalb nicht auf dieses übertragen lässt. Einige Beobachtungsverfahren bzw. Beobachtungsvariablen bestehen aus Messungen, die ähnlich sind wie Messungen in den Naturwissenschaften. Bei solchen Verfahren werden die oben genannten Qualitätskriterien oft genauer in einzelnen Komponenten erfasst und hierarchisiert. Typischerweise werden dabei folgende Aspekte berücksichtigt. Objektivität beschreibt dann den Standardisierungsgrad des (Beobachtungs-) Verfahrens. Es ist der grundlegende Baustein für die Güte der Messmethode. Es wird hierbei unterschieden zwischen folgenden Formen: <?page no="54"?> 54 2 Methode der Beobachtung • Durchführungsobjektivität : Wie standardisiert ist die Durchführung? Je höher die Durchführungsobjektivität ist, desto ähnlicher sind sich die Ergebnisse, die von unterschiedlichen Versuchsleitenden erzielt werden. • Auswertungsobjektivität : Kommen verschiedene Auswertende oder Systeme bei gleichem zugrunde liegenden Datenmaterial zu den gleichen Ergebnissen? Dieser Grad kann nach der Erhebung erfasst werden. • Interpretationsobjektivität : Kommen verschiedene Interpreten bei gleicher Datenlage und Auswertung zu den gleichen Ergebnissen? Die Reliabilität eines (Beobachtungs-)Verfahrens drückt aus, wie genau ein Merkmal gemessen wurde. Hohe Reliabilität kann nur mit hoher Objektivität verzeichnet werden. Reliabilität kann über verschiedene Ansätze abgeschätzt werden, wobei die Paralleltestmethode, Testhalbierungsreliabilität und Konsistenzanalyse nur selten für Beobachtungsverfahren in Frage kommen: • Interrater-Reliabilität : Wie sehr stimmt die Beurteilung des Datenmaterials von mindestens zwei Beobachtenden überein bzw. wie konkordant sind die Beurteilungen? Je größer die Übereinstimmung ist, desto unabhängiger ist die Beurteilung vom Beobachtenden, und ähnelt somit der Objektivität. • Retest-Reliabilität : Werden bei zwei Messzeitpunkten mit der gleichen Stichprobe gleiche Ergebnisse gefunden? Hier gilt die Wiederholungsregel: Wenn eine Stichprobe zu einem ersten Messzeitpunkt gemessen wird und nach einem zu definierenden Abstand ein weiteres Mal, sollte man zu den gleichen oder zumindest zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommen. Werden die gleichen oder ähnlichen Ergebnisse zu beiden Messzeitpunkten gefunden, ist die Reliabilität hoch. • Paralleltest : Es werden zwei inhalts- und strukturgleiche Versionen des Verfahrens erstellt und den Teilnehmenden vorgelegt. Ist die Korrelation zwischen beiden Versionen hoch, spricht man von hoher Reliabilität. • Testhalbierungsreliabilität : Die Messung mit mehreren Variablen wird in zwei gleich große Hälften geteilt (z.B. durch Zufall), die beide das gleiche Merkmal messen sollen. Beide Testhälften werden mit der gleichen Personengruppe durchgeführt, die Ergebnisse beider Teile sollten bei hoher Reliabilität ähnlich sein. • Konsistenzanalyse : Wie stark stimmen die einzelnen Variablen eines Verfahrens miteinander überein? Hierzu wird die Messung in so viele Teile wie möglich unterteilt (z.B. jede Variable einzeln) und die Zusammenhänge innerhalb einer Stichprobe untersucht. Mithilfe der Validität wird beschrieben, ob die Messung das misst, was sie vorgibt zu messen. Sowohl Objektivität als auch Reliabilität sind Voraussetzungen für eine valide Messung, die folgendermaßen erfasst werden kann: <?page no="55"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 55 • Inhaltsvalidität : Entstammen die gemessenen Variablen dem gleichen inhaltlichen Universum wie das Merkmal, das gemessen werden soll, sind also die gemessenen Variablen Teil dessen, was erfasst werden soll. • Kriteriumsvalidität : Wie hoch ist die Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der vorliegenden Messung und einem relevanten Außenkriterium? Das Kriterium kann in der Zukunft liegen (prädiktive Validität) oder zur gleichen Zeit erhoben sein (konvergente und divergente Validität). Diese Formen der Validität werden als Korrelationen ausgedrückt. • Konstruktvalidität : Lassen sich die erfassten Variablen zu einem oder mehreren Konstrukten (als übergeordnete Merkmale) zusammenfassen? Konstruktvalidität ist das anspruchsvollste Gütekriterium, das einem Messinstrument angelegt werden kann. Abb. 3 | Übersicht der Kriterien 2.3.2 Qualitätssicherung bei qualitativen Beobachtungen In der qualitativen Forschung kommt den Forschenden eine weitaus prägendere Rolle zu als in der quantitativen Forschung. Die Forschenden treffen nicht nur die zentralen Entscheidungen über das Forschungskonzept und das Untersuchungsdesign; sie führen in der Regel auch weite Teile der Forschung selbst durch. Sie sind es, die Auswahlen (von Situationen, Fällen oder Objekten) treffen, die die Erhebung vornehmen, die Informationen aufzeichnen, die Daten interpretieren, verdichten und in Forschungsberichten vertextlichen. Damit sind vielerlei Entscheidungen verbunden, für die es zwar Regeln gibt, die aber dann doch <?page no="56"?> 56 2 Methode der Beobachtung immer wieder - den wechselnden Forschungssituationen und dem voranschreitenden Forschungsprozess angemessen - variiert werden müssen. Darin liegt ein großer Vorteil der qualitativen Forschung; das birgt aber auch ein gewisses Risiko. Nur ein kleinerer Teil der Forschungsentscheidungen kann wohlüberlegt am „grünen Tisch“ getroffen werden; die Entscheidungen sind meist kurzfristig im Feld zu fällen. Die Forschenden entscheiden als Personen, die in einer spezifischen Weise psychisch und physisch konstituiert und sozialisiert worden sind. Das heißt, sie sind individuell geprägt, sie haben aber auch eine sozialstrukturelle, eine geschlechtliche, eine kulturelle bzw. eine wissenschaftliche Prägung erfahren. Das macht sie als Forschende überhaupt erst handlungsfähig; damit ist aber auch das größte Problem der Forschung verbunden, weil sich diese Prägungen in allen Phasen des Forschungsprozesses niederschlagen können. Für den Einsatz von Beobachtungsverfahren heißt das, dass die Forschenden so beobachten, wie es männliche oder weibliche Personen aus Mitteleuropa mit einer bestimmten sozialen Herkunft nun einmal tun. Ein Blick in die Geschichte empirischer Forschungen kann aufzeigen, wie Forschungen verzerrt oder völlig entwertet werden, wenn diese Prägungen nicht hinreichend reflektiert und entsprechende Strategien der Qualitätsverbesserung eingesetzt werden. Viele dieser Probleme sind in einer langen, durchaus nicht abgeschlossenen Geschichte methodenkritischer Diskurse in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen erörtert worden; exemplarisch sei hier verwiesen auf die Diskurse um die Ethnozentrik (z.B. Orientalismus, whiteness ) von Forschungen (z.B. Kaltmeier & Berkin 2012), um den Androzentrismus und die Heteronormativität von Forschungen (z.B. Althoff et al. 2017), um die soziale Verortung der Forschenden (z.B. Bourdieu 1992; 1993) und schließlich um die Forschenden selbst (z.B. Devereux 1984) bzw. den Prozess des Schreibens (z.B. Clifford 1993). Im Folgenden sollen nun verschiedene Strategien aufgezeigt werden, die dazu beitragen können, mit diesen Problemen umzugehen. Erstens kann auf die Beachtung der wissenschaftlichen und der oben erörterten ethischen Standards verweisen werden. Zweitens ist auf die von Bourdieu vorgeschlagene Strategie einer Sozioanalyse des objektivierenden Subjekts zu verweisen. Er hebt dabei drei Momente der reflexiven Analyse hervor: Es gehe (a) um eine Analyse der sozialen Bedingungen des wissenschaftlichen Produzierenden, insbesondere um jene Eigenschaften, „die er (sic! ) seiner sozialen, geschlechtlichen und ethnischen Herkunft verdankt“ (Bourdieu 1993: 369); es gehe (b) um deren Stellung im wissenschaftlichen bzw. universitären Feld und schließlich (c) um die unsichtbaren Bedingungen, die dieser Stellung eingeschrieben sind: „Sobald wir die gesellschaftliche Umwelt beobachten, ist unsere Wahrnehmung dieser Welt von einem ‚Bias‘ beeinträchtigt, der an den Umstand <?page no="57"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 57 gebunden ist, daß wir, um die Welt studieren, beschreiben und von ihr sprechen zu können, mehr oder weniger vollständig von ihr abstrahieren müssen. Der theoretizistische oder intellektualistische ‚Bias‘ besteht darin, daß wir vergessen, der von uns erstellten Theorie der gesellschaftlichen Welt den Tatbestand einzuschreiben, daß die Theorie das Produkt eines theoretischen Blicks ist, eines ‚kontemplativen Auges‘ [...], das dazu neigt, eher die Welt wie ein Schauspiel wahrzunehmen, wie eine (theatralische oder geistige) Darbietung, wie eine Gesamtheit von Bedeutungen, die nach einer Interpretation verlangt, denn als eine Gesamtheit von konkreten Problemen, die nach praktischen Lösungen ruft.“ (Bourdieu 1993: 370) Ferner können bei Beobachtungen im Kontext qualitativer Forschungsdesigns spezifische Strategien der Qualitätssicherung genutzt werden. Grundsätzlich besteht ein großer Konsens, dass angesichts der eigenen Logik der qualitativen Sozialforschung, die Gütekriterien aus der quantitativen Forschung nicht übertragen werden können (z.B. Kruse 2014: 55 oder Przyborski & Wohlrab-Sahr 2010: 35). Dementsprechend wird die Formulierung eigener Kriterien favorisiert; hier gibt es auch wegen der unterschiedlichen Paradigmen in der qualitativen Forschung keinen Konsens (z.B. Breuer & Reichertz 2001). Die folgende Darstellung orientiert sich an den Vorschlägen von Kruse (2014: 54-58) und Flick (2007: 487- 510) und ergänzt sie durch Hinweise auf weitere qualitätssichernde Verfahren. 2 Eine erste Systematisierung dieser Vorschläge kann erreicht werden, wenn man sich vorab verdeutlicht, auf welche Reflexionsbzw. Kontrollinstanz jeweils rekurriert wird; demnach lassen sich unterschieden: • Techniken der Selbstreflexion und -kontrolle • Techniken der Kontrolle durch andere Forschende • Techniken der Rückkoppelung mit den Beforschten • Qualitätssicherung durch Regeln und Standards Neben den oben beschriebenen Verfahren der Sozioanalyse gilt es, auch den Erhebungs- und Auswertungsprozess im Feld fortwährend (selbst-)kritisch zu reflektieren. Das kann im Rahmen von Feldtagebüchern (z.B. Flick 2007: 377) oder von reflektierenden Feldnotizen bzw. Memos (z.B. Emerson et al. 1995: 100-107) geschehen. Diese Techniken ermöglichen es insbesondere bei Feldforschungen, die gewonnenen Erfahrungen, die oft über das im Sinne der Forschungsfrage zu Beobachtende hinausgehen, für deren Klärung aber durchaus bedeutsam sein 2 Da sich viele qualitative Forschungsdesigns, insbesondere die Verfahren der Feldforschung, durch eine starke Verschränkung von Sampling, Datenerhebung und Datenanalyse auszeichnen, beziehen sich diese Vorschläge zur Qualitätssicherung über den Erhebungsprozess hinaus auch auf den Auswertungsprozess und den Forschungsprozess in seiner Gesamtheit. <?page no="58"?> 58 2 Methode der Beobachtung können, festzuhalten. Umgekehrt sollte jedoch auch die Sparsamkeitsregel beachtet werden, indem man versucht, möglichst nur das aufzuzeichnen, was der Beantwortung der Forschungsfrage dient (Flick 2007: 378). Neben der Selbstkontrolle spielen Techniken der Kontrolle durch andere Forschende eine wichtige Rolle im qualitativen Forschungsprozess; das können zum einen Kolleginnen und Kollegen sein, die an dem Forschungsprozess beteiligt sind oder die zur Konsultation herangezogen werden, das kann aber auch die engere oder weitere scientific community sein. Die darüber hergestellte Intersubjektivität wird in den verschiedenen Phasen einer Untersuchung ein hilfreiches Instrument sein, weil es die Forschenden zur Dokumentation und zu Explikationen zwingt: Das beginnt bei der Explikation von Forschungsfragen und Untersuchungsdesigns, das umfasst die Explikation von Beobachtungen und die Kommunikation über abweichende Beobachtungen und es schließt Explikationen ein, wenn das Material in Analysegruppen - Kruse (2014: 57) spricht hier von kollegialer Validierung - oder in Interpretationsgruppen (Leithäuser 1988) ausgewertet wird. Insbesondere bei Beobachtungen kann, soweit es die Situation zulässt, der Einsatz von mehreren Beobachtenden sinnvoll sein, welche dann je für sich Aufzeichnungen machen, die z.B. in den Sitzungen des Forschungsteams erörtert und zur Basis von verdichtenden Darstellungen werden (Strauss 1991: 175-190). Eine Intersubjektivierung durch die scientific community setzt dann, wie in den Regeln wissenschaftlichen Arbeitens codifiziert, eine möglichst weitgehende Transparenz aller Phasen des Forschungsprozesses voraus; d.h., erst auf der Basis von detaillierten und veröffentlichten oder zugänglichen Dokumentationen wird eine Reflexion und Kritik von Forschungsarbeiten durch die scientific community möglich. Darüber hinaus können auch Techniken der Reflexion und Kontrolle durch die Beforschten genutzt werden. Das kann in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses geschehen und hat dabei einen je unterschiedlichen Einfluss auf den Forschungsprozess. Bei sogenannten Beobachtungsinterviews werden die Beobachteten gebeten, den beobachteten Prozess, z.B. einen Arbeitsprozess, in den sie involviert sind, zu kommentieren; in ähnlicher Weise wird in der Psychologie von der Methode des Lauten Denkens (Konrad 2010) gesprochen. Zudem besteht die Möglichkeit, die Beobachteten mit einer Aufzeichnung einer beobachteten Situation zu konfrontieren und sie dann im Sinne eines nachträglichen Lauten Denkens um eine Kommentierung zu bitten. Bei diesen Verfahren kommt den Kommentaren der Beobachteten zunächst der Charakter einer Perspektivenerweiterung zu, dies hat aber durchaus auch ein reflexives und die Beobachtung kontrollierendes Potenzial. Anders gestaltet sich dieses kontrollierende Potenzial, wenn die Beobachteten auch in den Auswertungsprozess einbezogen werden, wenn sie also z.B. mit (vorläufigen) Ergebnissen der Analyse konfrontiert werden und sie <?page no="59"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 59 diese kommentieren; man spricht dann (nicht ganz glücklich) von einer kommunikativen Validierung. Schließlich sei auf Strategien verwiesen, die eine Qualitätssicherung von Beobachtungen im Kontext qualitativer Forschungsdesigns durch spezifische Verfahren bzw. durch das Einhalten von Regeln und Standards erreichen wollen. Eine wichtige Rolle spielt die Dauer von Beobachtungen; während die klassische ethnographische Forschung die Dauer einer Vegetationsphase zum Maßstab für die Erforschung ländlicher Gemeinschaften erhoben hatte, gilt es unter anderen Rahmenbedingungen, die Dauer der Forschung so zu konzipieren, dass wesentliche Variationen der Kontextbedingungen angemessen erfasst werden können. Neben Beobachtungen von zeitabhängigen Effekten spielt auch die Variation der Orte und der Perspektiven eine wichtige qualitätssichernde Rolle. Flick verweist zudem auf die qualitätssichernde Bedeutung von Konventionen und Standards für die Sicherung einer prozeduralen Reliabilität (2007: 490-491), so z.B. Standards für Feldnotizen bzw. Memos oder Standards der Transkription. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben darüber hinaus allgemeine Vorschläge zu einer Steuerung und Evaluation des qualitativen Forschungsprozesses entwickelt. Grundsätzlich bietet die rekursive Anlage vieler qualitativer Forschungsdesigns auch die Möglichkeit, zutage getretene Defizite im Forschungsdesign oder bei der Datenerhebung im weiteren Verlauf zu kompensieren. Daher spielen Verfahren der prozessbegleitenden Qualitätssicherung eine wichtige Rolle. So schlagen Strauss und Corbin (1996: 216-221) spezielle Evaluationskriterien für die Entwicklung von Grounded Theories vor; Flick (2007: 516-517) präsentiert einen eigenen Katalog von Regeln bzw. Fragen für die Prozessevaluation. 2.3.3 Forschungsethik Die Ethik formuliert Regeln für ein gutes Zusammenleben, mit dem Ziel, Schaden für die einzelne Person abzuwenden. Darauf aufbauend regelt die Forschungsethik, wie empirische Forschungsprojekte konzipiert und durchgeführt werden sollten. Strohm-Kitchener und Kitchener (2009: 9-10) unterscheiden fünf Ebenen zur Analyse von Forschungsethik, von denen drei Ebenen für die Durchführung von Beobachtungsstudien relevant erscheinen: • allgemeine ethische Prinzipien, • Ethikcodizes der Fachgesellschaften sowie • situative ethische Entscheidungen. Den forschungsethischen Fragen vorgelagert sind: • die allgemeinen Gesetze und • rechtliche Regelungen. <?page no="60"?> 60 2 Methode der Beobachtung Diesen müssen alle Beobachtungsstudien entsprechen. Wenn Menschen untersucht werden, spielen insbesondere Persönlichkeitsrechte, Urheberrecht, Jugendschutz und Datenschutz eine Rolle. Aus den allgemeinen ethischen Regeln werden vor allem fünf Anforderungen an Forschungsprojekte abgeleitet: [1] Durch die Forschung darf grundsätzlich kein Schaden entstehen. Wenn sich ein Schaden nicht vermeiden lässt, dann muss dieser gerechtfertigt sein, in einem sinnvollen Verhältnis zum Ertrag durch die Studie stehen und möglichst klein gehalten werden. [2] Die Studie muss einen Nutzen bringen. Sie muss Erkenntnisse liefern, die der Gesellschaft und idealtypisch den Untersuchten zugutekommen. [3] Studien müssen dem Prinzip der Redlichkeit folgen. Sie sollten vertrauensvoll und möglichst täuschungsfrei durchgeführt werden. [4] Empirische Forschung sollte gerecht sein, d.h. keine Personen oder gesellschaftliche Gruppen bevorzugen oder benachteiligen. [5] Forschung erweist den beteiligten Personen, insbesondere den Untersuchten, Respekt. Wissenschaftliche Beobachtungen müssen so angelegt und durchgeführt werden, dass sie diesen fünf Prinzipien möglichst gut entsprechen. Darüber hinaus haben sich die meisten wissenschaftlichen Fachgesellschaften eigene Ethikcodizes gegeben. Mit diesen sollte sich jeweils vertraut gemacht werden. Da sie recht umfangreich sind und unterschiedliche Aspekte und Perspektiven berücksichtigen, lohnt es, sich die Codizes der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) anzusehen sowie darüber hinaus denjenigen der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (DVS), weil dieser anders ausgestaltet ist. Im Zentrum der die Datenerhebung betreffenden Regelungen in allen Ethikcodizes steht die Figur der informierten Einwilligung. Demnach müssen Personen, die untersucht werden sollen, grundsätzlich vor der Untersuchung ihre Einwilligung geben. Sofern die Personen volljährig sind, reicht ihre Einwilligung, sind sie noch nicht volljährig, so ist zusätzlich die Einwilligung der Erziehungsberechtigten nötig. Diese ersetzt aber in der Regel nicht die Einwilligung der Untersuchten. Wenn z.B. Eltern in die Untersuchung ihrer Kinder einwilligen, diese aber nicht teilnehmen wollen, so dürfen sie in der Regel nicht untersucht werden. Gemäß der Informiertheit sollten laut Ethikcodex der DGPs die Untersuchten dabei über Folgendes informiert werden: [1] Zweck der Studie, [2] Recht auf Nichtteilnahme, [3] mögliche Konsequenzen der Nichtteilnahme, [4] mögliche Konsequenzen der Teilnahme, <?page no="61"?> 2.3 Reflexion und Qualitätssicherung 61 [5] zu erwartender Erkenntnisgewinn durch die Studie, [6] Gewährleistung von Vertraulichkeit und Anonymität, [7] Boni für die Teilnahme sowie [8] Adressatinnen und Adressaten für mögliche Fragen. Die Einwilligung muss dokumentiert und archiviert werden. Ausnahmen davon sind möglich, und zwar insbesondere dann, wenn die vorab eingeholte informierte Einwilligung die Studie unmöglich machen würde, z.B. weil Unkenntnis der Untersuchten über die Untersuchung eine notwendige Voraussetzung für deren Durchführung sein sollte. In diesem Fall ist nach der Untersuchung ein informiertes Einverständnis darüber einzuholen, dass die Untersuchten einverstanden sind mit der Verwendung der über sie eingeholten Informationen. Auf ein Einverständnis kann nur dann verzichtet werden, wenn sich das beobachtete Geschehen an einem Ort abspielt, an dem die dort Agierenden davon ausgehen müssen, dass sie beobachtet werden könnten, und die beobachteten Aspekte keinen Rückschluss auf einzelne Personen erlauben. Dieser Aspekt sollte insbesondere bei Analysen von Handlungsspuren im Internet bedacht werden, wenn Rückschlüsse auf die einzelne Person durch im Netz gemachte, persönliche Angaben möglich sind. Wenn es aber für die Durchführung der Studie nötig ist, auch persönliche Angaben zu erheben, so sollten die Angaben so früh im Forschungsprozess und so weitgehend wie möglich anonymisiert werden. Das Vorgehen muss den jeweiligen Datenschutzbestimmungen entsprechen. Sind an den forschenden Institutionen Ethikkommissionen vorhanden, so sollten diese immer um eine Einschätzung des Forschungsvorhabens gebeten werden. In manchen Konstellationen ist ein positives Votum einer Ethikkommission die Voraussetzung, um das avisierte Forschungsprojekt überhaupt durchführen zu dürfen. Zudem ist es sinnvoll, Belange des Datenschutzes mit den entsprechenden Stellen abzustimmen. Darüber hinaus gibt es verschiedene Punkte, die bei Beobachtungsstudien reflektiert werden sollten, obgleich sie nicht explizit in den Ethikcodizes erwähnt werden. Sie sind aber wichtig, um zu entscheiden, ob die Durchführung der Studie und die Art, wie das geschehen soll, gerechtfertigt und ethisch angemessen sind. Die erste ethische Anforderung ist, dass durch die Studie möglichst kein Schaden entstehen darf. Nun bringen Beobachtungsstudien in der Regel eine erhebliche Belastung mit sich, und zwar sowohl für das Beobachtungspersonal als auch für die Untersuchten. Deshalb sollte immer zunächst abgewogen werden, ob diese Belastung, die zumindest temporär einen Schaden für das individuelle Wohlbefinden mit sich bringen könnte, durch die zu erwartenden wissenschaftlichen Erträge gerechtfertigt ist. Strech und Merz (2012: 1) schlagen hier sogar einen Bogen vor zur Menschenwürde der Untersuchten, die verletzt würde, „[…] wenn ein Mensch in der Forschung ausschließlich als Moment zur Realisierung der Zwecke <?page no="62"?> 62 2 Methode der Beobachtung anderer benutzt […] wird“. Solche Zwecke könnten im reinen Absolvieren wissenschaftlicher Qualifikationsschritte oder im Erzielen von Drittmittelerfolgen liegen. Wenn Studien dem gerecht werden sollen, müssen die zu erwartenden Resultate die damit verbundenen Belastungen an Relevanz und Wichtigkeit deutlich übersteigen. Das führt auch zu der Überlegung, den ethischen Fokus nicht nur auf die Untersuchten zu lenken, sondern auch auf diejenigen anzuwenden, die die Daten erheben müssen. Handelt es sich um das Forscherteam selbst, das frei entschieden hat, die Studie in der vorliegenden Form durchzuführen, so erscheint das unproblematisch. Probleme entstehen, wenn entweder Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter oder Studierende zur Durchführung der Studie überredet oder gedrängt oder Externe dafür angestellt werden. In diesem Fall sollten die Studien so konzipiert sein, dass den Datenerhebenden möglichst wenig Unangenehmes und nichts Unnötiges zugemutet wird. Entsprechend sollten Instrumente möglichst klar und einfach gestaltet sein. Auf keinen Fall dürfen absehbare Probleme auf die Datenerhebenden abgewälzt und diese Tatsache mit Bezahlung gerechtfertigt werden. Für das Beobachtungspersonal sind das Einholen der Einverständnisse, die Täuschung der Untersuchten sowie die nachträgliche Aufklärung unangenehm und sie sollten dabei maximale Unterstützung und Hilfe erfahren. Der gute Umgang mit denjenigen, die vor Ort die Daten erheben, sollte nicht mit dem allgemeinen Verweis auf Arbeitsrecht abgetan, sondern in jeder Studie genau reflektiert und optimiert werden. Aus der ethischen Forderung nach Gerechtigkeit folgt ein weiterer Aspekt, der nur selten Eingang in forschungsethische Überlegungen findet: Inklusion und Barrierefreiheit (vgl. z.B. Sullivan 2009). Das Problem betrifft sowohl die Auswahl als auch das Erhebungsverfahren. Das Auswahlverfahren sollte nicht so konzipiert sein, dass bestimmte Personengruppen, z.B. Personen mit Behinderung, systematisch aus den Studien ausgeschlossen werden, weil deren Besonderheiten dann nicht Teil der Studienresultate werden und damit bei Entscheidung auf der Basis dieser Resultate keine Berücksichtigung finden. Und wenn die entsprechenden Personen untersucht werden, muss die Untersuchungssituation diesen Personen gegenüber fair gestaltet sein, sodass die Ergebnisse aus diesen Studien nicht systematisch zu diskriminierenden Aussagen dieser Gruppe gegenüber führen oder verleiten. Da Beobachtungsstudien oft im natürlichen Umfeld der Untersuchten stattfinden, können im Zweifelsfall sehr viele, sehr unterschiedliche Personen betroffen sein. Diese gehören weder zum Beobachtungsteam, noch werden sie selbst beobachtet. Trotzdem muss auch in Bezug auf jene abgewogen werden, ob sie belastet oder ihnen Schaden zugefügt wird und wie dieser möglichst gering gehalten werden kann. Dazu gehört auch eine genaue Recherche der Frage, von welchen Personen oder Institutionen eine Zustimmung zur Durchführung der geplanten Beobach- <?page no="63"?> Literatur 63 tungsstudie vorliegen muss. Diese Frage stellt sich auch, wenn die Beobachtung nicht an einem realen Ort stattfindet, sondern z.B. auf Plattformen im Internet. Aus ethischer Perspektive muss immer der Maxime Rechnung getragen werden, durch die geplante Studie möglichst relevante Erkenntnisse zu gewinnen und dabei möglichst wenig Belastung oder gar Schaden zu verursachen. Das kann nur durch eine geschickte Realisation, sprich Konzeption und Durchführung, von Beobachtungsstudien geschehen. Literatur Althoff, Martina, Apel, Magdalena, Bereswill, Mechthild, Gruhlich, Julia & Riegraf, Birgit (2017). Feministische Methodologien und Methoden. Traditionen, Konzepte, Erörterungen. Wiesbaden: Springer VS. Atteslander, Peter (2010). Methoden der empirischen Sozialforschung . Berlin: Erich Schmidt. Bales, Robert F. (1976). 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Mit sozialwissenschaftlichen Beobachtungsstudien lassen sich Handlungen und Reaktionen von Menschen bzw. aus diesen resultierende Spuren untersuchen, solange sie den Forschenden zugänglich sind. Während bei aufgezeichneten Beobachtungen die Forschenden nur die (aufgezeichneten bzw. transkribierten) akustischen bzw. visuellen Phänomene wahrnehmen können, eröffnet der Feldaufenthalt die Nutzung aller Sinne. So sind z.B. Personen und ihre Handlungen, verschiedene Ebenen der Kommunikation, Handlungsverläufe und -spuren, Personen-, Gruppen-, Sach- und Umweltbeziehungen sowie (natürliche, artifizielle und soziale) Kontexte wahrnehmbar. Es gilt aber auch sich zu vergegenwärtigen, was sich der Beobachtung entzieht: z.B. Vergangenes, Nichtausgedrücktes oder Nichtausdrückbares, aber auch nicht sichtbare Rahmenbedingungen. Ausnahmen sind möglich, wenn die entsprechenden Phänomene mit Handlungen oder Reaktionen (Emotionen mit bestimmter Mimik) verbunden sind oder wenn die institutionellen oder biografischen Rahmungen im Habitus wiederzuerkennen sind. Insofern sind die Einsatzmöglichkeiten von Beobachtungsstudien im Vergleich zu Befragungsstudien eingeschränkt. Sie sind diesen aber auch überlegen, wenn es um Ausdrucksformen, Haltungen, unbewusste alltägliche Praktiken oder um komplexe Handlungsabläufe geht, die sich in Befragungen nur unzureichend oder gar nicht rekonstruieren lassen. Angesichts der Grenzen der Beobachtung werden diese in der Forschungspraxis oft mit anderen Verfahren der Datengewinnung kombiniert, insbesondere mit Befragungen und Inhaltsanalysen. Wenn z.B. untersucht werden soll, wie Jugendliche in ihrer Peergroup das Internet nutzen, ist es naheliegend, nicht nur das Verhalten der Jugendlichen zu protokollieren, sondern diese zusätzlich zu befragen sowie die genutzten Inhalte zu analysieren. 3.1 Qualitative und quantitative Beobachtungsstudien Die Durchführung von Beobachtungsstudien folgt der gängigen Logik sozialwissenschaftlicher Forschung, wie Studien mit anderen Erhebungsverfahren auch. <?page no="68"?> 68 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Forschungspraktisch haben sich jedoch zwei grundlegende Varianten herausgebildet: qualitative Beobachtungsstudien und quantitative Beobachtungsstudien. Diese werden im Folgenden anhand eines idealtypischen Forschungsablaufs dargestellt. Im Forschungsalltag lassen sich allerdings sowohl die hier dargestellte Reihenfolge als auch die Gewichtung der einzelnen Komponenten je nach Anforderung und Hintergrund der Studie variieren. Nichtsdestotrotz erscheint es sinnvoll, das Vorgehen anhand der beiden Idealtypen zu verdeutlichen und innerhalb der jeweiligen Darstellung auf mögliche Variationen hinzuweisen. Zunächst ist aber zu klären, was im nachfolgenden Kapitel gemeint ist, wenn von qualitativen oder quantitativen Beobachtungen gesprochen wird. In beiden Beobachtungsvarianten werden tatsächlich stattfindende Handlungen und Handlungskontexte mit einem Zeichensystem protokolliert, das sich möglichst gut eignet, um daraus die gesuchten Informationen und Erkenntnisse zu gewinnen. Ein offensichtlicher Unterschied liegt im dabei verwendeten Zeichensystem. Bei qualitativen Beobachtungsstudien handelt es sich vornehmlich um Texte, die von den Forschenden aufgezeichnet bzw. protokolliert und interpretiert werden. Bei quantitativen Beobachtungsstudien werden demgegenüber Zahlen benutzt, um die interessierenden Sachverhalte zu protokollieren und danach mit statistischen Verfahren zu analysieren. Qualitative bzw. quantitative Sozialforschung wird oft mit dem Standardisierungsgrad der Datenerhebung, der Haltung der Forschenden gegenüber den Untersuchten oder der Stellung von Theorien im Forschungsprozess gleichgesetzt. Das ist insofern angemessen, als dass die meisten Studien hier klar positioniert sind: Qualitative Beobachtungen gehen meist nichtstandardisiert vor, involvieren die Forschenden in das zu beforschende Feld und wollen so durch induktive bzw. interpretative Verfahren Theorien über spezifische gesellschaftliche oder kulturelle Phänomene entwickeln. Quantitative Beobachtungen sind demgegenüber standardisiert angelegt, versuchen den Forschungsgegenstand quasi von außen zu analysieren, indem sie aus vorhandenen Theorien deduktiv abgeleitete Hypothesen mit statistischen Verfahren an den empirischen Daten überprüfen. Es finden sich allerdings etliche Studien und methodische Ansätze, die zwar eindeutig den qualitativen oder quantitativen Beobachtungen zuzurechnen sind, aber nicht allen eben genannten Kriterien entsprechen. So gibt es durchaus qualitative Beobachtungen, die auch auf standardisierte Erhebungstechniken zurückgreifen, statistische Parameter berücksichtigen oder Theorien überprüfen wollen. Es handelt sich trotzdem dann eindeutig um qualitative Beobachtungen, wenn die Analyse des Materials anhand von textlichen Aussagen und Textinterpretationen der Forschenden stattfindet. Auf der anderen Seite gibt es standardisierte Beobachtungen, die mit nichtstandardisierten Beobachtungsprotokollen arbeiten, die die Forschenden selbst im Feld erhoben haben, um Beschreibungen der Phänomene zu <?page no="69"?> 3.1 Qualitative und quantitative Beobachtungsstudien 69 erhalten, aus denen sich Hypothesen über diese generieren lassen. Trotzdem würde es sich im Sinne der nachfolgenden Logik um eine quantitative Beobachtung handeln, wenn die Beobachtungsprotokolle nach einem standardisierten Verfahren codiert und damit in ein Zahlensystem überführt würden und die eigentliche Analyse anhand statistischer Verfahren stattfinde. Auch bei diesen Beispielen lässt sich das zentrale Unterscheidungskriterium eindeutig festmachen. Qualitative Beobachtungen arbeiten mit textlichen Aussagen über den Untersuchungsgegenstand, die verdichtet und interpretiert werden. Quantitativen Beobachtungen gehen auf der Basis von Zahlen vor, die als Repräsentation des Beobachteten fungieren und mit mathematisch-statistischen Verfahren ausgewertet werden. Mit der Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Beobachtungen lassen sich zwei idealtypische Prozesse skizzieren, nach denen Beobachtungsstudien realisiert werden können. Üblicherweise wird davon gesprochen, dass in qualitativen Beobachtungsstudien neue „Theorien“ generiert werden, während in quantitativen Beobachtungsstudien eher vorhandene „Theorien“ überprüft werden. Der Theoriebegriff unterscheidet sich aber erheblich: Im einen Fall geht es um eher feldbezogene Theorien mittlerer Reichweite, im anderen um Theorien, die den Charakter von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten haben. Daher gestaltet sich auch die durchaus sinnvolle Kombination von qualitativen und quantitativen Verfahren nicht so einfach, wie es der topologische Begriff der „Triangulierung“ suggeriert. Ausgangspunkt qualitativer Beobachtungsstudien sind meist offene Fragen in Bezug auf einen gesellschaftlichen Phänomenbereich, z.B. eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, eine wenig erforschte „Kultur“ oder ein wichtiger Lebensabschnitt. In Bezug auf diesen Phänomenbereich wird ein Forschungsfeld konstituiert, in dem die zentrale Forschungsfrage entwickelt und untersucht wird. Nachdem die Forschenden Zugang zum entsprechenden Forschungsfeld erlangt haben, werden sie hier beobachten, agieren und nötigenfalls weitere Informationen z.B. durch Befragungen gewinnen. Parallel dazu werden sie sich Notizen über wichtige Vorkommnisse machen und diese auf unterschiedliche Weise dokumentieren. In Beobachtungspausen sowie nach Abschluss von Beobachtungstagen erstellen sie Ausarbeitungen, in denen sowohl das Beobachtete selbst als auch theoretische oder methodische Reflexionen oder Anmerkungen dazu festgehalten werden. Nach Abschluss einer Beobachtungssequenz oder der gesamten Beobachtung wird das gesammelte Material codiert, kategorisiert und zu übergeordneten Strukturen verdichtet. Bei einer sequenziell angelegten, qualitativen Beobachtung sind die gefundenen übergeordneten Strukturen das Ergebnis der Studie. Andere qualitative Beobachtungsstudien sind nicht streng sequenziell, sondern eher rekursiv (schleifenförmig) angelegt. In diesen folgt nach jeder Beobachtungssequenz eine Codierung und Auswertung, woraufhin die Auswahl der Beobachteten und die Art der Beobachtung überdacht wird. Diese Schritte werden <?page no="70"?> 70 3 Durchführung von Beobachtungsstudien wiederholt, bis sich eine gewisse „Sättigung“ einstellt und neue Informationen keine wesentlichen Erkenntnisgewinne mehr liefern. Quantitative Beobachtungsstudien gehen demgegenüber von einer konkreten Fragestellung aus, die festlegt, wie die Untersuchung angelegt wird. Es wird die Grundgesamtheit, über die die Studie Aussagen machen soll, bestimmt und es wird ein Verfahren festgelegt, mit dem die zu untersuchenden Elemente ausgewählt werden. Parallel wird entschieden, welche Merkmale dieser Elemente erhoben werden. Dazu wird auf der Basis von Vorüberlegungen eine Operationalisierung entwickelt sowie ein Erhebungsinstrument formatiert. Anschließend wird die eigentliche Beobachtung durchgeführt. Dazu wird das Erhebungsinstrument getestet und das Beobachtungspersonal geschult. Letzteres erhebt die Daten und anschließend werten die Forschenden diese statistisch aus, um Informationen in Bezug auf die Fragestellung zu generieren. Meist handelt es sich dabei um die Überprüfung von theoretisch abgeleiteten Hypothesen, die widerlegt oder bestätigt werden sollen. Konstitution des Forschungsfeldes Forschungsfeld und Forschungsfrage Feldzugang Aktivität im Feld Beobachtung Teilnahme Erhebung sonstiger Daten Protokollierung Beobachtungsprotokolle Feldnotizen/ Feldtagebücher Dokumentation sonstiger Daten Auswertung Reflexion Codierung Theoretical Sampling Verdichtung von Befunden (→ „Theorien“) Abb. 4 | Logik qualtitativer Beobachtungsstudien <?page no="71"?> 3.2 Qualitative Beobachtung: Konstitution des Forschungsfeldes 71 Konzeption („Theorien“ →) Fragestellung Untersuchungsanlage Auswahl Grundgesamtheit Auswahlverfahren Datenfall Erhebungsverfahren Vorüberlegungen Operationalisierung Formatierung Durchführungsphase Pretest Schulung Datenerhebung Datenanalyse und Darstellung Abb. 5 | Logik quantitativer Beobachtungsstudien 3.2 Qualitative Beobachtung: Konstitution des Forschungsfeldes Die qualitative Beobachtung im hier definierten Sinne wird z.B. in den Kultur- und Medienwissenschaften meist als teilnehmende Beobachtung, in der Ethnologie oder der Soziologie hingegen als Feldforschung bezeichnet. Die Beobachtung findet in einem „natürlichen Handlungskontext“ statt und die Forschenden begeben sich in diesen Kontext, in das Feld hinein. Mit Forschungsfeld ist also nicht ein Wissenschaftsbereich gemeint wie die Familiensoziologie oder die Unterrichtsforschung, sondern das jeweilige Handlungsfeld, also z.B. eine Familie in ihrem häuslichen Umfeld oder eine Unterrichtsstunde in einer schulischen Umwelt. Bei qualitativen Beobachtungen sind die Festlegung des Forschungsfeldes und die Entwicklung der Forschungsfrage aufs Engste verbunden - wie siamesische Zwillinge. Bei der Konstitution des Forschungsfeldes ist zudem wichtig, wie der Zugang zum jeweiligen Forschungsfeld hergestellt werden kann. <?page no="72"?> 72 3 Durchführung von Beobachtungsstudien 3.2.1 Forschungsfeld und Forschungsfrage Ausgangspunkt einer qualitativen Beobachtung ist in der Regel ein Forschungsinteresse und nicht bereits existierende Theorien oder Hypothesen. Das Forschungsinteresse konstituiert die Beziehung zwischen Forschungsfeld und Forschungsfrage; die eine ist ohne das andere nicht denkbar. Beide sind nicht identisch, hängen aber an bestimmten Punkten eng zusammen. Idealtypisch lassen sich hierbei drei Konstellationen unterscheiden: • Wenn das Forschungsinteresse auf bestimmte Aspekte soziokultureller Phänomene abzielt, dann stehen bei den Forschenden meist schon relativ konkrete Fragestellungen in Bezug auf die soziokulturellen Phänomene im Zentrum. In diesem Fall wird von der Fragestellung ausgegangen und es werden Forschungsfelder, also „natürliche“ Konstellationen, gesucht, in denen relevante Informationen in Bezug auf die Fragestellung beobachtet werden können. In diesem Fall liegt eher ein konkretisierender oder sogar prüfender Forschungsansatz vor. • Im zweiten Fall bildet das Forschungsfeld den Ausgangspunkt. Das Forschungsinteresse gilt dann einer „natürlichen“ Konstellation, die interessante Erkenntnisse verspricht, aber bislang noch nicht angemessen untersucht wurde. Dabei könnte es sich z.B. um eine neue Jugendkultur oder auch um eine neue Arbeitsweise (z.B. unter Einsatz von Virtual-Reality-Techniken) handeln. Oft ist vorab nicht ganz klar, was im Kern die zu untersuchende Alltagspraktik ausmacht und was die eigentliche Fragestellung sein wird. In diesem Fall dominiert die Festlegung des Forschungsfeldes die Art und den Ablauf der qualitativen Beobachtung. Es handelt sich also eher um einen explorativen Forschungsansatz. • Als dritte Möglichkeit lassen sich beide in einem Prozess vereinen. Es liegen eher allgemeine Forschungsfragen vor, die exemplarisch in einem Forschungsfeld untersucht werden sollen. Daraufhin werden die Forschungsfragen und die Anforderungen an das Forschungsfeld konkretisiert und es folgen weitere Prozessschritte. Forschungsfeld und Forschungsfrage werden also in einem wechselseitigen Prozess entwickelt und aneinander angepasst. Solche quasievolutionären Forschungsdesigns sind typisch für die Ethnographie oder das Grounded-Theory-Design. 3 Beobachtungen sind zeitlich und räumlich stets begrenzt. Auch der persönliche Hintergrund oder der institutionelle Kontext der Akteurinnen und Akteure, ihre 3 Als Grounded Theory - wörtlich etwa: in Daten gegründete Theorie - wird eine feldspezifische Theorie mittlerer Reichweite bezeichnet, die nach dem Grounded-Theory-Design aus der Analyse zumeist qualitativer Daten induktiv entwickelt wurde. Der Ansatz geht auf Anselm Strauss und Barney Glaser zurück. <?page no="73"?> 3.2 Qualitative Beobachtung: Konstitution des Forschungsfeldes 73 Meinungen und Werthaltungen lassen sich häufig nur indirekt aus dem Beobachteten erschließen. Bei entsprechenden Fragestellungen liegen andere Erhebungsverfahren wie z.B. Befragungen oder die Analyse von Tagebüchern bzw. Diskursen näher; oft werden sie mit Beobachtungen kombiniert. In der nachfolgenden Darstellung werden sie aber nur am Rande behandelt, da hier die qualitative Beobachtung im Vordergrund steht. Für die Konstitution des Feldes ist es bedeutsam, worauf die Forschungsfragestellung im Kern abzielt. Stehen allgemeine soziokulturelle Phänomene im Zentrum, dann ist wichtig, ein Forschungsfeld mit möglichst vielen unterschiedlichen Informationsquellen zu konstituieren, also unterschiedlichen Personen und Situationen. Zielt die Fragestellung demgegenüber auf Interaktionsmuster zwischen Personen ab, so ist die Sichtbarkeit und Beobachtbarkeit von Handlungen ein zentrales Kriterium der Feldkonstitution. Personen und Situationen sollten eher wenig variieren und die Möglichkeit mit sich bringen, die interessierenden Handlungen gut sehen und gegebenenfalls per Video aufzeichnen zu können. Andere Fragestellungen lassen sich besser anhand der verbalen Interaktion untersuchen. Für die Konstitution des Forschungsfeldes bedeutet dies, die Beobachtenden müssen das Gesagte gut hören oder als Audioaufzeichnung aufnehmen können, um anschließend z.B. eine Konversationsanalyse durchzuführen. Nicht zuletzt muss das Forschungsfeld und die zu beobachtende Konstellation festgelegt werden; es ist zu klären, was zum Forschungsfeld gehört und was nicht. Forschungsfelder sind nicht gegeben, wie es ein substanzialistischer Feldbegriff nahelegen könnte. Sie sind ein Konstrukt der Forschenden und als solches zu begründen. Für die Festlegung von Forschungsfeldern können verschiedene Ordnungen genutzt werden: • strukturelle Ordnungen, wie Flächenräume, politische Räume, Rechtsräume oder Sprachräume • soziale Ordnungen, die sich über Praktiken der Interaktion und Kommunikation, über Arbeitsbeziehungen, über Handelsbeziehungen oder über Migrationsbewegungen einstellen • forschungsbezogene Ordnungen, die sich ausgehend von der Forschungsfrage oder einer theoretischen Perspektive ergeben Manche Forschungsfragen bringen automatisch ein Bündel an Implikationen mit sich, sodass ein Forschungsfeld einfach konstituiert werden kann. Typische Beispiele hierfür sind Beobachtungen des Unterrichtsgeschehens in Klassenräumen oder von Arbeitsweisen in einem Büro während der Arbeitszeit. Entsprechende Forschungsfelder bringen zunächst quasi natürliche Grenzen mit sich. Wenn die Forschungsfragen aber weiter gefasst sind, muss das Forschungsfeld entsprechend ausgedehnt werden. In Bezug auf das Unterrichtsbeispiel könnte die Fragestellung nicht nur den Unterricht, sondern auch den Schulalltag betreffen und das For- <?page no="74"?> 74 3 Durchführung von Beobachtungsstudien schungsfeld müsste auf andere Bereiche ausgedehnt werden: Pausenaktivitäten, Elterngespräche, Zeugniskonferenzen, Hausaufgaben. Beim Bürobeispiel könnten zusätzlich Ruheräume, umliegende Büros oder auch die Home-Office-Arbeit in den Blick geraten. Zur Konstitution solcher Felder sind theoretische und alltagspraktische Überlegungen nötig, mithilfe derer festgelegt wird, was sinnvollerweise dem Forschungsfeld zuzurechnen ist. Oft erscheint es zweckmäßig, qualitative Beobachtungen zunächst in einem Forschungsfeld mit klaren strukturellen Grenzen zu beginnen und den Beobachtungsprozess entlang beobachteter Praktiken (soziale Ordnungen) oder theoretischer Überlegungen bzw. gewonnener Erkenntnisse (forschungsbezogene Ordnungen) auszuweiten. Solche Ausweitungen müssen dann aber im Prozess eines Theoretical Sampling (s. u.) reflektiert werden. 3.2.2 Feldzugang Auf die Festlegung der Forschungsfrage und des Forschungsfeldes folgen die Auswahl eines geeigneten Beobachtungsfeldes sowie die Vorbereitung des Feldzugangs. Bei manchen Studien mag diese einfache Abfolge zutreffen; in anderen Studien ist die Vorbereitung des Feldzugangs mit der Konstitution des Forschungsfeldes gleichzusetzen. Zu vielen idealen Forschungsfeldern wird den Forschenden kein Zugang gewährt. Das trifft z.B. auf Felder zu, in denen sensible Entscheidungen getroffen werden oder kriminelle, intime oder tabuisierte Handlungen ausgeführt werden. Praktisch geht es beim Feldzugang um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Forschenden Zugang zum Beobachtungsfeld erhalten und was sie dort erheben dürfen. Hürden beim Zugang bringen oft erhebliche Einschränkungen in Bezug auf die Forschungsfrage und das Forschungsfeld mit sich, sodass hier vor Beginn der qualitativen Beobachtung sinnvolle Kompromisse gefunden werden müssen. Eine wichtige Rolle für die Gewinnung von Zugängen spielt auch die Frage, inwieweit in den Forschungsfeldern bereits Rollenmuster und Routinen (z.B. für Gäste, Besucherinnen bzw. Besucher oder Praktikantinnen bzw. Praktikanten) bestehen, die von den Forschenden genutzt werden können. Typischerweise können folgende Barrieren den Zugang zu Forschungsfeldern erschweren oder verunmöglichen: • formale Zugangsregeln: z.B. Verbote auf Basis von Hausrechten, Eigentumsrechten, Hoheitsrechten oder Datenschutzregeln • soziale Zugangsregeln: z.B. die Verweigerung oder Erschwerung des Zugangs oder der Kooperation durch die zu Beobachtenden • feldspezifisches Wissen: z.B. Sprachen oder Dialekte in einem Untersuchungsgebiet, Umgangsformen und Konventionen in spezifischen Subkulturen oder Fachwissen bzw. implizites Wissen in Institutionen • forschungsethische Probleme (s. 2.3.3 Forschungsethik) <?page no="75"?> 3.2 Qualitative Beobachtung: Konstitution des Forschungsfeldes 75 Die Barrieren erster und zweiter Art sind prinzipiell verhandelbar; die Barrieren der dritten Art erfordern vor allem Investitionen der Forschenden (Erlernen von Sprachen und Jargons, die Aneignung von fachlichem oder implizitem Wissen); die Barrieren der vierten Art sind nur in geringem Maße verhandelbar, sie müssen akzeptiert werden. Die Organisation des Feldzugangs kann sich sehr aufwendig gestalten, manchmal aufwendiger als die eigentliche Beobachtung. Ziel ist es, im interessierenden Feld möglichst autonom agieren und alle relevanten Daten erheben zu können. Zunächst muss umfangreiches Vorwissen über mögliche Forschungsfelder eingeholt werden. Dieses betrifft sowohl inhaltliche als auch organisatorische Aspekte. Inhaltlich ist wichtig, welche Forschungsfelder die ergiebigsten und differenziertesten Informationen für die Fragestellung liefern. Zudem ist zu klären, auf welche Anforderungen sich die Forschenden vor Aufnahme der eigentlichen Beobachtung einstellen müssen; so z.B. die Anforderung, bestimmte Sprachen und Dialekte zu verstehen oder bestimmte Fertigkeiten zu beherrschen. Zum organisatorischen Vorwissen zählt insbesondere die Kenntnis aller nötigen Schritte und Genehmigungen zur Durchführung der Beobachtung. Oft beginnt das mit der Konsultation der Ethikkommission der forschenden Organisation, geht über die Prüfung rechtlicher Einschränkungen z.B. zum Jugend- oder Datenschutz hin zu Einwilligungen von Organisationen oder Institutionen, in denen beobachtet werden soll, sowie von Personen, die beobachtet werden sollen. Selbst wenn in Organisationen und Institutionen formal eine bestimmte Person in Bezug auf die Studie entscheidungsberechtigt ist, sollten de facto alle Beteiligten gefragt und informiert werden sowie einverstanden sein. Also muss eruiert werden, welche Stellen bzw. Personen dies betrifft. Von diesen Personen muss ein Einverständnis zur Durchführung der Studie vorliegen und dokumentiert werden. Allein um die Entscheidungswege zu klären, ist oft ein umfangreiches Studium von Dokumenten ebenso nötig wie das Schreiben vieler Briefe und Führen vieler Gespräche. Bei der Vorbereitung des Feldzugangs muss auf jeden Fall auch der logistische Aufwand berücksichtigt werden, den die Feldarbeit erfordert. Dieser kann bei einzelnen Studien, z.B. ethnologischen Feldstudien „fremder Kulturen“, erheblich sein und muss angemessen eingeplant werden, sowohl zeitlich als auch finanziell. Nachdem geklärt ist, wie das Forschungsfeld beschaffen und welcher Zugangsweg zu beschreiten ist, muss dieser umgesetzt werden. Dabei lassen sich verschiedene Strategien unterscheiden: Top-down-Strategien, die sich an formalen (z.B. Weisungsstrukturen und Dienstwegen) und informalen Hierarchien orientieren, und Bottom-up-Strategien, die quer zu den strukturellen Ordnungen auf „Türöffner“ setzen, die sich für die Forschenden und für Zugangsmöglichkeiten einsetzen. <?page no="76"?> 76 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Bei der Kontaktierung ist es hilfreich, Informationsmaterial über die forschende Institution, die forschenden Personen sowie Hintergrund und Gegenstand des Forschungsprojektes vorzubereiten, um die jeweiligen Personen für die Teilnahme an der Studie zu gewinnen und ihr Einverständnis zur Durchführung einzuholen. Von Vorteil ist es dabei, wenn die Forschenden „Verbündete“ im Forschungsfeld selbst oder dessen Umfeld haben. Hier spielen vor allem persönliche Kontakte der Forschenden eine Rolle. Solche Kontakte können aus einem Arbeitszusammenhang resultieren oder privater Natur sein. Persönliche Kontakte schaffen Vertrauen, was bei der Durchführung qualitativer Beobachtungen unerlässlich ist. Wenn keine persönlichen Kontakte vorhanden sind, müssen institutionelle Kontakte genutzt werden, also z.B. Kontakte zu Verbänden, über die dann wiederum Kontakte zu konkreten Institutionen bzw. Personen geknüpft werden können. Hilfreich können auch renommierte Personen des öffentlichen Lebens sein, die das Forschungsprojekt unterstützen und bei der Kontaktaufnahme helfen. Die Forschenden müssen bei der Inanspruchnahme von Hilfestellung allerdings aufpassen, nicht für fremde Interessen instrumentalisiert zu werden. Sind entsprechende Hilfen nicht vorhanden, so muss Zeit und Überzeugungsarbeit investiert werden, um das Vertrauen der Personen zu gewinnen und diese vom Forschungsprojekt zu überzeugen; dasselbe gilt für Personen, die später im Feld beobachtet werden. Es ist ratsam, alle Schritte und Erfahrungen zur Realisation des Feldzugangs genau zu dokumentieren. Das dient der Transparenz und Rekonstruierbarkeit des Forschungsvorhabens. Ähnlich wie bei der Dokumentation von Stichproben und Auswahlverfahren bei quantitativen Beobachtungen muss auch bei qualitativen Beobachtungen später intersubjektiv nachvollziehbar sein, wie und warum gerade die untersuchten Forschungsfelder für die Studie ausgewählt wurden. Die Dokumentation des Feldzugangs hat aber auch forschungspraktische Gründe. Manchmal liefern die Erfahrungen bei der Realisation des Feldzugangs bereits wichtige Informationen für die Interpretation des Beobachteten, eventuell sind sie sogar selbst als Teil der Beobachtung anzusehen. Sie sollten deshalb so dokumentiert werden, dass sie bei der späteren Auswertung ebenso berücksichtigt werden können wie die Protokolle und weiteren Informationen aus der Beobachtung selbst. 3.3 Qualitative Beobachtung: Aktivitäten im Feld Die Trennung zwischen Feldzugang und Aktivitäten im Feld ist in verschiedener Hinsicht künstlich, da beide ineinander übergehen. Mit Aktivitäten im Feld sind hier all diejenigen Tätigkeiten gemeint, die die Forschenden während der eigentlichen qualitativen Beobachtung vor Ort im Beobachtungsfeld ausführen. Dabei <?page no="77"?> 3.3 Qualitative Beobachtung: Aktivitäten im Feld 77 sind gerade zu Anfang zwei Ziele sehr wichtig, die sich aber nicht an konkreten Aktivitäten oder Handlungen festmachen lassen: Das eine Ziel ist, sich mit dem Beobachtungsfeld vertraut zu machen. Dabei ist es zunächst sinnvoll, unabhängig von der konkreten Fragestellung der Beobachtung zu versuchen, möglichst viel Information aus dem Beobachtungsfeld aufzunehmen, um es zu verstehen und sich einzufinden. Dabei können auch solche Aspekte relevant sein, die zunächst nichts mit dem Ziel der Beobachtung zu tun haben. Für die Phase des Sich-vertraut-Machens sollte genügend Zeit eingeplant werden. Das andere Ziel ist es, die Beobachtung zu normalisieren. Die zu Beobachtenden sollen sich an die Forschenden, deren Anwesenheit sowie deren Agieren im Feld gewöhnen. Das ist eine Frage der Zeit; es hängt aber auch davon ab, inwieweit es gelingt, dass die Forschenden eine adäquate Rolle im Handlungsfeld entwickeln: eine Rolle, die nicht stört und es idealerweise sogar normal erscheinen lässt, dass beobachtet und gegebenenfalls auch protokolliert wird. Zu den ersten Aktivitäten im Feld gehört es zudem, alle, die beobachtet werden oder an der Untersuchung beteiligt sind, über die Studie umfassend zu informieren und Einverständniserklärungen einzuholen. Dies wird im Folgenden genauer erläutert, bevor dann das Teilnehmen und Beobachten eingehender besprochen wird. 3.3.1 Transparenz herstellen und Regeln vereinbaren Auch wenn die Hürden des Zugangs zum Feld überwunden sind, müssen die im Feld tätigen Akteurinnen und Akteure über die Forschung informiert werden und es gilt, formelle oder informelle Regeln zu vereinbaren und zu kommunizieren. Nur auf einer kooperativen Basis ist Feldforschung möglich und ethisch verantwortbar. Alle Beteiligten sollten über die beabsichtigte Forschung und ihre Ziele umfassend und in einer angemessenen Form informiert werden. Das beinhaltet auch Hinweise darauf, wie Daten anonymisiert und Ergebnisse veröffentlicht werden. Auf dieser Basis sollte dann die Zustimmung von allen Beteiligten eingeholt werden, unter Umständen auch von Erziehungsberechtigten oder rechtlichen Betreuenden. Sollte das nicht möglich sein, so müssen die entsprechenden Personen zumindest im Nachhinein informiert und um die Erlaubnis gebeten werden, die beobachteten Befunde zu verwenden. Ausnahmen sind z.B. denkbar, wenn Personen auf öffentlichen Plätzen beobachtet werden, ohne dass aus den Befunden auf die einzelne Person geschlossen werden kann. Zudem sollten gewisse praktische Regeln für den Forschungsalltag vereinbart werden. Das können z.B. Stopp-Regeln sein, die es den Beobachteten erlauben, die Beobachtung zeitweilig zu unterbrechen bzw. Aufzeichnungsgeräte abzuschalten, oder Transparenzregeln, die die Forschenden dazu verpflichten, Einblicke in die Feldaufzeichnungen zu gewähren. <?page no="78"?> 78 3 Durchführung von Beobachtungsstudien 3.3.2 Teilnehmen Bei der qualitativen Beobachtung sind das Agieren im Beobachtungsfeld und die damit verbundenen Aushandlungsprozesse ebenso wichtig wie das Beobachten selbst. Je nach Forschungsfeld bzw. -situation lassen sich verschiedene Grade der Öffentlichkeit bzw. Privatheit unterscheiden. Dementsprechend stellt die Anwesenheit und die Teilnahme der Forschenden ein mehr oder weniger großes Problem dar. Wichtig ist dann, in welchem Grad die Beobachtenden an dem alltäglichen Geschehen teilnehmen: • Die Teilnahme kann sich auf eine räumliche und zeitliche Kopräsenz beschränken. • Sie kann eine periphere (z.B. Gespräche in Pausen, auf den Fluren, an öffentlichen Orten) oder wesentliche (z.B. Mitarbeit in Arbeitsorganisationen oder NGOs) Beteiligung am örtlichen Geschehen beinhalten. • Schließlich können die Forschenden auch zu temporären Mitgliedern in den untersuchten Zusammenhängen werden, wenn sie formal als Beschäftigte bzw. Praktikantinnen und Praktikanten oder informal als Freiwillige agieren und damit auch Verantwortung übernehmen. Damit sind auf Seiten der Forschenden und der Beobachteten verschiedene Rollenverständnisse und -zuschreibungen verbunden, mit denen die Anwesenheit und Teilnahme der Forschenden legitimiert und normalisiert werden. So gibt es im Kontext des jeweiligen Feldes möglicherweise die Rolle des Gastes, der Zuschauenden, der Hospitierenden oder der Auszubildenden. Nicht unwichtig ist aber auch, ob diese offiziellen oder von den Forschenden proklamierten Rollen akzeptiert werden. So können die Beobachteten die Forschenden auch als „Agentinnen und Agenten“ oder „Kontrolleurinnen und Kontrolleure“ einer Obrigkeit begreifen. Umgekehrt können Beforschte die Forschenden auch nutzen, indem sie diese als „Beraterinnen und Berater“, als „Vertraute“ oder als „Komplizinnen und Komplizen“ einbeziehen bzw. instrumentalisieren. Auch die Rolle der Beforschten kann variieren; sie können jenseits der passiven Rolle, die sie in vielen Fällen einnehmen, in verschiedener Weise eingebunden werden: • Sie können die Rolle von Assistentinnen und Assistenten einnehmen, die die Forschenden unterstützen. • Sie können als Informationsquellen genutzt werden, deren Wissen und Reflexionspotential im Rahmen von Interviews und Gesprächen erschlossen wird. • Sie können am Forschungsprozess beteiligt werden (Mitsprache und Beteiligung im Rahmen partizipativer Ansätze). • Sie können in einem bestimmten Bereich selbst zu Forschenden werden (Aktionsforschung). <?page no="79"?> 3.3 Qualitative Beobachtung: Aktivitäten im Feld 79 • Sie können schließlich in die Auswertung einbezogen werden (kommunikative Validierung). Um die Beobachtungssituation zu normalisieren, können die Beobachtenden versuchen, sich weitgehend in den Alltag des zu untersuchenden Feldes zu integrieren, um diesen möglichst wenig zu stören. Die Störung rührt oft daher, dass sich Personen in ihrem vertrauten Handlungsumfeld ungern von anderen Personen beobachten lassen, z.B. weil sie damit eine Kontrolle verbinden oder weil sie vermuten, gewissen Ansprüchen nicht zu genügen. Ausnahmen bilden Handlungen, die typischerweise vor Publikum ausgeführt werden, wie z.B. Aufführungen oder Sportwettkämpfe. Wenn es in der Beobachtungssituation keine entsprechenden Rollen gibt, müssen die Beobachtenden durch ihr Agieren Vertrauen erwecken, sodass ihr Beobachten akzeptiert wird. Die Frage, inwieweit die Aktionen der Beobachtenden das Beobachtete bestimmt haben, sollte immer auch Gegenstand der Auswertung und Interpretation des Beobachtungsmaterials sein. Bei einigen Varianten der qualitativen Beobachtung sind die Reaktionen der Beobachteten auf die Beobachtung und die Aktionen der Forschenden selbst Gegenstand der Beobachtung. Bei der qualitativen Beobachtung impliziert die Teilnahme am beobachteten Geschehen, dass die Forschenden eigene Erfahrung im Forschungsfeld. sammeln. Allein durch die Kopräsenz lernen sie wichtige natürliche, bauliche, politische und rechtliche Rahmenbedingungen kennen. Sie erfahren die vorherrschenden räumlichen und zeitlichen, aber auch sozialen und hierarchischen Ordnungen; sie können Stimmungen wahrnehmen. Sie führen zwar nicht die typischen Praktiken im Beobachtungsfeld selbst aus, aber die Beobachtenden sind nah an den eigentlich interessierenden Handlungen, sodass sie diese gut aus eigener Anschauung beschreiben und analysieren können. Wenn sie darüber hinaus auch in einem bestimmten Grad an den vorherrschenden Praktiken partizipieren, erweitert sich der Horizont des Erfahrbaren. Wenn sie gar „natürliche“ Mitglieder des Handlungsgeschehens werden, wie z.B. Mitglieder eines Sportvereins, dann vermengen sich Aspekte von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung. Die Forschenden sind dann eher Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer als Beobachtende. Eine mehr oder weniger starke Teilnahme am beobachteten Geschehen bringt aber auch grundlegende Probleme mit sich, die bei der Reflexion der Rolle des Beobachtenden berücksichtigt werden sollten. • Erstens lenkt die Teilnahme von der Beobachtung ab - das ist eine Konsequenz unserer limitierten kognitiven Kapazitäten. • Zweitens kommt es zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit: Man ist nicht mehr nur externe, beobachtende Person, sondern man muss in der Situation <?page no="80"?> 80 3 Durchführung von Beobachtungsstudien bestehen und wird möglicherweise auch „Prüfungen“ unterzogen. • Drittens impliziert die Übernahme normaler Mitgliederrollen die üblichen Probleme von Selbstbeobachtungen. Oft ist dann ein unvoreingenommenes Beobachten nicht mehr möglich und die Forschenden achten primär auf Aspekte, die ihnen aus einer Innenperspektive wichtig erscheinen. In solchen Fällen sollten die Forschenden über Mittel und Wege nachdenken, wie sie sich durch eine veränderte Teilnahme am Geschehen selbst besser in Distanz zum beobachteten Geschehen setzen können. Dazu kann es hilfreich sein, in die Rolle eines Befragenden zu schlüpfen oder relevante Dokumente oder Artefakte zu sammeln oder zu fotografieren. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass insbesondere mit der längeren Teilnahme im Feld für die Forschenden hohe und nicht immer erwartete Belastungen verbunden sind. Das sind neben den reinen Arbeitsbelastungen und den Belastungen aus der institutionellen Einbindung insbesondere Belastungen, die aus der Teilnahme (in sozial und kulturell „fremden“ Welten), aus dem Beobachtungskontext (oft längere Feldaufenthalte in wenig vertrauten Umgebungen ohne nahe Bezugspersonen oder Kolleginnen und Kollegen) und aus dem Beobachteten (z.B. problematische Arbeits- und Lebensbedingungen oder Erfahrungen von Konflikt und Gewalt) erwachsen. 3.3.3 Beobachten Die zentrale Aufgabe der Forschenden bei qualitativen Beobachtungen ist es, vor Ort zu beobachten, d.h. zuzusehen, zuzuhören und wahrzunehmen, um zu beschreiben und zu verstehen, was dort abläuft. Im Gegensatz zu standardisierten Beobachtungen ist bei der qualitativen Beobachtung weder das eigentliche Beobachten noch die Art, wie das Beobachtete protokolliert werden soll, vorgegeben. Die Beobachtenden sollten zunächst für alles offen sein, also auch für Aspekte, die vordergründig nichts zur zu untersuchenden Fragestellung beitragen, denn sie könnten sich später als relevant erweisen. Das schafft aber auch Probleme, denn sie müssen situativ entscheiden, was sie für protokollierenswert halten und was nicht. Da das sowohl Wissen als auch Erfahrung voraussetzt, werden qualitative Beobachtungen in der Regel von den Forschenden selbst durchgeführt, die die Studie konzipiert und auf den Weg gebracht haben. Bereits zu Anfang des Kapitels wurde kurz umrissen, was eigentlich beobachtet werden kann. Das soll nun genauer ausgeführt werden: Zunächst kann entlang der Forschungsfrage bzw. des bisherigen Forschungsprozesses überlegt werden, welche „Einheiten“ beobachtet werden; das können z.B. eher Personen und Personengruppen sein, eher Institutionen (ein Haushaltszusammenhang, die Arbeitsgruppe in einem Betrieb) oder eher Situationen (Interaktionen, Konflikte, Arbeitszusammenhänge). <?page no="81"?> 3.3 Qualitative Beobachtung: Aktivitäten im Feld 81 Aber auch wenn man z.B. Personen in den Vordergrund rückt, kann sich das Interesse • auf verschiedene Merkmale von Personen richten (auf die Körper, auf Verhalten und individuelles bzw. kollektives Handeln, auf die damit verbundene Mimik, Gestik oder Proxemik), • auf die Kommunikation (sprachlicher, parasprachlicher oder nichtsprachlicher Art), • auf Handlungsstrategien, Handlungsverläufe und (intendierte bzw. nichtintendierte) Handlungsfolgen, • auf Personenbeziehungen (Interaktionen, Aushandlungen, Hierarchien, Machtbeziehungen), • auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Personentypen (Geschlecht, Alter, sozialer Positionen), • auf Sachbeziehungen (Handhabung von Geräten, Mensch-Maschine-Beziehungen, Mensch-Umwelt-Beziehungen) oder • auf Handlungskontexte (z.B. natürliche, bauliche, politische, rechtliche, räumliche und zeitliche Ordnungen). Gerade zu Anfang der Beobachtung, wenn der inhaltliche Fokus noch unscharf ist, liefern die sogenannten W-Fragen den Beobachtenden Anregungen, worauf sie achten sollten. Gemeint sind Aspekte wie: • Wo findet die Beobachtung statt? • Wie ist die Beobachtungssituation beschaffen? • Wer sind die Handelnden? • Was machen diese? • Welche Folgen hat das? Im Laufe der Beobachtung wird es dann leichter, auch Aspekte zu erschließen, die sich nicht direkt, sondern lediglich indirekt beobachten lassen: • Warum agieren die Beobachteten so? • Wie lässt sich das interpretieren? Zudem sollte nach der Orientierungs- und Gewöhnungsphase auch beobachtet werden, wie die Beobachteten auf die Beobachtung und das Agieren der Beobachtenden reagieren. Darüber hinaus ist es je nach thematischem Fokus der Studie sinnvoll, die Beobachtung auf bestimmte Details des Geschehens zu fokussieren. Die Art, wie beobachtet wird, verändert sich im Laufe der Beobachtung. Jede Beobachtung ist selektiv und fokussierend, da niemand ein Geschehen vollständig erfassen kann. Die Frage ist eher, wie stark selektiert und fokussiert wird. Zu Beginn sollte wenig selektiert und fokussiert werden. Im Laufe der Beobachtung <?page no="82"?> 82 3 Durchführung von Beobachtungsstudien werden dann automatisch bestimmte Aspekte als relevanter oder informationsreicher eingeschätzt. Ein Fokus ist nötig, um in Bezug auf diese Aspekte möglichst viel Detailinformation beobachten zu können. Der Fokussierung sollte aber auch von Zeit zu Zeit entgegengearbeitet werden, um nicht betriebsblind zu werden und andere wichtige Dinge aus dem Blick zu verlieren. Zudem können Beobachtung variiert werden, um möglichst viele Aspekte eines Feldes oder Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnenbzw. Akteurs- oder Personengruppen zu erfassen: • In der zeitlichen Dimension können die Tageszeiten, die Wochentage oder (wenn möglich) die Jahreszeiten variiert werden. • In der räumlichen Perspektive können die Orte der Beobachtung verändert werden oder die Beobachtenden sind mobil und folgen einer Person oder einer Sache. • In positionaler Perspektive können Perspektivenwechsel erfolgen, indem man verschiedene Positionen fokussiert (Lehrende oder Schülerinnen und Schüler, Vorgesetzte oder Untergebene, Erwerbstätige oder Erwerbslose). In ähnlicher Weise kann man sich für Männer und Frauen, für Migrantinnen und Migranten und Autochthone oder für Erwachsene und Jugendliche bzw. Kinder interessieren. Bei qualitativen Beobachtungen ist es wichtig, die Art der Beobachtung immer wieder anzupassen. Sie verändert sich also nicht nur innerhalb einer Beobachtungssequenz, also z.B. eines Beobachtungstages, sondern auch zwischen den Sequenzen und unterschiedlichen Beobachtungsfeldern. Nach jeder durchgeführten Beobachtungssequenz wird das Vorgehen reflektiert und die nachfolgende Beobachtung auf Basis der Erfahrungen aus der vorhergehenden Beobachtung angepasst. Zum Beobachten gehört es schließlich auch, sich während der Beobachtung kurze Notizen (s. u.) zu machen, um nichts zu vergessen. Erlaubt es die Beobachtungssituation nicht, sich Notizen zu machen, dann sollten vorab Techniken geübt werden, um sich Dinge, z.B. Handlungsabläufe, detailliert merken zu können, damit diese im Nachhinein adäquat protokolliert werden können. Hilfreich und oft auch unumgänglich ist es, Bild-, Film- und Tonaufnahmen zu machen. Smartphones oder kleine Kameras ermöglichen technisch hochwertige Fotos und Tonbzw. Videoaufnahmen. Hierzu sind aber besondere Genehmigungen und Eingewöhnungsphasen ebenso nötig wie auch technisches Wissen und Geschick der Beobachtenden. 3.3.4 Erhebung weiterer Daten Angesichts der Grenzen des Beobachtbaren ist es häufig sinnvoll, weitere Datenzugänge zu erschließen. Hierzu werden meist Gespräche und Befragungen sowie die Sammlung von „Dokumenten“ aller Art genutzt. <?page no="83"?> 3.3 Qualitative Beobachtung: Aktivitäten im Feld 83 Gespräche und Befragungen setzen voraus, dass die Beobachtenden mit den Beobachteten angemessen kommunizieren können. Probleme können hierbei sowohl durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache auftreten als auch durch Verständigungsschwierigkeiten (z.B. durch Dialekte oder Slangs). Kommunikationsbarrieren ergeben sich aber auch aufgrund des Alters (z.B. bei kleineren Kindern oder Hochaltrigen) oder des Geschlechts (z.B. wenn Gespräche mit Nichtverwandten eines anderen Geschlechts tabuisiert sind). Die möglichen Formen von Gesprächen und Befragungen sind vielfältig. Das können alltägliche Gespräche sein, in denen man wichtige Informationen aufnimmt oder die Konversation auf bestimmte Themen lenkt. Informantinnenbzw. Informantengespräche können dazu dienen, gezielt feldspezifisches Wissen zu erschließen und Beobachtetes einordnen zu können. Um die Grenzen der Beobachtung auszuweiten, können auch Beobachtungsinterviews oder Methoden des Lauten Denkens eingesetzt werden, bei denen Akteurinnen und Akteure im Feld ihre Handlungen kommentieren. Zudem können klassische sozialwissenschaftliche Befragungsformen genutzt werden: Das können narrative oder biografische Interviews sein, um z.B. den stets beschränkenden Zeit- und Wahrnehmungshorizont der Beobachtung zu weiten. Das können Leitfadeninterviews sein, in denen gezielt die Sichtweise der beteiligten Akteurinnen und Akteure z.B. in einer Konfliktsituation eruiert wird. Es können auch Interviews mit Experteninnen und Experten innerhalb (und außerhalb) des Feldes sein, um z.B. mehr über die institutionelle Einbindung des Beobachteten zu erfahren. In bestimmten Fällen kann auch der Einsatz von (teil-)standardisierten Befragungen sinnvoll sein. Deren Auswertung findet aber weniger in statistischer Perspektive statt, vielmehr werden die relevanten Ergebnisse in Form von Aussagen in das Analysematerial aufgenommen. Es ist dabei zu beachten, dass diese Gesprächsbzw. Interviewpartnerinnen und -partner immer auch Akteurinnen und Akteure und damit Interessierte im Feld sind; sie sind stets mehr als Mittlerinnen und Mittler von Informationen. In jedem Fall sollten auch soziodemographische Angaben über die Gesprächsbeteiligten bzw. Befragten für den weiteren Forschungsprozess festgehalten werden. Da das zu beobachtende Geschehen oft einen direkten oder indirekten Bezug zu Handlungsgegenständen oder Dokumenten aufweist, ist es bei qualitativen Beobachtungen naheliegend, auch diese in die Analyse einzubeziehen. Während der eigentlichen Beobachtungen reicht es, die entsprechenden Dinge (wenn möglich) zu sammeln oder sie auf anderem Wege dem Forschungsprozess zugänglich zu machen, z.B. durch Fotos oder Kopien. Darüber hinaus sollte auch bei qualitativen Beobachtungen überlegt werden, ob es im jeweiligen Beobachtungsfeld sinnvoll und angezeigt ist, Aktivitäten im Internet oder in der Mobilkommunikation auch technisch festzuhalten, um diese später analysieren zu können. <?page no="84"?> 84 3 Durchführung von Beobachtungsstudien 3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung Eine wichtige Aktivität während der Beobachtung ist bislang nicht zur Sprache gekommen: die Protokollierung des beobachteten Geschehens. Das hat drei Gründe. Erstens kommen dabei differenzierte Techniken zur Anwendung, die einer etwas ausführlicheren Darstellung bedürfen. Zweitens findet meist ein Großteil der Protokollierung nicht während der Beobachtung selbst statt, sondern erst im Anschluss daran, zum Teil aber auch erst Tage oder Wochen später. Drittens ist bei qualitativen Forschungsstrategien, insbesondere wenn sie nicht sequenziell arbeiten, keine eindeutige Einteilung in Datenerhebung und Datenauswertung möglich. Im Folgenden sollen zwei zentrale Arbeitstechniken unterschieden werden: Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle. 3.4.1 Feldnotizen Feldnotizen, Feldtagebücher oder Memos enthalten Angaben, die während der eigentlichen Beobachtungen, kurz danach oder bei der späteren Auswertung festgehalten werden. Wie bereits betont, besteht das Charakteristikum bei der Protokollierung im Rahmen qualitativer Beobachtungen in der Textform. Die Funktionen, die diese Texte übernehmen, sind jedoch sehr vielfältig. Da die in der Literatur genutzten Begrifflichkeiten variieren, wird hier verallgemeinernd von Feldnotizen gesprochen und diese werden funktional bzw. prozessual unterschieden: • Sie dienen der Protokollierung des Beobachteten im engeren Sinne, und sind Rohmaterial für die Beobachtungsprotokolle (s. Kapitel 3.4.2: Beobachtungsprotokolle) • Sie dienen dem Festhalten von persönlichen Erfahrungen der Forschenden (s. Kapitel 3.3.2: Teilnehmen). • Sie enthalten erste Überlegungen zur Auswertung oder die Ergebnisse der Analysen des gewonnenen Materials (s. Kapitel 3.4.4: Codieren). • Sie enthalten Überlegungen zur weiteren Forschungsstrategie (s. Kapitel 3.5: Theoretical Sampling). Dementsprechend können sich Forschungsnotizen in ihrem Umfang und im Grad der Abstraktion vom Beobachteten erheblich unterscheiden. Genaue Vorgaben für Feldnotizen oder -tagebücher gibt es nicht. Ein jedes Forschungsfeld und eine jede Forschungssituation bietet unterschiedliche Möglichkeiten, Notizen anzufertigen; zudem kann der Einsatz von technischen Aufzeichnungen die Protokollierung im Feld entlasten, aber keinesfalls ersetzen. Häufig sind in der Beobach- <?page no="85"?> 3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung 85 tungssituation allenfalls kurze Aufzeichnungen möglich, die dann in Phasen der Nichtbeobachtung, manchmal aber auch erst nach der Feldphase ausgearbeitet werden. Die einfachste Art, das Geschehen schnell festzuhalten, sind kurze Feldnotizen. Bei diesen handelt es sich nicht um ein allgemeinverständliches Protokoll; es sind kurze Notizen, die sich die Beobachtenden während des Geschehens machen, um wichtig Erscheinendes nicht zu vergessen. Wenn eigentlich nicht vorgesehen ist, dass die Beobachtenden während der Beobachtung kontinuierlich Sachverhalte aufschreiben, dann handelt es sich oft nur um kurze Notizen auf Zetteln, in einem Notizbuch oder auf einem Smartphone. In der Regel haben diese Notizen einen starken Handlungsbezug, da sie direkt im Handlungsverlauf gemacht werden. Üblicherweise betreffen sie bestimmte W-Fragen. Es wird also kurz festgehalten, wer wann und wo was macht. Kurze Feldnotizen können aber auch andere Angaben umfassen, die nicht in Vergessenheit geraten sollen. Sehr hilfreich ist es, wenn es gelingt, das kontinuierliche Verfassen kurzer Notizen als Teil der Rolle im Beobachtungsfeld zu etablieren. In seltenen Fällen wird das Beobachtungsfeld bereits entsprechende Rollen aufweisen wie die der Protokollantin bzw. des Protokollanten, der Schiedsrichterin bzw. des Schiedsrichters oder der Souffleurin bzw. des Souffleurs. In den meisten Fällen wird man eine entsprechende Rolle erst durch Erklärung der Situation, Gewöhnung und Transparenz etablieren müssen. Das Verfassen von Beobachtungsnotizen während der Beobachtung zieht allerdings automatisch Aufmerksamkeit vom Beobachtungsgeschehen ab und macht es nahezu unmöglich, parallel dazu im Handlungsfeld aktiv teilzunehmen. Deshalb muss bei qualitativen Beobachtungen genau abgewogen werden, wie eine sinnvolle Balance zwischen Beobachten, Protokollieren und Handeln aussehen kann. Entlastung kann meist geschaffen werden, wenn Aufzeichnungstechnik zum Einsatz kommt. Feldnotizen oder zusammenhängende Feldtagebücher sind unerlässlich, um auch die Betroffenheiten und Befindlichkeiten der Beobachtenden festzuhalten und die oben angesprochenen Belastungen gerade bei längeren Beobachtungen zu reflektieren. Diese Aufzeichnungen können auch methodische oder theoretische Überlegungen enthalten, welche im Anschluss an die eigentliche Beobachtungssequenz entstanden sind. 3.4.2 Beobachtungsprotokolle Die Beobachtungsprotokolle sind das eigentliche Datenmaterial, mit dem in qualitativen Beobachtungen gearbeitet wird. Sie geben in Textform umfassend wieder, was beobachtet wurde. Sie entsprechen damit in gewisser Weise der Datenmatrix aus Variablen und Fällen in der quantitativen Beobachtung. Beobach- <?page no="86"?> 86 3 Durchführung von Beobachtungsstudien tungsprotokolle werden meist nicht während der Beobachtung im Feld erstellt; sie tragen ihren Namen, weil sie sich auf das Beobachtungsfeld beziehen. Erstellt werden sie in mehreren Schritten außerhalb des Feldes, meist am Schreibtisch der Forschenden. Auch für Beobachtungsprotokolle existieren keine allgemeingültigen Vorgaben, wie diese verfasst werden und auszusehen haben. Ihre Art und Form richtet sich nach Forschungsfeld und Forschungsinteresse. In der Regel umfassen sie neben handlungsbezogenen auch theorie- und methodenbezogene Angaben. Den Kern der Beobachtungsprotokolle bilden die handlungsbezogenen Angaben, mit dem die Chronologie des Geschehens dokumentiert wird. Dieser Teil der Beobachtungsprotokolle hat starken Bezug zu den W-Fragen. Im Gegensatz zu den Feldnotizen liegt der Fokus aber nicht nur auf dem „Wer macht wann wo was“. Durch die Distanz und Ruhe beim Erstellen der Beobachtungsprotokolle sowie das Nachdenken über das Geschehen werden nun auch Angaben zu dem Wieso, Weshalb, Warum Berücksichtigung finden. Die Beobachtungsprotokolle sollten möglichst umfassend sein. Ihr Verfassen weist Ähnlichkeiten sowohl zum literarischen Schreiben von Geschichten als auch zu journalistischen Berichten auf. Ziel bei qualitativen Beobachtungen sollte es sein, eine möglichst umfassende und verdichtete Beschreibung des Geschehens zu erhalten. Wenn Ton- oder Videoaufzeichnungen vorliegen, werden von diesen Teil- oder Volltranskripte angefertigt und bilden den Kern des handlungsbezogenen Feldprotokolls. Beobachtungsprotokolle enthalten aber oft bereits Angaben, die über den Bericht des eigentlichen Geschehens hinausgehen. Relevant sind insbesondere theoretische Überlegungen, was die beobachteten Sachverhalte in Bezug auf die allgemeine Fragestellung bedeuten können und an welchen Stellen sich aus dem Beobachteten Bezüge auf bekannte theoretische Konzepte und Sachverhalte ergeben. Entsprechende Hinweise dienen dazu, das spätere Codieren der Angaben zu erleichtern und gegebenenfalls nachfolgende Beobachtungen auf bestimmte Aspekte zu fokussieren. Darüber hinaus ist es notwendig, methodische Überlegungen in die Beobachtungsprotokolle aufzunehmen, die das weitere Vorgehen steuern. Wichtig sind hier zum einen Probleme, die während der Beobachtung aufgetreten sind und die Art bzw. Möglichkeit der Beobachtung verändert haben. Die methodischen Angaben können aber auch Ideen beinhalten, wie das Geschehen hätte besser und genauer beobachtet und protokolliert werden können, was dann bei weiteren Beobachtungen berücksichtigt werden könnte. Dementsprechend sollten die methodischen Überlegungen so gefasst werden, dass sie, wenn von einer Gruppe beobachtet wird, auch den anderen Beobachtenden dienlich sind. <?page no="87"?> 3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung 87 3.4.3 Aufbereitung und Analyse weiterer Daten Nicht zuletzt muss das im Untersuchungsfeld erhobene oder gesammelte weitere Material aufbereitet und analysiert werden. Die durchgeführten Gespräche und Befragungen sollten für die Analyse vorbereitet werden. Wenn nur Protokollnotizen vorliegen, müssen diese ausgearbeitet werden; wenn Aufzeichnungen vorliegen, sollten diese zumindest in den relevanten Teilen transkribiert werden. Die Transkripte und Gesprächsprotokolle werden den Beobachtungsprotokollen beigefügt und durch Angaben zu den erhobenen Personen bzw. Situationen ergänzt. Darüber hinaus sollten die in der Feldphase gesammelten Dokumente gesichtet und inventarisiert werden. Wurden in der Feldphase auch von den Beobachteten Materialien erstellt, so ist es angezeigt, auch diese in den Materialkorpus aufzunehmen: z.B. Texte, Bilder oder Skizzen, vielleicht auch erstellte Gegenstände, Modelle oder Produkte. Auch hier muss festgehalten werden, unter welchen Bedingungen sie wann und wo von wem zu welchem Zweck hergestellt wurden. Wenn bei den qualitativen Beobachtungen auch statistische Daten gesammelt wurden, so sind auch diese aufzubereiten. So können z.B. Kennzahlen wie das durchschnittliche Alter und Einkommen genutzt werden, um summarische Informationen über das Forschungsfeld zu gewinnen. 3.4.4 Codierung Typischerweise findet die Codierung des gewonnenen Materials eher in der Auswertungsphase von Untersuchungen statt. Da in qualitativen Beobachtungsstudien jedoch Erhebungen und (erste) Auswertungen oft eng verknüpft sind und das im Folgenden dargestellte Theoretical Sampling prinzipiell auf dem jeweiligen Stand der gewonnenen Erkenntnisse aufsetzt, soll hier zumindest ein Überblick über einfache und komplexere Verfahren der Codierung vermittelt werden. Mit Codierung ist die ordnende, interpretierende und systematisierende Aufbereitung und Analyse von Beobachtungsprotokollen und Feldnotizen gemeint. Die Codierung erfolgt in einer mehr oder weniger formalisierten und standardisierten Textform und nicht durch Überführung in Zahlencodes, wie der Begriff nahelegt. Dabei werden unterschiedliche Materialien codiert: zunächst vor allem die im Forschungsprozess gewonnenen Text- und Bildmaterialien bzw. deren Transkripte; im Prinzip können aber auch alle weiteren Materialien, so z.B. die eigenen Feldnotizen, codiert werden. Angesichts des hohen Aufwandes, den das Codieren erfordert, wenn es über einfache Inhaltsangaben hinausgeht, können oft nur Teile des vorliegenden Materials codiert werden. Die Auswahlentscheidungen sind nicht leicht und sollten möglichst reflektiert getroffen werden. Die Entscheidung kann z.B. aus einer spezifischen Forschungsfrage oder aus ihrer Fokussierung im Forschungsprozess hergeleitet werden. Oder sie kann mit der (vermuteten) Ergiebigkeit des Materials <?page no="88"?> 88 3 Durchführung von Beobachtungsstudien begründet werden; so können z.B. in einem beobachteten Konflikt oder in einer geschilderten Krisensituation viele Facetten eines sozialen Phänomens zutage treten. Schließlich spielt auch die Frage eine Rolle, welche neuen Informationen man sich von der Codierung eines Materials verspricht. Entsprechend der unterschiedlichen Forschungsmaterialien, der unterschiedlichen Fragen bzw. Zielsetzungen von Beobachtungsstudien und entsprechend des Fortgangs des Forschungsprozesses können die Funktionen, die dem Codieren bzw. den Codes zukommen, variieren: • Codes benennen Phänomene, die bislang nicht verbalisiert wurden. • Codes können der Ordnung und Strukturierung von Materialien dienen, indem sie im Sinne der Paraphrasierung Textteile zusammenfassen und einen Überblick ermöglichen oder indem sie es im Sinne einer thematischen Verdichtung ermöglichen, ähnliche Textteile einander zuzuordnen und zu vergleichen. • Codes können die Entwicklung von Theorien unterstützen, indem sie Ergebnisse einer eingehenden Textanalyse (z.B. der Sequenzanalyse) sichern oder indem sie in einem stufigen Prozess der Entwicklung einer Grounded Theory und ihrer Ausarbeitung dienen. Wenn die Codes der Ordnung und Strukturierung von Materialien dienen, sollten sie möglichst systematisch angelegt sein, um genau diese Ordnungs- und Systematisierungsleistung zu erbringen. Wie das am besten gelingen kann, müssen letztlich die Forschenden entscheiden bzw. erproben. Wenn die Codes die Entwicklung einer Grounded Theory unterstützen, dann muss systematischer vorgegangen werden. Dies wird weiter unten am Beispiel der Codierverfahren aus dem Grounded-Theory-Design aufgezeigt. Wichtig ist es auch, sich zu vergegenwärtigen, woher die verwendeten Codes - verschiedentlich wird auch von Kategorien gesprochen - stammen: • Es können eher weniger systematische Codes sein, die einzig und allein den Forschenden als Orientierungssystem dienen. • Es können ordnende (meist thematische) Codes sein, die verschiedene Aspekte eines Phänomens zu systematisieren versuchen. • Es können sogenannte In-vivo-Codes sein, die z.B. einem Interview entstammen und ein Phänomen treffend (in der Sprache des Feldes) auf den Punkt bringen. • Es können eher analytische bzw. theoriebezogene Codes sein, die einer bestimmten (theoretischen) Perspektive der Forschenden entsprechen. • Es können schließlich Codes sein, die auf dem Weg zur Generierung einer Grounded Theory entstanden sind und sich z.B. auf ein Codierparadigma (s. u.) beziehen. <?page no="89"?> 3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung 89 Wenn die Entwicklung einer Theorie angestrebt wird, werden meist mehrere Codierdurchgänge vorgenommen, bei denen die Codes von Runde zu Runde tendenziell abstrakter werden. Im Rahmen des Grounded-Theory-Designs werden offene, axiale und selektive Codierverfahren unterschieden (s. u.), die tendenziell am Fortgang des Erkenntnis- und Verdichtungsprozess ausgerichtet sind. Die eigentliche Codierung besteht jeweils immer aus mindestens zwei Arbeitsschritten: Selektion und Kategorisierung. Unter Selektion wird die Auswahl relevanter Textteile verstanden. Die Beobachtungsprotokolle werden dabei in einzelne Abschnitte oder Aspekte unterteilt, die sich z.B. an einzelnen Personen, Handlungen, Ereignissen etc. orientieren. Dann wird entschieden, welche der identifizierten Teile für die weitere Bearbeitung relevant sind und welche zunächst unbearbeitet bleiben. Im zweiten Schritt werden die relevanten Teile codiert. Für sie werden Codes (Labels oder kurze Aussagen) vergeben, die das Selektierte auf den Punkt bringen sollen. Meist ist es sinnvoll, im Zuge der Codierung auch die Überlegungen festzuhalten, die zur Entwicklung spezifischer Kategorien führten. Oft werden diese wiederum in Feldnotizen fixiert, die dann auch Teil des Analysematerials werden können. Wenn die Protokolle und Feldnotizen als Textdateien vorliegen, dann lässt sich die Zuordnung von Kategorien auch computergestützt vornehmen. Dafür liegen unterschiedliche Programmpakete wie z.B. A TLAS . TI oder M AX QDA vor, mit denen die Referenz zwischen Text und Kategorie sowie zwischen Kategorien gespeichert und abgebildet werden kann. Wenn es hilfreich erscheint, kann die Codierung auch anhand festgelegter Zahlencodes vorgenommen werden. Die erwähnten Programme bieten hier automatisierte Möglichkeiten an, die Codierung zu hierarchisieren und in Zahlencodes zu überführen. An dieser Stelle ist im Prinzip auch ein Übergang von der qualitativen zur quantitativen Beobachtung möglich. Grundsätzlich sollte jedoch die Bedeutung dieser Programme nicht überschätzt werden. Während sie in der quantifizierenden Analyse eine zentrale Rolle spielen, können sie in der qualitativen Analyse allenfalls eine ordnende und unterstützende Funktion - auch Standardprogramme aus dem Bereich der Text- oder Tabellenverarbeitung können das leisten - übernehmen. Die Codierung, Reflexion und Analyse der erhobenen Materialien geht vor allem auf die mühevolle gedankliche Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurück. Im Rahmen dieser Publikation können die angesprochenen Codierverfahren (offenes, axiales, selektives Codieren) aus dem Grounded-Theory-Design nur skizziert werden. Für eine weitere Einarbeitung ist auf die einschlägige Literatur und auf Lehrveranstaltungen oder Workshops zu verweisen, in denen solche Techniken praktisch erprobt und diskutiert werden. Darüber hinaus müssen dann mühsam eigene Erfahrungen gesammelt werden. <?page no="90"?> 90 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Offenes Codieren: Das offene Codieren dient zunächst dem Überblick und der Ordnung des gewonnenen Materials; dann geht es aber vor allem um ein „Aufbrechen“ der Texte und Protokolle. Das heißt, die Materialien werden bearbeitet; dazu dienen die bereits geschilderten systematische W-Fragen, Vergleiche oder Techniken des Dimensionierens. Ein solches „Aufbrechen“ des Materials ist erforderlich, weil insbesondere in kulturell vertrauten Kontexten das Beobachtete zunächst „normal“ erscheint; so sieht man z.B. zunächst Lehrende, die „lehren“, und Schüler, die „lernen“. Erst durch ein systematisches Hinterfragen wird deutlich, was in der Situation tatsächlich geschieht und wie eine solche schulische Normalität von den Beteiligten hervorgebracht wird. Die W-Fragen zwingen die Forschenden dazu, das Beobachtete zu hinterfragen, es genau zu benennen und zu strukturieren: Um was geht es in der beobachteten Situation? Welche Akteurinnen und Akteure sind beteiligt und wie agieren sie? Wie werden die Akteurinnen und Akteure bzw. die Aktionen von den anderen gesehen? Wo und wann bzw. wie lange finden die Aktionen statt? Warum wird in dieser Weise agiert bzw. reagiert? Welche Strategien werden dabei eingesetzt? Zu welchen (beobachtbaren) Konsequenzen führen die beobachtbaren Handlungen? Die Fragen können aber auch deutlich machen, was man eigentlich nicht beobachtet hat, vielleicht aber aus den anderen Materialien erfahren kann. Vergleiche können das offene Codieren unterstützen; z.B. indem man eine beobachtete Situation mit ganz ähnlichen oder auch mit völlig anderen Situationen vergleicht: so kann man z.B. die Vermittlung bestimmter Lehrinhalte in der Institution Schule damit vergleichen, wie dies z.B. in einer Kleingruppe von Vertrauten geschieht, oder man kann die Vermittlungssituation mit anderen Situationen im schulischen Betrieb vergleichen. So werden spezifische Rahmenbedingungen erkennbar, die auf das Beobachtete Einfluss haben. Auch das Dimensionieren dient dazu, das Beobachtete oder Gehörte in einer anderen Weise zu betrachten. Es geht darum, dass man ausgehend von zentralen Konzepten überlegt, welche Dimensionen (Eigenschaften) und Subdimensionen diese haben und welche Ausprägungen eine solche (Sub-)Dimension haben kann. So kann man z.B. erwägen, welche Dimensionen ein Beratungsgespräch in der Arbeitsverwaltung haben kann: Es kann um verschiedene Themen (Dimensionen) gehen, deren Ausprägungen (typische Themen) dann zu benennen wären. Das Beratungsgespräch zeichnet sich durch seine Dauer (Dimension) aus; es kann kurz oder lang (Ausprägung) sein. Dabei wird dann vielleicht deutlich, dass neben der objektiven Dauer (in der institutionellen Zeit) auch die wahrgenommene Dauer (in der Zeit der Beratenen) wichtig ist. Zu Beginn der Codierung werden die Kategorien noch unsystematisch sein, sodass jeder codierte Teil quasi seine eigene Kategorie bekommt. Beim Codieren werden aber relativ schnell Ähnlichkeiten auffallen, die dann zur Vergabe <?page no="91"?> 3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung 91 derselben Kategorie für mehrere Teile der Protokolle führen. Im Prinzip dienen die Kategorien als eine Art Markierung, um Protokollabschnitte zu bestimmten analytischen Aspekten zu systematisieren und besser auffinden zu können. Das „Aufbrechen“ der Protokolle und Texte im Prozess des offenen Codierens führt zunächst zu einem eher komplexeren Material - das irritiert, weil man doch zu einer Verdichtung kommen möchte. Eine solche setzt erst mit dem axialen Codieren ein. Axiales Codieren: Das axiale Codieren schließt an die Phase des „Aufbrechens“ der Daten an und dient dazu, die in der Phase des offenen Codierens gewonnenen Einsichten und Codes nun (in der Perspektive einer entstehenden Theorie) zu systematisieren. Diese zweite Phase der Codierung ist nicht mehr so sehr am Geschehen und an den Beobachtungsprotokollen orientiert, sondern versucht die Angaben aus der materialnahen Codierung zu systematisieren und abstrahieren. Ziel ist es, neue Codes zu generieren, die die Verbindung zwischen den vorhandenen Codes sowie Möglichkeiten, diese zu erklären, aufzeigen. Die Analysematerialien werden nun auf eine neue Art und Weise „zusammengesetzt“. Die im Rahmen des offenen Codierens entwickelten Kategorien werden z.B. im Kontext eines einfachen Handlungsmodells (Codierparadigma) zueinander in Beziehung gesetzt; ein solches Handlungsmodell unterscheidet ausgehend von einem zentralen Handlungsphänomen (z.B. einer Entscheidung für einen speziellen Ausbildungsgang) die Kontexte , in denen die Entscheidung stattfand, ursächliche Bedingungen , die die Entscheidung beeinflusst haben, Strategien der Entscheidungsfindung und schließlich auch die Konsequenzen dieser Entscheidung. Ein zentrales Moment generalisierender Codierungen sind Gemeinsamkeiten zwischen den vorhandenen Codes. Solche Gemeinsamkeiten deuten meist darauf hin, dass die zugrunde liegenden Aspekte irgendwie zusammengehören und gegebenenfalls eine gemeinsame Ursache haben, welche Gegenstand der weiteren Analyse sein könnte. Ziel dieser Codierphase ist es, einen roten Faden im beobachteten Geschehen zu entdecken und herauszuarbeiten. Man sucht nach (möglichst einfachen, aber angemessenen) Erklärungen für das untersuchte Geschehen. Eine solche erklärende Argumentation kann dann zu einem Codierparadigma verdichtet werden. Selektives Codieren: Das selektive Codieren dient schließlich dazu, das sich entwickelnde Codierparadigma empirisch zu untermauern; d.h., die Codierung wird nun aus der Perspektive des entwickelten Modells vorgenommen. Dabei kann sich dann zeigen, dass dieses Inkonsistenzen aufweist und modifiziert werden muss. <?page no="92"?> 92 3 Durchführung von Beobachtungsstudien 3.4.5 Theoretical Sampling Bislang mag der Forschungsprozess qualitativer Beobachtungen relativ linear anmuten: Feldzugang, Beobachtung, Protokollierung, Codierung, Ergebnis. Die Darstellung täuscht allerdings, da es im Forschungsprozess häufig zu Rekursionen (Schleifen) innerhalb dieses Ablaufs kommt. Spezielle methodische Ansätze wie jene der Ethnographie oder das Grounded-Theory-Design sehen von vorneherein einen rekursiven Forschungsprozess vor. Rekursiv bedeutet in diesem Fall, dass der oben skizzierte lineare Ablauf mehrfach hintereinander ausgeführt wird und dass sich dabei die gewonnenen Erkenntnisse verdichten. Vereinfacht könnte das z.B. bedeuten, dass nach einem Beobachtungstag ein Feldprotokoll erstellt wird, das bereits grob codiert wird. Durch die Codierung werden Besonderheiten deutlich, auf deren Basis am nächsten Beobachtungstag sowohl der Feldzugang als auch die Art der Beobachtung modifiziert werden. Dabei ist es gerade nicht das Ziel, die Art der Erhebung und Auswertung konstant zu halten, sondern sie kontinuierlich auf das jeweils Interessierende hin auszurichten. Eine Strategie ist dabei das sogenannte Theoretical Sampling, das zum Grounded- Theory-Design gehört. Hier wird nach jedem Beobachtungsdurchgang reflektiert, wie der nächste Beobachtungsdurchgang bzw. der weitere Verlauf der Untersuchung aussehen sollte. Der Auswahlprozess (Sampling) orientiert sich also an dem Stand der bisherigen in der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse bzw. der bisherigen Theoriebildung. So kann z.B. ausgehend von jeweils vorläufigen Befunden gefragt werden: Welche Untersuchungen können die bisherigen theoretischen Überlegungen bekräftigen, oder umgekehrt, welche Untersuchungen könnten die Erkenntnisse in Frage stellen und zu anderen Ergebnissen führen? Es lassen sich drei Typen des Theoretical Sampling unterscheiden: das Sampling von Fällen, das Sampling von Erhebungsmethoden und das Sampling von Feldern bzw. Feldzugängen. Beim Sampling von Fällen geht es vor allem darum, welchen Personen oder Situationen sich die Forschung als nächstes zuwenden sollte. Um die beobachteten Strukturen besser zu verstehen, werden zunächst ähnliche Beobachtungskonstellationen ausgewählt, um über die Ähnlichkeiten Konstitutionsmerkmale zu identifizieren. Später wird dann zu einer Auswahl nach dem Kontrastprinzip übergegangen, um möglichst alle Spielarten und Facetten des Phänomens kennenzulernen. Idealtypisch wird diese Strategie so lange verfolgt, bis durch neue Beobachtungen keine neuen Erkenntnisse mehr erlangt werden. Das Sampling von Methoden kann sich auf Varianten der Beobachtung oder auf den Einsatz weiterer Erhebungsmethoden (s.o.) beziehen. Das Sampling von Feldzugängen bezieht sich auf Überlegungen, den Zugang zum Feld zu variieren oder auch andere Felder für die Beobachtung zu erschließen. <?page no="93"?> 3.5 Quantitative Beobachtung: Konzeption 93 3.4.6 Beobachtungsbefunde Was das Ergebnis einer qualitativen Beobachtungsstudie ist, hängt davon ab, zu welchem Zweck sie durchgeführt wurde. Hier sollen exemplarisch drei Idealtypen skizziert werden, um zu zeigen, wie die Befunde qualitativer Beobachtungsstudien verdichtet werden können. Einige qualitative Beobachtungsstudien zielen auf sogenannte dichte Beschreibungen (ein Begriff von Clifford Geertz) der beobachteten Phänomene. Solche dichten Beschreibungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst eine Schilderung des beobachteten Geschehens liefern, zugleich aber die Logik der Situation, also z.B. die Situierung und die Strategien der verschiedenen Akteurinnen und Akteure erkennen lassen. In anderen Beobachtungsstudien ist eher die Rekonstruktion des beobachteten Geschehens aus der Perspektive der Beteiligten das Ziel. In solchen Studien werden neben Beobachtungen persönliche Dokumente und vor allem Befragungen der Beteiligten genutzt. So wird auch das zugänglich, was kaum durch Beobachten erfasst werden kann. Qualitative Beobachtungen nach dem Grounded-Theory-Design zielen auf die Entwicklung von Theorien ab. Dabei werden soziale Phänomene, wie z.B. der Umgang mit einer Krankheit oder rechtsextreme Jugendorganisationen, untersucht, für deren hinreichende Erklärung es bislang kaum theoretische Ansätze gibt. Hier sollen qualitative Beobachtungen helfen, angemessene (meist feldspezifische) Theorien mittlerer Reichweite für die entsprechenden Phänomene zu entwickeln und zu begründen. Sie sollen einen abgegrenzten Gegenstandsbereich des sozialen Lebens erschließen; ein klassisches Beispiel sind die Untersuchungen von Glaser und Strauss zum Umgang mit dem Sterben in einem Krankenhaus. Solche Theorien entstehen unterstützt durch verschiedene Codierverfahren sukzessive im Forschungsprozess; aus einzelnen Analysen gewonnene theoretische Überlegungen werden nach und nach zu konzeptionell dichteren Theorien entwickelt. 3.5 Quantitative Beobachtung: Konzeption Nun wendet sich die Darstellung der quantitativen Beobachtung zu und wechselt damit in Bezug auf mehrere Aspekte die Perspektive. Zunächst wird die Logik der Arbeit mit Text bzw. sprachlichen Aussagen, welche bearbeitet und interpretiert werden, zugunsten der Operationalisierung von Zahlencodes und deren statistische Verarbeitung aufgegeben. Damit geht ein Wechsel von primär nichtstandardisierter Datenerhebung zu standardisierter Datenerhebung einher. Auch die Stellung von Theorien im Forschungsprozess ändert sich insofern, als diese oft das Ergebnis qualitativer Beobachtungen sind, wohingegen sie bei quantitativen Beobachtungen meist bereits existieren und mit den Studien überprüft werden sollen. <?page no="94"?> 94 3 Durchführung von Beobachtungsstudien 3.5.1 Fragestellung Ausgangspunkt einer quantitativen Beobachtung ist die Fragestellung. Diese resultiert entweder aus praktischen oder aus theoretischen Problemen. Entsprechende praktische Probleme entstehen meist in Entscheidungssituationen, bei denen nur unvollständige Informationen vorliegen. Dann werden wissenschaftliche Studien durchgeführt, um mehr Informationen über die Entscheidungskonstellation zu erfahren. Solche Arten von Studien werden in der Regel von politischen oder gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren bzw. Wirtschaftsunternehmen in Auftrag gegeben und damit von außen an die Wissenschaft herangetragen. Theoretische Probleme entstehen demgegenüber im Wissenschaftssystem selbst. Neue Ansätze werden in einen Wissenschaftsbereich integriert oder Widersprüche zwischen bestehenden Ansätzen identifiziert. Dann dienen die Studien dazu, die entsprechenden Bereiche näher zu explorieren und zu klären, ob Ansätze brauchbare Beschreibungsmuster liefern und welcher der konkurrierenden Ansätze größere Erklärungskraft hat. Die Fragestellung besteht aus Komponenten, die in den seltensten Fällen selbsterklärend sind; sie müssen eingegrenzt und genauer definiert werden. Die Definitionen legen fest, welche Phänomene untersucht werden sollen und welche nicht. Typischerweise finden diese Eingrenzungen in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht statt. Es wird also festgelegt, welcher geographische Raum, welche Zeit und welcher gesellschaftliche Bereich Gegenstand der Untersuchung sein sollen. Oft sind weitere Definitionen nötig, um bestimmte gesellschaftliche Phänomene oder bestimmte Personengruppen genauer zu spezifizieren. Ein typisches Beispiel sind Jugendstudien, bei denen unterschiedliche Definitionen verwendet werden, wann die Jugend beginnt und wann sie endet. Hier lassen sich Unterschiede zwischen einzelnen Studien kaum vermeiden, da die Definition in jeder einzelnen Studie festgelegt wird. Wichtig ist aber, dass jede Studie einer eindeutigen Definition folgt. Nicht zuletzt bilden auch bereits vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse zum zu untersuchenden Phänomen einen Ausgangspunkt für die Konzeptionen von Studien. Sie helfen, das Problemfeld einzugrenzen, die Fragestellung zu konkretisieren und Definitionen wissenschaftlich anschlussfähig vorzunehmen. Darüber hinaus zeigen sie, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse über das zu untersuchende Phänomen bereits vorliegen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen sich grob in theoretische und praktische Erkenntnisse einteilen. Die theoretischen Erkenntnisse bestehen in vorhandenen Theorien. Bei diesen handelt es sich um umfassende Erklärungen allgemeiner Phänomene, wie z.B. die Relativitätstheorie und die Evolutionstheorie, oder um Theorien zu speziellen Phänomenen wie Kultur, Markt, Öffentlichkeit, Bildung, Politik etc. Modelle gehören auch zu den theoretischen Erkenntnissen, sie sind allerdings konkreter und <?page no="95"?> 3.5 Quantitative Beobachtung: Konzeption 95 vielfältiger als Theorien. So liegen oft unterschiedliche Modelle zur Erklärung des Funktionierens von Märkten, Öffentlichkeit, Bildung oder Politik vor. Da Modelle konkreter sind als Theorien, sind Modelle vielfach hilfreicher für die Konzeption einer konkreten Studie. Noch instruktiver sind praktische Erkenntnisse. Diese beziehen sich auf die Ergebnisse vorhandener Studien und lassen sich grob in Daten und Interpretationen unterteilen. Mit Daten sind die eigentlichen Resultate der Untersuchung gemeint, die sich replizieren lassen, wenn dieselbe Studie erneut durchgeführt würde. Vorhandene Daten, die sich auf die zu untersuchenden Phänomene beziehen, sind ein guter Ausgangspunkt zur Konzeption einer neuen Studie und sollten auf jeden Fall recherchiert und genutzt werden. In günstigen Fällen ist es möglich, Zugang zu vorhandenen Daten zu erlangen. In den meisten Fällen lassen sich die Resultate vorhandener Studien allerdings nur anhand von Publikationen rekonstruieren. In den Publikationen berichten die Forschenden zudem über ihre Interpretation der Resultate. Auch diese Interpretationen sind für die Vorbereitung und Konzeption einer Studie hilfreich. Sie haben allerdings nicht denselben Stellenwert wie die Resultate, denn sie basieren notwendigerweise auf individuellen Interpretationen, die von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anders vorgenommen werden könnten. Insofern sind diese Interpretationen nicht unbedingt als verlässliche Grundlage zur Konzeption anzusehen; sie bieten aber oft Inspiration für neue oder weiterführende Fragen. 3.5.2 Untersuchungsanlage Unter Untersuchungsanlage wird die Entscheidung verstanden, wie die Studie durchgeführt werden soll. Diese hängt sowohl von der Fragestellung ab als auch von der wissenschaftlichen Verortung der Studie. Die Kombination beider bringt Vorgaben mit sich, denen in der Anlage Rechnung getragen werden muss. Solche Aspekte der quantitativen Beobachtung sind nicht frei wählbar, sie ergeben sich nahezu zwangsläufig und haben direkte Auswirkungen auf die zu wählende Variante der Beobachtung. Andere Aspekte bleiben weiterhin frei wählbar, sodass mit ihnen das Studiendesign auf die jeweiligen Notwendigkeiten hin optimiert werden kann. Da es unmöglich erscheint, im Rahmen eines kurzen Unterkapitels alle Kombinationen von Freiheitsgraden bei der Studienanlage aufzuführen, werden nachfolgend nur einige typische Beispiele diskutiert. Relativ verbreitet sind explorative oder interpretative Beobachtungsstudien, mit denen Alltagshandlungen untersucht werden. Solche Studien werden typischerweise vom Forscherteam selbst im Alltagsumfeld nichtstandardisiert und möglichst ohne Störung des natürlichen Handlungsverlaufs erhoben. Dazu ist dann zu entscheiden, ob wissentlich, offen oder unwissentlich, verdeckt vorgegangen wird und in welcher Form die Beobachtenden am Geschehen teilnehmen. Die nichtstandardisiert erhobenen Angaben müssen später standardisiert codiert <?page no="96"?> 96 3 Durchführung von Beobachtungsstudien werden, wenn sie wie eine standardisierte Beobachtung ausgewertet werden sollen. Solche meist explorativen Beobachtungen sind mit nur relativ wenigen Beobachtungsobjekten durchführbar. Legt demgegenüber die Fragestellung der Studie eine Untersuchung möglichst vieler Beobachtungsobjekte nahe, bringt das die Notwendigkeit einer standardisierten Erhebung mit sich. Andererseits wird damit meist eine aktive Teilnahme der Beobachtenden am Geschehen unmöglich. Es stellt sich aber die Frage, ob nur interne Beobachtende des Forschungsteams zum Einsatz kommen oder auch externe Beobachtende. Darüber hinaus sind groß angelegte standardisierte Beobachtungen fast nur im natürlichen Umfeld praktikabel und nicht unter kontrollierten Laborbedingungen. Diese bieten sich eher an, wenn standardisiert und apparativ Körperreaktionen oder Blickverläufe beobachtet werden sollen. Entsprechende Beobachtungen sind wissentlich und offen, da die Beobachteten automatisch bemerken, dass sie untersucht werden. Zudem wird man ihnen einen Stimulus setzen, um das beobachten zu können, was untersucht werden soll. Hochgradig standardisiert wird vorgegangen, wenn z.B. Handlungsspuren im Internet untersucht werden. Diese Feldstudien sind zwangsläufig nichtteilnehmend, meist verdeckt und unwissentlich. Sie bringen oft erhebliche ethische Probleme mit sich, weil den Untersuchten die Entscheidung verwehrt wird, ob sie an der Studie teilnehmen wollen oder nicht. Deshalb muss bei allen Beobachtungsstudien, bei denen die Beobachteten nicht wissen, dass sie beobachtet werden, geprüft werden, ob und in welcher Form die Durchführung der Studie ethisch vertretbar ist. Diese Frage hängt auch davon ab, wie die Untersuchungsobjekte ausgewählt werden und wie sie untersucht werden sollen, was Gegenstand der beiden folgenden Unterkapitel ist. 3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl Das Gelingen einer empirischen Studie hängt davon ab, ob für die Fragestellung relevante Merkmale an relevanten Untersuchungselementen erhoben werden. Dabei ist die Auswahl der untersuchten Elemente ebenso wichtig wie die Qualität der erhobenen Merkmale. Insofern lohnt es sich, bei der Konzeption einer quantitativen Beobachtung einen ähnlich großen Aufwand für die Auswahl der relevanten Elemente zu betreiben wie für die Datenerhebung der relevanten Merkmale. Allerdings zeigt ein Blick in die üblichen Einführungen in die Methoden der empirischen Sozialforschung sowie in methodisch orientierte Fachzeitschriften, dass meist Fragen der Erhebung relevanter Untersuchungsmerkmale deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als der Frage nach den zu untersuchenden Elementen. Dieses Ungleichgewicht trifft auf Beobachtungen in der Regel noch stärker zu als auf Befragungen. Zudem werden in Beobachtungsstudien die zu <?page no="97"?> 3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl 97 untersuchenden Elemente oft danach ausgewählt, wie einfach sie für die Untersuchung zu erreichen sind. Das ist verständlich, weil der Aufwand für Beobachtungen deutlich höher ist als bei anderen Erhebungsverfahren. Die Brauchbarkeit und Übertragbarkeit solcher Ergebnisse sind allerdings als gering einzuschätzen. Deshalb folgt im Weiteren zunächst ein allgemeiner Überblick zu Auswahlverfahren in der empirischen Sozialwissenschaft, unabhängig von ihrer Verwendung bei Beobachtungsstudien. Das Auswahlverfahren regelt, welche Elemente in einer empirischen Studie untersucht werden. In den Sozial- und Verhaltenswissenschaften handelt es sich bei den zu untersuchenden Elementen oft (aber nicht notwendigerweise) um Personen. Eine Auswahl ist dann nötig, wenn die praktische Durchführbarkeit einer Studie es nicht zulässt, dass alle Elemente, die für eine wissenschaftliche Fragestellung interessant sind, untersucht werden können: z.B. alle Schülerinnen und Schüler einer bestimmten Klassenstufe, alle Wahlberechtigten, alle Kundinnen und Kunden oder alle Nutzerinnen und Nutzer eines bestimmten Mediums. Die Grundidee sozialwissenschaftlicher Auswahlverfahren ist, die Untersuchung auf eine handhabbare Menge von Elementen zu begrenzen. Die Auswahl dieser Elemente sollte so getroffen werden, dass alle relevanten Merkmale in ähnlicher Weise vertreten sind wie in der Gruppe, auf die sich die Fragestellung bezieht. Damit wird gewährleistet, dass auf der Basis der erhobenen Merkmale Aussagen über die Merkmale der eigentlich interessierenden Gesamtgruppe möglich sind. Das sicherzustellen, ist in der Forschungspraxis nicht einfach und erfordert genaue Vorüberlegungen sowie ein komplexes Vorgehen bei der Auswahl. Die Auswahl wird in mehreren Schritten vollzogen. Ausgangspunkt ist die wissenschaftliche Fragestellung. Sie legt fest, worüber eine Aussage getroffen werden soll. Damit lässt sich definieren, was die Elemente sind, auf die sich die Fragestellung bezieht, und was die theoretische Gruppe aller Elemente ist, die Grundgesamtheit genannt wird. Nach der Definition von Element und Grundgesamtheit wird ein Verfahren festgelegt, mit dem diejenigen Elemente ausgewählt werden, die untersucht werden sollen. Dieses Verfahren wird Auswahlverfahren genannt. Die so ausgewählten Elemente, z.B. Personen, die beobachtet werden, sind bei Beobachtungen oft nicht das eigentlich Interessierende, sondern die einzelnen Handlungen. Dann gibt es zwei Arten auszuwählender Elemente: Beobachtungsobjekte und Beobachtungsfälle. Beobachtungsobjekte sind meist einzelne Personen, die beobachtet werden, und Beobachtungsfälle sind die einzelnen Handlungen, die die beobachtete Person ausführt. 3.6.1 Grundgesamtheit und Beobachtungsobjekte Aus der Fragestellung der Untersuchung ergibt sich die Grundgesamtheit , also diejenige Menge von Elementen, über die in der Untersuchung eine Aussage getroffen werden soll. Selbst wenn die Grundgesamtheit vordergründig klar defi- <?page no="98"?> 98 3 Durchführung von Beobachtungsstudien niert erscheint, sollte immer zunächst reflektiert werden, ob sie wirklich so klar ist. Um Probleme zu verhindern, ist es nötig, alle Unklarheiten eindeutig zu definieren, um die Entscheidung, welche Elemente untersucht werden, nicht den Beobachtenden in der jeweiligen Situation zu überlassen, weil das zu unterschiedlichen Vorgehensweisen je nach Beobachtendem führen könnte. Aus der Fragestellung ergibt sich nicht nur die Grundgesamtheit, sondern auch das interessierende Feld, da sich Beobachtungsstudien auf Handlungen und Reaktionen beziehen, die in einem Umfeld stattfinden und in diesem erhoben werden müssen. Insofern umfasst das interessierende Feld alle Konstellationen, in denen die zu untersuchenden Handlungen und Reaktionen auftreten könnten. Dazu muss der zeitliche, räumliche und sachliche Rahmen der Untersuchung erst festgelegt werden. Einfach ist es dann, wenn die Fragestellung einen fest definierten Rahmen mit sich bringt wie z.B. Beobachtungen von Schulklassen in Klassenzimmern, von Personen am Arbeitsplatz oder Familien im Wohnzimmer. Aber selbst in solchen definierten Settings muss zeitlich noch festgelegt werden, wann die Beobachtung beginnt und endet. In Laborstudien hat das Forscherteam die Festlegung des Beobachtungsfeldes in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht selbst in der Hand. In Feldstudien müssen hierfür den Beobachtenden klare Definitionen vorgegeben werden, damit diese entscheiden können, welche Elemente wann beobachtet werden müssen. Die eindeutige Definition des Beobachtungsfeldes hat auch Auswirkungen auf die Grundgesamtheit und die Fragestellung, da nur Aspekte beobachtet werden können, die in dem definierten Beobachtungsfeld auftreten. Es ist also zu reflektieren, welche Einschränkung ein Beobachtungsfeld mit sich bringt und ob die Grundgesamtheit damit noch angemessen repräsentiert sowie die Fragestellung angemessen beantwortet werden kann. Aus Perspektive der theoretischen Fragestellung ist es hier sinnvoll, das Beobachtungsfeld möglichst weit zu definieren, aus Perspektive der praktischen Durchführbarkeit ist es demgegenüber angezeigt, das Beobachtungsfeld eng zu definieren. Als letzter definitorischer Schritt muss innerhalb des Beobachtungsfeldes festgelegt werden, welche Elemente beobachtet werden sollen. Hierin unterscheiden sich Beobachtungsstudien grundlegend von Befragungsstudien. Bei Befragungsstudien werden Personen befragt und diese Personen stellen die auszuwählenden Untersuchungselemente dar. Das ist in Beobachtungen zwar oft, aber nicht immer so. Personen handeln vielfach in Gruppen bzw. mit bestimmten Gegenständen. Insofern können auch Handlungen beobachtet werden, die in Gruppen oder an Gegenständen ausgeführt werden, sodass dann Gruppen oder Gegenstände Elemente der Auswahl wären. Wenn Fragen der Interaktion im Zentrum stehen, wird man eher Gruppen beobachten, bei Fragen zum individuellen Verhalten eher Personen und bei Fragen zum Umgang mit Gegenständen eher diese. Normalerweise kann in einer Beobachtungsstudie eine beobachtende Person lediglich eine <?page no="99"?> 3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl 99 Person, eine Gruppe oder einen Gegenstand zur selben Zeit beobachten. Wenn mehrere solcher Elemente parallel beobachtet werden sollen, werden entweder entsprechend viele Beobachtende benötigt, oder das Beobachtungsfeld muss gefilmt und später codiert werden. In manchen Fällen lassen sich die zu erhebenden Aspekte auch automatisiert parallel an mehreren Elementen erfassen. Fragebzw. Problemstellung Grundgesamtheit interessierendes Feld sachlich zeitlich räumlich definiertes Beobachtungsfeld Personen Gruppen Gegenstände Auswahlgesamtheit Auswahlverfahren zu beobachtendes Element Abb. 6 | Grundgesamtheit und Auswahlgesamtheit Alle zu beobachtenden Elemente, die theoretisch innerhalb des festgelegten Beobachtungsfeldes beobachtet werden könnten, bilden gemeinsam die Auswahlgesamtheit , also diejenige Menge von zu beobachtenden Elementen, die theoretisch untersucht werden könnten. Die Auswahlgesamtheit ist eine Teilmenge der Grundgesamtheit. Sie ist praktischen Anforderungen geschuldet, sodass Elemente der Grundgesamtheit nicht Teil der Auswahlgesamtheit sind, die praktisch nicht oder nur mit hohem Aufwand beobachtet werden können. Aber auch die Auswahlgesamtheit ist bei den meisten Fragestellungen so groß, dass nicht alle Elemente beobachtet werden können. Dann wird ein Auswahlverfahren festgelegt. 3.6.2 Auswahlverfahren Mit dem Auswahlverfahren wird festgelegt, wie aus der Auswahlgesamtheit diejenigen Elemente ausgewählt werden, die tatsächlich untersucht werden sollen. Die folgende Darstellung orientiert sich an den üblichen wissenschaftlichen Auswahlverfahren, die in erster Linie für Befragungen konzipiert wurden. Deshalb wird zunächst davon ausgegangen, dass Personen als Untersuchungselemente ausgewählt werden, sodass in diesem Unterkapitel Personen und auszuwählende Elemente gleichgesetzt werden. <?page no="100"?> 100 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Grundsätzlich sind drei Arten von Auswahlen möglich: Vollerhebungen, anfallende Stichproben und systematische Auswahlverfahren. Bei Vollerhebungen werden alle Personen der Auswahlgesamtheit untersucht. Eine Vollerhebung ist entweder bei einer kleinen Grundgesamtheit möglich wie bei einer Modellschule oder die Erhebung findet apparativ z.B. anhand von Verhaltensspuren im Internet statt. Vollerhebungen sind bei Beobachtungsstudien selten. Deutlich verbreiteter ist die Untersuchung anfallender Stichproben , sogenannter Ad-hoc-Stichproben. Bei solchen Untersuchungen werden diejenigen Personen untersucht, die quasi natürlich und relativ problemlos zugänglich sind. Die verbreitetste Variante anfallender Stichproben sind Studierende, die an Studien teilnehmen, weil die Teilnahme als Studienleistung anerkannt wird. Andere Varianten anfallender Stichproben sind Schulklassen oder Kindergartengruppen. Es kann sich aber auch um Gruppen, Vereine, Clubs etc. handeln, zu denen Mitglieder des Forschungsteams Kontakte haben. Wissenschaftlich gesehen sind anfallende Stichproben problematisch, da bei diesen das Verhältnis zwischen tatsächlicher Auswahl und der theoretischen Auswahlgesamtheit unklar ist. Für manche Fragestellungen sind anfallende Stichproben allerdings akzeptabel, weil sie einfach und kostengünstig zu realisieren sind. Dazu zählen explorative Studien oder Studien, mit denen allgemeingültige Aussagen widerlegt werden sollen, denn diese Aussagen müssten in allen Stichproben, also auch in den anfallenden Stichproben gelten, sodass sich ihre Allgemeingültigkeit auch mit anfallenden Stichproben widerlegen lässt. Der typische Weg wissenschaftlicher Studien führt allerdings über ein systematisches Auswahlverfahren . Eine Art systematischer Auswahlverfahren wird „bewusste Auswahl“ genannt. Bei einer bewussten Auswahl ist Vorwissen über die zu untersuchenden Personen sowie die Grundgesamtheit nötig. Das Vorwissen wird genutzt, um Personen so auszuwählen, dass mit möglichst geringem Aufwand möglichst viele relevante Informationen erfasst werden können. Eine bewusste Auswahl kann entweder umfassend oder exemplarisch angelegt sein. Bei der exemplarischen Variante werden Personen untersucht, die für die zu untersuchende Fragestellung von besonderem Interesse sind. Das können z.B. Extremfälle sein, bei denen das zu untersuchende Phänomen besonders häufig oder ausgeprägt vorzufinden ist wie Kauf- oder Spielsüchtige, Extremsportlerinnen und Extremsportler oder Vielnutzerinnen und Vielnutzer bestimmter Medien. Manchmal ist es auch gerade interessant, solche Personen zu untersuchen, die sonst übliche Dinge nicht tun, weil sie keinen Fernseher, kein Handy oder keine Kreditkarte haben. Bei anderen Fragestellungen steht demgegenüber das „normale“ Verhalten im Fokus. Dazu ist es aber nötig, vorab zu wissen, was „normal“ ist, wie lange z.B. die Deutschen im Durchschnitt pro Tag fernsehen, einkaufen, arbeiten, mit anderen reden. Es ist auch denkbar, für eine Studie prototypische Personen auszuwählen. Dazu ist allerdings relativ viel Vorwissen nötig, denn zum einen müssen die Prototypen <?page no="101"?> 3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl 101 bekannt sein und zum anderen muss Wissen über Personen vorliegen, um Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Prototypen zu identifizieren. Besonders interessant ist die Auswahl von Personen, die stellvertretend für eine Gruppe stehen. In einer Befragung könnte z.B. ein Lehrer zum Verhalten der gesamten Klasse oder eine Abteilungsleiterin zum Verhalten in ihrer Abteilung befragt werden. Bei Beobachtungsstudien sind solche Konstellationen allerdings extrem selten. Vom Prinzip her würde eine vormachende Person stellvertretend für die Sportgruppe beobachtet. Der Vorteil der Auswahl von extremen, normalen oder prototypischen Personen besteht darin, bei relativ wenigen Personen relativ viele relevante Informationen erhalten zu können. Deshalb wird bei nichtstandardisierten Beobachtungsstudien, bei denen wenige Personen beobachtet werden, oft auf solche Auswahlverfahren zurückgegriffen. Im Gegensatz dazu kommt bei standardisierten Studien eher die Quotenauswahl vor. Bei dieser muss vorab bekannt sein, wie sich für die Untersuchung relevante Angaben in der Grundgesamtheit verteilen. Als relevante Quotierungsmerkmale werden häufig soziodemographische Merkmale wie Alter, Geschlecht, Bildung oder interessierende Verhaltensweisen gewählt, die sich bestenfalls leicht erfassen lassen. Dann wird festgelegt, wie viele Personen in der Studie beobachtet werden sollen, und die Verteilung aus der Grundgesamtheit auf die Personen umgerechnet. Für die einzelne zu untersuchende Person wird dann Alter, Geschlecht etc. vorgegeben. Mittels Quotenstichproben kann sichergestellt werden, dass eine große Bandbreite unterschiedlicher Personen, die in Summe der Grundgesamtheit entsprechen, in die Studie einfließen. Sie sind allerdings nicht im statistischen Sinne repräsentativ für die Grundgesamtheit. Statistisch repräsentativ für eine definierte Grundgesamtheit ist eine Auswahl nur, wenn sie auf einer Zufallsstichprobe basiert. Deshalb gelten in der empirischen Sozialforschung einfache Zufallsstichproben als das Mittel der Wahl. Trotzdem basieren längst nicht alle publizierten Daten auf einfachen Zufallsstichproben. Selbst bei Befragungsstudien sind einfache Zufallsstichproben eher die Ausnahme. Bei Beobachtungsstudien kommen sie aus Gründen der Durchführbarkeit fast gar nicht vor. Einfache Zufallsstichproben sind solche, bei denen alle Elemente der Grundgesamtheit dieselbe Wahrscheinlichkeit haben, in die Stichprobe zu gelangen und untersucht zu werden. Möglich sind solche Zufallsstichproben, wenn alle Elemente der Grundgesamtheit bekannt sind, weil sie z.B. in einer vollständigen Datenbank erfasst wurden und aus diesen mit einem Zufallsverfahren so viele Elemente ausgewählt werden, wie in der Studie untersucht werden sollen. Im Forschungsalltag hilft aber oft selbst eine vorhandene vollständige Datenbank aus Gründen des Datenschutzes für das Ziehen von einfachen Zufallsstichproben nicht. Zudem wäre es logistisch oft unmöglich, alle Personen einer einfachen Zufallsstichprobe zu untersuchen, weil diese z.B. über ganz Deutschland verteilt sein könnten. Auch deshalb werden in vielen Bereichen mehrstufige <?page no="102"?> 102 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Zufallsstichproben gezogen. Ein solches Verfahren ist möglich, wenn die zu untersuchenden Personen in Gruppen eingeteilt sind und aus den Gruppen eine Zufallsstichprobe gezogen wird sowie innerhalb der Gruppe zufällig die zu untersuchenden Personen ausgewählt werden. Geschichtete Zufallsauswahlen folgen einer ähnlichen Logik. Auch sie basieren auf hintereinandergeschalteten Auswahlverfahren auf unterschiedlichen Ebenen. Im Gegensatz zur mehrstufigen Zufallsauswahl wird bei der geschichteten Zufallsauswahl allerdings auf übergeordneter Ebene nicht nach einem Zufallsverfahren ausgewählt, sondern nach Schichtvorgaben. Geschichtete Zufallsstichproben sind vor allem dann nötig, wenn kleine Einheiten wie z.B. kleine Bundesländer mit einer großen Anzahl von Elementen in der Untersuchung erfasst werden sollen, um auch über solche Einheiten statistisch brauchbare Aussagen machen zu können. Bei der Schichtung würden die entsprechenden Einheiten stärker berücksichtigt als ihr tatsächlicher Anteil, was bei Aussagen über die Grundgesamtheit durch Heruntergewichtung der entsprechenden Einheiten wieder korrigiert werden könnte. Auch Klumpenstichproben werden in der Regel mehrstufig gezogen. Das Charakteristikum der Klumpenauswahl besteht darin, auf einer (meist der letzten) Auswahlebene nicht einzelne Personen, sondern natürliche Gruppen von Personen auszuwählen wie Kindergartengruppen, Schulklassen, Universitätskurse oder Mannschaften. Aus praktischen Gründen basieren Beobachtungsstudien oft auf einer Klumpenauswahl. Dann werden alle Personen der jeweiligen Gruppe beobachtet, zumal der jeweilige Kontext oft das natürliche Umfeld darstellt, in dem die zu untersuchenden Handlungen typischerweise auftreten. Vollerhebung / systematische Auswahlverfahren / anfallende Stichprobe bewusste Auswahl zufällige Auswahl exemplarisch umfassend einfach komplex Quotenverfahren Zufallsauswahl Prototypen Normalfälle Extremfälle Sonderformen mehrstufige Auswahl geschichtete Auswahl Klumpenauswahl Abb. 7 | Systematik von Auswahlverfahren Vor allem in nichtstandardisierten Studien kommen häufig spezielle Auswahlverfahren zum Einsatz, die sich als Sonderformen der bewussten Auswahl beschreiben lassen. Besonders verbreitet ist die Auswahl nach dem Schneeballverfahren . Bei einem solchen werden zunächst wenige Personen ausgewählt, die besonders <?page no="103"?> 3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl 103 aussagekräftig erscheinen. Nach der Untersuchung werden sie gebeten, andere Personen zu benennen, die für die Untersuchung interessant wären. Die Expertise der Untersuchten wird sich also zunutze gemacht, um die Auswahl zu treffen. Ein solcher Schritt kann auch Teil des Vorgehens nach dem sogenannten Theoretical Sampling sein. Bei diesem werden neue Personen so ausgewählt, dass sie möglichst neue Informationen liefern, und die Auswahl so lange fortgesetzt, bis auch neue Personen keine neuen Erkenntnisse mehr bringen. Die Schwierigkeit dabei ist abzuschätzen, wann die Auswahl gesättigt ist, da selbst wenn einige neue Personen keine neuen Informationen mehr gebracht haben, andere Personen diese bringen könnten. 3.6.3 Beobachtungsobjekt und Beobachtungsfall Die oben skizzierten typischen Auswahlverfahren sind auf Befragungsstudien optimiert, bei denen Personen ausgewählt werden, die befragt werden. Aus zwei Gründen ist die Auswahlproblematik bei quantitativen Beobachtungsstudien komplizierter. Zum einen können nicht nur Personen beobachtet werden, sondern auch Gruppen oder Gegenstände. Die Auswahl von Gruppen lässt sich wahrscheinlich ähnlich der oben skizzierten Muster realisieren. Problematischer ist die Auswahl von Gegenständen, an denen die interessierenden Handlungen beobachtet werden sollen. Hier können die oben skizzierten Auswahlverfahren lediglich eine Anregung zum Vorgehen liefern. Denkbar wäre es, festgelegte räumliche Konstellationen, in denen die zu beobachtenden Gegenstände vorhanden sind, als Elemente der Auswahl heranzuziehen. Das könnten z.B. Geschäfte, Sportplätze, Computerräume in Schulen etc. sein, die nach einem systematischen Verfahren ausgewählt werden, um in diesen die interessierenden Handlungen zu beobachten. Zum anderen stehen meist bei Beobachtungsstudien nicht die beobachteten Personen, Gruppen oder Handlungen im Zentrum des Interesses, sondern die einzelnen ausgeführten Handlungen. Dann liegt es nahe, zwischen Beobachtungsobjekt und Beobachtungsfall zu unterscheiden. Beim Beobachtungsobjekt handelt es sich um das physische Objekt, das während der Untersuchung beobachtet wird bzw. an oder mit dem die Erhebung vorgenommen wird. Der Beobachtungsfall ist demgegenüber die einzelne Handlung oder Reaktion, die beobachtet oder gemessen wird. Bei qualitativen bzw. nichtstandardisierten Beobachtungen tritt das Problem nicht auf, da das beobachtete Objekt und die dazugehörigen Handlungen gemeinsam und holistisch betrachtet werden. Bei standardisierten oder apparativen Beobachtungen ist die Konstellation komplizierter. Aber auch bei quantitativen Beobachtungen können Beobachtungsobjekt und Beobachtungsfall zusammenfallen. Dann werden in der Regel Handlungen bei Personen, Gruppen oder Gegenständen gezählt, z.B. wie oft sich bestimmte Kinder im Unterricht melden, wie oft innerhalb einer Gruppe gelacht wird oder wie viele Personen an einem <?page no="104"?> 104 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Plakat vorbeigehen oder sich dieses ansehen. Allerdings lassen sich so keine Aussagen über die Qualität der einzelnen Handlungen oder deren zeitliche Abfolge machen. Deshalb werden in den meisten standardisierten Beobachtungen pro Beobachtungsobjekt mehrere Beobachtungsfälle, sprich Handlungen, erfasst. Dann stellt jede einzelne Handlung einen zu erfassenden Beobachtungsfall dar, sodass pro Beobachtungsobjekt im Datensatz mehrere Beobachtungsfälle vorliegen. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diese Beobachtungsfälle auszuwählen. Zwei Varianten sind gängig: Auswahl aller Handlungen oder Auswahl nach Zeitintervallen. Bei kürzeren Beobachtungen werden typischerweise alle Handlungen codiert, die während der Beobachtung auftreten. Sind aber lange Beobachtungen vorgesehen, dann ist eine Codierung aller auftretenden Handlung praktisch kaum durchzuführen. Hier ist es zweckmäßig, regelmäßige Zeitfenster wie „alle zehn Minuten“ festzulegen, in denen dann z.B. die jeweils erste Handlung codiert wird, die innerhalb des Zeitfensters auftritt. Da die Beobachtenden so zwischendurch Pausen haben, sind lange Beobachtungssequenzen auf diese Weise einfacher und fehlerfreier zu erfassen. Allerdings fehlen später die Informationen über die nicht beobachteten Zeiträume. Unabhängig davon, ob das Kriterium zur Codierung die einzelne Handlung oder Zeitsequenz ist, entsteht später im Datensatz für jede Codierung ein Beobachtungsfall zur Handlung, sodass die Anzahl der handlungsbezogenen Beobachtungsfälle im Datensatz gleich dem Produkt der Anzahl von Beobachtungsobjekten mal der jeweiligen Anzahl von Handlungen oder Zeitsequenzen ist. Beobachtungsobjekte Personen Gruppen Gegenstände Objekt = Fall mehrere Fälle Objekt = Fall mehrere Fälle Objekt = Fall mehrere Fälle Handlung Zeiteinheit Handlung Zeiteinheit Handlung Zeiteinheit Abb. 8 | Auswahl von Beobachtungsfällen Die Art der Beobachtung hat auch Einfluss auf das Auswahlverfahren und die Festlegung des Beobachtungsfalls. Nichtstandardisierte Beobachtungen operie- <?page no="105"?> 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren 105 ren in der Regel mit bewussten Auswahlverfahren. Beobachtet werden einzelne Personen oder Gruppen. Bei standardisierten Beobachtungen sind vor allem die bewusste Auswahl, die Ad-hoc-Auswahl oder geschichtete Zufallsverfahren verbreitet. Beobachtet werden meist Personen und erfasst werden die einzelnen Handlungen. Bei apparativen Beobachtungen sind unterschiedliche Auswahlverfahren möglich, oft handelt es sich sogar um Vollerhebungen. Solche Studien setzen zum Teil bei Personen an, häufiger allerdings bei Gegenständen, mit denen die Handlungen vollzogen werden, welche dann vielfach gleichzeitig Handlungsgegenstand und Erhebungsapparat sind. Typisch bei vielen apparativen Studien ist, dass die Beobachtungsfälle nach Zeitintervallen organisiert sind, also ein bestimmtes Zeitintervall widerspiegeln. Zum besseren Verständnis des Vorgehens bei der Auswahl ist es auch nötig zu berücksichtigen, nach welchem Verfahren die Datenerhebung stattfinden soll. 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren Überlegungen und Festlegungen zum Erhebungsverfahren betreffen die Frage, was an den ausgewählten Untersuchungsobjekten wie untersucht werden soll. Leitend ist dabei die Fragestellung der Untersuchung. Es müssen zumindest die Informationen gesammelt werden, die zur Beantwortung der Fragestellung nötig sind. Oft ist es zudem sinnvoll, darüber hinaus weitere Informationen zu erheben, die im zu untersuchenden Problemfeld Einfluss haben könnten, selbst wenn diese nicht Gegenstand der eigentlichen Fragestellung sind. Dadurch wird sichergestellt, die durch die Untersuchung erlangten Resultate in ihrem gesellschaftlichen Kontext verorten zu können. Die eigentliche Erhebung besteht in einer systematischen Überführung von real auftretendem Verhalten in eine Abfolge von Symbolen. Die Symbole dienen dazu, das interessierende Verhalten zu dokumentieren, um später aus der Dokumentation wissenschaftliche Erkenntnisse zu ziehen. Bei quantitativen Beobachtungen handelt es sich dabei um Zahlencodes. 3.7.1 Vorüberlegungen Mit Vorüberlegungen sind systematische Schritte und Entscheidungen gemeint, um von der allgemeinen Problemstellung, die der Untersuchung zugrunde liegt, zu konkreten Anweisungen zu gelangen, wie die Beobachtung praktisch durchgeführt werden soll. Der Weg dahin kann von Studie zu Studie sehr unterschiedlich ausfallen. Zwei Aspekte sollten aber auf jeden Fall bedacht werden, und zwar solche, die sich aus der Fragestellung der Untersuchung ergeben, und solche, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Handlungen von Menschen im Fokus der Erhebung stehen. <?page no="106"?> 106 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Die ersten Vorüberlegungen gehen von der Problembzw. Fragestellung aus. Ziel ist es, das zu untersuchende Problemfeld bzw. die zu untersuchende Fragestellung systematisch in einzelne Komponenten einzuteilen, die in der Erhebung berücksichtigt werden sollen. Durch diese Komponenten soll die Komplexität alltäglicher Handlungssituationen auf diejenige Aspekte fokussiert werden, die für die Untersuchung relevant sind. Zum einen soll durch diesen Fokus verhindert werden, dass Aufwand bei der Erhebung in Aspekte investiert wird, die nicht zur Klärung der Forschungsfrage beitragen. Zum anderen muss aber auch sichergestellt werden, dass alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden, weil eine nachträgliche Erhebung bislang unberücksichtigter Aspekte nur möglich ist, wenn die zu beobachtenden Handlungen umfassend dokumentiert sind, z.B. durch Videoaufnahmen. Aber selbst dann ist eine Nacherhebung kaum möglich, weil alles Material erneut gesichtet werden müsste. Die grundlegenden Entscheidungen basieren auf der Problembzw. Fragestellung. Daraus wird abgeleitet, welche Arten von Handlungen und Reaktionen untersucht werden sollen, welche Personen oder Personengruppen eine Rolle spielen und welche Handlungskontexte bzw. Handlungssituationen dabei von Interesse sind. Über die eigentliche Fragestellung sowie die grundlegende Verortung der Studie hinaus spielen vor allem vorhandene Theorien, Ansätze und Studien bei den Vorüberlegungen eine entscheidende Rolle. Aus ihnen lassen sich Aspekte und Einflussfaktoren ableiten, die in der Untersuchung miterhoben werden müssen, da sie im Bereich der Fragestellung einflussreich sind. Selbst wenn sie nicht im Zentrum der Fragestellung stehen, müssen sie berücksichtigt oder konstant gehalten werden. Die Studie läuft sonst Gefahr, Resultate im Sinne der Fragestellung zu interpretieren, die aber auch im Lichte von in der Studie nicht berücksichtigten Aspekten interpretiert werden könnten. Im Umkehrschluss folgt daraus aber nicht, alle Dinge und Aspekte berücksichtigen zu müssen, die in anderen Studien mit ähnlicher Problemstellung untersucht wurden. Berücksichtigt werden nur diejenigen Aspekte, die nachgewiesenermaßen oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit Auswirkungen auf die zu untersuchende Fragestellung haben. Um das entscheiden zu können, ist ein umfassendes Studium der vorhandenen Literatur nötig, auch wenn die Studienanlage später offen und explorativ angelegt sein soll. Der zweite Punkt der Vorüberlegungen betrifft die Tatsache, dass in Beobachtungen Handlung oder Reaktionen von Menschen bzw. aus diesen resultierende Spuren untersucht werden. Daraus ergeben sich automatisch zumindest vier Dimensionen, zu denen überlegt werden muss, ob und in welcher Form sie bei der Erhebung berücksichtigt werden müssen. Im Zentrum stehen notwendigerweise die Handlungen selbst. Bei diesen ist insbesondere wichtig, welche unterschiedlichen Arten von für die Untersuchung relevanten Handlungen auftreten könnten. Wenn es z.B. um Aggression geht, kann das Aggressionsverhalten unterschied- <?page no="107"?> 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren 107 liche körperliche, verbale und nonverbale Handlungen umfassen sowie entsprechende Reaktionen anderer. Das verweist auf die zweite Dimension. Handlungen werden von Personen ausgeführt und es muss reflektiert werden, welche Charakteristika dieser Personen in der Untersuchung erfasst werden sollen. Typischerweise werden demographische Merkmale wie Alter oder Geschlecht berücksichtigt. Darüber hinaus könnten auch Aspekte wie Motive oder Stimmungen eine Rolle spielen, die sich aber bei Beobachtungsstudien nur sehr eingeschränkt feststellen lassen. Die dritte Dimension betrifft die Handlungssituation. Diese hat Einfluss auf die stattfindenden Handlungen. Sie legt z.B. fest, welche Handlungen typischerweise auftreten können und welche nicht. Wichtig bei der Handlungssituation ist, wie typisch sie für die zu untersuchende Fragestellung ist und welche spezifischen Restriktionen sie mit sich bringt. Dabei spielen zum einen die natürlichen Gegebenheiten eine Rolle, zum anderen aber auch Aspekte der Handlungssituation, die durch die Untersuchung selbst geschaffen werden, wie z.B. die Anwesenheit von Beobachtenden oder die Nutzung von Apparaten für die Datenerhebung. Nicht zuletzt muss bedacht werden, dass soziale Handlungen in einen Handlungsablauf bzw. Prozess eingebunden sind. Hier muss überlegt werden, wie und in welcher Form dem Handlungsverlauf bei der Erhebung Rechnung getragen wird. Bei Studien, in denen Hypothesen getestet werden, helfen diese bei der Entscheidung, welche Aspekte in jedem Fall untersucht werden müssen. Hypothesen sind Aussagen über den Zusammenhang von mindestens zwei Variablen. Im einfachsten Fall wird dabei ein Zusammenhang zwischen beiden Variablen angenommen, z.B. ein Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression. Dabei bleibt aber zunächst unklar, ob die Aggression Frustration verursacht oder die Frustration Aggression verursacht. Die meisten wissenschaftlichen Hypothesen spezifizieren Kausalzusammenhänge und differenzieren bei den Variablen zwischen unabhängigen, abhängigen und intervenierenden Variablen. Dabei geben die zu untersuchende Theorie und die daraus abgeleitete Hypothese vor, was die Gründe sind und damit die unabhängigen Variablen, was die Folgen sind und damit die abhängigen Variablen und welche zusätzlichen Einflussfaktoren, sogenannte intervenierende Variablen, noch eine Rolle spielen. Dann wäre z.B. festgelegt, dass aggressive Handlungen, die gegenüber einer beobachteten Person ausgeübt werden, als Gründe (unabhängige Variable) für nachfolgende Frustrationshandlungen (abhängige Variable) angesehen werden, wobei eine Solidarisierung mit der beobachteten Person nach der aggressiven Handlung als zusätzlicher Einflussfaktor (intervenierende Variablen) berücksichtigt wird. Wichtig ist, dass Angaben zu allen Variablen, die in der zu untersuchenden Hypothese spezifiziert wurden, erhoben werden, weil die Untersuchung sonst die Hypothese nicht testen kann. <?page no="108"?> 108 3 Durchführung von Beobachtungsstudien 3.7.2 Operationalisierung Bei standardisierten Beobachtungen werden alle Festlegungen zum Vorgehen bei der Protokollierung vor Beginn der eigentlichen Beobachtung getroffen. Dieser Schritt wird Operationalisierung genannt. Ziel ist es, die Beobachtung auf relativ wenige für die Forschungsfrage wichtige Aspekte zu fokussieren und diese nach einem festgelegten Schema zu codieren. Individuelle Interpretationen der Beobachtenden sollen dabei durch allgemeingültige Anweisungen so weit ausgeschlossen werden, dass idealtypisch alle Beobachtenden zu denselben Codierungen kommen, wenn sie dieselbe Szene beobachten. Dazu ist es nötig, zwischen Variablen und Ausprägungen zu unterscheiden, beide genau zu definieren und nötigenfalls durch Beispiele zu illustrieren Die Operationalisierung beginnt mit der Umsetzung der Forschungsfrage in einzelne Variablen. Wenn Hypothesen aufgestellt wurden, so lassen sich aus diesen zu untersuchende Variablen ableiten. Hypothesen postulieren Zusammenhänge zwischen den Komponenten unabhängige (UV), abhängige (AV) und intervenierende Variablen (IV). Um die Hypothese testen zu können, müssen zumindest Variablen für diese Komponenten erhoben werden. In der Regel werden zusätzliche Variablen untersucht, um Kontextfaktoren berücksichtigen zu können. Zur Illustration eine Beispielhypothese: Wenn einer Person gegenüber aggressive Handlungen ausgeführt werden, dann wird diese mit Frustrationshandlungen reagieren, die umso seltener auftreten, je stärker die Person von Dritten unterstützt wird. In dieser Hypothese fungieren Aggressionshandlungen als UV, Frustrationshandlungen als AV und Unterstützungshandlungen als IV. Darüber hinaus ist es zweckmäßig, zumindest Ort, Datum, Zeit und Beobachtende als Kontextvariablen festzuhalten. Typischerweise werden für jede Komponente einer Hypothese mehrere Variablen erhoben. Bei aggressivem Verhalten ist es z.B. sinnvoll, nicht nur eine Variable für die Art der Aggression vorzusehen, sondern zusätzlich für die Urheberinnen bzw. Urheber und das Ziel der Aggression. Oft lassen sich diese Merkmale als typische W-Fragen beschreiben. Im Beispiel handelt es sich bei AV, UV und IV um Handlungen. Im Zentrum steht damit die Frage, was für eine Handlung vorliegt. Darüber hinaus macht es Sinn, Angaben zum „Wer“ und „Wie“ festzuhalten. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Handlungen von Personen (wer) in einer bestimmten Art (wie) ausgeführt werden. Häufig werden zudem Merkmale der Personen erfasst wie z.B. ihr Geschlecht oder ihr Alter. Ähnlich ist es mit dem „Wie“, also der Art, wie die Handlung ausgeführt wird und wie intensiv oder wie lange die Handlung ausgeführt wird. Zudem sind Kontextvariablen wichtig, um Aspekte der Handlungssituation zu erfassen, wie z.B. wo und wann. Einige Kontextvariablen werden über viele erfasste Handlungen hinweg konstant bleiben. Diese müssen nur einmal festgehalten werden. Beginn und Ende einer Handlung variieren hingegen zwischen den erfassten Handlungen und müssen <?page no="109"?> 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren 109 bei jeder einzelnen Handlung erfasst werden. Es lässt sich nicht allgemeingültig sagen, wie viele einzelne Aspekte in einzelnen Variablen bei einer standardisierten Beobachtung erhoben werden sollten. Fragestellung und Hypothesen geben ein Minimum an Angaben vor, die auf jeden Fall erhoben werden müssen. Darüber hinaus verlangt das Primat der Authentizität, möglichst viele Aspekte der Handlungen zu erheben, um diese möglichst authentisch rekonstruieren zu können. Dem steht aber die Praktikabilität entgegen, die zur guten Durchführbarkeit eher eine Beschränkung auf wenige Angaben nahelegt. Deshalb ist eine mittlere Anzahl von Messvariablen sinnvoll. Auf die Festlegung der einzelnen Variablen folgt die Festlegung ihrer Ausprägung. Dabei legt die Variable das Merkmal fest, das am Untersuchungsobjekt erhoben werden soll, z.B. das Geschlecht. Mit „Ausprägung“ ist demgegenüber das Charakteristikum gemeint, das das einzelne Untersuchungsobjekt aufweist, z.B. weiblich. Alle unterschiedlichen Ausprägungen einer Variable beschreiben damit den Möglichkeitsraum von Merkmalen, dem die einzelnen Untersuchungsobjekte theoretisch entsprechen könnten. Bei der Untersuchung eines Untersuchungsobjektes kann dieses allerdings nur eine Ausprägung aufweisen. Wenn eine Variable so operationalisiert ist, dass bei einzelnen Untersuchungsobjekten zwei verschiedene Ausprägungen gleichzeitig zutreffen, dann ist diese Operationalisierung unbrauchbar, da deren Anwendung auf ein Untersuchungsobjekt zu keiner eindeutigen Ausprägung führt und damit keine eindeutige Messung vollzogen werden kann. Im übertragenden Sinne entspricht eine Variable einer Frage und die Ausprägung der Variablen wäre als Antwort auf diese Frage zu betrachten. Nur dass in Beobachtungsstudien die Untersuchungsobjekte nicht selbst antworten, sondern die Beobachtenden die entsprechende Antwort an geeigneten Merkmalen erkennen müssen. Entsprechende Merkmale werden üblicherweise als Indikatoren bezeichnet. Indikatoren legen fest, welche Ausprägung bei einem konkreten Untersuchungsobjekt festzuhalten ist. Die Operationalisierung von Variablen und deren Ausprägungen umfasst deshalb genaue Anweisungen darüber, unter welchen Bedingungen bei welcher Variable welche Ausprägung zu codieren ist. Diese Bedingungen können eher allgemeiner Natur sein. In solchen Fällen spielen bei der Durchführung der Beobachtung individuelle Interpretationen und Entscheidungen der Beobachtenden eine große Rolle, was oft zu problematischen Differenzen zwischen unterschiedlichen Beobachtenden führt. In solchen Fällen ist es ratsam, den Beobachtenden zumindest Beispiele für die jeweiligen Ausprägungen an die Hand zu geben, um deren Entscheidungen zu erleichtern und zu vereinheitlichen. Der übliche Fall wissenschaftlicher Operationalisierung arbeitet allerdings nicht mit Beispielen, sondern mit Indikatoren. Indikatoren sind Sachverhalte, die Hinweise geben oder idealtypisch sogar festlegen, welche Ausprägung einer Variablen beim jeweiligen Untersuchungsobjekt zutrifft. Indikatoren sind wie Indizien in einem Kriminalfall, <?page no="110"?> 110 3 Durchführung von Beobachtungsstudien die zu dessen Aufklärung beitragen. Starke Indizien bzw. Indikatoren erlauben direkte Schlüsse, führen also allein zur Aufklärung und damit zur Entscheidung zugunsten einer bestimmten Ausprägung. Schwache Indikatoren bzw. Indizien lassen demgegenüber eindeutige Schlüsse nur im Zusammenspiel mit weiteren Indizien zu, die in dieselbe Richtung deuten. Die eigentliche Kunst der Operationalisierung liegt in dem gelungenen Zusammenspiel von Festlegungen der Variablen, deren Ausprägungen, den relevanten Indikatoren sowie den dazugehörigen Anweisungen. Je einfacher und eindeutiger diese Festlegungen sind, umso besser ist die Operationalisierung und umso besser ist sie in der Praxis umzusetzen. Die Beziehung zwischen dem, was eine Variable untersuchen soll, und der Art der dazugehörigen Ausprägungen legt fest, welchem Skalenniveau bzw. welcher Art von Messung die Variable entspricht. Der einfachste und bei Beobachtungen häufig anzutreffende Fall sind Nominalskalen , die Klassenzugehörigkeit messen. Das bedeutet, die Variable hat verschiedene Ausprägungen, wobei die Ausprägungen als gleichrangig angesehen werden. Typisch für Beobachtungsstudien wären Variablen, die unterschiedliche Arten von Handlungen differenzieren, ohne diese nach Qualität oder Quantität zu charakterisieren. So könnte z.B. in Mobilitätsstudien die Variable „Art der Fortbewegung“ sein mit Ausprägungen wie Laufen, Radfahren, Autofahren, Busfahren etc. Zur Vereinfachung der Erhebung werden statt der einzelnen Ausprägung Zahlen festgehalten. Welche Ausprägung welchen Zahlencode erhält, ist bei Nominalskalen unerheblich, solange die Zuordnung eindeutig definiert ist. Ordinalskalen gehen einen Schritt weiter und ordnen die Ausprägungen nach einem inhaltlichen Kriterium. Die einzelnen Ausprägungen sind nicht mehr gleichrangig, sondern befinden sich in einer klaren Abfolge. Wenn bei dem Mobilitätsbeispiel die aus der Mobilität entstehende Umweltbelastung im Fokus steht, könnte man die Ausprägungen folgendermaßen ordnen: Laufen, Radfahren, Busfahren, Autofahren und diese aufsteigenden Zahlen zuordnen. Mit steigender Zahl steigt auch die jeweilige Umweltbelastung, wobei aber das mathematische Verhältnis zwischen den Zahlen nicht die realen Unterschiede abbildet. Wird 1 für Laufen, 2 für Radfahren, 3 für Busfahren und 4 für Autofahren erhoben, so bedeutet das bei Oridinalskalen nicht, dass Autofahren doppelt so umweltschädlich ist wie Radfahren, auch wenn die 4 doppelt so groß ist wie die 2. Ordinalskalen werden in Beobachtungsstudien auch benutzt, um Handlungen in ihrer Qualität grob zu differenzieren. So könnte bei der Beobachtung von Aggressionshandlungen grob eingeschätzt werden, ob die einzelne Handlung nicht aggressiv (codiert als 0), leicht aggressiv (1), aggressiv (2) oder stark aggressiv (3) war. Metrische Skalen gehen noch einen Schritt weiter, indem die Ausprägungen das zu erhebende Merkmal genau quantifizieren. Bei Intervallskalen muss die codierte Zahl der festgestellten Quantität entsprechen, damit die codierten Zahlen die Verhältnisse zwischen den Untersuchungsobjekten genau abbilden. Bei Ratioskalen lässt sich dann sagen, dass ein Merkmal bei <?page no="111"?> 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren 111 einem Untersuchungsobjekt dreimal so ausgeprägt ist wie bei einem anderen Untersuchungsobjekt, wenn die Objekte z.B. mit drei und neun gemessen wurden. Metrische Skalen kommen bei Beobachtungsstudien beispielsweise vor, wenn die Anzahl bestimmter Handlungen gezählt wird. Abb. 9 | Schema eines standardisierten Beobachtungsbogens 9 Zur Vorbereitung und Durchführung einer standardisierten Beobachtung ist es nötig, alle Festlegungen in Beobachtungsanweisungen zu beschreiben. Diese haben den Charakter einer Bedienungsanleitung für das Beobachtungsverfahren, insbesondere für die Protokollierung. Dazu wird für jede Variable angegeben, 4 Fortlaufender Code für die einzelnen Beobachtungssituationen , hier die 13. Beobachtung. 5 Fortlaufender Code für jede Person , beginnend mit dem Code für die Situation. 6 Festgehalten werden die Codes, zur Erklärung sind die Ausprägungen in Klammern angegeben. 7 Fortlaufender Code für jede Handlung , beginnend mit dem Code für die Situation. 8 Zur Erhebung von Akteur und Partner wird auf die Personencodes zurückgegriffen. 9 Exemplarisch dargestellt ist eine Beobachtung, die Gehrau am 27.02.2017 in Münster zwischen 10: 12 und 11: 25 Uhr durchgeführt hat. Gegenstand der Untersuchung sind familiäre Interaktionsmuster. Beobachtet wurde ein kleiner Junge mit seiner Mutter und seinem großen Bruder. Der beobachtete Handlungsverlauf beginnt damit, dass der kleine Junge seine Mutter etwas fragt und diese ausführlich antwortet. Die Antwort der Mutter wird von dem großen Bruder kommentiert, woraufhin die Mutter mit dem großen Bruder schimpft. Situation Beobachter Ort Datum Beginn Ende S-Code 4 13 Gehrau Münster 27.02.2017 10: 12 11: 25 Person Alter Geschlecht Kommentar P-Code 5 131 1 (Kind 6 ) 1 (männlich) 132 2 (erwachsen) 2 (weiblich) Mutter von 131 133 3 (Jugend) 1 (männlich) Großer Bruder von 131 134 … Handlung Beginn Ende Handlungsart Akteur Partner H-Code 7 1301 10: 12 10: 13 1 (fragen) P-Code 8 131 P-Code 132 1302 10: 13 10: 18 2 (antworten) 132 131 1303 10: 18 10: 19 3 (kommentieren) 133 132 1304 10: 19 10: 20 4 (schimpfen) 132 133 1305 … <?page no="112"?> 112 3 Durchführung von Beobachtungsstudien welche Ausprägungen sie umfasst und wie zu entscheiden ist, wann welche Ausprägung zu protokollieren ist. Sind dazu keine eindeutigen Angaben machbar, weil das Beobachtete der Interpretation durch den Beobachtenden bedarf, ist es hilfreich, die Interpretationsgrundlagen zu beschreiben und durch Beispiele zu illustrieren. Darüber hinaus sollte in den Beobachtungsanweisungen deutlich gemacht werden, wie das Beobachtungspersonal vor Ort vorgehen soll, soweit sich dieses festlegen und explizieren lässt. Insofern besteht das Beobachtungsinstrument aus zwei Teilen: den Beobachtungsanweisungen, also einer Beschreibung aller Operationalisierungen, plus den Beobachtungsbögen, auf denen in jeder einzelnen Beobachtung die beobachteten Angaben (z.B. nach dem einfachen Schema in Abb. 9) festgehalten werden. 3.7.3 Formatierung Mit „Formatierung“ ist die Gestaltung des Erhebungsinstrumentes gemeint. Diese ist insbesondere bei standardisierten Beobachtungen wichtig, sollte aber auch bei nichtstandardisiertem Vorgehen bedacht werden. Sie soll sicherstellen, dass die Beobachtung möglichst einfach durchgeführt werden kann. Dazu trägt vor allem die Gestaltung der Protokollbögen bei, mit denen die Beobachtung durchgeführt wird. Mit Protokollbogen ist dasjenige Medium gemeint, mit dem die bei der Beobachtung registrierten Informationen festgehalten werden. Für die Formatierung ist es zunächst unerheblich, ob es sich dabei um eine Papierversion handelt, in der Informationen notiert oder skizziert werden, um eine Computerdatenbank, in die Zahlen, Textangaben oder Bilder eingetragen werden, oder um andere Hilfsmittel zur Protokollierung. Zwar unterscheidet sich die Art der Eingabe von Informationen zwischen den Varianten erheblich, die Grundfragen der Formatierung müssen allerdings bei allen Varianten bedacht und gelöst werden. Ein Grundproblem bei der Durchführung von qualitativen Beobachtungsstudien besteht darin, dass Informationen auf unterschiedlichen Ebenen erhoben werden müssen. Mit unterschiedlichen Ebenen ist hier gemeint, dass bestimmte Informationen bei vielen Beobachtungsfällen gleich bleiben, sodass es nicht zweckmäßig ist, diese für jeden einzelnen Beobachtungsfall festzuhalten, sondern übergeordnet für mehrere Beobachtungsfälle einmal zu erheben. Dieser Konstellation sollte bei der Formatierung des Beobachtungsbogens Rechnung getragen werden. Also ist es zweckmäßig, für Merkmale der Situation einen eigenen Teil im Beobachtungsbogen vorzusehen. Dieser könnte dann Kontextvariablen wie Ort, Datum, Tageszeit und Person der Datenerhebung umfassen. Hinzu kämen relevante Merkmale der Situation selbst, vor allem welche Einschränkungen sie mit sich bringt. Um solche Einflüsse zu dokumentieren, ist es oft sinnvoll, Skizzen anzufertigen oder Fotos zu machen. Auf dieser Ebene ist es auch wichtig, Störungen zu erfassen. Diese können zum einen darin bestehen, dass sich die beobachtete Situation grundlegend in eine Richtung ändert, die dem Untersuchungsziel ent- <?page no="113"?> 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren 113 gegenläuft. Um so eine Störung könnte es sich z.B. handeln, wenn die ungestörte Interaktion zwischen Jugendlichen beobachtet werden soll, während einer Beobachtung aber Lehr- oder Erziehungspersonal auftritt. Zum anderen treten gerade bei Feldbeobachtungen Störungen auf, die die Durchführung der Beobachtung selbst behindern, z.B. weil etwas in der Beobachtungssituation hinzukommt, das das Sichtfeld der Beobachtung einschränkt. Entsprechende Aspekte müssen notiert werden, weil sie bei der späteren Interpretation zu berücksichtigen sind. Die relevanten Angaben zu den zu beobachtenden Personen werden wiederum auf einem eigenen Abschnitt des Beobachtungsbogens erfasst. Typisch sind zum einen demographische Merkmale wie Geschlecht oder Alter, zum anderen Angaben über die Stellung der Person innerhalb einer Gruppe. Darüber hinaus sollten Merkmale Beachtung finden, die in Beziehung zu der zu untersuchenden Fragestellung stehen. Auch in Bezug auf die Personen ist es wichtig, untersuchungsrelevante Besonderheiten zu erfassen. Oft betreffen diese die Frage, in welcher Zeit während der Beobachtung die Person überhaupt zugegen war. Relevant sind zudem wiederum alle Einschränkungen, die entweder verhindern, dass die beobachtete Person bestimmte Handlungen überhaupt ausführen kann, oder dass die entsprechenden Handlungen beobachtet werden können, z.B. weil die beobachtete Person versucht, diese zu verbergen. Wie beim Auswahlobjekt dargestellt wurde, müssen nicht unbedingt Personen das Beobachtungsobjekt darstellen. Es können auch Gruppen oder Handlungsgegenstände beobachtet werden. Dann müssen die Beobachtungsbögen auf dieser Ebene nicht auf die Merkmale von Personen, sondern von Gruppen oder Gegenständen ausgerichtet werden. Die Logik bleibt aber die gleiche. Die letzte Ebene von Abschnitten im Beobachtungsbogen betrifft die einzelnen Handlungen. In diesen werden alle relevanten Merkmale der Handlung erfasst. Dazu gehört, welche Personen und welche Handlungsobjekte involviert sind. Dazu zählen aber auch alle Merkmale der Handlung selbst, um was für eine Handlung es sich handelt, wann sie beginnt und endet und wie sie ausgeführt wurde. Da oft viele einzelne Handlungen zu dokumentieren sind, bei denen aber jeweils nur eine überschaubare Anzahl von Merkmalen erfasst werden kann, werden in der Regel mehrere Handlungen mit einem Beobachtungsbogen erfasst. Zwei Aspekte müssen bei der Formatierung der Beobachtungsbögen berücksichtigt werden: der Ablauf der Beobachtung und die Verknüpfung der Ebenen. Um die Beobachtungsprotokolle zu sinnvollen Einheiten zusammenstellen zu können, muss mit einem Zuordnungssystem gearbeitet werden. In eher offenen Beobachtungsprotokollen wird man für jede Situation ein Protokoll anfertigen und in dieser auftretende Personen, Gruppen oder Gegenstände mit Kürzeln versehen, sodass jede beschriebene Handlung ihrem entsprechenden Kontext zugeordnet werden kann. Bei standardisierten oder apparativen Beobachtungen mit vielen einzelnen Handlungen muss mit Identifikationscodes gearbeitet werden. <?page no="114"?> 114 3 Durchführung von Beobachtungsstudien Dabei bekommt jede Beobachtungssituation einen Code, mit dem Personen, Gruppen oder Gegenstände ebenso festgehalten werden wie bei den einzelnen Handlungen. Ebenso muss bei jeder Handlung ein Code vermerkt werden, der angibt, auf welche Person, Gruppe oder Gegenstand sie sich bezieht. So lassen sich Merkmale der Situation bzw. der Person, der Gruppe oder der Gegenstände den einzelnen Handlungen zuordnen sowie umgekehrt Merkmale der Handlungen den Personen, Gruppen oder Gegenständen bzw. den Handlungssituationen zuschreiben. Mit Ablauf der Beobachtung ist gemeint, welche Informationen typischerweise wann während der Beobachtung auftreten. Die Beobachtungsbögen sollten so gestaltet sein, dass sie diesen Ablauf widerspiegeln. Informationen, die vor der eigentlichen Beobachtung erhoben werden können, sollten am Anfang des Beobachtungsbogens zu protokollieren sein. Dann folgen alle Angaben, die im Beobachtungsverlauf auftreten werden. Wenn vorab dabei bestimmte Abläufe zu erwarten sind, sollten auch diese im Beobachtungsbogen beachtet werden. Am Ende der Beobachtungsprotokolle stehen die jeweiligen Einschränkungen, Störungen oder sonstigen Probleme. Die Widerspiegelung des natürlichen Ablaufs der Beobachtung bei der Formatierung der Beobachtungsbögen dient dazu, die Beobachtung möglichst einfach und effizient durchführen zu können. 3.7.4 Standardisierung anderer Protokollierungsformen Quantitative Beobachtungen können auch auf Informationen basieren, die aus nichtstandardisierten Beobachtungsverfahren stammen. Es kann sich ebenso gut um Datenreihen aus apparativen Beobachtungen oder um Textprotokolle aus qualitativen Beobachtungen handeln, die entsprechend aufbereitet werden müssen. Darüber hinaus sind Befragungs- oder Inhaltsanalysedaten sinnvolle Ergänzungen zu Daten aus standardisierten Beobachtungen. Bei apparativen Beobachtungen sind die Probleme der Operationalisierung anders gelagert, weil keine Menschen die Beobachtung durchführen, sondern Apparate. Sensoren können, wenn sie direkt am Körper der zu beobachtenden Person angebracht werden, physiologische Körperreaktionen aufzeichnen. Es lässt sich aber auch apparativ festhalten, wie ein Körper ausgerichtet ist und welche Bewegungen er ausübt. Auch Positionswechsel im Raum sowie Wege über lange Distanzen lassen sich apparativ relativ einfach beobachten. Andere Varianten operativer Beobachtungen setzen an Apparaten an, an denen Menschen Handlungen vollziehen, die diese registrieren. Andere Handlungen hinterlassen Spuren, sodass sich die Handlungen im Nachhinein anhand der Spuren rekonstruieren lassen, womit die Analyse von Handlungsspuren dann als Beobachtungsverfahren dient. Besonders verbreitet ist die Analyse von Datenspuren im Internet. Das Grundproblem bei apparativ erhobenen Beobachtungsdaten liegt in deren <?page no="115"?> 3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren 115 Interpretation. Es wird zwar akkurat gemessen; die Frage ist allerdings, für welche menschliche Handlung oder Reaktion das Gemessene steht. Um aus apparativen Daten brauchbare Informationen über menschliches Verhalten generieren zu können, ist genaues Wissen sowohl über die verwendete Technik als auch die zu untersuchenden menschlichen Handlungen und Reaktionen nötig. Das Wissen dient dazu, um aus den Datenreihen, die die Apparate speichern, operationalisierte Daten im Sinne der quantitativen Beobachtung zu erzeugen. In den seltensten Fällen lassen sich apparative Datenreihen direkt statistisch weiterverarbeiten. Meist sind mehrere Operationalisierungsschritte nötig, um zunächst zufällige Daten, die oft als Rauschen bezeichnet werden, von den interessierenden Daten zu differenzieren und diese dann in interpretierbare Operationalisierung zu überführen. Für den ersten Schritt werden bei den meisten Messsystemen Filtertechniken verwendet, die nur solche Daten für die weitere Analyse herausfiltern, die einen gewissen Schwellenwert an Auffälligkeit oder Regelmäßigkeit überschreiten. Eine zweite wichtige Technik liegt im Aggregieren. Dabei werden die meist zu detaillierten Angaben aus den apparativen Messungen in interpretierbare größere Einheiten zusammengefasst. Oft handelt es sich dabei um Originalmessungen auf der Basis von Millisekunden, die in Einheiten von mehreren Sekunden oder Minuten aggregiert werden, je nachdem, wie lange die typischen zu beobachtenden Handlungen dauern. Auch nichtstandardisierte Beobachtungsprotokolle sowie Feldprotokolle aus qualitativen Beobachtungen lassen sich operationalisieren. Da solche Protokolle in Textform vorliegen, müssen diese durch systematische Codierung in eine Zahlenlogik überführt werden. Die Art der Codierung variiert je nach wissenschaftlichem Hintergrund der Studie und Beschaffenheit der jeweiligen Protokolle. Wenn die Protokolle vom Stil her ausreichend ähnlich sind und vorab eindeutig festlegbar ist, welche Aspekte in den Protokollen codiert werden sollen, dann ist meist eine standardisierte Codierung möglich, die vom Prinzip und Vorgehen her einer standardisierten Inhaltsanalyse nahekommt. Schwieriger ist es, wenn dazu nicht genügend Vorwissen existiert bzw. die Protokolle so unterschiedlich sind, dass sie nicht nach einem festgelegten Verfahren codiert werden können. In solchen Fällen müssen induktive Codiervarianten zum Einsatz kommen. Dabei werden in einem ersten Schritt aus den Protokollen übergreifende Kategorien entwickelt, die in einem zweiten Schritt im gesamten Material erfasst werden. Das Vorgehen weist Ähnlichkeiten zu der oben beschriebenen materialnahen Kategorisierung bei qualitativen Beobachtungen auf. Im Gegensatz zu dieser werden die Kategorien aber als Zahlencodes erfasst und im Weiteren mathematisch-statistisch ausgewertet. Wegen der Beschränkung der Beobachtung auf Handlungen, Reaktionen sowie Spuren beider ist es auch bei der quantitativen Beobachtung oft sinnvoll, wenn nicht sogar nötig, die Beobachtungsdaten durch Befragungsdaten oder z.B. Analysen von Dokumenten oder Handlungsgegenständen zu ergänzen. Die Befra- <?page no="116"?> 116 3 Durchführung von Beobachtungsstudien gungsdaten sollten standardisiert vorliegen, also in Form von Zahlencodes. Wenn es sich demgegenüber um Texte oder Transkripte aus nichtstandardisierten Befragungen handelt, so müssen diese codiert und damit in ein Zahlensystem transferiert werden. Das betrifft auch andere Objekte, die Gegenstand der weiteren Analyse sein sollen. Handelt es sich dabei um private Texte wie Briefe oder Tagebücher oder z.B. um Medienangebote, so bieten sich hierfür die üblichen Formen der quantifizierenden Inhaltsanalyse an. Auch diese Angaben werden dann Teil des statistisch zu analysierenden Datenkorpus. Das Kerndatenkorpus bilden die Beobachtungsdaten, wenn sie erhoben und für die Auswertung vorbereitet sind. Liegen weitere standardisierte Daten aus Befragungen oder Inhaltsanalysen vor, dann muss bei der späteren Datenanalyse überlegt werden, wie sich die Datensätze verknüpfen lassen. Dazu müssen aber erst einmal Beobachtungsdaten erhoben werden. 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase Die Erhebung der Beobachtungsdaten ist Teil der Feldphase. Nachdem die Untersuchung konzipiert und das Vorgehen bei der Auswahl der Untersuchungsobjekte sowie bei der Protokollierung der Informationen festgelegt ist, beginnt die eigentliche Feldphase. Sie besteht aus einer Vorbereitungsphase und der eigentlichen Datenerhebung. Zur Vorbereitung wird ein Pretest durchgeführt, um die Eignung der geplanten Studienanlage zu überprüfen und diejenigen, die die Beobachtung durchführen, auf diese vorzubereiten. Für die Datenerhebung muss zunächst der Zugang zum Beobachtungsfeld organisiert werden, um dann die Beobachtung durchführen zu können. 3.8.1 Pretest Der Pretest ist eine kleine Simulation der quantitativen Beobachtungsstudie, um herauszufinden, ob sich diese in der vorgesehenen Weise durchführen lässt. Stellt sich nach dem Test heraus, dass Änderungen in der Studienanlage nötig sind, dann werden diese vorgenommen und erneut getestet, bis die vorgesehene Untersuchungsanlage ein befriedigendes Ergebnis liefert. Zwei Kriterien sind dabei leitend: die Durchführbarkeit und der Aufwand. Die Durchführbarkeit gibt an, ob die vorgesehenen Informationen an den Untersuchungsobjekten in der vorgesehenen Beobachtungssituation sinnvoll erhoben werden können. Darüber hinaus liefert der Test eine Schätzung des Aufwands der Gesamtstudie. Gegebenenfalls muss die Studienanlage so revidiert werden, dass sie in der vorgesehenen Zeit mit den vorgesehenen Mitteln überhaupt durchführbar ist. Um einen Pretest sinnvoll nutzen zu können, ist es nicht nur nötig, diesen durchzuführen, sondern <?page no="117"?> 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase 117 auch ihn auszuwerten, was oft aufwendiger ist als die Durchführung selbst. Der Pretest selbst unterscheidet sich grundlegend je nach Studienanlage. Bei nichtstandardisierten Beobachtungen sind zwei Arten von Pretest gängig: Entweder der Pretest wird mit eingeweihten Personen z.B. aus dem Umfeld des Forscherteams durchgeführt oder die ersten tatsächlichen Beobachtungen werden wie ein Pretest behandelt und das Erhebungs- und Auswertungsverfahren nach jeder Durchführung angepasst. Bei nichtstandardisierten Beobachtungen muss zum einen herausgefunden werden, ob sich die nötigen Informationen in der vorgesehenen Weise erheben lassen oder ob mehrere Beobachtende oder technische Unterstützung durch Audio- oder Videoaufnahmen nötig sind. Zum anderen muss geprüft werden, ob sich die Beobachtenden in der Beobachtungssituation so verhalten können, wie zur Durchführung der Studie vorgesehen. Letzteres spielt beim Pretest von standardisierten Beobachtungen nur eine untergeordnete Rolle, da sich die Beobachtenden eher passiv verhalten. Bei standardisierten Beobachtungen geht es vor allem darum festzustellen, ob die Angaben zu den standardisierten Variablen erhoben werden können. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob die vorgegebenen Indikatoren dem Beobachtungspersonal sinnvolle Kriterien an die Hand geben, um zu entscheiden, welche Ausprägungen bei den Variablen festzuhalten sind. Zudem muss geprüft werden, ob alle auftretenden Ausprägungen bei den Variablen berücksichtigt wurden, um das Verhalten eindeutig, umfassend und erschöpfend zu erfassen. Gegebenenfalls müssen zusätzliche Variablen oder Ausprägungen aufgenommen werden. Wichtig ist auch, die Abfolge der Angaben im Protokollbogen auf ihre Praktikabilität hin zu beurteilen, da Hin-und-her-Blättern zwischen Protokollbögen Zeit und Aufmerksamkeit kostet. Nicht zuletzt sollten die nötigen Zeiten für die einzelnen Erhebungsschritte festgehalten werden, um darüber den Aufwand für die vorgesehene Gesamtstudie zu schätzen. Oft wird der nötige Zeitaufwand vorab unterschätzt, sodass die vorgesehene Anzahl der zu beobachtenden Fälle gegebenenfalls nach unten korrigiert oder der Aufwand für die Studie nach oben korrigiert werden muss. 3.8.2 Schulung Die Schulung dient dazu, die Beobachtenden auf ihre Aufgabe vorzubereiten. In Bezug auf das Beobachtungsteam soll damit sichergestellt werden, dass alle nach demselben Grundmuster vorgehen. Bei den Charakteristika von Beobachtungsstudien wird zwischen internen und externen Beobachtungen unterschieden. Bei internen Beobachtungen arbeiten nur Mitglieder des Forschungsteams als beobachtende Person. Externe Beobachtungen werden demgegenüber gänzlich oder zumindest zum Teil von Personen durchgeführt, die mit der Datenerhebung beauftragt werden. Vor allem bei externen Beobachtenden ist eine eingehende Schulung nötig, da die Personen praktisch kein Vorwissen mitbringen. Aber auch wenn die Beobachtung von Mitgliedern des Forschungsteams selbst durchgeführt <?page no="118"?> 118 3 Durchführung von Beobachtungsstudien wird, ist eine Schulung nötig, um die individuell unterschiedlichen Vorgehensweisen anzugleichen. Das dient der Objektivität der Erhebung und damit der Unabhängigkeit des Erhobenen von der protokollierenden Person. Im Zentrum der Schulung steht immer die Protokollierung der beobachteten Informationen. Den Beobachtenden muss vermittelt werden, bei welchen beobachteten Sachverhalten welche Variablen zu erheben sind und wie bei jeder einzelnen Variable anhand geeigneter Indikatoren entschieden wird, welche Ausprägung bei der jeweiligen Variable festgehalten wird. Dazu werden die Beobachtungsanweisungen eingehend besprochen. Bei der Schulung werden zudem Mitglieder des Forschungsteams an exemplarischen Beispielen demonstrieren, wie vorzugehen ist. Dann werden die Beobachtenden anhand neuer Beispiele selbst versuchen, diese mit den vorgegebenen Beobachtungsbögen zu codieren. Nach jedem Probedurchgang werden dabei auftretende Probleme besprochen. Wenn sich alle ausreichend sicher sind, werden alle jeweils allein dasselbe Material erfassen, um anschließend nachzuprüfen, ob alle zu ausreichend ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Solange die Ergebnisse nicht befriedigend sind, muss die Schulung fortgesetzt und gegebenenfalls sogar die Operationalisierung angepasst werden. Die Schulung in der Protokollierung der Beobachtungsangaben betrifft das wissenschaftliche Vorgehen. In Bezug auf dieses ist es meist ratsam, die Beobachtenden auch mit der wissenschaftlichen Fragestellung vertraut zu machen, ihnen also zu erklären, was der Anlass bzw. Hintergrund der Studie ist und welche Fragestellung mit ihr untersucht werden soll. Insbesondere bei Beobachtungen in alltäglichen Handlungssituationen können relevante Sachverhalte auftreten, die bei der Konzeption der Studie nicht bedacht wurden. Wenn die Beobachtenden Zweck und Fragestellung der Untersuchung kennen, können sie solche Sachverhalte leichter erkennen und offen notieren, was passiert ist und warum sie das für wichtig halten. Ebenso relevant wie das wissenschaftliche Vorgehen ist das Schulen des sozialen Vorgehens. Die Beobachtenden müssen geschult werden, souverän in die Beobachtungssituation einzutreten, sich den zu Beobachtenden vorzustellen und diese um die Einwilligung zur Beobachtung zu bitten. Dazu ist es zwar hilfreich, den Personen den Zweck der Studie zu erläutern. Noch wichtiger ist allerdings das höfliche und verbindliche Auftreten der Beobachtenden, da die Beobachtung Vertrauen voraussetzt und die Beobachteten in der Regel geneigt sind, netten Personen eher zu helfen, indem sie an der Beobachtung teilnehmen. Darüber hinaus ist es hilfreich, den Beobachtenden zu vermitteln, dass eine Verweigerung der Teilnahme nicht persönlich genommen wird, denn sie hat meist nichts mit dem Anfragenden zu tun, sondern mit der Ablehnung der Beobachtung. Um die zu erwartende Unsicherheit der Beobachtenden zu reduzieren, sollte darauf hingewiesen werden, dass eine ablehnende Haltung der Beobachtung gegenüber selten <?page no="119"?> 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase 119 ist, wenn angemessen und höflich angefragt wird. Um die Beobachtenden nicht nur zu schulen, sondern zu stärken, hat es sich als hilfreich erwiesen, sie auch von Verhaltenscoaches in Selbstsicherheit und grundlegenden Verhaltensweisen trainieren zu lassen. Schließlich müssen die Beobachtenden noch darauf vorbereitet werden, dass Unerwartetes auftreten könnte und wie sie sich dann verhalten sollten. Gerade in Beobachtungen im natürlichen Handlungsumfeld können all die Störungen auftreten, die alltäglich auch auftreten: Personen tauchen auf und fragen z.B. nach dem Weg oder Personen reklamieren aggressiv das beobachtete Feld für sich, weil sie sich dort sonst üblicherweise aufhalten. Die Durchführenden müssen dann entscheiden, ob die Beobachtung weitergeführt wird und - wenn ja - die Situation so steuern, dass weiter beobachtet werden kann. Aber selbst Laborbeobachtungen sind nicht sicher vor Störungen. Auch hier könnte jemand die Tür öffnen, um sich nach einem Raum zu erkundigen, und dadurch den Ablauf der Beobachtung unterbrechen. In der Schulung wird es um Strategien gehen, Störungen zu minimieren, vor allem aber um Strategien, mit Störungen sinnvoll umzugehen. Die Beobachtenden müssen auch unterwiesen werden, wie sie sich in der Beobachtungssituation verhalten sollen. Wichtig ist, ob die Beobachtenden in der Beobachtungssituation offen agieren und gegebenenfalls als Beobachtender identifiziert werden dürfen, oder verdeckt und damit in der Regel verborgen vorgehen müssen. Leitend ist dabei die Frage, ob die Beobachteten während der Beobachtung wissen dürfen, dass sie beobachtet werden. Zu dem Wissen trägt auch bei, inwiefern die Beobachtenden am Geschehen teilnehmen dürfen. Wenn sie nicht versteckt, sondern offen in der Situation sind, ist die Teilnahme am Geschehen oft nötig, um nicht als Beobachtender entdeckt und bei wissentlichen Beobachtungen nicht als Störfaktor wahrgenommen zu werden. Allerdings sollte die Teilnahme nicht so weit gehen, dass ein Großteil des zu beobachtenden Geschehens auf die Beobachtenden selbst zurückgeht. In der Beobachtungsschulung muss dem Beobachtungspersonal also Routine im Umgang in und mit der Beobachtungssituation vermittelt werden, damit es bei der eigentlichen Beobachtung nicht zu Problemen kommt. 3.8.3 Feldzugang Die Vorbereitung und Organisation des Feldzugangs ist bei Beobachtungsstudien wichtiger als bei Befragungsstudien. Mit Feld ist die vorgesehene Beobachtungssituation gemeint, mit Feldzugang somit der Zugang zur jeweiligen Beobachtungssituation durch die vorgesehenen Beobachtenden. Dabei spielen sowohl rechtliche und ethische Fragen eine Rolle als auch Fragen der Logistik und praktischen Durchführbarkeit. Die wichtigste Frage bei einer Beobachtung ist die, ob in der vorgesehenen Beobachtungssituation überhaupt beobachtet werden darf. Zunächst ist z.B. zu <?page no="120"?> 120 3 Durchführung von Beobachtungsstudien klären, wer Hausherrin bzw. Hausherr der jeweiligen Situation ist. Unproblematisch ist es, wenn es sich um das Forscherteam selbst handelt. Eindeutig sind die Fälle, in denen die Beobachtung in Räumen oder an Orten stattfinden soll, die privat sind oder zu öffentlichen oder gewerblichen Einrichtungen gehören. Dann ist immer eine Zustimmung der jeweiligen Hausherrinnen bzw. Hausherren nötig. Problematisch ist es, wenn die Beobachtung an öffentlichen Plätzen stattfinden soll. An solchen ist die Beobachtung zwar prinzipiell möglich, sie unterliegt allerdings rechtlichen und ethischen Einschränkungen. Eine eingehende rechtliche Prüfung ist unumgänglich und eine Beratung durch etwaige Ethikkommissionen angezeigt. Über den Zugang zur Situation hinaus ist auch der Zugang zu den beobachteten Personen zu klären. In Befragungsstudien haben die avisierten Befragten das Recht, die Teilnahme an der Befragung sowie die Angaben zu bestimmten Fragen zu verweigern. Analog dazu sollten Personen, die beobachtet werden, das Recht haben, die Teilnahme an der Beobachtung zu verweigern. In Laborstudien oder offensichtlichen Beobachtungsstudien in Räumen ist das insofern gegeben, als die Personen die Untersuchung bemerken und ihre Mitarbeit verweigern können. Bei verdeckten, unwissentlichen Beobachtungen und solchen, die an öffentlichen Plätzen stattfinden, kann die Teilnahmebereitschaft der dort anwesenden Personen nicht unterstellt werden. Wenn es die Anlage der Studie erlaubt, sollte bei den Personen in jedem Falle vorher das Einverständnis eingeholt werden. Ist das aus Gründen der Studienanlage nicht möglich, müssen die beobachteten Personen nach der Beobachtung gefragt werden, ob sie sich mit der Verwendung der beobachteten Informationen einverstanden erklären. Ist auch das z.B. aus praktischen Gründen nicht möglich, dann muss vorab von einer Ethikkommission geprüft werden, ob ethische Bedenken vorliegen. Kompliziert ist die Situation bei Beobachtungen mittels Analyse von Handlungsspuren. Diese sind unbedenklich, wenn aus den Spuren zwar Rückschlüsse auf Handlungen, nicht aber auf die ausführenden Personen gezogen werden können. Viele Handlungsspuren, die im Internet oder bei der mobilen Kommunikation anfallen, können jedoch Personen zugeordnet werden. Eine Analyse solcher Daten ist höchst problematisch und sollte immer vorher von einer Ethikkommission geprüft werden. Natürlich müssen dabei die Grund-sätze des Datenschutzes beachtet werden. Daher sollte man sich mit Fachleuten zum Datenschutz abstimmen, um über die Gestaltung von Suchalgorithmen und Konzepten der Datenspeicherung sicherzustellen, dass keine Daten zur Person festgehalten und mit Verhaltensdaten verknüpft werden. Ein anderes Problem ist der praktische Feldzugang, der eine logistische und eine soziale Komponente umfasst. Logistisch muss sichergestellt werden, dass die Beobachtenden sowie das dazu notwendige Material zum richtigen Zeitpunkt vor Ort sind. Gegebenenfalls muss auch sichergestellt werden, dass die zu beobachtenden Personen vor Ort sind. Insbesondere die vorgesehene Zeit der Beobach- <?page no="121"?> 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase 121 tung muss in Bezug auf die Anwesenheit der zu beobachtenden Personen optimiert werden. Nicht zuletzt muss vor Ort geprüft werden, ob sich die Beobachtung in der vorgesehenen Art durchführen lässt, z.B. ob vom vorgesehenen Platz der beobachtenden Person aus freie Sicht auf das Beobachtungsfeld gegeben ist. Nötigenfalls müssen hier vor Beginn der eigentlichen Beobachtung Veränderungen im Beobachtungsfeld vorgenommen werden. Ebenso wichtig wie diese logistischen Aspekte sind aber soziale Aspekte. Die Beobachtenden sollten mit dem Beobachtungsfeld vertraut sein, vor allem müssen auch die Personen, die beobachtet werden sollen, Vertrauen zum Beobachtungsteam haben. Deshalb sollten sich die Mitglieder des Beobachtungsteams den Betroffenen vorstellen und ihr Vorhaben erklären. Zudem sollten sie vor der eigentlichen Datenerhebung eine gewisse Zeit vor Ort sein, damit sich die zu beobachtenden Personen an das Beobachtungspersonal sowie gegebenenfalls Beobachtungsgeräte gewöhnen. Ziel muss es sein, dass die zu beobachtenden Handlungen natürlich ablaufen und nicht ein Resultat der Beobachtung selbst sind. Wie das am besten zu bewerkstelligen ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. In vielen Beobachtungsstudien wird die erste Zeit der eigentlichen Beobachtung als Eingewöhnungsphase betrachtet und die entsprechenden Daten nicht ausgewertet. 3.8.4 Datenerhebung Die eigentliche Datenerhebung besteht in der Anwendung des festgelegten Erhebungsverfahrens auf die ausgewählten Untersuchungsobjekte. Damit beginnt die Datenerhebung mit dem Auffinden des Untersuchungsobjektes (also einer zu beobachtenden Person, einer Gruppe oder eines zu beobachtenden Handlungsgegenstands) im festgelegten Beobachtungsfeld. Dabei sind die festgelegten Schritte zur Auswahl der Beobachtungssituation sowie zur Auswahl des Beobachtungsobjektes zu beachten, also z.B. Quotenvorgaben oder Zufallsverfahren. Wenn einzelne Personen oder Gruppen von Personen beobachtet werden sollen, dann ist grundsätzlich vorher deren Einverständnis einzuholen. Ausnahmen von diesem Grundsatz können gemacht werden, wenn dafür schwerwiegende Gründe vorliegen, z.B. die Notwendigkeit der unwissentlichen Beobachtung, weil sich die Beobachteten unnatürlich verhalten würden, wenn sie wüssten, dass sie beobachtet werden. Problematischer ist demgegenüber, wenn das Beobachtungsobjekt ein Gegenstand ist, an dem Handlungen ausgeführt werden, wie z.B. eine Spielekonsole oder ein Sportgerät, weil nicht vorherzusehen ist, welche Personen an oder mit dem Objekt Handlungen ausführen. Trotzdem sollte auch hier der Grundsatz gelten, möglichst ein Einverständnis einzuholen. Die Erfahrung zeigt, dass es Beobachtenden gerade zu Anfang der Feldphase eher unangenehm ist, ein Einverständnis einzuholen, weil sie mit negativen Reaktionen rechnen. In den allermeisten Fällen ist das aber unbegründet. Wenn es sich um sinnvolle Studien handelt, die den Belangen der Privatsphäre angemessen Rechnung tragen, werden die <?page no="122"?> 122 3 Durchführung von Beobachtungsstudien wenigsten Personen ihr Einverständnis verweigern. Aber selbst eine Verweigerung ist kein Problem und sollte von den Beobachtenden nicht als Niederlage wahrgenommen werden. Im Zentrum der Datenerhebung steht die Protokollierung selbst. Wie dabei vorzugehen ist, legen die Anlage der Studie, die Festlegungen zur Protokollierung sowie die dazugehörigen Anweisungen fest. Diesen sollten die Beobachtenden so weit wie möglich folgen, damit Unterschiede zwischen den Beobachtungsprotokollen von Unterschieden bei den beobachteten Sachverhalten herrühren und nicht rein durch Unterschiede in der Art der Protokollierung entstehen. Bei nichtstandardisierten Beobachtungsprotokollen werden diese bei verschiedenen Beobachtenden zwar unterschiedlich ausfallen; sie sollten aber inhaltlich trotzdem ähnlich sein und nach demselben standardisierten Verfahren in Zahlencodes überführt werden. Standardisierte Beobachtungen sollten so durchgeführt werden, dass unterschiedliche Beobachtende bei Beobachtungen desselben Sachverhaltes zu demselben Ergebnis kommen. Bei apparativen Beobachtungen sind zwar Fehler bei der Erstellung der Protokolle sehr unwahrscheinlich. Bei apparativen Beobachtungen entstehen die Probleme eher dadurch, dass die Apparate in unterschiedlichen Beobachtungssituationen unterschiedlich angewendet werden, z.B. Sensoren unterschiedlich am Beobachtungsobjekt angebracht sein können. Probleme bei der Anwendung apparativer Beobachtungen lassen sich bei Durchführung im Labor minimieren, aber nicht gänzlich ausschließen. Das würde auch dazu führen, dass die Beobachtungssituation extrem künstlich würde, sodass sich die dort erhobenen Informationen kaum auf den normalen Handlungskontext übertragen lassen. Bei der Datenerhebung ist auch zu beachten, wie sich die Beobachtenden zu verhalten haben, ob sie ihre Beobachtungstätigkeit bzw. sich selbst verbergen und wie sie agieren sollen. Dabei muss zwischen Authentizität und Praktikabilität vermittelt werden. Das Verhalten der Beobachtenden muss dazu beitragen, dass das beobachtete Geschehen möglichst natürlich abläuft, um authentische Beobachtungsprotokolle zu erhalten. Gleichzeitig muss die Beobachtung möglichst gut durchzuführen sein, d.h. vor allem, es muss volle Aufmerksamkeit für das zu beobachtende Geschehen zur Verfügung stehen. Zudem müssen Protokollmedien plus gegebenenfalls weitere Technik vorhanden und in der Beobachtungssituation benutzbar sein. Nach Abschluss der Beobachtung im engeren Sinne folgt ein Debriefing . In diesem werden die Beobachteten über den Hintergrund und die Durchführung der Studie aufgeklärt, soweit es nicht schon vorher stattgefunden hat. Spätestens an dieser Stelle muss auch das Einverständnis zur Verwendung der erhobenen Daten eingeholt werden. Zudem sollte den Beobachteten angemessen gedankt werden, nicht zuletzt damit diese weiterhin bereit sind, an entsprechenden Studien teilzunehmen. Anschließend muss geprüft werden, ob alle notwendigen Informationen <?page no="123"?> 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase 123 in den Beobachtungsbögen vermerkt sind. Manchmal werden Angaben zu Ort, Datum bzw. Zeit vergessen sowie die Zuordnungscodes zwischen unterschiedlichen Erhebungsbögen. Akribisch erhobene Angaben zu einzelnen Handlungen sind später aber weitgehend wertlos, wenn sie sich nicht Handlungsobjekten bzw. Handlungssituationen zuordnen lassen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, abschließend die Beobachtungssituation noch in Fotos oder Videos festzuhalten sowie Eindrücke der Beobachtenden zu protokollieren, weil sich damit im Nachhinein Probleme oft gut rekonstruieren lassen. 3.8.5 Auswertung und Darstellung Die Auswertung einer Beobachtungsstudie beginnt mit der Zusammenstellung und Sichtung aller Beobachtungsprotokolle sowie des zusätzlichen Materials wie Notizen, Skizzen oder Fotos. Bei der Sichtung ist die zentrale Frage, welches Material sich für die weitere Bearbeitung eignet. Was offensichtlich unbrauchbar ist, wird nicht weiter ausgewertet, sondern lediglich archiviert. Alles, was grundsätzlich brauchbar erscheint, wird dann darauf geprüft, wie gut es sich für die Bearbeitung der zu untersuchenden Fragestellung eignet. Dabei sind zumindest die folgenden Qualitätskriterien zu berücksichtigen: Das erste Kriterium ist die Vollständigkeit der Angaben. Es muss überprüft werden, ob alle nötigen Angaben zur Beobachtungssituation, zu den Beobachtungsobjekten sowie zu den beobachteten Handlungen vorliegen. An einzelnen Stellen werden dabei immer lückenhafte Angaben auftreten. Solche bilden bei der weiteren Auswertung meist kein Problem, zumal sich fehlende Angaben oft anhand von Kontextinformationen rekonstruieren lassen. Fehlen demgegenüber Angaben zu kompletten Bereichen, z.B. einzelnen zu beobachtenden Personen, Gruppen oder Handlungsgegenständen, so muss entschieden werden, ob die anderen Angaben aus dieser durchgeführten Beobachtung verwendet werden können oder ob die komplette Beobachtung aus der Beobachtungsstudie herausgenommen wird. Die Zuverlässigkeit bei der Erhebung der Beobachtungsangaben ist das zweite relevante Kriterium. Im Kern gibt es an, wie gut sich die Beobachtenden an die Regeln der Beobachtungsdurchführung gehalten haben. Praktisch dreht es sich meist um die Frage, ob die beobachtenden Personen auf die gleiche Weise vorgegangen sind, also idealtypisch die gleichen Beobachtungsprotokolle bei denselben Beobachtungsobjekten angefertigt haben, und ob eine einzelne beobachtende Person am Ende der Beobachtungsstudie noch genauso vorgeht, wie sie oder er es zu Anfang der Studie getan hat. Hintergrund des Zuverlässigkeitskriteriums ist es sicherzustellen, dass Unterschiede, die zwischen Untersuchungsobjekten beobachtet wurden, tatsächlich auf Unterschiede zwischen den Objekten zurückzuführen sind und nicht auf Unterschiede beim Beobachten selbst, verursacht z.B. durch Ermüdung oder Unachtsamkeit der beobachtenden Person oder Un- <?page no="124"?> 124 3 Durchführung von Beobachtungsstudien stimmigkeit zwischen unterschiedlichen Personen bei der Protokollierung. Insbesondere Schulung und Training des Beobachtungspersonals dienen dazu, die Zuverlässigkeit der Datenerhebung zu erhöhen. Beobachtungsprotokolle, bei denen die Zuverlässigkeit der erhobenen Angaben nicht in ausreichendem Umfang gegeben ist, müssen in der Regel von der Auswertung ausgeschlossen werden, weil im Nachhinein nicht mehr unterschieden werden kann, was zuverlässige und was unzuverlässige Angaben sind. In quantitativen Beobachtungen wird die Zuverlässigkeit meist in Form von Reliabilitätskoeffizienten gemessen. Dazu sind Mehrfachcodierungen derselben Beobachtungsfälle nötig. Die Intercoder-Reliabilität gibt an, wie gut mindestens zwei Beobachtende bei ihrer Erfassung der Ausprägungen von Variablen übereinstimmen. Entsprechende Koeffizienten geben den Anteil von Übereinstimmungen an. Je höher die entsprechenden Werte ausfallen, umso zuverlässiger sind die Ergebnisse. Liegt das Beobachtungsmaterial als Aufnahme, z.B. als Video, vor, so kann auch die Intracoder - Reliabilität bestimmt werden. Bei dieser protokolliert dieselbe Person eine Beobachtungssequenz zweimal, einmal zu Beginn und einmal zum Ende der Laufzeit der Datenerhebung. Auch hierbei lassen sich die oben genannten Koeffizienten zur Übereinstimmung der Protokolle berechnen. Eine dritte, eher selten durchgeführte Variante der Übereinstimmungsprüfung findet zwischen einem idealen Beobachtungsprotokoll, das von denjenigen erstellt wurde, die die Operationalisierung konzipiert haben, und den Protokollen des sonstigen Beobachtungspersonals statt. Auch hier können die oben genannten Koeffizienten berechnet werden. Fraglich ist allerdings, ob sie etwas über die Zuverlässigkeit oder die Gültigkeit der Beobachtungsangaben aussagen. Die Gültigkeit oder Validität gibt an, wie gut die Informationen in den Beobachtungsprotokollen das erhoben haben, was gemessen werden sollte, um die Fragestellung der Untersuchung zu klären. Die Validität von Beobachtungsangaben ist oft deutlich schwerer zu beurteilen als deren Zuverlässigkeit, zumal die Validität nicht nur von der Art der Protokollierung bestimmt wird, sondern auch von der Authentizität der Beobachtungssituation. Probleme bei der Datenerhebung führen dazu, dass relevante zu beobachtende Aspekte nicht entsprechend erfasst werden. Probleme bei der Authentizität entstehen demgegenüber dadurch, dass beobachtete Sachverhalte zwar richtig erfasst werden, diese aber in der eigentlich interessierenden Situation so gar nicht aufgetreten wären. Die Validität lässt sich kaum an den Daten selbst erkennen. Allenfalls Inkonsistenzen innerhalb der Angaben zur selben Handlung oder zum selben Beobachtungsobjekt geben Hinweise auf deren mangelnde Gültigkeit. Ansonsten dient meist der Vergleich mit externen Kriterien zur Prüfung der Validität. So gibt z.B. die Konstruktvalidität an, wie gut in den Beobachtungsprotokollen auftretende Konstellationen mit solchen korrespondieren, die entweder aus der Theorie her bekannt sind oder in anderen empirischen Studien entsprechend gefunden wurden. Prognosevalidität be- <?page no="125"?> 3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase 125 schreibt demgegenüber, wie gut bei den Beobachtungen festgestellte Zusammenhänge realen Zusammenhängen entsprechen und damit Prognosen für extern überprüfbare Zusammenhänge ermöglichen. Wurden in einer Studie Daten mit unterschiedlichen Verfahren erhoben, dann lassen sich die Beobachtungsangaben kreuzvalidieren, wenn z.B. Informationen aus der Beobachtung mit Angaben aus Befragungen korrespondieren. In vielen quantitativen Studien sind entsprechende Ergänzungen der Beobachtung durch Befragung oder Dokumentenanalyse üblich und werden als Triangulationsstudien bezeichnet. Die Auswertung standardisierter oder apparativer Beobachtungsstudien findet quantifizierend statt, also nach den Regeln statistischer Auswertungsverfahren. Üblicherweise werden dabei die erhobenen Daten zunächst deskriptiv dargestellt. Das beginnt meist mit der Darstellung der Verteilung einzelner Variablen. Haben die Variablen eher wenige Ausprägungen, so kann das anhand der Häufigkeiten der Ausprägung oder ihres Prozentanteils geschehen. Sind die Variablen metrisch skaliert, wird die Darstellung über den größten und den kleinsten vorkommenden Wert, den Mittelwert, die Standardabweichung, den Median oder Quantilen vorgenommen oder deren grafischen Äquivalente als Balkendiagramm bzw. als Boxplot. Vielfach zielen standardisierte oder apparative Beobachtungsstudien auf die Identifikation von systematischen Zusammenhängen zwischen Variablen ab. Welche Zusammenhänge dabei im Fokus stehen, hängt von den postulierten Hypothesen ab. Statistisch lassen sich Zusammenhänge anhand von Korrelationen identifizieren. Oft geben die Hypothesen aber auch vor, wie der Zusammenhang beschaffen ist, was Grund und was Folge ist. Dann lassen sich unabhängige und abhängige Variablen differenzieren. Die Analyse von Verteilungs- und Mittelwertunterschieden sind statistische Verfahren, um Hypothesen zu prüfen, die Gruppenunterschiede vermuten. Dann legt die UV die Gruppenzugehörigkeit fest, nach der die Mittelwerte und Verteilungsparameter innerhalb der jeweiligen Gruppe berechnet und die Aussagekraft der Unterschiede zwischen den Gruppen geschätzt werden. Vermutet die Hypothese demgegenüber stetige Zusammenhänge, ist es einfacher, auf regressionsanalytische Auswertungsverfahren zurückzugreifen. Dabei wird statistisch geprüft, wie stark sich die jeweilige Veränderung in mehreren UVs auf Veränderungen innerhalb einer AV auswirkt. Da zu beobachtende Handlungen in Handlungsverläufe integriert sind, handelt es sich bei Beobachtungsdaten in der Regel um dynamische Prozessdaten. Dem sollte bei der statistischen Datenanalyse Rechnung getragen werden. Das kann durch Analyseverfahren mit Messwiederholung geschehen. Dabei werden die Messungen zu einzelnen Handlungen dem jeweiligen Beobachtungsobjekt zugeordnet und der Handlungsverlauf abgebildet. So können Regelmäßigkeiten und Auffälligkeiten im Handlungsverlauf bei mehreren Beobachtungsobjekten analysiert werden. Vor allem apparative Beobachtungen liefern Beobachtungsdaten, bei denen es sich um regelmäßige Zeitreihendaten handelt, die am besten mit den <?page no="126"?> 126 3 Durchführung von Beobachtungsstudien üblichen Verfahren der Zeitreihenanalyse bearbeitet werden können. Dabei werden sowohl Strukturen innerhalb der individuellen Zeitreihe analysiert als auch das Verhältnis zwischen Zeitreihen oder deren gemeinsame Reaktion auf zeitbezogene externe Variablen. Zeitbezogene Daten lassen sich oft auch grafisch gut aufbereiteten. In Koordinatensystemen wird dann die x-Achse als Zeitachse benutzt, und mit Bezug auf eine darzustellende Variable auf der y-Achse bei Ereignissen als Punkt und bei dynamischen Verläufen als Linie abgetragen. Oder typische Verläufe werden in Sequenzdiagrammen dargestellt, sodass über mehrere Beobachtungen abzulesen ist, ob zur selben Zeit ähnliche Handlungen vollzogen wurden. Oft wird erst durch solche Darstellungen der Alltagsbezug von Beobachtungsdaten deutlich. Um zu einem möglichst authentischen Bild zu gelangen, sollten diese auch durch Fotos oder Videos der beobachteten Prozesse illustriert werden. Auf diese Weise kann die Beobachtung ihr volles Potenzial als wissenschaftliches Verfahren der Datenerhebung alltäglicher Handlungsverläufe ausspielen, weshalb sie in vielen sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen zum Einsatz kommt. Um einen fachspezifischen Eindruck solcher Studien zu erhalten, werden im folgenden Abschnitt beispielhaft einige aktuelle Beobachtungsstudien vorgestellt. <?page no="127"?> 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft 4.1 Gegenstand und Systematik 4.1.1 Die Sportwissenschaft Die Sportwissenschaft ist heute im Kanon der universitären Fächer einzuordnen, hat sich aber institutionell zumindest in Deutschland an den Hochschulen erst in den 1960er-/ 1970er-Jahren national und international als eigenständiges Fach etabliert. Sie löste damit bspw. in der Bundesrepublik Deutschland die ausschließlich pädagogisch-sportpraktisch orientierten Institute für Leibeserziehung ab, die insbesondere der Ausbildung von Sportlerinnen und Sportlern dienten, die akademisch aber nicht anerkannt waren (z.B. kein Promotionsrecht). Dies ist z.B. nachzulesen in dem Rückblick des Nestors der deutschen Sportwissenschaft, Ommo Grupe, der seit den 1960er-Jahren einen entscheidenden Anteil am Aufbau und der Entwicklung in Westdeutschland hatte (Grupe, 1996). Einen ausführlichen, neueren Überblick zur Geschichte und zum Gegenstand der Sportwissenschaft findet sich in Emrich und Krüger (2013) sowie auch dem aktuellen Memorandum Sportwissenschaft (Hottenrott, Baldus, Braumann, Hartmann-Tews, Holzweg, Kuhlmann, Seyfarth, B. Strauss, Sygusch, & Vogt, 2017), das unter Federführung der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) entstanden ist und an dem zahlreiche Vereinigungen und Verbände (wie z.B. der Fakultätentag Sportwissenschaft, die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention, die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie, der Deutsche Sportlehrer- Verband und weitere) beteiligt waren bzw. sich das Memorandum zu eigen gemacht haben. Diese Umstrukturierungsprozesse, die Entwicklung einer eigenen Identität und die Schwierigkeiten der Integration eines neuen Faches, das anders als die meisten anderen Fächer sich besonders mit Bewegung und physischer Aktivität beschäftigt, verliefen national wie international naturgemäß sehr uneinheitlich über mehrere Jahre bzw. sogar Jahrzehnte. So wurden bspw. in Westdeutschland Hochschuleinrichtungen unter unterschiedlichsten Namen etabliert (z.B. als Institut oder Fakultät für Sportwissenschaft(en), mal mit dem Zusatz Sport, mal nicht, mal als Institut für Bewegungswissenschaft(en) mit mehr naturwissenschaftlicher Ausrichtung oder als Institut für die Geisteswissenschaften des Sports). Die größte sportwissenschaftliche universitäre Einrichtung in Deutschland stellt heute die 1947 gegründete Deutsche Sporthochschule Köln (DSHS Köln) mit über 30 Professuren dar. In der DDR gab es seinerzeit in Leipzig das Pendant: die Deutsche Sporthochschule für Körperkultur (DHfK Leipzig), die <?page no="128"?> 128 1950 gegründet und 1990 im Zuge der Deutschen Einheit geschlossen wurde. An über 60 Universitäten und weiteren Hochschuleinrichtungen (wie Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen) wird Sportwissenschaft in Lehramtsstudiengängen sowie zahlreichen außerschulischen Studiengängen (wie speziell für Bewegungswissenschaft, Trainingswissenschaft, Angewandte Sportpsychologie, Gesundheitssport, Rehabilitationssport, Sportmanagement, Sportökonomie, Sportökologie usw.) gelehrt und die vielfältigen Themen, die die Sportwissenschaft betreffen, erforscht. Weit über 250 Professuren für Sportwissenschaft(en) gibt es in Deutschland mittlerweile. Das Promotions- und Habilitationsrecht an den Universitäten ist seit zwei bis drei Jahrzehnten selbstverständlich, und das Fach ist seit 2009 auch im CHE Ranking aufgenommen (siehe www.sportwissenschaft.de). Der lesenswerte Sammelband von Court und Meinberg (2006) bietet anhand der fachkundigen Kommentierung zahlreicher, meistens geisteswissenschaftlicher, pädagogisch-philosophischer Klassiker und historischer deutschsprachiger Quellen seit 1871 einen Einblick in die inhaltliche Entwicklung der Sportwissenschaft und der Sichtweisen von Wissenschaft auf den Sport. Ausführlich kann man sich z.B. bei Emrich und Krüger (2013) über die Entwicklung und den Gegenstand informieren. Der Beitrag ist in dem umfangreichen Herausgeberwerk von Güllich und Krüger (2013) zu finden, das über zahlreiche Gegenstände und Themen in der Sportwissenschaft berichtet. Der zentrale Gegenstand von Sportwissenschaft ist zwar Sport, Bewegung und physische Aktivität, die wissenschaftliche Untersuchung weist aber eine hohe Heterogenität auf und es kommt sehr darauf an, mit welchem wissenschaftlichen Blick der Gegenstand untersucht wird. Im Memorandum Sportwissenschaft (Hottenrott et al., 2017, S. 289) findet sich dazu folgendes: „Sportwissenschaftliche Forschung weist eine hohe disziplinäre Binnendifferenzierung auf, die in den vergangenen Jahren neben der strukturellen und personalen Kopplung zu den Bezugswissenschaften auch durch eine zunehmende interdisziplinäre Vernetzung gekennzeichnet ist. Die Sportwissenschaft ist von einer großen methodischen und theoriebezogenen Vielfalt gekennzeichnet, die sie für die Bearbeitung einer Vielzahl von gesellschaftlich relevanten Themen prädestiniert.“ Sehr gut deutlich wird dies bspw. in der Untergliederung der 1976 gegründeten Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (www.sportwissenschaft.de) in der nachfolgenden Abbildung, in der neben den hier nicht dargestellten themenbezogenen dvs-Kommissionen die elf aktuellen verschiedenen sogenannten dvs- Sektionen zu finden sind. Diese Sektionen bilden Teildisziplinen der Sportwissenschaft ab, die in ihrem Theorie- und Methodenkorpus an Bezugswissenschaften (also Psychologie, Pädagogik, Geschichte, Medizin, etc.) anknüpfen, von denen im obigen Zitat die Rede ist. Hinzuzufügen ist, dass nicht jede sportwissenschaftliche Teildisziplin sich auch als Sektion in der dvs wiederfindet, z.B. Sportrecht 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="129"?> 4.1 Gegenstand und Systematik 129 oder Sportdidaktik, die aber an manchen Hochschulen vertreten sind. Hier nehmen folgende eigenständige Fachgesellschaften die Funktion einer dvs-Sektion wahr: die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP; www.dgsp.de), der Arbeitskreis Sportökonomie e.V. (AK Sportökonomie; www.arbeitskreis-sportoekonomie.de) und die Fachgesellschaft für Sportpsychologie, die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie e.V. (asp: www.asp-sportpsychologie.org). Abb. 10 | Sektionen der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), Stand Oktober 2021 (eigene Abbildung nach Deutsche Vereinigung für Sportwisssenschaft, www.sportwissenschaft.de) Zusammenfassend zeigt sich, dass die Gegenstände der Sportwissenschaft aus einer medizinischen (inklusive einer neurowissenschaftlichen und physiologischen Orientierung) sowie einer bewegungswissenschaftlichen (mit Biomechanik, Trainingswissenschaft und Sportmotorik, Sportinformatik/ -technologie), einer verhaltens-/ sozialwissenschaftlichen (wie Sportpsychologie, Sportökonomie, Sportsoziologie) und einer geisteswissenschaftlichen Perspektive (wie Sportpädagogik, Sportgeschichte und Sportphilosophie) und den entsprechend ganz eigenen methodischen Mitteln untersucht werden. Dies bedeutet, dass sich in der Sportwissenschaft zahlreiche zentrale Disziplinen einer Voll-Universität wiederfinden lassen und damit auch die sehr heterogenen und vielfältigen methodischen Zugänge. Kurz gesagt: Die Sportwissenschaft bildet die Heterogenität einer Voll- Universität ab, allerdings immer mit dem Fokus auf Sport, Bewegung und physische Aktivität. <?page no="130"?> 130 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft 4.1.2 Sport, Bewegung, physische Aktivität und ihre Determinanten Wieder ein Blick in das 2017 entstandene Memorandum Sportwissenschaft macht in knapper Form deutlich: „Die Sportwissenschaft befasst sich im weitesten Sinne mit den individuellen und sozialen Bedingungen, Ausprägungen, Wirkungen und Funktionen von Sport, Bewegung und körperlicher Aktivität.“ (Hottenrott et al., 2017, S. 289) Zunächst einmal wird auch hier deutlich, dass Sportwissenschaft sich nicht nur mit dem Thema „Sport“ befasst, sondern allgemein mit Bewegung bzw. mit Motorik und noch allgemeiner mit körperlicher bzw. physischer Aktivität. Im englischen Sprachraum wird Sportwissenschaft nicht mit „Sport Science“ übersetzt - dies meint dort eher die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Spitzensport und Wettkampfsport sowie sportliche bzw. allgemeine motorische Leistungen. Allgemeine physische Aktivität, deren Grundlage Bewegung und Motorik wie Fahrradfahren, Treppensteigen oder auch das gesundheitsbezogene körperliche Üben in einer Rückenschule oder in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall ist, gehören ebenso zum Gegenstand der Sportwissenschaft. Dieser Aspekt wird im englischsprachigen „Exercise“ genannt. Wenn man also Sportwissenschaft ins Englische übersetzt, müsste dies korrekt „Sport and Exercise Sciences“ heißen. Der Begriff Sport kann ebenfalls viele verschiedene Aktivitäten umfassen und beschäftigt gleichermaßen Sportpädagoginnen und Sportpädagogen (z.B. Haag, 1995) wie auch Sportsoziologinnen und Sportsoziologen in seiner abstrakteren Deutung. Heinemann (1990) verweist bspw. darauf, dass für das Sporttreiben u. a. körperliche Bewegung, die Leistungsbezogenheit, aber auch die Einbettung in ein sozial akzeptiertes Regelsystem (z.B. Wettkampfregeln in einer Sportart) notwendig sei. Sport definiert sich letztlich immer auch über den Kontext, in dem er stattfindet, und stellt eine Übereinkunft zwischen den Agierenden und den Beobachtenden dar, dass es sich bei der Aktivität um Sport handelt. Kontexte sind unter anderem Wettkampf, Freizeit, Fitness, Gesundheit, Unterricht oder Rehabilitation. In der Physik versteht man Leistung sehr allgemein und gegenstandsunspezifisch als die in einer Zeiteinheit eingesetzte Energie, welche in Watt gemessen wird. Unmittelbar einsichtig ist, dass jede Bewegung, jede physische Aktivität Energie verbraucht und somit eine Leistung darstellt. In diesem Sinne wollen wir den Begriff der Leistung im Folgenden verwenden und reservieren ihn nicht nur für den Leistungssport, sondern auch für Leistungen im Gesundheitssport, beim Treppensteigen oder beim Klettern. Als sportliche Leistungen (und damit auch als sportliche Verhalten) können motorische Leistungen (oder auch Verhalten), die man im sportrelevanten Kontext erbringt, verstanden werden. Als motorische Leistungen (z.B. Treppensteigen, <?page no="131"?> 4.1 Gegenstand und Systematik 131 Fahrradfahren, Fußballspielen) werden im Allgemeinen die Resultate von Verhaltensweisen, Handlungen bzw. Prozessen betrachtet, die aufgrund von Bewegungen des Körpers bzw. seiner Teile entstehen und die einer Bewertung (z.B. im Sinne des erfolgreichen bzw. nicht erfolgreichen Vollbringens) unterzogen werden können (vgl. z.B. Röthig et al., 1992, S. 274 ff.). Dies kann die Leistungen einer Person als individuelle motorische Leistungen betreffen, aber auch Gruppenleistungen. Wesentliche Determinanten motorischer Leistungen sind motorische Fähigkeiten, die über Beobachtungsverfahren wie motorische Tests ermittelt werden. Es gibt eine ganze Reihe von - letztlich sehr ähnlichen bzw. häufig ineinander überführbaren - Vorschlägen, wie motorische Fähigkeiten differenziert werden können. Eine in der deutschen Sportwissenschaft gängige Unterscheidung stammt von Bös (1987), der Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination sowie Flexibilität unterscheidet. . Abb. 11 | Modell der motorischen Fähigkeiten (eigene Darstellung nach Bös (1987)) Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit werden üblicherweise zu den konditionellen Fähigkeiten gezählt. Diese Fähigkeiten gelten als energetisch determiniert. Die koordinativen Fähigkeiten werden als informationsorientiert determiniert betrachtet. Sie beziehen sich auf das Zusammenspiel verschiedener Teile des Körpers wie z.B. Muskelgruppen. Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination können weiter differenziert werden. Dies reicht von der aeroben und anaeroben Ausdauer bis hin zur - auf Roth (1982) zurückgehenden - Unterscheidung der „Fähigkeit zur Koordination unter Zeitdruck“ und der „Fähigkeit zur genauen Kontrolle von Bewegungen“. Auf Basis dieser Modelle können motorische Aufgaben ihren Anforderungen nach unterschieden werden. Entweder stellen sie überwiegend Anforderungen an die konditionellen oder koordinativen Fähigkeiten oder stellen Mischformen dar, in denen gleichzeitig Anforderungen an konditionelle wie auch koordinative Anteile gestellt werden. Diese motorischen Aufgaben können isoliert ausgeführt werden; manchmal sind sie aber auch eingebunden in bestimmte Sportarten, in <?page no="132"?> 132 denen unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Anforderungen an die motorischen Fähigkeiten gestellt werden. Man kann außerdem in Korrespondenz zu den Fähigkeiten konditionelle Fertigkeiten (z.B. sportartspezifische konditionelle Aspekte) und technomotorische Fertigkeiten (z.B. bestimmte sportartspezifische Techniken) unterscheiden. Motorische Fertigkeiten (engl.: Fundamental Motor Skills) basieren auf motorischen Fähigkeiten, die sich aufgabenspezifisch manifestieren (z.B. Fangen, Werfen). Auch hier gibt es sehr differenzierte Klassifikationssysteme. Einen neueren Überblick erhält man bei Newell (2020). Motorische Leistungen sind außerdem nach ihren quantitativen und qualitativen Aspekten unterscheidbar. Quantitative Messungen der motorischen Leistung wären z.B. Latenzzeiten, Durchgangs- und Endzeiten sowie Gewicht. Qualitative Messungen sind bspw. Fehler, Korrektheit und Qualität der Ausführung. Häufig (aber nicht nur) werden in Aufgaben mit hohen Anforderungen an die Kondition eher die Leistungen quantitativ gemessen, während in Aufgaben mit hohen Anforderungen an die Koordination häufig (aber nicht nur) qualitative Leistungen gemessen werden. Steht bei der Ermittlung bzw. Messung der motorischen Leistung eher der Ausgang (bzw. Outcome) im Vordergrund, wird von einer Produktorientierung gesprochen (also z.B. die Zeit im 100-Meter-Lauf), während eine Prozessorientierung das Zustandekommen bzw. den Ablauf eines Verhaltens und einer Handlung in den Mittelpunkt rückt (z.B. die Phasen beim Weitsprung). Aus dem Memorandum Sportwissenschaft wird deutlich, dass Sport, Bewegung und physische Aktivität zwar zentrale Variablen in der sportwissenschaftlichen Forschung sind, allerdings der Hinweis auf die Untersuchung und das Studium der „individuellen und sozialen Bedingungen, Ausprägungen, Wirkungen und Funktionen“ (Hottenrott et al., 2017, S. 289) auch bedeutet, dass die Untersuchung aus allen Sichtweisen, insbesondere auch entlang der sportwissenschaftlichen Teildisziplinen, erfolgen kann, sei es bspw. aus einer historischen Perspektive (z.B. zur Entwicklung der Olympischen Spiele), einer unterrichtlichen Perspektive (z.B. zum optimalen Verhalten von Sportlehrkräften), einer Präventionsperspektive (z.B. zu Programmen der Prävention von Übergewicht durch tägliche physische Aktivität), oder einer rehabilitativen Perspektive (z.B. zur psychologischen Unterstützung von physiotherapeutischen Maßnahmen nach Gelenkoperationen). Einen sehr guten ersten Überblick kann man in dem Herausgeberwerk von Güllich und Krüger (2013) erhalten. Auch die verwendeten Variablen sind je nach Fragestellung sehr breit gestreut, seien es biologische und physikalische Variablen oder auch psychische Merkmale (wie Kognitionen, Motivation, Emotionen). Es können die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen von Sport und Sportsystemen untersucht werden, die physischen und psychischen Auswirkun- 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="133"?> gen von Verletzungen im Fußball, der Effekt eines bestimmten 7-Meter-Wurf- Übungsprogramms im Handball oder ob psychomotorische Übungen im Sportunterricht in der ersten Klasse den Schreiblernprozess fördern. Auch wenn Bewegung und physische Aktivität die zentralen Variablen in der Sportwissenschaft darstellen, sind alle anderen Variablen als Determinanten, Antezedenzien, Ergebnisse und Folgen potenziell Gegenstand sportwissenschaftlicher Forschung und Praxis. Diese kurzen Aufzählungen sollen verdeutlichen, welch große Heterogenität sportwissenschaftlich relevante Fragestellungen aufweisen können, und auf welch unterschiedliche Populationen, von Sportlehrkräften und Schülerinnen und Schülern bis hin zu Zuschauenden und Managerinnen und Managern, sie sich beziehen können. 4.1.3 Arten von Daten Forschungsmethodisch orientieren sich die Teildisziplinen der Sportwissenschaft in der Hauptsache an den zugrundeliegenden Basiswissenschaften (siehe ausführlich und im Überblick Strauss & Haag, 1994). Dabei sind die biologisch orientierten Wissenschaften wie die Sportmedizin und Trainingswissenschaft sowie auch die Bewegungs- und Verhaltenswissenschaft (z.B. Sportpsychologie), Teile der Sportpädagogik und der Sozialwissenschaft im Sport empirisch orientiert und benötigen je nach Fragestellung und Ausrichtung reliable und valide Methoden zur Datenerhebung wie Fragebogenmethoden, Interviewtechniken und Beobachtungsverfahren, wobei ein sichtbarer Trend zu apparativen Verfahren zu erkennen ist. Zur näheren Einordnung orientieren wir uns an der klassischen Unterscheidung von Raymond B. Cattell (z.B. 1946), einem der bekanntesten Persönlichkeitspsychologen des 20. Jahrhunderts. Er differenzierte Daten nach Life-Record-, Questionnaire- und Test-Daten (L-, Q- und T-Daten). Erstere sind biographische Daten (z.B. Geburtsdatum) oder Zählungen (z.B. Anzahl der Erkrankungen im Jahr). Q- Daten werden durch Fragebogen oder durch Interviews gewonnen, sind Selbstbeschreibungen oder Reports der Person und unterliegen in erheblicher Weise der Möglichkeit der Verfälschbarkeit durch die Person selbst (z.B. indem sozial erwünschte, aber nicht ehrliche Antworten gegeben werden). Als T-Daten bezeichnete Cattell Daten, die nur gering der Möglichkeit der Verfälschbarkeit unterliegen (insofern auch True-data, objektive Daten im Catell`schen Sinne wie physiologische Daten, und auch Daten aus Experimenten), und die häufig in kontrollierten, standardisierten Testsituationen mit hoher Objektivität gewonnen werden. Dies können bspw. kognitive oder motorische Leistungstests sein (eine Probandin bzw. ein Proband kann sich nicht leistungsfähiger machen als sie bzw. er ist, hierunter fallen bspw. apparative Verfahren wie EEG, EKG usw.) oder es können standardisierte Analysen von Bewegungen oder andere Beobachtungsverfahren wie Spiel- und Verhaltensbeobachtungen hierunter fallen. Es kommt 4.1 Gegenstand und Systematik 133 <?page no="134"?> 134 dabei darauf an, ob bei Letzteren die relevante Möglichkeit der Verfälschbarkeit durch die Beobachteten besteht. Dann wären diese eher den Q-Daten zuzuordnen oder, wenn es sich bei den Beobachtungen um Zählungen von Alltagsverhalten handelt, auch um L-Daten. Für die empirischen Teildisziplinen der Sportwissenschaft sind Datenerhebungsverfahren essentiell, auch deshalb, weil sie sehr häufig das Datenmaterial zur weiteren statistischen Auswertung liefern. Dies gilt jedenfalls in dem sogenannten quantitativen Forschungsparadigma, in dem es um die statistische Prüfung von Hypothesen (oder auch um die Exploration von Themen) geht. Wie in Kapitel 3 ausführlich beschrieben, steht im sogenannten qualitativen Forschungsparadigma nicht die statistische Analyse im Vordergrund, sondern es werden Zeichen und Symbole (wie z.B. in der Sprache oder auch im Verhalten) von Personen interpretiert bzw. gedeutet. Dies erfolgt theoretisch fundiert und regelbasiert wie bspw. der im Kontext der Sportwissenschaft vielzierte Beitrag von Smith und McGannon (2018) zeigt. Selbstverständlich werden in diesem Paradigma auch Interviewtechniken, Sprachanalysen, aber auch Beobachtungen zur Gewinnung der zu interpretierenden Daten eingesetzt (insbesondere im pädagogischen, soziologischen, aber auch psychologischen Kontext). Wir unterscheiden in diesem Kapitel bei den sportwissenschaftlichen Beobachtungsverfahren nicht zwischen den beiden Paradigmen und werden uns in der Hauptsache auf standardisierte Verfahren konzentrieren, die im quantitativen Paradigma häufig Verwendung finden, sowie Beispiele aus dem qualitativen Paradigma. Wir konzentrieren uns in diesem Kapitel auf Beobachtungsverfahren von physiologischen Prozessen, Bewegungen und Verhaltensweisen in der Sportwissenschaft. Dabei lassen wir Daten, die Fragebogenverfahren oder Interviews entstammen, außen vor. Wie in früheren Kapiteln schon ausgeführt wurde, kann Beobachtung verstanden werden als „kontrollierte direkte oder indirekte Wahrnehmung mit den Wahrnehmungssinnen oder speziell konstruierten Beobachtungs- und Messinstrumenten“ (Fröhlich et al., 2019, S. 4). Da sich die Beobachtung auf erfassbare Handlungen und Reaktionen bezieht, sind nicht alle Bereiche der Sportwissenschaft der Beobachtung zugänglich bzw. bedarf es unterschiedlicher Verfahren. Sportrelevante Werte, Einstellungen, Wissen, Emotionen und Stimmungen sind Q-Daten und lassen sich grundsätzlich nicht direkt beobachten, weshalb sie in der Regel durch Selbstauskünfte erfasst werden. Forschung zum Vergleich subjektiver (z.B. durch Selbstauskunft/ Q-Daten) und objektiver Messungen (z.B. durch Schrittzähler/ T-Daten) körperlicher Aktivität zeigt, dass die Ergebnisse nicht immer übereinstimmen und die subjektiv erhobenen Aktivitätswerte Verzerrungen unterliegen können (Harris et al., 2009; Helmerhorst et al., 2012; Stel et al., 2004). Hierzu zählen etwa Erinnerungsfehler (Bogner & Landrock, 2015) oder sozial erwünschtes Antwortverhalten (Grimm, 2010). Die Beobachtungsverfahren in der Sportwissenschaft haben sich in den 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="135"?> letzten Jahrzehnten daher durch die technische Entwicklung von den klassischen Paper-Pencilhin zu apparativen Messmethoden weiterentwickelt. Dies ist sehr gut in dem Bereich der Beobachtung bzw. Messung der physischen Aktivität durch Smartwatches erkennbar (Ainsworth et al., 2015). Es zeigt sich immer häufiger, dass schon länger eingesetzte und etablierte apparative Verfahren (z.B. Eye-Tracker) immer „mobiler“ werden. Diese apparativen Messmethoden waren zunächst nur im Labor oder in einem diesem ähnlichen Setting verwendbar, was allerdings häufig dazu führte, dass diese zwar objektiv gewonnen Daten (T-Daten) intern valide, aber nicht oder nur eingeschränkt auf die eigentliche sportliche Situation generalisierbar waren, wodurch die externe Validität eingeschränkt war. Die Miniaturisierung von Apparaten wie auch die Digitalisierung und die kabellose Übertragung von großen Datenmengen haben dazu geführt, dass durch (mobile) Apparate, Sensoren und Kamerasysteme Bewegungsverhalten valide und mit hohen Frequenzen über lange Zeitintervalle hinweg zeitlich und räumlich genau erfasst werden kann (vgl. z.B. Loffing et al., 2017). Ambulante apparative Methoden (die T-Daten generieren) bieten zudem den Vorteil der Datenerhebung im Feld, also dort, wo menschliches motorisches Handeln unter natürlichen Bedingungen auftritt. Diese Form von Assessment bietet eine hohe Genauigkeit (Reliabilität) sowie eine hohe ökologische Validität aufgrund der Betrachtung natürlicher Alltagsprozesse. Am Beispiel der Bewegungsanalyse lässt sich die historisch geprägte Entwicklung von Beobachtungsverfahren und Zugangsweisen in der Sportwissenschaft gut nachzeichnen. Auch hier wird der Einfluss der apparativen Entwicklung und der Miniaturisierung sowie der Digitalisierung sichtbar. Folgt man klassischen Definitionen in der Sportwissenschaft, dient die Bewegungsanalyse der ganzheitlichen Erfassung des normalen und pathologischen Bewegungsablaufes (Göhner, 1979). Dabei werden sportliche Bewegungen in Einzelteile zerlegt und die (ganzheitlichen) Beziehungen untereinander untersucht. Meyer (2017) differenziert die biomechanische Bewegungsanalyse, die morphologische Bewegungsanalyse und die funktionale Bewegungsanalyse (siehe Kapitel 4.3.1). Die morphologische Bewegungsanalyse stammt aus der Tradition der Sportpädagogik und dient(e) als qualitative Methode dem Zweck der Bewegungskorrektur im Sportunterricht oder auch im Training. Sie zerlegt Bewegungsabläufe in von außen (z.B. durch die Trainerin oder den Trainer oder durch Lehrkräfte) direkt (visuell) wahrnehmbare Bewegungsmerkmale und beschreibt deren (beobachtbare) Beziehung (Meyer, 2017). Als zusätzlich zum eigenen visuellen System des Beobachtenden wurden z.B. Chrono- und Serienfotographien wie auch Videoanalysen eingesetzt. In der elften Auflage des damaligen Bewegungslehre-Klassikers von Meinel und Schnabel (1987), die als Protagonisten der morphologischen Be- 4.1 Gegenstand und Systematik 135 <?page no="136"?> 136 wegungsanalyse gelten können, werden neun Bewegungsmerkmale klassifiziert: Struktur sportlicher Bewegungsaspekte, Bewegungsrhythmus, Bewegungskopplung, Bewegungsfluss, Bewegungspräzision, Bewegungskonstanz, Bewegungsstärke, Bewegungstempo und Bewegungsumfang. Das Ziel der morphologischen Bewegungsanalyse ist es z.B., der Lehrkraft „alle notwendigen Informationen zur Anleitung und zur Korrektur von Bewegungsausführungen zu geben“ (Witte, 2018, S. 10). Vor allem funktionale Bewegungsanalysen haben in der Sportmedizin und Bewegungswissenschaft (wie etwa der Biomechanik) an Wichtigkeit gewonnen. Nachdem es für lange Zeit nur inakkurate künstlerische Zeichnungen von Gang- und Laufbewegungen gab, wurde 1682 die erste Ganganalyse von Borelli als Selbstexperiment durchgeführt, um die Rumpfstabilität während des Gehens zu untersuchen. Er stellte fest, dass wenn man einen Stab vertikal und mittig vor sich hält und damit auf einen zweiten, im Boden verankerten Stab zuläuft, sich der gehaltene Stab im Relation nach rechts bzw. links verschiebt. Hieraus entstand die erste bewegungsanalytische Schlussfolgerung, dass sich der menschliche Körper während des Gehens seitlich verlagert. Es dauerte lange, bis nachfolgende Forschende in Europa Möglichkeiten entwickelt hatten, reliabel die Lokalisierung einzelner Gliedmaßen während der Phasen eines Schritt-Zyklus zu bestimmen (Carlet, 1872; Marey, 1874). 1878 bewies Muybridge die Schwebephase beim Pferdegalopp durch den Einsatz von mehreren, in Sukzession geschalteter Kameras. Braune und Fischer (1895) ermöglichten die Berechnung von Kräften, Drehmomenten und geleisteter Arbeit durch zusätzliche Kameras und reflektierende Geissler Tubes, die am Körper von den sich bewegenden Teilnehmenden befestigt wurden. Solche Berechnungen benötigten zu jenem Zeitpunkt jedoch noch ca. 14.000 manuelle Kalkulationen und mehr als 500 Arbeitsstunden für einen Schrittzyklus. Durch die Arbeiten von Sutherland und Hagy (1972) und Perry (1974, 1992) konnten diese Faktoren mithilfe von effizienteren Kamerasystemen, leistungsstärkeren Computern und genaueren Körpermodellen (Lee et al., 2009; Portinaro et al., 2014; Raabe & Chaudhari, 2016) erheblich gesenkt werden, sodass schon vor 15 Jahren digitale Hochgeschwindigkeitskameras mit bis zu 2.000 Bildern pro Sekunde objektiv verwertbare Bewegungsmechanismen aufzeichnen konnten (Spirgi-Gantert & Suppé, 2007). Ausführlicher gehen wir in Kapitel 4.3.1 darauf ein. 4.1.4 Systematik von Beobachtungsverfahren in der Sportwissenschaft Sportwissenschaft ist eine Wissenschaft, in der Sport, Bewegung und physische Aktivität im Mittelpunkt stehen und welche hinsichtlich der Sichtweisen, Teildisziplinen und Themen sehr vielfältig ist. Diese Vielfältigkeit/ Heterogenität spiegelt sich auch in den Arten von Forschungen wider, die sich in der Sportwissenschaft und all ihren Teildisziplinen finden lassen. 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="137"?> „[Es] lassen sich drei verschiedene Forschungstypen beschreiben, die jeweils für sich genommen einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung der sportwissenschaftlichen Forschungslandschaft leisten. Erstens die Grundlagenforschung, in der Erkenntnisse als Voraussetzung für weitere Forschung generiert werden, ohne dass unmittelbar der konkrete Verwertungszusammenhang jenseits der Forschung schon intendiert war. Zweitens die Anwendungsforschung, deren Ziel im Lösen von Problemen aus verschiedenen Anwendungsfeldern des Sports und in dem Transfer und der Umsetzung der Ergebnisse und Erkenntnisse in die Sportpraxis oder andere Bereiche der Gesellschaft liegt. Drittens die Praxis- oder Serviceforschung, bei der aktuelle Fragestellungen der Sportpraxis wissenschaftlich bearbeitet, begleitet und Forschungsfragen unmittelbar durch die Anwendung von Erkenntnissen in der Praxis generiert werden.“ (Hottenrott et al., 2017; Memorandum Sportwissenschaft, S. 289) Für ein Buch über Beobachtungsverfahren in der Sportwissenschaft bedeutet diese Heterogenität der Teildisziplinen, der Anforderungen und der methodischen Zugänge dann allerdings auch, dass es eine große Vielfalt von Datenerhebungs- und Beobachtungsverfahren im Speziellen (und natürlich Forschungsmethoden im Allgemeinen, siehe für einen umfangreichen Überblick Strauss & Haag, 1994) entlang der Teildisziplinen von den Naturwissenschaften bis in die Sozial- und Verhaltenswissenschaften (und zum Teil auch in die Geisteswissenschaften) geben muss. Die in den folgenden Kapiteln im Detail vorgestellten Beobachtungsverfahren haben wir auf Basis ihrer ursprünglichen Anwendungsherkunft in drei Kategorien eingeteilt: [1] die Beobachtung von verhaltens- und sozialwissenschaftlichen Prozessen (Kapitel 4.2) wie in der Sportpsychologie, Sportpädagogik, Sportsoziologie oder Sportinformatik, [2] die Beobachtung von Bewegung und Motorik wie in der Biomechanik (Kapitel 4.3), der Sporttechnologie oder der Sportmotorik, und [3] die Beobachtung physiologischer Prozesse als Reaktion auf physische Aktivität (Kapitel 4.4), wie sie in der Trainingswissenschaft oder der Sportmedizin zu finden sind. 4.1 Gegenstand und Systematik 137 <?page no="138"?> 138 Abb. 12 | Exemplarische Beobachtungsverfahren in der Sportwissenschaft Dabei nimmt der apparative, technische oder auch digitale Anteil der Beobachtungsverfahren über die Kategorien hinweg mehr und mehr zu, von z.T. teilnehmenden, offenen oder manchmal auch verdeckten manuellen Verfahren hin zu apparativen Fremdbeobachtungen. Die Verhaltensweisen und Prozesse in diesen Kategorien lassen sich zunehmend schwieriger mit bloßem Auge beobachten, sodass die Komplexität der zu beobachtenden Variablen zunimmt: Verhaltensbeobachtungen betrachten die wiederholte und kontinuierliche Bewegung bzw. physische Aktivität, wohingegen in der Bewegungsbeobachtung das Zusammenspiel der Körperteile von Interesse ist. Physiologische Reaktionen, als Beobachtung auf der kleinsten, molekularen Ebene, sind Momentaufnahmen, mit welchen z.B. der positive Effekt von physischer Aktivität auf Gesundheit erklärt werden kann. Zu beachten ist, dass dies keine Ausschlusskategorien sind, insbesondere nicht, was die Anwendung und Verwendung betreffen. Zahlreiche Verfahren sind in ihrer Anwendung je nach Fragestellung in allen drei oder auch in zwei der Teildisziplinen zu finden. Auch können diese Verfahren nur eine Auswahl darstellen, da die Sportwissenschaft ein Abbild der verschiedenen Wissenschaften im Klei- 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="139"?> 4.2 Verhaltensbeobachtung 139 nen ist. Wir haben versucht, für die meisten Beobachtungsverfahren ein oder zwei inhaltliche Beispiele kurz darzustellen, damit die Lesenden einen ersten Anwendungseindruck von dem jeweiligen Verfahren erhalten. Auch hier ist der Hinweis notwendig, dass dies nur eine selektive Auswahl darstellt. Aus Platzgründen können die Studien aber nur angeführt, nicht umfassend dargestellt werden. Um das jeweilige methodische Vorgehen kennenzulernen und zu verstehen, ist es nötig, auf die entsprechenden Angaben in den angeführten Publikationen zurückzugreifen. 4.2 Verhaltensbeobachtung Die kontinuierliche Ausführung von Bewegungen setzt sich in Verhaltensmustern zusammen, sei es in Form von Laufwegen in einem Handballspiel, einer Tanzroutine, dem Verhalten während des Sportunterrichts oder, über einen noch längeren Zeitraum, die regelmäßige physische Aktivität im Rahmen eines Rehabilitationsprogramms. Diese über längere Zeiträume andauernden Verhaltensweisen können direkt beobachtet werden, benötigen aber viele Ressourcen, abhängig von der erforderten Frequenz der Datenerhebungen. Vor allem bei Sportspielen und Leistungsdiagnostiken ist das kontinuierliche Beobachten mit mehreren Messpunkten pro Minute von Interesse, um Spielzüge, physische Belastung und Taktikumsetzungen zu analysieren. Dem gegenüber stehen Beobachtungen von physischem Aktivitätsverhalten, die manchmal rückschauend, d.h. retrospektiv auf frühere Zeiträume, von Forschenden eingesetzt werden. 4.2.1 Spielanalyse Spielanalysen ermöglichen es Zuschauenden, Athletinnen und Athleten, Trainerinnen und Trainern, den Verlauf eines Sportspiels zu verstehen. Sie sind seit der Professionalisierung des Sports ein wichtiger Bestandteil des datenbasierten Sports. Statistiken zu physiologischer, technischer, aber auch taktischer und mentaler Leistung und Effizienz sollen Aufschluss über die Leistungsfähigkeit der Athletinnen und Athleten sowie der Spielqualität geben und Erklärungen für Siege bzw. Niederlagen liefern (Gréhaigne & Godbout, 1995). Hohmann, Lames und Letzelter (2014) klassifizieren Spielanalyse auf Basis des Untersuchungszwecks und teilen diese in entweder vorwiegend theoretisch oder trainingspraktisch ein. Theoretische Spielanalyse zielt darauf ab, „die Struktur der sportlichen Leistungsfaktoren in einem bestimmten Sportspiel zu bestimmen“ (Winter & Pfeiffer, 2019, S. 52), wohingegen trainingspraktische Spielanalyse das Ziel verfolgt, konkrete Trainingsempfehlungen zu generieren. Unterschieden wird, nach Lames (1994), zwischen der Beobachtung von vorab definierten Beobachtungsmerkmalen ( notational analysis ) und der kinemetrischen Messung von Positionsdaten. In Studien der vergangenen Jahrzehnte wird <?page no="140"?> 140 insbesondere das taktische Verhalten der beteiligten Personen untersucht. Indikatoren, die Forschende dabei interessieren, sind u. a. die Häufigkeiten elementarer Spielereignisse (z. B. gespielte Pässe, Würfe etc.), der Zusammenhang zwischen Ballbesitzquote und Spielausgang bzw. Torerfolg (Lepschy et al., 2020) oder die Laufaktivität von Spielerinnen und Spielern (Lord et al., 2020; Winter & Pfeiffer, 2019). Notational analysis . Studien auf dem Feld waren zu Beginn handschriftliche Aufzeichnungen von Fremdbeobachtenden, die während eines Spiels oder einer Trainingseinheit Bewegungen, technische und taktische Leistung sowie statistische Auswertung in nichtstandardisierter bis vollstandardisierter Form festhielten (Hughes & Franks, 2004). Seit etwa den 1950er Jahren haben sich im professionellen Fußball erste Spielanalysen in Form von systematischer Spielbeobachtung herausgebildet (Schmidt & Hodek, 2019). So ermittelten Reep und Benjamin (1968) bspw. die Erfolgsquote des Steilpasses im Fußball. In den darauffolgenden Jahren bis heute werden durch eine Kombination von deskriptiven Statistiken und videobasierter (vermittelter) manueller Codierung von Spielsituationen Informationen über technische, taktische und strategische Leistungsfähigkeit für Trainerinnen und Trainer, Athletinnen und Athleten sowie Journalistinnen und Journalisten und Forschende bereitgestellt. Für technisch-taktische Analysen identifizierten Taylor und Kollegen (2008) im Vorfeld 13 „on-ball technical behaviours“, die für 40 Spiele einer britischen Fußballmannschaft codiert wurden, um Aussagen über die Häufigkeit der gelungenen Umsetzung in Abhängigkeit zum Spielort, der Stärke des Gegners und dem Spielstand pro Minute zu treffen. Die zwei Bewertenden der Videos erhielten dafür zehn Trainingsstunden und analysierten die Videos sowohl blind zueinander als auch doppelt nach einem 6-Wochen-Intervall, um mögliche Lerneffekte auf die Reliabilität auszuschließen. Nur über trennscharfe Kriterien und hohe Reliabilitätswerte können aus solchen Analysen theoretische oder trainingspraktische Schlussfolgerungen gezogen werden (Hughes et al., 2004). Obwohl eine Fremdbeobachtung weniger voreingenommen ist als die der Trainerin oder des Trainers, so ist es dennoch eine subjektive und fehleranfällige Methode von geringer Güte (Barris & Button, 2008; Borresen & Lambert, 2009; Hughes et al., 2002), die außerdem zeitaufwendig ist (Carling, 2013). Oft können Spielstatistiken auch erst nach dem Match mithilfe von manueller Videoanalyse bereitgestellt werden (Hughes, 2004). Durch den technischen Fortschritt können nun nicht nur Spielstatistiken reliabler gemessen werden, sondern auch Leistungsparameter wie gelaufene Distanz, durchschnittliche Geschwindigkeit, Spielpensum und Schuss- oder Schlagqualität erhoben werden (Borresen & Lambert, 2009; Fuchs et al., 2018). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass viele der Instrumente (Akzelerometer, Herzratenmonitor; Coutts & Duffield, 2010) zum einen noch nicht in dynamischen, reaktiven Spielsituationen validiert sind, zum ande- 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="141"?> 4.2 Verhaltensbeobachtung 141 ren werden sie zumeist bisher vielfach nur in Trainingseinheiten verwendet (Akenhead & Nassis, 2016; Lutz et al., 2020). Positionsdaten . Interessierende Informationen bzgl. der Positionierung von Spielerinnen und Spielern werden zum einen über Lokalisierungssensoren wie GPS (Global Positioning System) oder LPS (Local Positioning System), inzwischen aber auch über Kamerasysteme in Stadien erhoben (Sarmento et al., 2014), die bis zu 25 Punkte pro Sekunde aufzeichnen, wodurch die Spielanalyse eine Big-Data- Revolution erlebt (Memmert & Raabe, 2017). Durch diese können Spielerinnen und Spieler zumeist noch durch manuelles Taggen individuell erkannt werden. Dies ermöglicht die Ableitung von Geschwindigkeiten und Beschleunigungen, dem Abstand der Spielerinnen und Spielern zueinander (sog. centroids, berechnet aus den vertikalen und horizontalen Abständen der Spielerinnen und Spieler zum geometrischen Schwerpunkt der Mannschaft; Folgado et al., 2018; Frencken et al., 2012) sowie deren Koordination (vgl. folgende Abbildung) und strategische/ taktische Ausrichtung (Kovalchik & Reid, 2017; Krause et al., 2019; Memmert & Raabe, 2017; Rein & Memmert, 2016). Auf Basis dieser Berechnungen können Analysen von Einzelspielerinnen und Einzelspielern zu individuellen und spielbezogenen Merkmalen sowie Spielereignissen und auch kollektivtaktischen Spielhandlungen angestellt werden. 2012 entstanden die ersten statistischen Modelle, die mithilfe der erhobenen Daten eine Prognose von Torchancen (expected goals; MacDonald, 2012) oder Gewinnwahrscheinlichkeiten im Tennis (winner probability; Mlakar & Sobel, 2018) treffen können. Daten können außerdem zur Analyse von Verletzungsrisiken, mentaler Leistungsfähigkeit und taktischer Feldnutzung zu Rate gezogen werden (Kovalchik & Reid, 2017). Im Tennis kann mithilfe eines kamerabasierten Tracking-Systems und der Software Hawk-Eye das Verteidigungsverhalten modelliert werden, über die sich starke und schwache Defensivspielerinnen und -spieler identifizieren sowie konkrete Taktiktrainingspläne entwickeln lassen (van Meurs et al., 2021). Dennoch stößt die Technik auch hier noch an ihre Grenzen, da es bisher in vielen Sportarten noch nicht möglich ist, anhand von kamera- oder computergenerierten Daten Spielzüge oder -ereignisse eindeutig zu identifizieren oder klassifizieren. Dafür bedarf es weiterhin manueller Kodierung. Machine Learning stellt hier den nächsten Schritt in der Digitalisierung und Quantifizierung von Spielbeobachtung dar. Hier ist der Fußball den meisten Spielsportarten voraus: Es wird mittlerweile daran gearbeitet, durch selbstlernende, künstliche neuronale Netze und Entscheidungsbäume Muster in den Positionsdaten von Spielerinnen und Spielern zu erkennen und technisch-taktische Leistungsindikatoren zu aggregieren (z.B. Ballbesitz, Torgefährlichkeit oder Raumkontrolle; Bradley et al., 2013; Memmert & Raabe, 2017). Ähnliche Tracker werden auch im Training eingesetzt, sowohl zur Analyse des Positionsspiels als auch der physischen Belastung. Eine Befragung von Akenhead <?page no="142"?> 142 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft und Nassis (2016) von 41 Fußballvereinen ergab, dass Herzratenmonitore und Akzelerometer sowie Selbsteinschätzungen der Athletinnen und Athleten eher während des Trainings eingesetzt werden, wohingegen man sich vor, während oder nach einem Wettkampf auf die Daten von Lokalisierungs-, Kamera-Tracking-Systemen und time motion analysis verlässt. Während einer Trainingseinheit werden Athletinnen und Athleten Sensoren angelegt (z.B. verarbeitet in maßgeschneiderten Westen), über welche der Puls beobachtet, je nach Produkt und Ausstattung jedoch auch die Position festgehalten werden kann. Fußball-Bundesligisten erheben außerdem z.B. Atemfrequenz, Sprintqualität und Hormonspiegel während des bzw. nach dem Training, um an individuellen Defiziten und Stärken arbeiten zu können. Der technische Aufschwung ermöglicht außerdem das Erstellen von individuellen physiologischen Beanspruchungsprofilen, darauf abgestimmte Periodisierungspläne und zielgerichtete Verletzungsprävention (Bowen et al., 2017; Sikka et al., 2019). Bowen und Kollegen (2017) nutzten die Beschleunigungs- und GPS-Daten von 32 jungen Fußballprofis, um u. a. den Anstieg eines Verletzungsrisikos als Folge von bestimmten Trainingseinheiten zu untersuchen. So zeigte sich, dass eine sehr hohe Anzahl an Beschleunigungen über mehr als drei Wochen hinweg signifikant mit einem erhöhten Verletzungsrisiko in Zusammenhang steht. Gleichzeitig werden noch viele Parameter während des professionellen Trainings gemessen, die auch Gegenstand von wissenschaftlichen Studien sein können, deren tatsächliche Aussagekraft für die Leistungsoptimierung aber noch nicht empirisch bestätigt wurde. Abb. 13 | Videobasierte Spielanalyse: Visualisierung der Aufbauphase zu einem Tor (Quelle: Santos et al., 2018, S. 6) <?page no="143"?> 4.2.2 Ermittlung der physischen Aktivität Das Zählen von Schritten und das Schätzen der Intensität von alltäglichen und sportlichen Aktivitäten ist in vielerlei Hinsicht von Interesse: So kann eine Einschätzung getroffen werden, ob die Aktivitätsleitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erreicht werden oder wie viele Kalorien pro Aktivität und Tag verbrannt werden. Dabei hat sich die Forschung in den letzten Jahren/ Jahrzehnten wegbewegt von Selbstreports, Fragebögen über kürzere (IPAQ; Craig et al., 2003) oder längere Zeitintervalle (GPAQ; Armstrong & Bull, 2006), Aktivitätstagebüchern (z.B. Narring et al., 1999) oder Checklisten (Ainsworth et al., 2015). Selbstberichtete physische Aktivitätsmessinstrumente zielen meist auf das Überwachen, eine deskriptive Analyse sowie Aktivitätsveränderungen ab. Sie können dabei von retrospektiven allgemeinen Fragen (GPAQ: „An wie vielen Tagen in einer gewöhnlichen Woche betätigen Sie sich bei der Arbeit körperlich intensiv? “) bis hin zu Intensitätslogs alle 15 Minuten (Bouchard et al., 1983) oder detaillierten Beschreibungen der Aktivitäten am Ende des Tages (Ainsworth et al., 2013) reichen. Was früher noch auf Papier bzw. in Logbüchern dokumentiert wurde, kann inzwischen digital/ mit Smartphones als Selbstbeobachtung festgehalten werden, was die Erhebung für Teilnehmende als auch die Auswertung für Forschende vereinfacht (Ainsworth et al., 2015). Paper-Pencil-Methoden sind auch als nichtteilnehmende, direkte Fremdbeobachtung möglich, wobei die oder der Versuchsleitende das Verhalten der Teilnehmenden in regelmäßigen zeitlichen Abständen logt und die Intensität der gezeigten physischen Aktivität bewertet (siehe z.B. Epstein et al., 1984; Hovell et al., 1978). Die Gefahr bei (rückblickenden) Selbstbeobachtungen liegt darin, dass Teilnehmende zu Erinnerungsfehlern und Antwortverhalten nach sozialer Erwünschtheit neigen, vor allem bei niedrigen bis moderaten Intensitäten (Ainsworth et al., 1999). Digitalisierung hat eine Umstellung auf die apparative Messmethodik der Akzelerometrie und Pedometrie ermöglicht. Akzelerometrie und Pedometrie sind objektive Verfahren zur Erfassung körperlicher Aktivität, wobei die Akzelerometrie die Intensität bzw. Beschleunigung körperlicher Bewegung und die Pedometrie die Anzahl der Bewegungen bzw. Schritte, typischerweise über einen ganzen Tag, erhebt (für eine Übersicht aller Messinstrumente, siehe McClung et al., 2018; Spruijt-Metz et al., 2018). Mikroelektromechanische Systeme (MEMS) wandeln hierbei gemessene Beschleunigungen und Turbulenzen in ein Schrittmaß um, welches wiederum für die Berechnung der Frequenz und Intensität der physischen Aktivität oder gar den Sauerstoffumsatz genutzt wird. Bewegungen bzw. Erschütterungen werden von Pedometern und Akzelerometern auf Basis markenspezifischer Techniken und Algorithmen als Schritt oder Aktivität interpretiert (Allet et al., 2010). Die Geräte selbst werden oftmals in Form von kleinen mechanischen Geräten (ca. Streichholzschachtelgröße) an Gürtel, Schuhen oder am Hosenbund befestigt. Sie haben die Vorteile, dass sie i.d.R. klein und preiswert 4.2 Verhaltensbeobachtung 143 <?page no="144"?> 144 sind und keine teure Kleidung oder Ausrüstung erforderlich ist (Kornhuber, 2012). In der Forschung wird häufig ActiGraph eingesetzt ( ActiGraph , n.d.; Henriksen et al., 2018). Akzelerometrie und Pedometrie weisen gute psychometrische Eigenschaften (also Objektivitäts-, Reliablitäts- und Validitätsdaten; Garatachea et al., 2010) auf und sind international als objektive Verfahren (T-Daten) zur Messung körperlicher Aktivität und der Einschätzung des Energieumsatzes etabliert (Prince et al., 2020). Crouter und Kollegen (2003) konnten außerdem eine hohe Reliabilität von zehn unterschiedlichen Pedometern feststellen, die mit höherer Geschwindigkeit anstieg (maximale Genauigkeit bei 80m/ min). Sie vereinfachen die Datenerhebung für Epidemiologinnen und Epidemiologen, Medizinerinnen und Mediziner sowie Forschende, da nicht nur einmalige Erhebungen in Anwesenheit des Testenden, sondern kontinuierliche Beobachtung mit Echtzeit-Feedback möglich sind (Bloss, 2015). Ainsworth et al. (2015) betonen außerdem, dass die Wahl des Apparats abhängig von den Charakteristika der Studie ist und der zu messenden Aktivität sowie der zu untersuchenden Population (siehe auch Plasqui et al., 2013). So sind Pedometer bei gesunden älteren Menschen ein informatives Tool des Monitorings, bei physisch eingeschränkten Menschen bieten sich Apparate wie Inklinometer an, die Veränderungen in der Haltung messbar machen (H. Chen et al., 2018; Kozey-Keadle & Hickey, 2011). Nicht alle Werte sind jedoch verlässlich: Nelson et al. (2016) fanden in einer Studie mit 30 Teilnehmenden, dass kommerzielle Apparate zwar Schrittanzahl ähnlich valide messen wie wissenschaftsorientierte Pedometer, die Berechnung des Energieverbrauchs und der Schlafqualität jedoch signifikant abweicht von herkömmlichen Messapparaten (siehe auch Evenson et al., 2015). Akzelerometer wurden im Vergleich zu Pedometern im Allgemeinen als genauer befunden (Corder et al., 2007). Darüber hinaus haben die Kombinationen von Akzelerometern mit zusätzlichen Sensoren in Form von Smartwatches, Fitness-Trackern und Hybriden sich in der Praxis und auch in der Forschung mehr und mehr durchgesetzt. Smartwatches sind Erweiterungen des Handys, wohingegen Fitness-Tracker auf physische Aktivität ausgerichtet sind. Alle modernen Smartwatches bzw. Fitness-Tracker bauen auf dreiaxialen Akzelerometern auf, fügen diesen aber Gyroskope, Magnetometer, Barometer und/ oder Altimeter sowie Fotoplethysmographen und GPS hinzu, um Beschleunigungen, Orientierung, Höhenlage und Herzschlagrate zu erheben und darüber die Aktivitätsintensität genauer abzuleiten. Die Herzschlagrate (via Fotoplethysmographen) wird hierbei indirekt beobachtet durch das Blutvolumen unter der Haut, welches die Reflexion der Hautfarbe durch kleine, leuchtende Dioden beeinflusst. Da diese Messung noch sehr neu ist, finden Studien bisher noch, dass die Genauigkeit der Apparate mit steigender Herzschlagrate sinkt (Thomson et al., 2019). 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="145"?> Smartwatches und Fitness-Tracker unterscheiden sich vornehmlich hinsichtlich der Algorithmen, mit denen Aktivitätsintensität geschätzt wird (Henriksen et al., 2018), sowie der mehr oder weniger detaillierten Datenverfügbarkeit. Des Weiteren gibt es entscheidende Unterschiede bei den verwendeten Cut-point- und Regressionsmodellen, die der Klassifizierung von leichter, moderater und intensiver körperlichen Aktivität zugrunde gelegt werden (Gabrys et al., 2015). Bis 2018 wurden Fitbits am häufigsten verwendet, sowohl zur Validierung gegenüber ActiGraph als auch zu Public-Health-Studien; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass dies nicht automatisch eine hohe psychometrische Güte impliziert. Um das richtige Modell für die Forschungsfrage zu finden, definieren Henriksen et al. (2018) acht Merkmale (S. 11). Die quantitative Rückmeldung von Aktivitätstrackern kann motivierend wirken: Verschiedene Studien zeigen, dass die tägliche Schrittzahl von Teilnehmenden durch das Selbstmonitoring mithilfe eines Pedometers im Vergleich zur Baseline- Messung signifikant erhöht werden kann (Bravata et al., 2007; Chaudhry et al., 2020). Objektives Monitoring von körperlicher Aktivität kann außerdem helfen, subjektive Fehleinschätzungen (z.B. Erinnerungsfehler; Prince et al., 2008) bzgl. der eigenen Bewegung zu korrigieren. Andere Studien konnten zeigen, dass ein gesetztes Tages-Schrittziel das psychologische Wohlbefinden durch erhöhten Druck negativ beeinflussen kann (Lupton, 2013). Busch und Kollegen (2020) konnten dies in einer randomisierten kontrollierten Studie, in der eine Gruppe mit Fitness-Trackern ohne Schrittziel und eine Gruppe mit einem Schrittziel von 10.000 ausgestattet wurde, sowie eine Kontrollgruppe, die ihre Aktivitäten nur in einem Tagebuch dokumentierten, nicht bestätigen. Hier wurden die Vorteile der manuellen und apparativen Selbstbeobachtung genutzt, um inter- und intraindividuelle Verläufe zu modellieren. 4.2.3 Messung von Blickverhalten Zahlreiche Studien untersuchen seit etwa dem späten 19. Jahrhundert den Ursprung und die Bedeutung von Blickverhaltenbzw. Bewegungen und deren Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsleistungen und Entscheidungsprozessen in aktiven und sportlichen Situationen (Wade, 2010). Ein Überblicksartikel von Kredel und Kollegen (2017), in dem die Autoren die Ergebnisse aus über 60 Studien der vergangenen 40 Jahre untersuchen, macht deutlich, dass das Blickverhalten mit Leistungsparametern im Sport assoziiert ist. So legen sportpsychologische Experimente nahe, dass (Leistungs-)Druck zu einer Erhöhung der Zustandsangst führt, welche wiederum verschlechtert Prozesse der Aufmerksamkeitslenkung und der visuo-motorischen Kontrolle nach sich ziehen kann. Diese Prozesse scheinen z.B. für die erfolgreiche Ausführung von Elfmetern im Fußball oder Freiwürfen im Basketball entscheidend zu sein. Wenn nun eine Spielerin oder ein Spieler erhöhten Druck und Angst empfindet, kann sich dies in ver- 4.2 Verhaltensbeobachtung 145 <?page no="146"?> 146 änderten Blickbewegungen und einer Lenkung der Aufmerksamkeit weg vom Ziel der Bewegung niederschlagen, welches eine schlechtere Bewegungsausführung zur Folge hat. Auf Basis solcher Befunde können Trainingsprogramme zur Kontrolle der eigenen Blickbewegungen und damit Aufmerksamkeit entwickelt werden (Vine et al., 2012). Für die Erforschung des Blickverhaltens können unterschiedliche Methoden genutzt werden (Rienhoff & Strauss, 2014), darunter die Elektrookulographie (siehe Kapitel 4.4.3) und Eye-Tracking-Systeme. Das Eye-Tracking wird zur Messung von Blickbewegungen verwendet. So kann der Verlauf des Blickes beim Betrachten von Bildern, Texten oder im natürlichen Umfeld (z.B. bei einer sportlichen Aktivität) aufgezeichnet werden. Dabei werden sowohl die Blicksprünge an sich (Sakkaden) als auch das Verweilen des Blickes (Fixationen) an einem bestimmten Reiz festgehalten (Wilson & Vine, 2019). Grundsätzlich kommen in der Blickbewegungsforschung zwei Arten von Eye- Trackern zum Einsatz: Mobile Überkopfsysteme (sog. head-mounted Eye-Tracker, z.B. in Brillenform), die an/ auf dem Kopf der Probandin bzw. des Probanden angebracht werden, und extern installierte Eye-Tracker (sog. remote Eye-Tracker), bei denen der Eye-Tracker nicht mit der Versuchsperson verbunden ist, sondern die Aufzeichnung berührungsfrei erfolgt (z.B. durch Infrarotlicht und Videoaufzeichnung der Augen). Mobile Eye-Tracker, die seit den 1980er-Jahren häufiger verwendet werden, eignen sich insbesondere für Feldstudien außerhalb des Laborkontextes (Duchowski, 2017). Nicht zuletzt gibt es auch die Möglichkeit, Blickbewegungen mithilfe von Kontaktlinsen zu messen. Diese Methode wird zwar als sehr genau, aber auch als sehr aufwändig beschrieben (Rienhoff & Strauss, 2014). Eye-Tracker werden u. a. eingesetzt, um das Phänomen Quiet Eye zu erforschen. Als Quiet Eye (dt.: ruhendes Auge) wird die letzte Fixation bzw. das letzte Tracking vor einer Bewegungsausführung bezeichnet (Vickers, 2016). Es wird davon ausgegangen, dass die Dauer des Quiet Eye die notwendige Zeit für die neuronalen Netzwerke im Gehirn ist, sich zu organisieren, um die Bewegung kontrolliert auszuführen. Es konnte gezeigt werden, dass sich Expertinnen bzw. Experten und Novizen hinsichtlich dieser Fixation unterscheiden (Lebeau et al., 2016; Mann et al., 2007): Expertinnen und Experten weisen eine längere Quiet-Eye-Dauer und einen früheren Beginn der letzten Fixation vor der Bewegungsausführung auf als Novizen. Außerdem zeigen sich unabhängig vom Expertiseniveau bei erfolgreichen Leistungen längere Quiet-Eye-Dauern als bei nicht erfolgreichen Leistungen. Nicht abschließend geklärt bleibt allerdings die Frage, warum die Länge der letzten Fixation vor der Bewegungsausführung so ausschlaggebend für den Erfolg sportlicher Leistung ist (Rienhoff & Strauss, 2014). Ein möglicher Mechanismus könnten die Informationsverarbeitungsprozessen der Bewegungsparametrisierung sein (Klostermann et al., 2013). In der angewandten Sportpsychologie 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="147"?> kommt Quiet-Eye-Training zum Einsatz, um die sportliche Leistung zu verbessern. Dazu gibt es mittlerweile eine Vielzahl an sportpsychologischen Interventionsstudien, die die praktische Relevanz von Quiet-Eye-Trainingsinterventionen empirisch untersuchen und bestätigen (Lebeau et al., 2016). In Loffing et al. (2017) wird der Einsatz dieser Verfahren im Spitzensport ausführlich beschrieben. 4.2.4 Stichproben- und situationsspezifisches Verhalten Verhaltensbeobachtungen können als Leistungsmessung verstanden werden, sobald sie sich auf normative Verhaltensweisen beziehen (Geukes et al., 2020). Normative Verhaltensweisen gelten als richtig, wichtig oder erfolgsversprechend. Geukes et al. (2020, S. 311) verdeutlichen dies am Beispiel des Biathlons: Hier kann die Messung der Laufgeschwindigkeit und Schussgenauigkeit als Leistungsmessung verstanden werden, denn hohe Geschwindigkeiten und Genauigkeiten zu erzielen sind im Biathlon als erfolgsversprechende Verhaltensweisen definiert. Lächeln hingegen wird hier nicht als Leistungsindikator definiert. In der Sportwissenschaft kommt Verhaltensbeobachtung u. a. im Unterricht und bei Sportzuschauenden zum Einsatz. Neben den im Folgenden genannten exemplarischen Stichproben und -situationen lassen sich noch viele weitere finden. Es handelt sich in diesem Kapitel also lediglich um eine Auswahl an Studien und Populationen, die nicht erschöpfend ist, sondern nur Möglichkeiten der Operationalisierung von Verhalten vor unterschiedlichen Forschungsfragen aufzeigen soll. Schülerinnen und Schüler. Die empirische Unterrichtsforschung nimmt unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse auf individueller Ebene bzw. im Klassenverband in den Blick (Lohrmann, 2021). Die Wurzeln der empirischen Unterrichtsforschung in Deutschland gehen insbesondere auf die Arbeitsgruppe um Meumann, Lay, Fischer, und Petersen im frühen 20. Jahrhundert zurück (Drewek, 2010). Im Mittelpunkt der Unterrichtsforschung stehen die „systematische[ ] Beobachtung und Beschreibung der Interaktionsprozesse von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie der Analyse ihres Zusammenhangs mit Personenmerkmalen (Lernvoraussetzungen, -strategien und -ergebnissen) und Lehrermerkmalen (z.B. allgemein-pädagogischem und fachdidaktischem Wissen)“ (Klieme & Rakoczy, 2008, S. 225). Damit findet in der Regel eine Fremdbeobachtung statt (Diekmann, 2013, S. 568). Schulische Beobachtungsstudien finden oftmals im natürlichen Forschungsfeld (z.B. Klassenzimmer, Sporthalle) statt. In den vergangenen Jahren ist allerdings eine Vielzahl an Studien entstanden, die auf sogenannte Lehr-Lern-Labore zurückgreift. Diese Lehr-Lern-Labore können als kontrollierte Umgebung und komplexitätsreduzierte Lehr-Lern-Situationen verstanden werden (Böhm-Kasper & Dizinger, 2021). Beobachtungseinheiten können feste Zeitintervalle in einer (Sport-)Unterrichtsstunde, aber auch natürliche Beobachtungseinheiten wie z.B. 4.2 Verhaltensbeobachtung 147 <?page no="148"?> 148 das Ende einer Interaktionssituation zwischen Lehrkraft und Schülerin bzw. Schüler sein (Schnell et al., 2013). Ein Blick in die empirischen Studien zum Sportunterricht in den letzten Jahren offenbart diverse Forschungsaktivitäten zu Themen wie Unterrichtsprozesse (z.B. Kooperatives Lernen, Klassenführung; Bores-García et al., 2021), aber auch fachspezifische (z.B. motorische Leistung, Gesundheit; Ptack & Tittlbach, 2020) und fachübergreifende (z.B. Selbstkonzept- oder kognitive Entwicklung; Opstoel et al., 2020) Effekte im und durch Sport. Athletinnen und Athleten . Die Beobachtung von Athletinnen und Athleten im Wettkampf bietet sich als direkt und nichtteilnehmend im Feld an. Dabei kann es je nach Fragestellung entscheidend sein, diese verdeckt und unwissentlich zu halten, um z.B. sozialpsychologische Prozesse unbeeinflusst erfassen zu können. Während manche Forschungsfragen eine unvermittelte Einschätzung und Codierung von interessierenden Variablen erlauben, werden oft Videoaufzeichnungen, also vermittelte Beobachtungen, verwendet, um mit mehr Zeit und unterschiedlichen Perspektiven relevante Aspekte zu extrahieren (z.B. Gesichtsausdrücke, Körperhaltung, Gesten und Berührungen während eines Handballspiels). Die Videoaufzeichnungen werden im Kontext des thin-slices paradigm in kurze Sequenzen mit einem eindeutigen Fokus auf die Zielperson zerlegt (Furley & Schweizer, 2020). Ein Beispiel hierfür ist die Studie von Bünemann und Schweizer (2021): Um die potentiell reziproke Beziehung von non-verbalem Verhalten auf die nachfolgende Leistung und andersherum zu untersuchen, wurden Videoausschnitte der Internationalen Basketball-Föderation nach Kriterien (z.B. nur ein Spieler im Bild, auf dem Feld oder auf dem Weg dahin) ausgewählt. Zwei unabhängige Gutachterinnen und Gutachter kodierten diese hinsichtlich Verhaltensmerkmale wie gebeugter Haltung, hängender Schultern oder nach unten gerichteter Blicke. Anstatt die Häufigkeit dieser Signale zu zählen, wurde in dieser Studie die Intensität der beobachteten positiven oder negativen Körpersprache auf einer Skala von 0 (sehr negativ) bis 100 (sehr positiv) bewertet. Andere Forschungsmethoden werten vermittelte, nichtteilnehmende Videoaufnahmen aus der Zuschauendenperspektive aus, indem z.B. Gesten und Berührungen wie geballte Fäuste oder High-Fives registriert werden (Moesch, Kenttä, & Mattsson, 2015; Moesch, Kenttä, Bäckström, et al., 2015). Bei solchen Verhaltensbeobachtung sind nicht nur die zu definierenden Verhaltensweisen klar voneinander abzugrenzen, sondern auch mögliche moderierende Faktoren einzubeziehen, u. a. das Geschlecht der zu Beobachtenden, deren Alter und Expertiselevel sowie situationsspezifische Einflüsse wie Bezug zum Publikum oder Ort des Wettkampfes (z.B. Furley et al., 2018). In der Forschung werden für die Kodierung von Verhaltensweisen entweder sportart- und situationsspezifische Schemata wie das Handball Post-Shot Behavior Coding Scheme (H-PSB-CS; Moesch, Kenttä, & 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="149"?> Mattsson, 2015) oder allgemeinere Beobachtungen von stolzem und beschämtem Auftreten (Tracy & Matsumoto, 2008) verwendet. Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter / Kampfrichterinnen und Kampfrichter . Die Leitenden von sportlichen Ereignissen sind natürlich einerseits Beobachtende des Spiels oder Wettkampfes und treffen regelgeleitet (vor dem Hintergrund des Regelwerks der Sportart) Entscheidungen. Diese erhebliche Bedeutung hat zur Folge, dass Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter auch beobachtet werden. Beobachtende implizieren hier nicht nur die Athletinnen und Athleten und Zuschauende selbst, sondern auch durch den vom Verband eingesetzten Schiedsrichterbeobachtenden anhand von standardisierten Beobachtungsbögen. Dies geschieht insbesondere in den professionellen Ligen (spezifisch aber doch vergleichbar mit Spielbeobachtungsbögen). Dies geschieht zu Sichtungs- und Schulungszwecken. Auch in wissenschaftlichen Studien sind das Verhalten und die Leistungseinschätzung von Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern in den Sportspielen und Rückschlagspielen (z.B. Tennis) und Kampfrichterinnen und Kampfrichtern in Zweikampfsportarten (wie Boxen, Taekwondo, etc.) von entscheidendem Interesse. Dabei konzentriert sich die (sportpsychologische) Forschung u. a. auf den Entscheidungsprozess und Faktoren, die diesen verfälschen können. So zeigten z.B. Unkelbach und Memmert (2010), dass die Lautstärke der Zuschauenden eine Informationsquelle für Fußballschiedsrichterinnen und -schiedsrichter darstellt und die Vergabe von gelben Karten zugunsten der Heimmannschaft beeinflusst. Die Zählung gelber Karten (oder auch in anderen Studien roter Karten, Anzahl von Elfmetern, Strafzeiten im Handball oder Eishockey) stellt eine indirekte Beobachtung dar, wobei ohne eine Hinzunahme von erklärenden Variablen nicht klar ist, warum die Vergabe erfolgt, ob tatsächlich der Zuschauendenlärm eine Rolle gespielt hat oder nur die Härte des Fouls bzw. andere Faktoren relevant waren. Dazu werden in dieser oder auch anderen ähnlichen Studien zum Game-Management in Laborexperimenten mit der Kontrolle von kontextuellen Variablen (z.B. Lärm) zumeist am Computer das unmittelbare Verhalten von Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern beobachtet (z.B. die Reaktionsschnelligkeit oder Entscheidungsgüte). Allerdings lassen diese Arten von Beobachtung in Experimenten nur bedingt eine ökologisch valide Messung von Entscheidungsprozessen zu. Durch den vermehrten Einsatz von Virtual Reality wird momentan die Güte von solchen Szenarien in verschiedenen Sportarten getestet und als mögliche Trainingsmethode eingesetzt (Kittel, Elsworthy, et al., 2019; Kittel, Larkin, et al., 2019). Sportzuschauende . Sportzuschauende können typischerweise (vgl. Strauss & Jürgensen, 1998) als solche Personen bezeichnet werden, die ein von einem Veranstalter (wie bspw. einem Verein oder Verband) angebotenes Sportereignis (z.B. die Olympischen Spiele oder ein Spiel in der Fußballkreisklasse) entweder vor Ort oder medial vermittelt (und dies live oder zeitversetzt) beobachten. Einen Über- 4.2 Verhaltensbeobachtung 149 <?page no="150"?> 150 blick über verschiedene Facetten der Sportzuschauenden aus allen wissenschaftlichen Disziplinen kann man bei Strauss (2012) erhalten. Sportzuschauende selbst sind also Beobachtende, die typischerweise offen und nichtteilnehmend sowie nichtstandardisiert beobachten, auch wenn Sportzuschauende typischerweise das Bedürfnis haben, durch ihre Aktionen (z.B. Anfeuern, Auspfeifen) Einfluss zu nehmen und sich damit selbst als am Spielgeschehen teilnehmend begreifen. Allerdings ist dieser Einfluss eher nur kogniziert und tatsächlich nicht oder kaum vorhanden (vgl. hierzu zusammenfassend einen aktuellen Überblick von Strauss, Staufenbiel, van Meurs und MacMahon (2022)). Umgekehrt können zuweilen aber auch Sportzuschauende vor Ort Gegenstand von Beobachtungen sein. Insbesondere wenn Sportereignisse die Gefahr in sich bergen, dass es gewalttätige Ausschreitungen geben könnte (z.B. durch Hooligans bzw. Ultras im Fußballkontext), werden polizeiliche Überwachungen innerhalb und außerhalb des Stadions durch Observation und auch durch Bild- und Tonaufzeichnungen zur Gefahrenabwehr und -prävention, aber auch zur Strafverfolgung durchgeführt (vgl. hier zu den rechtlichen Grundlagen Nolte, 2012). Das Verhalten von Sportzuschauenden ist darüber hinaus Gegenstand von zahlreichen Untersuchungen. Zuschauende sorgen für die Stadionatmosphäre. Im Fußball wurde dies bspw. mit einer halb standardisierten, teilnehmenden Beobachtung der Besuchenden von vier Spielen des 1. FC Köln untersucht, wobei sowohl handschriftliche Notizen im Stadion als auch Fernsehaufzeichnungen ausgewertet wurden, unterstützt von Befragungen der Besuchenden (Linkelmann, 2018). Verbales sowie non-verbales Verhalten wurde nach Kriterien und Intensität kodiert, um diese in Bezug zum Spielgeschehen zu setzen. Zu der Stadionatmosphäre gehört auch die La Ola, die mittlerweile seit den 1980er-Jahren nicht nur im Fußball, sondern auch bei anderen Sportereignissen für ein emotionales Sporterlebnis sorgt. Zuschauende stehen auf und werfen dabei ihre Arme in die Luft, wovon sich die jeweiligen Nachbarn anstecken lassen und dies nachmachen, sodass - wenn ein ganzes Stadion mitzieht - der Eindruck einer Welle, die durch ein ganzes Stadion schwappt, entsteht. Farkas, Helbing und Fiesek (2002, 2003; siehe die ausführliche Darstellung in Heuer, 2012) haben diese Wellenausbreitung intensiv aus physikalischer Sicht untersucht. Ausgehend von sehr detaillierten Videobeobachtungen in großen Fußballstadien (z.B. ergibt sich bei einer La Ola eine Ausbreitungsgeschwindigkeit von 22 Plätzen pro Sekunde) und Frame-by-Frame-Auswertungen haben sie ein physikalisches Modell mithilfe eines zellulären Automatenmodells entwickelt. Damit konnten sie sehr genau die Parameter zur Entstehung und Fortführung einer La Ola mithilfe eines mathematisches Formelapparates beschreiben und so einen erheblichen Beitrag zur Erklärung leisten. Mithilfe solcher physikalischen Analysen lassen sich auch andere Verhaltensweisen von Zuschauenden beobachten und damit simulieren, z.B. Panikverhalten oder Applaus. In seinem Überblick geht Heuer (2012) ausführlich auf diese Massenphänomene ein. 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="151"?> Rehabilitierende . In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von Sport und körperlicher Aktivität als rehabilitatives und therapeutisches Mittel deutlich zugenommen. Dafür sind unter anderem die demografische Entwicklung, ein erweitertes Indikationsspektrum sowie ein verstärkter Fokus auf Prävention ausschlaggebend ( Jamour et al., 2011; Nowossadeck, 2019; Pfeifer et al., 2010). Hinzu kommt eine stärkere Vernetzung präventiver, akuter und rehabilitativer Interventionen. Im Reha-Bericht 2019 (Deutsche Rentenversicherung, 2019) zeigt sich, dass die Bewegungstherapie (z.B. Ausdauertraining, Muskeltraining) in der medizinischen Rehabilitation auch in quantitativer Hinsicht fest etabliert ist. Bei einem zeitlichen Anteil von bis zu 80 % (je nach Indikation) verbringen Rehabilitierende den Großteil ihrer Therapiezeit mit einer Vielzahl von bewegungstherapeutischen Leistungen (Deprins et al., 2019; Deutsche Rentenversicherung, 2019). Beobachtungsverfahren kommen neben der Bestandsaufnahme für die rehabilitative Therapieplanung insbesondere in wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit von bewegungstherapeutischen Interventionen zum Einsatz (Wirtz & Strohmer, 2016). Diese beinhalten verschiedenen Verfahren zur Überprüfung der motorischen Kontrolle, Funktionen der unteren oder oberen Extremitäten sowie Kraft und dem Gangbild. Ein übergeordneter Zielparameter ist in der Regel immer die Erhöhung der Selbstständigkeit der Patientinnen und Patienten im täglichen Leben, welcher mithilfe von motorischen Tests eingeordnet werden kann. In der therapeutischen Praxis stellt sich zurecht die Frage, welche Zielwerte bei etwa einer verletzten Extremität (z.B. Bein) am Ende der Rehabilitation erreicht werden sollen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass in den meisten Fällen das prämorbide Funktionsniveau (bspw. Maximalkraft vor der Beinverletzung) der Patientin bzw. des Patienten nicht bekannt ist und damit eine realistische Vergleichsvorgabe fehlt. In solchen Fällen vergleichen Therapeutinnen und Therapeuten oder Ärztinnen und Ärzte meist am Ende des Rehabilitationsprozesses das Niveau der verletzen Seite mit dem der unverletzten Extremität (Gail, 2015; Schlumberger & Schmidtbleicher, 2000). Natürlich hat diese Vorgehensweise den Nachteil, dass vernachlässigt wird, dass auch die unverletzte Extremität bspw. durch Inaktivität und Immobilisation einen Funktionsverlust erleiden kann (Schlumberger & Schmidtbleicher, 2000). Ein Vergleich des Funktionsniveaus zwischen verletzter und unverletzter Extremität kann daher zu einer Überschätzung des Rehabilitationsergebnisses führen. Gerade bei älteren, geriatrischen oder multimorbiden Rehabilitierenden zeigen sich bei vielen motorischen Testverfahren sogenannte Bodeneffekte, die sich durch die Nichtdurchführbarkeit bei Aufnahme und in der Abschlussuntersuchung ergeben. Die Gründe hierfür können der motorische Funktionszustand der Patientinnen und Patienten, Sicherheitsaspekte sowie Verständnisprobleme und kognitionsassoziierte Defizite beim Umsetzen der Testanweisungen sein ( Jamour et al., 2011). 4.2 Verhaltensbeobachtung 149 <?page no="152"?> 152 4.3 Bewegungsbeobachtung Bewegungsbeobachtungen sind ein inhärenter Teil der sportwissenschaftlichen Forschung, die zur Diagnostik von pathologischen Abläufen oder aber Analyse sportmotorischer Leistung genutzt werden (Göhner, 1979). Ungeachtet der biologischen, physiologischen und psychomotorischen Prozesse, die im Körper stattfinden und sich nur indirekt und zumeist apparativ beobachten lassen, sind Bewegungen das direkt beobachtbare Ergebnis, das für Athletinnen und Athleten, Trainerinnen und Trainer oder Sportlehrkräfte von Interesse ist. Dabei lassen sich prozess-orientierte Maße, wie z.B. die markerbasierte Bewegungsanalyse, und produkt-orientierte Maße, wie z.B. manche motorischen Tests, nutzen, um Defizite in der biomechanischen Ausführung der Bewegung oder in Entwicklungsständen im Vergleich zu Normwerten festzustellen. 4.3.1 Bewegungsanalyse Wie eingangs erwähnt, unterscheidet man bei der Bewegungsanalyse zwischen der biomechanischen, morphologischen und funktionalen Bewegungsanalyse. Erstere beschäftigt sich mit den physikalischen (z.B. Kraft, Masse, Trägheit) und mechanischen Prinzipien von Bewegung unter Berücksichtigung der biologischen Besonderheiten (Knochen, Sehnen, Gelenke) des Körpers (Meyer, 2017). Die morphologische Analyse hingegen betrachtet Bewegung aus einer sportpädagogischen Perspektive, um mithilfe von einzelnen Abläufen Bewegungsmerkmale zu identifizieren, um darüber die individuelle Ausführung korrigieren zu können (Witte, 2018). In der funktionalen Bewegungsanalyse werden sportliche Bewegungen als Lösung einer Bewegungsaufgabe betrachtet, mit dem Ziel, eine optimale Lösung dieser Bewegungsaufgabe zu generieren. Die funktionale Bewegungsanalyse gilt als vorwiegend unterrichtspraktisch (Witte, 2018). Göhner (1992) differenziert außerdem zwischen funktional abhängigen (sog. Hilfsfunktionsphasen) und unabhängigen Phasen (sog. Hauptfunktionsphasen), welche mit Beispielen von Witte (2018) verdeutlicht werden können: Eine Bewegung wird als funktional abhängig bestimmt, wenn ihre Funktion im Zusammenhang mit einer anderen Funktionsphase steht. Bspw. besteht eine funktionale Abhängigkeit zwischen dem Anlauf und dem Absprung beim Weitsprung. Funktional unabhängige Phasen sind dagegen Hauptfunktionsphasen. Im Hochsprung besteht bspw. das Bewegungsziel im Überqueren der Hochsprunglatte, wohingegen sich alle anderen Phasen (Anlauf, Absprung, Landung) unterordnen. Heutzutage machen die Miniaturisierung, die Digitalisierung und die kabellosen, tragbaren Systeme es möglich, dass Bewegungen mit hoher Präzision und Detaildichte aufgezeichnet werden können. Was Trainerinnen und Trainer oder Sportlehrkräfte früher mit bloßem Auge oder mit simplen Videoaufnahmen ohne zusätzliche Analysetools machten, wird in der Forschung ersetzt oder ergänzt durch 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="153"?> digitale Hochgeschwindigkeitskameras und passive (reflektierende) oder aktive (eigenständig leuchtende) Marker nahe der relevanten Gelenker, sodass die Bewegung in 3D-Videos reproduziert und vollständiger als mit dem bloßen Auge beobachtet werden kann. Hiermit können z.B. Winkelstellungen auch bei dynamischen Bewegungen zu jedem beliebigen Zeitpunkt dargestellt werden (Raiß et al., 2010). Da die Marker an Referenzpunkten des Körpers festgemacht sind, spricht man hierbei von einer direkten Beobachtung. Dieses apparative Verfahren ermöglicht die Fremdbeobachtung im Labor. Bewegungsanalysen durch das Hervorheben von Markern sind ein reliables, wenn auch zeit- und ressourcenaufwendiges Messverfahren für Bewegungseinschränkungen, Operationsresultate oder Gangstabilität (Shull et al., 2014). Je nach biomechanischem Modell und Analyseverfahren sowie Zielsetzung der Untersuchung werden unterschiedlich komplexe Verfahren und Apparate eingesetzt. Zusätzliche Apparate wie Goniometer und Akzelerometer können unterstützend z.B. die Bewegungseffizienz messen. Insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit komplexen Bewegungsstörungen ist diese Methode seit vielen Jahren ein fester Bestandteil der klinischen Forschung und Therapieplanung. So trägt sie u. a. dazu bei, pathologische Veränderungen des Gangbildes bei Erkrankungen wie Parkinson zu diagnostizieren (Yang et al., 2016). Markerbasierte Bewegungsaufzeichnungen können darüber hinaus für Studien zur Wahrnehmung von Bewegung und Nutzung von Körper- und Bewegungsmerkmalen bei Entscheidungsfindungen eingesetzt werden. In einem der ersten Experimente, das die Theorie der biologischen Bewegung beim Menschen untersuchte, wurde der Gang von Menschen mit Markern (zuerst noch mit kleinen Taschenlampen) an den zwölf wichtigsten Gelenken und Landmarken aufgezeichnet ( Johansson, 1973). Die Aufnahme der gehenden Personen wurde dann Teilnehmenden am Computer gezeigt. Diese Technik ist heute als Point-Light- Display (PLD) bekannt. Die Anwendung wurde im Kontext der Theorie der biologischen Bewegung erweitert, mit Beobachtungen von Musik (Puce & Perrett, 2003), Basketball (Dittrich, 1993) und Tänzern (Dittrich et al., 1996). In ihrer Studie baten Dittrich et al. (1996) erfahrene Tänzer, andere Tänzer zu beobachten. Sie zeigten, dass diese Tänzer sensibler auf die biologischen Bewegungen derjenigen Tanzaufzeichnungen reagierten, die innerhalb ihres Expertisestils lagen und umgekehrt. Dies unterstützt die Annahme, dass die Vorerfahrung des Beobachtenden mit der Aktion die tatsächliche biologische Bewegung bestimmt. Darüber hinaus sind Menschen in der Lage, sowohl statische als auch dynamische Bewegungen, das Geschlecht und verschiedene Emotionen zu erkennen, die aus der Körpersprache abgeleitet werden (Wut, Traurigkeit, Glück; Ma et al., 2006). 4.3 Bewegungsbeobachtung 153 <?page no="154"?> 154 4.3.2 Motorische Tests Motorische Tests werden in vielen Bereichen der Sportwissenschaft und bei unterschiedlichen Personengruppen eingesetzt, um Diagnosen zu stellen, Entwicklungen zu verfolgen und zu verstehen oder Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erfassen. Wir sind bereits ausführlich in Kapitel 4.1 auf die Differenzierung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten (bzw. fundamental motor skills, siehe Newell, 2020) eingegangen. Sie lassen sich je nach Entwicklungsstufe der Getesteten, der Aktivitäts- oder Sportart sowie Zweck der Bestimmung der physischen Verfassung gruppieren. Somit sind Reflextests für Kleinkinder, Motoriktests für Kinder und Jugendliche sowie Bewegungsscreens für ältere oder eingeschränkte Menschen ein integraler Teil der Bewegungswissenschaft und Sportmedizin. Des Weiteren werden sportartspezifische Tests verwendet, um die Potentiale und Fortschritte von Athletinnen und Athleten für die Talentidentifikation und -entwicklung messbar zu machen. Motorische Entwicklung . Zur Erfassung allgemeiner motorischer Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen werden vornehmlich standardisierte Tests herangezogen, deren Aufgaben und Auswertung in Abhängigkeit stehen zu der Alters-/ Entwicklungsstufe und den gewünschten Konstrukten (Bös, 2017; Cools et al., 2009). Sogenannte motorische Tests ermöglichen nichtteilnehmende Fremdbeobachtungen, die im Labor, aber auch im Feld durchgeführt werden können, je nach Ausmaß der Stichprobe mit externen Testenden. Die Tests charakterisieren sich durch einzelne motorische Aufgaben oder Testbatterien, um mehrere oder größere Konstrukte zu erfassen. Es wird dabei unterschieden zwischen produkt- und prozessorientierten Bewertungen. Eine Übersicht der in Deutschland verwendeten produktorientierten Messaufgaben aus unterschiedlichen Batterien zur Erhebung motorischer Fähigkeiten findet sich in Utesch et al. (2015; siehe Abbildung 14) oder in ausführlicher Ausarbeitung in Bös (2017). Hierbei wird eine Einschätzung des Entwicklungsstandes der Teilnehmenden getroffen, indem die Leistungen mit Referenzwerten verglichen werden, die aus weltweiten, regelmäßig aktualisierten Stichproben entstehen, anhand derer sich überdurchschnittliche, aber auch unterdurchschnittliche Leistungen und Förderungsbedarfe feststellen lassen (siehe z.B. Deutscher Motorik-Test, Bös et al., 2015; Körperkoordinationstest für Kinder, KTK, Kiphard & Schilling, 1974; Movement ABC-2, Schulz et al., 2011). Beispiele für langzeitliche Beobachtungsstudien sind das KIGGS-Projekt des Robert-Koch-Instituts (Lange et al., 2014) und die Initiative „Gesunde Kinder in Gesunden Kommunen“ (GKGK; Willibald Gebhardt Institut, 2018). Im GKGK-Projekt wird z.B. der Allgemeine Sportmotorische Test für Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren (AST 6-11; Bös & Wohlmann, 1987; siehe auch Büsch et al., 2009) durchgeführt, bestehend aus einem 20-Meter-Sprint, Zielwerfen mit einem Tennisball, rückwärtiges Zielwerfen mit halber Drehung, Hindernislauf, Medizinballstoßen und einem 6-Minuten-Lauf. Ergänzend wurden mit- 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="155"?> hilfe des Auswahltest für den Sportförderunterricht (Rusch & Irrgang, 1994) mit den Aufgaben Ballprellen, Zielwerfen, Rumpfbeuge, Standhochsprung, Halten im Hang und Stufensteigen die Konstrukte Koordinationsfähigkeit, visuomotorische Präzision, Beweglichkeit, Schnellkraft, Haltekraft und Organleistungsfähigkeit gemessen. Die motorischen Tests wurden in einer Sporthalle mit den Klassen, aufgeteilt in Kleingruppen, durchgeführt, wobei externe Fremdbeobachtende pro Test produktorientiert die erreichte Zeit, Punktzahl oder Weite notierten. Diagnostik . Vergleichbare Messinstrumente wurden für Erwachsene und ältere Menschen entwickelt. Der bekannte und häufig eingesetzte Functional Movement Screen (FMS) zielt darauf ab, allgemeine Mobilität und Stabilität zu erfassen (Cook et al., 2014a, 2014b). Er dient somit nicht als diagnostisches Messinstrument (Müller et al., 2013), sondern dem Identifizieren von Anomalitäten in Bewegungsabläufen. Diese meist im Labor durch interne oder externe Bewertende durchgeführte Testbatterie beinhaltet sieben Bewegungsmuster, d.h. Bewegungsstimuli, die in hoch-standardisierter Form mithilfe eines Test-Kits angeboten werden. Die tatsächliche Intention und zu untersuchende Zielgruppe muss in der Anwendung jener Tests und den Rückschlüssen daraus jedoch beachtet werden: In bestimmten Sportarten verhindern ausgeprägte Muskelgruppen eine gewisse Mobilität und werden in der dreistufigen Bewertung des FMS schnell fälschlicherweise als Defizit und erhöhte Verletzungsgefahr kategorisiert (McCall et al., 2017; McCunn et al., 2016). Vor dem Hintergrund einer Diagnose von Mobilität und Stabilität bei rehabilitierenden Patientinnen und Patienten lassen sich jedoch valide Aussagen treffen: Schagemann und König (2017) untersuchten in einer quasi-experimentellen Stichprobe aus einer Rehabilitationsklinik den Effekt von funktionellem Training auf den FMS-Score, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Der FMS wurde hier genutzt, um Schwächen in der funktionellen Bewegung festzustellen und diese mit gezielten Übungen zu verbessern. Nach sechs Wochen der Intervention wurde der FMS durch ausgebildete FMS-Gutachterinnen und -Gutachter (FMS-Level 1 & 2) erneut durchgeführt und ein stark verbesserten FMS-Score verzeichnet. Talentidentifikation . Am anderen Ende des Spektrums von Leistungsfähigkeit steht die Talentforschung und Leistungs- und Trainingswissenschaft. Das Beobachten von relevanten Fertigkeiten und deren Entwicklung hat einen hohen Stellenwert im heutigen Profisport. Dabei wird zwischen kognitiven, wahrnehmenden und motorischen Fertigkeiten (Bate, 1996) unterschieden. Eine Herausforderung bei der Konstruktion der motorischen Tests liegt in der Komplexität der meisten Sportarten, und darin, die Gegebenheiten mit hoher ökologischer Validität zu reproduzieren, sodass die Testaufgaben die gesuchte Fertigkeit erfassen (Gabbett & Georgieff, 2006; O’Reilly & Wong, 2012). In einer Übersicht der Testmöglichkeiten im Fußball zeigt Ali (2011) die Stärken und Schwächen der verwendeten Methoden auf. Mögliche Fragestellungen, die sich mithilfe von motori- 4.3 Bewegungsbeobachtung 155 <?page no="156"?> 156 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="157"?> Abb. 14 | Exemplarische Übersicht über die internationale und nationale Verbreitung der Einzeltests des DMT 6-18 (eigene Darstellung nach Utesch et al., 2015) 4.3 Bewegungsbeobachtung 157 <?page no="158"?> 158 schen und technischen Tests beantworten lassen, können bestimmte Trainingsverfahren evaluieren, Selbst- oder Fremdeinschätzungen von Athletinnen und Athleten sowie Trainerinnen und Trainern bestätigen oder den Einfluss von ausgewählten Konstrukten auf die Spielleistung und Karriere testen. Im Rahmen der Olympischen Spiele von Tokio, bei denen zum ersten Mal Sportklettern stattfand, wurde z.B. ein Leistungsstrukturmodell und eine darauf aufbauende Testbatterie weiterentwickelt, die in der Leistungsdiagnostik zur Entwicklung konkreter Trainingsmaßnahmen genutzt werden soll (Auguste et al., 2021). Entgegen bisheriger Befunde waren nicht die maximale Fingerkraft, sondern der Powerslap-Test sowie Schnellkraft und Kraftausdauer (u. a. bei den Herren im Rumpf) beim Lead-Klettern die entscheidenden Einflussfaktoren für die Wettkampfleistung, wohingegen Sprungkraft zu vernachlässigen war. Bei der Entwicklung und dem Einsatz von sportspezifischen Tests ist somit die Repräsentativität der jeweiligen Sportart zu beachten. Einer der vielleicht bekanntesten motorischen Tests außerhalb des Forschungskontexts ist der obligatorische Eignungstest für ein sportwissenschaftliches Lehramtsstudium. Hierbei werden je nach Bundesland (z.T. durch Verordnung vorgeschrieben), Universität und Studiengang unterschiedliche motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten getestet, um die sportmotorische Eignung für ein Studium zu garantieren (Kuhlmann et al., 2014). Die Auswahl an Testitems liegt größtenteils bei den Instituten selbst (Kuhlmann et al., 2014). Allerdings ist kritisch festzuhalten, dass diese Verfahren häufig nicht empirisch hinsichtlich ihrer Gütekriterien geprüft wurden und werden, sondern allenfalls Inhaltsvalidität unterstellt werden kann, während z.B. systematische prädiktive Validierungen typischerweise fehlen. Dies ist insofern überraschend, da diese Tests häufig (insbesondere vor der Aufnahme von Lehramtsstudiengängen) obligatorisch sind und ein Bestehen notwendig ist zur Aufnahme des Studiums. Der Eignungstest ist ebenfalls nicht frei von nichtsportbezogenen Einflussfaktoren: Für die Eignungsprüfung der Universität Wien analysierten Mogg, Kolb, und König (2018) mögliche Sportsozialisationsfaktoren für das Bestehen: Die Teilnahme an den Vorbereitungswochen, eine sportorientierte Schule, die familiäre Mitgliedschaft in einem Sportverein und Wissen über die Prüfungskriterien waren aussagekräftige Prädiktoren für das Erreichen der Leistungskriterien im 20 m-Sprint, 5er-Hop, Seilklettern und 2400 m-Lauf. 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität Physiologie im Allgemeinen untersucht die Funktionen des Körpers (im Gegensatz zur Anatomie). Sportphysiologie, als Subdisziplin der Physiologie, beschäftigt sich mit der Veränderung der Körperfunktionen durch physische Aktivität 156 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="159"?> 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität 159 und Sport, z.B. hinsichtlich des Muskelaufbaus, des kardiovaskulären Systems, des Hormonspiegels und des Energiestoffwechsels (Kenney et al., 2015a), aber auch der Gehirnplastizität und kognitiven Funktionen. Da es sich hierbei um internale Prozesse handelt, können diese nur indirekt und apparativ beobachtet werden. Dabei gibt es in der Forschung zwei Interessenslagen: die akuten Reaktionen des Körpers auf physische Aktivität sowie die chronischen Adaptionen bei anhaltendem, regelmäßigem Training. Diese sind stark abhängig von Trainingsvolumen, -frequenz und -intensität, der Sportart sowie dem Individuum und den externen Rahmenbedingungen. 4.4.1 Physiologische Messungen Sportphysiologische Messmethoden sind inzwischen überwiegend apparative Beobachtungsverfahren, bei denen einmalig oder in regelmäßigen Abständen die Leistungsfähigkeiten einzelner oder mehrerer Körperfunktionen getestet werden. Das war nicht immer so: In ihren Ursprüngen konnte die sportphysiologische Forschung sich nur auf das von außen Sichtbare verlassen, um z.B. über Größe und Form von Muskeln deren Wirkungsweise zu verstehen (Fabricius, 1603). Heutzutage lassen sich unter anderem mithilfe von Biopsien, Atemflussanalysen, Gewebe- und Blutproben die physiologischen Prozesse während und nach dem Sport beobachten bzw. ableiten. Eine Übersicht ausgewählter Verfahren für Herz-Kreislauf-Funktion und Muskelfunktion in Abhängigkeit der zu untersuchenden Stichprobe wird in Streib und Streber (2018) diskutiert. Die hier aufgelisteten Methoden stellen dabei nur einen Ausschnitt dar. Muskelbiopsie . Um histologische und biochemische Prozesse zu verstehen und Muskelatrophie oder -hypertrophie überwachen zu können, werden seit ca. 1900 Muskelbiopsien eingesetzt. Mithilfe einer Nadel wird eine kleine Muskelgewebeprobe entnommen, die z.B. hinsichtlich der Faszienverteilung (Gollnick & Matobat, 1984) und bestimmter Enzyme (Kreatinkinase, Lactatehydrogenase; Brancaccio et al., 2006) untersucht wird. Vor allem im klinischen Kontext und bei der Diagnose von kongenitalen Myopathien und Muskeldystrophien können Muskelbiopsien in Kombination mit weiteren Tests (EKG, Lungenfunktionstest) die entscheidenden Informationen liefern. In der Sportphysiologie wurden Muskelbiopsien ursprünglich eingesetzt, um den Prozess der Glykogenolyse zu überwachen, später gefolgt von histologischen Studien und Mikroskopen, die die Muskelfaserzusammensetzung visualisieren konnten. Muskelbiopsien können außerdem Aufschluss geben über die Produktion von Enzymen, die für die Sauerstoffnutzung gebildet werden. Inzwischen ist die Methode jedoch veraltet, da es zur Erforschung von Muskelaufbau andere, minimalinvasive Messverfahren gibt. Die Notwendigkeit von Muskelbiopsien zur Bestimmung oder Vorhersage von athletischem Potential wird außerdem kritisch gesehen, da physiologische Feldbzw. Laborstudien bisher noch nicht die ent- <?page no="160"?> 160 scheidenden Qualitäten feststellen konnten (Kenney et al., 2015c) und die Methode dafür zu kostspielig und invasiv ist. Spirometrie . Spirometrie (sog. Lungenfunktionsprüfung; siehe auch Abbildung 15) dient der Messung und Aufzeichnung von (relativen) statischen Parametern der Lungenfunktion sowie Atemflüssen am Mund (Bösch & Criée, 2020). Durch Integration des Atemstroms über die Zeit hinweg wird das Atemvolumen berechnet (Volumen=∫Atemfluss×dt; Criée et al., 2015). Ziel ist es, den Funktionsstand der Atemwege und der Lungen zu erfassen und die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit zu objektivieren (Friedmann-Bette, 2011). Hierfür stehen neben Fahrradergometern hochleistungsfähige Laufband-Ergometer sowie Ruder-, Handkurbel- und Kanuergometer zur Verfügung. Es ist dabei einfach, schnell und nichtinvasiv sowie preisgünstig (Criée et al., 2015). Die wichtigsten Größen in der Spirometrie sind das maximale Sauerstoffvolumen (VO 2 max) und die Leistungsfähigkeit im Bereich der Ausdauergrenze (anaerobe Schwelle; Scharhag-Rosenberger & Schommer, 2013). Darüber hinaus können mithilfe der Spirometrie physiologische Messgrößen wie Herzfrequenz und Blutlaktatkonzentration geschätzt werden (Röcker et al., 2010). Diese Parameter lassen Rückschlüsse auf den optimalen Bereich der Fettverbrennung, des Grund- und Leistungsumsatz sowie der Ausdauerleistungsfähigkeit zu. Außerdem können mittels Spirometrie Veränderungen der Atemwege bereits frühzeitig festgestellt werden (z.B. Lungen- und Atemwegserkrankungen wie Asthma oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung; Wonisch, 2015). Das vorrangige Interesse spirometrischer Untersuchungen gilt häufig der Ermittlung der maximalen Intensität, mit der Ausdauerbelastungen (z.B. ein Marathonlauf) absolviert werden können. Diese auch als (individuelle) anaerobe Schwelle bezeichnete Belastungsintensität wird meistens in stufenweise ansteigenden Ergometrien bestimmt (8 bis 12 Belastungsstufen mit jeweils 3-minütiger Dauer, abhängig von Leistungsniveau der Probandin bzw. des Probanden; Röcker et al., 2010). Die VO 2 max von Ausdauersportlerinnen und -sportlern im Spitzensport kann mehr als doppelt so groß sein wie bei untrainierten Personen. Die indirekte Kalorimetrie ermöglicht zudem die Bestimmung des Energieverbrauchs bzw. des Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsels während der sportlichen Belastung (Scharhag-Rosenberger & Schommer, 2013). In den vergangenen Jahren hat sich der Leistungsparameter Bewegungsökonomie als individueller Leistungsindikator etabliert (Barnes & Kilding, 2015). Bewegungsökonomie wird durch den Sauerstoffverbrauch bei submaximaler Intensität definiert. Verschiedene Studien haben Zusammenhänge zwischen Bewegungsökonomie und dem Aufmerksamkeitsfokus bei sportlichen Aufgaben untersucht (Brick et al., 2014). So könnte sich eine Läuferin oder ein Läufer bspw. entweder vorwiegend auf ihre bzw. seine Atmung oder die Ausführung der eigenen Lauftechnik ( interner Aufmerksamkeitsfokus) oder auf die Umgebung und die ande- 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="161"?> 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität 161 ren Laufenden konzentrieren ( externer Aufmerksamkeitsfokus). In Bezug auf den Sauerstoffverbrauch zeigen Studien hochsignifikante Unterschiede zwischen intern und extern manipulierten Aufmerksamkeitsfoki trotz gleicher Laufgeschwindigkeit bei Laufenden (Schücker et al., 2009; Schücker & Parrington, 2019). Dabei haben Teilnehmende mit externem Aufmerksamkeitsfokus den geringsten Sauerstoffverbrauch und damit die beste Bewegungsökonomie. Allgemein scheint vieles dafür zu sprechen, dass ein externer Fokus gegenüber einem internen Fokus für automatisierte motorische Abläufe im Ausdauersport vorteilhaft ist (Schücker et al., 2010). Laktat-Test . Laktat ist das Endprodukt des anaeroben laktaziden Stoffwechsels und eignet sich als Indikator für das Erreichen und Leisten an der anaeroben Schwelle bei andauernder Belastung. Hierbei ist die Laktatkonzentration im Blut entscheidend: In untrainiertem Zustand beginnt die rapide Akkumulation von Laktat bei 50-60 % des VO 2 max, im trainierten Zustand erst bei 70-80 %, kann aber auf diesem Niveau noch im Muskel abgebaut werden (Kenney et al., 2015b). Ab 4mmol pro Liter Blut wird mehr Laktat produziert als der Muskel gleichzeitig abbauen kann und tritt in den Blutkreislauf ein. Je länger Athletinnen und Athleten sowohl die Laktatkonzentration beschränken als auch bei hohen Werten ihre Leistung aufrechterhalten können, desto besser die Ausdauerleistung. Obwohl sich Blutlaktatwerte während bzw. nach einer Ausdauerbelastung an oder über der anaeroben Schwelle auch aus spirometrischen Werten ableiten lassen (Wasserman et al., 1994), gibt es direktere Methoden. Hierfür bedarf es einer kleinen Blutstichprobe, die normalerweise an der Fingerspitze oder am Ohrläppchen entnommen und in einer Glukose-/ Laktat-Hämolyselösung analysiert wird (siehe für eine Diskussion Moran et al., 2012). Ähnlich wie oder in Ergänzung zur Spirometrie wird zuerst ein Ruhewert festgehalten und dann in einem Stufentest- Design mit ansteigender Belastung (Geschwindigkeit) nach jedem Intervall eine weitere Probe entnommen, bis die Athletin oder der Athlet ihre bzw. seine Belastungsgrenze erreicht. Die sich daraus ergebende Laktatkurve über die Zeit erlaubt eine Interpretation der Ausdauerleistungsfähigkeit (Faude et al., 2009). Der Vorteil gegenüber Methoden wie der Muskelbiopsie ist, dass Laktattests bis auf einen kleinen Einstich nichtinvasiv sind, innerhalb von wenigen Sekunden eine Blutprobe entnommen und diese vergleichsweise schnell analysiert werden kann. Im athletischen und klinischen Bereich kann die anaerobe Schwelle zum Festlegen und Kontrollieren der Trainingsintensität genutzt werden. Scherr und Kollegen (2013) untersuchten den Zusammenhang der objektiven Anstrengung (Blutlaktatkonzentration in Ruhe sowie nach jeder Stufe eines inkrementellen Belastungstests auf dem Laufbzw. Fahrergometer) und der subjektiven Anstrengungsempfindung (Borg-Skala; Borg, 1982). Bei der Borg-Skala werden Studienteilnehmende in regelmäßigen Abständen gefragt (also Q-Daten), wie hoch sie ihre Anstrengung subjektiv auf einer Skala von 6 bis 20 einschätzen. Dies ist so- <?page no="162"?> 162 mit eine indirekte Selbstbeobachtung der konditionellen Leistungskapazität. Scherr und Kollegen (2013) fanden in einer Stichprobe von fast 2.600 genesenen Patientinnen und Patienten einen starken Zusammenhang zwischen den objektiven (kardio-)physiologischen und psycho-physiologischen Messungen. Befunde wie diese können helfen, valide sowie effiziente Messmethoden in der Forschung und Praxis einzusetzen, um z.B. Trainingsintensität angemessen zu überwachen. 4.4.2 Dynamometrie Die Dynamometrie dient der Erfassung von Reaktionskräften und den daraus ableitbaren Messgrößen (z.B. Impuls, Drehmoment, Massenträgheitsmoment; Schwameder et al., 2013). Die dynamometrische Messung erfolgt üblicherweise auf elektronischem Wege, etwa über die Verformung einer Messfeder (Dehnungsmessstreifen, die die Verformung durch Krafteinwirkung des Trägermaterials aufzeichnen) oder mithilfe von kapazitiven Sensoren (zwei dünne, elektrisch leitende Folien, deren Abstand sich durch Krafteinwirkung verringert) oder Leiter- und Halbleitersensoren (Schwameder et al., 2013). Bei diesen Messmethoden tritt durch den sich verändernden elektrischen Widerstand eine Spannungsänderung auf, welche aufgezeichnet und gespeichert werden kann. Die bekanntesten apparativen Verfahren sind jedoch Kraft- und Druckmessplatten, mit denen Absprung-, Lande-, Gang- oder Laufbewegungen registriert werden können (Wollny, 2017). Zur Bestimmung von Trainingseffekten wird oftmals die Maximalkraft herangezogen. Die Maximalkraft bezeichnet die höchste aufzubringende Kraft, die ein Muskel oder eine Muskelgruppe bei einem standardisierten Kraftmesstest aufbringen kann (Haber, 2018). Die Maximalkraft einer Probandin bzw. eines Probanden wird auch in der Sportmedizin begutachtet, um bspw. Dysbalancen zwischen dem linken und dem rechten Bein einer Patientin bzw. eines Patienten nach einer Operation zu analysieren (Rosenhagen & Vogt, 2017). Dynamometrie findet ihre Anwendung in wissenschaftlichen Fragestellungen und klinischen Studien, die das Gleichgewicht, die Ganganalyse und allgemeine Sportlichkeit untersuchen. So gibt es inzwischen Laufband-Ergometer, die mit kapazitiven Kraftsensoren ausgestattet sind, um während unterschiedlicher Belastungsstufen die Bodenreaktionskraft als wichtigen Gangparameter zu erheben (siehe Abbildung 15). Lauenroth et al. (2018) nutzten ein solches apparatives Laborverfahren, um geschwindigkeitsabhängige kinematische und kinetische Referenzendaten unter Berücksichtigung patienten- und patientinnenspezifischer Charakteristiken zu definieren (vgl. Schwartz et al., 2008). 141 gesunde Teilnehmende liefen bei 2, 4 und 6 km/ h sowie ihrer bevorzugten Geschwindigkeit 30s auf dem Laufband-Ergometer, während pro Schritt die Schrittlänge, Kadenz, der Maximaldruck und die Maximalkraft von den kapazitativen Sensoren erfasst bzw. berechnet wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl Geschlecht als auch Körpergröße bzw. -gewicht bei der Berechnung von Gangparametern bei 2, 4 und 6 km/ h zu berücksichtigen sind. 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="163"?> 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität 163 Abb. 15 | Laufband-Ergometer mit Kraftmessplatten im Labor der WWU Münster (Quelle: Medienlabor IfS) 4.4.3 Elektrophysiologische Verfahren Elektrokardiogramm . Das Elektrokardiogramm (EKG) bezeichnet eine Untersuchungsmethode, bei der die elektrische Aktivität des Herzens gemessen wird (Gertsch, 2008). Sportwissenschaftliche Subdisziplinen, die sich dieser Methode bedienen, sind insbesondere die Sportmedizin, Biomechanik und Trainingswissenschaft, wo sie zur klinischen Diagnostik, als Leistungstests oder als Belastungstests zur Therapiekontrolle eingesetzt werden (Wuthe & Dorow, 2019). Man unterscheidet zwischen Ruhe-EKGs und Belastungs-EKGs (Nachl & Löllgen, 2018): Das Ruhe-EKG einer Patientin bzw. eines Patienten wird in der Regel im Liegen erhoben und dauert nur wenige Sekunden. Es dient in der sportwissenschaftlichen Forschung und Praxis primär der Basisuntersuchung. Dabei kommt es bei (Leistungs-)Sportlerinnen und -Sportlern durch funktionelle und strukturelle Adaptionen des Herzens sowie physiologische Anpassungen des vegetativen Nervensystems vielfach zu trainingsbedingten Veränderungen des Ruhe- EKG (Corrado et al., 2010; Kindermann, 2007). Durch Belastungs-EKGs lassen sich bestimmte Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems feststellen und Aussagen über die individuelle körperliche Fitness der Patientin bzw. des Patienten ableiten (Löllgen & Gerke, 2008). Bei einem Belastungs-EKG (Provokationstest) leitet die bzw. der Untersuchende die elektrische <?page no="164"?> In der sportmedizinischen Diagnostik lassen sich mithilfe der EMG Dauer und Stärke von bestimmten Muskelaktivierungen bestimmen sowie Aussagen über muskuläre Koordinationsmuster und Ermüdungsaspekte (Schwameder et al., 2013) oder über Erkrankungen der Nerven- und Muskelzellen tätigen, wie es z.B. bei einem Tremor oder einem pathologischen Gangbild der Fall ist (Spolaor et al., 2017; Zhang et al., 2017). Die Biomechanik nutzt EMG zur Überprüfung von Zusammenhängen zwischen den Frequenzen oder den Amplituden der registrierten elektrischen Signale und der Kraft eines Muskels, aber auch mit dem Ziel, die Bewegungsabläufe oder Verletzungsprävention von Sportlerinnen und Sportlern zu optimieren. So lässt sich im Feld indirekt apparativ beobachten, wie sich die Muskelaktivierung in Arm- und Schultermuskeln ändert bei unterschiedlichen Diskusgewichten (Dinu et al., 2019). 164 Herzaktivität während einer körperlichen Betätigung (etwa Fahrrad- oder Laufergometer) der Patientin bzw. des Patienten ab. In der Regel wird die Belastungsintensität alle 120 Sekunden um 25 bis 50 Watt gesteigert. Am Ende jeder Belastungsstufe wird die Herzaktivität und der Blutdruck der Patientin bzw. des Patienten notiert. Auch etwa 5 bis 10 Minuten nach dem Ende der Belastung werden diese Parameter noch einmal erhoben. Löllgen und Gerke (2008) heben die bewährte Standardisierung von Belastungsprotokollen wie diesen und den EKG- Ableitungen hervor, nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Praxis. Obwohl neuere, nichtinvasive Methoden wie das Echokardiogramm seitdem mehr eingesetzt werden, so wird das EKG bis heute bevorzugt eingesetzt, weil es keine spezifische Ausbildung benötigt und mit wenig Vorbereitung eine hohe Sensitivität und Spezifizität bei z.B. koronaren Herzkrankheiten aufweist. Elektromyographie . Die Elektromyographie (EMG) bezeichnet eine elektrophysiologische Methode, bei der apparativ die elektrische Aktivität der Muskeln gemessen und (grafisch) dargestellt wird (Schwameder et al., 2013). So kann u. a. geklärt werden, welche Muskeln wann und wie stark an einer bestimmten Bewegung angesteuert werden. Die Muskelaktivität wird dabei durch die Form von Muskelaktionspotentialen dargestellt. Die Messung kann mithilfe einer Oberflächen-EMG oder einer intramuskulären (Nadel- und Feindraht-)EMG ausgeübt werden (Hollmann & Strüder, 2009). Bei der intramuskulären EMG sticht die oder der Forschende Nadelelektroden in den Muskel, während bei der Oberflächen-EMG Elektroden auf die Haut geklebt werden. Die Nadel-EMG kann daher die Aktionspotentiale einzelner Muskelfasern messen, wohingegen die Oberflächen-EMG die elektrische Aktivität ganzer Muskeln oder Muskelgruppen erfasst. Die oder der Forschende platziert bei der EMG die Elektroden jeweils in Richtung des Muskelfaserverlaufs. Die Referenzelektrode wird an einer weitgehend muskelfreien Region befestigt (etwa Fuß- oder Handgelenk). 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="165"?> 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität 165 Elektroenzephalographie . Die Elektroenzephalographie (EEG) erfasst mithilfe von Elektroden an der Kopfoberfläche die elektrophysiologische kortikale Gehirnaktivität ( Justen, 2019). Die Messung findet dabei - je nach Forschungsfrage - vor, während und/ oder nach einem sensorischen, motorischen oder psychischen Stimulus statt. Viele Subdisziplinen der Sportwissenschaft bedienen sich dieser Methode: So wird sie in der sportpsychologischen Forschung im Rahmen von Aktivierungs- und Aufmerksamkeitsprozessen, motorischem Lernen, Bewegungsvorstellung und Emotionen eingesetzt (Doppelmayr & Amesberger, 2012). Streng genommen ließe sich argumentieren, dass ein EEG kein Beobachtungsverfahren zum Messen von Verhalten, sondern nur von den zugrundeliegenden Mechanismen von z.B. motorischem Lernen ist. Das EEG hat in der praktischen Anwendung eindeutige Vorteile, denn die hohe zeitliche und gute räumliche Auflösung ist für viele sportwissenschaftliche Fragestellungen wie die Untersuchung von Antizipations- und Entscheidungsprozessen bedeutsam (Doppelmayr & Amesberger, 2012; S. Schneider & Strüder, 2012). Des Weiteren werden die Forschungsfragen und Teilnehmenden nicht so stark in ihren Bewegungen eingeschränkt wie z.B. bei einer fMRT-, CT- oder PET- Messung. Gleichzeitig ist zu beachten, dass bei größeren tragbaren Mehrkanalsystemen ein Rucksack getragen werden muss und die Messung empfindlicher für Bewegungsartefakte der Augen, des Körpers oder der Kabel ist (Thompson et al., 2008). Aufgrund solcher Einschränkungen wird bei einigen Geräten eine Empfehlung für laborbasierte, räumlich gebundene und ruhige Bewegungen bzw. zu untersuchende Verhaltensmustern ausgesprochen (Doppelmayr & Amesberger, 2012). Durch die technische Weiterentwicklung hin zu mobilen EEG-Geräten mit geringeren Anschaffungs-, Einsatz- und Zeitkosten ist es mittlerweile möglich, die kortikale Aktivität auch während einer sportlichen Akutbelastung oder in Form eines Langzeit-EEGs zu erfassen (Bertollo et al., 2020). Di Fronso et al. (2019) validierten den Einsatz von trockenen EEG-Kappen (im Gegensatz zu gelbasierten EEG-Kappen) mit 64 Kanälen in einer ökologisch validen trainingswissenschaftlichen Situation. Über zwei Phasen in Ruhe (mit geschlossenen Augen) jeweils vor und nach einer maximalen Belastungsphase wurde indirekt die sportinduzierte Aktivierung des Gehirns gemessen. Die Studie konnte vergleichbare Aktivierungsmuster für trockene und gelbasierte EEG-Kappen finden, was den Aufwand pro Messung verringern und das Empfinden der Teilnehmenden verbessern kann. Elektrookulografie. Die Elektrookulographie (EOG) wird häufig in der EEG- Forschung eingesetzt und misst die menschliche Augenposition, indem sie Aufschluss über Potenzialdifferenzen zwischen der Cornea (Hornhaut) und der Retina (Netzhaut) gibt (Döring & Bortz, 2015; S. 522). Dazu verwendet die oder der Forschende zwei Elektroden, die entweder rechts und links des Auges oder ober- <?page no="166"?> 166 halb und unterhalb des Auges angebracht werden. Da die im Auge vorne liegende Cornea gegenüber der dahinter liegenden Retina geringfügig positiv geladen ist, kommt es bereits durch kleinste Augenbewegungen zu Potenzialschwankungen (Döring & Bortz, 2015). So gibt die EOG Auskunft darüber, wohin und wie lange Personen ungefähr blicken. Dabei werden typischerweise horizontale und vertikale Bewegungen der Augen angezeigt. Ebenfalls kann die EOG Aufschluss über pathologische Befunde bei Erkrankungen der Retina liefern (Grehn, 2019). Auch die Lidschlagfrequenz ist mittels EOG ermittelbar. 4.4.4 Bildgebende Verfahren Bei sportwissenschaftlichen Fragestellungen ist vielfach von Interesse, wie das menschliche Gehirn die Anforderungen von physischer Aktivität bewältigt. Indirekte Beobachtungsverfahren aus der Neurowissenschaft haben daher zu einem tiefgreifenden Verständnis der neuronalen Kontrolle bei komplexen alltäglichen Bewegungen beigetragen (Hommel & Nattkemper, 2011). Im Rahmen der Sportwissenschaft sind diese Verfahren eher in der Sportmedizin, insbesondere aber auch in der neurowissenschaftlich orientierten Sportpsychologie zu finden. Zentgraf und Kohler (2020) geben dazu einen kurzen Überblick. Bildgebende Verfahren arbeiten mit Strahlung, Magnetfeldern oder Substanzen, die z.B. gespritzt werden, damit sich die untersuchten Gewebe oder Organe hervorheben oder genauer darstellen lassen. Computertomographie. Die Computertomographie (CT) wurde in den frühen 1970er-Jahren von Sir Godfrey Hounsfield entwickelt und in die klinische Praxis eingeführt (Alkadhi et al., 2011). Dank der CT lassen sich Bilder aus dem Inneren des menschlichen Körpers erzeugen. Die Patientin oder der Patient wird dazu i.d.R. liegend in einem CT-Scanner platziert, welcher einen kurzen Ringtunnel (sog. Gantry) besitzt (Flohr, 2011). In dem CT-Scanner durchleuchten Röntgenstrahlen den Körper bzw. das entsprechend zu untersuchende Körperteil (von Schulthess, 2017). Die Auswertung auf Basis von Schnittbildern durch die Röntgensignale bezieht sich dabei auf eine Vielzahl aus verschiedenen Richtungen aufgenommener Röntgenaufnahmen des entsprechenden Körperteils (von Schulthess, 2017). Durch die geringe Auflösung von Weichteilkontrasten eignet sich die CT daher im Wesentlichen für die Abbildung von Objekten mit hohem Kontrast, u. a. Knochen (Kainberger, 2005). Die CT bietet gegenüber einer normalen Röntgenaufnahme den Vorteil der überlagerungsfreien Darstellung von Körper(teil)strukturen (von Schulthess, 2017). Funktionale Magnetresonanztomografie . Mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRT) ist die Untersuchung funktioneller Eigenschaften des Gehirns möglich (F. Schneider & Fink, 2013). Die Grundlagen dieses bildgebenden Beobachtungsverfahren gehen bereits in die frühen 1990er-Jahre zurück (Belliveau et al., 1991). Die fMRT basiert auf sehr starken Magnetfeldern sowie mag- 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="167"?> 4.4 Beobachtung physiologischer Reaktionen auf physische Aktivität 167 netischen Wechselfeldern im Radiofrequenzbereich, mit denen bestimmte Atomkerne im Körper angeregt werden (F. Schneider & Fink, 2013). Im Gegensatz zu anderen Verfahren (CT oder PET) wird bei der fMRT keine belastende Röntgenstrahlung oder andere ionisierende Strahlung erzeugt oder genutzt. Das biophysikalische Grundprinzip für fMRT-Untersuchungen ist die mit erhöhter neuronaler Aktivität assoziierte Erhöhung des regionalen zerebralen Blutflusses und des Blutvolumens (Handels, 2009). So können aktive Gehirnregionen z.B. bei motorischen Aufgaben oder bewegungsassoziierten Kognitionen identifiziert werden. Außerdem werden fMRT-Studien genutzt, um Effekte von Aktivitätstrainings auf Aktivierungsmuster im Gehirn und -strukturen zu untersuchen (A. G. Chen et al., 2016; Won et al., 2019). Eine besondere Faszination von Aktivierungsmustern liegt bei der Bewegungsvorstellung: Welche Regionen des Gehirns sind aktiv während der Bewegungsvorstellung, ist dies vergleichbar mit der Aktivierung bei der tatsächlichen, physischen Ausführung und wie ähnlich sind sich die Aktivierungen bei der Lernentwicklung? Um dies zu testen, sollten Studienteilnehmende für zwei Wochen mithilfe von Videoaufnahmen und Eigenversuchen vorgegebene Bewegungssequenzen sowohl physisch als auch mental trainieren (Krüger et al., 2020). Die fMRT-Daten konnten zeigen, dass sowohl durch physisches als auch durch mentales Training ein je nach Modalität spezifisches Aktivierungsmuster aufgerufen wird. Dies war besonders auffällig im hinteren Kleinhirn, wo die Aktivierung um einiges höher war bei der tatsächlichen Ausführung. Neben der direkt beobachtbaren Leistungssteigerung nach zwei Wochen sind nur bildgebende Verfahren wie ein fMRT in der Lage, die zugrundeliegenden kognitiven Mechanismen indirekt zu operationalisieren. Positronen-Emissions-Tomografie. Wie die fMRT gehört die Positronen-Emissions- Tomografie (PET) zu den bildgebenden Untersuchungsverfahren. PET nutzt die Tatsache, dass aktive Körperregionen besonders viel Sauerstoff und Glukose verbrauchen (Willmann et al., 2018). Bei einer Untersuchung mit PET wird Versuchspersonen eine Flüssigkeit (sog. Tracer) injiziert, der eine radioaktiven Substanz zugesetzt wurde (Beuthien-Baumann, 2018; Miederer & Boecker, 2012). Bei dieser radioaktiven Substanz handelt es sich um den Ersatz einer im Körper natürlich vorkommenden Substanz wie z.B. Stickstoff. Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper können dadurch sichtbar gemacht werden, dass Bilder aus der Strahlung, die der Körper in den einzelnen Regionen wieder abgibt, berechnet werden ( Jansen-Osman, 2008). Je nach Stoffwechselaktivität reichert sich die radioaktive Substanz unterschiedlich stark in verschiedenen Körperregionen (etwa dem Gehirn) an (Willmann et al., 2018). Mittels Computerprogrammen wird dann eine räumliche Darstellung der Aktivitätsverteilung im Körper ersichtlich und Aktivitätsunterschiede lassen sich auf den PET-Bildern gut erkennen (Miederer & Boecker, 2012). <?page no="168"?> 168 PET-Studien haben das Potenzial, unser Verständnis von sport-assoziierten Effekten auf unser Gehirn, die Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper und psychophysiologischen Mechanismen, wie etwa Runner’s High (ein häufig bei aeroben Betätigungen auftretender euphorischer Gemütszustand), Sportsucht oder Schmerzverarbeitung zu untersuchen (Boecker et al., 2008). 4.4.5 Transkranielle Magnetstimuluation Die transkranielle Magnetstimuluation (TMS) bietet einen Erkenntnisgewinn über die an einer (motorischen) Aufgabe beteiligten Gehirnregionen. Sie stellt eine nichtinvasive Routinemethode zur Untersuchung des zentralmotorischen Systems dar und wird insbesondere bei verschiedenen Indikationen in Psychiatrie und Neurologie sowie zum Verständnis von Bewegungsvorstellungen angewandt (Pitcher et al., 2021; Valero-Cabré et al., 2017). In der TMS werden mithilfe starker Magnetfelder einzelne ausgewählte Bereiche des Gehirns entweder stimuliert oder gehemmt (Wöhrle, 2020). Bei der Patientin bzw. dem Patienten wird im wachen Zustand für eine kurze Zeit (~500µs) ein starkes Magnetfeld (>1 Tesla) mittels einer Magnetspule auf der Kopfoberfläche positioniert und das Gehirn empfängt somit einen kurzen Magnetimpuls (Vlachos et al., 2017). Dieses Magnetfeld führt innerhalb des Schädels zur Induktion elektrischer Felder im Gehirn, was wiederum eine Aktivierung von Nervenzellen bewirkt. Die Effekte einzelner TMS-Pulse werden typischerweise „durch die Ableitung sogenannter Motorisch Evozierter Potenziale (MEP) im Zielmuskel“ gemessen (Vlachos et al., 2017, S. 14). Diese MEPs werden durch EMGs erfasst und quantifizieren die kortikospinale Erregbarkeit. Durch die Möglichkeit, tieferliegende neuronale Areale wie den motorischen Kortex zu stimulieren, untersuchen Studien oftmals den Zusammenhang zwischen Neuronen und der Aktivierung von Muskelgruppen. Neben gesunden Teilnehmenden werden TMS-Interventionen heute bei psychiatrischen Krankheitsbildern (z.B. Depression; Sonmez et al., 2019) und insbesondere in der Therapie von altersassoziierten motorischen Defiziten und/ oder neurologischen Erkrankungen (u. a. Parkinson) eingesetzt (Latorre et al., 2019). Goodall et al. (2014) empfahlen TMS als Methode insbesondere zur Untersuchung von Ermüdungserscheinungen, motorischem Lernen und neuronaler Adaptation. Eine Interventionsstudie nutzte TMS, um das Erlernen der Freiwurfbewegung durch Bewegungsbeobachtung und Bewegungsvorstellung zu vergleichen (Wright et al., 2018). Teilnehmende sollten eine Videoaufnahme eines werfenden Basketballspieler beobachten (action observation) und sich danach nur bei der dazugehörigen Tonspur die Bewegung vorstellen (motor imagery). In der letzten Bedingung wurden beide Lernstrategien vereint. Ein einmaliger TMS-Impuls stimulierte zum Moment des Abwurfs das linke primär-motorische Areal, um die 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="169"?> 4.5 Fazit und Ausblick 169 motorische Ausführung zu simulieren. Die aufgezeichneten MEPs am Unterarm waren in der kombinierten Bedingung von Bewegungsbeobachtung und -vorstellung am stärksten, was für eine höhere Aktivierung des Prämotorkortex und somit des Motorkortex spricht. Eine solche Kombination von Lernstrategien und TMS könnte dementsprechend im Fertigkeitserwerb eingesetzt werden. Es ist zu beachten, dass solche Beobachtungsverfahren mit kognitiver Stimulation sich vor allem zu Beginn des Lernens anbieten, da sich motorische Expertise durch reduzierte kognitive Aktivität bzw. eine Automatisierung der Prozesse auszeichnet (Di Fronso et al., 2016). 4.5 Fazit und Ausblick Beobachtungsverfahren, die L-, Q- und T-Daten mit dem Anspruch einer möglichst hohen Objektivität, Reliabilität und Validität erheben und messen, sind einerseits ein zentraler Baustein im sportwissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Andererseits sind sie ein wichtiges Element in der Praxis des Sports und allen Anwendungsfeldern, die sich mit Bewegung und physischer Aktivität beschäftigen, sei es im leistungssportlichen Training und Wettkampf, in der Rehabilitation, dem Schulsport, im Gesundheitssport und in vielen Praxisfeldern mehr. Das Besondere und die Herausforderung der Sportwissenschaft und ihren Praxisfeldern liegt in der hohen Heterogenität. Wir haben in diesem Buch einen Eindruck über die Vielfältigkeit der Beobachtungsverfahren gegeben. Dies kann natürlich angesichts der zahlreichen Zugangsmöglichkeiten nur exemplarisch angerissen geschehen. Der Gegenstand der Sportwissenschaft betrifft alle Formen physischer Aktivität, Motorik, Bewegung und Sport. Dies eint zwar die Disziplinen der Sportwissenschaft, die theoretischen Grundlagen und die Methoden beziehen sich aber häufig auf zugrundeliegende Basiswissenschaften (z.B. Medizin, Physik, Psychologie, Pädagogik usw.) und werden für die spezifischen Bedürfnisse der Sportwissenschaft und der Sportpraxis adaptiert, weiterentwickelt oder gar neu erfunden. Dies zeigt sich auch im Bereich der Beobachtungsverfahren. Insofern arbeiten die sportwissenschaftlichen Disziplinen, die von den Naturwissenschaften bis in die Geisteswissenschaften reichen, untereinander eng zusammen, aber eben auch mit den zugehörigen Basiswissenschaften. Sportwissenschaft ist in diesem Sinne ein junges, aufstrebendes, gleichermaßen interdisziplinäres wie transdisziplinäres Projekt, das Modellcharakter für die Überwindung enger Fächergrenzen in der Wissenschaft und für die Hochschulen haben kann, in der die Lösung von themenspezifischen Problemen in Mittelpunkt steht. In der Sportwissenschaft, sei es in der Forschung oder auch Anwendung, kommt es auch aus diesen Gründen nicht nur strukturell zu themenspezifischen Orien- <?page no="170"?> 170 tierungen innerhalb von Hochschuleinrichtungen (wie die Ausschreibung von themenspezifischen Professuren), sondern auch zur Einrichtung von großvolumigen sogenannten „Bewegungslaboren“, „Open Labs“ oder auch „Messplätzen“. In solchen Arbeits- und Forschungsstätten können z.B. Beobachtungs- und Analyseverfahren aus Sportmedizin, Biomechanik, Bewegungs- und Verhaltenswissenschaften zu größeren Einheiten verschmelzen und Bewegung und physische Aktivität mit ihren verschiedenen Teilkomponenten zum gleichen Zeitpunkt mit unterschiedlichen Verfahren beobachtet und analysiert werden, um zu komplexen Datensätzen zusammengeführt zu werden. Ungeheure Datenmengen („Big Data“) können heute aus diversen Körperregionen und Systemen in Echtzeit zusammengetragen, analysiert, durch komplexe mathematische Verfahren modelliert und durch eine darauffolgende Bildgebung reduziert und visualisiert werden. Die nächsten Entwicklungsschritte sind schon in vollem Gange, um z.B. Bewegungen und physische Aktivität in virtuellen Räumen zu beobachten und zu analysieren. Ein gutes Beispiel ist das sogenannte GRAIL-System (www.motekmedical.com/ solution/ grail/ ), in dem die Analyse von Alltagsbewegungen (z.B. von Seniorinnen und Senioren) oder auch sportlichen Bewegungsabläufe (z.B. von Leistungssportlerinnen und -sportlern) im virtuellen Raum als interaktive VR-Projektion in Echtzeit möglich ist. Diese rasante Entwicklung wird und wurde möglich durch den Aufstieg der Digitalisierung und Miniaturisierung im Allgemeinen sowie der schnellen und drahtlosen Datenübertragung und der Kommunikation über digitale Plattformen. Insofern sind Beobachtungsverfahren immer auch historisch-kulturell geprägt und gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen unterlegen. Diese Entwicklung wurde in diesem Kapitel zusammenfassend beschrieben. Ein weiteres Beispiel ist die Erforschung von Social Media (z.B. Facebook und Twitter) im Sportkontext, die erst im Jahre 2010 beginnt (folgt man der Analyse von Kautz, 2018). Es sei hier erwähnt, dass dieser Einsatz neuer Technologien entsprechend auch (neue) ethische Fragen mit sich bringt, nicht nur für Beobachtungsverfahren, sondern auch für Befragungen, die zunehmend digitalisiert stattfinden: So formulieren Harriss und Atkinson (2015), dass sportwissenschaftliche Forschungsprojekte, die sich Social-Media-Plattformen zum Zwecke der Rekrutierung oder Datensammlung bedienen, von einem Ethik-Komitee hinsichtlich der ethischen Unbedenklichkeit begutachtet werden müssen. Dies gilt auch bzgl. der vollständigen Informiertheit (engl.: informed consent ): Anonymität bzw. Privatsphäre und Datenschutz müssen auch in diesem Kontext gesichert sein. Dies gilt natürlich nicht nur für Social Media, sondern für alle Formen von Erhebungen, ob nun digital oder traditionell. Manche „große“ Lösungen wie bspw. große Bewegungs- oder VR-orientierte Labore sind zurzeit nur an gut ausgestatteten Hochschulen, Instituten, Firmen und (nur selten) Vereinen möglich, weil diese Beobachtungstechnologien bereits in 4 Die Beobachtung in der Sportwissenschaft <?page no="171"?> Literatur 171 der Anschaffung und auch in der Wartung finanziell anspruchsvoll sind und die Bedienung sowie die Interpretation der Datenmengen ein entsprechend hochklassig ausgebildetes Personal erfordert. Drahtlose Übertragung, Digitalisierung und Miniaturisierung führen aber auch umgekehrt zu kostengünstigeren und leichter handhabbaren mobilen Geräten, die besonders auch in der Sportpraxis in „lebensechteren“ Situationen mit höherer externer Validität (z.B. auf dem Sportplatz oder in der Rehaklinik) wenig aufwändig und gewinnbringend eingesetzt werden können. Dies können bspw. miniaturisierte, hochauflösende Kameras in Sporthallen sein oder der mobile Einsatz von Eye-Trackern, die bis vor einigen Jahren nur stationär im Labor betrieben werden konnten (siehe z.B. Loffing et al., 2017). Der technische Fortschritt und die gestiegenen Möglichkeiten von Beobachtungsverfahren in der Sportwissenschaft, sei es traditionell oder digital, können inzwischen im kleinen Maßstab sowie in komplexen Umwelten umgesetzt werden. Wichtig ist dabei vor allem zu beachten, dass mit dem eingesetzten Verfahren tatsächlich das Verhalten bzw. die Merkmale objektiv und genau (reliabel) beobachtet und gemessen wird, was man auch beabsichtigt zu beobachten und zu erfassen (Validität). Literatur ActiGraph. (n.d.). Retrieved July 27, 2021, from https: / / actigraphcorp.com/ academic-research/ (zuletzt zugegriffen 05.01.2022). Ainsworth, B. E., Cahalin, L., Buman, M., & Ross, R. (2015). The Current State of Physical Activity Assessment Tools. 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Studienanfänger: innen setzen sich darin bereits zu Beginn mit Bewegungs- und Trainingswissenschaft, Sportpädagogik, Sportpsychologie, Sportsoziologie, Sportgeschichte, Sportmedizin und Sportökonomik auseinander. In diesem Lehrbuch stellen ausgewiesene Sportwissenschaftler: innen diese Teildisziplinen im Detail vor. Jedes Kapitel wird mit Lernzielen eingeleitet und durch ein Praxisbeispiel und Kontrollfragen abgeschlossen. Als Service bietet das Buch Wichtiges zum wissenschaftlichen Arbeiten und skizziert Berufsfelder für Absolvent: innen sportwissenschaftlicher Studiengänge. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="192"?> BUCHTIPP Norbert Schütte Grundwissen Sportmanagement 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021, 246 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5512-1 eISBN 978-3-8385-5512-6 Der Sportsektor boomt und die Bedeutung des Sportmanagements für große und kleine Vereine, Verbände und Sportunternehmen wächst. Das notwendige sportökonomische Grundwissen für zukünftige Sportmanager: innen vermittelt Norbert Schütte in diesem Buch. Er geht auf die Besonderheiten des Sportmanagements ein, erklärt allgemeine Managementprinzipien und deren Bedeutung für den Sport. Neu in der 2., überarbeiteten und erweiterten Auflage sind ein Kapitel zum Krisenmanagement und zum Agilen Management. Daneben hat der Autor die Abschnitte zur Kontingenztheorie und zum strategischen Management vertieft. Der perfekte Einstieg für alle, die sich der wirtschaftlichen Seite des Sports widmen wollen. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="193"?> Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de ,! 7ID8C5-cfhhgh! ISBN 978-3-8252-5776-7 Die Beobachtung ist ein zentrales Verfahren der wissenschaftlichen Datenerhebung. Sie gewinnt durch die technische Entwicklung noch weiter an Bedeutung: Geräte ermöglichen die automatisierte Aufzeichnung von Verhalten, Bewegungen und (Körper-)Reaktionen auch über längere Zeiträume. Die Autor: innen stellen die methodischen Spezifika von Beobachtungen dar und erläutern die Durchführung von qualitativen und quantitativen Formen der Beobachtung sowie die daraus entstehenden Daten. Auf dieser Grundlage werden exemplarisch relevante Beobachtungsstudien aus der Sportwissenschaft vorgestellt und fachtypische Fragestellungen untersucht. Dabei gehen die Autor: innen unter anderem auf Spielanalysen, Bewegungsanalysen und die Beobachtung von physiologischen Prozessen ein. Sportwissenschaft QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel
