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Systematische Theologie

0715
2024
978-3-8385-5781-6
978-3-8252-5781-1
UTB 
Christian Danz
10.36198/9783838557816

Das vorliegende Lehrbuch bietet eine einführende Darstellung in die Systematische Theologie sowie ihre Themen und Probleme. Behandelt werden die Stellung der Systematischen Theologie in der akademischen Theologie, ihre innere Gliederung und die Geschichte des Fachs mit Blick auf den Wandel ihres Selbstverständnisses als einer theologischen Disziplin. Auf dieser Grundlage thematisiert das Lehrbuch alle relevanten Lehrstücke einer theologischen Dogmatik in einer problemgeschichtlichen Perspektive. Benutzerinnen und Benutzern des Lehrbuchs wird die Systematische Theologie als eine wissenschaftliche Darstellung der christlichen Religion erschlossen, die zum eigenen Weiterdenken anregen soll.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-5781-1 Christian Danz Systematische Theologie 2. Auflage Das vorliegende Lehrbuch bietet eine einführende Darstellung in die Systematische Theologie sowie ihre Themen und Probleme. Behandelt werden die Stellung der Systematischen Theologie in der akademischen Theologie, ihre innere Gliederung und die-Geschichte des Fachs mit Blick auf den Wandel ihres Selbstverständnisses als einer theologischen Disziplin. Auf dieser Grundlage thematisiert das Lehrbuch alle relevanten Lehrstücke einer theologischen Dogmatik in einer problemgeschichtlichen Perspektive. Benutzerinnen und Benutzern des Lehrbuchs wird die Systematische Theologie als eine wissenschaftliche Darstellung der christlichen Religion erschlossen, die zum eigenen Weiterdenken anregen soll. Theologie | Religionswissenschaft Systematische Theologie 2. A. Danz Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2024-06-26_5781-1_Danz_M_4613_PRINT.indd Alle Seiten 2024-06-26_5781-1_Danz_M_4613_PRINT.indd Alle Seiten 26.06.24 14: 09 26.06.24 14: 09 <?page no="1"?> utb 4613 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> - - - Prof. Dr. Christian Danz lehrt Systematische Theologie A.B. an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Uni‐ versität Wien. <?page no="3"?> Christian Danz Systematische Theologie 2., vollständig überarbeitete Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 2., vollständig überarbeitete Auflage 2024 1. Auflage 2016 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838557816 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4613 ISBN 978-3-8252-5781-1 (Print) ISBN 978-3-8385-5781-6 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5781-1 (ePub) Umschlagabbildung: Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Rom, Vatikan. © akg-images/ Erich Lessing. Autorenfoto: Erich Foltinowsky, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abruf‐ bar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 1 13 1.1 13 1.2 14 1.3 18 1.4 23 1.4.1 24 1.4.2 28 1.4.3 32 2 37 2.1 37 2.1.1 38 2.1.2 43 2.2 48 2.3 54 2.3.1 55 2.3.2 59 2.3.3 60 2.4 65 2.4.1 67 2.4.2 71 Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was kann eine Einführung leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu Systematische Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie . . Die Gliederung der Systematischen Theologie . . . . . . . . . . Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss . . . . . . Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike . . . . Die Theologie der antiken Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herausbildung der frühchristlichen Theologie in der Alten Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zeitalter der großen Summen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Theologie der Reformatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Calvin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dogmatik des Altprotestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung . . . . Pietismus und Deismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verwissenschaftlichung der Theologie in der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.5 77 2.5.1 78 2.5.2 84 2.5.3 89 2.5.4 94 2.6 97 2.6.1 99 2.6.2 102 2.6.3 107 2.6.4 113 3 117 3.1 117 3.2 120 3.3 124 3.4 128 3.5 131 4 137 4.1 137 4.1.1 138 4.1.2 146 4.1.3 149 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntniskritik und Religionsbegründung (Immanuel Kant) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion als Bestandteil des Bewusstseins (Friedrich Schleiermacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion und ihrer Geschichte (Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie als Erfassung der Besonderheit der christlichen Religion (Albrecht Ritschl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Theologie als autonome Wissenschaft . . . . Religionsgeschichte und Verwissenschaftlichung der Theologie (Ernst Troeltsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie als Neubegründung der christlichen Religion (Karl Barth und Paul Tillich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie als Universalwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20.-Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die gegenwärtige Lage der protestantischen Theologie . . . Methoden der Systematischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind Methoden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die historisch-kritische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturwissenschaftliche Methoden: Voraussetzungen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Theologie als Konstruktion der Selbstsicht der christlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge . . . . . . . . . . . Der allgemeine Religionsbegriff und seine Probleme . . . . . Christliche Religion als Kommunikationsgeschehen . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.2 153 4.2.1 153 4.2.2 163 4.3 166 5 171 5.1 172 5.1.1 172 5.1.2 187 5.1.3 200 5.2 217 5.2.1 218 5.2.2 235 5.2.3 251 5.3 268 5.3.1 269 5.3.2 275 5.3.3 289 5.4 302 6 307 6.1 308 6.1.1 309 6.1.2 319 6.1.3 334 6.2 347 6.2.1 348 Die Stellung des Christentums unter den Religionen . . . . . Religionstheologische Diskurse: Gibt es eine absolute Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheit und Absolutheit der Religionen in einer pluralismusoffenen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott und die christliche Religion: Theologie . . . . . . . . . . . . Grundbegriffe der dogmatischen Gotteslehre des Luthertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Gotteslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit Gottes in der christlichen Religion . . . . . Gott und Mensch: Jesus der Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbegriffe der dogmatischen Christologie des Luthertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit Jesu Christi in der christlichen Religion . Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist . . . . . . . . Grundbegriffe der dogmatischen Pneumatologie des Luthertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit des Heiligen Geistes in der christlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der dreieinige Gott als Ereignis des Glaubens . . . . . . . . . . . Glaube und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche . . . . . Grundbegriffe der dogmatischen Ekklesiologie des Luthertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit der Kirche in der christlichen Religion . . Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis . . . . . . . . Grundbegriffe der dogmatischen Lehre von den Heilsmedien des Luthertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 6.2.2 364 6.2.3 380 6.3 395 6.3.1 396 6.3.2 411 6.3.3 428 6.4 441 6.4.1 442 6.4.2 449 6.4.3 463 475 501 505 510 Problemfelder der Lehre von den Heilsmedien . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit der media salutis in der christlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis Grundbegriffe der dogmatischen Lehre von der Heilsaneignung im Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Lehre von der Heilsaneignung . . . . . . . . Die Wirklichkeit des Heils in der christlichen Religion . . . Die Vollendung der christlichen Religion: Eschatologie . . . Grundbegriffe der dogmatischen Lehre von den letzten Dingen im Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemfelder der Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirklichkeit des ewigen Lebens in der christlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Vorwort zur zweiten Auflage Dass diese Systematische Theologie nach nur wenigen Jahren in der zweiten Auflage erscheinen kann, freut mich sehr. Da ich jedoch meinen theologi‐ schen Ansatz inzwischen weitergeführt habe, erschien es mir nicht sinnvoll, die erste Auflage einfach nur mit Verbesserungen und Korrekturen versehen noch einmal abzudrucken. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, das Buch insbesondere in der materialen Dogmatik völlig neu zu schrei‐ ben. Wie bei anderen prominenten zweiten Auflagen ist gegenüber der Erstfassung kein Stein auf dem anderen geblieben. Erhalten haben sich die Grundstruktur des Aufbaus und die didaktische Form eines Lehrbuches. Doch beides ist nun auf der Grundlage einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation ausgeführt. Dadurch hat dieser Entwurf nicht nur eine geschlossenere Form bekommen. Auch die Darstel‐ lung des dogmatischen Stoffs erfüllt mehr die Aufgabe eines Lehrbuches, da jeweils die Grundlagen der Lehrtradition sowie die mit ihr verbundenen Probleme aufbereitet werden und vor diesem Hintergrund ein Lösungsvor‐ schlag im Rahmen einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation angeboten wird. Benutzerinnen und Benutzern des Buches ist somit die Möglichkeit gegeben, sich mit der dogmatischen Lehrtradition des Luthertums sowie den aus ihr resultierenden Schwierigkeiten vertraut zu machen. Die Lösungen, die zu den systematischen Problemen der dogma‐ tischen Themen entwickelt werden, muss man nicht übernehmen. Klar ist aber, dass jede Antwort sich dem diskutierten Problemhorizont stellen und ihm Rechnung tragen muss. Eine einfache Wiederholung von Aussagen der Reformatoren oder der altlutherischen Theologie reicht im 21.-Jahrhundert ersichtlich nicht mehr aus. Auf diese Weise nimmt auch die Neubearbeitung dieser Systematischen Theologie die Intention der Erstfassung auf: Das Buch soll zum eigenen Durchdringen der dogmatischen Themen und zum Mitdenken anregen. Auch die zweite Auflage dieses Buches wäre nicht ohne Unterstützung zustande gekommen. An erster Stelle danke ich meiner Frau Uta-Marina Danz für alle ihre Hilfe und kritischen Anmerkungen zu den ausgeführten Gedankengängen. Dass manch komplizierte Gedankenwendung klarer ge‐ worden ist, verdanke ich ihr. Zu danken habe ich auch den Studierenden der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, die in Vorlesun‐ <?page no="10"?> gen Vorfassungen dieser Systematischen Theologie hörten, für die Diskus‐ sion des Entwurfs. Herr Immanuel Carrara (Wien) hat dankenswerterweise die Register erstellt. Dem Verlag Narr Francke Attempto in Tübingen und seinem Lektor Stefan Selbmann habe ich für die gute Zusammenarbeit sowie die Geduld zu danken, derer es bedurfte, die zweite Auflage auf den Weg zu bringen. Wien, Oktober 2023 Christian Danz 10 Vorwort zur zweiten Auflage <?page no="11"?> Vorwort zur ersten Auflage Die Systematische Theologie gehört zu den Themenfeldern eines Studiums der evangelischen Theologie, welches vielen Studierenden zunächst als ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘ erscheint. Dem kann nur eine Auseinandersetzung mit dem Fach abhelfen. Die vorliegende Einführung in Grundfragen und zentrale Themenstellungen der Systematischen Theologie möchte dazu einen Beitrag leisten. Das Ziel des Buches besteht nicht in der Präsentation von abschließenden Antworten, die man repetieren könnte. Es soll vielmehr zu eigenem Mit- und Andersdenken anregen. Ob das gelungen ist, kann sich allein bei der Lektüre sowie dem Studium der Ausführungen zeigen. Ohne die vielfältigste Hilfe und Unterstützung wäre die Abfassung des Buches nicht möglich gewesen. Mehr als es mit Worten möglich ist, danke ich meiner Frau Uta-Marina Danz. Herr stud. theol. Friedrich Schumann (Wien) hat dankenswerterweise die Register erstellt. Danken möchte ich dem A. Francke Verlag Tübingen und Basel für die Aufnahme des Buches in sein Verlagsprogramm sowie die gute Zusammenarbeit. Wien, Januar 2016 Christian Danz <?page no="13"?> 1 Einleitung 1.1 Was kann eine Einführung leisten? Was man von der Philosophie behauptet hat, eine Einführung in sie sei selbst schon Philosophie, trifft auch auf die Systematische Theologie zu. Das scheint jeden Versuch, in eine solche Disziplin einzuführen, mit kaum lösbaren Problemen zu konfrontieren. Womit fängt man an, wenn stets schon das Ganze vorausgesetzt ist? Am besten beginnt man mit elementaren Grundbegriffen, Definitionen und Abgrenzungen des Fachs von anderen. Das erwartet man von einer Einführung in eine wissenschaftliche Disziplin, einen ersten umfassenden Überblick über ihren Gegenstand, ihre innere Gliederung sowie grundlegende Literatur. Es wird auch in der vorliegenden Einführung in die Systematische Theologie geboten. In elementarer Weise stellt das Buch zentrale Fragestellungen dieses theologischen Fachs vor dem Hintergrund ihrer Problemgeschichte vor. Die Präsentation von Basics sowie Grundinformationen zur Systematischen Theologie erschöpft sich freilich nicht darin. Die Darstellung zielt vielmehr auf das eigene Mitdenken und Durchdenken der präsentierten Themenstellungen. Ohne eine eigene Auseinandersetzung mit den Fragestellungen des Fachs sowie der Literatur ist das nicht möglich. Damit ist schon gesagt, was eine Einleitung nicht vermag. Sie kann ihren Leserinnen und Lesern weder das eigene Denken noch die eigene Urteilsbildung abnehmen. Die vorliegende Einführung in die Systematische Theologie bietet einen Leitfaden für den Studienbetrieb evangelische Theologie sowie im Unter‐ richtsfach evangelische Religion. Der Grundriss der Disziplin ist sowohl für Lehrveranstaltungen als auch für das Selbststudium konzipiert. Das Buch setzt ein mit einer knappen Skizze des akademischen Fachs Systema‐ tische Theologie, ihres Unterschieds zu anderen theologischen Disziplinen und ihrer Gliederung. Vor dem Hintergrund der theologiegeschichtlichen Entwicklung erörtert der Band sodann die methodischen Grundlagen der Systematischen Theologie sowie ihren Gegenstand, die christliche Religion. Am Leitfaden des Glaubensbegriffs werden schließlich grundlegende The‐ men dieser Disziplin dargestellt. Sie sind durchgehend auf den Glauben bezogen und als dessen strukturierende Elemente verstanden. Der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion ist der Gegen‐ stand der Systematischen Theologie. <?page no="14"?> Der Band bietet nicht nur elementare Informationen zur Systematischen Theologie, er ist als ein Arbeitsbuch angelegt. Ausgewählte Literatur zu den vorgestellten Themen bietet den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zur Vertiefung und eigenen Weiterarbeit. Zugleich sollen die Literaturhinweise den gegenwärtigen Forschungsstand in seiner Komplexität erschließen. en informieren über grundlegende Themen- und Problemstellungen der Systematischen Theologie. Kolumnentitel erleichtern und strukturieren die Lektüre des Buches. Fremdwörter und einschlägige Fachbegriffe werden am Ende des Buches in einem Glossar erläutert. Im Text sind solche Begriffe mit einem Asterisk gekennzeichnet. 1.2 Wozu Systematische Theologie? Wer ein Studium der evangelischen Theologie beginnt und sich mit seinem Studienplan vertraut macht, sieht sich mit einem Fach konfrontiert, wel‐ ches sich Systematische Theologie nennt. Was verbirgt sich hinter dieser eigentümlichen Fachbezeichnung, und wozu studiert man ein solches Fach? Informieren sich Studienanfängerinnen und Studienanfänger in einschlä‐ gigen Lexika, so werden sie bald feststellen, dass es sehr verschiedene Auskünfte darüber gibt, womit sie es in dieser akademischen Disziplin zu tun bekommen. Jede systematische Theologin und jeder systematische Theologe scheint ein eigenes Verständnis des Fachs zu haben. Aber nicht nur das. Systematische Theologie begegnet einmal als Sammelbezeichnung für eine theologische Disziplin und zum anderen als Titel von Büchern. Im letzteren Fall meint der Begriff so viel wie Darstellung der christlichen Lehre und entspricht Bezeichnungen wie Dogmatik oder Glaubenslehre. Systematische Theologie gehört zum Fächerkanon des akademischen Studiums der protestantischen Theologie, wie er sich in der Moderne her‐ ausgebildet hat. Entstanden ist die Disziplin im Zusammenhang mit der Aus‐ differenzierung der Wissenschaften um 1800 in der sogenannten *Sattelzeit der Moderne. Seitdem fasste man an den evangelisch-theologischen Fakul‐ täten eine Reihe von Einzeldisziplinen wie Religionsphilosophie, Dogmatik, Ethik u. a. unter der Bezeichnung zusammen. An katholisch-theologischen Fakultäten hingegen hat sich keine solche fächerzusammenfassende Diszi‐ plin etabliert. In der Regel werden hier Fundamentaltheologie, Dogmatik, Moraltheologie, Sozialethik u.-a. als eigenständige Fächer gelehrt. 14 1 Einleitung <?page no="15"?> Besonder‐ heit der Systemati‐ schen Theologie Womit beschäftigt sich Systematische Theologie, und wozu ist sie für die theologische Ausbildung von Lehramts- und Pfarramtsstudierenden nötig? Sie thematisiert die christliche Religion. Doch mit ihr beschäftigen sich so‐ wohl andere theologische als auch nichttheologische Disziplinen. Worin be‐ steht also die Besonderheit der Systematischen Theologie, und was unter‐ scheidet ihren Zugriff auf die christliche Religion von dem anderer Wissenschaften, die sich mit ihr beschäftigen? Sie fragt nach dem Wesen des Christentums als Religion. Dabei interessiert sie nicht primär die historische oder soziologische Entwicklung der christlichen Religion. Zwar muss eine Systematische Theologie berücksichtigen, dass das Christentum eine ge‐ schichtliche Religion ist, die einem Wandel unterliegt. Aber das ist nicht in erster Linie ihr Gegenstand. Indem sich Systematische Theologie mit dem Wesen der christlichen Religion beschäftigt, thematisiert sie das, was sie zu der besonderen Religion macht, die das Christentum ist. Hierzu reicht es nicht aus, christliche Aussagen zusammenzustellen und diese in einen ko‐ härenten Zusammenhang zu bringen. Eine solche Auffassung, die die Auf‐ gabe der Systematischen Theologie darin sieht, ein verbindliches System von Aussagen zusammenzustellen, die das Wesentliche der christlichen Re‐ ligion enthalten, ist ungenügend. Als geschichtliche Religion wandelt sich das Christentum in der Geschichte. Im Verlauf seiner Geschichte hat es neue Aussagen, Vorstellungen und Bilder aufgenommen, die weit über seine bi‐ blische Gestalt hinausgehen. Gegenwärtige Formen der christlichen Reli‐ gion unterscheiden sich signifikant von früheren Ausprägungen wie den reformatorischen oder neutestamentlichen Christentümern. An welche sei‐ ner Gestalten sollte man sich dann halten, um aus ihnen grundlegende Aus‐ sagen über das Christentum zu gewinnen? Eine Zusammenfassung von christlichen Aussagen greift jedoch noch aus einem weiteren Grund zu kurz. Auf der Ebene der inhaltlichen Aussagen, die so zusammengestellt werden, um den Kern der christlichen Religion zu erfassen, lässt es sich nämlich noch nicht hinreichend erkennen, ob es sich bei ihnen um Religion handelt. In‐ haltliche Aussagen können auch historisch, ästhetisch, politisch etc. gemeint sein. Wenn es einer Systematischen Theologie um die Bestimmung des We‐ sens der christlichen Religion geht, dann muss sie den religiösen Gebrauch der inhaltlichen Aussagen des Christentums thematisieren. Daraus ergibt sich als ihre Aufgabe, das innere Funktionieren des Christentums als Reli‐ gion zu beschreiben. Das ist nicht nur ihr Gegenstand, das macht die Sys‐ tematische Theologie auch zu einer eigenständigen Wissenschaft. 1.2 Wozu Systematische Theologie? 15 <?page no="16"?> Systemati‐ sche Theo‐ logie Systematische Theologie ist eine wissenschaftliche Disziplin und als sol‐ che unterschieden von der Religion, die von Menschen praktiziert wird. Seit der europäischen Aufklärung unterscheiden protestantische Theologinnen und Theologen zwischen Theologie und Religion. Unterscheidung von Theologie und Religion Die Unterscheidung von Theologie und Religion geht auf den Hallenser Theologen Johann Salomo Semler (1725-1791) zurück, und sie hängt zusammen mit der Etablierung von Fachwissenschaften am Ende des 18. Jahrhunderts. Theologie wird nun als eine professionelle Fach‐ wissenschaft verstanden, die bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzt und das alte, von Martin Luther (1483-1546) geprägte Verständnis als oratio, meditatio, tentatio (beten, meditieren und an‐ fechten) ersetzt. Dabei versteht Semler Theologie und das von ihr ausgearbeitete Lehrsystem als geschichtlich wandelbar und partikular. Universal und zeitlos gültig ist hingegen die Religion. Es ist jedoch die Theologie, die sich von der Religion unterscheidet, auf die sie sich bezieht. Es handelt sich um eine Unterscheidung, die von der wissenschaftlichen Theologie gemacht wird, um die lebensweltlich gelebte Religion von theologischer Bevormundung zu befreien und ihre Autonomie in der Theologie zu berücksichtigen. Mit der Unterscheidung von Theologie und Religion ist ein Folgeproblem verbunden. Sie etabliert eine neue Ebene, nämlich die der wissenschaftlichen Theologie gegenüber der christlichen Religion. Wenn aber Theologie und Religion unterschieden sind, wie bezieht sich jene dann auf ihren Gegen‐ stand? Seit der Einführung dieser Unterscheidung in der Aufklärung besteht in der protestantischen Theologie die Tendenz, beide Ebenen auf eine un‐ klare Weise zu vermischen. Entweder versteht man Systematische Theologie als eine Art Verlängerung der christlichen Religion in die Wissenschaft hinein, oder jene wird als Ort der Wahrheit von dieser konzipiert. Beides ist ungenügend und hebt den Wissenschaftscharakter einer Systematischen Theologie auf. Fasst man die Unterscheidung von Theologie und Religion so, dass es der christliche Glaube oder die Religion ist, die sich in der Theologie selbst auslegt und auf sich besinnt, dann ist das Subjekt der Systematischen Theologie der Glaube und nicht die Theologin oder der Theologe. Doch wie soll der Glaube in die von ihm unterschiedene Wissenschaft gleichsam 16 1 Einleitung <?page no="17"?> Systemati‐ sche Theo‐ logie als Wissen‐ schaft Aufgabe ei‐ ner Syste‐ hineinspringen und in ihr über sich selbst nachdenken? Ein solches Ver‐ ständnis der Systematischen Theologie hätte nicht nur mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, es blendet auch die konstruktive Tätigkeit von Theolo‐ ginnen und Theologen aus, die die christliche Religion thematisieren. Diese sind es, die bestimmte Elemente von ihr auswählen und als für sie wesentlich erachten. Versteht man hingegen die Systematische Theologie als Ort der Wahrheit der christlichen Religion, dann reklamiert man für sie nicht nur die Deutungshoheit über diese, man unterstellt auch, dass die Glaubenden selbst der Systematischen Theologie bedürfen, um über die Religion aufgeklärt zu werden, die sie praktizieren. In beiden Fällen ist die Unterscheidung von Theologie und Religion aufgelöst. Einmal wird der Glaube als das eigentliche Subjekt einer Systematischen Theologie beschworen, und zum anderen tritt diese an die Stelle der christlichen Religion. Systematische Theologie ist eine Wissenschaft und nicht selbst Religion. Da sie von dieser unterschieden ist, kann sie sich auf die christliche Religion nur vor dem Hintergrund ihrer Unterscheidung beziehen. Das bedeutet, sie konstruiert auf der Ebene der Wissenschaft ein Bild der christlichen Religion, von dem sie weiß, dass es ihr eigenes Konstrukt ist. Nur auf diese Weise, indem sie also ihre eigene Beschreibung von der christlichen Religion unterscheidet, kann sie deren Autonomie in sich berücksichtigen. Wie jede andere Wissenschaft auch, vermag eine Systematische Theologie ihren Gegenstand lediglich auf eine methodisch kontrollierbare Weise zu konstruieren (vgl. unten 3.5). Alle mit Religion befassten akademischen Disziplinen wie Religionswissenschaft, Ethnologie, Religionssoziologie etc. können Religion nur konstruieren und nicht selbst an ihre Stelle treten. Damit ist auch klar, dass keine dieser Wissenschaften einen besseren oder angemesseneren Zugang zu Religion für sich reklamieren kann. Von anderen Wissenschaften, die sich mit der christlichen Religion beschäftigen, unterscheidet sich eine Systematische Theologie allein dadurch, dass sie die Selbstsicht der christlichen Religion in ihre Beschreibung einbezieht. Da sie jedoch von der christlichen Religion unterschieden ist, ist ihr deren Selbst‐ sicht nur als Konstruktion zugänglich. Indem die Systematische Theologie das innere Funktionieren der christlichen Religion aus der Perspektive der sie Praktizierenden zum Gegenstand hat, arbeitet sie in sich als Wissenschaft ein vollständiges Bild von ihr aus. Fasst man die vorgestellten Überlegungen zusammen, dann lässt sich sa‐ gen, die Aufgabe einer Systematischen Theologie besteht in der wissen‐ schaftlichen Darstellung der christlichen Religion. Das Fachgebiet, mit dem 1.2 Wozu Systematische Theologie? 17 <?page no="18"?> matischen Theologie Studierende der evangelischen Theologie im Laufe ihres Studiums zu tun haben werden, widmet sich der wissenschaftlichen Erfassung der christli‐ chen Religion. Es erörtert ihr inneres Funktionieren als Religion im Ge‐ brauch von Inhalten, Bildern und Zeichen und damit das Wissen der christ‐ lichen Religion, Religion zu sein. Das ist ihr Gegenstand, wenn sie das Wesen des Christentums aus der Sicht der Glaubenden thematisiert. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationa‐ lität, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1991. Christian Danz: Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung, in: Theologie als Streitkultur. Wiener Jahrbuch für Theologie, Bd.-13, hrsg. v. Uta Heil/ Annette Schellenberg, Göttingen 2021, 139-154. Martin Laube: Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Grundfigur in der protestantischen Theologie des 20. Jahr‐ hunderts, in: ZThK 112 (2015), 449-467. Christoph Schwöbel: Art.: Systematische Theologie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd.-7, Tübingen 2004, 2011-2018. Johann Salomo Semler: Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiae, Halle 1757. ND Waltrop 2001. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/ New York 2011, 47-50. Folkart Wittekind: Dogmatik als Selbstbewusstsein gelebter Religion. Zur Mög‐ lichkeit theologiegeschichtlicher Beschreibung der reflexiven Transformation der Religion, in: Christian Danz/ Jörg Dierken/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, Frankfurt a.-M. 2005, 123-152. 1.3 Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie Dem Wortsinn nach bedeutet Theologie Rede von Gott (von griechisch: theo-logia). In diesem Sinne wurde der Begriff von der antiken Philosophie geprägt und vom frühen Christentum übernommen. Dabei hat man bis ins 12. Jahrhundert unter Theologie lediglich die Lehre von Gott in seinen drei Personen (Trinitätslehre) verstanden. Erst im Zusammenhang mit der Entstehung der Universitäten wurde der Begriff in einem weiteren 18 1 Einleitung <?page no="19"?> historische und gegen‐ wartsbezo‐ gene Diszi‐ plinen der Theologie Sinne aufgefasst, indem man nun die christliche Lehre - die doctrina sacra - Theologie nannte. Deren Aufgabe bestand in der Auslegung der Bibel als verbindliche Texte der christlichen Religion. Daneben bildete sich zwar bereits im Mittelalter die Praxis heraus, Zitate der Kirchenväter zu sammeln und zu kommentieren, aber erst in der Neuzeit kam es zu einer Ausdifferenzierung der Theologie in verschiedene Teildisziplinen. Das erfolgte im Zusammenhang der voranschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung. In diesem Prozess wurden im akademischen Lehrbetrieb die einzelnen theologischen Fächer institutionalisiert, die auch noch heute an den Theologischen Fakultäten gelehrt werden. Im gegenwärtigen Lehrbetrieb der evangelischen Theologie haben sich insgesamt fünf Fächer mit unterschiedlichen methodischen Instrumentarien etabliert, die selbst wiederum diverse Unterdisziplinen umfassen. Man kann diese Fächer in historische und gegenwartsbezogene Disziplinen unterglie‐ dern. Die historischen Fächer sind Altes und Neues Testament sowie Kir‐ chengeschichte, und die gegenwartsorientierten sind Systematische Theo‐ logie sowie Praktische Theologie. Theologische Disziplinen A. historische Disziplinen B. gegenwartsbezogene Diszi‐ plinen 1. Altes Testament 1. Systematische Theologie Einleitung ins Alte Testament Religionsphilosophie Religionsgeschichte Israels Dogmatik Theologie des Alten Testaments Ethik - - 2. Neues Testament 2. Praktische Theologie Einleitung ins Neue Testament *Homiletik Religionsgeschichte des Frühjudentums *Poimenik Theologie des Neuen Testaments Religionspädagogik 1.3 Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie 19 <?page no="20"?> historische Disziplinen der Theolo‐ gie 3. Kirchengeschichte Sozialgeschichte der Kirchen Dogmengeschichte Theologiegeschichte Die historischen Disziplinen der Theologie erkunden die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion, deren Entstehung und Entwicklung in diversen religionskulturellen Kontexten, die sich ändernden Sozialstruk‐ turen der christlichen Religionsfamilie, die unterschiedlichen Konzeptionen von Religion und Politik und anderes. Auf vielfältige Weise rekonstruieren diese Disziplinen die Wandlungen des Christentums in der Geschichte. Die Geschichtsforschung möchte wissen, ‚wie es eigentlich gewesen‘ ist (Leo‐ pold von Ranke [1795-1886]). Im Unterschied hierzu sind die gegenwarts‐ bezogenen theologischen Fächer an normativen Fragen interessiert. Sie fra‐ gen nach dem wesentlich Christlichen vor dem Hintergrund der Geschichte des Christentums und der jeweiligen Gegenwart. Seit der europäischen Aufklärung sind die historischen und gegenwarts‐ orientierten Disziplinen der Theologie in einen Gegensatz getreten. Die Etablierung der historisch-kritischen Methode in der protestantischen Theologie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts befreite die Auslegung der biblischen Schriften von den Vorgaben der Dogmatik. Dadurch kam die Bibel als ein rein religionsgeschichtliches Dokument in den Blick. Zu ihrem Verständnis bedarf es der Kenntnis der Sprachen, in denen sie verfasst wurde, sowie eines religionskulturellen Wissens über die Religionen des alten Orients, ihrer Transformation im Zeitalter des *Hellenismus etc. Mit der Einordnung der Bibel in die Geschichte wird ihre überzeitliche Geltung aufgelöst. Die biblischen Schriften sind ebensolche religionsgeschichtlichen Dokumente wie der Koran oder die heiligen Texte der indischen Religionen. Wenn aber die Bibel ein geschichtliches und zeitgebundenes Dokument der christlichen Religion ist, welche Geltung kann sie dann für ganz andere Zeiten wie die Gegenwart des 21. Jahrhunderts noch haben? Historisch lässt sich diese Frage nicht beantworten. Geschichte und Normativität, Genesis und Geltung unterscheiden sich nämlich. 20 1 Einleitung <?page no="21"?> historische und gegen‐ wartsorien‐ tierte Diszi‐ plinen methodi‐ scher Zirkel des Verste‐ hens Allerdings fällt der Unterschied zwischen den historischen und den ge‐ genwartsorientierten Disziplinen der Theologie nicht einfach mit dem zwi‐ schen Geschichte und Geltung zusammen. Jedes Bild der Geschichte ist eine gegenwartsbezogene Konstruktion. Historikerinnen und Historiker kon‐ struieren ihre Sicht der Vergangenheit stets im Ausgang von ihrer eigenen Gegenwart und ihren Plausibilitätshorizonten. In jedes Geschichtsbild flie‐ ßen Interessen, Überzeugungen und Normen ein, die nicht der Vergangen‐ heit entnommen sind und die ihr Gemälde erst zu einem sinnvollen Zusam‐ menhang formen. Zwar muss sich jede Konstruktion der Geschichte an den Quellen bewähren, aber die Darstellung dessen, wie es wirklich gewesen ist, verdankt sich jeweils gegenwärtigen Plausibilitätsbedingungen. Alle Nor‐ men, Überzeugungen, Denkweisen und Selbstverständlichkeiten entstehen in der Geschichte. Wer heute über die Identität des Christlichen nachdenkt, der nimmt Denkweisen, Begriffe und Modelle in Anspruch, die selbst ge‐ schichtlich geworden sind. Schon die Sprache, in der das wesentlich Christ‐ liche formuliert wird, verdankt sich einer Kultur, die selbst einem Wandel unterliegt. Die Spannung zwischen Historie und Geltung lässt sich folglich nicht einfach auf die historischen und gegenwartsbezogenen Disziplinen der Theologie verteilen. Sie tritt in jeder von ihnen selbst noch einmal auf. der angedeutete methodische Zirkel des Verstehens - jedes Bild der Vergangenheit ist eine gegenwartsbezogene Konstruktion, und zugleich ist diese selbst das Resultat der Geschichte - tritt auch in der Systematischen Theologie auf. Ihre Konstruktion des Wesens des Christentums setzt ebenso ihre eigene Entwicklungsgeschichte wie die der christlichen Religion vor‐ aus. Beides wandelt sich in der Geschichte. Wie es kein überzeitliches Wesen der christlichen Religion gibt, so auch keinen zeitlich invarianten Kern der Theologie oder des Theologischen. Als eine eigenständige Disziplin ist die Systematische Theologie im Zusammenhang mit dem Ausdifferen‐ zierungsprozess des Wissenschaftssystems in der Moderne entstanden. Die Fragen, die sie thematisiert, ergeben sich ebenso wie ihre Methoden aus der Geschichte des Fachs sowie den Wechselwirkungen und Überlagerungen, denen alle wissenschaftlichen Disziplinen unterliegen. Wenn im Fokus der Systematischen Theologie eine Bestimmung des gegenwärtigen Wesens des Christentums steht, dann kann sie diese Aufgabe nur auf der Grundlage der komplexen Geschichte ihrer selbst sowie des Christentums in Angriff nehmen. Als autonome theologische Disziplin, die andere Fragen stellt als Bibelwissenschaften, Kirchengeschichte und Praktische Theologie, ist sie auf diese theologischen Fächer und nichttheologischen Disziplinen bezogen. 1.3 Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie 21 <?page no="22"?> theologi‐ sche Enzy‐ klopädien Mit der Ausdifferenzierung der theologischen Fächer, wie sie für die ge‐ genwärtige akademische evangelische Theologie konstitutiv ist, ist die Frage aufgeworfen, worin die Einheit der Theologie in der Vielheit ihrer Diszipli‐ nen besteht. Wenn jede theologische Disziplin mit eigenen Methoden ar‐ beitet, denen jeweils verschiedene Gegenstände entsprechen, dann scheint das Gemeinsame der theologischen Arbeit sich aufzulösen, so dass nicht mehr zu erkennen ist, wie sie zusammenhängen. Thematisiert werden die Fragen nach dem Zusammenhang der theologischen Disziplinen in soge‐ nannten Enzyklopädien, die selbst eine Reaktion auf die moderne Ausdiffe‐ renzierung der Fächer ist. In der Geschichte der protestantischen Theologie hat in der Regel die Systematische Theologie den Anspruch erhoben, eine systematische Ableitung der einzelnen theologischen Fächer aus einem übergeordneten Theologiebegriff leisten zu können. Doch warum soll aus‐ gerechnet die Systematische Theologie die Einheit der Theologie in der Vielfalt ihrer Disziplinen begründen und definieren können? Auch sie ist nur eine Disziplin neben anderen und hat ihnen gegenüber keine überge‐ ordnete Perspektive zur Verfügung. Da alle theologischen Disziplinen, wie sie gegenwärtig existieren, sich dem kontingenten Ausdifferenzierungspro‐ zess der Theologie verdanken, der sich parallel zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems entwickelte, ist es nicht möglich, sie aus einem über‐ geordneten Theologiebegriff abzuleiten. Solche Versuche, wie sie bis in die Gegenwart immer wieder in Angriff genommen wurden, sind aufzugeben. Definieren können sich die einzelnen theologischen Disziplinen lediglich selbst. Nur sie können über ihre Arbeit und Methoden Auskunft geben und bestimmen, was ihr Gegenstand ist und wie sie ihn behandeln. Zusammen‐ gehalten werden die im Prozess der Ausdifferenzierung der theologischen Wissenschaft entstandenen Disziplinen, die parallel zum Wissenschaftssys‐ tem einem ständigen weitergehenden Spezialisierungs- und Umformungs‐ prozess unterliegen, nicht durch eine inhaltliche Bestimmung dessen, was Theologie ist oder sein soll, sondern durch ein Verständnis der Theologie als Wissenschaft. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine syste‐ matische Orientierung, Leipzig 2004. Hermann Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, 177-184. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 3-43. 22 1 Einleitung <?page no="23"?> Unterdiszi‐ plinen der Systemati‐ schen Theologie Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/ 1831), hrsg. v. Dirk Schmid, Berlin/ New York 2012. Udo Schnelle: Einführung in die Evangelische Theologie, Leipzig 2021. Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005. Folkart Wittekind: Rationale Theologie - nichtrationaler Glaube. Eine Grundle‐ gung der Theologie als Wissenschaft in enzyklopädischer Absicht, in: Gerhard Schreiber (Hrsg.), Interesse am Anderen. Interdisziplinäre Beiträge zum Ver‐ hältnis von Religion und Rationalität. Für Heiko Schulz zum 60. Geburtstag, Berlin/ Boston 2019, 537-556. 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie Die Systematische Theologie umfasst als akademisches Fach verschiedene Unterdisziplinen, die sich im Prozess der Ausdifferenzierung der Theologie herausgebildet haben. An den protestantischen Fakultäten werden vor allem drei Einzeldisziplinen unter diesem Obertitel zusammengefasst: Religions‐ philosophie, Dogmatik und Ethik. Alle drei haben sich erst in der Neuzeit als selbständige Disziplinen im akademischen Lehrbetrieb etabliert. In der Geschichte des Fachs zählte man allerdings noch weitere Disziplinen zu ihr. So bildete sich in der Reformationszeit im Zusammenhang mit der Entste‐ hung des protestantischen Dogmatikunterrichts die sogenannte Polemik heraus. Sie widmete sich der Auseinandersetzung mit den von der eigenen Konfession abweichenden Lehrauffassungen. Mit dem Nachlassen der Prä‐ gekraft von konfessionellen Differenzen in der Aufklärungszeit wurde die Polemik in die Konfessionskunde beziehungsweise Ökumenik überführt. Letztere bildet auch in der Gegenwart einen Bestandteil des Studiums der Systematischen Theologie an protestantischen Fakultäten. Aus der im 19. Jahrhundert entstandenen Missionswissenschaft wurde im 20. Jahrhun‐ dert die Religionswissenschaft, die sich als eigenständige Disziplin sowohl an als auch außerhalb von theologischen Fakultäten etabliert hat. Ebenfalls in der Zeit der Aufklärung entwickelte sich in Auseinandersetzung mit dem modernen Zeitgeist die sogenannte Apologetik. Ihr oblag die Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber der Kritik seitens der modernen Na‐ turwissenschaften oder des neuzeitlichen Atheismus. Vor allem in der rö‐ 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 23 <?page no="24"?> Immanuel Kant misch-katholischen Theologie formierte sich hieraus die sogenannte Fun‐ damentaltheologie. Deren Aufgabe besteht in der Demonstration der Vernunftgemäßheit der Glaubenslehre der Kirche. Auch in der protestanti‐ schen Theologie haben sich in den letzten Jahrzehnten die Stimmen ge‐ mehrt, so etwas wie eine evangelische Fundamentaltheologie im akademi‐ schen Lehrbetrieb zu institutionalisieren. Bislang ist in dieser Frage jedoch noch kein Konsens erreicht. 1.4.1 Religionsphilosophie Zu den klassischen Unterdisziplinen der Systematischen Theologie im Pro‐ testantismus gehört die Religionsphilosophie. Als ein eigenständiges aka‐ demisches Fach ist diese erst in den 1790er Jahren an deutschsprachigen Universitäten entstanden. Sie setzt die Kritik an der überlieferten *Meta‐ physik und *theologia naturalis (natürliche Theologie) durch Immanuel Kant (1724-1804) voraus (vgl. unten 2.5.1). In seiner 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft hatte der Königsberger Philosoph den Nachweis erbracht, dass Gott von der menschlichen Vernunft nicht erkannt werden könne. In‐ tersubjektiv geltende Erkenntnis ist aufgrund ihrer beiden Quellen An‐ schauung und Begriff nur im Bereich der Erfahrung möglich. Aus dem Um‐ feld möglicher Erkenntnisgegenstände schieden damit die über die Erfahrung hinausgehenden göttlichen Dinge aus. Hier knüpft die Religi‐ onsphilosophie an. Sie fragt nach dem Gottesverhältnis des Menschen und nicht mehr wie die natürliche Theologie nach einem metaphysischen Sein Gottes. In der Religionsphilosophie kommt es zu einer Perspektivenver‐ schiebung. Deshalb ist sie keine bloße Fortsetzung der überlieferten *Meta‐ physik und ihres Gottesgedankens. Mit der Religion hat sie ein eigenes Thema. Religionsphilosophie erkundet die Religion und ihre konstitutiven Merk‐ male, welche sie von anderen menschlichen Kulturgebilden unterscheidet. Ihr oblag es, den Nachweis zu erbringen, dass Religion zur conditio humana (Bedingung des Menschen) gehört. Um 1800 erfolgte das durch Versuche, Religion in das als allgemeine Grundlegungsinstanz der Kultur fungierende Bewusstsein einzuordnen, um ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit zu be‐ gründen. An solche Grundlegungen der Religion in der allgemeinen Struktur des Bewusstseins konnte die Theologie anknüpfen. In der protestantischen Theologie wurde der Grundlagenwechsel von Gott zur Religion noch aus einem weiteren Grund notwendig. Für die Reformation fungierte die Bibel 24 1 Einleitung <?page no="25"?> Theorie der Religion als alleinige Entscheidungsinstanz in theologischen und religiösen Fragen. Eine solche normative Funktion kann den biblischen Schriften nur dann zukommen, wenn sie selbst eine gleichsam göttliche Autorität haben und klar, eindeutig sowie im Hinblick auf das, was zum Heil des Menschen zu wissen notwendig ist, vollständig sind. Durch die Einführung des kritischen Geschichtsdenkens in die protestantische Theologie im 18. Jahrhundert wurde diese Stellung der Bibel mit historischen Argumenten aufgelöst. Damit verlor jedoch die Theologie des Protestantismus ihr normatives Fun‐ dament. Es wurde im 19. Jahrhundert durch den Religionsbegriff ersetzt, der dadurch zur methodischen Grundlage der modernen Theologie avancierte. Eine grundlegende Aufgabe der Religionsphilosophie besteht darin, eine umfassende Theorie der Religion auszuarbeiten. Freilich ist die philosophi‐ sche Analyse der Religion von dem zugrundliegenden Philosophieverständ‐ nis abhängig. Je nachdem, was unter Philosophie verstanden wird, ergeben sich höchst unterschiedliche Verständnisse von Religionsphilosophie und ihrer Aufgabe. Typen der Religionsphilosophie 1. transzendentale: Religion ist Bestandteil des mensch‐ lichen Bewusstseins (Immanuel Kant); religiöses Apriori im Auf‐ bau des menschlichen Bewusstseins (Ernst Troeltsch [1865-1923]) 2. phänomenologische: religiöse Erfahrung / Idee des Heili‐ gen (Rudolf Otto [1869-1937]) 3. sprachanalytische: Eigenart der religiösen Spra‐ che / Sprachspiele (Ludwig Wittgen‐ stein [1889-1951]) 4. pragmatische: Lebensfunktion der Religion (Wil‐ liam James [1842-1910]) 5. spekulative: Religion als Selbstbewusstsein Got‐ tes (Georg W. F. Hegel [1770-1831]) 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 25 <?page no="26"?> Aufgabe der Religi‐ onsphiloso‐ phie Begriff der Religion Die Religionsphilosophie fragt, wie man im 19. Jahrhundert sagte, nach dem Wesen der Religion. Ein solches Wesen lässt sich freilich nur bestimmen, wenn es bereits geschichtlichen Religionen als einen ausdifferenzierten Be‐ reich in der Kultur gibt. Um grundlegende Merkmale des Religiösen zu er‐ schließen, ist die Philosophie der Religion sowohl auf die Religionswissen‐ schaft als auch auf Kultur- und Sozialwissenschaften angewiesen. Ohne empirische Kenntnisse über lebensweltliche Religionen kann weder eine Untersuchung der Religion vorgenommen noch deren Begriff konstruiert werden. Religion gibt es allein in der Vielfalt der geschichtlich gewordenen Religionen und ihrer Traditionen. Die Religionsgeschichte ist folglich ein konstitutiver Bestandteil der philosophischen Reflexion der Religion. Eine weitere Aufgabe der Religionsphilosophie besteht in der Herausarbeitung der spezifischen Kategorien, welche religiöse Weltsichten konstituieren. Religiöse Sprache unterscheidet sich von der Alltagssprache. Sie bildet eine eigene Form von Kommunikationen in der Kultur. Ihre Eigenart hat die philosophische Analyse der Religion zu klären. Und schließlich muss die Religionsphilosophie nach dem Zusammenhang und Unterschied von Religion und Kultur fragen. Geschichtliche Religionsfamilien wie das Chris‐ tentum oder der Islam sind stets mit Kulturen verwoben und ein Teil von ihnen. Zugleich beanspruchen sie, mehr als bloße Kultur zu sein. Religions‐ philosophie konzipiert einen kritischen Allgemeinbegriff der Religion, der auf diverse religiöse Phänomene angewendet werden kann. Doch wie gelangt die Religionsphilosophie zu einem Begriff der Religion, der allgemeingültig ist und sich auf alle religiösen Phänomene anwenden lässt? Zwar gehört Religion in der globalen Welt des 21. Jahrhunderts zu denjenigen Begriffen, die weltweit in akademischen Diskursen sowie im Alltag verwendet werden, der Begriff ist dennoch nicht ohne methodische Probleme (vgl. unten 4.1.2). Als Allgemeinbegriff, der sowohl innere Reli‐ giosität als auch deren symbolische Darstellungen sowie religiöse Institu‐ tionalisierungen umfasst, die sich von nichtreligiösen Formen unterschei‐ den, ist Religion ein Produkt der europäischen Christentumsgeschichte. Entstanden ist Religion als Allgemeinbegriff in komplexen Aushandlungs‐ prozessen seit der Renaissance und europäischen Aufklärung. In seinem modernen Sinn kennen weder frühere Epochen des Christentums noch nichteuropäische Kulturen Religion. Seine Herkunft aus einer bestimmten Religionsgeschichte wirft die Frage auf, ob und wie es möglich ist, ihn auf andere Religionskulturen zu übertragen. Ins Gewicht fällt hierbei nicht nur der Umstand, dass nichteuropäische Kulturen keine Bezeichnung für das 26 1 Einleitung <?page no="27"?> haben, was man im Christentum Religion nennt. Vielmehr kennen diese Kulturen die Unterscheidungen auch nicht, die für den modernen Begriff konstitutiv sind. Religion im Sinne des Religionsbegriffs ist etwas Eigen‐ ständiges und von anderen kulturellen und sozialen Formen wie Politik, Recht, Moral, Wirtschaft etc. unterschieden. Indem der Religionsbegriff zur Beschreibung und Erfassung nichteuropäischer Kulturen benutzt wird, überträgt man Differenzierungen auf diese, die sich in Europa herausbilde‐ ten oder im Zuge des europäischen Kolonialismus ihnen aufgezwungen wurden. Ein allgemeiner Religionsbegriff ist noch mit einem weiteren Problem konfrontiert. Er fragt nach dem, was in allen geschichtlichen Religionen das Gemeinsame ist und sie zur Religion macht. Alle Religionen haben folglich einen identischen und invarianten Kern, der von ihnen in unter‐ schiedlichen, geschichtlich gewordenen Bildern, Vorstellungen und Inhalten dargestellt wird. Für den Religionsbegriff sind sie alle gleich. Sie sind geschichtliche Ausprägungen eines ihnen zugrunde liegenden Allgemeinen, die sich lediglich durch ihre inhaltlichen Aussagen unterscheiden. Damit reduziert jedoch ein allgemeiner Religionsbegriff diejenige Diversität der geschichtlichen Religionen, von der er ausgeht. Es gibt letztlich nur eine Religion in unterschiedlichen Formen und Bildern, wobei diese für ihr eigenes Religionsein unwesentlich sind. Angesichts der mit einem allgemeinen Religionsbegriff verbundenen methodischen Probleme verwundert es nicht, wenn in den Debatten über Religion seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen wurde, auf ihn zu verzichten. Das ist freilich keine Lösung der Anfragen, denen sich ein Begriff der Religion ausgesetzt sieht. Schon um bestimmte Kulturer‐ scheinungen als Religion ansprechen zu können, ist ein Vorverständnis von ihr vorausgesetzt. In der Konzeption eines gehaltvollen Begriffs der Religion kommt man nicht umhin, auf eine konkrete Religion Bezug zu nehmen. Jeder Begriff lässt sich lediglich aus einer bestimmten, geschichtlich gewordenen Perspektive konstruieren. Das hat seinen Grund in dem zirkulären Charak‐ ter des Verstehens von kulturellen Phänomenen. Um Religion identifizieren zu können, ist deren Verständnis bereits in Anspruch genommen. Darin dokumentiert sich die Abhängigkeit jeder Religionsphilosophie und jedes Begriffs der Religion von einer besonderen religiösen Tradition und deren Darstellung etwa in Form einer Theologie. Die Aufgabe der Religionsphilo‐ sophie besteht darin, den methodischen Zirkel, der für einen Begriff der Religion konstitutiv ist, transparent zu machen. Ausschließen oder gar 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 27 <?page no="28"?> vermeiden lässt sich ein solcher Zirkel bei keinem geisteswissenschaftlichen Gegenstand. Der Begriff der Religion ist ein akademisches Konstrukt. Pro‐ duktiv bearbeiten lassen sich die mit seiner Fassung verbundenen methodi‐ schen Probleme lediglich dann, wenn auf einen Allgemeinbegriff verzichtet und der Religionsbegriff der Systematischen Theologie auf die christliche Religion beschränkt wird (vgl. unten 4.1.3). L IT E R ATU R : Hermann Deuser: Religionsphilosophie, Berlin/ New York 2009. Johann Figl: Philosophie der Religionen. Pluralismus und Religionskritik im Kon‐ text europäischen Denkens, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 2011. Winfried Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006. Brent Nongbri: Before Religion. A History of a Modern Concept, New Haven/ Lon‐ don 2013. Hartmut Rosenau: Art.: Religionsphilosophie I. Christliche Religionsphilosophie, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-28, Berlin/ New York 1997, 749-761. Jonathan Z. Smith: Religion, Religions, Religious, in: ders.: Relation Religion. Essays in the Study of Religion, Chicago/ London 2004, 179-196. Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986. 2 1991. 1.4.2 Dogmatik Neben der Religionsphilosophie bildet die Dogmatik einen konstitutiven Bestandteil im Fächerkanon der Systematischen Theologie. Dogmatik nennt man die Darstellung der Lehre einer der christlichen Konfessionen. In die‐ sem Sinne hat sich der Begriff erst im 17. Jahrhundert zur Bezeichnung der Disziplin herausgebildet. Die klassische Schuldogmatik des Protestantismus versteht sich als eine zusammenfassende Darstellung des theologischen Gehalts der Bibel. Hieraus resultiert ihr sogenannter heilsgeschichtlicher Aufriss. In ihrer inhaltlichen Erörterung der Lehre setzt sie mit dem Gottes‐ gedanken ein, erläutert die Schöpfung von Welt und Mensch, den Abfall des Menschen von Gott, um sodann mit den Lehren von Christus und der Versöhnung den Weg der Rückkehr des Menschen zu Gott zu beschreiben. Hieran schließen sich die Lehre von der Kirche und schließlich die von den letzten Dingen, der Eschatologie, an. Auf diese Weise bietet die Dogmatik eine lehrhafte Zusammenfassung der Aussagen der Bibel, an deren Aufbau sie sich anlehnt. Den inhaltlichen Ausführungen der Dogmatik werden soge‐ 28 1 Einleitung <?page no="29"?> nannte Prolegomena (von griechisch: prolégein, vorhersagen) vorangestellt, welche die Erkenntnisquellen der theologischen Wissenschaft erörtert. Im Bereich des Protestantismus ist das vor allem die Lehre von der Bibel als der Heiligen Schrift. Sie stellt für die protestantische Theologie die einzige Entscheidungsinstanz in theologischen und religiösen Fragen dar. Infolge der Auflösung des altprotestantischen Schriftprinzips seit der europäischen Aufklärung trat im 19. Jahrhundert an dessen Stelle der Religionsbegriff. In den Prolegomena der Dogmatik wurde nun eine Religionsphilosophie traktiert. Ausgehend vom Begriff der Religion ordnet man das Christentum in die Religionsgeschichte ein und verstand es als Realisierung des Wesens der Religion und damit als deren höchstmögliche Form. Auf diese Weise war die Grundlage für die Entfaltung der materialen Dogmatik gegeben. In neuerer Zeit wird diskutiert, eine evangelische Fundamentaltheologie auszuarbeiten. Da diese nicht wie im römisch-katholischen Verständnis als Begründung der Vernünftigkeit der Kirchenlehre aufgefasst werden kann, wird sie zumeist als Einleitung in die Dogmatik konzipiert. Allerdings ist aufgrund der Zirkelstruktur der geisteswissenschaftlichen Arbeit eine solche Einleitung selbst schon Dogmatik. Die Dogmatik erörtert die theologische Lehre einer christlichen Kon‐ fession in ihrem systematischen Zusammenhang. Man hat deshalb vorge‐ schlagen, ihren Gegenstand als Dogma zu bezeichnen. Sie wäre dann eine Wissenschaft vom Dogma im Sinne von verbindlichen Lehrmeinungen. Dadurch wird der normative Charakter der Dogmatik hervorgehoben und unterstrichen. Dogma Der Begriff Dogma (griechisch: dokein, was jemand meint) stammt aus der antiken Philosophie und bezeichnet eine verbindliche Lehrmei‐ nung beziehungsweise eine feststehende Aussage. In der Alten Kirche wurde der Begriff zur Bezeichnung der wahren kirchlichen Lehre übernommen. Das wahre Dogma ist nun die christliche Lehre. Von ihr gilt, wie es Vinzenz von Lerinum (gest. zwischen 434 und 450) formu‐ lierte, „was überall, immer und von allen geglaubt worden ist“. Erst in der Neuzeit kommt es in der römisch-katholischen Kirche zu einem Verständnis des Dogmas als verbindlichem, von Gott geoffenbarten Lehrinhalt (Erstes Vatikanisches Konzil 1869-1870). In einem solchen 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 29 <?page no="30"?> Thema der Dogmatik Sinn - als von der Kirche formulierte autoritative Lehre - kann es im Protestantismus grundsätzlich kein Dogma geben. Allerdings ist ein Verständnis der Dogmatik als Wissenschaft von den Dog‐ men nicht unproblematisch. Im Unterschied zur römisch-katholischen Kir‐ che gibt es in den protestantischen Kirchen keine Instanz, welche ein Dogma festlegen könnte. Zudem würde der Begriff des Dogmas als verbindlicher Glaubensinhalt, der von dem Einzelnen zu glauben ist, dem protestantischen Verständnis des Glaubens widersprechen. Obwohl dieser an Aussagen ge‐ bunden ist, besteht er gerade nicht in ihrem Fürwahrhalten. Neben dem Dogma wurden deshalb Gott, die Offenbarung Gottes, das christlich-reli‐ giöse Bewusstsein und der christliche Glaube als Gegenstand der Dogmatik genannt. Je nach dem, was man als Thema der Dogmatik ansetzt, ergeben sich unterschiedliche Konzeptionen. Konzeptionen der Dogmatik altprotestantische Theologie: Dogmatik als zusammenfassende Darstellung der geoffenbarten Wahrheit der Bibel Glaubenslehre: Dogmatik als systematische Ent‐ faltung des christlich-religiösen Bewusstseins (Friedrich Schleier‐ macher [1768-1834]) spekulative Theologie: Dogmatik als logische Explikation des trinitarischen Gottesgedan‐ kens (Falk Wagner [1939-1998]) Offenbarungstheologie: Dogmatik als Darstellung des Er‐ eignisses der Offenbarung Gottes (Karl Barth [1886-1968]) Erfahrungstheologie: Dogmatik als Entfaltung des christlichen Wirklichkeitsvers‐ tändnisses (Eilert Herms [geb. 30 1 Einleitung <?page no="31"?> Glaube als Gegen‐ stand der Dogmatik 1940], Wilfried Härle [geb. 1941], Christoph Schwöbel [1955-2021]) analytische Formen: Dogmatik als Analyse der Sprach‐ spiele der christlichen Rede Aufgrund seiner Transzendenz kann Gott nicht zum Gegenstand einer Wis‐ senschaft werden. Für die Dogmatik bleibt folglich nur das Gottesverhältnis des Menschen als Themenfeld übrig. Es lässt sich auf unterschiedliche Weise thematisieren. Im 19. Jahrhundert avancierte das religiöse Bewusstsein und damit die Religion zur methodischen Grundlage der Dogmatik. Mit dem Ausgang vom Gottesbewusstsein scheint Gott in eine Abhängigkeit vom Menschen zu geraten. Die theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert hat deshalb im Interesse an der Unabhängigkeit Gottes einer Konzeption, die vom religiösen Bewusstsein ausgeht, widersprochen und die Offenbarung Gottes als Gegenstand der Theologie angesetzt. Gott und Religion bilden einen sich ausschließenden Gegensatz. Diese Alternative hat die Entwick‐ lung der protestantischen Dogmatik im 20. Jahrhundert beherrscht. Sie ist jedoch ebenso abstrakt wie falsch (vgl. unten 2.6). Aufgabe einer Dogmatik muss es sein, diesen Gegensatz zu überwinden. Ihr Gegenstand ist der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion. Mit dem Glauben und seiner reflexiven Struktur expliziert die Dogmatik das Wesen des Christentums aus der Sicht der Glaubenden. Glaube und Religion bilden keinen sich ausschließenden Gegensatz wie in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts (vgl. unten 4.3). Vielmehr bezeichnet der Glaube das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation und damit ihr Wirklichwerden in der Kultur. Er entsteht in der christlich-religiösen Kommunikation und hat keine Voraussetzungen, die außerhalb von ihr gegeben sind. Dieses Kommunikationsgeschehen, aus und in dem der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion entspringt, zu entfalten, ist die Aufgabe einer Dogmatik. Mit den theologischen Gehalten der christlichen Religion beschreibt die Dogmatik den Glauben und sein durchsichtiges Funktionieren als Religion. Seine Inhalte, auf die sich der Glaube bezieht, haben keine gegenständliche Funktion. Sie verweisen nicht auf Objekte und Gegenstände, die außerhalb der Kommunikation gegeben sind, so dass der Glaube in der Bezugnahme 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 31 <?page no="32"?> gute Werke auf sie entsteht. Glaubensinhalte haben eine Funktion für den Glauben selbst. Er stellt mit ihnen sich selbst als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion dar, die in der religiösen Aneignung und symbolischen Artikulation der religiösen Erinnerung an Jesus Christus besteht, von der sie abhängig ist. Indem die Dogmatik den Glauben als ein selbstbezügliches, selbstdurchsichtiges und in sich strukturiertes Kommunikationsgeschehen erfasst, erörtert sie das Wesen des Christentums aus der Selbstsicht derer, die die christliche Religion praktizieren. Doch die Sicht der Glaubenden auf ihren Glauben kann in ihr, da sie selbst nicht Religion ist, nur als theologische Konstruktion vorkommen. L IT E R ATU R : Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 9 1982 (= BSLK). Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010. Eilert Herms: Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und aus Gnade leben, 3 Bde., Tübingen 2017. Eilert Herms: Art.: Dogmatik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd.-2, Tübingen 4 1999, 899-915. Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20.-Jahrhundert, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1992. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/ New York 2011, 55-61. Henning Theißen: Einführung in die Dogmatik. Eine kleine Fundamentaltheolo‐ gie, Leipzig 2015. 1.4.3 Ethik Die dritte Hauptdisziplin der Systematischen Theologie ist die Ethik. Auch sie hat sich erst im 17. Jahrhundert in Unterscheidung von der dogmatischen Theologie als ein eigenes theologisches Fachgebiet herausgebildet. Den An‐ lass hierzu bildete zunächst das Interesse, die Ethik in einer theologischen Perspektive zu behandeln. Im *konfessionellen Zeitalter waren die theolo‐ gischen Konzeptionen mit umfassenden normativen Leitbildern des gesell‐ schaftlichen Gemeinwesens verbunden. Dieses Anliegen schlägt sich in den Entwürfen von theologischen Ethiken nieder. In der protestantischen Lehr‐ tradition wurde die Ethik zunächst unter dem Titel der guten Werke behan‐ delt. Dabei ließ man sich Luther folgend von der Überzeugung leiten, dass 32 1 Einleitung <?page no="33"?> Moral Ethik die guten Werke unmittelbar aus dem Glauben fließen. Der Reformator klei‐ dete den Zusammenhang von Glaube und Handeln im Anschluss an Mt 12,33 in das Bild von einem guten Baum, der gute Früchte trägt. Allerdings ver‐ mochte der Wittenberger Theologe nicht deutlich zu machen, wie der Zu‐ sammenhang von Glaube und sittlichem Handeln genauer zu fassen ist. Die Begriffe Ethik und Moral wurden in der abendländischen Tradition weitgehend synonym verwendet. Erst in neuerer Zeit unterscheidet man terminologisch zwischen ihnen. Moral bezeichnet die lebensweltlichen Ori‐ entierungen und Selbstverständlichkeiten, die das Leben des Einzelnen und von sozialen Gruppen prägen (im Sinne von griechisch: ethos, Gewohnheit, Brauch). Unter Ethik hingegen versteht man eine Theorie oder Reflexion der ihr vorgegebenen Moral. Die ethische Reflexion befragt das moralische Handeln, ob es dem sittlichen Kriterium des Guten entspricht oder nicht. Was das ethisch Gute ist und wie es sich von anderen kulturellen Sphären unterscheidet, das wird in den Theorien der Ethik unterschiedlich begrün‐ det. Für Aristoteles (385-322 v. Chr.), den Begründer der Ethik als einer ei‐ genständigen philosophischen Disziplin (Nikomachische Ethik), ist das Gute das höchste Gut, und es besteht in der Glückseligkeit (griechisch: eudaimo‐ nia). Eudaimonia hat ihren Zweck in sich selbst. Sie ist das, was um seiner selbst erstrebt wird. In ihr erreicht ein Mensch Vollkommenheit, da er ganz er selbst wird, mit sich also übereinstimmt. Im modernen Utilitarismus ( Je‐ remy Bentham [1748-1832], John Stuart Mill [1806-1873]) wird das Gute in dem Nutzen erblickt, den das Handeln für die Gemeinschaft erbringt. Gut ist, was für eine größtmögliche Zahl von Menschen nützlich ist. Immanuel Kant hingegen definiert das sittlich Gute ohne Rekurs auf inhaltliche Be‐ stimmungen. Es besteht in einer formalen Verallgemeinerungsregel, der zu‐ folge der Handelnde die Bestimmungsgründe seines Willens daraufhin zu befragen hat, ob sie sich verallgemeinern lassen (*kategorischer Imperativ). In der Geschichte des ethischen Denkens wurden verschiedene Konzep‐ tionen von Ethiken beziehungsweise praktischen Philosophien ausgearbei‐ tet. 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 33 <?page no="34"?> Typen der Ethik Individualethik: sie bemüht sich, Normen und Ziele zu be‐ gründen, die für das Handeln des Individu‐ ums gelten sollen (Pflichten- und Tugend‐ ethik) Sozialethik: sie sucht nach begründbaren Normen und Zielen für die Interaktionen zwischen Indivi‐ duen und Großgruppen sowie der Großgrup‐ pen untereinander (Güterethik) Metaethik: wissenschaftliche Erörterung der Bedingun‐ gen von ethischen Diskursen angewandte Ethik: ethische Reflexion von Einzelproblemen, z. B. der modernen Medizin oder der Wirtschaft Ethische Reflexionen werden nicht nur in der Philosophie (praktische Philosophie) angestellt, sie bilden auch einen zentralen Bestandteil der christlichen Theologien. Religionen wie die christliche enthalten immer auch Orientierungen für das Handeln (*Dekalog, Bergpredigt). Für eine theologische Ethik ergibt sich nun ein besonderes Problem aus der Frage, ob es spezifische Normen des Handelns geben kann, die nur für Christen gelten. Wenn jedoch sittliche Normen den Charakter der Allgemeingültigkeit haben, dann kann es eine christliche Sonderethik ebenso wenig geben wie eine religiöse Mathematik oder Logik. Welchen Charakter hat dann aber eine theologische Ethik? Ethisches Denken entwickelt sich zwar stets in bestimmten, geschichtlich gewordenen Religionskulturen, so dass religiöse Aspekte in die Herausbildung von verschiedenen Formen von Moral und Ethik mit einfließen. Aber das besagt nichts über die Geltung von ethischen Normen. Im Bereich der Systematischen Theologie wird die Ethik in einem reli‐ giösen Horizont zum Thema. Dabei geht es immer auch um die Frage, in welchem Verhältnis Dogmatik und Ethik zueinander stehen. Ist letztere eine bloße Konsequenz der Glaubenslehre? Oder kommt der ethischen Reflexion 34 1 Einleitung <?page no="35"?> Steigerung des Bedarfs an ethi‐ scher Refle‐ xion gegenüber der Dogmatik eine selbständige Bedeutung zu? Je nach dem, wie die genannten Fragen beantwortet werden, ergeben sich unterschiedliche Konzeptionen der Dogmatik und der Ethik. Mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft hat sich der Bedarf an ethischer Reflexion erhöht. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt konfrontiert mit Problemen, die durch die überlieferte Moral nur unzurei‐ chend beantwortet werden können. Im Hinblick auf Gentechnik und deren Folgen zum Beispiel ist die traditionelle, an der Bibel orientierte christliche Moral überfordert. Eine ethische Reflexion derartiger Problemkreise setzt einschlägige Fachkenntnisse voraus. Andernfalls würde die Ethik den Pro‐ blemen der modernen Gesellschaft äußerlich bleiben. Vorausgesetzt ist hier‐ bei allerdings auch eine kulturhermeneutische Kompetenz, welche es er‐ laubt, die unterschiedlichen kulturellen Formen der Naturwissenschaft und der Ethik aufeinander zu beziehen. Die theologische Ethik gestaltet sich zu einer Art Kulturhermeneutik. Auf eine solche Weise sensibilisiert die kul‐ turhermeneutische Ethik für Normenkonflikte und ethische Problemlagen. Eindeutige Antworten und Normen zur Entscheidungsfindung kann unter den Bedingungen der komplexen Problemlagen der Moderne keine Ethik mehr geben. Ethiken haben mehr und mehr eine beratende Funktion. Im Aufbau der Ethik schlägt sich der veränderte Problemhorizont in der Konzeption von hochspezialisierten angewandten Ethiken nieder. Sie haben prinzipientheoretische Fragen nach der Begründung der Ethik weitgehend verdrängt. L IT E R ATU R : Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 1986. Reiner Anselm/ Ulrich H.J. Körtner: Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015. Gerfried W. Hunold/ Thomas Laubach/ Andreas Greis (Hrsg.): Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen/ Basel 2000. Ulrich H.J. Körtner: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 4 2019. Dietz Lange: Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebens‐ praxis, Göttingen 2 2002. Wolfgang E. Müller: Evangelische Ethik, Darmstadt 2 2011. Trutz Rendtorff: Ethik, 2 Bde., Stuttgart 2 1990. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/ New York 2011, 287-473. 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie 35 <?page no="37"?> Überliefe‐ rungen von Jesus Chris‐ tus 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss 2.1 Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike Die ersten ‚Theologen‘ des Christentums sind, auch wenn sie den Begriff Theologie weder kannten noch verwendet haben, die neutestamentlichen Autoren. Ihre unterschiedlichen Darstellungen von Geschichte und Wirken Jesu im Neuen Testament haben einen religiösen Charakter. Die Verfasser der Evangelien sind nicht an einem historischen Bericht interessiert. Ihre Deutungen und Erzählungen des Mannes aus Nazareth sind eher, wie man es genannt hat, ‚Gemeindedogmatik‘ (William Wrede [1859-1906]). Es sind Bilder von Jesus, die aus der Perspektive des nachösterlichen Glaubens an den auferstandenen Christus in diversen christlichen Milieus entworfen wurden. Dabei betreiben die neutestamentlichen Autoren Schriftauslegung. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die *Septuaginta, bietet ihnen den Rahmen sowie die Vorstellungswelt, in dem die Geschichte des Nazareners verstanden und erzählt wird. Ebenso wie der Nazarener selbst waren die frühen Christen Juden. Sie stellten das Wirken und Geschick Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen von einem erwarteten Messias und dem Anbruch des Reichs Gottes dar. Die Überlieferungen von Jesus Christus sind von Anfang an sehr vielfältig und heterogen. Neben den vier Evangelien, von denen jedes eine sehr eigene Sicht auf Leben und Wirken des Nazareners wirft, kursierten zahllose andere Überlieferungen wie das sogenannte Thomas-Evangelium, die nicht in den späteren neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden. Das kann auch gar nicht anders sein. Religion existiert stets in der Spannung von geschicht‐ licher Abhängigkeit von religiösen Traditionen und ihren Transformatio‐ nen. Auf diese Weise entstanden in dem religionskulturellen Horizont des antiken Judentums des Zweiten Tempels diverse Narrative von dem Mann aus Nazareth. Mit ihnen schufen sich die frühen Christusgläubigen ihre ei‐ gene religiöse Identität, die sie in ihren Narrativen des Wirkens Jesu Christi darstellten. Mit der Festlegung des biblischen Kanons im vierten Jahrhundert wird diese Textproduktion gestoppt und ein bestimmter Umfang von Texten <?page no="38"?> Etablierung des bibli‐ schen Ka‐ nons als normativ verbindlich definiert. Durch den Abbruch des Weiterschreibens der Jesusüberlieferungen wird deren Varianz gebändigt. Mit der Etablierung des biblischen Kanons von Altem und Neuem Testa‐ ment kommt es zur Unterscheidung von kanonischen und *apokryphen Evangelien. Auch die Differenz von Orthodoxie und Häresie entsteht allein durch solche Selektionsleistungen. Ein Kanon hat eine identitätsbildende Funktion für das frühe Christentum. Nur indem er das Fortschreiben und Variieren der Jesusüberlieferung abbricht, bleibt das Christentum erkennbar. Erhalten hat sich die Pluralität der ‚Theologien‘ des frühen Christentums freilich auch in dem neutestamentlichen Kanon noch. Die vier Evangelien präsentieren sehr unterschiedliche religiöse Deutungen der Geschichte Jesu. Daneben steht die Briefliteratur. In ihr verdichten sich, wie in den Briefen des Apostels Paulus und seiner Schule, theologische Reflexionen auf den Gehalt des Wirkens des Nazareners. Im Fokus der religiösen Theologie des Völkerapostels stehen der Glaube und die Gerechtigkeit Gottes. Das Neue Testament enthält unterschiedliche theologische Konzeptionen, die sich nicht harmonisieren lassen. Es bietet identitätsbildende religiöse Nar‐ rative, aber keine expliziten theologischen Lehren von Gott, Christus oder dem Heiligen Geist. L IT E R ATU R : Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Iden‐ tität in frühen Hochkulturen, München 7 2013. Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2 2004. Sandra Huebenthal: Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, Göttingen 2 2018. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung: Theologische Hermeneutik heute, Darm‐ stadt 2005. Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Geschichte des Urchristen‐ tums, Gütersloh 2000. William Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901. 4 1969. 2.1.1 Die Theologie der antiken Philosophie Auch wenn schon im Neuen Testament theologische Deutungen vorliegen, so hat sich doch eine Theologie erst in den ersten nachchristlichen Jahr‐ hunderten herausgebildet. Einen wesentlichen Einfluss hierauf hatte die 38 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="39"?> Gottesbe‐ griff Platon Idee des Guten Rezeption der antiken Philosophie. Von ihr wurde der Begriff Theologie ge‐ schaffen. Aus der Verbindung von christlicher Botschaft und griechischer Philosophie gingen in komplexen und sich überlagernden Prozessen die frühen christlichen Theologien hervor. Die frühchristlichen Denker konnten dabei an die Theologie der Griechen anknüpfen. In Auseinandersetzung mit der polytheistischen Volksreligion arbeiteten griechische Philosophen einen monotheistischen Gottesbegriff heraus. Gott ist für sie das erste und letzte Prinzip, die Ursache von allem, was ist. Insbesondere der Kosmos und seine geordnete Struktur fungieren als Paradigma der Theologie. Im Unterschied zu dem biblischen Gott, der sich dem Menschen offenbart, ist der Gott der Philosophen durch die Vernunft zu erschließen. Das Göttliche als Ursache des Kosmos erkennt man durch einen Rückschluss von der Welt. Die wich‐ tigsten philosophischen Theologien, welche einen prägenden Einfluss auf das junge Christentum ausübten, stammen von Platon (428/ 427-348/ 347 v.-Chr.), Aristoteles (384-322 v.-Chr.) und der Stoa. In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie hatte Platon in der Politeia (Staat) einen philosophischen Gottesbegriff ausgearbeitet. Das wahre Wissen gründet für ihn nicht in dem, was mit den Augen sichtbar oder durch die Sinne wahrnehmbar ist. Derartiges Wissen ist, wie er in dem Dialog Phaidon schreibt, stets voll Betrug. Es ist wandelbar und unterliegt dem Schein. Dem wandelbaren Wissen setzt Platon die Ideen entgegen. Sie sind unsichtbar, ewig und wahr. Die Ideen, die allein dem Denken zugänglich sind, sind der Grund des intersubjektiv verbindlichen Wissens. Wahres Wis‐ sen besteht in der Erkenntnis der Idee. In ihr erinnert sich die unsterbliche Seele gleichsam der Ideen, die sie vor ihrer Geburt, nämlich ihrer Vereini‐ gung mit dem Leib, geschaut hat. Die Philosophie hat die Aufgabe, das Wis‐ sen durch einen Rückgang auf die Ideen als letzte Gründe zu fundieren. Allerdings belässt es Platon nicht bei einem Rückgang zu den Ideen als Inbegriff des Wahren, Wesenhaften und Seienden. Er fragt auch nach dem Grund des Ideenkosmos. Ihn nennt er die Idee des Guten. Von ihr gilt, wie es in dem Sonnengleichnis der Politeia heißt, sie gehe noch über das Wesen hinaus. Der letzte Grund allen Wissens ist transzendent. Er ist jenseits von Wahrheit, Wesen und Seiendem. Mit der Idee des Guten hat Platon einen philosophischen Gottesbegriff ausgearbeitet, in dem das Denken bei seiner Suche nach letzten Gründen gleichsam selbst zum Abschluss kommt. Gott steht hier für eine Aufgabe des Denkens. Es versichert sich in ihm seines eigenen letzten Grunds. Zugleich benutzt Platon seinen philosophischen Gottesgedanken in der Politeia zur Kritik an den überlieferten Mythen. Sie 2.1 Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike 39 <?page no="40"?> Stoff und Form unbeweg‐ ter Bewe‐ ger seien, so sein Argument, schädlich für die Erziehung der Jugend und folglich aus einem idealen Staat zu verbannen. Aristoteles, der Schüler Platons aus Stageira, unterzog die Philosophie seines Lehrers einer radikalen Umformung. Für Platons philosophisches System ist ein Dualismus von Ideen- und Erscheinungswelt konstitutiv. Der Stagirit hingegen hat den platonischen Dualismus in ein empirisches Forschungsprogramm überführt. Statt von Ideen spricht er von der Form (griechisch: morphē). Jede Form setzt etwas voraus, was geformt werden kann, den Stoff (griechisch: hyle). Hieraus resultiert die Unterscheidung von Form und Stoff beziehungsweise Potenz und Akt (lateinisch: potentia und actus). Ausgangspunkt für diese Fassung der philosophischen Grundbegriffe ist die Beobachtung, dass in unserem Erkennen der Begriff stets an einen sinnlichen Stoff gebunden ist. Die Ideen sind also nicht, wie Platon annahm, in einem transzendenten Ideenhimmel zu lokalisieren, sie sind vielmehr den Dingen immanent, wie in unserer Auffassung der Dinge die Begriffe den sinnlichen Wahrnehmungen immanent sind. Erst die beiden Momente Stoff und Form zusammen bilden das wirkliche Sein der Dinge. In dieser Verbindung ist der Stoff die Möglichkeit oder Potenz zu allem Wirklichen, die Form aber ist die Verwirklichung dieses Möglichen, der Aktus. Die Form ist also der Zweck. Aristoteles veranschaulicht das Ver‐ hältnis von Form und Stoff an dem Marmor, aus dem der Bildhauer die Statue meißelt. Der Marmor ist die Möglichkeit und die Statue die geformte Wirk‐ lichkeit. In den Schriften, die später unter dem Titel Metaphysik zusammengefasst wurden, hat Aristoteles eine förmliche Theologie konzipiert. Sie resultiert aus dem methodischen Grundbegriff seiner Philosophie, der Bewegung. Diese avanciert zum Prinzip der Erklärung des natürlichen Kosmos und er‐ setzt Platons an dem Ideenkosmos orientierte *Kosmologie. Alle Möglichkeit (griechisch: dynamis) strebt nach Verwirklichung. Hierzu bedarf es eines Prinzips, welches die zielgerichtete Bewegung (griechisch: entelecheia) er‐ klärt. Diese Funktion übernimmt der aristotelische Gottesgedanke, der un‐ bewegte Beweger. Das Göttliche ist für Aristoteles das ‚erste und vorzüg‐ lichste Prinzip‘ und wird als reine Wirksamkeit (lateinisch: actus purus) bestimmt. Der aristotelische Gott ist kein Schöpfergott, der wie der plato‐ nische Demiurg bei der Erschaffung der Welt den Ideenkosmos in die Ma‐ terie einbildet, er hält vielmehr die selbst anfangslose Welt in ständiger Be‐ wegung. Damit ist nicht nur der Gottesgedanke von Aristoteles auf der Grundlage seiner empirisch fundierten Naturwissenschaft neu bestimmt, es 40 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="41"?> Stoa ist auch ein gegenüber der platonischen *Kosmologie neues kosmologisches Paradigma etabliert. Das göttliche Sein ist für Aristoteles als Ursache und Grund aller Bewe‐ gung selbst unbewegt. Im 12. Buch der Metaphysik argumentiert er mit dem Gedanken, jede Bewegung muss eine Ursache haben, auf die man von der Wirkung aus zurückschließen kann. Allerdings kann in dem Rückgang auf die Ursachen der Bewegung kein unendlicher Regress angenommen werden. Es sei unmöglich, so Aristoteles, ‚dass das Bewegende und selbst von einem andern Bewegte ins Unendliche gehe; denn vom Unendlichen gibt es kein Erstes‘. Folglich muss es eine erste Ursache aller Bewegung geben, die selbst unbewegt alles andere bewegt. Das ist Gott: der erste unbewegte Bewegende, das rein Wirkliche. Er ist der Ursprung, an dem der Himmel und die Natur hängen. Das Göttliche hält das All zusammen, aber nicht auf eine äußerliche Weise. Gott, als das letztlich Erstrebte, ist in allem Wirklichen anwesend. Der aristotelische Gott ist vollkommen. Er ist reine Form, actus purus, reines Denken. Da der Inhalt, den ein vollkommener Gott denkt, nur vollkommen und das Höchste sein kann, so denkt dieser Gott ewig sich selbst. Er hat sich selbst zum Gegenstand seines Denkens. Die Stoa bildet neben Platonismus und Aristotelismus die dritte wir‐ kungsmächtig wichtige Strömung der antiken Philosophie. Auf die Formie‐ rung des frühchristlichen Denkens hatte sie einen prägenden Einfluss, auch wenn sich deren Grundprämissen nur schwer mit dem christlichen Gottes‐ gedanken vereinigen lassen. Die Philosophie der Stoa, deren Begründer Ze‐ non von Kition (333-264 v. Chr.) ist, ist fast ausschließlich durch spätere Bruchstücke überliefert. Sie stellt eine Alternative sowohl zu Platon als auch zu Aristoteles dar und zeichnet sich insbesondere durch den Systemgedan‐ ken aus. Stoa Die Entwicklung des stoischen Denkens wird zumeist in drei Phasen untergliedert, zunächst die alte Stoa, eine mittlere Epoche und schließ‐ lich die Stoa der Kaiserzeit. Wichtige Vertreter der älteren Stoa sind neben Zenon Kleanthes (geb. um 331/ 330 v. Chr.) und Chrysipp (geb. zwischen 281 und 277 v. Chr.). Diogenes von Seleukeia (ca. 240-150 v. Chr.) und Panaitios (185-110 v. Chr.) sind wichtige Repräsentanten der mittleren Phase, die besonders durch eine Modifikation des älteren stoischen Denkens geprägt ist. Bekannte stoische Denker der Kaiser‐ 2.1 Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike 41 <?page no="42"?> Leben in Einklang mit der Na‐ tur Vorsehung zeit sind vor allem Seneca (4 v. Chr.-65) und Marc Aurel (röm. Kaiser 161-182). Im Zentrum der Stoa steht die Überzeugung eines Lebens in Einklang mit der Natur. Darin besteht das Ziel des philosophischen Strebens. Die gesamte Wirklichkeit wird als ein geordnetes System verstanden. Es wird ausgehend von einem Prinzipiengefüge von Aktivität und Passivität in Naturphiloso‐ phie, *Kosmologie, Anthropologie, Ethik und Logik bis hin zum Gottesge‐ danken konstruiert. Dabei verstehen die Stoiker sowohl die Prinzipien als auch das durch sie konstituierte Sein einschließlich des Seins Gottes als körperliche Substanzen. Stoische Denker haben auch eine Theologie ausgearbeitet, deren ein‐ flussreichster Bestandteil die Lehre von der Vorsehung (griechisch: pro‐ noia) darstellt. Das Göttliche wird als Universalnatur verstanden, der sowohl eine vernünftige Seele als auch Glieder zukommen. Es ist im Kosmos und seinen zweckmäßigen Strukturen präsent. Die Welt entspringt gleichsam der Vorsehung Gottes. In der Stoa erhält auch der Theologiebegriff eine weitere Ausdifferenzierung. Die stoischen Denker unterscheiden einen drei‐ fachen Gebrauch (lateinisch: theologia tripertitia): (1.) die mythische Theo‐ logie der Dichter, (2.) die physische Theologie der Philosophen, denen es um das wahre Wesen der Wirklichkeit (griechisch: physis) zu tun ist, und (3.) die politische Theologie, die sich mit der gesetzlichen Ordnung, insbesondere mit dem öffentlichen staatlichen Kultus befasst. L IT E R ATU R : Aristoteles: Metaphysik. Griechisch-Deutsch, 2 Bde., hrsg. v. Horst Seidl, Hamburg 2 1982/ 2 1984. Ulrich Barth: Gott ähnlich werden. Anmerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion bei Platon, in: Dietrich Korsch/ Hartmut Ruddies (Hrsg.): Wahrheit und Versöhnung. Theologisch-philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Güters‐ loh 1989, 13-46. Robert Bees: Art.: Stoa, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, Tübingen 4 2004, 1739-1742. Christian Danz: Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbe‐ griffs, Neukirchen-Vluyn 2007, 17-35. Stefan Dienstbeck: Die Theologie der Stoa, Berlin/ Boston 2015. Werner Jaeger: Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953. 42 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="43"?> Apologeten Logos Wolfhart Pannenberg: Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: ders.: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 296-346. Platon: Der Staat, hrsg. v. Gernot Krapinger, Ditzingen 2017. Martin Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 8 1992. Clemens Zintzen (Hrsg.): Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981. 2.1.2 Die Herausbildung der frühchristlichen Theologie in der Alten Kirche Das frühchristliche Verständnis von Theologie formierte sich vor dem Hin‐ tergrund der biblischen Überlieferungen und der philosophischen Debatten im sogenannten mittleren Platonismus. In jener Zeit ist allerdings der The‐ ologiebegriff noch nicht fixiert und wird auch kaum verwendet. Frühchrist‐ liche Denker wie Justin der Märtyrer (100-165) oder Clemens von Alexan‐ drien (150-215) verstehen sich als Philosophen. Für sie ist das Christentum die wahre Philosophie. Dieser Grundzug wird bereits bei den sogenannten Apologeten sichtbar. Sie versuchen, im 2. und 3. Jahrhundert die christliche Überlieferung mit der antiken Philosophie zu verbinden, um den Christus‐ glauben gegenüber Einwänden der heidnischen Philosophie sowie des Ju‐ dentums zu verteidigen. Wichtige Vertreter sind neben Justin Aristides von Athen (erste Hälfte 2. Jh.) und Athenagoras (133-190). Justin greift hierzu auf die philosophische Logoslehre des mittleren Platonismus sowie der Stoa zurück und verbindet sie mit dem Prolog des Johannesevangeliums. Plato‐ nismus und Christentum stehen nicht im Widerspruch zueinander, sie stim‐ men überein, da beiden derselbe Logos zugrunde liegt. Christus ist für Justin der Logos beziehungsweise die Weltvernunft (griechisch: logos spermatikos, Vernunftkeim), die zunächst bei Gott ist und sich in der Schöpfung in die Welt entäußert. Der Gedanke des Logos erklärt, warum sich auch im Denken der Heiden, zum Beispiel bei Sokrates (469-399 v. Chr.) und Platon, Wahrheit findet. Sie alle haben Anteil an dem sich in die Welt entäußernden Logos. Freilich ist dieser in Jesus Christus Mensch geworden. In ihm ist der ganze Logos offenbart, im Denken der heidnischen Philosophen hingegen nur Bruchstücke. Die Logoslehre erlaubt es, sowohl die Wahrheit des Christen‐ tums mit den Mitteln der Philosophie zu begründen als auch an einer - wenn auch abgestuften - Wahrheit der Philosophie festzuhalten. 2.1 Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike 43 <?page no="44"?> Origenes Tertullian Bei den Apologeten tritt die *Kosmologie in den Vordergrund des Inter‐ esses. Platon habe, wie Justin betont, die von ihm in seinem Dialog Timaios ausgeführte Schöpfungslehre direkt von Moses aus dem ersten Buch der Bibel übernommen. Der Kosmos ist für die frühchristlichen Denker ein geordnetes Ganzes, von Gott geschaffen und von seiner Weltvernunft durch‐ waltet. Das Urteil Adolf von Harnacks (1851-1930), die Dogmenbildung der Alten Kirche stelle eine verfremdende und überformende *Hellenisierung des Christentums dar, hat an den kosmologischen Spekulationen der Apo‐ logeten und dem Zurücktreten der Soteriologie seinen Anhalt. Wichtige Zentren der frühchristlichen Kultur waren das ägyptische Alex‐ andria und Nordafrika. In der Metropole am Nildelta formierte sich das Denken des griechisch sprechenden christlichen Ostens, in Nordafrika das des lateinischen Westens. Clemens von Alexandrien sowie Origenes (185- 254) markieren den Höhepunkt der apologetischen Strömung im Osten. Auch sie verstehen sich noch als Philosophen. Das Christentum ist ihnen die wahre Philosophie. Origenes führte nicht nur die Logoslehre zu ihrem Höhepunkt, er schuf mit seinem Werk Vier Bücher von den Prinzipien (latei‐ nisch: De principiis) die erste umfassende Darstellung der theologischen Gehalte des christlichen Glaubens. Allerdings ist dieses Werk lediglich in einer lateinischen Übersetzung aus dem vierten Jahrhundert von Rufinus von Aquileia (ca. 345-411/ 412) überliefert. Origenes, der ein hochgebildeter Schriftsteller war - er studierte vermutlich bei dem neuplatonischen Philo‐ sophen Ammonius Sakkas (gest. 241/ 42), dem Lehrer Plotins (205-270) -, verfasste neben seinem systematischen Werk zahlreiche exegetische Ab‐ handlungen, die für die Herausbildung der Hermeneutik eine zentrale Rolle spielen. In den Vier Büchern von den Prinzipien entwickelt er auf der Grund‐ lage der platonischen Philosophie ein umfassendes theologisches System. Es nimmt seinen Ausgang bei der Trinitätslehre und geht dann weiter zur Schöpfung, deren Abfall von Gott und der durch Christus vermittelten Rückkehr der abgefallenen Welt zu Gott. Die sichtbare Welt ist für Origenes nicht das Werk des göttlichen Schöpferwillens. Sie verdankt sich dem Fall des Menschen. Der aus Karthago stammende Tertullian (150-nach 220), der sich in spä‐ teren Jahren der rigorosen asketischen Bewegung der *Montanisten an‐ schloss, prägte das theologische Denken im lateinischen Westen des römi‐ schen Reichs. Ausgebildet in Jurisprudenz und Rhetorik schärfte er vor allem die lateinische theologische Begriffssprache. Die Grundbegriffe der Trini‐ tätslehre sowie der Christologie wurden von ihm geschaffen. Wichtige Cha‐ 44 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="45"?> Konstantin trinitari‐ sches und christologi‐ sches Dogma Arius Athanasius von Alexan‐ drien rakteristika des westlichen theologischen Denkens begegnen bereits bei ihm: die ethische Zuspitzung des christlichen Glaubens sowie das Interesse an hierarchischen kirchlichen Ordnungsstrukturen. Von Bedeutung wird die sogenannte Glaubensregel (lateinisch: regula fidei). Sie gilt als Zusammen‐ fassung der auf die Apostel zurückgehenden christlichen Überlieferung, der autoritative Geltung zukommt. Deren Träger sind der zweiteilige biblische Kanon sowie die Kirche. Der römische Kaiser Konstantin (zwischen 277 und 288-337) machte das bislang verfolgte Christentum zu einer legalisierten Religion. Es fungierte von nun an als Integrationsmedium in dem kulturell und religiös heteroge‐ nen römischen Reich. Die neue Bedeutung der christlichen Religion bildet den Hintergrund der dogmatischen Entscheidungen der Alten Kirche über das trinitarische und christologische Dogma im 4. und 5. Jahrhundert. Im Jahre 325 berief der römische Kaiser das Konzil (in Anlehnung an Apg 15 eine Versammlung von kirchlichen Amtsträgern) von Nicäa ein, um die theologischen Streitereien über die Gottheit Christi und dessen Verhältnis zu Gott dem Vater zu schlichten. Im Neuen Testament finden sich sehr un‐ terschiedliche Aussagen über Christus. Im Johannesevangelium sagt Jesus zum Beispiel, „Ich und der Vater sind eins.“ ( Joh 10,30). Wenig später heißt es jedoch im selben Evangelium „der Vater ist größer als ich“ ( Joh 14,28). Wie sind solche divergierenden Bekenntnisse des Gottessohnes zu inter‐ pretieren? Im sogenannten arianischen Streit kam der Konflikt der Inter‐ pretationen zum Austrag. Der alexandrinische Diakon und Presbyter Arius (gest. 336) hatte behauptet, Christus sei zwar das höchste der Geschöpfe, aber - wie aus Stellen des vierten Evangeliums hervorgeht - Gott unterge‐ ordnet. Der Monotheismus, den der alexandrinische Denker vertrat, ließ neben dem einen Gott keinen zweiten zu. Christus wird dadurch zu einem Gott untergeordneten Mittlerwesen. Widerspruch gegen diese christologi‐ sche Position wurde schnell laut. Auch er konnte sich auf das Neue Testa‐ ment berufen. Insbesondere Athanasius von Alexandrien (um 298-373) machte gegen Arius geltend, Christus könne den Menschen nur dann erlö‐ sen, wenn er selbst ganz Mensch und ganz Gott sei. Der Gottessohn ist also nicht, wie sein alexandrinischer Widersacher behauptet, ein irgendwann geschaffenes Wesen, er gehört vielmehr von Ewigkeit an zu Gott. Auf dem Konzil von Nicäa wurde die Position des Athanasius durchgesetzt, und die Anhänger des Arius wurden exkommuniziert. Christus ist wesenseins (grie‐ chisch: homoousios, lateinisch: consubstantialis) mit Gott dem Vater. Aller‐ dings fanden die Konzilsbestimmungen von 325, sie fixierten die dogmati‐ 2.1 Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike 45 <?page no="46"?> schen Bestimmungen des dreieinigen Gottes, im griechisch sprechenden Osten des römischen Reichs nur wenig Zustimmung. Die Theologen der Ostkirchen empfanden die Formulierungen als unbiblisch und häretisch. Erst die Bemühungen der sogenannten drei großen Kappadokier (*Neoni‐ zänianismus), Basilius von Caesarea (gest. 378), Gregor von Nazianz (gest. 390) und Gregor von Nyssa (gest. 395) führten zu einer Klärung. Während das Bekenntnis von Nicäa lediglich die Wesenseinheit von Gott dem Vater und dem Sohn formulierte, fügte das von Konstantinopel im Jahre 381 die Homoousie des Heiligen Geistes hinzu. Dem waren Streitigkeiten über das Verhältnis des Geistes zu Gott vorangegangen. Die wichtigsten christologischen Entscheidungen der Alten Kirche fielen im 5. Jahrhundert. Schon im Neuen Testament wird Jesus von Nazareth mit Bildern und ‚Titeln‘ bedacht (*christologische Hoheitstitel), die ihn auf eine Ebene mit Gott stellen. An sie knüpfte die weitere Diskussion an. In den ersten Jahrhunderten sind die Bestimmungen und Aussagen, die man von Christus machte, allerdings noch sehr im Fluss. Entwicklung der Christologie in der Alten Kirche Die frühchristlichen Denker arbeiteten sehr unterschiedliche Modelle und Konzeptionen aus, um die religiöse Bedeutung Jesu zu fassen. Die wichtigsten Modelle sind: Adoptionschristologien: Gott hat Christus zu seinem Sohn adop‐ tiert, zum Beispiel bei der Taufe durch Johannes (Paul von Samosata [gest. nach 272]) Gnostizismus: Christus als göttliches Lichtwesen hat nur zum Schein einen menschlichen Leib angenommen Logoschristologien: Christus ist die *Inkarnation der Welt‐ vernunft ( Justin, Origenes) Modalismus: Christus ist eine Erscheinungsweise Gottes (Sabellius [nach 200]) 46 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="47"?> Zweinatu‐ renlehre Cyrill von Alexan‐ drien Arianismus: Christus ist zwar das höchste der Ge‐ schöpfe, aber Gott untergeordnet (sub‐ ordiniert) Nachdem das Konzil von Nicäa die Wesenseinheit von Gott dem Vater und Gott dem Sohn dogmatisch verbindlich geregelt hatte, wurde in den folgen‐ den Jahren die Frage virulent, wie vor diesem Hintergrund die Person Christi selbst zu fassen sei. Mit der Feststellung seines wahren Gottseins ist nämlich noch nichts darüber ausgesagt, wie sich seine Gottheit zu seinem Mensch‐ sein verhält und wie beide Aspekte in einer Person zusammen bestehen können. Die Beantwortung dieser Frage führte zur Ausbildung der soge‐ nannten Zweinaturenlehre. Deren Ausformulierung auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 wurde ausgelöst durch den nestorianischen Streit. Nestorius (gest. um 450), Patriarch von Konstantinopel, bezeichnete Maria als Christusgebärerin (griechisch: christotokos). Den Hintergrund der von ihm gewählten Bezeichnung bildet die Theologie der Antiochener. In der Christologie ging es ihnen darum, die beiden Naturen in der Person Christi zu unterscheiden. Christus ist eine Person in zwei Naturen. Offen blieb dabei scheinbar die Frage, wie die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur näher zu bestimmen sei. Darauf legten die alexandrinischen Theologen den Finger. Allen voran Cyrill von Alexandrien (378-444) machte geltend, Chris‐ tus bestehe zwar aus zwei Naturen, aber nach ihrer Vereinigung in der Menschwerdung bilden sie eine Einheit. Maria sei deshalb Gottesgebärerin (griechisch: theotokos) zu nennen. In dieser Position schien den Theologen der antiochenischen Schule die Menschheit des Gottessohnes nach seiner Vereinigung mit der ewigen göttlichen Natur aufgehoben. In dem Mensch‐ gewordenen wäre damit nur noch eine Natur, die göttliche. Sie ersetzt gleichsam die Menschheit in Christus. Aber widerspricht eine solche Auf‐ fassung des menschgewordenen Gottessohnes nicht den evangelischen Be‐ richten von ihm, den Aussagen über sein Leiden, fragten die Antiochener nicht zu unrecht. Die im Jahre 451 in Chalcedon zusammengekommenen Theologen lösten den zwischen Alexandria und Antiochien schwelenden Streit durch eine Kompromissformel. Ein zwanzig Jahre zuvor in Ephesus von dem Kaiser einberufenes Konzil führte noch zu keiner Einigung der Parteien. Die 2.1 Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike 47 <?page no="48"?> Augustinus Formel, die man in Chalcedon fand, Christus existiere in zwei Naturen, die in seiner Person unvermischt und unverwandelt sowie ungetrennt und unzerteilt seien, überzeugte allerdings die Theologen im Osten des Reichs nicht. Bald regte sich Widerstand, da man die dogmatischen Bestimmungen als nestorianisch empfand. Die neuen Kontroversen über die richtige Auf‐ fassung Christi kamen erst durch das dritte Konzil von Konstantinopel im Jahre 681 zu einem Abschluss. Das wichtigste dogmatische Werk des christlichen Ostens stammt von Johannes von Damaskus (um 650-vor 754) und trägt den Titel Quellen der Erkenntnis (griechisch: pege gnoseos). In ihm fasste er das Denken der griechischen Theologen der Antike in Form einer Sammlung ihrer Aussagen zusammen. L IT E R ATU R : Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 56-79. Franz Dünzl: Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2006. Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Darmstadt 1980 (ND der 4. Auflage Tübingen 1909). Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd.-1: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995. Origenes: Vier Bücher von den Prinzipien, hrsg. v. Herwig Görgemanns/ Heinrich Karpp, Darmstadt 1976. Adolf Martin Ritter: Dogma und Lehre in der alten Kirche, in: Carl Andresen/ ders. (Hrsg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd.-1: Die Lehrent‐ wicklung im Rahmen der Katholizität, Göttingen 2 1999, 99-283. Martin Wallraff: Was ist Theologie in der Spätantike? , in: ThLZ 148 (2023), 1057- 1070. 2.2 Das Zeitalter der großen Summen Von entscheidender Bedeutung für die Formierung der Theologie im latei‐ nisch sprechenden Westen des römischen Reichs sowie des Theologiever‐ ständnisses im Mittelalter ist Augustin (354-430) aus Nordafrika. Streng chronologisch gesehen gehört der afrikanische Denker in die Alte Kirche, aber aufgrund seines überragenden Einflusses auf die Theoriebildungen der westlichen Theologie markiert er den Anfang des mittelalterlichen theolo‐ gischen Denkens. Genaue Abgrenzungen des medium aevum sind ebenso 48 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="49"?> biblische Überliefe‐ rung und Platonis‐ mus Theologen des frühen Mittelalters umstritten und unzureichend wie die Unterscheidung von Früh-, Hoch- und Spätscholastik. In den Jahrhunderten, die man in der Regel mit dem Epo‐ chenbegriff Mittelalter zusammenfasst, wurde der Begriff Theologie erst zur Bezeichnung der gedanklichen Bearbeitung der christlichen Lehre. Die alt‐ kirchlichen Denker verwendeten hierfür eher den Begriff Philosophie oder gar gnosis (griechisch: Erkenntnis). Mit dem griechischen Lehnwort theolo‐ gia meinen sie heidnische Mythendichter wie Homer (vermutlich um 850 v. Chr.) und Hesiod (vor 700 v.-Chr.). Bei Augustin, dem Bischof der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius, treten die Grundzüge des theologischen Denkens, die für die lateinische Christenheit zentral sind, prägnant hervor: Sünden- und Gnadenlehre, *Prä‐ destination, Kirche und Sakramente. Als Denker verknüpfte er die biblische Überlieferung mit dem Platonismus. Gott ist ihm, freilich im Unterschied zu Platon, die ewige Wahrheit. Aus der Verschmelzung von Bibel und Plato‐ nismus geht eine Art kontemplatives Denken hervor. Gottdenken ist in ers‐ ter Linie Weisheit (lateinisch: sapientia). Es richtet sich auf das Unvergäng‐ liche und Bleibende und kehrt sich von der Welt des Vergänglichen ab. Der Sündenfall des Menschen besteht geradezu in seiner Ausrichtung auf das Sinnliche. Dadurch wird die von Gott geschaffene Ordnung des Kosmos, der Afrikaner versteht sie in den Spuren Platons und der Stoa, verkehrt. Das Vergängliche wird an die Stelle des unveränderlichen Gottes gesetzt. Von sich aus kann der von Gott abgefallene Mensch sich Gott nicht wieder zu‐ wenden. Der späte Augustin vertritt in Auseinandersetzung mit den Pela‐ gianern, einer auf den englischen Mönch Pelagius (ca. 350-420) zurückge‐ henden theologischen Strömung, die den freien Willen des Menschen betont, nach 396 eine Gnaden- und Erwählungslehre, in der Gott allein das Heil und das Unheil des Menschen wirkt. Von einer Freiheit des Menschen im Hinblick auf die Herstellung seines Heils kann keine Rede sein. Das augustinisch-platonische Denken bestimmte zunächst die Theologen des frühen Mittelalters. Die Zentren der theologischen Arbeit, also der Aus‐ einandersetzung mit den biblischen Schriften und ihrer Kommentierung durch die Kirchenväter, waren Klöster, in den Städten Kathedralschulen und später Universitäten. Hier wurden die Lehrmeinungen der alten Theologen gesammelt, kommentiert und überliefert. Auf diese Tätigkeit geht der Begriff Scholastik (von lateinisch: scholasticus, Gelehrter) zurück. Er bezeichnet so‐ wohl Theologen als auch Philosophen, deren moderne Unterscheidung dem Mittelalter noch unbekannt ist. 2.2 Das Zeitalter der großen Summen 49 <?page no="50"?> Anselm von Canterbury Petrus Abaelardus Petrus Lom‐ bardus Die von Augustin geschaffene Verbindung von biblischem und platoni‐ schem Denken wird aufgenommen von Anselm von Canterbury (1033/ 34- 1109). Der frühscholastische Denker bezeichnet die Auslegung der christli‐ chen Lehrüberlieferung noch nicht als Theologie. Ganz im Sinne des Bi‐ schofs von Hippo Regius geht es ihm um eine gedankliche Durchdringung der Glaubensgehalte. In seinen bekannten Schriften Proslogion (1077/ 78) und Cur Deus Homo (1098) unternimmt er den Versuch, die Existenz Gottes sowie die Menschwerdung Gottes mit den begrifflichen Mitteln der Vernunft zu begründen. Dadurch soll der Skeptiker, der solchen Glaubenswahrheiten mit dem Herzen zuzustimmen geneigt ist, im Kopf mit Argumenten überführt werden. Die von ihm geglaubte Wahrheit soll nicht nur eine solche sein, sie soll vielmehr auf einsichtige Weise verstanden werden (lateinisch: fides quaerens intellectum). Den gedanklichen Rahmen hierfür bietet der Plato‐ nismus. Er ist die Voraussetzung für das sogenannte eine Argument (latei‐ nisch: unum argumentum) von Anselm, mit dem er die Existenz Gottes aus dessen Begriff ableitet. Gott ist ihm das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (lateinisch: id, quo nihil maius cogitari potest). Zum Begriff Gottes gehört dessen Existenz bereits hinzu, da die platonischen Ideen das wahre Sein darstellen. Denkt man Gott als nicht existierend, dann - so die Konsequenz - hat man ihn nicht gedacht. Anselm gebrauchte zur Durchführung seines philosophisch-theologi‐ schen Programms die didaktische Form des Dialogs. Petrus Abaelardus (1079-1142) nutzte die Dialektik. In seinem Werk Sic et non ( Ja und Nein) stellt er konfligierende Lehrmeinungen der Kirchenväter mit dem Ziel zu‐ sammen, deren Widersprüchlichkeit aufzuweisen. Solche Divergenzen kön‐ nen allein durch Interpretationen gelöst werden und nicht durch eine Be‐ rufung auf Autoritäten. Die von ihm geschaffene Methode regte die sogenannte Quaestionenliteratur (von lateinisch: quaestio, Frage) an. Abae‐ lards Schüler Petrus Lombardus (1095/ 1100-1160) schuf mit seiner Schrift Liber sententiarum (Sentenzenbücher, von lateinisch: sententia, Meinung) eines der einflussreichsten Lehrbücher des Mittelalters. Bis hin zu Martin Luther wurden dessen Sententien im Lehrbetrieb von angehenden Theolo‐ gen immer wieder kommentiert und um neue Fragestellungen erweitert. In den vier Teilen der Schrift erörtert der Lombarde durch eine Zusammen‐ stellung von Meinungen der Kirchenväter die Gottes-, Schöpfungs-, Inkar‐ nations- und Sakramentslehre. Jetzt etabliert sich auch der Begriff Theologie zur Bezeichnung der kirchlichen Lehre im Ganzen. 50 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="51"?> Umbruch im Wissen‐ schaftsver‐ ständnis Thomas von Aquin Synthese von Aristo‐ telismus und Chris‐ tentum Zu einem Umbruch im Wissenschaftsverständnis mit gravierenden Fol‐ gen für die Auffassung der theologischen Arbeit kam es im 13. Jahrhundert. Dem lateinisch sprechenden Abendland waren die Schriften des Aristoteles nur zu einem Teil bekannt. Ein wichtiger Übermittler von dessen Denken war Boethius (480/ 485-524/ 526). Infolge der Expansion des Islam wurde den lateinischen Gelehrten des Westens im 13. Jahrhundert das Corpus Aristote‐ licum vermittelt. Die Bekanntschaft mit dem Werk des Stagiriten löste zu‐ nehmend das platonische Paradigma des theologischen und philosophischen Denkens ab und führte zu einem neuen Verständnis der Theologie als Wis‐ senschaft. Aristoteles zufolge hat jede Einzelwissenschaft Prinzipien, von denen sie ausgeht. Von welchen, so musste man in dem neuen aristotelischen Wissenschaftsparadigma fragen, geht die Theologie aus, wenn sie eine scientia (lateinisch: Wissenschaft) sein soll? Thomas von Aquin (um 1225- 1274) gab auf die Frage die Antwort, die Prinzipien der Theologie seien die Glaubensartikel. Die Artikel des Glaubens beziehen sich auf das Wissen, welches Gott von sich selbst hat, sind ihm jedoch untergeordnet. Sein Wis‐ sen von sich selbst hat Gott den Menschen zwar durch seine Offenbarung bekannt gemacht, es ist aber nur dem Glauben und nicht der Vernunft zu‐ gänglich. Theologie ist folglich eine untergeordnete oder subalternierte Wissenschaft. In seinem Hauptwerk, der unvollendet gebliebenen Summa theologica, hat Thomas in Anknüpfung an seinen Lehrer Albertus Magnus (1193/ 1200- 1280) sein neues Verständnis von Theologie als Wissenschaft etabliert. Die Aufgabe der Theologie besteht darin, die Lehrgehalte der Bibel, die nicht der Vernunft zugänglich sind, auf eine vernünftige Weise auszulegen. Zu diesem Zweck verknüpfte der Aquinate die ihm überlieferte theologische Lehrtra‐ dition mit der aristotelischen Philosophie. Das ist nicht ohne Probleme. Der antike Philosoph kennt nämlich weder einen transzendenten Gott noch eine Welt, die von diesem aus dem Nichts ins Dasein gerufen wurde. Für den Philosophen ist die Welt anfangslos. Die von dem Aquinaten geschaffene Synthese von Aristotelismus und Christentum blieb auch nicht unwider‐ sprochen. 1277, nur drei Jahre nach dem Tod von Thomas, verurteilte der Pariser Bischof Stephan Tempier (gest. 1279) 219 theologische und philoso‐ phische Sätze, um den Einfluss der aristotelischen Philosophie auf die Theo‐ logie in die Schranken zu weisen. Die Rezeption des aristotelischen Denkens, die in dem System von Tho‐ mas einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, führte zu zahlreichen Kontro‐ versen über philosophische und theologische Fragen. Der Platoniker Anselm 2.2 Das Zeitalter der großen Summen 51 <?page no="52"?> hatte die Existenz Gottes aus dessen Begriff abgeleitet. Vor dem Hintergrund des aristotelischen Denkens ist ein solcher Beweis des Daseins Gottes unverständlich. In der Summa theologica des Thomas findet dann auch der später ontologisch genannte Beweis von Anselm keine Berücksichtigung. An dessen Stelle treten bei dem Aquinaten kosmologische Beweisverfahren, also solche, die von der Welt als Wirkung auf Gott als deren Ursache zurückschließen. Intensive Debatten werden von den mittelalterlichen Den‐ kern über die Frage geführt, ob Allgemeinbegriffen wie Mensch Realität zukommt. Universalienstreit Universalien (lateinisch: universalia) nennt man Gattungs-, Allgemein‐ begriffe oder auch Eigenschaften. Schon im frühen Mittelalter wurde darüber diskutiert, ob solchen Begriffen Realität zukommt. Vor dem Hintergrund des Platonismus legt es sich nahe, Allgemeinbegriffen wie Mensch oder Gerechtigkeit Realität zuzusprechen. Ähnlich wie den Ideen Platons kommt ihnen im Unterschied zu den Einzeldingen wahre Realität zu. Diese Position nennt man Realismus: Real sind allein die nichtsinnlichen Wesenheiten. Den Einzeldingen kommt lediglich eine abgeleitete Weise von Realität zu. Die Gegenposition hierzu nennt man Nominalismus oder auch via moderna (moderner Weg) im Unterschied zum Realismus der via antiqua (alter Weg). Für den Nominalismus haben nur die Einzeldinge Realität, während Allgemeinbegriffe bloße Nomen, also Wörter sind. Letztere werden als Begriff von der Seele repräsentiert. Das theologische System des Thomas, in dem Aristotelismus und Christen‐ tum unter Beibehaltung grundlegender platonischer Überzeugungen kunst‐ voll miteinander verbunden waren, wurde im 13. Jahrhundert der Kritik un‐ terzogen. Man empfand zunehmend die aus der Philosophie Platons übernommene Annahme, der Bestand der Welt sei von Ewigkeit her in den Ideen gleichsam festgelegt, als Beschränkung der Allmacht Gottes. Der pla‐ tonische Schöpfergott kann in der Tat keine andere Welt schaffen als die, die in dem Ideenkosmos präfiguriert ist. So lehrten es sowohl Augustin als auch Thomas. Für sie ist die von Gott geschaffene Welt in ihren Grund‐ strukturen rational. Andernfalls wäre es unmöglich, von dem Geschaffenen auf seinen intelligenten Welturheber als Ursache zu schließen. Im späten 52 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="53"?> Johannes Duns Sco‐ tus Wilhelm von Ock‐ ham Theologie als prakti‐ sche Wis‐ senschaft Mittelalter werden diese Überzeugungen vor dem Hintergrund der Rezep‐ tion der aristotelischen Philosophie brüchig. Gott ist, wie die spätmittelal‐ terlichen Autoren betonen, in seinem Handeln an keine Vorgaben gebunden, auch nicht an die Ideen als Garanten ewiger Wahrheiten. In seinem Oxforder Kommentar zu den Sentenzen des Lombarden unterscheidet Johannes Duns Scotus (um 1270-1308) zwischen einer absoluten und einer geordneten Macht Gottes (lateinisch: potentia Dei absoluta et ordinata). Mit der Diffe‐ renzierung soll das intrikate Problem der Allmacht Gottes begrifflich geklärt werden. Im Rückgriff auf die genannte Unterscheidung lässt sich sagen, Gott handelt zwar stets nach einer Ordnung, aber diese ist von ihm selbst gesetzt. Es steht ihm also völlig frei, sie jederzeit zu ändern und nach einer anderen Ordnung zu handeln. Der spätmittelalterliche Theologe Wilhelm von Ock‐ ham (1285-1349) hat diese Unterscheidung ebenso aufgenommen wie der in Tübingen lehrende Gabriel Biel (1415-1495). Die Differenzierung zwischen einer absoluten und einer geordneten Macht Gottes steigert die *Kontingenz des göttlichen Handelns, und zwar ebenso im Hinblick auf das Weltverhalten wie das Heil des Menschen. Wenn die Wahrheiten der Mathematik sowie die der christlichen Heilslehre ihre Begründung im Willen Gottes haben, dann werden sie unsicher. Gott könnte jederzeit eine andere Ordnung set‐ zen, da sein Wille durch nichts gebunden ist. Im Horizont eines solchen Gottesverständnisses, welches mit der absoluten Allmacht Gottes die *Kon‐ tingenz der Welt steigert, werden Welt- und Heilserkenntnis untergraben. Das hat Folgen für das Verständnis der Theologie als Wissenschaft. Duns Scotus weist die Begründung des Thomas zurück. Theologie ist keine un‐ tergeordnete Wissenschaft. Bei einer solchen müssten die Prinzipien evident sein. Bei den Glaubensartikeln ist dies allerdings nicht der Fall. Theologie ist folglich als eine praktische Wissenschaft zu begreifen und nicht als eine theoretische, spekulative Disziplin. Sie handelt von Gott, dem höchsten Gut (lateinisch: summum bonum), unter dem Gesichtspunkt der Liebe zu ihm. L IT E R ATU R : Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, Tübingen 1999. Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machia‐ velli, Stuttgart 1986. Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd.-1: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995, 549-636. 2.2 Das Zeitalter der großen Summen 53 <?page no="54"?> Volker Leppin: Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995. Charles Lohr: Art.: Theologie II/ 3. Theologie im lateinischen Christentum des Mittelalters, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-33, Berlin/ New York 2002, 276-279. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987, 226-240. Miriam Rose: Thomas von Aquin, Summa theologiae, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 85-91. Christoph Schwöbel: Art.: Theologie I. Begriffsgeschichte, in: Religion in Ge‐ schichte und Gegenwart, Bd.-8, Tübingen 4 2005, 255-266. 2.3 Die Theologie der Reformatoren Die Reformation bedeutet einen Epochenbruch. Durch sie entstanden un‐ terschiedliche Auffassungen des wesentlich Christlichen in Europa, die nebeneinander existierten und sich gegenseitig ihren Wahrheitsanspruch bestritten. In der Theologie kommt es dadurch zu einer *Konfessionalisie‐ rung. Von den dogmatischen Konzeptionen wird der Anspruch erhoben, die einzig verbindliche Deutung der Wahrheit der biblischen Offenbarung auf systematische Weise auszuarbeiten. Erst dadurch entsteht die Disziplin der Dogmatik als eine zusammenfassende Darstellung und Erörterung des aus der Bibel entnommenen Lehrbegriffs einer Konfession. Mit der Reformation verbindet sich eine Neudeutung der christlichen Religion. Zwar halten die Reformatoren an der gleichsam objektiven Gegebenheit der Inhalte der christlichen Religion fest, aber deren Fokus verschiebt sich auf ihre soteriologische Bedeutung im Glauben. Dieser wird zur Norm und Grenze des Gottesgedankens. Metaphysische Erwägungen über das Sein und Wesen Gottes treten in der Theologie zurück. Von religiöser Relevanz ist demgegenüber die Beziehung Gottes zum einzelnen Menschen im Glauben. L IT E R ATU R : Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, Frankfurt a.M./ Leipzig 2009. Volker Leppin: Die Reformation, Darmstadt 2 2017. 54 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="55"?> Theologie als Erkennt‐ nis Gottes und des Menschen Bußsakra‐ ment 2.3.1 Martin Luther Für Martin Luther ist Theologie Erkenntnis Gottes und des Menschen. Die‐ ses Verständnis von Theologie ist das Resultat seiner Auslegung der Bibel im akademischen Lehrbetrieb, zu der er durch die Übernahme der Witten‐ berger Professur im Jahre 1513 angehalten war. Seine Bibelauslegung stand im Kontext von Kloster und Universität. Sie führte ihn in den folgenden Jahren zu einem von der theologischen Lehrtradition abweichenden Ver‐ ständnis des christlichen Glaubens. Glaube, so die Meinung des Wittenber‐ ger Reformators, ist die Gerechtigkeit Gottes. Diese ist keine göttliche Ei‐ genschaft, sondern eine Gabe, die Gott dem Menschen umsonst gibt. Durch diese Gabe ist der Mensch vor Gott gerecht. Deshalb ist der Glaube bereits das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis. Außer und neben ihm bedarf es keiner weiteren sakramentalen oder kultischen Handlungen. Sein neues Verständnis des Glaubens, der nun zu einem theologischen Zentral‐ begriff wird, ist Luther in seiner Auseinandersetzung mit dem Bußsakra‐ ment der mittelalterlichen Theologie und Kirche erwachsen. Bereits in sei‐ ner ersten Vorlesung über die Psalmen, den Dictata super psalterium (1513- 1515) rückt das Thema der Buße in sein Blickfeld. Gegenüber den drei Be‐ standteilen des Buß-Sakraments, der Reue, dem Bekenntnis und der Genug‐ tuung (lateinisch: contritio, confessio und satisfactio) macht er geltend, die Buße erstrecke sich auf das gesamte Leben des Christen und keinesfalls le‐ diglich auf den sakramentalen Akt. Sie ist Lebensbuße, wie es prägnant in der ersten der 95 Thesen über die Kraft des Ablasses heißt. Die Bedeutung der Buße für die Herausbildung des theologischen Den‐ kens von Luther wird deutlich, wenn man sein frühes Bußverständnis genauer in Betracht nimmt. In ihr entsteht bei dem einzelnen Menschen erst das Bewusstsein, dass er ein Sünder vor Gott ist. Buße ist die Selbster‐ kenntnis des Menschen hinsichtlich seines eigenen Sünderseins. Darin gibt jedoch der Mensch Gott und seinem Urteil über ihn Recht. Dem Urteil Gottes zufolge sind alle Menschen Sünder und Lügner (Ps 116,11; Röm 3,4). Da der Mensch dies jedoch nicht wahrhaben will, verschwindet gewissermaßen die Sünde. Der Einzelne belügt sich dadurch freilich selbst und - gravierender noch - widerspricht dem Urteil Gottes über ihn. Sündenerkenntnis hingegen und ihr Bekenntnis entsprechen dem göttlichen Urteil. Gott und Mensch stimmen in ihrem Urteil überein. Derjenige, der sich als ein Nichts vor Gott erkennt, vertraut nicht mehr auf sich selbst, sondern allein auf Gott und seine Verheißung der Sündenvergebung. Die Übereinstimmung der 2.3 Die Theologie der Reformatoren 55 <?page no="56"?> Glaube ist das Ganze des christli‐ chen Heils Glaube ist rechtferti‐ gender Glaube Selbstbeurteilung des Menschen mit dem Urteil Gottes über ihn bildet den Kern von Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens. Er entdeckte es in seiner Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Bußverständnis. In der weiteren Entwicklung seines Denkens zwischen 1513 und 1520 wurde das Verständnis der Buße zur Grundlage seines neuen Verständnisses des Glaubens. Glaube ist das Ganze des christlichen Heils. Er beinhaltet die Selbster‐ kenntnis des Einzelnen hinsichtlich seines eigenen Sünderseins sowie das Vertrauen auf Gottes Verheißung der Sündenvergebung. Zwischen den beiden Aspekten besteht eine *Antinomie. Luther hat sie in Anlehnung an 1Sam 2,6 stets so formuliert: „Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Hölle hinunter und wieder heraus.“ Sowohl die Erkenntnis des eigenen Sünderseins als auch das Vertrauen auf Gott führt Luther auf ein göttliches Handeln am Menschen zurück. Im Gesetz begegnet Gott dem Menschen mit seinem fordernden Anspruch. Es erheischt die bedingungslose Liebe zu Gott. Der Mensch vermag allerdings der Forderung des Gesetzes nicht zu entsprechen. In sein Handeln sind stets egoistische Motive eingelagert. Sie und damit den Abstand des Menschen zu Gott aufzudecken, ist die theologische Funktion des Gesetzes. Auf diese Weise erkennt sich der unter der Forderung Gottes stehende Mensch als Sünder. Gott erscheint ihm unter und in dem Gesetz als unerbittlich fordernde Macht. Das Evangelium hingegen bezieht sich auf eine doppelte Weise auf die Selbsterkenntnis des Menschen als Nichts vor Gott. Es bestätigt zunächst die Wahrheit dieser Erkenntnis. Alles Handeln des Menschen, auch das, welches der sittlichen Forderung äußerlich entspricht, ist durch selbstbezügliche Momente gebro‐ chen. Zugleich verneint das Evangelium das mit dem Gesetz verbundene Gottesbild. Gott ist Liebe und keine unerbittlich fordernde Macht. Gesetz und Evangelium stehen in einer gedanklich unaufhebbaren Span‐ nung. Sie löst sich nur im individuellen Vollzug des Glaubens auf. Das ist der Grundgedanke des Reformators. Glaube ist rechtfertigender Glaube (la‐ teinisch: fides iustificans). Von ihm aus bildet Luther die Theologie um und spitzt sie auf das individuelle Heil, den Glauben zu. Der Gottesgedanke wird von ihm auf die Entstehung des Glaubens bezogen. Gott ist allein im Glauben beim Menschen. Die *Antinomie von *Gesetz und *Evangelium hat ihren Sitz in Gott. Sie erscheint hier als Widerstreit von Gottes fremdem und ei‐ genem Werk. Gott offenbart sich stets unter dem Gegenteil verborgen. Er tötet, um lebendig zu machen. Entfaltet hat Luther diese antinomische 56 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="57"?> Struktur des göttlichen Offenbarungshandelns in seiner theologia crucis (Theologie des Kreuzes). theologia crucis Die Theologie des Kreuzes stellt einen zentralen Bestandteil im Denken Martin Luthers dar, der keineswegs auf dessen Frühwerk beschränkt ist. Ausgeführt hat er das Konzept vor allem in seinen frühen Vorle‐ sungen, insbesondere der zweiten Vorlesung über die Psalmen (1518- 1521). Die Forschungsliteratur erörtert die theologia crucis oft anhand einer Thesenreihe, die der Wittenberger Theologe im Frühjahr 1518 in Heidelberg diskutierte (Heidelberger Disputation). In diesen The‐ sen stellt er die Kreuzestheologie einer Theologie der Herrlichkeit entgegen und behauptet, wahre Theologie sei die des Kreuzes. Deren Bedeutung geht allerdings weit über die Probleme einer angemessenen theologischen Erkenntnis hinaus. In dem Stichwort theologia crucis verschränkt Luther sünden-, bußthe‐ ologische, soteriologische, christologische und theologische Motive zu einer Gesamtkonzeption. Sie beschreibt unter Aufnahme von bibli‐ schen Belegstellen (Ps 4,4; 1Kor 18,23; Jes 28,21 und Röm 5,4f.), die als systematische Platzhalter fungieren, die Dialektik des göttlichen Offenbarungshandelns. In die Kreuzestheologie ist aufgenommen, dass Gott wundersam handelt. In seinem fremden Werk tötet er, um lebendig zu machen. Das innere Gefälle zwischen Gottes fremdem und seinem eigenen Werk, welches, da er stets unter dem Gegenteil verborgen handelt, nicht offen zu Tage liegt, bringt die theologia crucis ebenso zum Ausdruck wie eine mit dem Sündengedanken verbundene Dialektik von Sein und Schein. Die theologia crucis fungiert ebenso als methodische Grundlage der Chris‐ tologie wie auch des Verständnisses der Kirche. Während der Reformator das Christusbild auf die Niedrigkeit des Kreuzes sowie die Anfechtungen Christi zuspitzt, ist die wahre Kirche verborgen. Sie ist die Gemeinschaft der Glaubenden, die nur Gott kennt. Zwar ist die verborgene Kirche auf die sichtbare bezogen, aber sie ist nicht mit der Institution identisch. Letztere verkündet das Wort Gottes. Das macht sie zur Kirche. Aus der äußeren Verkündigung folgt jedoch nicht unmittelbar der Glaube, die innere Gewissheit des Menschen. 2.3 Die Theologie der Reformatoren 57 <?page no="58"?> Der Glaube als innere Wahrheit des Menschen ist gebunden an das äußere Wort der Bibel, deren gleichsam göttliche Dignität vorausgesetzt wird. Grundlegende Autorität und Norm in theologischen und religiösen Fragen ist für den Wittenberger Reformator die Heilige Schrift. Ihre normative Funktion bahnt sich bereits in der ersten Psalmenvorlesung an, und sie verstärkt sich durch die Auseinandersetzung mit der römischen Kurie infolge des 1517/ 18 einsetzenden Ablassstreits. Die Bibel rückt jetzt in eine Prinzipienfunktion ein, die sowohl der Kirche als auch allen menschlichen Auslegern übergeordnet ist. Um eine solche Wahrheits- und Urteilsinstanz sein zu können, muss die Schrift in sich selbst klar und gewiss sein. Nur auf diese Weise kann sie als Appellationsinstanz und Richter in allen Streitfragen fungieren. So ist für Luther zwar das Gewissen des Menschen der Ort, an dem sich die innere Wahrheit durchsetzt, aber sie verdankt sich nicht dem Gewissen. Wahrheit kommt allein Gott und seiner Heiligen Schrift zu. Martin Luther baut den ihm überkommenen Theologiebegriff soteriolo‐ gisch um. Zwar geht er noch fraglos von einem metaphysischen Sein Gottes aus, welches ebenso wie die Schöpfung der Welt, das göttliche Heilswerk Christi und die göttliche Dignität der Bibel auch außerhalb des Glaubens zu wissen ist, doch der Akzent liegt auf der soteriologischen Bedeutung dieser theologischen Gehalte in dem Umgang, den der Glaube mit ihnen macht. Dadurch wird das Heil des Glaubens zum Grund, zur Norm und Grenze der Theologie. L IT E R ATU R : Ulrich Barth: Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 97-123. Christian Danz (Hrsg.): Martin Luther. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2015. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013. Dietrich Korsch: Martin Luther zur Einführung, Tübingen 2 2007. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, hrsg. v. Dietrich Korsch, Leipzig 2 2018. 58 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="59"?> Heiligung 2.3.2 Johannes Calvin Während der Wittenberger Reformator den Glaubensvollzug in den Fokus seiner Umbildung der Theologie rückt, erhält dieser Gedanke bei Johannes Calvin (1509-1564) eine andere Nuance. Luther hat sein neues Verständnis von Theologie in erster Linie in seinen exegetischen Vorlesungen sowie in zahllosen Gelegenheitsschriften entfaltet. Die erste Darstellung einer reformatorischen Dogmatik liegt in Philipp Melanchthons (1497-1560) Loci communes von 1521 vor. Dem protestantischen Grundanliegen folgend, bieten die Loci eine zusammenfassende Darstellung des Römerbriefs des Apostels Paulus. Calvin schließlich hat mit seiner in erster Auflage 1536 erschienenen Institutio Christianae Religionis (Unterricht in der christlichen Religion) die erste umfassende systematische Darstellung reformatorischer Theologie vorgelegt. Der Aufbau der Schrift in vier Büchern lehnt sich an Luthers Katechismen von 1529 an. Es wurde das grundlegende Buch des re‐ formierten Protestantismus und erschien in mehreren stark überarbeiteten Auflagen zuletzt 1559. Ähnlich wie Luther rückt auch Calvin die Rechtfertigung des Menschen in das Zentrum seiner Umbildung der ihm überkommenen Theologie, und wie der Wittenberger ist er der Auffassung, Theologie ist in erster Linie Auslegung der Heiligen Schrift. Allerdings bekommt der Gedanke des recht‐ fertigenden Glaubens bei dem Genfer Theologen einen anderen Akzent. Er verbindet ihn stärker mit der Heiligung des Einzelnen und fasst auf diese Weise den Zusammenhang von Glaube und Werk enger als Luther. Sodann ist Calvin der Auffassung, dass das Gesetz sich nicht in seiner theologischen Funktion, den Sünder zu überführen, erschöpft. Auch für den Glaubenden hat es noch eine Bedeutung. Der Wittenberger Reformator hatte einen sol‐ chen dritten Gebrauch des Gesetzes (lateinisch: tertius usus legis) für die Wiedergeborenen stets vehement abgelehnt. Für ihn hat das Gesetz nur zwei Funktionen. Es regelt das äußere Zusammenleben der Menschen. Von dieser politischen Funktion ist die theologische Funktion des Gesetzes zu unter‐ scheiden, die in der Erkenntnis der Sünde besteht. In solchem doppelten Gebrauch erschöpft sich das Gesetz, so dass die Glaubenden frei von ihm sind. Sie bedürfen seiner nicht mehr. Anders bei Calvin. Sein Beharren auf dem Gesetz auch für die Glaubenden verrät ein Interesse an den sozialen Konsequenzen des Glaubens. Folglich liegt beim Kirchenbegriff der Akzent auf der Gestaltung der Gesellschaft. Da dem Staat der Schutz der wahren Religion obliegt, ist er auch für die Durchsetzung der Ordnung der Kirche 2.3 Die Theologie der Reformatoren 59 <?page no="60"?> Christolo‐ gie Melan‐ chthon zuständig. Das führt zu einem theokratischen Modell, welches Calvin in Genf durchsetzte. Anders als der Wittenberger konstruiert der Schweizer Reformator auch die Christologie sowie darauf fußend die Abendmahlslehre. Christus ist zwar eine Person in zwei Naturen, aber sie bleiben unterschieden. Die menschliche Natur erhält keinen Anteil an der göttlichen. Diese existiert aufgrund ihrer Unendlichkeit auch außerhalb der ersteren. Nicht so bei Lu‐ ther. Im Interesse an der leiblichen Präsenz Christi im Abendmahl betont er, dessen menschliche Natur habe Anteil an den Majestätseigenschaften der göttlichen. Ebenso wie für diese gilt vom Leib Christi, dass er überall präsent sei. Calvin bestreitet Luthers Christologie und Abendmahlslehre. Das End‐ liche, so das sogenannte *extra Calvinisticum, kann das Unendliche nicht umfassen (lateinisch: finitium non capax infiniti). L IT E R ATU R : Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, hrsg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 15 f. 24-26. 47-50. 69-74. 105-117. 140-146. 166-172. 180- 182. 189-192. 210-216. 238-246. 257-259. 267-271. Georg Plasger: Johannes Calvin, Institutio Christianae Religionis, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 224-231. Georg Plasger: Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen 2008. Herman J. Selderhuis (Hrsg.): Johannes Calvin. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2010. 2.3.3 Die Dogmatik des Altprotestantismus Die Lehrentwicklung in der altprotestantischen Theologie knüpfte im Be‐ reich des Luthertums zunächst an Melanchthons Loci communes an. Damit trat das Heil des Menschen im Glauben in den Vordergrund der theologi‐ schen Reflexion. Spekulative Fragen nach dem Wesen Gottes oder der Tri‐ nitätslehre traten wie bereits bei Luther und Melanchthon zurück. Der Prae‐ ceptor Germaniae (Lehrer Deutschlands) greift auch den Begriff Theologie nicht zur Beschreibung der reformatorischen Lehre auf. Diese nennt er doctrina christiana. Luther folgend wird sie als Schriftauslegung verstanden. 60 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="61"?> Theologie als prakti‐ sche Wis‐ senschaft analytische Methode Die Entstehung der Dogmatik, deren Begriff im 17. Jahrhundert geprägt wird, verdankt sich zunächst einer didaktischen Verlegenheit. Dem theolo‐ gischen Nachwuchs in den von der Reformation erfassten Ländern musste ein Leitfaden zum Studium der neuen Lehre in die Hand gegeben werden. Hierzu fungierten zunächst die Loci communes. Das änderte sich um 1600. Infolge zahlloser Lehrstreitigkeiten in den lutherischen Territorien, die 1577 durch die Konkordienformel zum Abschluss gebracht wurden, sowie einer nun einsetzenden Rezeption der aristotelischen *Metaphysik kommt es zur Umbildung des Theologiebegriffs sowie zu Reflexionen über ihren Status als Wissenschaft. Der Begriff Theologie setzt sich zur Bezeichnung der Lehre durch. Die Rezeption der *Metaphysik in der lutherischen und reformierten Theologie des 17. Jahrhunderts resultiert aus einem gegenüber den Reformatoren stär‐ keren Interesse an den Gegenständen der Theologie. Und schließlich eta‐ bliert sich die bereits von Duns Scotus im späten Mittelalter vertretene Auf‐ fassung, Theologie sei eine praktische Wissenschaft. Vorbereitet durch Luther, der jegliche Spekulation in der Theologie ablehnte, Melanchthon und den Jenaer Theologen Johann Gerhard (1582-1637) findet das wissen‐ schaftstheoretische Verständnis von dem praktischen Charakter der Theo‐ logie breite Zustimmung. Das hat auch methodische Konsequenzen. Prak‐ tische Wissenschaften, zu denen die Medizin oder die Naturwissenschaften gehören, arbeiten mit der sogenannten analytischen Methode. In die Theo‐ logie wurde sie durch den in Heidelberg lehrenden reformierten Theologen Bartholomäus Keckermann (1572-1609) eingeführt und dann im Luthertum auf breiter Front rezipiert, so auch von dem Helmstedter Theologen Georg Calixt (1586-1656) in seiner Epitome theologiae von 1619. Die analytische Methode ermöglicht es, die aus der Bibel erhobenen dogmatischen Gehalte in einen strengen systematischen Zusammenhang zu bringen. Ausgehend von dem Ziel der Theologie - Gott als höchstes Gut (lateinisch: summum bonum) des Menschen - werden die materialdogmatischen Gehalte als Etap‐ pen auf dem Weg zu diesem Ziel angeordnet. Dadurch erhält die Dogmatik gegenüber Melanchthons Loci, der die materialen Gehalte einfach neben‐ einander stellte, einen in sich geschlossenen und strukturierten systemati‐ schen Zuschnitt. Die Theologie des Altprotestantismus geht von der objektiven Gegeben‐ heit der theologischen Gehalte aus. Wissenschaft ist die Theologie, da sie diese feststehenden sowie vorliegenden christlichen Inhalte in einen kohärenten Zusammenhang bringt und auf diese Weise ihren Gegenstand 2.3 Die Theologie der Reformatoren 61 <?page no="62"?> Schriftlehre systematisch entfaltet. Hierzu muss nach dem Prinzip der theologischen Wissenschaft und dem von diesem abhängigen gefragt werden. Die Rezep‐ tion der aristotelischen *Metaphysik bietet nun die Möglichkeit, jenen Gegenstand nach bestimmten Hinsichten methodisch zu entfalten. Das ge‐ schieht durch die Lehre von den vier Ursachen sowie Begriffsdistinktionen. Aristotelische Metaphysik und die Lehre von den vier Ursachen Die aristotelische Philosophie bot den altprotestantischen Dogmati‐ kern den begrifflichen Rahmen, den theologischen Lehrstoff syste‐ matisch zu entfalten. In der Rezeption des Philosophen, die durch die sogenannte spanische Barockscholastik (Francisco Suárez [1548- 1617]) vermittelt ist, dokumentiert sich das Interesse der Theologen an einer stärkeren Betonung der theologischen Sachgehalte (lateinisch: res). Grundlegend für die begriffliche Entfaltung des dogmatischen Lehrstoffs ist die aristotelische Unterscheidung von vier Ursachen: Wirk- (lateinisch: causa efficiens), Material- (lateinisch: causa materi‐ alis), Form- (lateinisch: causa formalis) und Zielursache (lateinisch: causa finalis). Ein gegebener Gegenstand kann auf diese Weise in seiner Eigenart in bestimmten Hinsichten beschrieben werden. Zum Beispiel ist eine Tasse durch einen Töpfer hergestellt (Wirkursache), sie besteht aus Porzellan (Materialursache), hat eine bestimmte Form (Formursa‐ che), und schließlich dient die Tasse dem Trinken (Zielursache). Durch die Anwendung dieses Ursachengefüges konnten theologische Themen in spezifischen Hinsichten begrifflich erläutert werden. So ist zum Beispiel Gott die Wirkursache der Bibel als Heilige Schrift, die biblischen Autoren (Propheten und Apostel) sind die Materialursache. Die Formursache der Schrift sind die Sprachen, in denen sie abgefasst wurde, und schließlich wird das Heil des Menschen als Zielursache der Bibel verstanden. Zugänglich sind die theologischen Gehalte allein in und durch die Bibel, welche als einzige Quelle und Norm theologischer Aussagen fungiert. Im Anschluss an Luther wird Theologie als zusammenfassende Auslegung des Inhalts der Bibel verstanden. Die altprotestantischen Theologen themati‐ sieren die Lehre von der Heiligen Schrift in den Prolegomena ihrer Dogma‐ tiken. Anders als Luther bauen sie die Schriftlehre zum Schriftprinzip aus und erörtern detailliert im Rückgriff auf die aristotelische Philosophie deren 62 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="63"?> Voraussetzungen und Konsequenzen. Um die Prinzipienfunktion der Bibel sicherzustellen, wird diese als den biblischen Autoren von Gott wortwörtlich inspiriert und diktiert verstanden (Theopneustie im Anschluss an 2Tim 3,15). Dadurch ist die Heilige Schrift in ihrem gesamten Textbestand der Relativität der Geschichte entnommen und vermag als absolute Entschei‐ dungs- und Urteilsinstanz in theologischen und religiösen Fragen zu fun‐ gieren. Die Pluralität möglicher Lesarten des biblischen Textes wird auf diese Weise restringiert. Es gibt nur eine wahre Lektüre, und sie legitimiert sich durch die Bibel selbst im sogenannten inneren Zeugnis des Heiligen Geistes (lateinisch: testimonium spiritus sancti internum). Unterstellt werden ein be‐ stimmter Sinn des biblischen Wortlauts sowie ein und derselbe Inhalt im Alten und im Neuen Testament. Für die altprotestantischen Theologen gibt es nämlich nur einen Verfasser des Textes, den Heiligen Geist. Und der kann sich aufgrund seiner Vollkommenheit weder irren noch widersprechen. Spannungen und Widersprüche in den biblischen Texten werden durch eine Anpassung des Heiligen Geistes an die Verstehensbedingungen der bibli‐ schen Zeugen erklärt (*Akkommodation). Das reicht in dieser Zeit noch aus, um Widersprüche im Text zu bewältigen. Aufbau der lutherischen Schuldogmatik (nach Heinrich Schmid) Prolegomena de theologia in genere (über die Theologie) de objecto theologiae generali sive de religione (über das Objekt der Theologie oder die Religion) de principio theologiae sive de revelatione (über das Prinzip der Theolo‐ gie oder die Offenbarung) de scriptura sacra (über die Heilige Schrift) de ariticulis fidei et de symbolis ecclesiae (über die Artikel des Glaubens und die kirchlichen Symbole) Pars I. de Deo (über Gott) Pars II. de homine (über den Menschen) Pars III. de principiis salutis (über die Prinzipien des Heils) Pars IV. de mediis salutis (über die Heilsmittel) Pars V. de Novissimis (über die letzten Dinge) 2.3 Die Theologie der Reformatoren 63 <?page no="64"?> Die theologischen Systeme des alten Protestantismus entstanden vor dem Hintergrund relativ geschlossener konfessioneller Milieus. Für sie konstru‐ iert die Dogmatik ein umfassendes normatives Leitbild des gesellschaftli‐ chen Ganzen. Theologie und Religion werden noch nicht unterschieden, so dass Letztere im Kern als Lehre und Dogma in einem gegenständlichen Sinne ist. Gott und die Möglichkeit seiner Erkenntnis sind noch nicht zum Problem geworden. Aufgrund der Voraussetzung einer von der Offenbarung unterschiedenen natürlichen Gotteserkenntnis ist die Existenz Gottes dem Menschen evident. Strittig ist zwischen den Konfessionen dessen wahres Verständnis. Das Nebeneinander und die damit verbundene Konkurrenz zu anderen Konfessionskulturen beschleunigen allerdings auch Rationalisie‐ rungsprozesse. Sie schlagen sich in der Theologie durch die Herausbildung von einzelnen Disziplinen mit eigenen methodischen Instrumentarien nie‐ der. Die *Konfessionalisierung des Christentums in der frühen Neuzeit führt zur Entstehung von theologischen Disziplinen wie der Polemik, welche diese Pluralität reflektieren. Daneben beginnen sich Kirchengeschichte, Dogmatik und Ethik als eigene Disziplinen zu formieren. L IT E R ATU R : Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 272-374 (lutherische Dogmatik). 374-441 (reformierte Dog‐ matik). Sven Grosse: Philipp Melanchthon, Loci communes, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 212-218. Philipp Melanchthon: Loci Communes 1521. Lateinisch-Deutsch, hrsg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 2 1997. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, 2 Teile, Gütersloh 1964/ 1966. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893. Johann Anselm Steiger: Leonhart Hütter, Compendium Locorum Theologicorum, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 231-238. 64 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="65"?> 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung Seit der frühen Neuzeit hat sich das Weltbild grundlegend verändert. Infolge der kopernikanischen Revolution sowie der großen Entdeckungsreisen im 15. und 16. Jahrhundert wurde zunehmend deutlich, dass die Weltsicht der Bibel nicht mehr mit der eigenen Gegenwart übereinstimmt. Es kamen Völker in den Blick, die in den biblischen Völkergenealogien (Gen 10) keinen Platz fanden. Gab es, so wurde diskutiert, womöglich bereits vor Adam schon Menschen? Und wie lassen sich die ‚Eskimos‘, also die Inuit, in die biblischen Völkertafeln einordnen (Isaak de La Peyrère [1596-1676])? Fragen und Inkongruenzen, wie die eben genannten, machten nicht nur die Differenz zwischen der biblischen Weltsicht und der des sich zunehmend aufklärenden Europa deutlich, sie führten auch zu einer neuen Stellung zur Bibel, die bis ins 17. Jahrhundert als nahezu selbstverständlicher Orientie‐ rungsrahmen und Wahrheitsinstanz in Anspruch genommen wurde. Der Konfessionalismus des nachreformatorischen Zeitalters, das Nebeneinander unterschiedlicher Konfessionen, entließ zudem eine Rationalisierungs- und Transformationsdynamik, die im Resultat im 18. Jahrhundert zu einem Nachlassen der gesellschaftlichen Prägekraft der Konfessionskirchen führte. Folge des Konfessionalismus sind freilich auch die zahllosen sogenannten Konfessionskriege im 17. Jahrhundert, die, da sie Europa um die Hälfte sei‐ ner Bevölkerung dezimierten, jeglichen religiösen und moralischen Kredit der Konfessionskirchen aushöhlten und unglaubwürdig machten. Als den Konfessionsparteien enthobene Appellationsinstanz blieb in dem Wirrwarr der religiösen Überzeugungen lediglich die Vernunft übrig, die in der Lage sei, die religiösen Behauptungen von Offenbarung unparteiisch zu prüfen. Allgemeinheit kommt nicht den einzelnen Religionen zu, die sich auf diverse historische Offenbarungen berufen, sondern allein der Vernunft. Der Umgang mit dem neuen Problemhorizont führte in der protestan‐ tischen Theologie zu ihrer völligen Umgestaltung gegenüber den Refor‐ matoren und dem Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts. Theo‐ logiegeschichtlich lässt sich dieser Bruch als Übergang vom Altzum Neuprotestantismus beschreiben. Alt- und Neuprotestantismus Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus stammt von Ernst Troeltsch. Er hat sie im Zusammenhang seiner Studien zur 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung 65 <?page no="66"?> Bedeutung des Protestantismus für die Genese der modernen Welt unter anderem in seiner Schrift Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906) herausgearbeitet. Troeltschs Differenzierung zielt nicht allein auf eine bloße Epochenscheidung, sie hat einen kategorialen und normativen Status. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der geschichtlichen Einordnung der Reformation sowie die Beobachtung ihres Abstands zur Welt des 20. Jahrhunderts. Der Protestantismus der Moderne sei „dem Altprotestantismus gegenüber ein vielfach grundverschiedenes Gebilde, das daher auch im Namen als Neuprotestantismus unterschieden werden muss und das die schwere Frage der religiösen Zukunft der europäisch-amerikanischen Völker immer deutlicher aus sich heraus entwickelt, je mehr der Katholizismus in seine mittelalterliche dogmatisch-philosophische Tradition sich wieder einspinnt und nur für Zwecke politischer Machtgewinnung sich modernisiert“ (Troeltsch 2004, 134). Die reformatorische Epoche „trägt das Doppelgesicht der Herkunft vom Mittelalter und des Hinweises auf eine neue Geisteswelt und vereinigt noch beides in dem lebendigen Schaffen der großen Meister, vor allem in der Persönlichkeit Luthers, der am reichsten ist an Ideen und am ärmsten an Organisation“ (Troeltsch 2004, 133 f.). Vor dem Hintergrund dieser Deutung der Reformation lassen sich die seit der Aufklärung hervortretenden Elemente, die ihre geschichtliche Wurzel in den von den Reformationskirchen verfolgten Täufern und Spiritualisten sowie dem in der englischen Revolution umgeprägten Calvinismus haben, genauer erfassen und in ihrem Beitrag zu einer neuen Bestimmung des Protestantismus würdigen. Der moderne Pro‐ testantismus habe, so Troeltsch, seine Wurzeln weniger in der Refor‐ mation, er wurde vielmehr durch die Aufklärung geprägt und erstmals von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und Johann Salomo Semler sowie John Locke (1632-1704) und Pierre Bayle (1647-1706) formuliert. Sein normativer Gehalt sei „die Freiheit des Geistes und Gewissens, die persönliche Gefühlsreligion, die Unabhängigkeit von Dogma und Theologie, die Erprobung des Religiösen im Sittlichen, die ewige Gegenwart der religiösen Wahrheit und ihre Freiheit gegenüber allem Geschichtlichen“ (Troeltsch 2004, 193). Im Gegensatz zur Reformation und dem Protestantismus des 16. und 17.-Jahrhunderts markiere diese neue Form des Protestantismus einen Bruch, der das Ende des mittel‐ alterlichen Ideals einer geschlossenen kirchlich geleiteten Kulturidee 66 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="67"?> in Folge der englischen Revolution und ihres misslungenen Versuchs, einen christlichen Staat zu errichten, zur Voraussetzung hat und der „Sebastian Franck näher als seinem Helden Luther“ (ebd.) steht. Der Begriff ‚Neuprotestantismus’ ist für Troeltsch ein normativer ge‐ schichtsphilosophischer Deutungsbegriff, der eine modernitätsgelei‐ tete Umformung des Protestantismus, die ebenso seine Theologie wie seine Sozialethik umfasst, beinhaltet und der der veränderten gesamt‐ gesellschaftlichen Situation in der Moderne infolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse Rechnung tragen soll. Die geschichtliche Reflexion der Genese des modernen Protestantismus dient der eigenen Selbstvergewisserung und vor allem seiner Standortbestimmung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Als wesentlichen Gehalt des Protestantismus identifiziert Troeltsch den Gedanken eines ewigen Werts der individuellen Persönlichkeit. In ihrer Bewahrung und Ret‐ tung angesichts der mit der Moderne verbundenen Ambivalenzen sowie ihrer freiheitsgefährdenden Tendenzen besteht die Aufgabe der protestantischen Religion in der modernen Kultur. Parallel zur Entstehung des modernen Wissenschaftsverständnisses in der *Sattelzeit der Moderne (Reinhart Koselleck [1923-2006]) verwissenschaft‐ lichte sich auch die protestantische Theologie und etablierte sich als Fach‐ wissenschaft an Universitäten. L IT E R ATU R : Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus Bd. 1- 2, Gütersloh 1990. 1993. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/ 1909/ 1922) (Kritische Gesamtausgabe, Bd.-7), hrsg. v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, Berlin/ New York 2004. 2.4.1 Pietismus und Deismus Um 1800 entwickelte die protestantische Theologie ein neues Verständnis ihrer selbst als Wissenschaft. Es ist das Resultat von tiefgreifenden Moder‐ nisierungsprozessen seit der frühen Neuzeit, die sowohl die Gesellschaft als auch ihr Wissenschaftssystem betrafen und in der Theologie mit eige‐ nen Modernisierungen bearbeitet werden. Theologiegeschichtlich ist dieser 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung 67 <?page no="68"?> Pietismus Deismus Umbruch weder als Verfall noch als Anpassung an den Zeitgeist zu erfassen, sondern als komplexe Austausch- und Überlagerungsprozesse. Wichtige Stationen dieser von der protestantischen Theologie betriebenen Moderni‐ sierung ihres Wissenschaftsverständnisses sind der Pietismus sowie der sogenannte Deismus. Beide führten zu einer Auflösung der Grundlagen des altprotestantischen Theologiebegriffs und machten in der Folge eine neue Grundlegung der Theologie als Wissenschaft notwendig. Beim Pietismus handelt es sich um eine religiöse Erneuerungsbewegung aus dem späten 17. und 18. Jahrhundert, die sich vom intellektualistischen Theologieverständnis des Altprotestantismus absetzte. Führende lutheri‐ sche Vertreter waren Philipp Jacob Spener (1635-1705), August Hermann Franke (1663-1727) sowie Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700- 1760). In ihren Theologien rücken sie die persönliche Heilsgewissheit des Einzelnen in den Mittelpunkt und kritisieren auf diese Weise die Gleichset‐ zung von Religion und dogmatischer Lehre in der altprotestantischen Theo‐ logie. Für den Pietismus besteht das Heil der christlichen Religion nicht mehr in der reinen Lehre, sondern in einem individuellen Bekehrungserlebnis im Herzen des Menschen. Religion ist etwas Innerliches. Sie entsteht in der Bekehrungserfahrung, die zugleich eine Neubegründung der Person dar‐ stellt, mit der ein neues moralisches Selbstverständnis verbunden ist. Sicht‐ bar wird die wirkliche christliche Religion im ernsthaften sittlichen Handeln. Im Pietismus kommt es gegenüber den dogmatischen Lehrsystemen der alt‐ protestantischen Theologie zu einer Verinnerlichung und Subjektivierung der christlichen Religion. Freilich werden ihre lehrhaften Bestandteile nicht einfach ad acta gelegt. Sie erhalten eine neue Bestimmung als Ausdruck der innerlichen Religion des Einzelnen. Gegenüber dem lehrhaften Verständnis der Religion in der Dogmatik des Altprotestantismus rückt im Pietismus die innere Religion des Individuums und seine Gotteserfahrung in das Zentrum. Kritik am Theologieverständnis des alten Protestantismus ging nicht nur vom Pietismus aus. Seit 1670 entwickelte sich in England eine religiöse Be‐ wegung von Freidenkern, die man als Deismus zusammenfasst. Sie hat ihre Vorläufer in den *Sozinianern und *Unitariern der Reformationszeit und er‐ hielt vor dem Hintergrund der sogenannten Konfessionskriege des 17. Jahr‐ hunderts Anstöße von Edward Herbert von Cherbury (1583-1648) und John Locke. Wichtige Vertreter der sehr heterogenen und komplexen Bewegung des Deismus sind John Spencer (1630-1693), Matthew Tindal (1657-1733) und John Toland (1670-1722). Sie alle gehen von einer reinen Religion aus, die in der Vernunft des Menschen bereits angelegt ist und die die normative 68 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="69"?> natürliche Religion Grundlage aller geschichtlichen Religionen darstellt. Als Bestandteil der Vernunft ist die natürliche Religion universal und mithin überall und jeder‐ zeit verfügbar, während die auf Offenbarung beruhenden geschichtlichen oder positiven Religionen partikular sind. Deismus Grundlegende Bestandteile der Vernunftreligion sind nach Edward Herbert von Cherbury: 1. eine höchste Gottheit, 2. die Verehrung Gottes, 3. Tugend und Frömmigkeit als der wahre Gottesdienst, 4. die Wiedergutmachung der Sünden durch Reue und Umkehr, und 5. die Überzeugung, dass aus Gottes Güte und Gerechtigkeit sowohl zeitlicher und ewiger Lohn als auch zeitliche und ewige Strafen fließen. Eine Belohnung oder Bestrafung des Menschen hinsichtlich seines sittlichen Lebens im Jenseits setzt die Annahme einer unsterblichen Seele voraus. Da sich diese Vorstellung nicht in den Schriften des Alten Testaments findet, wurden erbitterte Kontroversen darüber geführt, ob man es bei dem alttestamentlichen Judentum mit einer Religion zu tun habe. Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), Immanuel Kant und andere bestritten den religiösen Charakter der alttestamentlichen Texte. Andere wie William Warburton (1698-1779), Gotthold Ephraim Lessing oder Johann David Michaelis (1717-1791) versuchten, diesen Nachweis zu erbringen. Wichtige Vertreter des französischen Deismus sind Voltaire (1694- 1778) und Denis Diderot (1713-1784). Auf der Basis der natürlichen Vernunftreligion unterziehen die deistischen Denker die positiven Religionen der Kritik. Ihnen gegenüber ist grundsätz‐ liche Skepsis geboten, da sie auf unsicheren historischen Offenbarungsbe‐ hauptungen beruhen und zudem im Widerspruch zur rationalen Moral und dem vernünftigen Gottesgedanken stehen. Da die Wahrheitsansprüche der geschichtlichen Religionen miteinander im Streit liegen, scheiden diese als Entscheidungsgrundlage von vornherein aus. Allein die Vernunft, der All‐ gemeinheit zukommt, bleibt als Prüfungsinstanz für die konfligierenden re‐ ligiösen Behauptungen übrig. Wenn aber lediglich der Vernunft humane Allgemeingültigkeit zukommt und nicht den partikularen geschichtlichen Religionen, dann kann auch nur die natürliche Religion die wahre und uni‐ versale sein. Alles, was über diese hinausgeht, ist folglich der Skepsis un‐ 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung 69 <?page no="70"?> Matthew Tindal Baruch de Spinoza terworfen. Einige deistische Denker benutzen die natürliche Religion zu ei‐ ner radikalen Kritik an Offenbarungsbehauptungen, wie sie vom Christentum ebenso wie vom Judentum oder dem Islam erhoben werden, und entlarven sie als Schwindel. Den Offenbarungsglauben stufen sie als eine Verfälschung der Vernunftreligion durch Priester und andere dunkle Gestalten wie Propheten ein, die göttliche Offenbarungen erfunden haben, um ihre eigene Macht zu legitimieren und auszubauen. Doch ebenso kann das Christentum auch als Wiederbekanntmachung (lateinisch: republicatio) der natürlichen Religion verstanden werden. Die Bibel sei, wie es Matthew Tindal in seinem Buch Christianity as old as Creation: or the Gospel, a repub‐ lication of the religion of nature von 1731 ausführt, ein Dokument der Ver‐ nunftreligion. Allerdings müssen die biblischen Schriften vernünftig ausge‐ legt und das Christentum von allen Offenbarungselementen wie der Trinität und der Christologie gereinigt werden, da diese die natürliche Religion der Vernunft verfälschen. Von der deistischen Kritik an den positiven Offenbarungsreligionen erhielt die weitere Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses der Theo‐ logie auch da, wo die radikale Religionskritik der Deisten nicht geteilt wurde, entscheidende Impulse. Das betrifft einmal die Entstehung eines allgemei‐ nen Religionsbegriffs, der allen geschichtlichen Religionen zugrunde liegt (vgl. unten 4.1.2). Jetzt erst wird Religion als ein universales menschliches Phänomen verstanden und der Religionsbegriff auf andere Religionen über‐ tragen. Zum anderen verbinden sich mit dem Deismus die Anfänge der historischen Bibelkritik. Viele der deistischen Diskurse gelten ja gerade dem Nachweis, dass die Bibel zwar ein Dokument der natürlichen Religion sei, diese jedoch aus dem Textbestand erst kritisch wieder erhoben werden müsse. Das vom alten Protestantismus etablierte Schriftprinzip (vgl. unten 6.2.1.1), demzufolge die Heilige Schrift der Bibel unfehlbare Grundlage und Norm aller theologischen Aussagen sei, löste diese Kritik jedenfalls zunehmend auf. Nicht weniger bedeutend für die Herausbildung der modernen Bibelher‐ meneutik ist Baruch de Spinoza (1632-1677). In seinem 1670 in Amsterdam anonym erschienenen Theologisch-politischen Traktat entwickelte er im sie‐ benten Kapitel Grundzüge einer grammatisch-historischen Bibelauslegung. Spinoza plädiert für eine historische Interpretation der biblischen Schriften und - das ist neu in der biblischen Hermeneutik - unterscheidet zwischen dem Sinn eines Textes und seiner Wahrheit. Beide Fragen werden entkop‐ pelt. Die nach dem Verständnis eines Textes beantwortet nämlich nicht die 70 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="71"?> nach seiner Wahrheit. Mit dieser Differenzierung löst er die biblische Exe‐ gese von der Dogmatik ab und wurde so zum Wegbereiter einer kritischen Bibelwissenschaft. Pietismus und Deismus trugen entscheidend mit dazu bei, dass das altprotestantische Verständnis von Theologie im 18. Jahrhundert umgeformt wurde. Von beiden religiösen Erneuerungsbewegungen ging eine Kritik an der von diesen Theologen vorgenommenen Gleichsetzung von Theologie und Religion aus. Indem diese Identifikation brüchig und Religion dem Indi‐ viduum und seinen inneren Erfahrungen zugeschlagen wurde, emanzipierte sich diese auch von der Theologie. L IT E R ATU R : Christoph Bultmann: Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012. Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006. Peter Byrne: Natural Religion and the Nature of Religion. The Legacy of Deism, London/ New York 1989. Martin H. Jung: Pietismus, Frankfurt a.-M. 2005. Winfried Schröder (Hrsg.): Gestalten des Deismus in Europa. Günther Gawlick zum 80. Geburtstag, Wiesbaden 2013. Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezep‐ tion englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18.-Jahrhunderts, Tübingen 2003. Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 2 2019. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800, München 2011. 2.4.2 Die Verwissenschaftlichung der Theologie in der Aufklärung Für die protestantische Theologie bedeutete die europäische Aufklärung vor allem eins: eine neue Form ihrer Verwissenschaftlichung. Diese steht im Kontext sowohl der einsetzenden Modernisierung der Gesellschaft als auch des Wissenschaftssystems. Dabei handelt es sich um alles andere als einen einlinigen Prozess, sondern um komplexe Überlagerungen, Abstoßungen und Überschneidungen mit vielfältigen Wechselwirkungen. Die Entwick‐ lung der Theologie im 18. Jahrhundert untergliedert man zumeist in drei Phasen: eine Übergangsphase, sodann die Neologie und schließlich den Rationalismus und seinen Gegenpart, den Supranaturalismus. 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung 71 <?page no="72"?> Johann Sa‐ lomo Sem‐ ler Aufklärungstheologie und ihre Vertreter 1. Übergangsphase: Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757) 2. Neologie: Johann Salomo Semler, Johann Joachim Spalding (1714-1804) und Johann Fried‐ rich Wilhelm Jerusalem (1709-1789) 3. Rationalismus und Supra‐ naturalismus: Rationalismus: Johann Friedrich Röhr (1777-1848), Johann Heinrich Tieftrunk (1759-1837) sowie Wilhelm Traugott Krug (1770-1842) Supranaturalismus: Gottlob Christian Storr (1746-1805), Friedrich Gottlieb Süskind (1767-1829) In der Mitte des 18. Jahrhunderts setzten sich die neuen von den Deisten und von Spinoza inaugurierten Methoden der Bibelinterpretation in der protes‐ tantischen Theologie durch. Das erfolgte vor dem Hintergrund einer kriti‐ schen Auseinandersetzung mit der deistischen Bibelkritik in von der Auf‐ klärung neu geschaffenen Publikations- und Diskussionsmedien wie Zeitschriften. Theologen wie der in Leipzig lehrende Johann August Ernesti (1707-1781) und vor allem der Hallenser Johann Salomo Semler etablierten die grammatisch-philologische und historische Bibelauslegung im theolo‐ gischen Lehrbetrieb. Dadurch änderte sich der Zugriff auf die Bibel. Sie wird zu einem Dokument aus einer vergangenen Zeitepoche, auf die man zu‐ rückblickt. Den zunehmend bewusst werdenden kulturellen Abstand zwi‐ schen dem biblischen Zeitalter und der Gegenwart des 18. Jahrhunderts markierte man, indem man die Bibel als Urkunde aus der Kindheit des Men‐ schengeschlechts betrachtete. Ein solches Dokument, das wurde zunehmend deutlich, muss man historisch in seinem eigenen geschichtlich-kulturellen Kontext verstehen. Doch indem die Bibel nun historisiert und als eine Sammlung von Schriften verstanden wird, die selbst geschichtlich entstan‐ den und Ausdruck einer längst vergangenen Kultur sind, löste sich das Schriftprinzip der altprotestantischen Theologie auf. Für dieses ist der bi‐ blische Kanon aufgrund seiner göttlichen Inspiration eine gleichsam über‐ 72 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="73"?> Durchset‐ zung der methodi‐ schen Bi‐ belkritik Theologie als Fach‐ wissen‐ schaft geschichtliche Wahrheitsinstanz, aber kein geschichtliches Dokument. Von 1771 bis 1775 publizierte Semler seine mehrbändige Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Der Kanon ist für ihn keine Sammlung von göttlich inspirierten Schriften mehr, sondern eine solche, die in der Geschichte ent‐ standen ist. Ob eine biblische Schrift als kanonisch zu gelten hat, ist eine Frage, die sich nur historisch entscheiden lässt. Einführung und Durchsetzung der methodischen Bibelkritik in der theo‐ logischen Schriftauslegung bedeuten deren Verwissenschaftlichung. Zur Folge hat das einen neuen Schub von Ausdifferenzierung der Theologie. Die Spezialisierung der Bibelauslegung führt zur Entstehung von neuen theo‐ logischen Fächern, die mit eigenen Methoden arbeiten. Es differenzieren sich nicht nur Dogmatik, Exegese und Kirchengeschichte weiter aus, sondern auch diese Disziplinen selbst. Von den neuen Interpretationsmethoden auf‐ geworfene Fragen, etwa die nach dem historischen Kontext einzelner bibli‐ scher Schriften, ihrer Sammlung und Überlieferungsträger, werden nun in einer neu entstehenden Einleitungsliteratur in die Schriften des Alten und Neuen Testaments bearbeitet. All das bedingt eine Verwissenschaftlichung der theologischen Arbeit, so dass sich diese als eine professionelle Fachwis‐ senschaft neben anderen Wissenschaften an Universitäten etabliert, die erst in der *Sattelzeit der Moderne entstanden sind. Mit dem in der Aufklärung geschaffenen neuen Verständnis der Theologie als einer Fachwissenschaft ist eine wichtige Konsequenz verbunden. Pro‐ testantische Universitätstheologen unterscheiden nun ihre Wissenschaft von der Religion. Damit nehmen sie sowohl Tendenzen auf, die sich seit dem Pietismus abzeichnen als auch durch das neue Verständnis ihrer Wissen‐ schaft bedingt sind. Eingeführt wurde eine solche Differenzierung in den theologischen Diskurs von Johann Salomo Semler. Mit dieser Unterschei‐ dung, die eine theologische ist, etabliert die theologische Wissenschaft sich selbst eine neue Ebene gegenüber der der Religion, die grundsätzlich unab‐ hängig von der Theologie ist. Semler unterschied auch zwischen öffentlicher und privater Religion. Erstere sei für die Einheit des Staats zuständig und unterliege gesetzlichen Regelungen, doch letztere sei frei und beruhe aus‐ schließlich auf der Gewissensüberzeugung des Einzelnen. Für ein Zeitalter, in dem die Bekenntnisse der Konfessionen noch reichsrechtliche Geltung haben, wie im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, ist das eine erstaunliche Differenzierung. Die Modernisierung der protestantischen Theologie besteht in ihrem Ausbau als Fachwissenschaft. Nur so konnte sie sich als Wissenschaft an 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung 73 <?page no="74"?> Hermann Samuel Reimarus Universitäten behaupten. Sie unterscheidet sich selbst von der christlichen Religion. Doch was genau ist ihr Gegenstand? Das alte Verständnis der Theologie als Gottesgelehrsamkeit ist in der Auflösung begriffen. Was tritt an dessen Stelle? Vor dem Hintergrund der neuen Unterscheidung von Theologie und Religion bietet sich letztere an. Doch worin besteht diese, wenn sie nicht mehr mit der reinen Lehre oder Dogmen identisch ist? Semler macht ihren Kern in einer allgemeingültigen Moral aus, verbindet also wie viele andere Aufklärungstheologen beide. Anders als die theologischen Lehrsysteme sei die autonome Moralreligion unveränderlich. Jesus von Na‐ zareth führte diese neue Religion in die Geschichte ein, die sich grundlegend von der sinnlichen Religion der ‚alten Hebräer‘ unterscheidet und etwas Neues bedeutet. Andere wie Gotthold Ephraim Lessing verstehen den Na‐ zarener als Lehrer von der Unsterblichkeit der Seele. Diese, welche dem Al‐ ten Testament unbekannt und die Grundlage einer autonomen Tugendmoral ist, brachte Jesus. Doch der Mann aus Nazareth ist nur ein Durchgangsmo‐ ment im Prozess der Religionsgeschichte. An ihrem Zielpunkt bedarf die Vernunft, wie Lessing in seiner 1780 anonym veröffentlichten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts ausführt, der beiden Elementarbücher des Alten und Neuen Testaments nicht mehr. Sie ist nun alt genug geworden, um selbst als Grundlage einer universalen autonomen Tugendmoral zu fun‐ gieren. So unterschiedlich die Auffassungen von Semler und Lessing im Einzelnen auch sein mögen, sie machen deutlich, dass die Wahrheit der Re‐ ligion als etwas Allgemeingültiges gesehen wird. Im Hintergrund stehen Weiterführungen des pietistischen und deistischen Religionsbegriffs und die rationalistische Philosophie der Aufklärung. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Christian Wolff (1679-1754) unterscheiden die Wahrheiten der Vernunft, die unveränderlich und ewig sind, von denen der Geschichte, die zufällig und wandelbar sind. Anders als in Teilen des englischen und französischen Deismus gehen vielen deutsche Aufklärungstheologen von einer Harmonie von Vernunft und göttlicher Offenbarung aus. Wenn diese jener nicht widerspricht, dann müssen sich religiöse Aussagen auch der Vernunft bewähren. Radikalere Vertreter der theologischen Aufklärung, wie der Hamburger Orientalist Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), gehen einen Schritt weiter und messen die auf der Gottesoffenbarung fußenden biblischen Schriften am Maßstab der Vernunft sowie der in ihr enthaltenen natürlichen Religion. Bei dem Hamburger Theologen führt das zu einer Ra‐ dikalkritik der biblischen Offenbarungsreligion. Mit den Mitteln der histo‐ rischen Kritik weist er nach, dass es sich bei der alttestamentlichen Offen‐ 74 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="75"?> Suche nach der Reli‐ gion Rationalis‐ mus Supranatu‐ ralismus barungsreligion nicht um eine Religion handelt, da ihr wesentliche Merkmale der natürlichen Religion wie die Unsterblichkeit der Seele fehlen, und dass die Religion Jesu von dem Christentum unterschieden sei. Auch moderatere aufgeklärte Theologen wie Johann Gottlieb Töllner (1724-1774), Wilhelm Abraham Teller (1734-1804), Johann August Eberhard (1739-1809) und andere unterziehen im Ausgang von der Überzeugung einer natürlichen Religion sowie der historischen Bibelkritik die überlieferten dogmatischen Bestimmungen des Christentums der Kritik. Da die rationale Moral, der Allgemeingültigkeit zukommt, einen Bestandteil der Vernunftre‐ ligion darstellt, verlieren die dogmatischen Lehren von der Erbsünde, des stellvertretenden Versöhnungstodes Jesu Christi für die Sünden der Welt (Satisfaktionslehre) sowie die altprotestantische Rechtfertigungslehre ihre Plausibilität für die aufgeklärten Zeitgenossen. Solche Lehren widerspre‐ chen schlichtweg der Moral. Die Verbindung von Religion und Moral ist eine Möglichkeit, Religion und Christentum vor dem neuen Hintergrund zu verstehen. Eine andere besteht darin, ihren Kern in einem Gefühl und einer inneren Stimmung oder Erre‐ gung auszumachen, Auffassungen, die bis in den Pietismus zurückreichen. Ebenso kann Religion wie von Johann Gottfried Herder (1744-1803) und anderen ästhetisch verstanden werden. Mit den jeweiligen Meinungen von dem, was Religion eigentlich sei, verbinden sich unterschiedliche Deutun‐ gen ihrer Funktion für den Menschen. Dass sie für ihn notwendig ist, ist unumstritten, doch was es sei, was Religion leiste, davon gibt es sehr un‐ terschiedliche Auffassungen. Deutlich ist nur, dass sie nicht mit Dogma, Be‐ kenntnis und Lehre zusammenfällt wie im alten Protestantismus. Damit gibt es jedoch auch kein Kriterium mehr, an dem sich bemisst, was Religion sei. Gerade dadurch wird sie unbestimmt und zugleich offen für andere, neue Bestimmungen und Funktionen. Am Ende des 18. Jahrhunderts geht die Neologie in den theologischen Rationalismus über. Sein Grundzug ist die Behauptung, die menschliche Vernunft könne den Inhalt der Offenbarung aus sich selbst schöpfen. Reli‐ gion kann folglich auch ohne Offenbarung bestehen. Diese ist lediglich eine sinnliche Einkleidung von unveränderlichen Vernunftwahrheiten, die mit der Wahrheit der Idee des Christentums übereinstimmen. Im Gegensatz zum theologischen Rationalismus behauptet der Supranaturalismus die Notwen‐ digkeit einer Offenbarung für die Religion. In der biblischen Offenbarung liegt, so seine Überzeugung, ein Inhalt vor, welcher der Vernunft nicht von ihr selbst aus zugänglich ist. Der Streit zwischen beiden Positionen dreht 2.4 Systematische Theologie im Zeichen der Aufklärung 75 <?page no="76"?> sich somit um den Offenbarungsbegriff und sein Verhältnis zur Vernunft. Beide Parteien nehmen die Vernunft in Anspruch, beurteilen allerdings ihre materiale Rolle unterschiedlich. Man kann diesen innerprotestantischen Richtungsstreit, der die Kontroversen noch bis ins 19. Jahrhundert hinein begleiten wird, als unterschiedliche Deutungen der Unterscheidung von Theologie und Religion verstehen. Beide sind zwar zu unterscheiden, doch wie verhält sich die theologische Wissenschaft zu der von ihr unterschie‐ denen christlichen Religion und ihren inhaltlichen Aussagen? Muss sie diese als etwas Gegebenes in der Theologie berücksichtigen, sich also an die Re‐ ligion angleichen, oder konstruiert die theologische Wissenschaft selbst und in eigener Autonomie die christliche Religion? Die Unterscheidung beider wird zunächst mit einem Oszillieren zwischen den unterschiedlichen Ebe‐ nen bearbeitet, wobei der Gegensatz von Rationalismus und Supranatura‐ lismus die Ouvertüre zu Kontroversen bildet, die bis ins 21. Jahrhundert anhalten. L IT E R ATU R : Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit, Halle a.d. Saale 1929. Christopher Arnold: Schellings frühe Paulus-Deutung. Eine Untersuchung zur Entwicklung von F.W.J. Schellings Schriftinterpretation im Zusammenhang der Tübinger Theologie seiner Studienzeit und der hermeneutischen Theoriebildung seit der Frühaufklärung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018. Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004. Christoph Bultmann: Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012. Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V, Gütersloh 1954, 3-144. Hannes Kerber: Die Aufklärung der Aufklärung. Lessing und die Herausforderung des Christentums, Göttingen 2021. Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd.-3, München/ Wien 1982, 637-658. Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums, Berlin/ Boston 2012. Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezep‐ tion englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18.-Jahrhunderts, Tübingen 2003. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800, München 2011. 76 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="77"?> Religion als Grundlage der Theolo‐ gie 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert Die theologische Entwicklung im Zeitalter der Aufklärung führte zu einer Verwissenschaftlichung der protestantischen Universitätstheologie, die sich von der dem Individuum zugerechneten Religion unterscheidet. Durch die Einführung und Durchsetzung der historischen Bibelkritik und ihrer fortschreitenden methodischen Verfeinerung wurde das Schriftprinzip des alten Protestantismus aufgelöst. Da die Bibel als Heilige Schrift Norm und Richtschnur aller religiösen und theologischen Aussagen ist und das Erkenntnisprinzip der theologischen Dogmatik darstellt, ergibt sich für die protestantische Theologie eine besondere Herausforderung. Was sollte an die Stelle der vormaligen Autorität der Heiligen Schrift treten, nachdem diese in die Religionsgeschichte eingeordnet und ihrer göttlichen Dignität entkleidet wurde? Mit dem Schriftprinzip war jedenfalls eine Säule des altprotestantischen Theologieverständnisses gefallen. Die weitere Entwick‐ lung brachte auch die zweite Säule zum Fallen, nämlich die Vorstellung von Gott als einer transmundanen Substanz, der nicht nur der Grund der Welt, sondern auch die Voraussetzung der Religion des Menschen ist. Diesen metaphysischen Gott, dessen Existenz bis dato eine geradezu selbstverständliche Annahme darstellte, ließ Immanuel Kant mit seiner Er‐ kenntniskritik über die Klinge springen (Heinrich Heine [1797-1856]). Beide Entwicklungen zusammen, die historische Bibelkritik sowie die Erkenntnis‐ kritik, machten eine völlige Reorganisation der Theologie notwendig, wenn sie weiterhin Wissenschaft sein wollte, die an Universitäten gelehrt wird und deren Wissenschaftsstandards in sich berücksichtigt. Es war der Religionsbegriff, der bereits seit Pietismus, Deismus und Auf‐ klärung in den Fokus der Theologie getreten war, der um 1800 zur Grundlage der wissenschaftlichen protestantischen Theologie wurde. Entscheidende Anstöße empfing diese Entwicklung durch die kritische Transzendental‐ philosophie Kants. Durch sie wurden Religionsphilosophien möglich, die Religion in die Struktur des menschlichen Bewusstseins einordneten, wel‐ ches als Grundlegungsinstanz der Kultur fungierte. Mit der Einführung eines bewusstseinsbezogenen Religionsbegriffs als Basis der wissenschaftlichen Beschreibung der Religion ändert sich das methodische Verfahren der Sys‐ tematischen Theologie. Sie legt nun ihrer Bearbeitung der christlichen Re‐ ligion einen allgemeinen Religionsbegriff zugrunde, auf den sie deren in‐ haltliche Aussagen, Vorstellungen und Bilder bezieht. Diese referieren also 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 77 <?page no="78"?> nicht mehr auf Gegenstände, sondern auf die in der allgemeinen Struktur des Bewusstseins bereits angelegte Religion. Aufgabe der Systematischen Theologie ist es nun, die Entstehung von religiösen Inhalten in der Religion zu erfassen und nicht mehr, wie in der altprotestantischen Dogmatik, schon vorgegebene christliche Gehalte zusammenzustellen und zu systematisie‐ ren. Wissenschaft ist Theologie, indem sie eine kontrollierbare Beschrei‐ bung ausarbeitet, wie Inhalte der christlichen Religion und diese zugleich entstehen. Vor dem Hintergrund der sich beschleunigenden gesellschaftli‐ chen Entwicklung sowie des Wissenschaftssystems im 19. Jahrhundert wan‐ deln sich die Erfassungen dessen, was Religion eigentlich ist, was wiederum Rückwirkungen auf das Verständnis Systematischer Theologie als Wissen‐ schaft hat. Dieser Prozess lässt sich exemplarisch anhand der Religionsphi‐ losophie Kants, der Theologie Friedrich Schleiermachers, der historischen Theologie aus der Mitte des Jahrhunderts und der Theologie Albrecht Ritschls (1822-1889) aufzeigen. L IT E R ATU R : Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1- 2, Gütersloh 1990. 1993. Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Literatur in Deutschland, hrsg. v. Jürgen Ferner, Ditzingen 1997. Wolfhart Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. Georg Pfleiderer/ Harald Matern (Hrsg.): Die Religion der Bürger. Der Religions‐ begriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19.-Jahrhundert, Tübingen 1997. 2.5.1 Erkenntniskritik und Religionsbegründung (Immanuel Kant) Im Denken des Königsberger Philosophen Immanuel Kant findet die Auf‐ klärung ihre gedankliche Zusammenfassung. Von ihm stammt eine ihrer bekanntesten Bestimmungen. Sie bestehe in der autonomen Urteilsbildung. 78 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="79"?> Kritik der reinen Ver‐ nunft Immanuel Kant Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschul‐ deten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 1983, 53) Doch Kant hat zugleich das aufgeklärte Denken auf eine neue, erkenntnis‐ kritische Grundlage gestellt. Darin besteht seine Bedeutung sowohl für die nachfolgende Philosophie als auch für die theologische Entwicklung. In seinem 1781 erschienenen Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft von 1781 hat Kant die Reichweite des Wissens kritisch vermessen. Intersubjektiv geltende Erkenntnis, so das Resultat der Prüfung, ist ausschließlich an die Sphäre der Erfahrung gebunden. Gegenstände, die über diesen Bereich hin‐ ausgehen, kann der Mensch nicht erkennen. Überschreitet die Vernunft in‐ des jene Grenze, dann verliere sie sich in einem phantastischen Strudel von haltlosen Spekulationen. Von geltender Erkenntnis kann nur dann gespro‐ chen werden, wenn Anschauung und Begriffe zusammenkommen. Sie re‐ sultiert aus zwei Quellen (Zweiquellentheorie der Erkenntnis). Mit seiner neuen Grundlegung der Erkenntnis nimmt Kant eine Vermittlung der beiden philosophischen Hauptrichtungen des 18. Jahrhunderts - des Rationalismus und des Empirismus - vor. Für Rationalisten wie Rene Descartes (1596-1650) und Gottfried Wilhelm Leibniz basiert alle Erkenntnis auf Vernunft und be‐ grifflichem Denken. Zu begründetem Wissen gelangt man allein durch eine analytische Zergliederung von Begriffen, die der Vernunft bereits angeboren sind. Dem widerspricht der Empirismus. John Locke und David Hume (1711- 1776) behaupten, zur Erkenntnis kommt der Mensch nicht durch Begriffs‐ analyse. Da die Seele wie eine tabula rasa (leere Tafel) sei, werde diese erst durch Erfahrung beschrieben. Allgemeine Begriffe sind mithin sekundäre Zusammenfassungen und Abstraktionen, die aus Erfahrungen gewonnen werden. Kant kritisiert beide Positionen: Erkenntnis kommt weder nur durch Begriffsanalyse noch allein durch Erfahrung zustande, sie verdankt sich dem Zusammenwirken von Anschauung und Begriff. 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 79 <?page no="80"?> Erkenntnis Erschei‐ nungen und Dinge an sich Wenn der Mensch etwas erkennt, dann verbindet er Begriffe mit An‐ schauungen. Die für die Erkenntnis notwendigen Begriffe werden im menschlichen Geist nach bestimmten Regeln (Kategorien) geformt und auf Anschauungen (Raum und Zeit) angewandt. Dadurch entsteht für jeden Menschen erst die objektive Welt der Gegenstände. Das erkennende Subjekt bildet in seiner Erkenntnis die Wirklichkeit nicht ab, es schafft vielmehr selbst durch die in ihm liegenden Kategorien diejenigen objektiven Gegen‐ stände, die es erkennt. Kant nimmt in seiner Erkenntnistheorie eine Wen‐ dung des Gesichtspunkts vor. Die objektive Gegenstandswelt und ihre Ein‐ heit werden durch den subjektiven Erkenntnismechanismus erzeugt. Möglich ist das freilich allein unter der Voraussetzung, dass in jedem Subjekt derselbe allgemeine Erkenntnisapparat angelegt ist. Das erkennende Subjekt - Kant nennt es transzendentales - ist folglich selbst schon ein allgemeines beziehungsweise ein objektives. Der Mensch kann nur das erkennen, was er nach Regeln konstituiert, die er im Erkenntnisprozess bereits mitbringt. Gegenstände der Erkenntnis in ihrer Totalität sind die Welt der Erscheinungen. Von ihr unterscheidet Kant die Dinge an sich. Sie können nicht erkannt werden. Alles, was der Mensch erkennt, sind Erscheinungen. Notwendig ist die Unterscheidung von Er‐ scheinung und Dingen an sich deshalb, weil sich nur durch sie an einer Moralphilosophie festhalten lässt. Freiheit ist nämlich nur dann wider‐ spruchsfrei zu denken, wenn zwischen der phänomenalen und der intelli‐ giblen Welt strikt unterschieden wird. Gäbe es nur eine Welt der Erschei‐ nungen, dann wäre Freiheit aus dem Grund ausgeschlossen, weil für Erscheinungen ein durchgehender Ursache-Wirkungs-Zusammenhang konstitutiv ist. Mit Kants Vernunftkritik ist eine grundlegende Konsequenz verbunden. Wenn alles, was über die Erfahrung hinausgeht, nicht erkannt werden kann, dann kann es keine intersubjektiv geltende Gotteserkenntnis geben. Gott ist ein ‚Gegenstand‘, der per definitionem nicht zur Erfahrung gehört. Er ist transzendent und unterliegt nicht den Bedingungen von Raum und Zeit. Von Gott hat der Mensch zwar einen Begriff, so dass er ihn denken kann, aber eben keine Anschauung. Wo diese fehlt, da kann man auch nichts erkennen, da jede objektive Erkenntnis aus dem Zusammenspiel von Begriff und Anschauung resultiert. Mit Kants Zweiquellentheorie der Erkenntnis ist folglich die Konsequenz verbunden, dass Gott aus dem Bereich der objektiven Erkenntnisgegenstände ausscheidet. Damit ist er für 80 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="81"?> Ethikotheo‐ logie Religion Sittenge‐ setz die Vernunftkritik ein völlig unerkennbarer Gegenstand, dessen Realität sich überdies mit Gründen weder behaupten noch bestreiten lässt. Dieses Resultat der Vernunftkritik ist nicht ohne Folgen für Philosophie und Theologie, da der Grund- und Abschlussbegriff der überlieferten *Me‐ taphysik und *theologia naturalis (natürliche Theologie) erkenntniskritisch aufgelöst wird. Trifft das aber zu, dann ist sowohl der Theologie als auch der *Metaphysik ihr Gegenstand entzogen. Allerdings ist diese negative Bi‐ lanz nicht Kants letztes Wort in Sachen Religion und Gott geblieben. Sie sind zwar keine Themen der theoretischen Philosophie mehr, wohl aber der praktischen. Der Königsberger Philosoph entwickelt sein Verständnis der Religion in der praktischen Philosophie. Theologie sei allein als Ethikotheo‐ logie, also im Horizont der Moral, möglich und nicht als theoretische Got‐ teserkenntnis. Was versteht Kant unter Religion, und wie ist sie dem sittli‐ chen Bewusstsein zugeordnet? Religion ist für ein Folgeproblem der Moralphilosophie zuständig. Diese Zuordnung von Moral und Religion ist in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und in einer eher religionsdogmatischen Weise in der Schrift Die Re‐ ligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 ausgeführt. Zu‐ nächst: Es geht in Kants Religionsphilosophie nicht darum, die Moral durch die Religion zu begründen oder zu legitimieren. Die Moral ist autonom. Sie hat ihren Grund allein in der Vernunft des Menschen und fußt auf dem Sit‐ tengesetz. Für die Begründung der Moral spielt Gott keine Rolle. Sodann: Der Übergang von der autonomen Vernunftmoral zur Religion ergibt sich für Kant daraus, dass der Mensch zwar ein Vernunftwesen ist, aber eben nicht nur. Der Mensch ist in seinem Handeln nicht allein durch allgemeine Vernunftgründe bestimmt, sondern stets auch durch sinnliche Handlungs‐ antriebe und Neigungen. Sittlich handeln heißt aber für den Königsberger Philosophen, ausschließlich der Stimme der Vernunft, also dem moralischen Gesetz ‚in mir‘, Folge zu leisten. Sinnliche Handlungsantriebe und Neigun‐ gen müssen durch die Vernunft unterdrückt und dem Sittengesetz unterge‐ ordnet werden. Wenn ein Mensch seinen Willen dem allgemeinen Sitten‐ gesetz unterordnet und sich in seinem Handeln ausschließlich von allgemeinen Vernunftgründen bestimmen lässt, dann ist sein Wille ein guter Wille. Nur so ist er frei beziehungsweise autonom. Er unterstellt sich einem Gesetz, das er sich selbst gibt. Mit der Verwirklichung der Sittlichkeit durch den Menschen ist allerdings ein Problem verbunden. Sittliche Handlungen des Menschen gehören für Kant in die Ordnung der Freiheit. Von ihr unterscheidet er die Naturordnung. 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 81 <?page no="82"?> Postulat Gottes Vernunftre‐ ligion In ihr ist alles durch einen Ursache-Wirkungs-Mechanismus miteinander verbunden. Von Freiheit kann daher in der Naturordnung keine Rede sein. Die Natur folgt unabänderlich ihren Gesetzen. Bei den Handlungen des Menschen soll das anders sein. Vom ihm ist zu fordern, dass er sittlich handeln und nicht seinen natürlichen Neigungen und Trieben folgen soll. Wenn aber die sittliche Welt der Freiheit und die kausale der Natur sich geradezu ausschließen, der Mensch jedoch in seinem sittlichen Handeln auf die kausale Ordnung der Natur einwirkt, dann ist nicht so ohne Weiteres klar, wie die beiden Welten - die der Freiheit und die der Naturnotwendigkeit - zusammenstimmen können. Ihre Verträglichkeit lässt sich weder von der Seite der Natur noch von der der Freiheit aus einsehen oder begründen. Gleichwohl muss der Mensch in jeder sittlichen Handlung bereits voraus‐ setzen, dass beide Ordnungen kompatibel sind. Andernfalls wäre das sittli‐ che Handeln sinnlos, es würde in der Natur nichts bewirken. Auf das eben genannte Problem der Zusammenstimmung von Natur und Freiheit bezieht Kant das Postulat Gottes. Gott repräsentiert dem Handelnden die für die Verwirklichung der Sittlichkeit unumgängliche Voraussetzung einer Über‐ einstimmung von Freiheit und Natur. Ihm entspricht das höchste Gut, der Endzweckgedanke der reinen praktischen Vernunft. Es beinhaltet die Auf‐ gabe der sittlichen Weltgestaltung. Wichtig ist, dass in der Kantischen Religionsphilosophie der Gottesge‐ danke erst bei der Realisierung des sittlichen Handelns ins Spiel kommt, und eben nicht bei der Begründung der Moral. Mit der Gottesvorstellung vergegenwärtigt der Mensch sich die Voraussetzungen seines sittlichen Handelns. Er muss sich Gott denken, wenn er seine sinnliche Existenzform mit der Moralität des Sittengesetzes zusammenbringen will. Zugleich dient die Gottesvorstellung dem sittlich Handelnden zur Vergewisserung der Rea‐ lisierung seiner sittlichen Aufgabe, die Welt entsprechend des Sittengesetzes zu gestalten. Religion ordnet Kant der Realisierung der Moral zu. Sie ist eine Form der Selbstdeutung des sittlichen Bewusstseins oder die Weise, in der Sittlichkeit für das sinnliche Vernunftwesen Mensch Wirklichkeit wird. Kants Leistung besteht in einer neuen Begründung der Religion, nachdem sich die alte metaphysische nicht mehr als tragfähig erwiesen hat. Religion ist kein Feld der theoretischen Spekulation, sondern eine Angelegenheit des praktischen Lebens. Ihre Geltungsgrundlage ist die Vernunft. Die Geschichte tritt zurück. In ihr verwirklicht sich Religion, doch ihre wahre Begründung liegt in der Vernunft. Folglich gibt es wie im Deismus nur eine wahre Religion, 82 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="83"?> während die vielerlei Glauben(sarten) grundsätzlich falsch sind, sofern sie nicht mit jener Moralreligion übereinstimmen. Mit dem Christentum, Kant bezeichnet es als „Revolution in Glaubenslehren“, tritt die Moralreligion in die Geschichte ein. Hier kämpft sie mit dem sinnlichen Glauben um die Oberherrschaft, um diese, woran der Königsberger Meisterdenker keinen Zweifel lässt, am Ende zu erlangen. Mit Kants Erkenntniskritik, die Gott aus den Erkenntnisgegenständen ausscheidet, bricht - nachdem die Aufklärung bereits das Schriftprinzip aufgelöst hatte - auch die zweite Säule des altprotestantischen Theolo‐ gieverständnisses zusammen. In Folge seiner Transzendentalphilosophie avancierte das Selbstverhältnis des Bewusstseins zur Grundlage aller Wirk‐ lichkeit und objektiven Kultur. Religion versteht Kant im Horizont ihrer Neubegründung in der praktischen Philosophie als einen Bestandteil der Moral. Doch verdoppelt eine solches Religionsverständnis nicht lediglich die Moral? Und kann von einer Autonomieethik wirklich die Rede sein, wenn die Moral für ihre Verwirklichung auf die Religion angewiesen ist? Wie dem auch sei, Kants kritische Transzendentalphilosophie bildet den Ausgangspunkt für die Entstehung von Religionsphilosophien, die Religion in die allgemeine Struktur des Bewusstseins einordnen und auf diese Weise ihre Notwendigkeit und Allgemeinheit begründen. Erst dadurch wurde es möglich, ein einheitliches Bild der Religion zu schaffen, das jedoch inhaltlich sehr verschieden bestimmt werden kann. L IT E R ATU R : Christian Danz/ Rudolf Langthaler (Hrsg.): Kritische und absolute Transzen‐ denz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, Freiburg i.Br./ München 2006. Claus Dierksmeier: Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin/ New York 1998. Ottfried Höffe: Immanuel Kant, München 9 2020. Alexander Heit: Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006. Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? , in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd.-9, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, 53-61. Michael Kühnlein (Hrsg.): Religionsphilosophie nach Kant. Im Angesicht des Bösen, Berlin 2023. 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 83 <?page no="84"?> Eigenstän‐ digkeit der Religion Anschau‐ ung und Gefühl Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, in: ders.: Schriften über Religion und Aufklärung, Berlin (Ost) 1989, 467-471. 2.5.2 Religion als Bestandteil des Bewusstseins (Friedrich Schleiermacher) Friedrich Schleiermacher ist wohl das wichtigste Beispiel für die neuen Grundlegungen einer wissenschaftlichen Theologie im Horizont der nach‐ kantischen Philosophie. Anders als der Königsberger Denker arbeitete er die Eigenständigkeit der Religion heraus, indem er sie in die allgemeine Grund‐ legungsstruktur des Bewusstseins einordnete. Indem bei Schleiermacher ein allgemeiner Religionsbegriff den besonderen geschichtlichen Religionen zu‐ grunde gelegt wird, ändert sich auch die Aufgabe der Systematischen Theo‐ logie. Als von der Religion unterschiedene Wissenschaft bezieht diese die Bilder und Vorstellungswelten der christlichen Religion auf eine allgemeine Strukturebene, um deren Religionsein theoretisch zu erfassen. Religiöse In‐ halte haben folglich eine reflexive Funktion für die Religion und keine ge‐ genstandsbezogene. Damit ist Theologie als eine Wissenschaft unter den veränderten Erkenntnisbedingungen der Moderne etabliert. Schleiermacher setzt die aufgeklärte Bibel- und Erkenntniskritik voraus, zugleich unterzieht er jedoch die Aufklärung ebenfalls der Kritik. Diese bündelt sich schon in seinem genialen Frühwerk, den Reden Über die Religion von 1799, in der Christologie und auch in seinem dogmatischen Hauptwerk Der christliche Glaube, das zuerst 1821/ 22 und in zweiter Auflage 1830/ 31 erschien, behält er sie bei. Ihm geht es um eine Erfassung der Religion, die im Gegensatz sowohl zur Moral steht, wie in der Aufklärung und bei Kant, als auch zur *Metaphysik, wie im Deismus und der Aufklärung. Religion, so die neue Auffassung, die der junge Schleiermacher in den Reden seinen Leserinnen und Lesern präsentiert, sei etwas Selbständiges und von anderen Kulturformen Unterschiedenes. Als eigene Provinz im Ge‐ müt fußt sie in der Vermögensstruktur des Bewusstseins. Damit sind ihre Allgemeinheit und humane Notwendigkeit abgeleitet. Jeder Mensch hat eine religiöse Potenz in sich. Religion entsteht von selbst im Menschen, indem sich jene Anlage aktualisiert. Darauf hinzuweisen, ist die Funktion des Mitt‐ lers für die Religion. Sie selbst besteht im individuellen Vollzug eines allge‐ meingültigen Selbstverhältnisses, der sich in besonderen Anschauungen und einem ihnen korrespondierenden *präprädikativen Selbstbezug artiku‐ liert, den Schleiermacher Gefühl nennt. Dem Menschen ist in der Religion 84 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="85"?> ein Bild der Einheit und Ganzheit seiner selbst als Bewusstsein gegeben, welches unhintergehbar an den eigenen individuellen Vollzug gebunden ist. Darum ist sie die Geburtsstunde des geistigen Lebens. Besonderes und Allgemeines, von Schleiermacher Universum genannt, sind in der Religion aneinandergebunden. Diese Verknüpfung stellt sie in Anschauungen und Gefühlen dar, die ihr Wesen ausmachen und die Religion vom Denken und Handeln unterscheiden. Auf dieser Grundlage erörtert der Redner seinen fingierten Hörerinnen und Hörern die Religion, die sich aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit von anderen Kulturformen unterscheidet, aber als Erschlossensein des Bewusstseins in seiner Einheit und Ganzheit auf sie bezogen ist. In ihrem Kern ist Religion ein inneres Erleben, welches strikt von Dogma, Bekenntnis und Lehre unterschieden ist. Ihre symbolischen Formen, in denen sie sich in der Geschichte darstellt und kommuniziert wird, sind Ausdruck der inneren Religion. Das gilt auch für Gott. Er ist eine einzelne religiöse Anschauung neben vielen anderen und für Religion nicht konstitutiv. So kann, wie Schleiermacher eigens betont, eine Religion ohne Gott besser sein als eine mit ihm. Religion entsteht im einzelnen Menschen grundsätzlich von selbst, und sie lebt in der wechselseitigen religiösen Mitteilung. Entsprechend ist die Kirche keine Heilsanstalt, die überzeitliche Lehrinhalte transportiert, sondern Ort der religiösen Kommunikation. Wirklich ist die Religion indes, so die fünfte Rede, allein in geschichtlichen Religionen. Sie entspringen, indem aus der Vielzahl der religiösen Anschauungen willkürlich eine herausgegriffen und als Zentralanschauung gesetzt wird, der alle anderen Anschauungen ein- und untergeordnet werden. Damit ist die deistische und aufgeklärte Vorstellung einer natürlichen Vernunftreligion als abstraktes Konstrukt zurückgewiesen. Religionen sind an die Geschichte gebunden und entstehen unableitbar aus ihr. Hierauf weist, wie bereits erwähnt, die Idee des Mittlers in der Religion hin. Zugleich funktioniert dieser in den Religionen als inner‐ religiöse Kritik an ihnen. Bereits in seinem Erstlingswerk Über die Religion verbindet Schleiermacher die Religion mit der Christologie, auch wenn diese hier noch nicht ausgearbeitet ist. Zwar sind alle Religionen individuelle Besonderungen des Wesens der Religion und somit grundsätzlich gleich. Doch das Christentum hebt sich aus dem religiösen Kosmos heraus. Es ist die Religion der Religionen, da in ihm Religion - die Bindung des Allgemeinen an das Besondere - der Inhalt der Religion ist. In den Reden von 1799 arbeitet Schleiermacher die geschichtliche Indivi‐ dualität der Religionen auf der Grundlage eines bewusstseinstheoretisch 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 85 <?page no="86"?> Glaubens‐ lehre Umfor‐ mung der Prolego‐ mena der Dogmatik begründeten Religionsverständnisses aus. Darin besteht die epochale Be‐ deutung des Buches. Mit der Übernahme eines Professorenamts 1804 an der Universität Halle und 1810 in Berlin, hat Schleiermacher seine Religions‐ theorie zum Fundament einer wissenschaftlichen Theologie ausgebaut. Wichtige Entwicklungsstufen sind der 1806 erschienene Dialog Die Weih‐ nachtsfeier sowie die fünf Jahre später publizierte Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum behuf einleitender Vorlesungen (2. Aufl. 1830). Während die als Dialog gestaltete Unterredung über den Ursprung des Christentums, die vom gegenwärtigen Erlösungsglauben ausgeht und die‐ sen an die Geschichte anknüpft, die spätere Christologie der Glaubenslehre präfiguriert, skizziert die Kurze Darstellung ein Neuverständnis der Theo‐ logie als Wissenschaft. Grundlage der Theologie, die als positive Wissen‐ schaft bestimmt wird, ist das Christentum als Religion. Ihre Einheit als Wis‐ senschaft ergibt sich aus ihrer Funktion, die für ein Leitungsamt in der Kirche notwendigen Kenntnisse zu vermitteln. Aus dieser übergeordneten Aufgabe resultiert die innere Gliederung der Theologie in philosophische, historische und praktische Disziplinen. Dabei ordnet Schleiermacher die dogmatische Theologie der historischen zu, da das Christentum zwar die wahre, aber als solche eine geschichtliche Religion ist, die einem Wandel unterliegt. Folglich ist es die Aufgabe der Dogmatik, den gegenwärtigen Glauben der evangelischen Kirche darzustellen. Ausgeführt ist dieses Pro‐ gramm in der Glaubenslehre. Schleiermachers Dogmatik unterscheidet sich bereits im Aufbau grund‐ legend von den Lehrsystemen des Altprotestantismus. Behandelte diese in den Prolegomena den Theologiebegriff, die Schriftlehre sowie die Bekennt‐ nisse, so setzt Schleiermacher mit einer Begründung der Dogmatik in einem in der Struktur des Bewusstseins verankerten Religionsbegriff ein, skizziert auf dieser Basis eine religionsgeschichtliche Typologie und bestimmt vor diesem Hintergrund das Wesen des Christentums als Erlösungsreligion. In ihm ist alles auf die von Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung bezogen. Auch die Glaubenslehre fügt Religion in die allgemeine Bewusstseins‐ struktur ein und bestimmt sie als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit be‐ ziehungsweise *unmittelbares Selbstbewusstsein. Der Anschauungsbegriff der Reden tritt zurück. In seiner bewusstseinstheoretischen Ableitung der Religion unterscheidet Schleiermacher zwischen einem höheren und einem niederen, sinnlichen Selbstbewusstsein. Dieses ist durch den Gegensatz eines relativen Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstseins ausgezeichnet. Demgegenüber bezeichnet das höhere Selbstbewusstsein das Erschlossen‐ 86 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="87"?> Christolo‐ gie Kirche sein des sinnlichen Selbstbewusstseins, dass das Wechselverhältnis von relativem Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein unhintergehbar konsti‐ tutiv für Letzteres ist. In der Religion wird sich das Bewusstsein in seiner Ganzheit und Einheit ansichtig. Religiöse Inhalte hingegen fungieren als Ausdruck und Deutung der im Inneren des Menschen angelegten Religion. Aufgabe einer wissenschaftlichen Dogmatik ist es, zu beschreiben, wie Inhalte der Religion mit ihr zugleich entstehen. Religion entspringt in jedem Menschen, indem das höhere Selbstbewusst‐ sein in das niedere eintritt. Schleiermacher verzahnt diesen allgemeinen Re‐ ligionsbegriff mit der Wesensbestimmung des Christentums. Wenn Religion in dem besagten Eintritt besteht, dann lässt sich approximativ ein Höchst‐ maß des Bestimmtseins des niederen durch das höhere Selbstbewusstsein denken. Auf diesen Religionsbegriff, den die Einleitung zur Glaubenslehre entwickelt, baut ihre Christologie auf. In Jesus Christus bestimmt das höhere religiöse Selbstbewusstsein konstant und durchgehend das niedere sinnli‐ che. Er ist die individuelle Verwirklichung des Religionsbegriffs in der Ge‐ schichte und folglich das Urbild der Religion. Doch der Bezug auf Jesus Christus ergibt sich aus dem gegenwärtigen Glauben, der sein als Erlösung verstandenes Entspringen auf Jesus von Nazareth zurückführt. Sämtliche näheren Bestimmungen der Christologie ergeben sich aus dem gegenwär‐ tigen Erlösungsbewusstsein, dessen geschichtlichen Anfang Christus mar‐ kiert. Zunächst ist er als Erlöser selbst nicht der Erlösung bedürftig. Er ist bereits erlöst geboren. Sein Eintritt in die Geschichte ist aus dieser nicht herleitbar, so dass dieser ein göttliches Wunder ist. Sodann: Strukturell ist Jesus von Nazareth allen Menschen gleich. Da er jedoch als Erlöser geboren, dieser also nicht erst wurde, unterscheidet er sich zugleich von allen anderen Menschen. Für sie bestehen Religion und ihre Erlösung in dem kontingenten Eintritt des höheren in das niedere Selbstbewusstsein. Hierauf baut drittens Schleiermachers Reformulierung der altkirchlichen Zweinaturenlehre auf, in der die bewusstseinstheoretische Differenz von höherem und niederem Selbstbewusstsein die von göttlicher und menschlicher Natur ersetzt. Mit dem Erlöser tritt ein völlig neues, der als Hemmung des Eintritts der Religion in das Selbstbewusstsein verstandenen Sünde entgegengesetztes Gesamtleben in die Geschichte ein. Es ist aus ihr nicht herleitbar und von allen anderen Religionen grundsätzlich unterschieden. In der Geschichte verwirklicht sich das neue Gesamtleben in Form der christlichen Kirche. Die Weitergabe der christlichen Religion verbindet Schleiermacher mit dem von Jesus Christus ausgehenden Heiligen Geist. Dieser realisiert sich in der Ent‐ 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 87 <?page no="88"?> stehung der christlichen Religion im Einzelnen sowie der wechselseitigen religiösen Darstellung und Mitteilung der Frommen. Wie in den frühen Re‐ den so ist die Kirche auch in der Glaubenslehre keine Heilsanstalt, sondern eine religiöse Gemeinschaft. Das neue, von Jesus Christus gestiftete Ge‐ samtleben verwirklicht sich in der Welt gegen diese. Auch wenn die Erlö‐ sung in der Geschichte gleichsam natürlich weitergegeben wird, so ist sie doch nicht von dieser Welt. Schleiermacher nimmt die neuen, von der Aufklärung geschaffenen Erkenntnisbedingungen in seine Neubestimmung der Dogmatik auf. Ihre altprotestantischen Grundlagen - Schriftprinzip und metaphysischer Got‐ tesgedanke - ersetzt er durch einen bewusstseinstheoretisch fundierten Religionsbegriff, auf den die christliche Religion bezogen wird. Die Glau‐ benslehre, wie Schleiermacher seine Dogmatik nennt, hat nicht mehr die Aufgabe, die fertig vorliegenden Inhalte der christlichen Religion zusam‐ menzufassen. Sie beschreibt vielmehr für die Glaubenden, wie die Inhalte ihres Glaubens mit diesem zusammen entstehen. L IT E R ATU R : Jörg Dierken: „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Der Begriff der Religion bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), in: Georg Pfleiderer/ Harald Matern (Hrsg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestanti‐ schen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 197-212. Hermann Fischer: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2001. Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/ 1831), hrsg. v. Dirk Schmid, Berlin/ New York 2012. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), 2 Bde., hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. v. Günter Meckenstock, Berlin/ New York 1999. Arnulf von Scheliha: Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 245-254. Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schlei‐ ermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. 88 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="89"?> 2.5.3 Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion und ihrer Geschichte (Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß) In der weiteren Entwicklung der protestantischen Theologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bleibt es sowohl bei der Unterscheidung von Theologie und Religion als auch bei Konstruktionen des Religionsbegriffs, die diesen in die Grundlegungsstruktur des Bewusstseins einordnen. Doch vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und des Wissenschaftssystems im deutschen Vormärz kommt es auch zu signifikanten Transformationen. Das betrifft unter anderem Wissenschafts‐ verständnisse, die von den idealistischen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) ausge‐ arbeitet wurden, aber auch die Entstehung der modernen Fachhistorie sowie die mit ihr verbundenen Anfänge des Historismus. Krisis des Historismus In seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nach‐ teil der Historie für das Leben, die 1874 erschien, hatte Friedrich Nietz‐ sche (1844-1900) auf die Folgewirkungen der modernen Geschichts‐ wissenschaften für das Leben aufmerksam gemacht. Die Unmengen an historischen Fakten, die von der Fachhistorie zutage gefördert würden, hemmen das Leben. Um 1900 diskutierte man schließlich in allen Wissenschaften über die Folgen des Historismus. In seinem Essay Krisis des Historismus (1922) fasste Ernst Troeltsch die ethischen und ge‐ sellschaftlichen Konsequenzen der Durchsetzung des historischen Be‐ wusstseins im 19. Jahrhundert zusammen. Unter Historismus versteht er nicht nur eine Angelegenheit der historischen Fachwissenschaften oder, wie Friedrich Meinecke (1862-1954), eine Anwendung der in der „großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben“ (Meinecke 1965, 2), sondern eine grundsätzliche „Historisierung unse‐ res ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt“ (Troeltsch 2002, 437). Der Historismus sei nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Als „eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt“ (Troeltsch 2002, 438) stellt er die Signatur des modernen Bewusstseins überhaupt dar. Seine Ambivalenz werde daran sichtbar, dass der Historismus „alle ewigen Wahrheiten“ erschüttert, seien diese nun 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 89 <?page no="90"?> Ferdinand Christian Baur „kirchlich-supranaturaler“ Art, seien „es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit“, oder „seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen“ (Troeltsch 2002, 437 f.). Viele protestantische Theologen rezipieren in den 1820er und 1830er Jahren idealistische Systemkonzeptionen, um theologische Probleme zu lösen, die sich aus dem kulturellen, sozialen und politischen Wandel für ihr Fach ergeben. Hieraus resultieren wiederum neue Programme wissenschaftlicher Theologie und diesen korrespondierende Auffassungen von Religion. Ex‐ emplarisch lässt sich das an den historischen Theologien der Tübinger Ferdinand Christian Baur (1792-1860) und seines Schülers David Friedrich Strauß (1808-1874) zeigen. Beiden geht es um Verwissenschaftlichung der Theologie, und beide beziehen sich auf die idealistische Philosophie, um die mit der einsetzenden Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung verbundenen neuen Fragen in der akademischen Theologie zu bearbeiten. Baur, dessen Forschungsschwerpunkte in der Dogmengeschichte sowie des Neuen Testaments lagen, gilt als Begründer einer modernen historischen Theologie. Er verbindet die quellenbasierte historisch-kritische Geschichts‐ forschung mit einer philosophischen Konstruktion der Geschichte, die deutlich Anleihen bei idealistischen Systemkonzeptionen macht. Sowohl Hegel als auch Schelling haben um 1800 im Anschluss an die kritische Phi‐ losophie Kants umfassende philosophische Systeme ausgearbeitet, in denen das Universum insgesamt als ein dynamischer Prozess verstanden ist, in dem sich die allgemeine Vernunft im einzelnen Menschen selbst erfasst und ihrer selbst inne wird. Damit erhält der Entwicklungsgedanke konstitutive Bedeutung. Auf die Religion übertragen, die ein Bestandteil der Vernunft ist, bedeutet dies, dass auch sie als etwas verstanden werden muss, was sich im Prozess der Geschichte entwickelt. Geschichte ist also nicht mehr, wie für das aufgeklärte Geschichtsdenken, eine Ansammlung von kontingenten Ereignissen, sondern, wie es Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus von 1800 formulierte, eine fortschreitende Offenbarung Gottes im Bewusstsein. Daran knüpft Baur an. Religion heißt Religionsgeschichte. Er verbindet den spekulativen Geschichtsgedanken jedoch im Unterschied zu Schelling und Hegel, von dem Baur lediglich dessen 1832 erschienene Religionsphilosophie zur Kenntnis genommen hatte, mit der empirischen 90 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="91"?> David Friedrich Strauß Geschichte und ihren Quellen, um eine eigenständige Form von Theologie als Wissenschaft zu begründen. 1824 erschien der erste Band von Baurs Frühwerk Symbolik und Mytho‐ logie, oder die Naturreligion des Altertums. Es lässt die Grundzüge einer Theologie erkennen, die Wissenschaft sein soll. Grundlage der Konstruktion ist eine Einordnung der Religion in die Struktur des Bewusstseins, und sie besteht in einer Identität von göttlichem und menschlichem Geist. Das gibt die Möglichkeit, die Religionsgeschichte als einen gestuften Prozess zu verstehen, in dem diese Identität im Bewusstsein des Menschen bewusst wird. Im Christentum ist das der Fall. Es ist die absolute Religion, da sich der Religionsbegriff in ihm in der Geschichte realisiert. Theologie hat die Aufgabe, den religionsgeschichtlichen Entwicklungsprozess zu konstruie‐ ren. Sie ist dabei zwar auf die Geschichte der Religionen und ihre Quellen angewiesen. Doch da die Theologie von der Religion unterschieden ist, bleibt ihre Darstellung der Geschichte ihre eigene Konstruktion, die sie autonom herstellt. Wie verhalten sich aber das theologische Bild der Geschichte als einer fortschreitenden Offenbarung Gottes im Bewusstsein der Menschheit und empirische Verlaufsgeschichte zueinander? Beide Ebenen bleiben bei Baur strikt getrennt. Geschichte ist Geschichte der zeitlosen Idee der Reli‐ gion, also der Identität von göttlichem und menschlichem Geist. Und sie ist unabhängig von dem sinnlosen Verlauf der empirischen Geschichte. An Baurs Programm einer theologischen Wissenschaft hat sein Schüler David Friedrich Strauß angeknüpft und es radikalisiert. Auch Strauß benutzt die idealistische Philosophie für die Bearbeitung von Problemen, vor die sich die Theologie durch die neuen Geschichtswissenschaften gestellt sah. Um den veränderten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Problemanfor‐ derungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rechnung zu tragen, muss sich die akademische Theologie verwissenschaftlichen. Wie sein Leh‐ rer orientiert sich Strauß für dieses Vorhaben an Hegel, dessen Schriften er - anders als Baur - intensiv zur Kenntnis genommen hatte. Theologie ist eine Wissenschaft, und sie ist von der Religion, auf die sie sich bezieht, un‐ terschieden. Ihre Aufgabe ist es, das, was in den religiösen Bildern eigentlich gemeint ist, in einen wissenschaftlichen Begriff zu überführen. Theologie konstruiert also auf der Ebene der Wissenschaft in eigener Autonomie ein Bild der Religion, welches sie den geschichtlichen Religionen und ihren Vorstellungen und Bildern zugrunde legt. Fundament der Konstruktion ist ein allgemeiner Religionsbegriff, der in der Struktur des Selbstverhältnisses des Bewusstseins verankert ist. Strauß versteht Religion als ewige 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 91 <?page no="92"?> das Neue Testament als Mythos Gott-Mensch-Einheit. In der Religion erfasst sich das Bewusstsein jedoch nicht nur in seiner Einheit und Ganzheit, wie bei Schleiermacher, diese Selbsterfassung ist zugleich an einen religionsgeschichtlichen Entwick‐ lungsprozess gebunden. Religion ist das geschichtliche Bewusstwerden der Idee der Gott-Mensch-Einheit. Doch ihr ist das lediglich in Bildern oder, wie Strauß im Anschluss an Hegel formuliert, Vorstellungen möglich, die grund‐ sätzlich falsch sind, da sie den Gehalt der Idee verfehlen. So wird sich zwar in der Religion das Bewusstsein seiner selbst inne, aber die religiösen Bilder stellen diese Selbsterfassung als etwas dem Bewusstsein gegenüber Anderes vor: als den Gott-Menschen Jesus Christus, in dem Gott und Mensch ver‐ söhnt sind. Um den eigentlichen Gehalt der religiösen Bilder zu erfassen, muss folglich die Theologie hinter diese auf die allgemeine Ebene der Idee zurückgehen. Dabei ist auch für Strauß die Idee prinzipiell unabhängig von der empirischen Verlaufsgeschichte. In seinem 1835/ 36 veröffentlichten Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbei‐ tet hat Strauß sein Programm einer wissenschaftlichen Theologie auf die Ursprünge der christlichen Religion angewandt. Das Buch ist ein Meilen‐ stein der historischen Jesusforschung. Allein, die theologischen Zeitgenos‐ sen sahen es anders. Für sie lösten die Untersuchungen von Strauß die ge‐ schichtlichen Grundlagen der christlichen Religion im Furor der Kritik auf und ließen lediglich einen nebulösen Mythos stehen. Noch bevor sie begon‐ nen hatte, beendete das Buch die akademische Karriere seines Autors. Im Hintergrund des nicht ausschließlich auf Kritik abzielenden Leben Jesu steht die strikte Unterscheidung von empirischer Geschichte und überzeitlicher Idee der Religion. Von der kritischen Analyse der neutestamentlichen Evan‐ gelien, der Auflösung ihres historischen Realitätsgehalts im Feuer der Kritik, bleibe die Wahrheit des Christentums, wie Strauß in der Vorrede notiert, unberührt. Denn die Idee der Religion, die ewige Gott-Mensch-Einheit, die in der Entstehung des Christentums erfasst wird, ist unabhängig von der Geschichte. Auf dieser Basis unterzieht Strauß die vier Evangelien, die als Quellen für das Leben des historischen Jesus in Frage kommen, einer kriti‐ schen Prüfung. Sein Resultat ist ernüchternd. Bei dem, was die neutesta‐ mentlichen Evangelien von dem Nazarener berichten, handelt es sich nicht um die Wiedergabe einer realen Geschichte, die sich so zugetragen hat, wie sie es erzählen, sondern um ‚fromme Phantasie‘. Strauß nennt das Mythos. Gemeint sind die Bilder der Religion, die zwar Ausdruck von ihr sind, diese jedoch grundsätzlich verfehlen. Gleichwohl bedeutet die Klassifizierung der neutestamentlichen Evangelien als Mythos nicht, dass sie Fabeln oder pure 92 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="93"?> Christolo‐ gie Erfindung seien. Bei der mythischen Form handelt es sich in erster Linie um die religiöse Darstellungsweise der Erfassung der Idee der Religion im Be‐ wusstsein. In den nach dem Tod Jesu verfassten Evangelien stellen seine gläubigen Anhänger keine empirische Verlaufsgeschichte dar, wohl aber ihre eigene Erfassung der Idee. Diese bildet den eigentlichen Gehalt des un‐ ter Aufnahme von alttestamentlichen Vorstellungen konstruierten my‐ thisch-religiösen Lebensbildes Jesu im Neuen Testament. Mit Strauß’ Differenzierung von Idee und Geschichte treten der histori‐ sche Jesus und der Christus des Glaubens in einen Gegensatz, der sich nicht mehr überbrücken lässt. Es ist die Gemeinde, die ihre eigene Erfassung der ewigen Gott-Mensch-Einheit in dem mythischen Bild des Gottessohnes dar‐ stellt, der ins Endliche hinabgestiegen, seine Endlichkeit am Kreuz hingab und als Geist auferstanden ist. Der wissenschaftlichen Theologie fällt die Aufgabe zu, diesen Gehalt der christlichen Religion im Durchgang durch die Kritik der religiösen Bilder zu konstruieren. Strauß hatte dies bereits in der Schlussabhandlung des Lebens Jesu und dann vor allem in seiner Glaubens‐ lehre von 1840/ 41 unternommen. Die Wahrheit der christlichen Religion er‐ fasst die Theologie, indem sie deren Gehalt, die ewige Gott-Mensch-Einheit, expliziert. Da aber diese in jedem Menschen angelegt ist, ist der logische Prozess, in dem die Idee im individuellen Bewusstsein bewusst wird, ihr Gegenstand. Für die dogmatische Christologie bedeutet das: ihr Subjekt ist nicht eine individuelle Person, sondern die Menschheit. So realisiert sich zwar die Idee, aber eben in der Menschheit und nicht wie bei Schleiermacher und der theologischen Lehrtradition in dem Individuum Jesus von Nazareth. Theologie ist für Strauß Wissenschaft. Sie konstruiert das eigentliche Bild der von ihr unterschiedenen Religion, da deren Vorstellungsbilder die Idee der Religion verfehlen. Doch indem die Idee des Christentums von der Geschichte abgelöst wird, wird diese bedeutungslos. Sie, die Religions‐ geschichte, ist ein bloßes Durchgangsmoment auf dem Weg der Idee hin zu ihrer Selbsterfassung. L IT E R ATU R : Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. Ferdinand Christian Baur: Die christliche Gnosis oder die christliche Religi‐ ons-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835. 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 93 <?page no="94"?> Ferdinand Christian Baur: Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Altertums, Bd.-1, Stuttgart 1824. Christian Danz: Idee und Geschichte. Der Religionsbegriff im Werk von David Friedrich Strauß (1808-1874), in: Georg Pfleiderer/ Harald Matern (Hrsg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 406-420. Christian Danz (Hrsg.): Schelling und die historische Theologie des 19.-Jahrhun‐ derts, Tübingen 2013. Fridrich Wilhelm Graf: Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982. Peter C. Hodgson: The Formation of Historical Theology. A Study of Ferdinand Christian Baur, New York 1966. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München 2 1965. Michael Murrmann-Kahl: Das Religionsverständnis Ferdinand Christian Baurs (1792-1860) zwischen Idealismus und Historismus, in: Georg Pfleiderer/ Harald Matern (Hrsg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestanti‐ schen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 386-405. David Friedrich Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Tübingen 1840/ 41. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/ 36. Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013, 25-134. 2.5.4 Theologie als Erfassung der Besonderheit der christlichen Religion (Albrecht Ritschl) Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere der sich beschleunigenden Indus‐ trialisierung Deutschlands, der Reichsgründung 1871 und anderen Faktoren kommt es auch zu Verschiebungen im Religions- und Theologieverständnis. Diese sind die Folge von Weiterentwicklungen des Wissenschaftsverständ‐ nisses, welches sich in dem Siegeszug der Naturwissenschaften seit der Jahrhundertmitte niederschlägt, aber ebenso der zunehmenden Kenntnis nichtchristlicher Religionskulturen. In der protestantischen Universitäts‐ 94 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="95"?> Neubestim‐ mung der Religion Offenba‐ rung Gottes in der Ge‐ meinde theologie führt das zu Neubestimmungen der christlichen Religion. Ihre Be‐ sonderheit als Religion rückt nun in den Fokus des Interesses. Dadurch än‐ dert sich auch das Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft. Ihre Grundlage bleiben nach wie vor die Unterscheidung von Theologie und Re‐ ligion sowie deren Einordnung in die Gesamtstruktur des Bewusstseins. Doch die christliche Religion wird nicht mehr als besonderer geschichtlicher Ausdruck eines allgemeinen Religionsbegriffs verstanden, der allen Religio‐ nen zugrunde liegt. Was Religion ist, erschließt sich nun aus einer Bestim‐ mung des Wesens des Christentums. Paradigmatisch für diese Weiterent‐ wicklung der protestantischen Theologie als Wissenschaft ist Albrecht Ritschl. Ritschl geht es um eine Neubestimmung der Theologie als Wissenschaft, die auf die Positivität der christlichen Religion bezogen ist. Sein neues Ver‐ ständnis der theologischen Wissenschaft ergibt sich aus seiner Ablösung vom theologischen Hegelianismus Ferdinand Christian Baurs und seiner Schule, in der, wie Ritschls 1849 verfasste Abhandlung Die Entstehung der altkatholischen Kirche zeigt, seine Anfänge liegen. Ritschl, der 1859 Professor in Bonn wurde und fünf Jahre später nach Göttingen wechselte, kritisiert die Geschichtskonstruktion Baurs. Sie fuße auf dem rein logischen Entwick‐ lungsschema der Idee, was zur Folge habe, dass das Konkrete und Einzelne der Geschichte lediglich als unwesentlicher Ausdruck des logischen Prozes‐ ses in den Blick käme. Demgegenüber gelte es, das Konkrete der Geschichte in ihre Konstruktion aufzunehmen und zu betonen. Es ist kein bloßes Durch‐ gangsmoment der Idee, sondern sowohl für Geschichte als auch Religion konstitutiv. Dass in Ritschls Theologie der Offenbarungs- und der Wunder‐ begriff wieder einen grundlegenden Status erhalten, hat die Funktion, die geschichtliche Konkretheit und Besonderheit der christlichen Religion in der theologischen Wissenschaft zu berücksichtigen. In seinem dreibändigen dogmatischen Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 1870-1874 in erster Auflage erschienen (3. Aufl. 1888/ 89), sowie der dichten Zusammenfassung seiner Theologie Unterricht in der christlichen Religion (1875) geht der Göttinger Theologe von der Offenbarung Gottes in der Gemeinde aus, um die Eigenart des Christentums als Religion zu erfas‐ sen. Einen allgemeinen Religionsbegriff, auf den Schleiermacher seine Glau‐ benslehre aufbaut, lehnt Ritschl ab. Als Einheit von göttlichem und mensch‐ lichem Geist gründe Religion zwar in der allgemeinen Grundlegungsstruktur des Bewusstseins und sei etwas Eigenes gegenüber Erken‐ nen, Handeln, Kunst und Recht, aber das Wesen des Christentums lasse 2.5 Der Religionsbegriff als Grundlage der Systematischen Theologie im 19.-Jahrhundert 95 <?page no="96"?> Reich Got‐ tes Glaube sich durch einen philosophischen Religionsbegriff nicht erfassen. Auch ein Religionsvergleich reiche hierzu nicht aus. Aufgabe der Theologie ist es, die Besonderheit des Christentums, sein Wesen als einer geschichtlichen Religion zu bestimmen. Es besteht im indi‐ viduellen Vollzug des Glaubens und ist an ihn gebunden. Ihn beschreibt Ritschl theologisch als Offenbarung Gottes in der Gemeinde. Was ist damit gemeint? Zunächst: Gott ist das allgemeine Gute, und sein Endzweck ist das Reich Gottes. Es ist sowohl übernatürlich als auch überweltlich und strikt allgemein. In seiner Offenbarung in Jesus Christus realisiert Gott sein Reich in der Geschichte. Sodann: Diese Realisierung besteht im Vollzug des Glau‐ bens, der durch die (ethische) Wahrheit Gottes bestimmt ist. Deshalb ist der Glaube Selbsterkenntnis, der derjenigen Gottes entspricht. Sie ist an den Akt des Glaubens gebunden und allein in ihm wirklich. Und: Da Jesus Christus die Offenbarung Gottes in der Geschichte und somit die Verwirklichung des Reichs Gottes im Glauben ist, ist er der geschichtliche Ursprung der christ‐ lichen Religion und ihr bleibender Bezugspunkt. Glaube bedeutet nämlich Aufnahme des Menschen in das in Jesus Christus verwirklichte Reich Gottes, welches nur im eigenen Vollzug des Glaubens für den Einzelnen gegeben ist. Ritschl versteht den Glauben als individuellen Vollzug, der durch das all‐ gemeine Gute Gottes bestimmt ist. Allein in diesem Akt des Glaubens erfasst sich der Mensch in seiner religiös-sittlichen Bestimmung. Mit dieser Fassung des Glaubens als Offenbarung Gottes in seiner Gemeinde grenzt sich Ritschl von Baur ab, doch zugleich hält er auch an Motiven seines Lehrers fest. Gegen den Tübinger und seine Schule bindet Ritschl den Glauben an einen individuellen Vollzug. In diesem verwirklicht sich das Reich Gottes in der Geschichte. Die Idee oder Wahrheit des Christentums ist an einen indivi‐ duellen Akt des Menschen gebunden. Da jedoch der Glaubensvollzug durch die allgemeine Wahrheit Gottes bestimmt ist, hebt er sich zugleich in das allgemeine Gute auf. Das Reich Gottes ist übernatürlich und überweltlich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt Ritschl eine neue Form wissenschaftlicher Theologie, die strikt auf den Glauben als in die Ge‐ schichte eingebundenes, aber nicht aus ihr ableitbares Geschehen bezogen ist. Es geht nicht mehr darum, das Christentum als besondere Ausprägung eines allgemeinen Wesens der Religion zu erfassen, sondern umgekehrt darum, das besondere Wesen der christlichen Religion im Unterschied zu anderen Formen der Kultur zu bestimmen. Der wissenschaftlichen Theolo‐ gie obliegt es, die reflexive Struktur des Glaubens zu beschreiben, der sich in bestimmten Inhalten artikuliert. Gegeben sind Inhalte des Glaubens aus‐ 96 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="97"?> Christolo‐ gie als Bild des Glau‐ bens Neubestim‐ mungen der Theolo‐ gie schließlich in seinem Vollzug. Sie haben eine reflexive Funktion und keine gegenständliche. Mit und in seinen Inhalten stellt der Glaube sich selbst als einen unableitbaren Vollzug dar, der geschichtlich bestimmt ist. Ganz in diesem Sinne arbeitet Ritschl die Christologie als reflexive Beschreibung der Struktur des Glaubensvollzugs aus. Jesus Christus ist Bild des Glaubens von sich selbst als einem in sich strukturierten Vollzug. Auf diese Weise bindet der Göttinger Theologe die Wahrheit der christlichen Religion des Glaubens mit seinem Vollzug zusammen. Theologie ist dadurch eine Wissenschaft, dass sie die Besonderheit des Christentums als Religion beschreibt. L IT E R ATU R : Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der ersten Auflage von 1875, hrsg. v. Christine Axt-Piscalar, Tübingen 2002. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bde., Hildesheim/ Zürich/ New York 1978 (ND der 2. Auflage von 1882/ 83). Arnulf von Scheliha: Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtferti‐ gung und Versöhnung, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 254-262. Folkart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909-1916), Tübingen 2000, 16-79. Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013, 135-285. 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt es in der protestantischen Theologie zu einem Umbruch. Um 1900 entstehen neue Formen von Theo‐ logie, die sich radikal von denen ihrer akademischen Lehrer absetzen. Neue Verständnisse von dem, was Theologie als Wissenschaft sein soll, arbeiten jedoch keineswegs nur die sogenannten dialektischen Theologen Rudolf Bultmann (1884-1976), Karl Barth und Friedrich Gogarten (1887-1967) aus, sondern auch andere, die, wie Paul Tillich (1886-1965), Werner Elert (1885- 1954), Emanuel Hirsch (1888-1972), Rudolf Hermann (1887-1962) und Paul Althaus (1888-1966) nicht zu jener Bewegung gehören. In der Theologie‐ geschichtsschreibung sind sowohl die Deutung als auch die Einordnung 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 97 <?page no="98"?> Autonomi‐ sierung der Theologie dieses Bruchs in die Entwicklungsgeschichte der modernen protestanti‐ schen Theologie umstritten. Eine Deutung folgt dem Selbstverständnis der damaligen Protagonisten. Indem diese Theologen den seit 1800 als Grund‐ lage der theologischen Wissenschaft fungierenden Religionsbegriff zurück‐ weisen und durch Gottes Offenbarung ersetzen, führen sie die Theologie zu ihrer eigentlichen Sache zurück. Gegenstand der Theologie sei nämlich nicht die menschliche Religion, sondern Gott. Dem widerspricht die andere Deu‐ tung dieses Umbruchs. Die von der in den 1880er Jahren geborenen Theo‐ logengeneration propagierte Sache der Theologie, ihre unmittelbare Inan‐ spruchnahme Gottes und seiner Offenbarung, bedeute einen Exodus der Theologie aus dem modernen Wissenschaftsverständnis. Beide Interpreta‐ tionen, die bis in die Gegenwart das Verständnis der Entwicklung der pro‐ testantischen Theologie um 1900 bestimmen, sind wenig hilfreich. Sie wie‐ derholen lediglich die Selbstsicht der Akteure dieses Bruchs und sind deshalb durch eine auf die Theologie als Wissenschaft bezogene modernisierungs‐ theoretische Sicht zu ersetzen. Um 1900 werden die Folgen des sich beschleunigenden Modernisierungs‐ prozesses immer deutlicher bewusst. Es differenziert sich nicht nur die Ge‐ sellschaft immer weiter in autonome Bereiche aus, die ohne eine sie über‐ greifende Einheit nebeneinander stehen, auch das Wissenschaftssystem unterliegt einer zunehmenden Ausdifferenzierung. Dies wiederum hat die Entstehung von Wissenschaften zur Folge, die sich unabhängig von der Theologie mit eigenen Methoden mit Religion befassen. Religionswissen‐ schaft, Religionssoziologie, Religionspsychologie, Ethnologie, Religionsphi‐ losophie etablieren sich als eigenständige akademische Disziplinen, die ihre Religionssicht von der der Theologie sowie der christlichen Religion lösen. Dieser Differenzierungsschub führt zu einer Autonomisierung der Theolo‐ gie, die nun zu einer selbständigen Wissenschaft wird, die eine eigene Sicht auf die christliche Religion ausarbeitet. Autonomisierung der Theologie als Wissenschaft bedeutet aber auch, dass sie selbstreferentiell wird. In ihrer Beschreibung der christlichen Religion stellt sich die von dieser unterschie‐ dene wissenschaftliche Theologie selbst als eine autonome Wissenschaft dar. Beibehalten wird auch in ihren neuen Auffassungen die Unterscheidung von Theologie und Religion, doch gegenüber der vorangegangenen Ent‐ wicklung ändert sich sowohl das Verständnis von Theologie als auch der Religion. Eine Einbeziehung der Religionsgeschichte in die Theologie bei ih‐ rer gleichzeitigen Verwissenschaftlichung zeichnet das Werk von Ernst 98 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="99"?> religionsge‐ schichtli‐ che Schule Troeltsch aus. Es markiert den Übergang zu den neuen Theologien des 20. Jahrhunderts. Beispiele für das neue Verständnis der Theologie als einer autonomen Wissenschaft sind die Konzeptionen Karl Barths und Paul Tillichs. In der Mitte des Jahrhunderts arbeiten die Schüler der Wort-Got‐ tes-Theologen das Theologieverständnis ihrer Lehrer weiter aus. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen sowie der des Wissenschaftssystems kommt es zu signifikanten Umbauten der wissenschaftlichen Theologie. Erst sie machen die weitere Entwicklung der Theologie als Wissenschaft seit den 1960er und 1970er Jahren verständlich, die wiederum den Horizont für die akademische Theologie im frühen 21.-Jahrhundert bildet. 2.6.1 Religionsgeschichte und Verwissenschaftlichung der Theologie (Ernst Troeltsch) Ernst Troeltsch, der seit 1894 Professor für Systematische Theologie in Hei‐ delberg war und 1915 nach Berlin auf einen Lehrstuhl für Religions-, Sozial- und Geschichtsphilosophie wechselte, ist der ‚Dogmatiker der religionsge‐ schichtlichen Schule‘ genannt worden. Er gehört zur zweiten Generation der Schule Albrecht Ritschls, bei dem er in Göttingen studierte. Doch anders als Ritschl ordnet Troeltsch das Christentum in die Religionsgeschichte ein, um dessen Besonderheit zu erfassen, und plädiert vor dem Hintergrund der Entwicklung der Wissenschaften um 1900 für eine Verwissenschaftlichung der Theologie. Um den zeitgenössischen Wissenschaftsstandards zu genü‐ gen, sei diese als religionsgeschichtliche Wissenschaft zu verstehen. Das Christentum ist, wie Troeltsch in seiner 1902 erschienenen Studie Die Ab‐ solutheit des Christentums und die Religionsgeschichte ausführt, ein Bestand‐ teil der Religionsgeschichte. Seine religiöse Eigenart lasse sich wissenschaft‐ lich folglich nur im Horizont der religionsgeschichtlichen Entwicklung beschreiben, nicht aber mit Rekurs auf eine besondere göttliche Offenba‐ rung. Religion ist für Troeltsch eine eigenständige Sphäre in der Kultur, die in der allgemeinen Grundlegungsstruktur des Bewusstseins fußt. Ihre Selb‐ ständigkeit versuchte er zunächst religionspsychologisch zu erfassen, doch seit 1904 verwendet er den Begriff eines religiösen Apriori, um die Geltung der Religion im Bewusstsein zu verankern. Der Gehalt dieses Apriori besteht in einer Identität von göttlichem und menschlichem Geist, die jedem Menschen bereits mitgegeben ist. Im einzelnen Menschen entsteht Religion, 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 99 <?page no="100"?> Offenba‐ rung Verwissen‐ schaftli‐ chung der Theologie indem sich das religiöse Apriori in Form von inneren Erregungen und Gefühlen aktualisiert, die Troeltsch als Ganzheitsstimmung charakterisiert. Von dieser inneren Religion, die prinzipiell nicht zugänglich und nur erlebt werden kann, unterscheidet er äußere symbolische Formen. Sie haben den Status von Deutungen der inneren Ganzheitsstimmung und unterlie‐ gen einem sozio-kulturellen Wandel. Damit bezieht die wissenschaftliche Theologie die Vorstellungen und Bilder der geschichtlichen Religionen auf eine in der Struktur des Bewusstseins angelegte Religion und deutet sie insgesamt als deren Ausdruck. Doch die äußeren symbolischen Formen, in und mit denen sich die Religionen artikulieren, bleiben von der inneren religiösen Erregung unterschieden, ja sie verfehlen diese durchgehend. Religion besteht folglich nicht in Lehren, Dogmen oder Bekenntnissen, sondern in einem inneren Erleben. Auf der Grundlage dieses Religionsbegriffs formt Troeltsch den Offenba‐ rungsbegriff um. Offenbarung bezeichnet die Entstehung der Religion im Menschen. Damit fällt eine prinzipielle Unterscheidung zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen dahin. Allen Religionen liegt Offenbarung im Sinne einer Aktualisierung des religiösen Apriori zu‐ grunde. Wenn sie aber alle geschichtliche Ausprägungen eines nicht zu‐ gänglichen innerlichen Religiösen sind, dann ist die alte Sonderstellung des Christentums, an dem sowohl die altprotestantische Dogmatik als auch die des 19.-Jahrhunderts festgehalten hatte, aufgelöst. Aufgabe der Theologie ist es, das Wesen der christlichen Religion zu be‐ stimmen. Auf eine wissenschaftliche Weise ist das jedoch ausschließlich im Rekurs auf die äußeren symbolischen Formen im Horizont der Religionsge‐ schichte möglich. Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, muss die Theologie auf wissenschaftliche Methoden zurückgreifen, um das Besondere des Christentums im religionsgeschichtlichen Vergleich herausarbeiten zu kön‐ nen. Wissenschaft in einem strengen Sinne sind folglich diejenigen theolo‐ gischen Disziplinen, die wie die historischen Fächer methodisch kontrolliert arbeiten. Die von Troeltsch geforderte Verwissenschaftlichung der Theolo‐ gie betrifft somit die Religions- und Geschichtsphilosophie sowie die bibli‐ schen und kirchengeschichtlichen Fächer, nicht aber die Dogmatik und die Praktische Theologie. Dogmatik setze zwar die historischen Disziplinen voraus, sie selbst sei aber keine Wissenschaft. Als eine Art Bekenntnis ge‐ höre sie als Anleitung zum geregelten Predigen in die Praktische Theologie. 100 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="101"?> Wesen des Christen‐ tums Die Bestimmung des Wesens des Christentums obliegt der Religions- und Geschichtsphilosophie sowie den historischen Disziplinen der Theologie. Sie erheben die Besonderheit und Geltung der christlichen Religion durch ihre Einordnung in die religionsgeschichtliche Entwicklung und ihren Ver‐ gleich mit anderen Religionen. Einem solchen Vergleich, der nur von einem konkreten, in die Religionsgeschichte eingebundenen Standpunkt aus mög‐ lich ist, zeigt sich das Christentum als Zielpunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklung, wobei diese Wertung ihrerseits durch eine Stellungnahme des Religionshistorikers bedingt ist. Er konstruiert die christliche Religion als universale innerliche Persönlichkeits- und Erlösungsreligion. Auf diese his‐ toriographische und geschichtsphilosophische Begründung des Wesens des Christentums baut die Dogmatik auf. Ihr obliegt es, dieses zu entfalten. Auch der Dogmatik ist die innerliche Religion nicht zugänglich, so dass sie auf die symbolischen Formen angewiesen ist, in denen die christliche Religion sich in der Geschichte darstellt. Doch diese Formen unterliegen einem perma‐ nenten geschichtlichen Wandel, wodurch die Dogmatik das Wesen des Christentums nur unter Einbeziehung seiner Gesamtgeschichte erfassen kann. So besteht der identische Kern der christlichen Überlieferung in dem Bezug auf Jesus von Nazareth. Deren individuelle Aneignung, in der das Christentum als Religion jedes Mal erst entsteht, ist jedoch zugleich seine Neugestaltung in sich wandelnden sozio-kulturellen Kontexten. Ein gleich‐ sam fixierbares Wesen der christlichen Religion gibt es nicht. Das bedeutet für die Dogmatik, dass ihre Wesensbestimmung stets Wesensgestaltung ist. Troeltschs Verwissenschaftlichung der Theologie zielt auf ihre Histori‐ sierung. Als Wissenschaft, die ihrer Darstellung der christlichen Religion einen allgemeinen Religionsbegriff zugrunde legt, auf den sie die religiösen Vorstellungsbilder als dessen Ausdruck bezieht, weiß sie um den Wandel dieser religiösen Ausdrucksformen, die sie beschreibt. Dieses Wissen ist jedoch der Ebene der wissenschaftlichen Theologie vorbehalten. Den Reli‐ gion Praktizierenden ist der geschichtliche Wandel der christlichen Religion verborgen. Sie beziehen sich auf für sie unwandelbare und ewige Inhalte ihrer Religion. L IT E R ATU R : Mark D. Chapman: Ernst Troeltsch and Liberal Theology. Religion and Cultural Synthesis in Wilhelmine Germany, Oxford 2001. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20.-Jahrhundert, Tübingen 1997, 1-185. 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 101 <?page no="102"?> neue For‐ men von Theologie Karl Barth Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd.-18), hrsg. v. Gangolf Hübinger, Berlin/ New York 2002, 437-455. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/ 1912) (= Kritische Gesamtausgabe, Bd.-5), hrsg. v. Trutz Rendtorff, Ber‐ lin/ New York 1998. Folkart Wittekind: Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüs‐ seltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, 269-276. Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013, 135-285. 2.6.2 Theologie als Neubegründung der christlichen Religion (Karl Barth und Paul Tillich) Um 1900 entstehen neue Formen von Theologie, mit denen sich eine radikale Kritik an Konzeptionen einer wissenschaftlichen Theologie verbindet, wie sie im 19.-Jahrhundert bis hin zu Ernst Troeltsch ausgearbeitet wurden. Sie scheiden den Religionsbegriff als Grundlage der Theologie aus und ersetzen ihn durch die Offenbarung Gottes. Modernisierungstheoretisch lässt sich dieser Bruch als auf die Theologie selbst bezogene Modernisierung verste‐ hen. Sie wird als eine autonome Wissenschaft etabliert. Es ist jedoch falsch, diese Weiterentwicklungen der theologischen Wissenschaft ausschließlich mit Karl Barth oder der Dialektischen Theologie zu identifizieren. Es handelt sich vielmehr um Entwicklungen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein‐ setzen und von der Theologengeneration getragen wurde, die in den 1880er Jahren geboren wurde. Barths neue Theologie ist lediglich eine besondere Ausformung dieser Neubestimmungen neben anderen, wie der zeitgleich entwickelten von Paul Tillich. An der Unterscheidung von Theologie und Religion hält auch Karl Barth fest, dessen Anfänge im theologischen Marburger Neukantianismus sowie den Selbstverständigungsdebatten der Ritschl-Schule liegen. Im Anschluss an seinen Lehrer Wilhelm Herrmann (1846-1922) arbeitete der junge Barth bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine religionsphilosophische Grundlegung der Theologie aus, die eine Verankerung der Religion in der allgemeinen Vermögensstruktur des Bewusstseins ablehnt. Religion ist kein Bestandteil des neukantianisch verstandenen Systems der Kultur. Sie steht für die indi‐ viduelle Realisierung der allgemeinen transzendentalen Funktionen des Be‐ 102 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="103"?> frühe dia‐ lektische Theologie wusstseins und richtet diese auf die (kritische) Idee der Wahrheit, also auf Gott, aus. Konstitutiv für die Kultur ist Religion gerade dadurch, dass sie kein Bestandteil von ihr ist. Barth geht es um eine individualitätsbezogene Neubestimmung der Religion, die von Anfang an selbstbezüglich verstanden ist. Wissenschaft ist Theologie, weil sie die inhaltlichen Bestandteile der christlichen Religion als reflexive Darstellung ihres individuellen und in die Geschichte eingebundenen Vollzugs beschreibt, die zugleich mit ihr erst entstehen. Diese frühe Konzeption einer wissenschaftlichen Theologie hat Barth während des Ersten Weltkriegs umgeformt, dabei jedoch die erkenntniskri‐ tische Fassung seines Religionsbegriffs beibehalten, aber jede Anbindung der Idee Gottes an ihre menschliche Realisierung aufgelöst. Religion, die seit 1916 als Offenbarung Gottes und Glaube neu gefasst wird, ist kein Bestand‐ teil der allgemeinen Vermögenstruktur des Bewusstseins, sondern sie exis‐ tiert allein als ein unableitbarer Vollzug von Erschlossenheit im Selbstver‐ hältnis des Bewusstseins. Zu ihr gehört das Wissen, an ihren Vollzug gebunden zu sein. Gottes radikale und bleibende Transzendenz sowie seine Offenbarung, die Barth nun beansprucht und der Religion im Sinne einer anthropologischen Anlage entgegensetzt, haben die Funktion, die reflexive Struktur des religiösen Akts zu beschreiben. Die wahre Religion des Glau‐ bens entsteht zusammen mit Gott, auf den sich der Glaube als seinen Gehalt bezieht und in dem er sich selbst darstellt, im Vollzug des religiösen Akts. Gott ist somit ausschließlich in dem als Offenbarung neugefassten Akt des Glaubens gegeben. Dieser selbstbezügliche Akt des Glaubensvollzugs hat seine Begründung, Wahrheit und Geltung in sich selbst. Barth benutzt die Gehalte der christlichen Religion zur Strukturierung des Glaubensakts, der in der vollzugsgebundenen Durchsichtigkeit des ethischen Selbstverhältnisses des Bewusstseins besteht. Gott ist das allge‐ meine Gute, dessen Realisierung von allen innerweltlichen menschlichen Zwecksetzungen abgelöst wird. Er verwirklicht das Gute selbst in seiner Offenbarung in Jesus Christus. In Christus ist das Reich Gottes als escha‐ tologisches Ziel der Welt in der Geschichte Wirklichkeit geworden. Die Realisierung des Guten ist ein Implikat von diesem selbst. Für den Einzelnen wirklich wird Gottes Offenbarung allein im Glauben, der in einer an ihren Vollzug gebundenen reflexiven Erkenntnis besteht. Diese beinhaltet auf der einen Seite die Erkenntnis, dass Gott sein Reich selbst in Jesus Christus verwirklicht und - dem korrespondierend - auf der anderen, dass der Mensch das allgemeine Gute weder aneignen noch realisieren kann. Sein 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 103 <?page no="104"?> Theologie als auto‐ nome Wis‐ senschaft Paul Tillich ethisches Handeln bleibt in dieser Welt stets durch individuelle Interessen gebrochen. Glaube ist damit als ein durchsichtiges ethisches Selbstverhältnis verstanden, dessen reflexive Struktur die auf Tod und Auferstehung Jesu Christi fokussierte Christologie beschreibt und die Formel ‚Gott ist Gott‘ zusammenfasst. In seinen Schriften während und nach dem Ersten Weltkrieg, der neuen Bearbeitung des Römerbriefs von 1922, dem 1927 veröffentlichten ersten Band der Christlichen Dogmatik sowie der von 1932 bis zu seinem Tod er‐ scheinenden Kirchlichen Dogmatik hat Barth seine Neubestimmung der Theologie sukzessive weiter ausgeführt. Theologie ist eine autonome Wis‐ senschaft. Sie arbeitet eine eigene Sicht der christlichen Religion aus. Ein in der allgemeinen Bewusstseinsstruktur verankerter Religionsbegriff wird zurückgewiesen. Glaube, wie die wahre Religion nun bezeichnet wird, exis‐ tiert allein als ein vollzugsgebundenes Geschehen von ethischer Erschlos‐ senheit im Selbstverhältnis des Bewusstseins. In diesem Vollzug entstehen die Inhalte des Glaubens mit diesem zusammen, auf den sie verweisen und den sie strukturierend darstellen. Wort Gottes ist die religiöse Kommunika‐ tion allein in dem selbstbezüglichen Geschehen des Glaubens. Außerhalb dieses Akts ist und bleibt jede Kommunikation, auch die der Bibel, mensch‐ lich. Eine eigene Wissenschaft ist die Systematische Theologie, indem sie die reflexive Struktur des Glaubensakts aus dessen eigener Sicht beschreibt. Sie konstruiert das innere Funktionieren der christlichen Religion, ihr Wissen, im Gebrauch von Inhalten Religion zu sein. Dieses reflexive Wissen hat seinen Ort nicht mehr auf der Ebene der Theologie beziehungsweise der Geschichtsphilosophie, wie noch bei Troeltsch, sondern es gehört zur Religion selbst. Systematische Theologie, von Barth als Glaubensakt bezeichnet, konstruiert den Glauben als durchsichtiges Selbstverhältnis, dessen reflexive Struktur das Wort Gottes, also die Offenbarung Gottes in Jesus Christus in und für ihn darstellt. Doch wie andere Theologen seiner Zeit neigt Barth dazu, den Konstruktionscharakter seiner Theologie in der von ihm beanspruchten Wirklichkeit Gottes zum Verschwinden zu bringen. Paul Tillichs zeitgleich ausgearbeitete Theologie scheint auf den ersten Blick diametral von der Karl Barths unterschieden zu sein. Doch auch er konzipierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine neue Form von Systema‐ tischer Theologie, die sich über eine Kritik an einem bewusstseinstheore‐ tisch verankerten Religionsbegriff aufbaut. Tillich erhielt seine akademische Ausbildung bei den modern-positiven Theologen Adolf Schlatter (1852- 104 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="105"?> universale Offenba‐ rung Religion 1938) und Wilhelm Lütgert (1867-1938) in Tübingen und vor allem in Halle an der Saale. Seine Rezeption des Deutschen Idealismus dient einer besseren Begründung der Theologie seiner Lehrer. Schon der junge Tillich lehnt ge‐ gen Troeltsch eine Grundlegung der Religion in einem religiösen Apriori ab. Grundlage der Religion ist Gott und nicht das menschliche Bewusstsein. Doch anders als in der Ritschl-Schule und bei Barth offenbart sich Gott nicht ausschließlich in Jesus Christus, sondern auch in Natur und Kultur. Mit sei‐ nen modern-positiven Lehrern geht Tillich von einer universalen Gottesof‐ fenbarung in der Schöpfung aus und ordnet die Heilsoffenbarung in Christus in diesen Rahmen ein. Hieraus ergeben sich sowohl die Berührungspunkte mit der Theologie Barths als auch die Unterschiede. In seinen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem dem System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden von 1923 und der zwei Jahre später publizierten Religionsphilosophie hat Tillich sein Neuverständ‐ nis von Theologie weitergeführt. Sie ist auf Religion bezogen, die jedoch weder ein Bestandteil der Vermögenstruktur des Bewusstseins noch eine besondere Funktion ist. Religion ist ein Reflexionsakt im Selbstverhältnis des Bewusstseins, in dessen Vollzug es sich in seiner Ganzheit und Einheit erschlossen ist, oder, wie Tillichs allgemeine Bestimmung lautet, Richtung auf das Unbedingte. Dem Bewusstsein liegt eine unendliche Reflexivität zu‐ grunde, die Grundlage und Voraussetzung aller seiner konkreten Akte und selbst prinzipiell nicht darstellbar ist. Die Erschlossenheit dieser Vorausset‐ zung, Tillich nennt sie das Unbedingte, im individuellen Bewusstsein ist Re‐ ligion. Doch sie, die Offenbarung Gottes, ist kein besonderer Akt. Im Be‐ wusstsein kann sie sich nur als Negation der konkreten, von ihm gesetzten Formen realisieren. Mit diesen vom Bewusstsein produzierten und wieder negierten Formen bezeichnet es seine Erschlossenheit. Das religiöse Be‐ wusstsein benutzt also kulturelle Formen, meint jedoch mit ihnen nicht diese als solche, sondern durch sie hindurch das erschlossene Unbedingte. Reli‐ gion besteht damit im Übergang von der kulturellen Verwendung von For‐ men zum Meinen des Unbedingten, welches der Formenproduktion des Be‐ wusstseins stets schon als Voraussetzung zugrunde liegt. Tillich löst Religion als eine besondere Funktion auf und versteht sie als Erschlossenheit der in der Grundlegungsstruktur des Bewusstseins bereits angelegten Unbedingtheitsbeziehung im individuellen Bewusstsein. Diese kann sich, da sie nicht inhaltlich bestimmt ist, an allen kulturellen Formen ereignen. Religion ist folglich allein durch ihre Intention bestimmt, Richtung auf das Unbedingte zu sein. Ihre inhaltlichen Aussagen entstehen mit ihr 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 105 <?page no="106"?> Systemati‐ sche Theo‐ logie zusammen. Gott ist nur im Vollzug des Glaubens gegeben. Er bezeichnet den Akt, der sich vermittels der Bildung des Gottesbildes auf sich selbst bezieht und seine eigene reflexive Struktur mit diesem symbolisiert. Tillichs Formel eines ‚Gott über Gott‘, die er in seinen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg prägte, hat genau diese Funktion, den religiösen Reflexionsakt, in dem die wahre Religion besteht, darzustellen und zu strukturieren. Systematische Theologie ist auf Religion bezogen, deren allgemeine Struktur sie selbst konstruiert. Anders als Troeltsch hält Tillich an ihrem Wissenschaftscharakter fest. Ihr Gegenstand ist weder Gott noch ein religiö‐ ses Subjekt, sondern das Geschehen, in dem beide zugleich entstehen. Doch diese allgemeine Struktur der Religion ist in die Geschichte eingebunden und kann sich nur in ihr erschließen. Wissenschaft ist Systematische Theologie, indem sie die reflexive Durchsichtigkeit des Selbstverhältnisses des Be‐ wusstseins in seiner geschichtlichen Einbindung, also den geschichtlichen Standpunkt, beschreibt. Durch ihre Beschreibung der Religion konstituiert sie sich als eine autonome Wissenschaft. Die von ihr konstruierte Religion ist keine kulturelle Form neben anderen, sondern die Erschlossenheit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins, welche die Grundlage des gesamten Kulturprozesses ist. Mit der Religion thematisiert die Systematische Theo‐ logie Voraussetzung und Einheit der Kultur. Aber ebenso wie die eigentliche Religion keine besondere Form, sondern deren beständige Aufhebung ist, so ist auch die wissenschaftliche Theologie keine besondere Wissenschaft, sondern eine universale. L IT E R ATU R : Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung 1922), Zürich 17 2005. Rudolf Bultmann: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd.-1, Tübingen 8 1980, 1-25. Christian Danz: Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/ New York 2000. Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20.-Jahrhundert, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1992, 15-75. Friedrich Gogarten: Die religiöse Entscheidung, Jena 1924. Georg Pfleiderer: Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20.-Jahrhundert, Tübingen 2000. 106 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="107"?> Schüler Karl Barths Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20.-Jahrhundert, Tübingen 1997, 186-348. Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/ Werner Schüßler/ Erdmann Sturm, Berlin/ New York 2008, 25-41. Paul Tillich: Das religiöse Symbol, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/ Werner Schüßler/ Erdmann Sturm, Berlin/ New York 2008, 183-198. Folkart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909-1916), Tübingen 2000, 146-252. 2.6.3 Theologie als Universalwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20.-Jahrhunderts An den neuen, selbstbezüglichen Theologiebegriffen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält die weitere Entwicklung der protestantischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg fest. Theologie ist eine autonome Wissenschaft. Sie arbeitet eine eigene theologische Sicht der christlichen Religion aus, die anderen Wissenschaften grundsätzlich nicht zugänglich ist. Doch die politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwick‐ lungen nach 1945 führen zu Änderungen im Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft. Das zeigt sich bei den Schülern der ersten Generation der dialektischen beziehungsweise Wort-Gottes-Theologen. Hermann Diem (1900-1975), Heinrich Vogel (1902-1989) und Otto Weber (1902-1966) legten in den 1950er Jahren dogmatische Gesamtentwürfe vor, in denen sie einer‐ seits Karl Barth folgten, andererseits jedoch Verschiebungen und Neube‐ stimmungen gegenüber dessen Konzeption vornehmen. Sie gehen von der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus aus und weisen der Theologie die Aufgabe zu, dieser nach-zu-denken. Gottes Offenbarung, die nur im Glauben zugänglich ist, ist der Theologie als Voraussetzung vorgegeben und bezeichnet ein selbstbezügliches Geschehen, in dem theologischer Gehalt und Glaubensakt zugleich entspringen. Aber anders als bei Barth wird die Offenbarung nun nicht nur zur Beschreibung der Struktur und des Ereigni‐ scharakters des Glaubensakts benutzt, sondern sie wird als dem Glauben vorgeordnete und als von ihm unabhängige Voraussetzung postuliert. Der Glaube gründet in der Selbstoffenbarung Gottes, die als Selbstverkündigung Jesu Christi (Hermann Diem) oder eschatologisches Heilsereignis (Otto We‐ 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 107 <?page no="108"?> Autonomie des Glau‐ bens Schüler Ru‐ dolf Bult‐ manns ber) verstanden wird. Doch diese Voraussetzung ist eine theologische und nur der dem Glauben nachdenkenden Theologie zugänglich. Bei der Offen‐ barung handele es sich um eine Wirklichkeit, die von jeder religiösen Deu‐ tung unterschieden ist und sich auch nicht begründen lasse. Nichttheologi‐ schen Wissenschaften, etwa der Geschichtsforschung, wird ihre Zuständigkeit für den auf der Gottesoffenbarung beruhenden christlichen Glauben abgesprochen. Sie sehen in den biblischen Texten bestenfalls Reli‐ gion, aber nicht deren eigentlichen Gehalt, Offenbarung Gottes zu sein. Von dieser Theologengeneration wird die Autonomie des Glaubens sowie der ihn auslegenden wissenschaftlichen Systematischen Theologie ver‐ schärft. Als eine eigenständige Wissenschaft konstituiert sich Theologie, indem sie den in der Gottesoffenbarung in Jesus Christus begründeten Glau‐ ben beschreibt. Zugleich halten diese Theologen an der Allgemeingültigkeit des Glaubens fest. Er ist die wahre Konstitution des Menschen. Mit ihm ist die eigentliche Sicht der Welt, der Wirklichkeit und ihres Sinnes verbunden. Anderen Wissenschaften bleibt diese der Offenbarung Gottes entnommene wahre Sicht der Wirklichkeit im Ganzen entzogen. Parallel zu den Dogmatikentwürfen im Barthianismus, in denen die Got‐ tesoffenbarung in Jesus Christus als eine allein im Glauben gegebene theo‐ logische Voraussetzung dieses Glaubens konstruiert wird, wenden sich die Schüler Rudolf Bultmanns nach dem Zweiten Weltkrieg wieder dem histo‐ rischen Jesus zu. In Bultmanns selbstbezüglichem Glaubensverständnis, demzufolge der Glaube als Akt zugleich mit seinem Gehalt entsteht, hat der von der Geschichtswissenschaft rekonstruierte Nazarener ebenso wie bei Barth und Tillich keine theologische Funktion. Glaube ist ein Vollzug, der unableitbar aus geschichtlichen Voraussetzungen oder biblischen Inhalten mit dem Kerygma zugleich entspringt. Bultmanns Schüler Ernst Fuchs (1903-1983) und Ernst Käsemann (1906-1998) machen hingegen in den 1950er Jahren geltend, eine Rückfrage nach dem historischen Jesus sei theo‐ logisch notwendig. Andernfalls werde das Kerygma, aus dem nach Bult‐ mann der Glaube entstehe, zu einem Mythos. Doch der historischen Rück‐ frage der Bultmann-Schüler nach dem Nazarener geht es nicht um eine historische Begründung des Glaubens durch geschichtliche Fakten. An dem selbstbezüglichen Glaubensverständnis ihres Lehrers halten sie fest. Ähnlich wie die Schüler Barths sind sie an einer theologischen Sicht des Glaubens interessiert, die im Medium der historischen Frage verhandelt wird. Der Glaube gründet nicht in sich selbst, sondern in einem ihm vorgelagerten geschichtlichen Ereignis, welches nur ihm zugänglich ist. Seine geschicht‐ 108 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="109"?> Wolfhart Pannen‐ berg Wirklichkeit Gottes liche Begründung liegt in Jesus als einem Sprachereignis (Ernst Fuchs). An ihm muss das Kerygma einen Anhalt haben. Sowohl die Schüler Barths als auch die Bultmanns radikalisieren nach dem Zweiten Weltkrieg die Autonomie der Theologie und arbeiten sie als eine auf den Glauben bezogene Wissenschaft aus, die nicht mehr mit anderen Wissenschaften zu vermitteln ist. Von dieser Konstellation geht die weitere Entwicklung der protestantischen Theologie in den 1960er Jahren aus. Gegen die Isolierung der akademischen Theologie in den Entwürfen von Diem, Vogel und Weber wurde zunächst in der Praktischen Theologie und sodann in der Systematischen Theologie wieder auf den Religionsbe‐ griff zurückgegriffen. Um die wissenschaftliche Theologie wieder mit den zeitgenössischen akademischen Diskursen zu verbinden, klagte man die Notwendigkeit ihrer religionstheoretischen Fundierung ein, die von der Dia‐ lektischen Theologie kategorisch ausgeschlossen wurde. Rezipiert wurden funktionale Religionsbegriffe aus den zeitgenössischen religionsphilosophi‐ schen und religionssoziologischen Debatten. Doch auch die neuen Entwürfe, die wieder den Religionsbegriff aufnahmen, hielten an dem Allgemeinheits‐ anspruch der Theologie fest. Diese habe zudem die Aufgabe, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland den Glauben zu begründen. Exemplarisch für das neue Verständnis der Theologie als Wissenschaft sind die Entwürfe von Wolfhart Pannenberg (1928-2014) und Eberhard Jüngel (1934-2021). Pannenberg, der sowohl bei den Barth-Schülern Heinrich Vogel und Edmund Schlink (1903-1984) in Berlin und Heidelberg als auch bei Barth selbst in Basel studierte, versteht Theologie als Universalwissenschaft. Da ihr Gegenstand Gott, die alles bestimmende Wirklichkeit, sei, könne sie keine besondere Wissenschaft sein. Doch angesichts der Religionskritik der Moderne und der Strittigkeit Gottes müsse die Systematische Theologie Religion und Gottesglauben begründen. Hierzu reiche die bloße Behauptung Gottes und seiner Offenbarung, wie es die Wort-Gottes-Theologie prakti‐ ziere, nicht aus. Theologie ist folglich eine Wissenschaft, der es obliegt, eine argumentative Begründung der christlichen Religion auszuarbeiten. Eine erste Ausführung hatte Pannenberg 1961 zusammen mit Kollegen in der Programmschrift Offenbarung als Geschichte vorgelegt und die Bestandteile dieses wissenschaftsbezogenen Neuverständnisses der Theologie in den folgenden Jahren sukzessive weitergeführt. Gegenstand der Theologie ist die Wirklichkeit Gottes, die dem Menschen jedoch nur als Deutung und Gottesgedanke zugänglich ist. Theologie ist an 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 109 <?page no="110"?> Gottesof‐ fenbarung in Jesus Christus Gottes Offenbarung gewiesen. Diese geschieht nicht direkt im Wort, wie in der Wort-Gottes-Theologie, sondern indirekt in der Geschichte. Die Religi‐ onsgeschichte ist die Selbstbekundung Gottes in den religiösen Erfahrungen der Menschheit. Pannenberg verknüpft die Selbstoffenbarung Gottes mit der Anthropologie, um ihr eine argumentativ ausweisbare Basis zu geben. Jeder Mensch ist gleichsam von Natur aus auf Gott bezogen. Menschsein heiße nämlich, weltoffen zu sein, in jedem einzelnen Akt unthematisch auf einen Totalitätshorizont auszugreifen, der die Bedingung der Möglichkeit der Er‐ kenntnis von etwas Besonderem ist. Religion gehört damit zur conditio hu‐ mana. In der religiösen Erfahrung wird dieses unthematische Gottesver‐ hältnis, welches zum Menschsein als solchem gehört, selbst zum Thema. Sie ist eine Selbstbekundung Gottes, die es für den Menschen allerdings nur als Deutung des Ganzen der Wirklichkeit gibt. Auf dieser anthropologischen Grundlage versteht Pannenberg die Religionsgeschichte als sukzessiven Prozess der Selbstauslegung Gottes. In ihr wird das Ganze der Wirklichkeit zunehmend selbst als geschichtlich wandelbar bewusst. Zielpunkt der reli‐ gionsgeschichtlichen Entwicklung ist die Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus. In ihm ist das eschatologische Ende der Geschichte proleptisch vorweggenommen. Doch genau das ist keine religiöse Deutung, sondern der Gehalt, der Geschichte und Geschick Jesu Christi selbst bereits zukommt. Um den Gehalt der Gottesoffenbarung in Jesus Christus zu erschließen, muss die Theologie hinter die biblischen Zeugnisse von ihm, also die reli‐ giösen Deutungen der Gemeinde, zurückgehen. Pannenberg nimmt die neue historische Rückfrage nach dem historischen Jesus auf, gibt ihr jedoch eine andere Wendung als in der Bultmann-Schule. Der Geschichtswissenschaft obliege es, den Christus-Glauben zu begründen. Jesu Auferweckung von den Toten kommt hierbei grundlegende Bedeutung zu. Sie bestätigt zunächst die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu durch Gott. Sodann ist die Auferweckung des Nazareners die Vorwegnahme des Endes der Geschichte, und schließlich ist sie ein historisches Ereignis, welches der Geschichtswissenschaft zu‐ gänglich ist. Aus den drei Aspekten zusammen ergibt sich der der Geschichte Jesu eigene Bedeutungsgehalt, der keine religiöse Deutung ist, sondern die Selbstdeutung Gottes, welche Einheit und Ganzheit der Universalgeschichte begründet. Systematische Theologie hat die Aufgabe, die christliche Religion in einem ihr vorgegebenen und von ihr unabhängigen objektiven Grund zu fundieren. Hierzu muss sie von der Wirklichkeit Gottes und seiner Selbst‐ offenbarung ausgehen. Diese ist strikt selbstbezüglich, da Gott andernfalls 110 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="111"?> Eberhard Jüngel Spracher‐ eignis vom Menschen abhängig wäre. Doch Theologie kann nur Aussagen von Gott machen, die von der in Anspruch genommenen göttlichen Wirklichkeit unterschieden bleiben. Alle ihre Urteile bleiben Hypothesen, die sowohl wahr als auch falsch sein können. Indem Theologie ihre Aussagen als Hypothesen versteht und es ihr obliegt, diese argumentativ auszuweisen, prozediert sie wie jede andere Wissenschaft auch. In dieser Welt bleiben theologische Urteile Hypothesen, die nur durch Gott selbst im Eschaton verifiziert werden können. Da Systematische Theologie jedoch Gott zum Gegenstand hat, ist sie im Unterschied zu anderen Wissenschaften keine besondere, sondern eine universale Wissenschaft. Mit Gott thematisiert sie die wahre Struktur der Wirklichkeit, die allen anderen Wissenschaften verborgen bleibt. Von der christlichen Religion des Glaubens unterschiedene Wissenschaft ist Theologie auch für Eberhard Jüngel. Im Unterschied zu Pannenberg hat sie allerdings die Aufgabe, dem ihr vorangehenden Glauben nach-zu-den‐ ken. Gleichwohl hält auch Jüngel an dem Allgemeinheitsanspruch der Theo‐ logie ebenso fest wie an einer theologischen Begründung des Glaubens in der ihm vorgängigen Wirklichkeit Gottes. Er folgt den Konzeptionen von Barth und Bultmann, die er in einer hermeneutischen Theologie zusam‐ menführt, wobei Jüngel die Deutung von deren Theologien aufnimmt, die er durch seine beiden Berliner Lehrer Ernst Fuchs und Heinrich Vogel ver‐ mittelt bekommen hat. Hieraus ergibt sich der spekulative Charakter seiner offenbarungstheologischen Grundlegung des Glaubens, die vergleichbare Strukturen aufweist wie die von Pannenbergs Konzept einer theologischen Universalwissenschaft. Theologie ist eine auf den Glauben bezogene Wissenschaft. Er besteht im Ereignis des Wortes Gottes beziehungsweise, wie Jüngel im Anschluss an Ernst Fuchs formuliert, im Sprachereignis. Es ist von allen menschlichen religiösen Deutungen unterschieden, da es allein im Glauben gegeben ist, der sich der Offenbarung Gottes in Jesus Christus verdankt. Das Spracher‐ eignis bezeichnet die Gottesoffenbarung, das Ereignis des Wortes Gottes. Es ist strikt selbstbezüglich, da es sonst vom Menschen abhängig sein würde. In seiner Offenbarung in Christus identifiziert sich Gott selbst, indem er sein Sein wiederholt. Grund der Offenbarung ist das selbstbezügliche trinitari‐ sche Sein Gottes. Gott ist ein in sich relational strukturiertes Sein, die Einheit von Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit, und damit ein durchsichtiges Sprachgeschehen, welches allem Verstehen vorangeht und von diesem auf‐ grund seiner Selbstbezüglichkeit unabhängig ist. Jüngel benutzt die Trini‐ 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 111 <?page no="112"?> Gottesof‐ fenbarung in Jesus Christus tätslehre, um Gottes Verhältnis zur Welt in diesem grundzulegen und zu strukturieren. Wie Gott sich selbst durch das Wort erschlossen ist, so ist er es auch in seiner Offenbarung in der Welt, in der er sein relationales trini‐ tarisches Sein iteriert. Für die Christologie bedeutet dies, dass sie die Struktur des Sprachereignisses des Glaubens expliziert, in die der Mensch aufgenom‐ men wird und so zu sich selbst kommt. Auch für Jüngel ist die Gottesoffenbarung in Jesus Christus die Voraus‐ setzung des Glaubens, die ihn begründet. Indem die Theologie dem Sprach‐ ereignis des Glaubens nach-denkt, es also nicht konstruiert, arbeitet sie die‐ jenige Voraussetzung aus, die den Glauben Glauben sein lässt, nämlich Gottes relationales Sein. Es ereignet sich unabhängig vom Glauben und ist ihm vorgängig. Zugänglich ist das Sprachereignis, in dem Gott zur Welt kommt, indes nur dem Glauben und der auf ihn bezogenen Theologie. An‐ deren Wissenschaften und Welteinstellungen ist die wahre und eigentliche Struktur der Wirklichkeit grundsätzlich entzogen. L IT E R ATU R : Hermann Diem: Theologie als kirchliche Wissenschaft. Handreichung zur Ein‐ übung ihrer Probleme, München 1951. Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20.-Jahrhundert, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1992. Ernst Fuchs: Das Sprachereignis in der Verkündigung Jesu, der Theologie des Paulus und im Ostergeschehen, in: ders.: Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation (= Gesammelte Aufsätze, Bd.-1), Tübingen 2 1965, 281-305. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992. Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus. in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd.-1, Göttingen 4 1965, 187-214. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, 3 Bde., Göttingen 1988-1993. Wolfhart Pannenberg (Hrsg.): Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961. Heinrich Vogel: Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, 2 Teile, Stuttgart 1982. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, 2 Bde., Berlin (Ost) 1977. 112 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="113"?> Ingolf U. Dalferth 2.6.4 Die gegenwärtige Lage der protestantischen Theologie Von der Debattenlage über Theologie als Wissenschaften seit den 1960er und 1970er Jahren unterscheidet sich die seit der Jahrtausendwende grund‐ legend. Es stehen die unterschiedlichsten Positionen nebeneinander: auf der einen Seite Fortsetzungen der Wort-Gottes-Theologie, auf der anderen Konzeptionen, die vom Religionsbegriff ausgehen, und daneben cum grano salis metaphysische Konzeptionen. Flankiert werden diese Entwürfe durch gendergerechte, feministische, ökologische, postkoloniale etc. Theologien, deren Anfänge bis in die 1970er Jahre zurückgehen, die den Rationalismus der überlieferten akademischen Theologie kritisieren und neue Formen von Ganzheitlichkeit propagieren. Durch die zunehmende Pluralisierung der theologischen Diskurse, die zum großen Teil nebeneinanderherlaufen, pluralisiert sich sowohl das Verständnis dessen, was Theologie ist als auch, womit sie sich beschäftigt. Eine einheitliche Themenstellung liegt den diversen Theologien nicht mehr zugrunde, so dass die gegenwärtigen theologischen Diskurse selbst ein Bild der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft sowie des Wissenschaftssystems sind. Signifikant für die Weiterführung der Wort-Gottes-Theologie ist die Kon‐ zeption von Ingolf U. Dalferth (geb. 1948). Er knüpft an Jüngels hermeneu‐ tische Theologie an, erweitert jedoch dessen engen, auf die Sprache bezo‐ genen Ansatz durch semiotische und phänomenologische Aspekte. Theologie ist dadurch eine besondere Wissenschaft, dass sie auf den Glauben bezogen ist, der von der menschlichen Religion unterschieden ist. Ihr Ge‐ genstand ist ein radikaler Standpunktwechsel, der Übergang vom Nicht‐ glauben zum Glauben, der sich ebenso wie bei Jüngel der ihm vorangehen‐ den und von ihm unabhängigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus verdankt. Diese besteht in einem selbstbezüglichen Verstehensereignis, wel‐ ches die Grundlage und Voraussetzung allen Verstehens ist. Gegeben ist dieses Verstehensereignis allein im Glauben, in der Aufnahme des Menschen in dieses Ereignis. Außerhalb der diesen Glauben auslegenden Theologie ist die Struktur dieses radikalen hermeneutischen Verstehensereignisses nicht zugänglich. Gegenüber offenbarungstheologischen Ansätzen setzen andere Entwürfe beim Religionsbegriff als Grundlage einer wissenschaftlichen Theologie an. Wissenschaft könne Theologie unter den Erkenntnisbedingungen der Mo‐ derne nur sein, wenn sie nicht von Offenbarungsansprüchen ausgehe, son‐ 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 113 <?page no="114"?> Ulrich Barth Eilert Herms Systemati‐ sche Theo‐ logie dern vom lebensweltlichen Phänomen der Religion. Allein diese ist einer Wissenschaft zugänglich. Seit den 1990 Jahren hat Ulrich Barth (geb. 1945) eine am Leitfaden von Sinn entwickelte deutungstheoretische Fassung des Religionsbegriffs vorgelegt. Religion ist Sinndeutung des Unbedingten aus der Perspektive des Bedingten. Sie bildet ein grundlegendes humanes Phä‐ nomen, da menschliches Leben durchgehend an Sinn gebunden ist. Auf die‐ ser Grundlage lassen sich die überlieferten Gehalte der christlichen Religion als symbolische Deutungsschemata rekonstruieren, mit denen sich Men‐ schen über sich selbst verständigen. Wieder ein anderes Verständnis von wissenschaftlicher Theologie liegt dort vor, wo sie als eine Art universale Konstitutionswissenschaft verstan‐ den wird. Metaphysisch sind diese Ansätze insofern, als sie von einer tran‐ szendentalen Bewusstseinsstruktur ausgehen, diese jedoch in einer letztbe‐ gründenden Ontologie verankern. In diesem Sinne hat Eilert Herms das Programm einer Erfahrungstheologie ausgearbeitet. Theologie ist hier als Wissenschaft vom Glauben verstanden, die dessen inhaltliche Bestimmun‐ gen als Darstellung seiner eigenen Konstitution versteht. Der Glaube hat eine passiv konstituierte Gewissheitserfahrung zur Grundlage und Voraus‐ setzung, in der sich der Person in ihrem Selbst- und Weltverhältnis ihr Ur‐ sprung und Grund erschließt. Diese transzendentale und allgemeine Struk‐ tur liegt allen Religionen und Weltanschauungen zugrunde, so dass das Christentum lediglich eine ihrer geschichtlichen Formen ist. Doch im Un‐ terschied zu anderen Religionen ist die Erschlossenheit des Ursprungs der Person in der christlichen Religion reflexiv. Im christlichen Glauben sind nicht nur der Ursprung des Selbst- und Weltverhältnisses der Person er‐ schlossen, sondern zugleich auch die Bedingungen seines Zustandekom‐ mens. Theologie ist damit eine auf den christlichen Glauben bezogene Wis‐ senschaft, doch das, was sie mit dem Glauben thematisiert, ist ein allgemeingültiges Konstitutionsgeschehen. Es gilt für jede Person. Die in diesem Buch ausgeführte Systematische Theologie versteht sich als Wissenschaft von der christlichen Religion. Sie nimmt die dargestellte Ent‐ wicklung der protestantischen Theologie seit der Aufklärung auf, führt sie aber so weiter, dass der Gegensatz von Offenbarung und Religion, der die Kontroversen im 20. Jahrhundert bestimmte, überwunden wird. Einerseits wird am Religionsbegriff als Grundlage einer wissenschaftlichen Theologie festgehalten. Doch andererseits ist die Kritik in den Religionsbegriff aufzu‐ nehmen, welche die Theologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der aus dem Jahrhundert zuvor geübt hat. Hieraus ergibt sich das Programm 114 2 Systematische Theologie - Ein geschichtlicher Grundriss <?page no="115"?> einer Systematischen Theologie christlich-religiöser Kommunikation, wel‐ ches das innere Funktionieren der christlichen Religion aus der Sicht der Glaubenden in sich als Wissenschaft konstruiert. Nicht fortgeführt werden die Versuche aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Glauben eine von ihm unterschiedene und ihm vorangehende theologische Voraussetzung zugrunde zu legen. Solche Konzeptionen verdoppeln lediglich den Glau‐ bensbegriff, indem sie ein Element seiner zirkulären Struktur herauslösen und als seine Begründung postulieren. Systematische Theologie ist eine be‐ sondere Wissenschaft und keine universale. Sie ist auf die christliche Reli‐ gion bezogen, deren innere Funktionsweisen sie beschreibt. Doch ihr Bild der christlichen Religion ist ein Konstrukt, welches bleibend von dieser un‐ terschieden ist. L IT E R ATU R : Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023. Ingolf U. Dalferth: Radikale Theologie, Leipzig 4 2021. Eilert Herms: Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und aus Gnade leben, 3 Bde., Tübingen 2017. Dirk Evers: Neuere Tendenzen in der deutschsprachigen evangelischen Dogmatik, in: ThLZ 140 (2015), 3-22. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018. 2.6 Systematische Theologie als autonome Wissenschaft 115 <?page no="117"?> Methoden Natur- und Geisteswis‐ senschaf‐ ten 3 Methoden der Systematischen Theologie 3.1 Was sind Methoden? Wissenschaftliches Arbeiten ist ein methodisches. Es folgt bestimmten Ver‐ fahren oder Wegweisern, die ein strukturiertes und geordnetes Vorgehen ermöglichen. Solche Verfahren nennt man Methoden (griechisch: meta ho‐ dos, einem Weg folgen). Durch sie kommen die Gegenstände der wissen‐ schaftlichen Arbeit in den Blick. Methoden regeln und strukturieren die Ar‐ beitsschritte, durch die man sich einem Gegenstand nähert und ihn erschließt. Nur durch sie sind wissenschaftliche Resultate intersubjektiv kontrollier- und überprüfbar. Sie machen wissenschaftliche Forschung transparent, nachvollziehbar und kritisierbar. Entdeckt werden Methoden durch Reflexionen auf das faktische Vorgehen von Wissenschaften. Sie ste‐ hen also nicht am Anfang, sondern sind Resultate wissenschaftlicher Selbst‐ besinnung. Bewusstes methodisches Vorgehen unterscheidet das wissen‐ schaftliche Arbeiten von dem nichtwissenschaftlichen, alltäglichen Umgang mit den Dingen. Zwar folgt auch dieser Regeln, doch werden diese norma‐ lerweise nicht eigens zum Thema gemacht. Methoden und Diskurse über sie gibt es in allen Wissenschaften seit der Antike. Je nach Fachgebiet unterscheiden sich die Wege, wie man zu be‐ stimmten Resultaten gelangt. Methoden entscheiden freilich auch mit über den wissenschaftlichen Gegenstand. Sie und wissenschaftliche Gegenstände entsprechen sich. Sie zeigen das Untersuchungsobjekt allein in der Weise, wie ihn das gewählte Verfahren präfiguriert. In der abendländischen Wis‐ senschaftsgeschichte haben sich die unterschiedlichsten Wissenschaftsver‐ ständnisse etabliert. Dabei wurden erbitterte Streite darüber geführt, ob es eine universale Methode für alle Wissenschaften gibt, beziehungsweise ob die induktiven naturwissenschaftlichen Methoden als Paradigma auch für andere Disziplinen gelten können. Exemplarisch ist der Streit darüber, die sogenannten Geisteswissenschaften in Analogie zu den Naturwissenschaf‐ ten zu konzipieren. Aber kann man ein geschichtliches Ereignis als Fall eines allgemeinen Gesetzes erforschen? Geschichte ist einmalig und kontingent. Ihre Erforschung verlangt eigene methodische Zugriffe. Natur- und Geis‐ teswissenschaften unterscheiden sich nicht durch die Gegenstände, die sie bearbeiten, ihr Unterschied liegt in den Methoden, die sie anwenden. <?page no="118"?> Methoden in den Natur- und Kulturwissenschaften Vor dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Naturwissen‐ schaften führte man um 1900 intensive Debatten über das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaften. Den Gesichtspunkt, dass sich beide Wissenschaften durch die von ihnen gehandhabten Methoden unterscheiden, machten die neukantianischen Philosophen Wilhelm Windelband (1848-1915) und Heinrich Rickert (1863-1936) geltend. In den zeitgenössischen Kontroversen wurde die Unzulänglichkeit einer gegenstandsbezogenen Unterscheidung beider Wissenschaften vor allem anhand der Stellung der Psychologie im Wissenschaftsbetrieb deutlich. Gehört diese in die Natur- oder in die Kulturwissenschaften? Das weiterführende Moment von Rickert und Windelband besteht darin, Kultur- und Naturwissenschaften durch ihre unterschiedlichen methodischen Zugänge zu unterscheiden. Windelband differenziert die Wissenschaften in nomothetische (von griechisch: nomos, Gesetz) und idiographische (von griechisch: idios, selbst). In den nomothetischen Wissenschaften werden generalisierende Metho‐ den angewandt. Sie erforschen allgemeine Gesetze. Ein Gegenstand ist in diesen Wissenschaften dann erkannt, wenn er als Fall eines Gesetzes erklärt werden kann. Auf diese Weise lässt sich die Geschichte nicht verstehen. In ihr handeln Individuen in einem Horizont von kontingenten Bedingungen und Konstellationen. Durch allgemeine Gesetze lassen sich geschichtliche Individuen nicht erfassen. Kultur‐ wissenschaften, in denen es um geschichtliche Kulturgebilde geht, verlangen folglich einen anderen methodischen Zugang, nämlich ei‐ nen individualisierenden. Sie sind idiographische Wissenschaften und unterscheiden sich von den Naturwissenschaften durch die von ihnen angewandten Methoden, aber nicht durch ihren Gegenstand. Eine andere Unterscheidung hat Wilhelm Dilthey (1833-1911) vorge‐ nommen. Er unterscheidet zwischen Natur- und Geisteswissenschaf‐ ten. Während erstere erklärende Wissenschaften sind, welche die Welt durch ihre gesetzmäßigen Abläufe erkennen, handelt es sich bei letzteren um verstehende Wissenschaften. Ihnen geht es darum, den geschichtlichen Gegenstand verstehend zu erschließen. Ihre grundle‐ gende Methode ist die Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen. Sie folgt Regeln der Textauslegung, die seit der Aufklärung zunehmend verfeinert wurden. 118 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="119"?> Methodolo‐ gie hermeneu‐ tischer Zir‐ kel Im 20.-Jahrhundert wurden zahllose Debatten über Methodenfragen in den Natur- und Kulturwissenschaften geführt und immer elaboriertere Metho‐ den entwickelt. Mit der sogenannten Methodologie hat sich eine eigene Wissenschaft entwickelt, die sich der Reflexion von Methoden widmet. Me‐ thodendiskurse sind allerdings kein Selbstzweck. Sie sollen zu den wissen‐ schaftlichen Gegenständen angemessenen methodischen Verfahren führen und haben zu klären, was diese zu leisten in der Lage sind. Das ist ein re‐ flektierter und kontrollierter Zugriff auf die zu untersuchenden Gegen‐ stände einer Wissenschaft. Darin besteht ihre Bedeutung. In textbezogenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen verhindert das methodische Arbeiten, dass in die Interpretation von Texten der Vergan‐ genheit eigene Überzeugungen und Lösungen eingetragen und wiederge‐ funden werden. Die einzelnen Methodenschritte, welche die historischen Wissenschaften entwickelt haben, zielen darauf ab, einen Text in seinem eigenen geschichtlichen Kontext zu rekonstruieren. Auf diese Weise wird eine alte Urkunde in ihrem eigenen Sinngehalt erschlossen. Ganz ausschal‐ ten lässt sich allerdings das eigene Vorverständnis nicht. Ohne Vorurteile sind weder Dokumente der Vergangenheit noch die von fremden Kulturen zu verstehen. Etwas, das vollkommen fremd ist, kann auch nicht verstanden werden. Um es zu erschließen, müssen in jedem Fall Analogien aus dem Bekannten und Vertrauten herangezogen werden. Für geisteswissenschaft‐ liches Verstehen ist ein hermeneutischer Zirkel konstitutiv. Er muss freilich reflektiert und bewusst gehalten werden, damit es nicht zur Überfremdung eines Textes durch Vorurteile von Auslegerinnen und Auslegern kommt. Als Wissenschaft arbeitet auch die Theologie mit Methoden. Freilich gibt es kein methodisches Verfahren, um Gott zu erfassen. Er ist transzen‐ dent und kann per definitionem kein wissenschaftlicher Gegenstand sein. Theologie thematisiert Gott als einen Bestandteil der christlichen Religion. Ihre historischen Disziplinen beziehen sich auf die biblischen Schriften, also auf sprachliche Auslegungen Gottes, die sich selbst geschichtlichen Diskursen verdanken und in der Geschichte immer wieder neu interpre‐ tiert und kommentiert wurden. Theologie kann sich wissenschaftlich der Bibel unter den Bedingungen der Moderne allein mit dem methodischen Instrumentarium der Geschichtswissenschaft zuwenden. Die Urkunden der christlichen Religion - Altes und Neues Testament - sind in einer längst vergangenen Epoche entstanden. Zugleich haben sie das Selbstverständ‐ nis der euroamerikanischen Kultur tiefgreifend geprägt. Sie sind fremd und vertraut zugleich. Solche Überlagerungen stellen ihr Verstehen vor 3.1 Was sind Methoden? 119 <?page no="120"?> besondere Herausforderungen. Aufgrund ihrer Fremdheit lassen sich die biblischen Texte und ihre Rezeption in der Geschichte der Kirche jedoch nicht ohne die historisch-kritische Methode auf eine kontrollierbare Weise erschließen. Doch mit welchen Methoden arbeitet Systematische Theologie? Ihr Gegenstand - die christliche Religion - ist zwar durch die Geschichte bedingt, aber ihre Problemstellungen sind nicht historischer Art. Sie fragt nach dem Wesen der christlichen Religion. Welche methodischen Verfahren stehen ihr zur Bewältigung ihrer Aufgabe zu Verfügung? L IT E R ATU R : Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaf‐ ten (= Gesammelte Schriften, Bd. VII), Stuttgart 3 1961. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2 1965. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 3 2011. Friedrich Rapp: Art.: Methode, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1973, 913-929. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1899. ND Stuttgart 1986. Joachim Ritter/ Fritz-Peter Hager/ Ludger Oeing-Hanhoff/ Hans Werner Arndt/ Friedrich Kambartel/ Rüdiger Welter: Art.: Methode, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.-5, Basel/ Stuttgart 1980, 1304-1332. Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft, in: ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen 5 1915, 136-160. 3.2 Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen Die theologische Lehrtradition verstand Theologie als Auslegung der Bibel. Seit der Antike wurde dieses Verfahren durch Sammlungen von Kommen‐ tierungen der Kirchenväter und der als verbindlich erachteten Formulie‐ rungen der altkirchlichen Konzile ergänzt. Diese scholastisch genannte Me‐ thode liegt den mittelalterlichen Lehrsystemen zugrunde. Methodenfragen der protestantischen Dogmatik reflektierte erstmals Matthias Flacius (1520- 1575) in seiner Schrift Clavis scripturae sacrae seu de sermone sacrarum lit‐ terarum von 1567. Er unterscheidet zwischen der synthetischen, der analy‐ 120 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="121"?> Begriffsde‐ finition syntheti‐ sche Me‐ thode tischen und der Definitionsmethode. Die klassische Begriffsdefinition geht auf die antike Philosophie zurück. Bekannt ist der sogenannte porphyrische Baum (lateinisch: arbor Porphyriana) des Neuplatonikers Porphyrius von Tyros (232-304). Jener bildet die Grundlage der traditionellen Definitions‐ lehre. Sein Ausgangspunkt sind allgemeine Begriffe, die sich ähnlich wie ein Baum von der Wurzel aus zunehmend in Gattungen und Arten verästeln. Definierbar wird eine Art durch die Angabe der Gattung, zu der sie gehört, sowie ein unterscheidendes Merkmal (lateinisch: differentia specifica). Durch Letzteres differiert eine Art von einer anderen, die zu derselben Gat‐ tung gehört. Dieses Verfahren des Vergleichens und Unterscheidens hält die traditionelle Definitionsregel fest: definitio fit per genus proximum et diffe‐ rentiam specificam (definiert wird durch die Angabe der Gattung sowie eines artbildenden Unterschieds). Auf die genannte Weise kann zum Beispiel der Mensch als vernünftiges Lebenwesen (lateinisch: animal rationale) bestimmt werden. Er gehört zur Gattung der Tiere, sein artbildener Unterschied, durch den er sich von diesen abhebt, besteht in seiner Vernünftigkeit. Mit dem Begriff synthetische Methode bezeichnet Flacius das von Philipp Melanchthon in den Loci communes von 1521 angewandte Verfahren. Me‐ lanchthon folgte bei der Anordnung des Lehrstoffs in seiner Dogmatik im Wesentlichen dem Römerbrief des Apostels Paulus. Der Aufbau der Loci communes von Melanchthon Melanchthon hat den dogmatischen Lehrstoff durch die von ihm ge‐ handhabte Local- oder synthetische Methode nur in einen losen inneren Zusammenhang gebracht. Die Dogmatik wird mithilfe von Grundbe‐ griffen - loci beziehungsweise begriffliche Urbilder (griechisch: hypo‐ typosis) - strukturiert. In seinen Loci communes behandelt er folgende Themen: (1.) Einleitung, (2.) freier Wille als Problem, (3.) Sünde, (4.) Gesetz, (5.) Evangelium, (6.) Gnade, (7.) Rechtfertigung und Glaube, (8.) Alter und neuer Bund, (9.) Sakramente und (10.) Sonstiges (Liebe, Obrigkeit und Ärgernis). Die synthetische Methode, die Melanchthon in seinen Loci befolgte, wurde in der ihm folgenden protestantischen Theologie zunächst angewandt. Um 1600 kam es zu einem Wandel im methodischen Selbstverständnis der theo‐ logischen Wissenschaft. Er ist bedingt durch die Etablierung der sogenann‐ 3.2 Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen 121 <?page no="122"?> analytische Methode ten analytischen Methode im damaligen Wissenschaftsbetrieb. Das neue Verfahren wurde durch den reformierten Theologen Bartholomäus Kecker‐ mann, der sich um den Systembegriff verdient gemacht hatte, eingeführt und schon bald von der lutherischen Theologie zur Konstruktion ihrer dog‐ matischen Lehrsysteme aufgegriffen (vgl. oben 2.3.3). Was beinhaltet die neue Methode? Dem Heidelberger Keckermann kommt die Bedeutung zu, das System im Unterschied zu älteren, vor allem antiken Auffassungen, aber auch der Melanchthons, als ein vollständig gegliedertes Ganzes von Wis‐ sensgehalten ausgearbeitet zu haben. Der Begriff tritt nun an die Stelle von Bezeichnungen wie summa, loci, doctrina etc. Das setzt eine Methode voraus, die sowohl Vollständigkeit der Gehalte als auch ihre geordnete Zusammen‐ stellung ermöglicht. Genau das leistet die analytische Methode. Mit ihrer Hilfe werden die Wissensgehalte so zusammengestellt, dass sie als Weg zu einem umfassenden Zielgedanken angeordnet werden. Bezogen auf die Theologie besagt das: sie strukturiert die dogmatischen Gehalte unter dem Leitgesichtspunkt des Ziels der Theologie als Weg zu dessen Erlangung. Ihr Ziel ist Gott, das höchste Gut, ihr Gegenstand aber das Heil des von Gott abgefallenen Menschen. Wissenschaft ist Theologie, indem sie der von Gott geoffenbarten Heiligen Schrift der Bibel die theologischen Gehalte ent‐ nimmt und unter dem Leitgesichtspunkt der Erlangung des Heils systema‐ tisch zusammenstellt. Aufbau der Dogmatik nach der analytischen Methode Der Wittenberger Theologe Andreas Quenstedt (1617-1688) konzi‐ pierte seine 1685 erschienene Theologia didactico-polemica unter An‐ wendung der analytischen Methode. Er unterscheidet (1.) das Ziel der Theologie von (2.) deren eigentlichem Gegenstand. Das Ziel der Theologie ist Gott, aber ihr eigentlicher Gegenstand ist der von ihm abgefallene Mensch. Damit der Mensch zu Gott zurückgebracht wer‐ den kann, bedarf es (3.) Prinzipien und (4.) Mittel des Heils. Durch beide wird das Ziel der Theologie erreicht, den Menschen zur ewigen Seligkeit zu führen. Die analytische Methode trägt dem Selbstverständnis der Theologie, eine praktische Wissenschaft zu sein, Rechnung. Dabei ist die Anwendung der Methode nicht auf die Theologie beschränkt. Verwendet wird sie auch in den Naturwissenschaften der Zeit sowie in der Medizin. 122 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="123"?> metaphy‐ sisch-kos‐ mologi‐ sches Weltbild Voraussetzung dieser dogmatischen Methode ist sowohl ein metaphy‐ sisch-kosmologisches Weltbild als auch ein Verständnis der Bibel, nach der diese aufgrund ihrer göttlichen Inspiriertheit gleichsam vom Himmel gefal‐ len ist. Ihre Grundlage ist ein Gottesbegriff, der als gegenständliche Substanz gefasst ist, von der man Aussagen machen kann. Er garantiert den objektiven Rahmen des theologischen Systems und ist als solcher zwischen den Kon‐ fessionsparteien nicht strittig. Dem korrespondiert ein Verständnis des Men‐ schen als von Gott abgefallener Sünder. Deshalb kann der Mensch von sich aus die Wahrheit nicht erkennen. Sie muss ihm neu eröffnet werden. Das ist die Funktion der Bibel, die als ein Behälter aufgefasst wird, der die göttliche Offenbarung durch die Geschichte transportiert. Indem die biblischen Schriften von Gott - dem eigentlichen Autor - ihren menschlichen Verfas‐ sern wortwörtlich eingegeben wurden, sind sie der geschichtlichen Relati‐ vität entnommen. Sie enthalten das Wissen, das Gott von sich selbst hat. Erst diese Voraussetzung begründet die Stellung des biblischen Kanons von Al‐ tem und Neuem Testament, letzte autoritative Entscheidungsgrundlage sein zu können, da unterstellt werden kann, er ist in sich klar und deutlich sowie (jedenfalls) im Hinblick auf das Heil des Menschen vollständig. Dement‐ sprechend bedarf es in den protestantischen Kirchen auch keines Lehramts, wie in der römisch-katholischen Kirche, welche bei unklaren und zweideu‐ tigen biblischen Aussagen eine Entscheidung herbeiführt. Diese Funktion übernimmt im Protestantismus die Bibel selbst, der papierne Papst. Erst beide Voraussetzungen zusammen, der metaphysische Gottesgedanke samt Erbsündenlehre sowie die Bibelautorität, erlauben es der Theologie, den bi‐ blischen Schriften ein geschlossenes dogmatisches Lehrsystem zu entneh‐ men, dem selbst ein hoher normativer Verbindlichkeitsanspruch zukommt. L IT E R ATU R : Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987, 230-240. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 1, Gütersloh 1964, 21-26. Gerhard Sauter: Art.: Dogmatik I, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-9, Berlin/ New York 1982, 41-77. 3.2 Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen 123 <?page no="124"?> histo‐ risch-kriti‐ sche Me‐ thode 3.3 Die historisch-kritische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen Seit der frühen Neuzeit kam es infolge weltweiter Entdeckungsreisen, des entstehenden europäischen Kolonialismus, der durch die Reformation be‐ dingten Konfessionalisierung, der Herausbildung von Naturwissenschaften und anderem mehr zu Wandlungen im Weltbild. Vor diesem Hintergrund wurde der Abstand des biblischen Weltbildes zu dem der eigenen Gegenwart zunehmend bewusst. Mit dem sich etablierenden Geschichtsbewusstsein entstand ein neues Verständnis von Geschichte, welches sich in der Prägung des Kollektivsingulars die Geschichte im 18. Jahrhundert manifestiert. Ge‐ schichte wird nun zu einem Feld, das durch einen methodisch kontrollierten Umgang mit Quellen erschlossen werden muss. Von der protestantischen Universitätstheologie wurde das neue Geschichtsverständnis rezipiert und auf die biblischen Quellen der christlichen Religion sowie der Geschichte der Kirche angewandt. Das führte zu einer neuen Stellung gegenüber der Bibel, die sich grundlegend von der früherer Zeiten unterscheidet. Aus dem göttlich inspirierten Kanon der biblischen Schriften, die der Relativität der Geschichte entnommen sind, wird ein geschichtliches Dokument aus einer fernen vergangenen Zeit. Mit dem Begriff historisch-kritische Methode fasst man ein ganzes Set von Verfahrensweisen zusammen, die im Laufe der Zeit zunehmend verfei‐ nert wurden. Ihre grundlegenden Aufbauelemente sind Quellen- oder Lite‐ rarkritik, Formkritik und Redaktionskritik. Die historisch-kritische Methode Die Bestandteile dieses methodischen Verfahrens, welches sich in der Aufklärungszeit als wissenschaftliches Instrumentarium der Aus‐ legung von Texten etabliert hat, sind: Quellenkritik: Sie fragt aufgrund von Kriterien nach den Quel‐ len, die einem Text zugrunde liegen beziehungs‐ weise in ihn verarbeitet wurden. Durch sie kann untersucht werden, was zu einem Text gehört und welche Passagen ihm später auf‐ grund von bestimmten Interessen hinzugefügt wurden. Ein Beispiel hierfür ist der sogenannte 124 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="125"?> unechte Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9-20). Die ursprüngliche Konzeption des Markus kannte keine Begegnung mit dem auf‐ erweckten Christus, wie sie sich in den anderen Evangelien findet. Formkritik: Dieser Methodenschritt untersucht kleinere Texteinheiten und ordnet sie literarischen Gat‐ tungen zu. Die Form der Texteinheit soll durch diese verstanden werden. Dabei interessieren nicht so sehr schriftliche Quellen, die einer Einheit zugrunde liegen, sondern die mündliche Tradition und deren Träger. Ihre Rekonstruk‐ tion gibt Aufschluss über bestimmte Interessen und Motive der Überlieferung (Sitz im Leben). Ein Beispiel für die Formkritik ist die Gleich‐ nisforschung, die sich den neutestamentlichen Gleichnissen zuwendet. Redaktionskritik: Sie untersucht die Entstehung von Texten sowie deren Bearbeitung durch ihre Verfasser. In den Blick werden die Intentionen genommen, die hinter der Komposition eines Textes stehen. Mit diesem Methodenschritt treten die Verfasser von Texten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ein Beispiel für die Redaktionskritik ist die Frage nach der theologischen Intention, welche die Autoren der vier Evangelien bei ihrer jewei‐ ligen Anordnung des ihnen überlieferten Stoffs leitete. Die historisch-kritische Methode ermöglicht es, Texte und Zeugnisse der Vergangenheit in ihrem eigenen geschichtlichen Kontext zu verstehen und zu erschließen. Sie rekonstruiert den Sinn eines Textes, indem sie seinen geschichtlichen Hintergrund umfassend in den Blick nimmt. 3.3 Die historisch-kritische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen 125 <?page no="126"?> Vorausset‐ zungen der histo‐ risch-kriti‐ schen Me‐ thode Durch die Anwendung der historischen Methode auf die biblischen Ur‐ kunden wird die dogmatische aufgelöst. Diese setzte ja gerade voraus, die biblischen Schriften entziehen sich aufgrund ihrer göttlichen Entstehung dem Vergleich mit anderen Texten. Deshalb kommt ihnen Autorität und normative Geltung zu. Jene Sonderstellung der Bibel, die ihre Geltung be‐ gründet, zerstört die Anwendung der historisch-kritischen Methode. Diese führt die Texte auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingungen zurück und ordnet sie dadurch in die Religionsgeschichte ein. Doch auch das neue methodische Verfahren ist nicht ohne Voraussetzungen. Zunächst ist die historische Betrachtungsweise selbst ein Resultat der geschichtlichen Ent‐ wicklung. In früheren Zeiten, etwa denen der biblischen Autoren, war sie völlig fremd. Sodann setzt sie die Vergleichbarkeit von geschichtlichen Er‐ eignissen sowie ihren durchgehenden Zusammenhang voraus. Sie muss die Geschichte als einen homogenen Ablauf verstehen, der keine Ausnahme kennt. Die Voraussetzungen der historischen Methode Ernst Troeltsch hat in seinem Aufsatz Über historische und dogmati‐ sche Methode in der Theologie (1898) drei Prinzipien der modernen Geschichtswissenschaft unterschieden. Sie treten an die Stelle der me‐ taphysischen und theologischen Voraussetzungen der altprotestanti‐ schen Theologie. Die Prinzipien der modernen Geschichtswissenschaft sind: historische Kritik: Urteile über geschichtliche Ereignisse sind Wahrscheinlichkeitsurteile; ihnen kommt somit keine absolute Gewissheit zu. Analogie: Historisch ist ein Ereignis nur dann, wenn es mit der normalen Lebenserfahrung von heute übereinstimmt; wunderhafte Durchbrechungen von Naturgesetzen etc. können mithin nicht als historisch wahrscheinlich gelten. 126 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="127"?> Korrelation: Historische Ereignisse stehen in Wechselwir‐ kung; sie sind stets durch andere innerge‐ schichtliche Ursachen bedingt. Die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion führt zu deren besserem Verständnis, aber zugleich löst sie die normative Verbindlichkeit der Bibel auf. Indem sie jeden übernatürlichen göttlichen Eingriff in die Geschichte ausscheidet und nur relative innergeschichtliche Zusammenhänge kennt, historisiert sie die biblischen Schriften. Auf der Grundlage der historisch-kritischen Methode lässt sich lediglich ein historisches Bild der Anfänge der christlichen Religion sowie der frühchristlichen Schriften gewinnen. Doch dieses Resultat bleibt einerseits ein fallibeles wissenschaftliches Konstrukt, welches revidierbar bleibt, und andererseits ein geschichtliches. Religion und Geschichte, selbst wenn sie sich auf dieselben Inhalte wie die Bibel und den Mann aus Nazareth beziehen, sind jedoch zu unterscheiden. Religiöse Gewissheit ist eben keine historische. Aus den historisch-kritisch rekonstruierten biblischen Quellen ergeben sich Aufschlüsse, wie diese Texte in ihrer Zeit verstanden und gemeint gewesen sein könnten. Doch daraus lässt sich keine normative Verbindlichkeit für andere Zeiten ableiten. L I T E R A T U R : Stefan Alkier: Neues Testament, Tübingen 2010, 111-139. Gerhard Ebeling: Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protes‐ tantische Theologie und Kirche, in: ders.: Wort und Glaube, Bd. 1, Tübingen 3 1967, 1-49. Klaus Koch: Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelauslegung, Neukir‐ chen-Vluyn 5 1989. Udo Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 7 2008. Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie. Bemerkungen zu dem Aufsatze „Über die Absolutheit des Christentums“ von Niebergall, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd.-2), Aalen 1962 (ND der 2. Aufl. Tübingen 1922), 729-753. 3.3 Die historisch-kritische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen 127 <?page no="128"?> literatur‐ wissen‐ schaftliche und semio‐ tische Text‐ theorien 3.4 Kulturwissenschaftliche Methoden: Voraussetzungen und Konsequenzen So alternativlos die historisch-kritische Methode zur Rekonstruktion von Texten der Vergangenheit auch ist, sie scheint doch deren Rezeption auszu‐ blenden, sie wenigstens zu marginalisieren. Im strengen Sinne dieser Me‐ thode ist ein Text in seinem Sinngehalt dann verstanden, wenn die Intention seiner Verfasserin oder seines Verfassers (lateinisch: intentio auctoris) re‐ konstruiert ist. Aber lässt ein Text nicht mehrere Deutungen zu? Und ist es überhaupt möglich, den Sinn, den Autorinnen und Autoren mit ihren Aus‐ sagen verbinden, zu erfassen? Im Anschluss an literaturwissenschaftliche und semiotische Texttheorien wurde deshalb auch in den exegetischen Fä‐ chern der Theologie die Forderung erhoben, die historisch-kritische Me‐ thode durch solche Methoden zu ergänzen. Im Fokus steht hierbei die Ein‐ sicht, dass Leserinnen und Leser eines Textes sowie ihr kulturelles Selbstverständnis konstitutiv für die Generierung des textlichen Sinnes sind. Sinn, so die Beobachtung, die geltend gemacht wird, liegt nicht als fixierbare Substanz in Texten vor, er entsteht im Akt des Lesens. Rezeptionsorientierte Texttheorien legen ihr Augenmerk auf die produktive und sinnstiftende Le‐ seleistung von Rezipientinnen und Rezipienten. Rezeptionsästhetik und semiotische Texttheorien Rezeptionsästhetische Texttheorien wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in der Rechts- und neueren Literaturwissen‐ schaft unter anderem von Hans Robert Jauß (1926-1997) und Wolfgang Iser (1926-2007) ausgearbeitet und seit den 1990er Jahren in der Theo‐ logie intensiv rezipiert. Im Unterschied zu traditionellen Hermeneuti‐ ken rücken sie die konstitutive Funktion des Rezipienten von Texten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das Sinnverstehen von Texten wird nicht mehr wie in älteren Hermeneutiken als Aneignung einer eindeutig bestimmten Sinnsubstanz verstanden, die von seiner Autorin oder seinem Autor den Zeichen eingeschrieben wurde, sondern der Textsinn wird in den individuell gebrochenen und damit notwendig pluralen Rezeptionsakt aufgelöst. Unter Aufnahme von Einsichten der modernen Semiotik, die Charles S. Peirce (1839-1914) und vor allem Umberto Eco (1932-2016) ausarbeiteten, tritt in der Rezeptionsästhetik an die Stelle von zweigliedrigen Modellen das triadische Schema von 128 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="129"?> Tod des Au‐ tors intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris (Autoren-, Text- und Leserintention). Die Überzeugung von einer eindeutigen Bestimmtheit von Texten, wie sie noch Luther und der Altprotestantismus selbstverständlich voraus‐ setzten, sowie die intentio auctoris und der sensus verborum (Wortsinn), um die sich die historische Hermeneutik der Aufklärung bemühte, wird damit von der Rezeptionsästhetik zugunsten einer produktiven Unbestimmtheit von Texten verabschiedet. Ein Textsinn konstituiert sich erst im Akt des Lesens, und hierbei bringt der Rezipient stets seinen eigenen, kulturvariablen Sinnhorizont mit ein. In der Theologie sind solche Texttheorien in rezeptionsästhetischen Lesetheologien aufgenommen. Hier erscheint der zweiteilige biblische Kanon, der methodisch zum Ausgangspunkt avanciert, als „das histo‐ rische Transzendental religiöser Leseerfahrung“ (Huizing 1992, 217). Im Zwischenspiel zwischen fremdem Text und Leser ereignet sich im Akt des Verstehens eine Neubestimmung des homo legens (Lesers). Im reflexiven Ereignis des Verstehens von Texten konstituiert sich gleichsam eine Differenz zwischen dem biblischen Text und seinen möglichen Lesarten. Darin wiederholt sich die im zweiteiligen Kanon vorgebildete Relektüre des Alten durch das Neue Testament. Der vom Heiligen Geist nach dem altlutherischen Verständnis intendierte sensus verborum wird hier aufgelöst oder als Varianzbändigung des Verste‐ hensspielraums der Bibel mitgeführt. An die Stelle von intentio auctoris und operis tritt der im Akt des Lesens sich dem Leser erschließende Sinn des Textes, der sich freilich notwendig pluralisiert. Auf dieser Grundlage lässt sich die Inspirationsvorstellung unter Verlagerung von der Textproduktion zu seiner Rezeption reformulieren. Inspiration meint nun die Unableitbarkeit des Verstehens. Sie bezeichnet unter Wegfall der Verbalinspiration das, was die altlutherischen Theologen testimonium spiritus sancti internum (inneres Zeugnis des Heiligen Geistes) genannt haben. Von den rezeptionsästhetischen und semiotischen Texttheorien werden Texte als offen für mögliche Interpretationen verstanden. Das kann sich in poststrukturalistischen Theorien zur These vom Tod des Autors (Roland Barthes [1915-1980]) steigern. Ob man freilich einen Text mit jeder belie‐ bigen Interpretation überziehen und somit den einer Deutung vorgegebenen 3.4 Kulturwissenschaftliche Methoden: Voraussetzungen und Konsequenzen 129 <?page no="130"?> Text sowie die intentio auctoris einfach beiseiteschieben kann, erscheint fragwürdig. Interpretationen müssen sich an ihren Texten ausweisen lassen. Sie vollziehen sich in einer methodischen Auseinandersetzung mit den Quellen, die ausgelegt werden. Anders können sie nicht zu deren Verständ‐ nis beitragen. Auch wenn die Erweiterung der historisch-kritischen Auslegung von Quellen und Dokumenten der Vergangenheit durch kulturwissenschaftliche Texttheorien als ein Gewinn zu verbuchen ist, so ist doch unklar, wie sie sich zu jenen verhalten und wie sie mit ihnen zusammen in ein Gesamtmodell integriert werden können. Fatal wäre es jedenfalls, wenn rezeptionsästhe‐ tische Texttheorien historisch-kritische Zugänge verdrängen und sich an deren Stelle setzen. Würde dann doch der Stachel der historischen Kritik sistiert. Zudem stellt sich bei rezeptionsästhetischen Theorien die Frage, wer über die Richtigkeit einer Interpretation entscheidet, wenn sie allein von Rezipientinnen und Rezipienten und ihren Deutungen abhängen soll. Es fehlt also schlichtweg ein Kriterium, welches zwischen einer angemessenen und einer unangemessenen Interpretation zu unterscheiden erlaubt. Rezeptionsästhetische und semiotische Texttheorien leisten einen Beitrag zur Interpretation und zum Verständnis von Texten. Eine Begründung für die Geltung von Religionen, die sich wie die christliche auf Texte berufen, können sie allerdings ebenso wenig wie die historisch-kritische Methode geben. Damit stellt sich freilich umso dringlicher die Frage, mit welchen Methoden die Systematische Theologie arbeitet, wenn es ihr um eine Bestimmung des Wesens der christlichen Religion geht. L IT E R ATU R : Stefan Alkier: Neues Testament, Tübingen 2010, 139-184. Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: ders.: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.-M. 2005, 57-63. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.-M. 1973. Klaas Huizing: Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, Berlin/ New York 1996. Klaas Huizing: Wächserne Nase. Kleine Apologie einer Theologie des Lesens, in: NZSTh 34 (1992), 200-218. Wolfgang Iser: Der implizite Leser, München 1972. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.-M. 1982. 130 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="131"?> Methode der Korrela‐ tion Ulrich H.J. Körtner: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneu‐ tik, Göttingen 1994. 3.5 Systematische Theologie als Konstruktion der Selbstsicht der christlichen Religion Wissenschaft ist Systematische Theologie, indem sie methodisch kontrol‐ liert arbeitet und ihre Ergebnisse überprüfbar macht. Ihr Gegenstand ist die christliche Religion, jedoch nicht als eine geschichtliche Erscheinung. Systematische Theologie ist eine normative Disziplin. Sie fragt in einem geltungstheoretischen Sinn nach dem Wesen des Christentums, wobei dieses einem geschichtlichen Wandel unterliegt. Mit welchen Methoden lässt sich diese Aufgabe bewältigen? Die alte dogmatische Methode löste die theolo‐ giegeschichtliche Entwicklung im Kontext der modernen Wissenschaften seit der Aufklärung zusammen mit ihren metaphysischen Voraussetzungen auf (vgl. oben 2.4). Damit änderte sich der Gegenstandsbezug der Syste‐ matischen Theologie. Sie systematisiert nicht mehr wie im Altprotestantis‐ mus vorliegende und bereits fertig gegebene christliche Wissensbestände, sondern sie arbeitet nun eine Theorie aus, wie die christliche Religion im Gebrauch von Inhalten mit diesen zusammen entsteht. Das lässt im 19. Jahrhundert Raum für die Anwendung von unterschiedlichen Methoden aus verschiedenen Wissenschaften. Um 1900 etabliert sich Theologie als eine autonome Wissenschaft, die eine eigene Beschreibung der christlichen Religion ausarbeitet, auf die sie bezogen ist. Damit stellt sich erneut das Me‐ thodenproblem der Systematischen Theologie. Es wird im 20. Jahrhundert in zwei Grundformen bearbeitet, einer, die an der reflexiven Ereignisstruktur des theologischen Gegenstands und einer, die an den Aussagen der christli‐ chen Religion orientiert ist. Für den ersten Typus ist Paul Tillich signifikant. In der Einleitung seiner Systematischen Theologie hat er sich ausführlich zur Methode der Systema‐ tischen Theologie geäußert. Er bezeichnet das von ihm angewandte Verfah‐ ren als Methode der Korrelation und beschreibt sie als ein Verhältnis von existentieller Frage und theologischer Antwort, wobei beide aufeinander bezogen und zugleich voneinander unterschieden sein sollen. Dem Aufbau der Systematischen Theologie liegt diese Methode zugrunde. In jedem ihrer Teile arbeitet Tillich zunächst die existentielle Frage als Frage des Menschen nach sich selbst heraus und bezieht auf sie sodann die Offenbarung Gottes 3.5 Systematische Theologie als Konstruktion der Selbstsicht der christlichen Religion 131 <?page no="132"?> Satz-, Ko‐ härenz- und Kon‐ trollierbarkeitspostu‐ lat als theologische Antwort. Der Eingängigkeit des Frage-Antwort-Schemas ungeachtet bleibt in seiner eigenen Beschreibung jedoch undeutlich, worin die Methode der Korrelation besteht und wie sie zu einer kontrollierbaren Erfassung ihres Gegenstands führt. Deutlich wird Tillichs methodisches Verfahren erst, wenn man sein Verständnis von Theologie als Wissenschaft heranzieht (vgl. oben 2.6.b). Diese bezieht sich auf Religion, die im Übergang vom Kulturbewusstsein zum Meinen des Unbedingten besteht, welches dem Bewusstsein stets schon zugrunde liegt. Jener Übergang ist nicht ableitbar oder herstellbar. Er bezeichnet die Offenbarung Gottes. In diesem Übergang wird das kulturell bestimmte Bewusstsein, also sein jeweils konkretes Selbst‐ verständnis zum Ausdruck und zur Darstellung von religiöser Erschlossen‐ heit. Liest man die Methode der Korrelation auf diese Weise, so beschreibt sie, wie sich Religion zugleich mit ihren Inhalten in einem selbstbezüglichen Akt konstituiert, und erörtert somit den Theologiebegriff selbst. Die theo‐ logische Methode ist dann ein genauer Ausdruck des Gegenstands der Theo‐ logie: der Offenbarung Gottes. Allerdings verbindet Tillich, auch das ist nicht untypisch für das 20.-Jahrhundert, die Korrelationsmethode mit einer Apo‐ riekonstruktion auf der menschlichen Frageseite, die durch die theologische Antwort gelöst wird. Auch der andere Typus theologischer Methode wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Diskussion eingebracht, aber erst seit den 1970er Jahren aufgenommen. Es handelt sich um die Auseinandersetzung zwischen Heinrich Scholz (1884-1956) und Karl Barth über die Wissen‐ schaftlichkeit der Theologie. In dem 1931 publizierten Aufsatz Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich? machte Scholz geltend, Theologie könne nur dann als Wissenschaft gelten, wenn sie drei Mindest‐ anforderungen erfülle. Diese bestehen in dem von ihm sogenannten Satz-, Kohärenz- und Kontrollierbarkeitspostulat. Wissenschaftlich, und das heißt methodisch, operiere Theologie, wenn sie Aussagen formuliere, deren Fol‐ gen sich nicht widersprechen und die kontrollierbar seien. Vorausgesetzt ist hier ein Verständnis von Theologie als einer Wirklichkeitswissenschaft. Sie bezieht sich auf Aussagen der christlichen Religion, die wiederum gegen‐ standsbezogen verstanden werden, und überprüft gleichsam ihren Wahr‐ heitsgehalt. Scholz’ Überlegungen zu Kriterien wissenschaftlicher Verfahren der Theologie, von Barth vollständig zurückgewiesen, wurden in der zwei‐ ten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Wolfhart Pannenberg, Gerhard Sauter (geb. 1935), Wilfried Härle und anderen aufgenommen. Ein solches metho‐ disches Verfahren der Systematischen Theologie ist gegenstandsorientiert. 132 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="133"?> Funktionie‐ ren als Reli‐ gion Selbstsicht der christli‐ chen Reli‐ gion Es nimmt die Aussagen der christlichen Religion auf, behandelt sie auf der Ebene der wissenschaftlichen Theologie als Hypothesen und untersucht, ob sie mit dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, übereinstimmen oder nicht. Doch Gott ist transzendent und kein Gegenstand, so dass es prinzipiell keine Möglichkeit gibt, Aussagen über ihn kontrolliert zu verifizieren oder zu falsifizieren. Damit scheidet aber auch ein an den Aussagen der christli‐ chen Religion orientiertes methodisches Verfahren aus der Systematischen Theologie aus. Systematische Theologie ist keine Wissenschaft, die die Aussagen der christlichen Religion auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Sie beschreibt die Funktion, welche Aussagen und Inhalte für die christliche Religion haben. Deren inneres Funktionieren als Religion ist der Gegenstand einer Syste‐ matischen Theologie. Das ist die Intention von Tillichs Methode der Korre‐ lation, die als Beispiel den ersten Typus systematisch-theologischer Metho‐ denreflexion repräsentiert. Diese Form ist aufzunehmen und weiterzubilden. Methodisch und kontrollierbar verfährt Systematische Theologie, indem sie die Selbstsicht der christlichen Religion thematisiert. Das ist jedoch auf der Ebene einer Wissenschaft lediglich als Konstruktion möglich. Sie arbeitet ein vollständiges Bild der christlichen Religion aus, indem sie ihr durchsichtiges Funktionieren als Religion im Gebrauch von Inhalten kon‐ struiert. Kontrollierbar ist eine methodische Beschreibung der Selbstsicht der christlichen Religion nur dann, wenn sie nicht von Voraussetzungen ausgeht, die nicht allgemein zugänglich sind. Für ihre Darstellung der christ‐ lichen Religion setzt Systematische Theologie weder einen Gottesbegriff noch ein religiöses Subjekt oder eine besondere religiöse Erfahrung voraus. Sie behandelt solche Voraussetzungen, aus denen Religion abgeleitet werden könnte, auch nicht als Hypothesen. Ein Rekurs auf derartige Voraussetzun‐ gen wäre nicht von jedem einsehbar und auch nicht wissenschaftsfähig, da er bereits einen bestimmten Glauben in Anspruch nimmt. Von der Systematische Theologie sind folglich alle Voraussetzungen der christlichen Religion aufzulösen und als Bestandteile von ihr zu setzen, um ihre innere Funktionsweise zu beschreiben. Methodisch verfahrende Wissenschaft ist Systematische Theologie, in‐ dem sie die Selbstsicht der christlichen Religion von sich selbst als Religion konstruiert. Konstruktion ist nicht nur Fiktion oder willkürliche Erfindung, obwohl jede Fiktion eine konstruktive Leistung ist. Auch Re-Konstruktion, die im Interesse an der Sachbezogenheit des Verfahrens von Konstruktion unterschieden wird, bleibt Konstruktion. Es sind stets systematische Theo‐ 3.5 Systematische Theologie als Konstruktion der Selbstsicht der christlichen Religion 133 <?page no="134"?> loginnen und Theologen, die bestimmte Setzungen vornehmen, um die christliche Religion auf der Ebene der Wissenschaft zu beschreiben. Dabei beziehen sie sich auf eine Religion, die von der Systematischen Theologie unterschieden ist und von der sie auch wissen, dass sie auf der Ebene der Wissenschaft nur als ihre eigene Konstruktionstätigkeit vorkommen kann. Aber dadurch wird die systematisch-theologische Konstruktion der christ‐ lichen Religion weder willkürlich noch beliebig. Einerseits setzt jede Syste‐ matische Theologie voraus, dass die christliche Religion als eine in der Kul‐ tur ausdifferenzierte und erkennbare Form von Kommunikation existiert. Ihr kann sie das von ihr als Wissenschaft konstruierte Bild der christlichen Religion lediglich zuschreiben, aber nicht an ihr überprüfen. Andererseits erfolgt jede systematisch-theologische Beschreibung des inneren Funktio‐ nierens der christlichen Religion vor dem Hintergrund der Entwicklungs‐ geschichte der Systematischen Theologie sowie der von ihr geschaffenen Begriffe, Bilder und Problemstellungen, an die sie anknüpft und die sie wei‐ terführt (vgl. oben 2.6.4). Systematische Theologie konstruiert das innere Funktionieren der christ‐ lichen Religion. Ihr Gegenstand, den sie methodisch bearbeitet, sind nicht die Inhalte und Aussagen der christlichen Religion. Sie beschreibt, wie im Gebrauch von Inhalten religiöser Sinn entsteht, um den von den Religion Praktizierenden gewusst werden muss. Indem sie ihre Setzungen als ihre eigenen transparent macht, bleibt sie eine kontrollierbare Wissenschaft, die über ihre Verfahren Rechenschaft abgeben kann. Und auch nur auf diese Weise ist Systematische Theologie eine normative Wissenschaft. Eine solche ist sie nicht in dem Sinne, dass sie Inhalte und Aussagen konstruiert, an de‐ nen die christliche Religion zu orientieren und abzugleichen wäre. Normativ ist Systematische Theologie, indem sie das durchsichtige Funktionieren der christlichen Religion im Gebrauch von Inhalten beschreibt. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine syste‐ matische Orientierung, Leipzig 2004. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationa‐ lität, Freiburg i.Br. 1991. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 3-27. Johannes Fischer: Glaube als Erkenntnis. Zum Wahrnehmungscharakter des christlichen Glaubens, München 1991. Dietz Lange: Glaubenslehre, Bd.-1, Tübingen 2001, 111-125. 134 3 Methoden der Systematischen Theologie <?page no="135"?> Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987. Gerhard Sauter: Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie. Die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion. Materialien, Analysen, Entwürfe, München 1973. Heinrich Scholz: Wie ist eine evangelische Theologie als Wissenschaft möglich? , in: G. Sauter (Hrsg.): Theologie als Wissenschaft. Aufsätze und Thesen, München 1971, 221-264. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. I-II, hrsg. v. Christian Danz, Berlin/ Bos‐ ton 9 2017, 7-73. Ernst Troeltsch: Was heisst „Wesen des Christentums“? , in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Aalen 1962 (ND der 2. Aufl. Tübingen 1922), 386-451. 3.5 Systematische Theologie als Konstruktion der Selbstsicht der christlichen Religion 135 <?page no="137"?> 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie 4.1 Was ist Religion? Im 21. Jahrhundert beschäftigen sich sehr unterschiedliche wissenschaftli‐ che Disziplinen mit Religion. Das war nicht immer so. Lange Zeit lag die Zu‐ ständigkeit für die Bearbeitung von religiösen Fragen allein in den Händen der Theologie. Erst seit der Aufklärung bildeten sich Wissenschaften heraus, die unabhängig von theologischen Fragestellungen Religion in den Blick nehmen. Eine Schrittmacherfunktion hierfür kommt der protestantischen Aufklärungstheologie selbst zu (vgl. oben 2.4). Sie koppelte die historische Untersuchung der Bibel von dogmatischen Vorgaben ab. Dadurch kam es zu einer Historisierung der biblischen Schriften und deren Rekonstruktion in ihrem eigenen religionsgeschichtlichen Kontext - und der Startschuss für die Etablierung von eigenständigen Religionswissenschaften war gefallen. Im 18. und 19. Jahrhundert haben sich die Diskurse über Religion in den neu entstandenen Disziplinen noch überlagert. Im 20. Jahrhundert hingegen emanzipierten sich Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Ethnologie und andere Disziplinen weitgehend von der Theologie und fragen nun gleichsam in eigener Regie nach Religion. Doch was ist Religion, und woran erkennt man sie? Was unterscheidet sie von anderen kulturellen Formen? Solche Fragen stellen sich ausschließlich für die mit Religion befassten Wissenschaften. Einen frommen Menschen hingegen mögen sie seltsam anmuten, wenn nicht gar sinnlos erscheinen. Er praktiziert seinen Glauben und weiß das, was er tut, zu bezeichnen. Das macht auf einen Unterschied aufmerksam. Die Selbstsicht der Frommen muss sich nicht mit ihrer Wahrnehmung durch externe Beobachter decken. Selbst- und Fremdwahrnehmung stimmen nicht immer überein. Jener Un‐ terschied tritt dann verstärkt auf, wenn sich das Gesichtsfeld erweitert und in einer globalen Perspektive höchst unterschiedliche ‚religiöse‘ Praktiken in den Blick rücken. Potenziert wird das genannte Problem, wenn sich solche Handlungen und Lebensformen selbst nicht als Religion bezeichnen, da in ihren kulturellen Traditionen der Begriff entweder nicht vorkommt oder sie ihn für die Beschreibung ihrer besonderen Handlungen ablehnen. Kann <?page no="138"?> Religions‐ soziologie August Comte man aber Praktiken als religiös bezeichnen, auch wenn sie sich selbst nicht so verstehen? In den verschiedenen Wissenschaften, die sich mit Religion befassen, wurden höchst unterschiedliche Vorschläge für einen Umgang mit dem angedeuteten Problem sowie für eine Definition des Religionsbegriffs un‐ terbreitet. Ein Konsens über das, was Religion ist, konnte bislang nicht erzielt werden. Das hat nicht nur methodische Gründe. Es liegt vor allem auch daran, dass sich der Begriff der Religion einer geschichtlich gewordenen Kultur verdankt, die sich selbst mit dem Religionsbegriff beschreibt. 4.1.1 Kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge Wissenschaftliche Beschreibungen der Religion sind abhängig von metho‐ dischen Voraussetzungen. Methoden präfigurieren das, was durch sie in den Blick kommt (vgl. oben 3). Sozialwissenschaften erfassen Religion als Phä‐ nomen der Gesellschaft und Kulturwissenschaften als kulturellen Gegen‐ stand. In der Religionssoziologie wird ausschließlich das Verhältnis von Re‐ ligion und Gesellschaft beschrieben. Dabei steht häufig die moderne Gesellschaft im Fokus der Aufmerksamkeit. Allerdings wird die Rolle, die der Religion in ihr zukommt, kontrovers diskutiert. Das überrascht insofern nicht, da jede Stellungnahme zu dieser Debatte bereits ein Verständnis von Religion voraussetzt. Je nachdem, was man unter ihr versteht, so viel oder wenig Religion findet man in der modernen Gesellschaft vor. Schon die Gründungsväter der modernen Soziologie, August Comte (1798-1857), Herbert Spencer (1820-1903), Émile Durkheim (1858-1917) so‐ wie Max Weber (1864-1920) und Georg Simmel (1858-1918), haben theore‐ tische Konzepte zur Erfassung der Religion der Gesellschaft ausgearbeitet. Auf unterschiedliche Weise verstanden sie die Moderne als Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung. Kontrovers wird indes die Frage beurteilt, welche Bedeutung der Religion für die Genese der modernen Welt zukommt und welche Funktion sie in dieser noch habe. Comte unterscheidet drei Sta‐ dien oder Phasen der gesellschaftlichen Evolution, (1.) das religiöse oder theologische Zeitalter, (2.) das metaphysische und schließlich (3.) das der positiven Wissenschaft. Im letzteren verschwindet ihm zufolge die Religion. Sie wird durch die modernen Wissenschaften ersetzt. Ähnliche Evolutions‐ schemata haben auch Spencer und Weber entwickelt und, wenn auch vor dem Hintergrund anderer theoretischer Grundbegriffe, die Stellung der Re‐ ligion unter den Bedingungen der Moderne eher skeptisch beurteilt. Im Zuge 138 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="139"?> der gesellschaftlichen Evolution, so ihre Überzeugung, verschwindet die Religion aus der modernen Gesellschaft. Auf die mit der gesellschaftlichen Modernisierung verbundene nachlassende Prägekraft der Religion bauen Säkularisierungstheorien auf. Säkularisierung Die Begriffsgeschichte von Säkularisierung ist vielschichtig, und sie zeigt, wie sich in dieser historiographischen und sozialgeschichtli‐ chen Deutungskategorie die unterschiedlichsten Motive überlagern. Zunächst bedeutete der lateinische Begriff saecularisatio die Verset‐ zung eines Ordensgeistlichen in den Stand eines Weltgeistlichen, also einen kirchenrechtlichen Vorgang, der im *kanonischen Recht geregelt ist. Von hier aus ging der Begriff über ins Staatskirchenrecht und meint die Überführung kirchlichen Eigentums in staatliches. Zu einem geisteswissenschaftlichen, ideenpolitischen und gesellschafts‐ theoretischen Begriff wurde Säkularisierung erst im 19. Jahrhundert ausgebildet. Allerdings geht die seitdem geprägte Fassung auf den von dem Ausdruck ganz unabhängigen Begriff der ‚Verweltlichung‘ zurück. Dadurch verbindet sich im 19. Jahrhundert mit dem staatsrechtlichen Begriff der Säkularisierung ein ganz anderes Moment. Mit Verweltlichung bezeichnete man zunächst die Überlagerung des geistlichen Auftrags der Kirche durch irdische Belange. Der Begriff meint hier einen Verfall der kirchlichen Tätigkeiten. Eine andere Bedeutung erhält Verweltlichung in der Philosophie Hegels. Seine Geschichtsphilosophie stellt die Weltgeschichte als Weg des absoluten Geistes hin zu seiner Selbsterfassung dar. Dem Christentum und vor allem der Reformation kommt in dieser Geschichtskonstruktion eine entscheidende Stellung zu. Die christliche Religion zeichne sich durch eine Versöhnung von Idee und Realität aus, und mit dem Protestantis‐ mus setze das Zeitalter der Subjektivität ein. Durch die Entdeckung der Subjektivität in der Reformation kommt es zu einer Neubestimmung der Religion. Sie realisiert sich in der Welt und nicht mehr in von ihr abgegrenzten Bereichen wie Klöstern. Die Verwirklichung der Religion ist hier in einem positiven Sinne seine Verweltlichung. Der von Hegel geprägte Begriff hat im 19. Jahrhundert eine doppelte Auslegung erfahren. Einerseits wurde die Verweltlichung des Protes‐ tantismus als dessen Erfüllung verstanden. Für Richard Rothe (1799- 4.1 Was ist Religion? 139 <?page no="140"?> Émile Durk‐ heim 1867) verwirklicht sich die Kirche, indem sie sich in den sittlichen Kul‐ turstaat aufhebt. Andererseits wurde Verweltlichung von der nachhe‐ gelschen Religionskritik als Emanzipationskategorie gebraucht. Lud‐ wig Feuerbach (1804-1872) und Karl Marx (1818-1883) knüpfen an den Hegelschen Gedanken der Verweltlichung des absoluten Geistes an, verstehen sie aber als Emanzipation von der Religion. Diese Bedeutung wurde dann auf den Säkularisierungsbegriff übertragen und führte schließlich zu dem Bedeutungsgehalt, wonach unter Säkularisierung die Befreiung der Gesellschaft von religiösen und staatlichen Autori‐ täten zu verstehen sei. Als wissenschaftliche Deskriptions- und Deutungskategorie wurde der Säkularisierungsbegriff im Kontext des deutschsprachigen Histo‐ rismus am Ende des 19. Jahrhunderts etabliert, und zwar von Wilhelm Dilthey, Max Weber und Ernst Troeltsch. „Allen drei Autoren ging es darum, mit seiner Hilfe die Entstehung der modernen Welt und deren spezifische Differenz gegenüber vorneuzeitlichen Bewußtseins‐ konstellationen zu erhellen.“ (Barth 2003, 144) Wie beschreibt die Religionssoziologie Religion? Der französische Forscher Émile Durkheim analysierte in seinem 1912 erschienenen Werk Die elemen‐ taren Formen des religiösen Lebens das Verhältnis von Religion und Gesell‐ schaft. Er fragt nach der gesellschaftlichen Funktion der Religion. Diese, so seine Beobachtung, erbringe einen unverzichtbaren Beitrag zur gesellschaft‐ lichen Integration. Eine Gesellschaft kann allein dann bestehen, wenn ihre Mitglieder ihre eigenen Interessen dem Allgemeinen unterordnen. Dazu ist eine Einschränkung des individuellen Verhaltens zugunsten des gesell‐ schaftlichen Ganzen erforderlich. Das leistet die Religion. Sie stabilisiert also die Gesellschaft, indem sie bei den Einzelnen sozial verbindliche Verhal‐ tensweisen ausbildet und habitualisiert. Die Götter der Religion repräsen‐ tieren somit das gesellschaftliche Ganze. Es ist gegenüber dem Einzelnen transzendent. Was Religion ausmacht, resultiert aus ihrer Funktion für die Gesellschaft. Sie bearbeitet ein bestimmtes Problem, das zu lösen für das Bestehen des gesellschaftlichen Ganzen notwendig ist. Mit diesem methodischen Zugang zur Religionsthematik hatte Durkheim ein Forschungsprogramm etabliert, welches im 20. Jahrhundert vielfach aufgegriffen wurde. Um die Religion der modernen Gesellschaft zu bestimmen, reicht es nicht mehr aus, 140 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="141"?> funktionale Religions‐ theorien wissensso‐ ziologische Religions‐ theorien sich an einem inhaltlich bestimmten beziehungsweise einem sogenannten substantiellen Begriff zu orientieren. Ein solcher vermag zwar Religion durch Merkmale zu definieren, etwa das Heilige, den Gottesbezug in einer bestimmten Fassung oder die Bildung einer spezifisch religiösen Gemein‐ schaft. Wo man diese Merkmale bei einer sozialen Gruppe identifiziert, liegt Religion vor. Doch der gesellschaftliche Modernisierungsprozess hat sowohl zu Veränderungen der Religion als auch der Gesellschaft geführt. Kirchliche Formen der Religion haben im 20. Jahrhundert in Europa kontinuierlich an Einfluss verloren. Aus dem Nachlassen der Prägekraft der christlichen Konfessionskirchen oder aus deren Mitgliederschwund könne allerdings nicht auf ein Verschwinden der Religion geschlossen werden. Zu rechnen sei nämlich auch mit der Möglichkeit, dass diese in der modernen Gesellschaft ihre Form verändert und unabhängig von Institutionen in individualisier‐ ter Gestalt auftritt. All das kommt im Rahmen eines inhaltlich gefassten Religionsbegriffs nicht in den Blick. Um methodisch Transformationen der Religion in der modernen Gesellschaft analysieren zu können, nahm man den Vorschlag von Durkheim auf und fragte nach deren Funktion. Im Rückgriff auf die soziologischen Klassiker der Moderne wurden seit den 1960er Jahren funktionale Religionstheorien ausgearbeitet. Das setzt nicht nur einen erweiterten Religionsbegriff voraus, der nicht mehr mit der dogmatischen Selbstbeschreibung der kirchlichen Religionsform zusam‐ menfiel, sondern auch einen veränderten Theorierahmen. In nahezu allen religionssoziologischen Konzeptionen, wie sie seit den 1960er Jahren aus‐ gearbeitet wurden, avancierte der Sinnbegriff zur Leitkategorie der Religi‐ onssoziologie. Dadurch wurde es möglich, Religion auch dort zu identifi‐ zieren, wo sie nicht in Form von Kirchlichkeit auftrat. Für die weitere Debatte bestimmend wurden insbesondere zwei religionssoziologische Mo‐ delle: ein *wissenssoziologisches und ein *systemtheoretisches. Wissenssoziologische Religionstheorien, wie sie Peter L. Berger (1929- 2017) und Thomas Luckmann (1927-2016) im Anschluss an Alfred Schütz (1899-1959) vorgeschlagen haben, zeichnen sich durch ein Doppeltes aus. Sie arbeiten einerseits einen funktionalen Religionsbegriff aus, da nur dieser soziologisch relevant sei, und andererseits versuchen sie, diesen Re‐ ligionsbegriff mit einer gesellschaftlichen Evolutionstheorie zu verbinden. Auf der genannten methodischen Grundlage versteht Luckmann Religion als einen Bestandteil des Sozialisationsprozesses. Die Aneignung einer sinnhaften Weltsicht durch ein Individuum im Prozess der Sozialisierung sei bereits ein religiöser Vorgang. Denn indem das Individuum durch die 4.1 Was ist Religion? 141 <?page no="142"?> systemthe‐ oretische Religions‐ soziologie Aneignung einer Weltsicht in die symbolische Ordnung einer Gesellschaft eingebunden wird, transzendiert es seine biologische Natur. Religion ist folglich im Menschsein als solchem verankert. Deshalb ist sie universal. Sie ist auch nicht an Institutionen gebunden. Religion ist viel elementarer, da sie auf anthropologischen Grundlagen beruht. Deshalb könne vom Bedeutungsverlust der kirchlichen Organisationsformen in der Moderne nicht auf den der Religion zurückgeschlossen werden. Vielmehr ändere die Religion ihre Formen. In der Moderne wird aus ihrer kirchlichen Form eine unsichtbare und individualisierte Religion, die in vielerlei Gestalten auftritt. Die Privatsphäre oder die eigene Biographie werden zu religiösen Themen. Von einer Säkularisierung im Sinne eines Bedeutungsverlusts oder gar eines Verschwindens der Religion könne also keine Rede sein. Sie ändert ihre Form, so dass Säkularisierung als Entinstitutionalisierung und Privatisierung der Religion zu verstehen ist. Sinn ist auch der Grundbegriff der systemtheoretischen Religionssozio‐ logie von Niklas Luhmann (1927-1998), des zweiten Modells, welches die nachfolgende Debatte nachhaltig bestimmte. Im Unterschied zu Berger und Luckmann ist Luhmann allerdings der Auffassung, der Bezugspunkt der Re‐ ligion sei die Gesellschaft und nicht das Individuum. Religion hat also keine anthropologische Funktion, wohl aber eine unverzichtbare gesellschaftliche. Ihre notwendige Funktion für die Gesellschaft besteht darin, Sinnvertrauen zu generieren. Diese Funktion ist das Resultat der gesellschaftlichen Ent‐ wicklung, die zu einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Subsysteme führte, die nur noch ihrer eigenen Funktions‐ logik folgen. Jedes gesellschaftliche System operiert im Medium Sinn, und jedes soziale System hat eine Umwelt, die es nur systemintern und selektiv wahrnehmen kann. Damit ist ein doppeltes Strukturproblem verbunden. Ei‐ nerseits tritt in jedem System-Umwelt-Verhältnis eine Duplizität von Be‐ stimmtheit und Unbestimmtheit auf, und andererseits liegt die Eigenart von Sinn darin, zugleich komplexitätsreduzierend und komplexitätssteigernd zu sein. Beide genannten Aspekte sind offensichtlich strukturanalog: Das un‐ reduzierbare Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit reproduziert sich fortlaufend in jeder Operation eines Systems. Denn jede Bestimmung ist eine Auswahl aus unendlichen Möglichkeiten, die zugleich wiederum unendliche Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Mit diesem Strukturproblem ist nicht nur jedes gesellschaftliche System konfrontiert, aus ihm resultiert auch die Notwendigkeit der Religion für die Gesellschaft: Angesichts der von den Systemen produzierten Überkomplexität von Sinn generiert sie 142 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="143"?> Probleme funktiona‐ ler Religi‐ onstheorien Sinnvertrauen. Sie setzt Bestimmtes an die Stelle des Unbestimmten und macht es so benennbar. Die Eigenlogik der Operationen des Religionssys‐ tems ist durch seinen Code von Transzendenz und Immanenz sowie ihre Kontingenzformel Gott charakterisiert. Auch mit der systemtheoretischen Fassung der Religionssoziologie ist ein Säkularisierungsbegriff verbunden. Er meint weder einen Bedeutungs‐ verlust der Religion für die Gesellschaft noch ihren Funktionsverlust oder gar ihr Verschwinden aus der Gesellschaft. Säkularisierung ist vielmehr der Titel für den Vorgang der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Letztere bedeutet nichts anderes, als dass jedes System in selbstreferentieller Geschlossenheit nur noch seiner Eigenlogik folgt. Wirtschaft, Recht, Politik, Kunst etc. nehmen also keine religiöse Funktion mehr wahr. Die Umwelt der Religion erscheint aus deren Perspektive als säkular, aber das besagt nichts über sie selbst und ihre notwendige gesellschaftliche Bedeutung. In beiden religionssoziologischen Modellen, dem wissenssoziologischen und dem systemtheoretischen, behält die Religion auch in der modernen Gesellschaft eine grundlegende Funktion, sei es für die Einbindung des In‐ dividuums in die Gesellschaft oder für diese selbst. Religion und moderne Gesellschaft schließen sich folglich nicht aus. Die bleibende Universalität der Religion resultiert aus ihrer Funktion für den Menschen oder die Ge‐ sellschaft. Wo immer eine solche Funktion erfüllt wird, da liegt Religion vor. Eine derartige funktionale Theorie ist jedoch nicht unproblematisch. Zu‐ nächst hat sie die Tendenz, Religion zu inflationieren. Alle sozialen Hand‐ lungen, welche Sinnvertrauen generieren, *Kontingenz bewältigen oder in die Gesellschaft integrieren, haben als Religion zu gelten. Alternative Le‐ bensstile, Müsli-Essen, Sport und anderes mehr können so als Religion ge‐ deutet werden. Sodann blenden funktionale Religionstheorien die Teilneh‐ merperspektive aus. Über das Vorkommen von Religion in der Gesellschaft entscheiden Religionstheoretikerinnen und Religionstheoretiker. Sie unter‐ stellen Religion unabhängig davon, ob die sozialen Akteure ihr Handeln re‐ ligiös verstehen oder nicht. Welche analytische Erschließungskraft hat je‐ doch ein Religionsbegriff, der Religion in einem gesellschaftlichen Handeln identifiziert, das von den Handelnden selbst gar nicht religiös gemeint ist? Und schließlich gesteht eine funktionale Religionsbestimmung immer schon zu, dass die religiöse Funktion auch anders und vielleicht viel besser als durch Religion erfüllt werden kann. Angesichts der Probleme von funktionalen Religionsbegriffen wurde vorgeschlagen, diese mit inhaltlichen Merkmalen zu verknüpfen. Dadurch 4.1 Was ist Religion? 143 <?page no="144"?> kulturwis‐ senschaftli‐ che Religi‐ onstheorien Clifford Geertz lässt sich zwar die Unbestimmtheit des Religionsbegriffs, sein inflationärer Gebrauch kritisch eindämmen, gleichwohl bleibt aber die Frage, ob ein von der Teilnehmerperspektive abgelöstes Religionsverständnis analytisch gehaltvoll sein kann. Auch in kulturwissenschaftlichen Beschreibungen der Religion haben sich funktionale Deutungen etabliert. Sie lösten evolutionistische Konzep‐ tionen, wie sie durch Edward Burnett Tylor (1832-1917) erstellt wurden, ab. Entwicklungsgeschichtliche Religionstheorien Entwicklungsgeschichtliche Religionstheorien interessieren sich für die Frage nach dem Ursprung der Religion. Viele Forscher im 19. Jahr‐ hundert waren der Überzeugung, sogenannte ‚primitive’ Kulturen repräsentieren frühe Stufen der menschlichen Entwicklung, so dass sie Aufschluss über die Anfänge der religionsgeschichtlichen Entwicklung geben. Vor diesem Hintergrund arbeitete der britische Anthropologe Edward Burnett Tylor in seinem Buch Primitive Culture (1871) eine entwicklungsgeschichtliche Theorie der Religion aus. Er meinte, am Anfang der Religionsgeschichte stehe ein Animismus, ein Glaube an geistige Wesen. Alle höheren Formen der Religion haben sich aus ihm entwickelt. Einen anderen Akzent setzt James Georg Frazer (1854- 1941) in seinem Buch The Golden Bough (1890). Für ihn steht am Anfang der Menschheitsgeschichte die Magie. Aus ihr gehen ähnlich wie in dem Stufenschema von Comte im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zunächst die Religion und später die Wissenschaft hervor. Wie in anderen Wissenschaften blieben die mit funktionalen Religionsbe‐ griffen verbundenen Schwierigkeiten in Kulturanthropologie und Ethnolo‐ gie nicht verborgen und führten zu einem Umdenken. Grundlegende Im‐ pulse zu einer deutenden Kulturtheorie gingen vor allem von dem Kulturanthropologen Clifford Geertz (1926-2006) aus. Im Anschluss an Max Weber, die Symboltheorien Ernst Cassirers (1874-1945) und Susanne K. Langers (1895-1985) legte er in seiner Studie Dichte Beschreibung eine Kon‐ zeption vor, die auf eine Interpretation von sozialen Handlungen aus der Perspektive der Handelnden zielt. Aufgabe einer Kulturanthropologie sei es, soziale Handlungen und deren symbolische Darstellungen zu deuten. Hand‐ lungen sind einem Beobachter aber weder direkt zugänglich noch lassen sie sich auf gleichsam objektive Grundlagen zurückführen. Die Möglichkeit, 144 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="145"?> jene photographisch abzubilden, besteht insofern nicht, da man dann ihre spezifische Eigenart verfehlt hätte. Intention sowie Motive von handelnden Akteuren sind per definitionem nicht sichtbar. Folglich können Handlungen und ihre Bedeutungen nur im Sinne einer dichten Beschreibung erfasst wer‐ den. Hierzu muss die Perspektive der sozialen Akteure eingenommen wer‐ den, die freilich nur als Deutung oder interpretierende Beschreibung zu‐ gänglich ist. Kultur und Religion erscheinen in diesem theoretischen Rahmen als geschichtlich gewordene Zeichensysteme, in denen sich Bedeu‐ tungen überlagern und die ihren Ausdruck in Handlungen finden. Ganz in diesem Sinne schlug Geertz eine förmliche Definition der Religion vor. Clifford Geertz’ Bestimmung der Religion Religion sei „(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfas‐ sende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung for‐ muliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen“ (Geertz 1987, 48). Wie auch immer man die von Geertz selbst vorgeschlagene Bestimmung der Religion - sie steht im Gegensatz zu seinem methodischen Ansatz - im Einzelnen bewerten mag, seine deutende Kulturtheorie hat weitreichende Konsequenzen für die Fassung eines Religionsbegriffs. Erwähnenswert sind vor allem drei Aspekte. Zunächst ist mit dem Ansatz einer dichten Beschrei‐ bung die Alternative von funktionalen und substantiellen Verständnissen der Religion überwunden. Sodann kommt Religion als ein Zeichengebrauch in den Blick, von dem die Zeichenbenutzer wissen, dass sie mit den Zei‐ chen Religion meinen. Religion ist eine eigene deutende Beschreibung der Wirklichkeit neben anderen Zeichenuniversen. Und schließlich ist Religion einer auf sie bezogenen Wissenschaft nur als dichte Beschreibung, also als Konstruktion ihrer Selbstsicht zugänglich. L IT E R ATU R : Ulrich Barth: Säkularisierung. Die soziokulturelle Transformation der Religion, in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 127-165. Peter L. Berger/ Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.-M. 1969. 3 1980. 4.1 Was ist Religion? 145 <?page no="146"?> moderner Religions‐ begriff Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Berlin 3 2014. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.-M. 1983. Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2 2006. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.-M. 1991. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hrsg. v. Andre Kieserling, Frank‐ furt a.-M. 2000. Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a.-M. 3 1992. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007. 4.1.2 Der allgemeine Religionsbegriff und seine Probleme Religion ist ein akademisches Konstrukt, welches dazu dient, lebenswelt‐ liche Phänomene theoretisch zu erfassen. In diesem Sinne fungiert der Religionsbegriff seit 1800 als Grundlage der protestantischen Theologie (vgl. oben 2.5). Mit der Entstehung der Religionsgeschichte sowie der Religionswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist er auch zu einem Grundbegriff anderer Wissenschaften geworden und in die Alltagssprache eingewandert. Religion bezeichnet ein gleichsam natürliches universales menschliches Phänomen, welches sich von anderen kulturellen Formen unterscheidet und sowohl innere Religiosität als auch symbolische Formen und Institutionen umfasst. Doch dieses Verständnis von Religion im Sinne eines Allgemeinbegriffs ist weder einfach vom Himmel gefallen noch irgendwie im Menschen angelegt. Es verdankt sich der neueren Christentumsgeschichte und ist ein modernes Konzept. Frühere Epochen des Christentums kennen es ebenso wenig wie nichteuropäische Kulturen. Entstanden ist das moderne Verständnis von Religion im Zeitalter der europäischen Aufklärung. Zwar kennt bereits die Antike religio im Sinne einer gewissenhaften Beobachtung der kultischen Verehrung der Götter (la‐ teinisch: relegere, überdenken, zuschreiben) sowie einer Verpflichtung ge‐ genüber Gott (lateinisch: religare, anbinden), aber das Wort bezeichnet hier keinen Allgemeinbegriff oder eine eigene Kulturform in Abgrenzung zu an‐ deren. Es bezieht sich auf den Kultus und die Gottesverehrung als Element in einem komplexen kulturellen Gesamtzusammenhang. Das Wort religio fungiert auch nicht zur Kennzeichnung von anderen, fremden Religions‐ kulturen. Kulturelle Differenzen markiert die Antike mit anderen Begriffen wie Häresie, Sekte oder Ethnie. An diesem Sprachgebrauch halten sowohl 146 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="147"?> europäi‐ scher Kolo‐ nialismus Probleme des Religi‐ onsbegriffs das Mittelalter als auch die Reformatoren noch fest. Religio ist das monasti‐ sche Leben in Klöstern und kein Allgemeinbegriff. Ein Wandel im Verständ‐ nis von religio tritt seit der Renaissance und Reformation ein. Im Hinter‐ grund stehen die Entdeckungsreisen der frühen Neuzeit, die konfessionelle Pluralisierung infolge der Reformation. Beides führt zur Herausbildung ei‐ nes neuen Verständnisses von Religion im Sinne eines Allgemeinbegriffs, die wie die natürliche Religion des englischen Deismus zur Vernunftstruktur des Menschen gehört (vgl. oben 2.4.1). Von der europäischen Aufklärung wurde dieser Religionsbegriff im Sinne eines Allgemeinbegriffs weiterent‐ wickelt. Religion meint nun nicht mehr allein die religio christiana, sondern auch die der Juden, Muslime und ‚Heiden‘. Sie alle können nun unter einem Begriff zusammengefasst werden, da ihnen ein gemeinsames Wesen der Re‐ ligion zugrunde liegt, welches sich in divergierenden Bildern und Vorstel‐ lungen darstellt. Bedingt durch den europäischen Kolonialismus, mit ihm verbundene weltweite Austauschprozesse, globalen Reiseverkehr kam es zur Universa‐ lisierung des in der Christentumsgeschichte der Neuzeit geprägten Religi‐ onsbegriffs. Kulturelle Differenz und Fremdheit repräsentiert nun Religion. Der Begriff erfasst komplexe Traditionen, indem er sie uniformiert und in Analogie zum Christentum als religiöse Gemeinschaften imaginiert. So ent‐ stehen im 19. Jahrhundert die sogenannten Weltreligionen. Eine weitere Nuance in der Konstruktion von Religion bringt die Entwicklung der Na‐ turwissenschaften in der zweiten Hälfte des Säkulums. In komplexen Ab‐ grenzungsprozessen von naturwissenschaftlichen Weltbeschreibungen eta‐ bliert sich in den europäischen Religionsdiskursen ein innerlichkeitsbezogenes Religionsverständnis. Es wird in komplexen Austauschprozessen auf nichteuropäische Kulturen übertragen und in diesen rezipiert. Auf diese Weise setzt sich in den global gewordenen Diskursen über Religion am Ende des 19.-Jahrhunderts eine Konstruktion von Religion durch, die bis in die Gegenwart die Debatten bestimmt. Religion erscheint als etwas quasi naturhaft Gegebenes, welches zur conditio humana gehört und deshalb universal ist. Der Religionsbegriff ist ein modernes Konstrukt. Er verdankt sich abend‐ ländischen Religionsgeschichten und dem europäischen Kolonialismus. In den religionswissenschaftlichen Debatten wird seit dem Ende des 20. Jahr‐ hunderts darüber diskutiert, ob man den Begriff überhaupt sinnvoll zur Er‐ fassung von vormodernen und außereuropäischen Kulturen verwenden könne. Welche analytische Prägnanz hat ein Begriff zur Erforschung von 4.1 Was ist Religion? 147 <?page no="148"?> Kulturen, die weder ihn noch die mit ihm verbundenen Unterscheidungen kennen? Für nichteuropäische Kulturen ist der Religionsbegriff ein Erbe des Kolonialismus. Er schreibt diesen nicht nur mit anderen Mitteln fort, er ha‐ bitualisiert auch europäische Machtstrukturen. Folglich sei, wie im Post-Strukturalismus und Post-Kolonialismus geltend gemacht wird, auf den Religionsbegriff zu verzichten. Doch auch die Entwicklung der protes‐ tantischen Theologie führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Kritik am Begriff der Religion (vgl. oben 2.6.2). Welcher Begriff könnte aber an die Stelle des Religionsbegriffs treten? Ohne ihn lassen sich keine religiösen Phänomene identifizieren. Man muss schon wissen, was Religion ist, um sie erkennen zu können. Ein allgemei‐ ner Religionsbegriff sei deshalb, wie immer wieder behauptet wird, für Religionswissenschaften und Theologie notwendig. Gleichwohl sind mit dem Religionsbegriff auch systematische Probleme verbunden, die vor dem Hintergrund seiner post-strukturalistischen und post-kolonialen Kritik eine Neufassung fordern. Ein universaler Religionsbegriff tendiert nämlich dazu, die Diversität der Religionen, von der er ausgeht, monistisch zu reduzieren. Er imaginiert einen einheitlichen Kern, der in allen Religionen identisch sei. Unterschieden sind geschichtliche Religionen durch ihre Bilder, Vorstellun‐ gen und symbolischen Formen, nicht jedoch durch das ‚Religiöse‘, welches ihnen allen zugrunde liegt. Damit kommen im Rahmen eines allgemeinen Religionsbegriffs religiöse Traditionen lediglich als geschichtliche Ausprä‐ gungen eines sie übergreifenden Allgemeinen in den Blick. Differenzen zwischen Religionen liegen mithin auf der Inhaltsebene, die jedoch nur eine unwesentliche Oberfläche darstellt. Im Resultat hebt ein allgemeiner Religionsbegriff die Besonderheit der geschichtlichen Religionen auf. Wenn, wie in dieser Systematischen Theologie vorgeschlagen, am Religi‐ onsbegriff festgehalten werden soll, dann ist das nur möglich, wenn in seine Konstruktion die Kritik an ihm aufgenommen wird. Das bedeutet vor allem, den Religionsbegriff zu beschränken und auf ihn als anthropologischen Universalbegriff zu verzichten. 148 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="149"?> Neubestim‐ mung des Religions‐ begriffs L IT E R ATU R : Talal Asad: Genealogies of Religion. Disciplines and Reasons of Power in Christi‐ anity and Islam, Baltimore 1993. Michael Bergunder: Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: ZfR 19 (2011), 3-55. Brent Nongbri: Before Religion. A History of a Modern Concept, New Haven/ Lon‐ don 2013. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, 17-42. Jonathan Z. Smith: Religion, Religions, Religious, in: ders.: Relating Religion. Essays in the Study of Religion, Chicago/ London 2004, 179-196. Yan Suarsana: Gott, ein Gefüge. Poststrukturalistische Überlegungen zur Theologie der Religionen, Göttingen 2022. 4.1.3 Christliche Religion als Kommunikationsgeschehen Religion ist ein zentraler Begriff der Selbstverständigungsdebatten der Mo‐ derne. Doch seiner gegenwärtigen globalen Benutzung in akademischen Diskursen und im Alltag ungeachtet, ist seine Verwendung als Allgemein‐ begriff mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die aus seiner modernen Entstehungsgeschichte resultieren. Wie der Überblick über die Entwick‐ lungsgeschichte der protestantischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert gezeigt hat, ist der Religionsbegriff auch in ihr umstritten. Aufnehmen kann man ihn folglich nur im Durchgang durch die theologische und religions‐ wissenschaftliche Kritik an ihm. Das führt dazu, auf einen allgemeinen an‐ thropologischen Religionsbegriff, der Religion in der menschlichen Natur gleichsam verankert, in der Systematischen Theologie zu verzichten und den Begriff der Religion auf das Christentum zu beschränken. Damit soll freilich nicht behauptet werden, nur dieses sei Religion oder gar die einzig wahre (vgl. unten 4.2.2). Vielmehr dient der Religionsbegriff zur gedanklichen Durchdringung des Gegenstands der Systematischen Theologie. Ihre Auf‐ gabe ist es, das innere Funktionieren der christlichen Religion aus der Sicht der sie Praktizierenden zu erfassen. Eben das ist einer Systematischen Theo‐ logie jedoch lediglich als Konstruktion möglich, so dass auch ihr Religions‐ begriff ihr eigenes Konstrukt bleibt. Wie konstruiert Systematische Theologie die christliche Religion, wenn sie die theologischen Bestimmungen von ihr aufnimmt und weiterführt, die in ihrer Entwicklungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert ausgearbeitet 4.1 Was ist Religion? 149 <?page no="150"?> zirkuläre Struktur wurden? Da in diesen komplexen Prozessen um 1800 ein bereits gegebener religiöser Gegenstand und um 1900 ein vorgegebenes religiöses Subjekt als mögliche Begründungen und Ableitungen von Religion aufgelöst wurden, bleibt nur noch, den Zirkel selbst zum Ausgangspunkt zu nehmen, in dem Religion in der Benutzung von religiösen Inhalten entsteht. Gott und reli‐ giöses Subjekt sind Bestandteile der christlichen Religion, aber keine Vor‐ aussetzungen, aus denen sie hergeleitet werden könnte. Das zeigt sich an jedem Versuch, sie entweder im Ausgang von einem vorausgesetzten Got‐ tesgedanken oder einem religiösen Subjekt zu fundieren. Stets wird dabei ein Element ihrer zirkulären Struktur als Grundlage postuliert, die sie mög‐ lich macht. Die christliche Religion besteht im religiösen Gebrauch der Erinnerung an Jesus Christus. Als Religion entsteht diese allein in der religiösen Benutzung, die von ihr in der Kommunikation gemacht wird. Ihr Religionsein hängt nicht an den kommunizierten Inhalten, also der Erinnerung an Jesus Chris‐ tus. Inhalte, Zeichen und Bilder geben nämlich noch keine hinreichende Auskunft darüber, ob sie religiös gemeint sind. Sie können jederzeit auch in nichtreligiösem Sinn in der Kommunikation verwendet werden, zum Beispiel in historischer oder ästhetischer Absicht. Es bedarf einer Ebene ‚hinter‘ den Zeichen, um über ihr Religionsein Auskunft zu geben. Von der Theologie des 19. Jahrhunderts wurde deshalb eine im Subjekt bereits angelegte Religion unterstellt, um die religiöse Verwendung von Zeichen zu erklären. Die Theologie des frühen 20. Jahrhunderts löste diese religiöse Anlage auf und überführte sie in den Vollzug der christlichen Religion, mit dem sich religiöse Inhalte zugleich konstituieren. Damit ist die religiöse Bedeutung von Inhalten Bestandteil der christlichen Religion selbst und ihres Wissens, Religion zu sein. Doch der Vollzug, der in diesen Theorien den religiösen Sinn der Inhalte erklären soll, ist zu unbestimmt und allgemein, um dies leisten zu können. Um das Entstehen der christlichen Religion im Gebrauch von Inhalten in der Kommunikation besser erfassen zu können, ist eine komplexere Struktur notwendig: der dreipolige Zirkel von Inhalt, An‐ eignung und Artikulation. Aus und in diesem Wechselverhältnis konstituiert sich die Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation als christliche Religion. Entstehen kann die christliche Religion nur, wenn sie bereits als eine ei‐ gene ausdifferenzierte und erkennbare Form von Kommunikation in der Kultur existiert. Christliche Religion ist abhängig von der Erinnerung an Jesus Christus, die in der Kultur weitergegeben wird. Das ist das erste Ele‐ 150 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="151"?> Inhalt Aneignung Artikulation ment ihrer dreipoligen zirkulären Struktur. Sie ist abhängig von Inhalten und setzt sich selbst schon voraus. Der christlichen Religion liegt somit kein vorausgesetztes religiöses Subjekt zugrunde, sondern sie selbst, wie sie in der Kultur an diverse Medien gebunden überliefert wird. Erkennbar als christliche Religion ist sie, wenn sie inhaltlich bestimmt ist. Sie existiert nur als konkrete inhaltliche Erinnerung an Jesus Christus. Doch die christ‐ lich-religiöse Kommunikation und ihre Medien sind selbst noch nicht Reli‐ gion, sondern lediglich Hinweis auf sie, da kommunizierte Inhalte als solche keine Auskunft über ihr Religionsein geben. Zur Religion wird die in der Kultur kommunizierte Erinnerung an Jesus Christus erst, wenn sie von Menschen als Religion angeeignet wird. Aneig‐ nung bildet das zweite Strukturmoment des dreipoligen Wechselverhältnis‐ ses. Es muss zu dem ersten hinzukommen, da die verstehende Aneignung noch nicht in der überlieferten christlich-religiösen Kommunikation ent‐ halten ist. Die Aneignung stellt ein eigenes Element dar, welches zwar auf das erste Strukturmoment bezogen, aber aus ihm weder ableitbar noch auf es reduzierbar ist. Dass die überlieferte Erinnerung an Jesus Christus von Menschen religiös aufgenommen und verstanden wird, ist kontingent und aus den Inhalten nicht begründbar. Christliche Religion konstituiert sich, indem kommunizierte Inhalte religiös verstanden werden, also zwischen den Inhalten und der religiösen Mitteilung unterschieden wird. Zu ihrer Konstitution bedarf es folglich keines eigentlichen oder identischen Verste‐ hens von kommunizierten Inhalten, sondern lediglich der Unterscheidung von Mitteilung und Information. Im aneignenden Verstehen der christ‐ lich-religiösen Kommunikation werden die kommunizierten Inhalte zur Voraussetzung, aus der die christliche Religion entsteht. Diese entspringt aus dem Wort Gottes, doch dieses als ein den Menschen anredendes Wort entsteht mit ihr zusammen. Es bedarf noch eines weiteren Elements, damit die Erinnerung an Jesus Christus als Religion in der Kultur erscheinen kann. Es ist die Artikulation der angeeigneten christlich-religiösen Kommunikation. Auch sie stellt ein eigenes Strukturmoment in dem dreipoligen Zirkel dar, welches auf die bei‐ den ersten Elemente bezogen, aber mit ihnen noch nicht gegeben ist. Men‐ schen müssen die aufgenommene christlich-religiöse Kommunikation in ih‐ rer eigenen religiösen Kommunikation benutzen. Das ist nicht ohne symbolische Formen und Zeichen möglich. Erst durch Artikulation er‐ scheint die Erinnerung an Jesus Christus sichtbar als Religion in der Kultur. Existenz erlangt sie nur, indem sie sich materialisiert und verkörpert. Die 4.1 Was ist Religion? 151 <?page no="152"?> triadisches Wechsel‐ verhältnis symbolische Artikulation der christlichen Religion, ohne die sie nicht in die Kultur eintreten und weitergegeben werden kann, ist ein performativer Akt. Er produziert das, was er bezeichnet. Doch die symbolische Darstellung der angeeigneten Erinnerung an Jesus Christus ist, wie diese selbst, keine bloße (identische) Reproduktion, sondern deren individuelle Neuschaffung und Transformation. Indem Menschen christlich-religiöse Kommunikation ver‐ stehend als Religion aufnehmen und artikulieren, gestalten sie sie schöpfe‐ risch individuell neu. Mit den drei Strukturelementen Inhalt, Aneignung und Artikulation ist der Religionsbegriff der Systematischen Theologie abgeleitet. Er konstruiert die Selbstsicht der christlichen Religion als ein selbstbezügliches, durch‐ sichtiges und strukturiertes Kommunikationsgeschehen. Die christliche Re‐ ligion ist eine kommunikativ hergestellte Weltsicht, die in und aus dem triadischen Wechselverhältnis der Kommunikation zustande kommt. Als eine eigene Sinnform in der Kultur konstituiert sie sich durch ihre drei Ele‐ mente zusammen. Eine Rückführung auf eines ihrer Strukturelemente schei‐ det aus. Damit sind die klassischen Grundlegungen der christlichen Religion in einem ihr bereits vorgegebenen metaphysischen Gottesgedanken oder einem religiösen Subjekt in die zirkuläre Struktur der christlich-religiösen Kommunikation überführt. Sie, die christliche Religion, entsteht in der re‐ ligiösen Aneignung und Benutzung von Inhalten der Kommunikation. Das Wissen der sie Praktizierenden, mit ihren Inhalten die christliche Religion zu kommunizieren, ist ein Bestandteil von ihr selbst. Eine unbewusste oder unsichtbare Religion ist folglich schon in der Grundlegung der christlichen Religion ausgeschieden. Der Religionsbegriff der Systematischen Theologie dient der gedankli‐ chen Klärung der christlichen Religion und ihrer inneren Funktionsweise als Religion. Er knüpft an die Entwicklungsgeschichte der protestantischen Theologie in der Moderne an und überträgt das in dieser ausgearbeitete Offenbarungsverständnis auf die christliche Religion, um diese als ein selbst‐ bezügliches, durchsichtiges und strukturiertes Kommunikationsgeschehen zu erfassen. Auf eine Übertragung dieses Religionsbegriffs auf andere, nichtchristliche Religionen wird hier ausdrücklich verzichtet, denn er be‐ schreibt die Besonderheit und Absolutheit des Christentums als Religion und erörtert dessen hermeneutische Struktur. Was das für das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen bedeutet, ist im folgenden Abschnitt auszuführen. 152 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="153"?> L IT E R ATU R : Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/ 1, Zürich 8 1964, 311-367. Ulrich Barth: Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektiven, in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2005, 29-87. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 11 2021. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 118-130. Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2018, 409-448. Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.-M. 5 1994, 191-241. Armin Nassehi: Religiöse Kommunikation: Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, 169-203. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 29-55. 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 4.2.1 Religionstheologische Diskurse: Gibt es eine absolute Religion? Das Christentum ist eine Religion unter vielen anderen. Es entsteht in der religiösen Aneignung und symbolischen Artikulation der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus. Christlich-religiöse Kommunikation gelingt, indem diese Erinnerung von Menschen als Religion verstanden und sowohl von nichtreligiösen als auch von andersreligiösen Formen der Kommuni‐ kation unterschieden wird. Ihre religiöse Identität entsteht durch in der symbolischen Kommunikation hergestellte Exklusionen. Mittels der in die Kommunikation eingebundenen wiederholenden Selbstbeschreibungen verkörpert sich die christliche Religion in der Kultur und produziert ihre religiöse Identität jeweils neu in und mit ihren symbolischen Selbstdarstel‐ lungen. Darin bestehen ihre religiöse Gewissheit sowie Absolutheit. Aus dieser Konstellation entsteht die Frage, ob es so etwas wie eine absolute 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 153 <?page no="154"?> Die Abso‐ lutheit des Christen‐ tums Religion gibt, die allen anderen überlegen ist. Mit ihr beschäftigen sich sogenannte Theologien der Religionen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts entstanden sind. Allerdings ist diese Problemstellung, worauf bereits Ernst Troeltsch in seiner Abhandlung Die Absolutheit des Christentums und die Religionsge‐ schichte aus dem Jahre 1902 hinwies, eine durchaus moderne. Sie hat selbst eine ganze Reihe von religionsgeschichtlichen Voraussetzungen. Zunächst setzt sie die Auflösung der vormaligen übernatürlichen Begründung des Christentums durch die geoffenbarte und inspirierte Bibel voraus. Erst die Destruktion der gleichsam göttlichen Autorität der Heiligen Schrift sowie die Etablierung eines allgemeinen Religionsbegriffs als Grundlage der Theo‐ logie in der Aufklärung eröffnet den Blick auf die Religionsgeschichte. Diese wiederum wirft die Frage nach der Stellung des Christentums in ihr auf. Durch zunehmende Kenntnisse nichtchristlicher Religionskulturen, Uni‐ versalisierungen des Religions- und Gottesbegriffs im 19. Jahrhundert in Folge des europäischen Kolonialismus werden sodann die Möglichkeiten des Vergleichs von Religionen geschaffen. Sie lassen sich zunächst noch durch Konstruktionen bearbeiten, in denen das Christentum als die höchstmögli‐ che Entwicklungsstufe erscheint. So führt die Transformation der durch Gottes Offenbarung selbst gestifteten wahren Religion in die Frage nach der Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte noch nicht zur Preis‐ gabe des christlichen Überlegenheitsanspruchs. Er wurde lediglich mit an‐ deren Mitteln reformuliert. Erst um 1900 kommt es, wie Troeltschs Schrift von 1902 zeigt, zu einem Wandel (vgl. oben 2.6.1). Er ordnet das Christentum in die Religionsgeschichte ein und versteht die großen religiösen Traditio‐ nen dieser Welt als prinzipiell gleichrangige geschichtliche Ausprägungen eines ihnen gemeinsamen inneren religiösen Kerns. Auf dieser Grundlage relativiert sich die Höchstgeltung der christlichen Religion auf den euroa‐ merikanischen Kulturkreis. Für die Debatten über das Verhältnis des Christentums zu nichtchristli‐ chen Religionen im 21. Jahrhundert sind noch zwei weitere Aspekte von Bedeutung. Sie betreffen die theologiegeschichtliche Entwicklung im 20. Jahrhundert. In der protestantischen Theologie etablierten sich nach dem Ersten Weltkrieg Konzeptionen, die ihren Ausgang von der Offenbarung Gottes in der Geschichte nahmen (vgl. oben 2.6.2). Die bis dahin die Debatten beherrschende Frage nach der Stellung des Christentums in der Religions‐ geschichte wurde verlassen. Statt des Religionsbegriffs avancierte die Chris‐ 154 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="155"?> Offenba‐ rungstheo‐ logie und Christomo‐ nismus ontologi‐ sche Mo‐ delle einer Heilsge‐ schichte tologie zur Grundlage der Theologie. Offenbarungstheologie und Christo‐ monismus schienen eine Überlegenheit des Christentums gegenüber den anderen Religionen zu propagieren und der Absolutheit des Christentums eine neue, nun offenbarungstheologische Begründung zu geben. Dieser Christomonismus der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, der mit einer Zurückdrängung des Religionsthemas einherging, bildet den einen problemgeschichtlichen Hintergrund der neueren religionstheologischen Debatten. Hinzu kommt zweitens der Inklusivismus der römisch-katholi‐ schen Theologie. Anders als in der protestantischen Theologie kam es in der römisch-katholischen zu einer Erneuerung von metaphysisch-ontologi‐ schen Religionsverständnissen. Einflussreiche Theologen wie Karl Rahner (1904-1984) verknüpften in ihren Konzeptionen im Anschluss an die Philo‐ sophie Martin Heideggers (1889-1976) moderne Motive mit dem mittelal‐ terlichen Thomismus. Rahners Transzendentaltheologie zufolge ist der Mensch als solcher bereits unthematisch auf Gott bezogen. Das Gottesver‐ hältnis ist ein ‚übernatürliches Existential‘, also im Menschsein angelegt. In Jesus Christus ist diese anthropologische Grundbestimmung auf unüber‐ bietbare Weise in der Geschichte realisiert. Durch Rahners Theologie wur‐ den ontologische Modelle einer Heilsgeschichte wiederbelebt, die es erlaub‐ ten, die Welt der Religionen auf die römisch-katholische Kirche als deren Zentrum und Mittelpunkt zu beziehen. Seine Begründung erhält diese Kon‐ struktion durch das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche, Verlängerung der Menschwerdung Gottes in der Geschichte zu sein. Auf der Grundlage dieses Kirchenverständnisses hat das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) die Welt der Religionen um das Zentrum der römisch-katholi‐ schen Kirche kartographiert. So erklärte das Konzils-Dokument Nostra Ae‐ tate, auch in den nichtchristlichen Religionen sei Heil und Wahrheit zu fin‐ den, beides sei aber allein in der römisch-katholischen Kirche auf unüberbietbare Weise verwirklicht. Da sich in den anderen Religionen le‐ diglich Spuren von Heil und Wahrheit finden, bleiben sie gegenüber der römisch-katholischen Kirche auch defizitär. Sowohl gegen den Christomonismus der protestantischen Theologie als auch gegen den Inklusivismus der römisch-katholischen richtete sich seit den 1980er Jahren eine Gruppe von Theologinnen und Theologen, die in diesen Bestimmungen des Verhältnisses von Christentum und nichtchrist‐ lichen Religionen lediglich eine Erneuerung der Behauptung von der Abso‐ lutheit des Christentums erblickten. Konkrete Begegnungen mit Angehöri‐ gen anderer Religionen, deren vertiefte Kenntnis und vor allem die 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 155 <?page no="156"?> pluralisti‐ sche Theo‐ logie der Religionen Exklusivis‐ mus Inklusivis‐ mus methodischen Probleme der Konstruktion von religiösen Überlegenheits‐ ansprüchen fordern, wie sie geltend machten, eine neue und andere Form der theologischen Thematisierung der Religionen. Der Vielfalt der Religio‐ nen und ihrer jeweiligen Geltungsansprüche werde nur eine pluralistische Theologie der Religionen wirklich gerecht. Dieser geht es nicht mehr darum, theologisch eine Absolutheit oder Superiorität des Christentums zu begrün‐ den. Vielmehr soll genau umgekehrt die Gleich-Gültigkeit der Religionen aufgewiesen werden. Pluralistische Religionstheologie Die Entstehung von pluralistischen Theologien der Religionen hängt eng mit einem Symposium zusammen, welches der englische Theologe John Hick (1922-2012) im Jahre 1986 an der Claremont Graduate School durchführte. Der aus der Tagung hervorgegangene Sammel‐ band, ein Jahr später von Hick und Paul F. Knitter (geb. 1939) unter dem Titel The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religion herausgegeben, gilt als Programmschrift dieser theologischen Richtung. Wichtige Vertreter des pluralistischen Modells sind neben Hick, der seine Position in seinem Hauptwerk An Interpretation of Religion vorgelegt hat, die katholischen Theologen Knitter, Leonard Swidler (geb. 1929), der englische Theologie Alan Race (geb. 1951). Im deutschsprachigen Raum wurde eine pluralistische Religionstheologie von dem ehemalig katholischen Theologen Perry Schmidt-Leukel (geb. 1954) unter anderem in seinem Buch Gott ohne Grenzen präsentiert. Alan Race führte 1983 ein Schema ein, um die möglichen Weisen des Ver‐ hältnisses zwischen den Religionen zu klassifizieren. Es wurde in den nach‐ folgenden Debatten aufgegriffen und bildet bis in die Gegenwart einen wichtigen Bezugspunkt. Race unterscheidet zwischen den drei religionsthe‐ ologischen Positionen des Exklusivismus, des Inklusivismus und des Plura‐ lismus. Was ist darunter zu verstehen? Eine exklusivistische Haltung zeichne sich durch die Überzeugung aus, es gebe lediglich eine wahre Reli‐ gion, nämlich die eigene. Ihr gegenüber sind alle anderen Religionen unwahr und bestenfalls Aberglaube. Anders der Inklusivismus. Er rechnet mit meh‐ reren wahren Religionen, räumt also nicht nur der eigenen ein, wahr zu sein. Allerdings sind für die inklusivistische Position die anderen Religionen nicht in der gleichen Weise wahr wie die eigene. In ihr ist die Wahrheit auf un‐ 156 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="157"?> Pluralismus pluralisti‐ sches Mo‐ dell überbietbare Weise vorhanden, und deshalb kommt ihr gegenüber den an‐ deren Religionen ein höherer Status zu. Für den Pluralismus hingegen gibt es mehrere gleich wahre Religionen, von denen keine einer anderen über‐ legen ist. Das religionstheologische Dreierschema Exklusivismus: es gibt nur eine wahre Religion. Inklusivismus: es gibt mehrere wahre Religionen, aber die eigene ist den anderen überlegen. Pluralismus: es gibt mehrere wahre Religionen, die gleich-gültig sind. Im pluralistischen Modell wird der Gedanke eines Fortschritts in der Reli‐ gionsgeschichte aufgegeben. Die religionsgeschichtliche Entwicklung führt nicht zu einer höchsten Religion, die den anderen in irgendeiner Weise überlegen ist. Allerdings entgeht auch das pluralistische Modell nicht der im Entwicklungsgedanken angelegten Dialektik. Verstehen seine Vertre‐ terinnen und Vertreter doch ihr Modell als einen Fortschritt gegenüber Exklusivismus und Inklusivismus. Es ist ihnen überlegen. Aber wie wird die gleiche Geltung der Religionen in dem pluralistischen Modell theologisch begründet? Es hat den Status einer Hypothese, benennt also die Bedingungen, unter denen die Religionen als gleich-gültig gedacht werden können. Den Ausgangspunkt bildet ein allgemeiner Religionsbe‐ griff. Ihm zufolge ist Religion die menschliche Antwort auf eine Manifesta‐ tion des Göttlichen, mit der eine Umwendung von menschlicher Selbstzent‐ rierung hin zu einer Ausrichtung auf das Göttliche verbunden ist. Da dieser Begriff jedoch von einer bestimmten Religionskultur geprägt ist und zudem personale Konnotationen haben könnte, die nichtpersonale Vorstellungen des Göttlichen ausschließt, muss das Göttliche in einem noch abstrakteren Sinne gefasst werden. Es kann nicht Gott sein, sondern nur eine unbe‐ stimmte Transzendenz, die hinter den Götterbildern und zentralen Symbolen der geschichtlichen Religionen steht. Als menschliche Antworten auf Ma‐ nifestationen der unbestimmten Transzendenz, Hick nennt sie ‚Real an sich‘, repräsentieren religiöse Traditionen diese mit Bildern und Vorstellungen, die ihrer jeweiligen Kultur entstammen. Es besteht also eine kategoriale Differenz zwischen der unbestimmten Transzendenz und ihren religiösen Repräsentationen, die sich alle auf sie beziehen. Aus dieser Differenz ergibt sich die theologische Begründung der Gleich-Gültigkeit der Weltreligionen. 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 157 <?page no="158"?> Hypothese des tran‐ szendenten Göttlichen Probleme des plura‐ listischen Modells Da die unbestimmte Transzendenz allen Religionen zugrunde liegt, von kei‐ ner jedoch aufgrund ihrer Transzendenz erfasst werden kann, kann es auch keine geben, die einen privilegierten Zugang zu jenem ‚Real an sich‘ hat. Damit existiert aber auch keine Religion, die einer anderen in irgendeiner Weise überlegen ist. Aus der Perspektive des transzendenten Göttlichen sind alle Religionen gleichrangig. Keine hat einer anderen etwas voraus, da sie allesamt menschliche Repräsentationen eines prinzipiell unzugänglichen transzendenten Einheitsgrunds sind. Die Gleichrangigkeit nichtchristlicher Religionen mit der christlichen be‐ gründet das pluralistische Modell mit der theologischen Hypothese: ihnen allen liegt ein und dieselbe unbestimmte Transzendenz zugrunde, die sie mit ihren Bildern und Vorstellungen repräsentieren. Doch ist mit diesem Modell wirklich eine Anerkennung der Gleich-Gültigkeit nichtchristlicher Religio‐ nen mit der christlichen erreicht? Argumentiert wird mit einem allgemeinen Religionsbegriff. Es ist nicht unberechtigt, wenn auf theologiegeschichtliche Vorläufer der pluralistischen Religionstheologie im englischen Deismus und dessen Rezeption in der deutschen Aufklärung hingewiesen wird. Die auf‐ geklärte Vorstellung einer natürlichen Religion, von der auch Gotthold Eph‐ raim Lessings Ringparabel aus dem Nathan Gebrauch macht, hat eine ähn‐ liche begründungslogische Funktion. Hier wie dort werden die geschichtlichen Religionen durch einen rationalen Gottesgedanken begrün‐ det, und ihnen wird wie bei Lessing das Prädikat der Wahrheit abgesprochen. Das macht auf Probleme der pluralistischen Hypothese aufmerksam. Zunächst: Begründet wird die Wahrheit der geschichtlichen Religionen unbeschadet ihrer sich gegenseitig ausschließenden inhaltlichen Aussagen durch das Postulat eines ihnen gemeinsamen religiösen Kerns. Er und nicht ihre Aussagen, Bilder und Vorstellungen begründet ihre gleiche Geltung und Wahrheit. Das bedeutet jedoch, dass die Gleich-Gültigkeit der Religionen durch eine Transzendierung ihrer religiösen Symbolträger hergestellt wird. Diese, die in den einzelnen Religionen Transzendenz repräsentieren, müssen ihrerseits noch einmal in eine sie übergreifende allgemeine Transzendenz aufgehoben werden. Andernfalls würden ihre jeweils eigenen Wahrheiten sich gegenseitig ausschließen. Damit löst das pluralistische Modell jedoch nicht nur die Besonderheit der geschichtlichen Religionen auf, es reduziert auch den religiösen Pluralismus, von dem das Modell ausgeht, auf eine monistische Weise. Es gibt im Grunde genommen nur eine Religion, die sich in diversen Bildern darstellt, die prinzipiell gleichgültig sind. 158 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="159"?> wechselsei‐ tiger Inklu‐ sivismus und kompa‐ rative Theologie Sodann: Im pluralistischen Modell wird die Gleichgeltung der verschie‐ denen Religionen mit dem Christentum auf der Ebene der Theologie herge‐ stellt. Die pluralistische Hypothese ist ausdrücklich ein Postulat der Theolo‐ gie, welches in ihr die Funktion hat, die Gleich-Gültigkeit der Religionen zu begründen. Wie verhält sich nun das theologische Modell zur Selbstsicht der Religionen? Sie beziehen sich auf ihre zentralen Symbolträger. Darin besteht ihre geschichtliche Identität. Auf der Ebene der geschichtlichen Religionen kommt die unbestimmte Transzendenz des pluralistischen Modells nicht vor. Für sie hängt Transzendenz an ihren besonderen Symbolen und Formen. Das heißt aber, die pluralistische Religionstheologie überträgt ihre eigene theologische Konstruktion auf die Religionen und behauptet sie als deren eigentliche Wahrheit. Zur Folge hat das, dass das pluralistische Modell nicht nur die Differenz von Theologie und Religion aufhebt, es ist auch nicht in der Lage, die Selbstsicht der Religionen und deren Wahrheit auf eine theologisch angemessene Weise zu erfassen und zu beschreiben. Nimmt man beide Aspekte zusammen, dann wird man um das Urteil nicht herumkommen, dass das pluralistische Modell für einen konstruktiven Um‐ gang mit dem religiösen Pluralismus nur wenig leistet. Es vermag die Gleichgeltung anderer Religionen mit dem Christentum nur so zu begrün‐ den, indem es die Besonderheiten und damit die Pluralität der Religionen aufhebt. Angesichts von systematischen Problemen, wie den eben disku‐ tierten, wurden in den weiteren Debatten Alternativen zu dem pluralisti‐ schen Modell vorgeschlagen. Sie knüpfen an das Anliegen des Pluralismus an, auf theologische Weise eine positive Wertschätzung nichtchristlicher Religionen zu begründen. Im Unterschied zum religionstheologischen Plu‐ ralismus gehen diese Modelle von der eigenen Religion aus und verzichten auf die übergeordnete Perspektive eines Real an sich. Damit wird der Ein‐ sicht in die Standortrelativität jeder Beschreibung von Religion Rechnung getragen. Diskutiert werden in der jüngsten Vergangenheit vor allem zwei religionstheologische Konzeptionen: ein sogenannter wechselseitiger oder mutualer Inklusivismus und komparative Theologien. Modelle der neueren religionstheologischen Debatte Wechselseitiger Inklusivismus: Diesem Modell geht es um eine Begründung der Geltung nichtchrist‐ licher Religionen aus der Perspektive der eigenen Religion. Andere Religionen können nur von einem Standort aus beschrieben werden, 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 159 <?page no="160"?> mutualer Inklusivis‐ mus der selbst relativ ist. Neben ihm sind jedoch stets weitere Perspektiven möglich. Von dieser wechselseitigen Überlagerung diverser religiöser Standpunkte ist folglich in der Religionstheologie auszugehen. Das pluralistische Modell wird als Pluralismus sich wechselseitig überla‐ gernder Religionsperspektiven reformuliert, die sich jeweils nur von ihrer eigenen Warte aus in den Blick nehmen können. Wichtige Vertreter dieser Richtung sind in den USA Stephen Mark Heim (geb. 1950) und in Deutschland Jürgen Werbick (geb. 1946) und Reinhold Bernhardt (geb. 1957). Komparative Theologie: Diese Form von Religionstheologie zeichnet sich vor allem durch einen Verzicht auf universale Modelle wie die eines religiösen Erlebnisses aus. Stattdessen wird das Augenmerk auf einen Vergleich von einzel‐ nen Elementen unterschiedlicher Religionen gelegt. Dadurch kommt es zu einer Betonung der Differenzen zwischen den Religionen. Modelle von komparativen Theologien wurden seit den 1990er Jahren in den USA unter anderem von Robert C. Neville (geb. 1939) und Francis X. Clooney (geb. 1950) ausgearbeitet. Im deutschen Sprachraum vertreten die katholischen Theologen Norbert Hintersteiner (geb. 1963) und Klaus von Stosch (geb. 1971) eine solche Konzeption. Beide religionstheologische Modelle verzichten auf die Hypothese einer die geschichtlichen Religionen übergreifenden Metaperspektive, wie sie in dem pluralistischen Modell mit der unbestimmten Transzendenz postuliert wird. An dessen Stelle tritt der methodische Ausgang von der eigenen Religion. Der mutuale Inklusivismus geht vom christlichen Gottesgedanken aus und behauptet ihn als einen die verschiedenen Religionen übergreifenden Rah‐ men. Gott begründet durch seine Offenbarungen alle Religionen. Mit ihren unterschiedlichen Bildern und Vorstellungen beziehen sie sich auf denselben transzendenten Gott, der sich ihnen auf unterschiedliche Weise offenbart hat. Um aus christlicher Perspektive eine Vereinnahmung und Depotenzie‐ rung nichtchristlicher Religionen zu vermeiden, setzt der mutuale Inklusi‐ vismus die Trinitätslehre als eine Art übergeordnete Matrix an. Im Chris‐ tentum erschließt sich Gott in Jesus Christus, der diesen repräsentiert. In anderen Religionen ist es hingegen der Heilige Geist, der ihnen eine heilsame Gegenwart Gottes vermittelt. Ist jedoch mit diesem Modell eine Vereinnah‐ 160 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="161"?> kompara‐ tive Theolo‐ gie mung nichtchristlicher Religionen vermieden? Ähnlich wie das pluralisti‐ sche Modell hebt auch der mutuale Inklusivismus ihre Eigenständigkeit auf. Wenn es nämlich der christliche Gott ist, dessen Manifestation sie sich ver‐ danken, dann liegt ihnen, entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis und ohne dass sie selbst etwas davon wissen, die christliche Religion zugrunde. Diese ist das eigentlich Religiöse in den nichtchristlichen Religionen, welche ihre Geltung begründet. Es ist auch hier der theozentrische Religionsbegriff, der die Pluralität der Religionen monistisch reduziert. Und ebenso wie im pluralistischen Modell bleibt es im mutualen Inklusivismus unklar, wie sich das theologische Konstrukt der wechselseitigen Überlagerung zur Selbst‐ sicht der Religionen verhält. Zu zeigen wäre dagegen, wie im Bezug der christlichen Religion auf Jesus Christus, in dem sie sich selbst und ihre eigene religiöse Identität in der Kommunikation her- und darstellt, eine Anerken‐ nung der Wahrheit und Gleichgeltung anderer Religionen überhaupt vor‐ kommen kann. Während der mutuale Inklusivismus die Vielfalt der Religionen aus der eigenen religiösen Perspektive begründen möchte, verzichten komparative Theologinnen und Theologen darauf, Religionen als Ganze auf ihre Wahr‐ heit oder Falschheit hin zu befragen. Sie wenden sich konkreten Elementen von zwei Religionen zu und vergleichen diese. Universale Konzeptionen wie der Religionsbegriff oder der Anspruch, die Geltung aller Religionen zu be‐ gründen, werden aufgegeben. Damit treten Unterschiede und Differenzen zwischen Religionen und religiösen Traditionen in den Fokus des theologi‐ schen Interesses. Anders als im pluralistischen Modell und ähnlich wie im mutualen Inklusivismus soll auf diese Weise die Geltung der eigenen reli‐ giösen Position mit einer positiven Wertschätzung anderer religiöser Tra‐ ditionen verbunden werden. Ziel des Vergleichs von Elementen der eigenen Religion mit denen einer anderen ist deren besseres Verständnis. Lassen sich denn Elemente der eigenen Religion, etwa die Gleichnisse Jesu oder be‐ stimmte Vorstellungen und Bilder, einfach mit denen aus einer anderen Re‐ ligion vergleichen? Bedarf es hierzu nicht einer Vergleichsebene? Ohne ein Verständnis von Religion bereits in Anspruch zu nehmen, lassen sich kon‐ krete christliche Elemente nicht mit islamischen vergleichen. Auf der In‐ haltsebene ist Religion nämlich gerade nicht hinreichend zu erkennen. Kom‐ parative Theologinnen und Theologen neigen, obwohl sie einen allgemeinen Religionsbegriff zurückweisen, dazu, an einem die Religionen übergreifen‐ den Gottesgedanken festzuhalten. Dadurch reproduzieren sich jedoch ähn‐ lich wie im mutualen Inklusivismus in der komparativen Theologie die mit 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 161 <?page no="162"?> dem Inklusivismus verbundenen Probleme. Das religiös Andere ist lediglich eine ihm selbst unbewusste Verkleidung des Eigenen. Da auch komparative Theologie wissenschaftliche Theologie sein soll, fragt es sich, wie sich das theologische Modell zur Selbstsicht der christlichen Religion verhält. In der Selbstsicht der christlichen Religion kommt ein Vergleich mit anderen nicht vor. Verglichen wird auf der Ebene der Theologie. Was versteht sie über‐ haupt besser, wenn sie inhaltliche Bestandteile der christlichen Religion mit denen einer anderen vergleicht? Die Inhalte oder die christliche Religion? Weder das pluralistische Modell noch der mutuale Inklusivismus oder die komparative Theologie führen zu einer wirklichen Berücksichtigung des religiösen Pluralismus in der Systematischen Theologie. Seinen Grund hat dies in einem Doppelten. Einmal wird ein allgemeiner Religionsbegriff in Anspruch genommen, der dazu tendiert, die Diversität der Religionen monistisch aufzuheben. Zum anderen bleibt das Verhältnis von theologi‐ scher Konstruktion der gleichen Geltung der Religionen und der Selbstsicht der Religionen undeutlich. Zur Folge hat das, dass der Unterschied von Theologie und Religion eingeebnet und die theologische Sicht als Wahrheit der Religion postuliert wird. L IT E R ATU R : Reinhold Bernhardt: Monotheismus und Trinität. Gotteslehre im Kontext der Religionstheologie, Zürich 2023. Reinhold Bernhardt: Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2005. Christian Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005. Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. John Hick: An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, New Haven 1989. Paul F. Knitter: Introducing Theologies of Religions, Maryknoll 2002. Alan Race: Christians and Religious Pluralism. Patterns in the Christian Theology of Religions, London 1983. Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christen‐ tums, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1984. Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religio‐ nen, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 2012. 162 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="163"?> Verzicht auf religions‐ übergrei‐ fende Kon‐ zeptionen Yan Suarsana: Gott, ein Gefüge. Poststrukturalistische Überlegungen zur Theologie der Religionen, Göttingen 2022. 4.2.2 Besonderheit und Absolutheit der Religionen in einer pluralismusoffenen Theologie Zu einer wirklichen Berücksichtigung und Anerkennung des religiösen Plu‐ ralismus gelangt eine Systematische Theologie nur dann, wenn sie sowohl auf offene oder verdeckte religionsübergreifende Konzeptionen wie den Re‐ ligions- oder einen Gottesbegriff verzichtet als auch an dem Unterschied von Theologie und Religion festhält. Mit jedem allgemeinen Religionsbegriff ist unweigerlich das Problem verbunden, dass er die Pluralität der Religionen, von der ausgegangen wird, monistisch reduziert. Auf seiner Grundlage kön‐ nen Religionen lediglich als geschichtliche Ausprägungen eines Allgemei‐ nen in den Blick kommen. Dadurch ist jedoch ihre Besonderheit und Abso‐ lutheit aufgehoben. Sie sind Variationen desselben, ob dieses nun als Religion, unbestimmte Transzendenz oder Gott verstanden ist (vgl. oben 4.2.1). Was das Verhältnis von Theologie und Religion betrifft, so verliert jene ihren Gegenstand, wenn sie sich an die Stelle von dieser setzt und pos‐ tuliert, deren Wahrheit zu sein (vgl. oben 3.5). Systematische Theologie ist auf die christliche Religion bezogen, von der sie bleibend unterschieden ist. Sie konstruiert auf der Ebene der Wissenschaft die Selbstsicht der christli‐ chen Religion, ihr inneres Funktionieren als Religion. Nur auf diese Weise ist eine methodisch kontrollierbare Systematische Theologie als Wissen‐ schaft möglich, und auch nur so kann sie sich auf die christliche Religion beziehen. Die Durchsichtigkeit als Religion im Gebrauch von Inhalten, die sie konstruiert, schreibt sie der christlichen Religion zu. So ist ausgeschlos‐ sen, dass die Systematische Theologie Ort der Wahrheit der christlichen Re‐ ligion oder deren Verlängerung in die Wissenschaft hinein ist. Was folgt daraus für eine Religionstheologie? Ein allgemeiner, die Religionen übergreifender Religionsbegriff ist in der Systematischen Theologie fallenzulassen und durch eine theologische Konstruktion des Christentums als Religion zu ersetzen (vgl. oben 4.1.3). Indem der Religionsbegriff auf die christliche Religion beschränkt wird, ist erst die Möglichkeit eröffnet, in seine Grundlegung aufzunehmen, dass bereits das, was Religion ist, in anderen Religionen anders konstruiert und verstanden wird als im Christentum. Es geht also nicht darum, lediglich die christliche Religion als Religion zu bestimmen, sondern umgekehrt, die 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 163 <?page no="164"?> pluralismusof‐ fene Theo‐ logie Pluralität des Verständnisses von Religion methodisch zu berücksichtigen. Nicht nur mit einer Diversität von Religionen ist zu rechnen, sondern auch mit der von Religionsverständnissen. In einem allgemeinen Religionsbegriff werden diese zum Verschwinden gebracht werden. Das bedeutet nun aber, zwischen Religion und dem Religionsbegriff zu unterscheiden. Während der Religionsbegriff auf die christliche Religion bezogen ist, deren Struktur er expliziert, ist das Wort ‚Religion‘ als unbestimmter Platzhalter zu gebrau‐ chen, der offen bleibt für seine möglichen Bestimmungen durch andere Religionen. Indem auf einen übergreifenden Religionsbegriff verzichtet und Religion lediglich als Marker verwendet wird, ist die Eigenständigkeit anderer Religionen zugestanden. Sie sind keine geschichtlichen Formen eines Allgemeinen mehr. Auf dieser Grundlage ergibt sich die Möglichkeit einer pluralismusoffe‐ nen Theologie, welche grundsätzlich die Selbständigkeit anderer Religionen sowie nichtreligiöser Lebensweisen anerkennt, ohne sie von einer theolo‐ gischen Begründung abhängig zu machen. Systematische Theologie bezieht sich auf die Selbstsicht der christlichen Religion, indem sie ihr inneres Funk‐ tionieren als Religion konstruiert. In dieser kommen jedoch andere Religio‐ nen nicht vor. Als Religion entsteht die christliche in der religiösen Weiter‐ gabe der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation. Indem diese von Menschen angeeignet und symbolisch artikuliert wird, konstituiert sie sich als christliche Religion und stellt ihre eigene Identität jeweils neu durch Identifizierung her. Identitätsherstellung ist jedoch nur durch Unterschei‐ dung möglich. Mit ihren Inhalten beschreibt und identifiziert die christliche Religion sich selbst und differenziert sich zugleich von nicht- und anders‐ religiösen Auffassungen der Kommunikation. Jeder Inhalt, der in dem Kom‐ munikationsprozess benutzt wird, in dem sie sich als Religion herstellt, dient der Artikulation und Verkörperung ihrer selbst. Das gilt auch für kulturelle oder fremdreligiöse Inhalte, die in der christlich-religiösen Kommunikation aufgenommen und verwendet werden. Es sind nämlich nicht die Inhalte als solche, an denen die christliche Religion hängt, sondern allein der Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Da die christliche Religion in der transformierenden Aneignung und Artikulation der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus besteht, wandelt sich ihre Identität in der Geschichte. Dieser Wandel betrifft nicht nur ihre Inhalte, sondern auch ihr Selbstverständnis als Religion. Es liegt ihr kein substantieller Identitätskern zugrunde, der gleichsam im Wandel der äußeren Formen konstant bleibt. Eine solche Unterscheidung von Kern und 164 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="165"?> Besonder‐ heit und Absolutheit Schale ist ein unerweisliches Konstrukt, da ein invarianter Kern nur in geschichtlich wandelbaren Formen gegeben ist und sich von ihnen nicht ablösen lässt. Er ist ein Postulat, welches sich nicht nur dem verdankt, der es setzt, es destruiert auch die Verweisfunktion der Zeichen. Wie die Systematische Theologie so unterliegt auch die christliche Religion einem permanenten Wandel, eingebunden in eine Kultur, die sich ebenfalls ständig verändert. Vor diesem Horizont, der stets mit darüber entscheidet, was eine plausible christliche Identität ist und was nicht, konstituiert sich die christli‐ che Religion jeweils als Ganze neu. Ihre Identität ist dynamisch und bleibend instabil wie die Zeichen, die sie benutzt. Denn jede individuelle Aneignung und Artikulation der Erinnerung an Jesus Christus ist als ihre Wiederholung zugleich ihre Transformation und schöpferische Neugestaltung. Damit wird verständlich, dass in der aneignenden und identifizierenden Herstellung der christlichen Religion sowohl multireligiöse Identitäten als auch Annäherun‐ gen an andere Religionen sowie Verschmelzungen und *Hybridisierungen entstehen können. Solange jedoch die christliche Religion als eine selbstän‐ dige Religion in der Kultur existiert, ist eine Systematische Theologie auf sie bezogen und beschreibt ihre inneren Funktionsweisen. Die Identität der christlichen Religion wird in der gelingenden Kommu‐ nikation der Erinnerung an Jesus Christus stets neu hergestellt. Identitäts‐ konstruktion ist nur durch Grenzziehungen möglich, durch die die Differenz von Innen und Außen entsteht. Grenzziehung bedeutet jedoch per se weder die Postulierung von substantiell festgeschriebenen Identitäten noch eine Diskriminierung und Entwertung von Andersheit. In der identifizierenden Herstellung der christlichen Religion ist folglich kein Urteil über kulturelle und religiöse Andersheit enthalten. Das in ihrer Identitätskonstitution aus‐ geschlossene Andere hat eine notwendige Funktion für sie. Als ausgeschlos‐ senes Anderes konstituiert es sich mit der christlichen Religion zusammen. Es könnte somit von ihr nur um den Preis ihrer eigenen Selbstaufhebung negiert werden. Mit dem vorgeschlagenen Ansatz rücken Besonderheit und Absolutheit der Religionen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Erst dadurch ist es einer Systematischen Theologie möglich, den religiösen Pluralismus zu berück‐ sichtigen. An die Stelle einer Begründung der Gleichgeltung der Religionen in einem zugrunde gelegten allgemeinen Religions- oder Gottesbegriff tritt die Frage, wie andere Religionen Religion konstruieren. Schon Judentum und Islam verstehen das, was Religion ist, anders als im Christentum. Als geschichtliche Variationen eines identischen Gemeinsamen lassen sie sich 4.2 Die Stellung des Christentums unter den Religionen 165 <?page no="166"?> nicht verstehen. Auf diese Weise würde jegliche theologische Differenz zwi‐ schen diesen Religionen ausgeschaltet. Zur Folge hat das nicht nur deren untergründige Vereinnahmung. Wenn es keine theologische Differenz zwi‐ schen den Religionen gibt, dann können sie auch nicht mehr als selbständig anerkannt werden. Es reicht jedoch nicht aus, nur die Inhaltsebene der Re‐ ligionen einzubeziehen, um Unterschiede und Übereinstimmungen zu er‐ fassen. Auf der Inhaltsebene lässt sich weder entscheiden, ob es sich bei den Bildern um Religion handelt, noch hängt an ihnen die Wahrheit einer Reli‐ gion. Religiöse Inhalte haben eine Funktion für die jeweilige Religion. Mit ihnen stellen sie dar, wie sie als Religion funktionieren. Genau das, das un‐ terschiedliche Verständnis dessen, was Religion ist, gilt es in den Blick zu nehmen, wenn der Pluralismus der Religionen in einer Systematischen Theologie aufgenommen werden soll. Dadurch wird sie offen für den reli‐ giösen Pluralismus. Indem sich Systematische Theologie auf die christliche Religion beschränkt und deren Selbstsicht als Religion auf der Ebene der Wissenschaft konstruiert, gesteht sie ab ovo zu und erkennt sie an, dass andere Religionen anders funktionieren als das Christentum. L IT E R ATU R : Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/ 2, Zollikon-Zürich 5 1960, 304-397 (§ 17. Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion). Drew Collins: The Unique and Universal Christ. Refiguring the Theology of Religions, Waco 2021. Christian Danz: Religious Diversity and the Concept of Religion. Theology and Religious Pluralism, in: NZSTh 62 (2020), 101-113. Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. Folkart Wittekind: Allgemeine Transzendenz - bestimmte Offenbarung? Zur Struktur von Wahrheit und Offenbarung im interreligiösen Diskurs und im Kontext einer Theologie religiöser Rede, in: Christian Danz/ Kathy Ehrensper‐ ger/ Walter Homolka (Hrsg.): Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa, und der christliche Erlöser, Tübingen 2020, 159-182. 4.3 Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion Glaube entsteht in der christlich-religiösen Kommunikation. Er ist die sym‐ bolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion. Mit dieser Fassung ist 166 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="167"?> Gegensatz von Glaube und Reli‐ gion Glaube Momente des Glau‐ bensbe‐ griffs der Gegensatz von Glaube und Religion überwunden, der die protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts beherrschte. Den Hintergrund dieser Ent‐ gegensetzung bildet die Kritik der Dialektischen Theologie am Religionsbe‐ griff als Grundlage der Theologie (vgl. oben 2.6.2). Ihr ging es um die Be‐ sonderheit der christlichen Religion, die sich nicht mit einem allgemeinen Religionsbegriff erfassen lasse. Im Kern zielte die Religionskritik der neuen Theologien in den 1920er Jahren auf die Konstruktion einer religiösen An‐ lage im Menschen, die als Voraussetzung der Religion fungiert. Doch indem der Glaube zum eigentlichen Gegenstand der Theologie avancierte, wurde nicht nur das Religionsthema aus ihr ausgeschieden, sie erklärte sich zu‐ gleich als die einzige Wissenschaft, die den Glauben auszulegen in der Lage sei. Nur der Theologie sei dieser zugänglich, anderen Wissenschaften hin‐ gegen sei er grundsätzlich entzogen. Sie ‚sehen‘ nur Religion und verfehlen damit das Eigentliche. Gegen solche Auffassungen von Theologie, die diese gegenüber anderen Wissenschaften isolieren, griff man seit den 1960er Jah‐ ren wieder auf den Religionsbegriff zurück und postulierte, wie Wolfhart Pannenberg, eine humane Grundlage der Religion. Damit wird jedoch in der Theologie in Absetzung von der Dialektischen Theologie wieder ein allge‐ meiner Religionsbegriff etabliert, der die systematischen Probleme dieses Konzepts übergeht (vgl. oben 4.1.2). Dagegen wird hier vorgeschlagen, die Kritik an einem allgemeinen Religionsbegriff sowie der Naturalisierung der Religion zu einer menschlichen Anlage in die Konstruktion der Religion aufzunehmen. Der theologische Religionsbegriff dient der Erfassung der Besonderheit der christlichen Religion, die ihre Wirklichkeit im Glauben hat (vgl. oben 4.1.3). Als Wirklichkeit der christlichen Religion konstituiert sich der Glaube im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation. Er entspringt aus dem triadischen Wechselverhältnis von Inhalt, Aneignung und Artikulation. Mit dieser Bestimmung ist der Glaubensbegriff der lutherischen Lehrtradition aufgenommen und weitergeführt. Diese unterschied im Glaubensbegriff die drei Momente notitia (Kenntnis), assensus (Zustimmung) und fiducia (Ver‐ trauen) (vgl. unten 6.3.1.3). Zwar ging die dogmatische Lehrtradition des Protestantismus von der dreipoligen Struktur des Glaubens aus, sie setzte allerdings zumeist eines ihrer Elemente als grundlegend an. Während die Reformatoren die fiducia als das zentrale Element des Glaubens erachteten, rückte in den theologischen Bestimmungen des Glaubens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Karl Barth, Rudolf Bultmann und anderen der als Gehorsam und Entscheidung verstandene assensus an die Stelle eines 4.3 Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion 167 <?page no="168"?> Offenba‐ rung entscheidenden Elements. In den theologischen Konzeptionen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist es hingegen entweder die fiducia, die von Otto Weber, Heinrich Vogel, Wilfried Härle und anderen als grundlegend für den Glauben postuliert wird, oder, wie bei Wolfhart Pannenberg, die notitia. Anders als in der bisherigen Lehrtradition sind alle drei Elemente des Glaubens als gleichursprünglich anzusehen. Glaube entsteht in der christlich-religiösen Kommunikation aus und in dem Wechselverhältnis von notitia, assensus und fiducia und lässt sich nicht auf eines dieser Elemente zurückführen. Der Glaubensbegriff bezeichnet das unableitbare Gelingen der christ‐ lich-religiösen Kommunikation, ihr Wirklich-Werden in der Geschichte. Sowohl ein religiöses Subjekt als auch ein religiöser Gehalt entstehen erst in und mit dem Glauben. Im theologischen Glaubensbegriff geht es somit nicht um die Konstitution eines allgemeingültigen Subjekts, der Bestimmung des Menschen als solcher oder eines eigentlichen und wahren Personseins. Ein solcher Anspruch, wie ihn die theologische Lehrtradition mit dem Glauben verbunden hat, wird hier fallen gelassen. Als Gelingen der christlich-religiö‐ sen Kommunikation ist der Glaubensbegriff auf diese bezogen. Im Glauben konstituiert sich das Subjekt der christlichen Religion. Es entsteht jedoch in ihr zugleich mit seinem Gehalt, auf den es sich bezieht. Beides sind Bestandteile des Glaubens, der folglich ein sich als Religion wissendes Selbstverhältnis ist. Mit dem Gottesgedanken stellt der Glaube sich selbst als Glaube dar. Gott ist das Bild des Glaubens von sich selbst, als einem in die christlich-religiöse Kommunikation eingebundenen Geschehen, welches im unableitbaren religiösen Verstehen dieser Kommunikation besteht. Beide, Gott als Gehalt des Glaubens und dieser, sind im Glauben zugleich gegeben. Sie bilden einen Zirkel. Diese Zirkelstruktur des Glaubens expliziert der theologische Begriff der Offenbarung. Er beschreibt weder die Mitteilung von irgendwelchen Inhal‐ ten noch eine religiöse Erfahrung, aus denen Glaube entspringt, sondern das durchsichtige Selbstverhältnis des Glaubens im Gebrauch von Inhalten als Darstellung von Religion. Indem der Glaube von der Theologie als Selbst‐ offenbarung Gottes gefasst wird, bindet sie ihn an das Kommunikationsge‐ schehen, aus dem er unableitbar entsteht und sich auf sich selbst bezieht. Da dieses Kommunikationsgeschehen triadisch in die Elemente Inhalt, Aneig‐ nung und Artikulation strukturiert ist, ist die Offenbarung Gottes in der Tat die Wurzel der Trinitätslehre (Karl Barth). Diese entfaltet die reflexive Struktur des Glaubens, der mit dem dreieinigen Gott, auf den er sich bezieht, 168 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="169"?> Gott als In‐ halt Christus als Aneignung Geist als Artikulation Trinitäts‐ lehre sich selbst und sein eigenes durchsichtiges Funktionieren als Religion dar‐ stellt. Damit existiert der Glaube in einer triadischen Struktur, in und mit der er sich selbst darstellt: Gott, Jesus Christus und Heiliger Geist. Zunächst: Gott ist der Inhalt des Glaubens. Er repräsentiert im und für den Glauben diesen als ein absolutes Selbstverhältnis. Absolutheit ist kein inhaltliches Merkmal der christlichen Religion. Sie beschreibt diese als ein selbstbezügliches und sich als Religion wissendes Geschehen, welches in Kommunikation eingebunden, aber aus ihr nicht herleitbar ist. Indem sich die christliche Religion in Gott als ihrem Inhalt darstellt, repräsentiert sie mit ihm die religiöse Selbstdurchsichtigkeit, die sie im religiösen Gebrauch von Inhalten in der Kommunikation ist. Sodann: Religiöser Inhalt und Glaube entstehen in der christlichen Religion zugleich. In der religiösen Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation stellt sie sich her, ohne freilich aus ihr oder ihren Inhalten ableitbar zu sein. Seine Bindung an die verstehende Aneignung symbolisiert der Glaube mit dem Christusbild. Es bezieht sich auf das Subjekt der christlichen Religion, welches sich zugleich mit seinem Gehalt konstituiert. Doch der Glaube enthält noch ein drittes Element. Als Selbstverhältnis existiert er erst, wenn er sich artikuliert. Schon sein Inhalt ist eingebunden in eine Geschichte und ihre Überlieferung. Wirklich wird er, wenn dieser von Menschen als Religion angeeignet und zur religiösen Kommunikation benutzt wird. Aber jede wiederholende Wie‐ deraufnahme von religiösen Inhalten ist bereits ihre Neuschaffung. Den Zu‐ sammenhang von Aneignung und Transformation, durch den sich der Glaube herstellt, symbolisiert der Heilige Geist. Mit der Trinitätslehre beschreibt die Systematische Theologie den in die christlich-religiöse Kommunikation eingebundenen Glauben als symbol‐ produktive Wirklichkeit der christlichen Religion und sein durchsichtiges, selbstbezügliches und strukturiertes Funktionieren als Religion. Sie bildet den Rahmen, der den materialen Ausführungen der Dogmatik zugrunde liegt. Wenn es im nächsten Abschnitt um die Gotteslehre, die Christologie und die Pneumatologie geht, werden die einzelnen Elemente der Struktur des Glaubens näher entfaltet. Da der Glaube als symbolproduktive Wirk‐ lichkeit der christlichen Religion in der christlich-religiösen Kommunika‐ tion aus sich selbst in seinen drei Elementen zusammen entspringt, ist deut‐ lich, dass sowohl Gott als auch Christus und der Heilige Geist jeweils trinitarisch expliziert werden müssen. 4.3 Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion 169 <?page no="170"?> L IT E R ATU R : Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/ 1, Zürich 8 1964, 311-367. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 130-139. Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 31-44. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 47-76. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 156-196. Martin Seils: Glaube. Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 13, Gütersloh 1996. Heinrich Vogel: Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Teil 1, Stuttgart 1982, 210-224. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-2, Berlin (Ost) 1977, 292-316. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 56-74. 170 4 Die christliche Religion als Gegenstand der Systematischen Theologie <?page no="171"?> 5 Gott und Glaube Glaube ist die symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion (vgl. oben 4.3). Ihn in seiner reflexiven Struktur darzustellen, ist die Aufgabe der gesamten Systematischen Theologie. Wenn es in diesem Abschnitt um Gott und Glaube geht, wird kein neues oder weiteres Themenfeld betreten. Vielmehr rückt der Glaube und sein Gehalt als absolutes Selbstverhältnis in den Fokus der theologischen Erörterung. Mit ihren theologischen Inhalten - Gott, Jesus Christus und der Heilige Geist - stellt die christliche Religion sich selbst in ihrem durchsichtigen, selbstbezüglichen und strukturierten Funktionieren als Religion dar. Gegenstand dieses ersten Teils der materialen Dogmatik ist die trinitarische Grundstruktur der christlichen Religion. Erörtert werden zunächst die Gotteslehre, sodann die Christologie und schließlich die Pneumatologie. Obwohl dieser Darstellung der materialen Gehalte der christlichen Dogmatik der dreieinige Gott als Rahmen insgesamt zugrunde liegt, wird die Trinitätslehre nicht im Zusammenhang der Gottes‐ lehre im engeren Sinne ausgeführt, sondern erst, nachdem Gott, Christus und der Heilige Geist als Bestandteile der christlichen Religion thematisiert wurden (vgl. unten 5.4). Auf der Grundlage des dreieinigen Gottes, mit dem die christliche Religion die Besonderheit ihres Religionseins beschreibt, widmet sich der sechste Abschnitt Glaube und Geschichte ihrer Realisierung, die ein Bestandteil von ihr ist. Die Ausführungen zur materialen Dogmatik sind durchgehend in drei Abschnitte strukturiert. Zunächst werden die jeweiligen Grundbegriffe der dogmatischen Lehrtradition des Luthertums erörtert. Diese bilden den Rah‐ men der weiteren Überlegungen. Sodann diskutiert ein zweiter Abschnitt exemplarische Probleme, die sich aus der gegenständlich-objektiven Fas‐ sung der dogmatischen Grundbegriffe in der dogmatischen Lehrtradition ergeben. Ein abschließender dritter Abschnitt schlägt auf der Grundlage einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation eine Lösung der diskutierten Probleme vor, die darauf abzielt, die Inhalte der christlichen Religion als Beschreibungselemente der christlich-religiösen Kommunikation zu verstehen. <?page no="172"?> 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie Der Gottesgedanke der Systematischen Theologie ist weder ein metaphysi‐ scher Gegenstand noch ein letztes Prinzip zur Erklärung der Welt. Er bezieht sich auf den Glauben als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion, der mit dem dreieinigen Gott sich selbst und sein durchsichtiges und strukturiertes religiöses Funktionieren beschreibt und vor sich hinstellt. Gott ist der Inhalt des Glaubens. Beide kommen zusammen zur Wirklichkeit. Als gegenständlicher Inhalt der christlich-religiösen Kommunikation stellt Gott in ihr dar, wie Inhalte religiös gebraucht werden. Diese Funktion des Gottesgedankens der Systematischen Theologie, das selbstbezügliche Ereig‐ nis des Glaubens zu erörtern, ergibt sich aus ihrer Entwicklungsgeschichte in der Moderne (vgl. oben 2.6). In ihr wurde vor dem Hintergrund der Bibel- und Erkenntniskritik der Aufklärung das gegenständlich-objektive Verständnis Gottes, wie es für die dogmatische Lehrtradition bis zur Aufklä‐ rung signifikant war, umgeformt (vgl. oben 2.5). Den Ausgangspunkt der Darstellung der Gotteslehre bildet ihre Lehrfas‐ sung in der altlutherischen Dogmatik (vgl. unten 5.1.1). Diese ist durchge‐ hend gegenständlich ausgearbeitet: Gott ist ein metaphysischer Gegenstand, dem aufgrund seiner Offenbarung in der Heiligen Schrift bestimmte Eigen‐ schaften zugeschrieben werden. Eine solche Fassung der Gotteslehre führt in Aporien, die exemplarisch zu erörtern sind (vgl. unten 5.1.2). Diese Pro‐ blemfelder nimmt der abschließende Teil der Gotteslehre auf und führt sie auf der Grundlage einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation einer Lösung zu (vgl. unten 5.1.3). 5.1.1 Grundbegriffe der dogmatischen Gotteslehre des Luthertums Einzusetzen ist mit der Gotteslehre der altlutherischen Theologie. Sie eröff‐ net die inhaltlichen Ausführungen der materialen Dogmatik, die insgesamt heilsgeschichtlich aufgebaut ist. Die Erörterung ihrer zentralen begriffli‐ chen Bestimmungen dient nicht nur einem Überblick über Grundstrukturen dogmatischer Gotteslehren. Dabei kann es nicht um eine Darstellung der Entwicklung der Gotteslehre in der Dogmatik des Protestantismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gehen, sondern lediglich um ihre grundlegende Struktur und ihren Aufbau. 172 5 Gott und Glaube <?page no="173"?> opera trini‐ tatis ad ex‐ tra sunt in‐ divisa Die altprotestantischen Gotteslehren knüpfen an Martin Luthers soteri‐ ologische Normierung des Gottesgedankens an (vgl. oben 2.3.1), aber auch an die theologische Lehrtradition von Antike und Mittelalter sowie die aristotelische *Metaphysik (vgl. oben 2.3.3). Hieraus resultiert das spezifi‐ sche Gepräge dieser Gotteslehren und ihr metaphysisch-gegenständlicher Zuschnitt. Strukturiert ist die Lehre von Gott (lateinisch: de Deo) in fünf Themenkomplexe. Aufbau der altprotestantischen Gotteslehre 1. die Lehre vom Dasein, dem Wesen und den Eigenschaften Gottes 2. die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes 3. die Lehre von der Schöpfung 4. die Lehre von der Vorsehung 5. die Lehre von den Engeln Ihren Erörterungen über Dasein, Wesen und Eigenschaften Gottes stellen die alten lutherischen Dogmatiker zumeist Überlegungen zu den Quellen der Erkenntnis Gottes voran, die in natürliche und übernatürliche unter‐ schieden werden. Auf diese Weise verzahnen sie ihre von der biblischen Gottesoffenbarung ausgehende Theologie mit einer *Metaphysik, die im Kern selbst Lehre vom Sein Gottes ist. Mit der Lehre von Gottes Sein, Wesen und Eigenschaften in der altlutherischen Dogmatik ist einzusetzen. Sodann sind die Trinitätslehre und schließlich die Lehren von der Schöpfung und der Vorsehung zu erörtern. 5.1.1.1 Gottes Sein, Wesen und Eigenschaften Auffällig ist, dass die Gotteslehren des alten Luthertums nicht mit dem drei‐ einigen Gott einsetzen, sondern mit Ausführungen zum Sein und Wesen Gottes, und im Anschluss daran zur Trinitätslehre übergehen. Mit dieser Stoffanordnung folgen sie der mittelalterlichen Lehrtradition. Das hat auch sachliche Gründe. Von Gott lässt sich nur im Ausgang von der Welt reden. In ihr begegnet der Mensch Gott in seinem ungeteilten göttlichen Wesen. Das hält der sogenannte augustinische Grundsatz fest, die Werke der Trinität in ihrem Welthandeln seien ungeteilt (lateinisch: opera trinitatis ad extra sunt indivisa). So geht es bereits bei der Erörterung von Sein, Wesen und Eigen‐ schaften um den dreieinigen Gott, aber aufgrund des Zugangs von der Welt 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 173 <?page no="174"?> Quellen der Gotteser‐ kenntnis aus nur implizit oder absolute considerata (absolut betrachtet). Erfasst ist das Wesen Gottes indes erst als dreieiniger, was die Trinitätslehre relative con‐ siderata (relativ betrachtet) zur Wesensbestimmung im Hinblick auf die drei Personen thematisiert. Da Gott nur von der Welt aus thematisiert werden kann, muss zunächst die Frage geklärt werden, wie es überhaupt zu einem Wissen von Gott durch den Menschen kommen kann. Hier unterscheiden die altprotestantischen Theologen im Anschluss an die theologische Lehrtradition seit der Antike zwei Quellen der Gotteserkenntnis, eine natürliche und eine übernatürliche (lateinisch: cognitio Dei naturalis et supernaturalis). Die beiden Quellen der Gotteserkenntnis 1. natürliche Gotteserkenntnis (lateinisch: cognitio Dei naturalis): Buch der Natur (lateinisch: ex libro naturae) a. notia insitam (angeborene Kenntnis): Zeugnis des Gewissens (Röm 1,19-21) b. notia acquisitam (erworbene Kenntnis): aus der Naturerkenntnis gewonnenes Wissen von Gott 2. geoffenbarte Gotteserkenntnis (lateinisch: cognitio Dei revelata seu supernaturalis): Buch der Heiligen Schrift (lateinisch: ex libro scriptu‐ rae) Voraussetzung beider Weisen der Gotteserkenntnis ist Gottes vollkommenes Wesen. Auch ein natürliches Wissen von Gott ist dem Menschen nur durch Gott selbst möglich. Im Unterschied zur in der Bibel geoffenbarten Gottes‐ erkenntnis ist die natürliche vermittelt durch das Medium des menschlichen Geistes und der Natur. Dass beides, menschlicher Intellekt und Natur, von Gott geschaffen ist, ist dabei schon vorausgesetzt. Doch die natürliche Gotteserkenntnis führt lediglich zu einer Kenntnis Gottes, die überdies durch den Sündenfall des Menschen getrübt ist. Zur Erkenntnis Gottes und der Gewissheit des Heils führt allein die geoffenbarte Gotteserkenntnis der Heiligen Schrift. Auf diese verweist die cognitio Dei naturalis. Die Unterscheidung der beiden Quellen der Erkenntnis Gottes struktu‐ riert den weiteren Aufbau der Lehre de Deo. Verschiedentlich behandeln spätere altlutherische Dogmatiker in ihren Gotteslehren die sogenannten Beweise für das Dasein Gottes. Ihre Erörterung gehört noch in den Bereich der natürlichen Gotteserkenntnis. Damit ist auch schon gesagt, dass sie nicht 174 5 Gott und Glaube <?page no="175"?> zur Erkenntnis und Gewissheit Gottes führen. Sie haben eher die Funktion, das natürliche Wissen von Gott auf eine begriffliche Weise auszulegen. Gottesbeweise In der Geschichte der Philosophie und Theologie wurden seit der Antike unterschiedliche Argumente für das Dasein Gottes ausgearbei‐ tet. Man kann im Anschluss an Immanuel Kant (vgl. oben 2.5.1) drei Haupttypen von Gottesbeweisen unterscheiden: den kosmologischen, den physikotheologischen und den ontologischen Beweis. Während die beiden ersten Argumente im Ausgang von der Welterfahrung auf den Begriff Gottes schließen, geht der ontologische Beweis vom Begriff Gottes aus. kosmologischer Typ: Den Ausgangspunkt dieses Beweistyps bildet die Beobachtung, dass zum Beispiel alle Wir‐ kungen in der Welt eine Ursache haben. Unter der Voraussetzung, es könne keinen unendli‐ chen Regress im Rückgang des Ursache-Wir‐ kungs-Gefüges geben, muss eine erste Ursa‐ che angenommen werden, die selbst nicht verursacht ist. Diese erste Ursache sei, so der Schluss, Gott. Kosmologische Gottesbeweise wurden bereits in der Antike von Aristoteles konzipiert (vgl. oben 2.1.1). Besonders wirk‐ mächtig arbeitete sie Thomas von Aquin aus, der fünf Wege (lateinisch: quinque viae) un‐ terscheidet, um von der Welt aus auf Gott zurückzuschließen (vgl. oben 2.2). physikotheologischer Typ: Dieser Beweis schließt von der in der Natur beobachtbaren Zweckmäßigkeit auf eine intel‐ ligente Ursache, welche diese hervorgebracht hat. Das Argument lautet, eine solche Zweck‐ mäßigkeit kann nicht durch Zufall entstanden sein. Also verdankt sie sich einem vernünfti‐ gen Welturheber, nämlich Gott. Dieser Beweis wird auch der teleologische genannt, und er 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 175 <?page no="176"?> Wesen Got‐ tes erfreute sich vor allem in der Zeit der Aufklä‐ rung einer breiten Zustimmung. ontologischer Typ: In diesem Argument wird die Existenz Got‐ tes aus seinem Begriff abgeleitet. Seine Vor‐ aussetzung ist die Überzeugung, Existenz sei ein Merkmal, welches notwendig zum Begriff Gottes gehört. Da Gott das vollkommenste Wesen ist, muss er existieren. Andernfalls wäre er nicht das vollkommenste Wesen. Die Existenz gehört ebenso analytisch zum Begriff Gottes, wie es ein Bestandteil des Begriffs des Kreises ist, rund zu sein. Formuliert wurde das ontologische Argument von Anselm von Canterbury (vgl. oben 2.2). Zur Erörterung des Wesens Gottes leitet die übernatürliche Gottesoffenba‐ rung der Bibel als Wort Gottes über. Sie beantwortet die Frage nach Sein und Wesen Gottes (lateinisch: quod et quid sit deus). Damit ist die theologische Wesensbestimmung Gottes an die Bibel zurückgebunden. Als Wort Gottes enthält sie, davon gehen die altprotestantischen Theologen aufgrund des Schriftprinzips aus (vgl. unten 6.2.1), die Wahrheit, die Gott von sich selbst hat. Deshalb ermöglicht sie eine Erfassung des Wesens Gottes. Durchdrun‐ gen sind sowohl das Schriftverständnis als auch die Gotteslehre von einer Substanz-Metaphysik, in der Gottes Sein den letzten Grund von allem, was es gibt, bildet. Gott ist transzendent, damit aber weder erkennbar noch dar‐ stellbar (1Tim 6,16; Röm 11,33). Eine eigentliche Bestimmung oder Defini‐ tion des Wesens Gottes ist folglich nicht möglich. Es kann lediglich so erfasst werden, wie es sich dem Menschen in der göttlichen Offenbarung in der Heiligen Schrift erschließt. Für die dogmatische Erfassung des Wesens Got‐ tes bedeutet dies, dass sie von vornherein unzureichend und auch keine De‐ finition im strengen Sinne ist. Vor dem Hintergrund der genannten Ein‐ schränkungen ist die Bestimmung des Wesens Gottes als unendlicher geistiger Substanz (lateinisch: essentia spiritualis infinitia) zu verstehen. Auch wenn es der Formel um die Bezeichnung von etwas Unbegreiflichem 176 5 Gott und Glaube <?page no="177"?> Eigenschaf‐ ten Gottes geht, so unterscheidet sie doch Gott von anderen geistigen Wesen wie den Engeln dadurch, dass er im Unterschied zu ihnen unendlich ist. Die Eigenschaften oder Attribute Gottes beschreiben oder explizieren sein Wesen, welches man nicht in einem eigentlichen Sinne bestimmen kann. Den gedanklichen Rahmen der Lehrform von den göttlichen Eigenschaften bildet die aristotelische *Metaphysik und ihre Unterscheidung von Substanz und Akzidenz. Ohne diese ist die Eigenschaftslehre nicht nachvollziehbar. Allerdings kann die Differenzierung von Wesen und Eigenschaften in der Gotteslehre nur so aufgenommen werden, dass ihr zugleich widersprochen wird. Gottes Eigenschaften können ihm weder zufällig sein noch irgendwie zu seinem Wesen hinzukommen, so dass sie auch wegfallen könnten. Es gilt der Grundsatz: in Deum non cadit accidens (in Gott gibt es keine Zufälle). Eigenschaften Gottes sind Beschreibungen seines vollkommenen Wesens und somit selbst perfectiones (Vollkommenheiten). Doch zugänglich sind sie allein durch seine Offenbarung in der Heiligen Schrift und folglich nicht an sich, sondern für den Menschen. Somit ist auch die Eigenschaftslehre an die Wirkungen Gottes in seiner Offenbarung gewiesen. Zur Systematisierung der der Bibel entnommenen Eigenschaften greifen die altprotestantischen Theologen auf Pseudo-Dionysius Areopagita (6. Jh.) und die von ihm un‐ terschiedenen drei Wege zur Erfassung der göttlichen Vollkommenheiten - via eminentiae, via negationes und via causalitatis - zurück. Die drei Wege des Pseudo-Dionysius Areopagita Der namentlich unbekannte antike griechische Theologe und Philo‐ soph Pseudo-Dionysius Areopagita unterscheidet in seiner Schrift Die Namen Gottes (De divinis nominibus) auf der Grundlage der neuplato‐ nischen *Metaphysik (vgl. oben 2.1.1) drei Wege (lateinisch: viae), um zu Aussagen über Gott, dem vollkommensten Wesen zu gelangen. 1. via eminentiae (Weg der Steigerung): weltliche Vollkommenheiten sind von Gott im höchsten Sinne auszusagen: der Mensch ist gut, Gott ist das Gute. 2. via negationis (Weg der Verneinung): durch die Negation weltlicher Unvollkommenheiten ergeben sich die göttlichen Vollkommenheiten: die Welt ist endlich, Gott ist unendlich. 3. via causalitatis (Weg der Kausalität): Gott ist der Ursprung von allen weltlichen Vollkommenheiten: Gutes in der Welt ist eine Wirkung der vollkommenen Gutheit Gottes. 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 177 <?page no="178"?> systemati‐ sche Pro‐ bleme Da das Wesen Gottes, seine essentia spiritualius infinitia, nicht erfassbar und definierbar ist, leisten seine Eigenschaften eine Beschreibung seiner Voll‐ kommenheit. Aber auch sie zeigen Gott nur so, wie er sich in seinem Welt‐ bezug in der Offenbarung darstellt. Hieraus ergibt sich die Unterscheidung von zwei Reihen von Eigenschaften, wobei das Schema der Differenzierung unterschiedlich bestimmt wird. Entsprechend dem der Eigenschaftslehre zu‐ grunde liegenden Ursache-Wirkungs-Verhältnis unterscheidet man zumeist zwischen absoluten oder Gott an sich zukommenden und relativen oder weltzugewandten Eigenschaften. Die Eigenschaften Gottes 1. absolute oder Gott selbst zukommende Eigenschaften (lateinisch: attributa absoluta): unitas (Einheit), simplicitas (Einfachheit), immutabilitas (Unveränder‐ lichkeit), immensitas (Unermesslichkeit), aeternitas (Ewigkeit), infini‐ tas (Unendlichkeit). 2. relative oder weltbezogene Eigenschaften Gottes (lateinisch: attri‐ buta relativa): vita (Leben), scientia (Wissen), sapientia (Weisheit), sanctitas (Heilig‐ keit), iustitia (Gerechtigkeit), veracitas (Treue/ Wahrhaftigkeit), poten‐ tia (Macht), bonitas (Güte). Wie der substanz-metaphysische Rahmen der altprotestantischen Gottes‐ lehre insgesamt, so ist ihre Unterscheidung von Wesen und Eigenschaften nicht ohne systematische Probleme und Tücken. Die Eigenschaften sollen das Wesen Gottes beschreiben, welches sie darstellen. Ihre Unterscheidung fällt jedoch auf die Seite des Menschen, da er sie nicht anders als differen‐ zierte erfassen und darstellen kann. In Gott hingegen sind die Eigenschaften eins mit seinem Wesen. Daraus resultiert die Tendenz der Eigenschaftslehre, die göttlichen Attribute gleichsam in der Einheit des Wesens, dem eine hö‐ here Dignität zugesprochen wird, aufzulösen. Jede der aufgelisteten göttli‐ chen Vollkommenheiten (lateinisch: perfectiones) soll ja Gott selbst und ganz sein. L IT E R ATU R : Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 95- 100. 178 5 Gott und Glaube <?page no="179"?> dogmati‐ sche Lehr‐ form Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 104-123. Paul Helm/ Markus Mühling-Schlapkohl: Art.: Gottesbeweise I. Religionsphilo‐ sophisch, II. Fundamentaltheologisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd.-3, Tübingen 4 2000, 1165-1172. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 2, Gütersloh 1966, 15-81. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 67-86. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 122-125. 5.1.1.2 Der dreieinige Gott Im barocken Aufbau der Gotteslehre der lutherischen Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts schließt die Trinitätslehre (lateinisch: de trinitate) an die Ausführungen über Sein, Wesen und Eigenschaften Gottes an und bestimmt das eine göttliche Wesen weiter, indem die drei Personen und ihr Verhältnis zueinander in den Blick genommen werden. Mit der Erörterung des Wesens Gottes in den drei Personen kommt die Gotteslehre, die bei der natürlichen Gotteserkenntnis einsetzt und über die geoffenbarte zur Erkenntnis des Wesens fortschreitet, zum Ziel, dem Grund des Glaubens im dreieinigen Gott. Gott ist nun nicht mehr losgelöst Gegenstand der dogma‐ tischen Arbeit, also absolute, sondern relative considerata. Relative ist diese Untersuchung deshalb, weil es um die drei göttlichen Personen geht, die in der Trinitätslehre als Relationen verstanden werden. Mit dem einen Gott in drei Personen handelt die Dogmatik, wie ausdrücklich betont wird, von einem strikten Geheimnis (lateinisch: mysterium). Es ist weder erkennbar noch spekulativ deduzierbar. Zugang zu diesem Mysterium gewährt allein die Bibel als Wort Gottes. Sie enthält, davon gehen die alten lutherischen Dogmatiker noch fraglos aus, das Mysterium des dreieinigen Gottes, nicht jedoch seine lehrhafte Ausarbeitung in Form einer Trinitätslehre. Diese verdankt sich der Kirche und ihrer Lehrbildung, die Eingang fand in das Nicäno-Konstantinopolitanum (325 und 381). Die dogmatische Lehrform des trinitarischen Gottesgedankens lautet: una divina essentia in tribus personis subsistit (ein göttliches Wesen, das in drei Personen subsistiert*). Dementsprechend sind die Grundbegriffe, die in der Lehre zu erörtern sind, essentia und persona. In der Regel erfolgt das in zwei Argumentationsreihen, welche zunächst die Einheit des göttlichen Wesens 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 179 <?page no="180"?> Einheit des göttlichen Wesens die drei Per‐ sonen opera trini‐ tatis ad intra sunt divisa in den drei Personen behandelt und sodann die drei göttlichen Personen Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist in ihrem Verhältnis zueinander. Das eine Wesen Gottes subsistiert in den drei Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, so dass Einheit, Mehrheit und Unterschied von Gott auszusagen sind. Dabei bezieht sich die Einheit auf das göttliche Wesen. Es ist eine numerische Einheit (lateinisch: unitas numerica), die nur einem Einzigen zukommt. Im Wesen Gottes sind die drei Personen real un‐ terschieden. Doch die Unterscheidung von Wesen und den drei Personen ist eine gedankliche. Ohne eine solche Differenzierung, so das Argument, ließe sich der in der Bibel enthaltende Glaube an den dreieinigen Gott nicht dar‐ stellen. Zur Folge hat das, dass das göttliche Wesen stets schon die drei Per‐ sonen realiter enthält. Nur zur Verständlichkeit muss zwischen essentia und den tres personae gedanklich unterschieden werden. Damit ist zugleich die Wesenseinheit und Wesensgleichheit (griechisch: homoousios; lateinisch: consubstantialis) der drei real unterschiedenen Personen ausgesagt. Bei den drei Personen handelt es sich folglich nicht um drei Götter, sondern um einen Gott in drei differenten personae. Ihnen kommt nicht nur die selbe una es‐ sentia zu, sondern auch deren Eigenschaften. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum einen göttlichen Wesen in den drei Personen wendet sich die Trinitätslehre der altlutherischen Dog‐ matik den drei Personen und ihren Unterschieden zu. Obwohl Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist real unterschieden sind, sind sie homoousios. Aus‐ gangspunkt der Ausführungen zu den tres personae ist diese reale Differenz der drei Personen im göttlichen Wesen, dem sogenannten ordo personalis (Ordnung der Personen). Er ergibt sich aus dem augustinischen Grundsatz, dass die Werke der Trinität nach innen geteilt sind (lateinisch: opera trinitatis ad intra sunt divisa). Mit der dogmatischen Lehrtradition sind die Personen in Gott als Relationen zu verstehen. Die unterschiedlichen Relationen be‐ stimmen die Personen in Gott. Es werden zwei processiones (Hervorgänge) unterschieden: Zeugung und Hauchung. Gott der Vater zeugt (lateinisch: generatio) den Sohn, der Vater und der Sohn hauchen (lateinisch: spiratio) den Heiligen Geist. Die innergöttlichen Hervorgänge (lateinisch: processiones) 1. generatio (Zeugung): der Vater zeugt den Sohn. 2. spiratio (Hauchung): der Vater und der Sohn hauchen den Geist. 180 5 Gott und Glaube <?page no="181"?> notiones personalis Perichorese Die westkirchliche Tradition der Trinitätslehre geht im Interesse an der Christologie im Unterschied zur Ostkirche davon aus, dass der Vater und der Sohn (lateinisch: filioque) den Geist hervorbringen. Aufgrund der Eintragung des filioque in das Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel im 5. Jahrhundert kam es im Jahre 1054 zum Schisma von West- und Ostkirchen. Zwischen den Personen bestehen bestimmte Verhältnisse, die jedoch weder zeitlich zu verstehen sind noch einen Unterschied in dem gleichen göttlichen Wesen der Personen begründen. Aus dem ordo personalis und den beiden Hervorgängen generatio und spiratio lassen sich die Eigentümlichkeiten der trinitarischen Personen (lateinisch: notiones personalis) ableiten. Die notiones personalis Gott der Vater: 1. Ungezeugtsein oder Ungewordensein 2. aktive Zeugung oder Vaterschaft im Hinblick auf den Sohn 3. aktive Hauchung im Hinblick auf den Heiligen Geist Gott der Sohn: 1. passive Zeugung oder Sohnschaft im Hinblick auf den Vater 2. aktive Hauchung im Hinblick auf den Heiligen Geist Gott der Heilige Geist: 1. passive Hauchung im Hinblick auf Vater und Sohn Durch die von ihnen vorgenommenen Unterscheidungen versuchen die alt‐ lutherischen Dogmatiker in ihren Erörterungen des dreieinigen Gottes so‐ wohl an dem einen Wesen Gottes als auch dem realen Unterschied der drei Personen festzuhalten. Da sich Wesen und Personen nur gedanklich unter‐ scheiden lassen, die Differenzen der drei Personen jedoch real sind, meint man, das homoousios von Vater, Sohn und Geist sicherzustellen. Aus ihrer Wesensgleichheit ergeben sich die Perichorese (lateinisch: circumincessio, das wechselseitige konsubstantiale Ineinander der Personen), ihre gleiche göttliche Dignität, ihre wesenhafte Gemeinschaft sowie das Ungeteiltsein ihrer Werke nach außen. Gott ist in Ewigkeit ein Wesen in drei unterschied‐ lichen Personen. In seinem Wirken nach innen sind seine Werke geteilt und in seinen Werken nach außen ungeteilt. Gleichwohl die opera trinitatis ad 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 181 <?page no="182"?> extra ungeteilt sind, also von allen drei göttlichen Personen zusammen ge‐ wirkt werden, ordnen die alten Dogmatiker einzelne Werke einer Person vorrangig zu (lateinisch: appropriationes, Zueignungen): Gott dem Vater die Schöpfung (lateinisch: creatio), Gott dem Sohn die Erlösung (lateinisch: re‐ demtio) und dem Heiligen Geist die Heiligung (lateinisch: sanctificatio). L IT E R ATU R : Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 100- 103. Franz Dünzl: Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2006. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 139-149. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 16-26. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 2, Gütersloh 1966, 82-154. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 87-109. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 107-119. 5.1.1.3 Die Lehre von der Schöpfung Mit der Lehre von der Schöpfung wendet sich die altlutherische Dogmatik der Welt zu und damit dem Ort, an dem allein von Gott geredet werden kann. Es schließt sich also der Kreis, von dem die Erörterungen über das Wesen Gottes ihren Ausgang nahmen und an den sie gebunden bleiben. Die Schöpfungslehre (lateinisch: de creatione) knüpft an die Gotteslehre im engeren Sinne an und thematisiert das erste Werk des dreieinigen Gottes nach außen. Sie bildet ebenso wie die Lehre von der Vorsehung (lateinisch: de providentia) für die lutherischen Dogmatiker einen Bestand‐ teil der Gotteslehre. In beiden Lehrstücken geht es um den dreieinigen Gott und sein Wirken, nur eben nun ad extra und nicht mehr wie in der Gotteslehre im engeren Sinne ad intra. Und wie die Gotteslehre so sind auch Schöpfungs- und Vorsehungslehre der lutherischen Dogmatik des 16. und 17. Jahrhunderts gegenständlich metaphysisch aufgebaut. Es werden sachhaltige Aussagen über die Entstehung der Welt durch das 182 5 Gott und Glaube <?page no="183"?> Lehrbegriff der Schöp‐ fung creatio ex nihilo Hervorbrin‐ gung der Welt schöpferische Handeln des dreieinigen Gottes gemacht. Bezugspunkt der Schöpfungslehre ist wie bereits in den Ausführungen über Sein und Wesen des trinitarischen Gottes die Heilige Schrift als Wort Gottes. Dadurch soll sichergestellt werden, dass es bei den Erörterungen des Schöpfungs- und Vorsehungsglaubens nicht um Spekulationen oder Vernunfterkenntnisse geht. Der dogmatische Lehrbegriff der Schöpfung klärt das Schöpfungshandeln Gottes durch begriffliche Unterscheidungen. Gott der Dreieinige ist Schöp‐ fer. Was das bedeutet, legen die alten Dogmatiken durch Distinktionen dar. Es finde sich, so das Argument, in den biblischen Schriften ein zweifacher Gebrauch des Wortes creatio (Schaffen), ein eigentlicher und ein uneigent‐ licher. Im uneigentlichen Sinne rede die Bibel nämlich auch da von einem göttlichen Schaffen, wo es um die Erhaltung der Geschöpfe und um die Neuschaffung des Herzens der Menschen, also um das Heilshandeln Gottes geht. Davon unterschieden sei der eigentliche Gebrauch von göttlichem Schaffen in Gen 1,1, die creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts). Im eigentlichen Sinne meint creatio eine productio ex nihile pure negativo (Her‐ stellung aus dem reinen Nichts). Mit der Distinktion von eigentlichem und uneigentlichem Schaffen wird indes der Heilsvom Schöpfungsglauben ge‐ trennt, so dass die soteriologische Dimension aus dem dogmatischen Lehr‐ begriff de creatione zurückgedrängt wird und der Fokus auf der Weltentste‐ hung liegt. Zugleich hält die Formel creatio ex nihilo, aus der theologischen Lehrtradition übernommen, die Gen 1,1 im Sinne einer creatio ex nihilo aus 2Mkk 7,28 vor dem Hintergrund der mittelplatonischen Philosophie ver‐ stand (vgl. oben 2.1.1), die Freiheit Gottes in seinem Schöpfungshandeln fest. Gott ist in seinem schöpferischen Handeln nicht auf eine ihm bereits vor‐ gegebene Materie oder die Mitwirkung der Kreaturen angewiesen. Er bedarf auch der Schöpfung nicht. Sie ist sein freies Werk und keine Emanation aus Gott. Somit existiert weder die Welt von Ewigkeit, wie Aristoteles annahm, noch gibt es eine vorhandene Materie, die in der Schöpfung geformt wird, wie in Platons Schöpfungsvorstellung aus seinem Dialog Timaeus. Auf die Klärung dessen, was unter göttlichem Schaffen zu verstehen sei, erfolgt die begriffliche Auslegung des schöpferischen Handelns des dreiei‐ nigen Gottes in seiner Hervorbringung der Welt. Hierzu greifen die alten lutherischen Dogmatiker auf die aristotelische Philosophie zurück und strukturieren das Sechstagewerk (griechisch: hexaëmeron) der Schöpfung durch die Unterscheidung von Wirk-, Material-, Form- und Zielursache (vgl. oben 2.3.3). Mit dem in Gen 1 berichteten Sechstagewerk ist eine Struktur 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 183 <?page no="184"?> Vorsehung gegeben, der sogenannte ordo creationis (Schöpfungsordnung), demzufolge die Schöpfung sukzessive hervorgebracht wurde. Unterschieden werden unmittelbare (lateinisch: creatio immediata) und mittelbare Schöpfung (la‐ teinisch: creatio mediata). Während erstere sich auf Gen 1,1, also den ersten Tag der Schöpfung bezieht, an dem Gott aus dem Nichts die Materie ge‐ schaffen hat, bezeichnet letztere die restlichen Schöpfungstage. Ab dem zweiten Schöpfungstag ist die Materie schon vorausgesetzt, so dass nicht mehr von einer creatio ex nihilo die Rede sein kann, sondern nur noch von einer Formung und Ausdifferenzierung der bereits gegebenen Materie. Die Schöpfung der sichtbaren und unsichtbaren Welt im Ganzen ist eine Handlung Gottes. Ihre Wirkursache (lateinisch: causa efficiens) ist der dreieinige Gott. Er bringt in völliger Freiheit die Welt durch sein Wort aus dem Nichts hervor. Da er die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, ihr also keine Materie vorausgeht, ist er zugleich Materialursache (lateinisch: causa materialis). Das gilt jedoch nur für die unmittelbare Schöpfung. Allen anderen Schöpfungstagen liegt die Materie zugrunde. Lediglich die Seele des Menschen ist am sechsten Tag nicht aus der Materie von Gen 1,1 abgeleitet. Sie entsteht ebenfalls ex nihilo beziehungsweise aus Gott. Mit causa formalis (Formursache) wird der Schöpfungsakt in seiner Relation zum Nichts des ersten Tags und der Materie der folgenden Tage bezeichnet. Sie entfaltet der ordo creationis. Und schließlich ist die causa finalis (Zielursache) der Schöpfung die Ehre Gottes (lateinisch: gloria Dei). Gott schafft die Welt, damit er von ihr erkannt und anerkannt werden kann. Unterschieden von diesem Endzweck der Schöpfung ist ihr mittelbarer Zweck (lateinisch: finis intermedius), ihr Nutzen und Gebrauch für den Menschen (lateinisch: usus et utilitas hominum nach Gen-1,28). Ebenso wie die Hervorbringung der Welt eine schöpferische Handlung des dreieinigen Gottes ist, ist es auch seine Vorsehung (lateinisch: providen‐ tia). Beides steht in einem engen Zusammenhang und differenzierte sich erst im Verlauf der Lehrentwicklung in zwei Lehrstücke aus. Gott hat nicht nur die Welt aus dem Nichts geschaffen, er erhält sie auch. Das Vorsehungshan‐ deln des dreieinigen Gottes strukturieren die Dogmatiken des alten Luther‐ tums in die drei Dimensionen Erhaltung, Mitwirkung und Lenkung. 184 5 Gott und Glaube <?page no="185"?> conservatio concursus gubernatio Die Dimensionen der göttlichen Vorsehung 1. conservatio (Erhaltung) beziehungsweise creatio continuata (fortge‐ setzte Schöpfung): Gott erhält durch sein fortgesetztes Schöpfungshan‐ deln die Welt. 2. concursus (Mitwirkung): Gott wirkt in allen Handlungen auf der Welt mit. 3. gubernatio (Lenkung): Gott lenkt und leitet die Welt auf ihr Ziel hin. Insgesamt ist das göttliche Vorsehungshandeln teleologisch auf den End‐ zweck der Schöpfung ausgerichtet. Gott, so die Bestimmung der providentia, verwirklicht seinen Willen in und durch die von ihm geschaffene Schöpfung. Gottes Vorsehung besteht zunächst darin, dass er die Welt erhält, seine Schöpfungstätigkeit also fortsetzt (lateinisch: conservatio oder creatio conti‐ nuata). Mit dieser Bestimmung ist der ordo creationis aufgenommen. Wie die causa formalis sich auf den Effekt der causa efficiens des ersten Schöpfungs‐ tags bezieht, die von Gott geschaffene Materie, so ist die conservatio ein Handeln des dreieinigen Gottes, ohne das die Welt ins Nichts versinken würde. Doch Gott erweist seine Vorsehung nicht nur dadurch, dass er die Welt durch sein Handeln erhält, er wirkt auch in allen ihren Geschehnissen mit. Auch dieser Gesichtspunkt ergibt sich aus der Schöpfung und zieht die Linien von der causa formalis der Schöpfung aus. Erörtert wird mit dem concursus das Zusammenwirken Gottes mit dem von ihm geschaffenen Kau‐ salnexus. Beides wird unmittelbar zusammen gesehen, so dass in allen end‐ lichen Handlungen und Ereignissen der dreieinige Gott mitwirkt. Um dieses Mitwirken zu strukturieren, greifen die Dogmatiken auf die mittelalterliche Unterscheidung von Erst- und Zweitursachen zurück. Gott als Erstursache (lateinisch: causa prima) wirkt in allen natürlichen Handlungen (lateinisch: causa secunda) mit, wobei jene Mitwirkung material und nicht formal ist. Andernfalls wäre Gott die Ursache der Sünde und des Bösen. Mit der gubernatio thematisiert die alte Dogmatik des Luthertums schließ‐ lich die teleologische Struktur des Vorsehungshandelns des dreieinigen Got‐ tes. Gott lenkt alle innerweltlichen Ereignisse und Handlungen auf sein Ziel hin. In Abgrenzung von dem sogenannten decretum aeternum (ewige Er‐ wählung der Menschen zum Heil oder Unheil) der reformierten Theologie betonen die Lutheraner, die Freiheit des Menschen werde durch die guber‐ natio Gottes nicht aufgehoben. Das ordnende Handeln Gottes strukturieren 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 185 <?page no="186"?> die alten Dogmatiken in vier Dimensionen: permissio (Zulassung), impeditio (Verhinderung), directio (Lenkung) und determinatio (Grenzsetzung). Viru‐ lent werden die hier verhandelten Aspekte vor allem im Hinblick auf die Sünde des Menschen sowie das Böse. Obwohl Gott in keinem Fall Ursprung der Sünde oder des Bösen ist, fällt doch der Sünder nicht aus seiner guber‐ natio heraus. Genau das beschreibt die permissio. Gott setzt seinen der Schöpfung gesetzten Endzweck nicht mit Zwang durch. Er lässt die Sünder gewähren, handelt jedoch den Wirkungen der Sünde entgegen und verhin‐ dert, was seinem Endzweck widerspricht (impeditio). Auf die Handlungs‐ folgen, welche die Handelnden nicht vollständig in ihrer Hand haben, be‐ zieht sich die directio. Determinatio bezeichnet schließlich die Endlichkeit der Kräfte des Menschen. Alle Handlungen haben folglich von Gott gesetzte Grenzen. Gottes Vorsehung ist das Seitenstück zu seinem Schöpfungshandeln. Sie erstreckt sich in differenzierter Weise auf die gesamte sichtbare und unsichtbare Schöpfung und läuft auf den Glaubenden zu, der sich in Gottes Hand wissen darf, der alles in der Welt auf seinen Endzweck hin ordnet und lenkt. Den Abschluss der klassischen lutherischen Lehre von Gott dem Dreieinigen und seinem Handeln ad extra bilden Ausführungen zu den Engeln (lateinisch: de angelis). Diese sind wie Gott geistige Wesen, doch im Unterschied zu ihm geschaffen und somit nicht unendlich. Mit den Engeln taucht am Ende der Gotteslehre noch einmal das Problem ihrer Medialität auf. Medientheoretisch optieren die altlutherischen Theologen für ein Verständnis des Mediums als durchsichtigem Fenster: die Boten Gottes sind unkörperliche Wesen. L IT E R ATU R : Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 103- 107. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 123-139. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 398-403. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 2, Gütersloh 1966, 155-247. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 110-152. 186 5 Gott und Glaube <?page no="187"?> Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 132-176. 5.1.2 Problemfelder der Gotteslehre Christlicher Glaube ist Glaube an den dreieinigen Gott. Doch dieser Glaube ist seit der Aufklärung erschüttert. Nicht nur die Frage, ob der Gott, auf den sich der Glaube richtet, existiert, ist strittig geworden, sondern auch die, wie Gott angesichts der Veränderungen im Weltbild seit der frühen Neuzeit theologisch zu begreifen ist. Jede Systematische Theologie, die den modernen Erkenntnisbedingungen Rechnung tragen möchte, muss zu die‐ sen Problemen Stellung nehmen. Im Folgenden werden drei exemplarische Problemfelder diskutiert, mit denen eine theologische Gotteslehre unter den veränderten Bedingungen seit der Aufklärung konfrontiert ist: Gott zwischen Existenzbehauptung und Projektionsverdacht, Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft und Gott und das Böse. Sie resultieren aus der gegen‐ ständlich-objektiven Fassung der Gotteslehre, die sie in der theologischen Lehrtradition sowie in der alten lutherischen Dogmatik erhalten hat. Im Durchgang durch diese Problemfelder sollen die Bedingungen herausgear‐ beitet werden, denen eine theologische Lehre von Gott zu genügen hat. Im abschließenden Abschnitt des Kapitels Gott und christliche Religion werden vor dem Hintergrund der dogmatischen Lehrform der Gotteslehre diese Problemfelder aufgenommen und auf der Grundlage einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation einer Lösung zugeführt. 5.1.2.1 Gott zwischen Existenzbehauptung und Projektionsverdacht Die christliche Religion redet von Gott. Doch Gott ist kein Bestandteil der Welt. Er ist transzendent und weder sichtbar noch darstellbar. Christlicher Glaube verdankt sich dem transzendenten dreieinigen Gott, auf den er sich bezieht. Ohne Gott gibt es folglich auch den christlichen Glauben nicht. Indem aber die christliche Religion von dem Gott redet, dem sie sich verdankt, ist sie es, die von ihm spricht. Ihre Kommunikation ist und bleibt menschliche Rede, die Gottesgedanken, Gottesvorstellungen, Begriffe und Bilder von Gott schafft. Gottesgedanken sind jedoch nicht Gott. Andernfalls wäre Gott ein Gedanke oder eine Vorstellung. Gott existiert entweder unabhängig vom Menschen, oder er ist eine menschliche Vorstellung und Fiktion, die es allein in der Rede von ihm gibt. Mit dieser Alternative ist 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 187 <?page no="188"?> Erkenntnis‐ kritik Religions‐ kritik sowohl die christliche Rede von Gott als auch die theologische Gotteslehre konfrontiert, und sie muss dazu Stellung nehmen. Welche Umgangsweisen mit der Alternative von Existenzbehauptung und Projektionsverdacht wer‐ den in der gegenwärtigen Systematischen Theologie diskutiert? Bis in die Zeit der Aufklärung war die Existenz Gottes eine geradezu selbstverständliche Voraussetzung im europäischen Weltbild. Gott ist der Schöpfer der Welt und als solcher von ihr unabhängig und ihr vorgängig. Diese Überzeugung teilten alle christlichen Konfessionskirchen. Strittig zwischen ihnen war nicht die Wirklichkeit Gottes, sondern allein seine rich‐ tige theologische Bestimmung. Das änderte sich erst mit der Aufklärung. Ihre Erkenntniskritik hat die Voraussetzung der Wirklichkeit Gottes nach‐ haltig erschüttert. David Hume und Immanuel Kant machten in ihren Er‐ kenntniskritiken deutlich, dass es von Gott kein Wissen geben könne, da intersubjektiv geltende Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung be‐ schränkt sei (vgl. oben 2.5.1). Alles Wissen steht unter der Bedingung des Wissenkönnens, das heißt, es ist vom Menschen als erkennendem Subjekt hervorgebracht und ihm zurechenbar. Auch der Gedanke Gottes sowie die Behauptung seiner Wirklichkeit sind vor diesem Hintergrund als Setzungen des Menschen durchschaut. Dass Gott existiert und unabhängig vom Men‐ schen sei, lässt sich nur behaupten, indem man Gott als nicht-gedacht denkt. Wenn jedoch Gott ein Gedanke ist, dann lässt er sich jederzeit wieder zu‐ rücknehmen und negieren. Vor dem Hintergrund der modernen Erkenntnisbedingungen steht jede Behauptung der Wirklichkeit Gottes unter einem Projektionsverdacht. Hier setzt die radikal-genetische Religionskritik an, wie sie von Ludwig Feuer‐ bach, Karl Marx Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud (1856-1939) und an‐ deren ausgearbeitet wurde. Sie alle unternahmen den Versuch, die Wurzeln der Religion aufzudecken, um sie als ein falsches Bewusstsein zu entlarven. Die klassische Religionskritik Ludwig Feuerbach versteht das religiöse Bewusstsein als ein entfrem‐ detes. Der Mensch ist von seiner Gattung entzweit, da das Individuum aus purer Selbstsucht deren Stelle okkupiert. Doch die Menschheit ist das wahre Unendliche, das Individuum hingegen ist stets endlich und beschränkt. Ihm kommt nur eingeschränkt zu, was die Gattung uneingeschränkt auszeichnet. Individuum und Gattung stehen folglich aufgrund der Selbstsucht und des Egoismus des Einzelnen in einem 188 5 Gott und Glaube <?page no="189"?> Widerspruch. Jener Widerspruch von Besonderem und Allgemeinem ist es, der in der Religion seinen Ausdruck findet: Die Gottesvorstellung der Religion repräsentiert die Gattung als das wahre Wesen des Men‐ schen. Deshalb sei, wie es in der 1841 erschienenen Schrift Das Wesen des Christentums heißt, die Anthropologie das Geheimnis der Theolo‐ gie. Gegenstand der Religion ist für Feuerbach nicht Gott, sondern der Mensch als leib-seelisches Gattungswesen. In der Religion wird das Wesen des Menschen verobjektiviert und vom individuellen Menschen unterschieden. Die Eigenschaften, welche die Religion Gott als dem höchsten Wesen zuspricht, sind bei Lichte betrachtet diejenigen, die dem Menschen als Gattungswesen zukommen. Folglich besteht die kritische Aufgabe der Philosophie darin, die Entzweiung des Menschen von sich selbst aufzuheben, um ihn mit sich selbst zu versöhnen. Das ist die Funktion der Religionskritik, die die religiösen Vorstellungen als Schein und Objektivierung des Wesens des Menschen aufdeckt und die Religion auf das Selbstverhältnis des Menschen zurückführt. Für Karl Marx, der zunächst an Feuerbach anknüpfte, ist Religion eine Folge der gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen. Der Mensch ist als Individuum stets durch die Gesellschaft bestimmt, sein Sein ist ein gesellschaftliches. Das gilt auch für die Religion. Sie hat gesellschaftliche Wurzeln. Die gesellschaftlichen Strukturen sind es, so die über Feuerbach hinausgehende Diagnose von Marx, welche die Religion als entfremdetes Bewusstsein hervorbringen. Genauer: Die moderne, auf der kapitalistischen Produktionsweise fußende Ge‐ sellschaft entfremdet den Menschen von sich selbst, da in ihr die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch zu den Produktionsver‐ hältnissen getreten sind. Marx belässt es nicht bei einer Zurückführung der Religion auf das gesellschaftliche Sein des Menschen. Durch ihre Diagnose ist die durch die kapitalistische Gesellschaft hervorgerufene Entfremdung des Menschen noch nicht therapiert. Hier hilft nur, wie es in den Thesen über Feuerbach (1845) heißt, die Tat, die revolutionäre Veränderung und Umgestaltung der Gesellschaft. Sie führt in eins mit der Überwindung der gesellschaftlichen Entfremdung zum Ende der Religion. Auf ähnliche Weise verfahren die Religionskritiken von Nietzsche, Freud, Günter Dux (*1933) und anderen. 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 189 <?page no="190"?> Unterschei‐ dung Gott und Gottes‐ gedanke Wirklichkeit Gottes als Hypothese Gott ist eine menschliche Projektion, so die Religionskritik. Denn jeder Gottesgedanke und jedes Gottesbild ist ein menschliches Produkt, eine vom Menschen hervorgebrachte Vorstellung. Diese ist nicht nur durch eine Kultur und ihre Geschichte geprägt, sondern in sie gehen stets auch menschliche Sehnsüchte, Wünsche, Illusionen sowie Interessen und Macht mit ein. Davon ist kein Gottesgedanke frei. Ist Gott also nur der Name für eine besonders sublime Form der Selbsterhaltung? Gegenüber den Argumenten der Religionskritik, welche Gott als kontin‐ gentes Produkt menschlicher Wünsche und Interessen dechiffriert, kann man freilich theologischerseits einräumen, dass das Bild und die Vorstellung Gottes vom Menschen geschaffen ist, aber eben nicht Gott selbst. Er mag als Projektionsfläche für alles Mögliche fungieren, aber das setze doch voraus, dass es die Fläche, auf die projiziert wird, bereits gibt (Paul Tillich). An der vorgängigen Existenz Gottes lasse sich mithin festhalten, indem man die Bilder und Vorstellungen, die sich der Mensch von ihm macht, unterscheidet. Wie allerdings lässt sich die vorgängige und unabhängige Wirklichkeit Got‐ tes von den Gottesgedanken und Gottesbildern unterscheiden? Jede Diffe‐ renzierung ist eine, die vom Menschen gemacht wird. Unterscheiden lässt sich nur in der Sprache. Doch Sprache und Zeichen verweisen nicht auf eine Wirklichkeit jenseits von ihnen. Sie sind selbstreferentiell und deuten auf andere Zeichen. Damit bleibt jeder Rekurs und jede Inanspruchnahme einer dem Menschen vorgängigen und von ihm unabhängigen Wirklichkeit Got‐ tes eine Behauptung, die sich - da Gott transzendent ist - nicht ausweisen lässt. In den theologischen Debatten über die Wirklichkeit Gottes wurde des‐ halb der Vorschlag unterbreitet, die Wirklichkeit Gottes in der Systemati‐ schen Theologie als ein Postulat oder eine Hypothese aufzufassen. Der Glaube, so das Argument, hänge an der vorgängigen Wirklichkeit Gottes. Ohne sie wäre er kein Glaube, sondern eine menschliche Illusion. Da sich aber die Wirklichkeit Gottes nicht aufweisen oder begründen lasse, müsse sie von der Theologie als eine Hypothese behandelt werden, welche not‐ wendig sei, damit der Glaube in seiner Eigenart erfasst werden könne (Wolf‐ hart Pannenberg, Wilfried Härle). Eine solche Auffassung ist jedoch mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert, die sie letztlich untragbar machen. Abgesehen davon, dass mit dem Postulat Gottes von Anfang an zugestanden ist, dass es eine menschliche Setzung ist, bleibt das Problem bestehen, dass die postulierte Wirklichkeit Gottes selbst nicht zugänglich ist und nur als wirklich und unabhängig vom Menschen behauptet werden kann. Über die‐ 190 5 Gott und Glaube <?page no="191"?> Probleme der Wirk‐ lichkeitsbe‐ hauptung Gottes ses Dilemma führt auch eine eschatologische Selbstverifikation Gottes nicht hinaus. Theologische Positionen, die von einem Selbsterweis der Wirklich‐ keit Gottes im Eschaton ausgehen, halten, wie Wolfhart Pannenberg, zu‐ gleich an der Differenz zwischen menschlichen Gottesgedanken und der Wirklichkeit Gottes fest. Wenn diese Differenz auch im Eschaton gilt, dass der Mensch nur Bilder und Vorstellungen von Gott haben kann, die von der Wirklichkeit Gottes unterschieden bleiben, dann besteht keine Möglichkeit, die Wirklichkeit Gottes zu erfassen. Erkennen kann der Mensch nur Got‐ tesgedanken, die er selbst hervorbringt. Diese sind jedoch nicht die Wirk‐ lichkeit Gottes. Sie müssen von ihr unterschieden bleiben. Auch die Behauptung, der Glaube hänge an der vorgängigen und vom Menschen unabhängigen Wirklichkeit Gottes, ist nicht ohne Probleme. Oft wird argumentiert, ohne die Wirklichkeit Gottes, der sich der Glaube ver‐ dankt, sei dieser eine menschlich-allzu menschliche Vorstellung und Imagi‐ nation, die sich nicht von anderen menschlichen Illusionen unterscheidet. Die Wahrheit des Glaubens gründe in der Wirklichkeit Gottes, auf die er sich bezieht. Durch den Rekurs auf die dem Menschen vor- und übergeordnete Wirklichkeit Gottes, das ist die Intention, soll theologisch sichergestellt werden, dass der Glaube keine menschliche Deutung oder irgendetwas sei, das vom Menschen hervorgebracht werden könnte. Glaube ist kein Werk des Menschen, welches in seiner Macht steht. Er ist ein Geschenk, eine Gabe. Indem auf der übergeordneten und vom Glauben unabhängigen Wirklich‐ keit Gottes beharrt wird, ist der Glaube etwas Sekundäres, was zu der bereits gegebenen Wirklichkeit Gottes hinzukommt. Wenn der Glaube aber gegen‐ über der Wirklichkeit Gottes sekundär ist und nur entsteht, wenn sich ihm diese erschließt, woher weiß der Glaube, dass er es mit der Wirklichkeit Gottes zu hat? Durch Gottes Selbstidentifikation in seiner Offenbarung (Eberhard Jüngel, Ingolf U. Dalferth) oder durch eine passive Erschließungs‐ erfahrung (Eilert Herms, Wilfried Härle)? Beides führt nicht, wie intendiert, zu einer Ausschaltung menschlicher Deutungsaktivitäten. Es ist stets der Mensch, der Gott erkennt und identifiziert. Anders könnte er gar nicht wis‐ sen, dass sich ihm Gott erschlossen oder sich ihm gegenüber selbst identi‐ fiziert hat. So führt gerade die Behauptung der vorgängigen Wirklichkeit Gottes und ihrer Unabhängigkeit vom erkennenden Subjekt dazu, dass der Glaube unter der Hand in eine menschliche Deutungsleistung verkehrt wird. Selbst wenn der Glaube sekundär ist, so ist er doch auch wieder notwendig, damit es zur Gotteserkenntnis kommen kann. Aber als sekundär hinzukom‐ 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 191 <?page no="192"?> mender ist er ein menschlicher Akt und folglich das, was er nicht sein soll, ein Werk. Jeder Rekurs auf eine vorgängige Wirklichkeit Gottes, um den Glauben theologisch zu begründen, bleibt aporetisch, da er den Verdacht nicht ausräumen kann, bei dieser Behauptung handelt es sich um eine Projektion oder Setzung des Menschen. Das zeigt aber, dass der Ansatz selbst verfehlt ist und eine andere Grundlegung des religiösen Gottesgedankens erforderlich macht. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums, hrsg. v. Karl Löwith, Stuttgart 1984. Johannes Fischer: Gott im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen, in: Ingolf U. Dalferth/ ders./ Hans-Peter Großhans (Hrsg.): Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 93-112. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 271-285. Veronika Hoffmann (Hrsg.): Wirklich? Konzeptionen der Wirklichkeit und der Wirklichkeit Gottes, Stuttgart 2021. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992. Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: ders./ Friedrich Engels: Ausgewählte Schrif‐ ten in zwei Bänden, Bd.-2, Berlin (Ost) 1983, 370-372. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-1, Göttingen 1988, 133-205. Christoph Schwöbel: Offenbarung und Erfahrung - Glaube und Lebenserfahrung. Systematisch-theologische Überlegungen zu ihrer Verhältnisbestimmung, in: ders.: Gott in Beziehung, Tübingen 2002, 53-129. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. I-II, hrsg. v. Christian Danz, Berlin/ Bos‐ ton 9 2017, 218-221. Falk Wagner: Religion und Gottesgedanke. Philosophisch-theologische Beiträge zur Kritik und Begründung der Religion, Frankfurt a.-M. 1996. 5.1.2.2 Schöpfungslehre und Naturwissenschaft Der Glaube an ‚Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde‘, so das Apostolische Glaubensbekenntnis, gehört zu den grund‐ 192 5 Gott und Glaube <?page no="193"?> Auflösung der Schöp‐ fungslehre legenden Bestandteilen des christlichen Glaubens. Gott ist der freie Schöpfer der Welt, der diese aus dem Nichts ins Dasein gerufen hat (vgl. oben 5.1.1.3). Im Anschluss an die biblischen Schöpfungsberichte und mit den begriffli‐ chen Mitteln der mittelplatonischen Philosophie arbeitete die antike Theo‐ logie den Schöpfungsglauben zur Schöpfungslehre aus (vgl. oben 2.1). An die antiken Lehrformen knüpfte sowohl die mittelalterliche als auch die re‐ formatorische Theologie an. Dass die Welt sowie alles Sichtbare und Un‐ sichtbare in ihr von Gott geschaffen und erhalten wird, gehört zu den ele‐ mentaren Überzeugungen des christlichen Weltbildes von der Antike bis in die Zeit der europäischen Aufklärung. Es bildet ebenso den Rahmen von Naturverständnis und Naturforschung. Doch die Transformationen dieses Weltbildes seit der frühen Neuzeit lösten die kosmologisch-metaphysische Matrix zunehmend auf, in dem der Schöpfungsglaube verstanden wurde. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie betreffen keineswegs nur die Ent‐ stehung und Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, die sich ver‐ stärkt von den theologischen und biblischen Vorgaben des Schöpfungsglau‐ bens emanzipierten. Nicht minder von Bedeutung für die Auflösung der überlieferten kosmologisch-metaphysischen Form der dogmatischen Schöp‐ fungslehre waren die im Zeitalter der Aufklärung einsetzende historische Bibel- und Erkenntniskritik, die Ausdifferenzierung der Kultur infolge des Modernisierungsprozesses sowie damit verbunden die Herausbildung der modernen Fachwissenschaften in der *Sattelzeit der Moderne zwischen 1770 und 1830 (vgl. oben 2.4). Von der historischen Bibelkritik wurde deutlich gemacht, dass es sich bei den biblischen Schöpfungsberichten nicht um Modelle der Welterklärung handelt, sondern um poetische Darstellungen der ‚alten Hebräer‘ ( Johann Gottfried Herder), die Erkenntniskritik schied den Gottesgedanken aus dem Bereich der Erkenntnisgegenstände aus, und die komplexen Ausdifferenzie‐ rungsprozesse von Kultur und Gesellschaft sowie der Wissenschaften, die zur Entstehung der modernen Fachwissenschaften führten, unterschieden religiöse und naturwissenschaftliche Weltsicht. Religion und Naturwissen‐ schaften entstehen um 1800 als autonome Formen der Weltbeschreibung, die nebeneinanderstehen und jeweils eigene Sichten der Welt herstellen, die sich je länger desto weniger miteinander vermitteln lassen. Aus dem Universum, welches aufgrund seiner internen Ordnungsstrukturen auf seinen Schöpfer verwies, wurde in der Perspektive der Naturwissenschaften ein funktional-prozessuales System, welches autopoietisch und sinnfrei operiert. Eine solche Welt verweist nicht mehr, wie es im seit der Antike 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 193 <?page no="194"?> Schöp‐ fungslehre Nebenein‐ ander von Schöp‐ fungs‐ glaube und Naturwis‐ senschaft überlieferten Weltbild der Fall war, auf einen Schöpfergott oder einen intel‐ ligenten Weltbaumeister. Weltenthobene Instanzen wie Gott oder Götter sind nicht mehr nötig, um die Welt zu erklären. Die modernen Naturwis‐ senschaften entwerfen Modelle, um diese Prozesse, die zur Herausbildung des Universums führten, zu beschreiben und zu erfassen. Wie gestaltet sich unter den veränderten sozialen und erkenntnistheore‐ tischen Bedingungen der Moderne die dogmatische Schöpfungslehre, und wie wird diese auf das von den modernen Naturwissenschaften beschriebene Weltbild bezogen? Im Resultat führten die sich überlagernden Entwick‐ lungsprozesse in der protestantischen Theologie um 1800 zu einer völligen Umformung der überlieferten Lehre von Gott dem Schöpfer. Diese verläuft parallel zur Etablierung der Theologie als einer Fachwissenschaft (vgl. oben 2.4.2). Einerseits werden die Veränderungen im Weltbild anerkannt und in der Systematischen Theologie berücksichtigt. Das hat andererseits zur Folge, dass zwischen der religiösen und der naturwissenschaftlichen Deu‐ tung der Welt strikt unterschieden wird. Religiöser Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliche Erklärung stehen nebeneinander. Gegenstand der Systematischen Theologie ist nun der religiöse Schöpfungsglaube als eine eigene Sicht der Welt, der einen Bestandteil der christlichen Religion bildet, und nicht mehr die Entstehung der Welt. Auf diese Weise knüpfte die pro‐ testantische Theologie an die soteriologische Dimension des Schöpfungsglaubens an und rückte diese in den Fokus, während die kosmologisch-me‐ taphysischen Elemente der Schöpfungslehre zurücktraten und ausgeschie‐ den wurden. Dadurch erhält die Lehre von der Schöpfung eine kritische Funktion. Sie markiert die Differenz der Religion gegenüber naturwissen‐ schaftlichen Beschreibungen der Weltwirklichkeit. Geradezu paradigmatisch für die Neuformulierung der Schöpfungslehre vor dem Hintergrund des modernen Welt- und Naturbildes ist Friedrich Schleiermachers Dogmatik Der christliche Glaube (vgl. oben 2.5.3). Er schei‐ det alle kosmologischen Elemente des traditionellen Lehrbegriffs (vgl. oben 5.1.1.3.) aus. Der Schöpfungsglaube ist Bestandteil des christlich-religiösen Bewusstseins, und er entsteht erst mit diesem zusammen, indem Menschen in das von Jesus Christus gestiftete neue Gesamtleben aufgenommen wer‐ den. Gott ist nicht mehr auf das Einzelne und seine Veränderungen in der Welt bezogen, sondern auf das Ganze der Wirklichkeit. Darauf baut die Dif‐ ferenz der religiösen Weltsicht von naturwissenschaftlichen oder philoso‐ phischen Begründungen der Wirklichkeit auf. Gott hat keine Funktion für die Erklärung der Welt und ihrer Entstehung. Er hat eine Funktion für die 194 5 Gott und Glaube <?page no="195"?> Ineinander von Schöp‐ fungs‐ glaube und Naturwis‐ senschaft religiöse Deutung des Menschen. Damit ist ein Modell etabliert, das es er‐ laubt, am Wirklichkeitsbezug Gottes sowie am Naturbild der modernen Na‐ turwissenschaften festzuhalten. Für die weitere Entwicklung der protestan‐ tischen Theologie blieb es bestimmend. Angesichts der rasanten Entwicklungen der Naturwissenschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts ermöglichte es, diese ebenso zu berücksichtigen wie den Schöp‐ fungsglauben. Theologische Schöpfungslehre und Naturwissenschaften un‐ terscheiden sich dadurch, dass sich erstere auf das Ganze der Wirklichkeit bezieht und letztere auf das Einzelne und Konkrete in ihr. Religion ist eine Angelegenheit der Innerlichkeit des Menschen, und die Wissenschaften sind für das Äußere zuständig. Beide Dimensionen stehen nebeneinander und thematisieren unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit. Mit dem Schöpfungsglauben beschreibt die Theologie den von Gott verbürgten und in Jesus Christus offenbar gewordenen Sinn der Welt im Ganzen, der den Naturwissenschaften entzogen ist, da diese auf das Konkrete und seine kau‐ sal-mechanischen Zusammenhänge beschränkt sind. Selbst wenn man die grundsätzliche Differenz von religiöser und natur‐ wissenschaftlicher Weltdeutung anerkennt, lässt sich argumentieren, dass der religiöse Schöpfungsglaube für die naturwissenschaftliche Weltdeutung von Bedeutung ist. Wenn nämlich mit dem Schöpfungsglauben ein Bild des Ganzen der Wirklichkeit verbunden ist, dieses Ganze jedoch den auf Ein‐ zelnes und Äußeres beschränkten Naturwissenschaften nicht zugänglich ist, dann beinhaltet jener eine Voraussetzung und Bedingung von dieser ( Jürgen Moltmann [geb. 1926]). Beide stehen also nicht einfach nebeneinander, son‐ dern verhalten sich komplementär zueinander (Wilfried Härle) oder stehen in Konsonanz miteinander (Wolfhart Pannenberg). In Modellen, welche die religiöse Schöpfungsvorstellung sowie die mit ihr verbundene Ganzheits‐ idee in einem gegenständlichen Sinne aufnehmen, werden Schöpfungslehre und Naturwissenschaften nicht nur wieder ineinandergeschoben, es wird auch der Schöpfungsglaube als konstitutiv und grundlegend für die natur‐ wissenschaftliche Sicht der Wirklichkeit postuliert. Indem nur der Syste‐ matischen Theologie das Ganze der Wirklichkeit sowie ihr Sinn zugänglich ist, der den anderen Wissenschaften prinzipiell verborgen bleibt bezie‐ hungsweise zu erfassen abgesprochen wird, dann liefert sie die eigentliche und wahre Sicht des Kosmos und seiner Entwicklung. Mit dem Nebeneinander von Schöpfungslehre und Naturwissenschaft sowie den Versuchen, beide wieder ineinanderzuschieben, sind die Alterna‐ tiven benannt, den Schöpfungsglauben angesichts der naturwissenschaft‐ 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 195 <?page no="196"?> lichen Weltbeschreibung in der Moderne zu erörtern. Beides ist indes unbefriedigend. Die christliche Religion bezieht sich auf die Welt und macht Aussagen von ihr, welche sich nicht nur auf das Ganze der Wirklichkeit stützen, sondern auch auf Einzelnes und Konkretes in ihr. Aber diese Aus‐ sagen haben keine gegenständliche Funktion. Das macht deutlich, dass die theologischen Umgangsweisen mit den modernen, naturwissenschaftlichen Modellen der Welterklärung zu kurz greifen und eine Neufassung der Schöp‐ fungslehre notwendig machen, die an der Funktion des Schöpfungsglaubens für die christliche Religion orientiert ist. L IT E R ATU R : Christian Danz: Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbe‐ griffs, Neukirchen-Vluyn 2007. Dirk Evers: Natur als Schöpfung, in: Thomas Kirchhoff/ Nicole C. Karafyllis u.-a. (Hrsg.): Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, 23-31. Johannes Fischer: Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? , in: Freiburger Zeitschrift für Philoso‐ phie und Theologie 41 (1994), 491-514. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 413-429. Matthias Haudel: Theologie und Naturwissenschaft. Zur Überwindung von Vor‐ urteilen und zu ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis, Göttingen 2021. Christian Link: Schöpfung, 2 Bde., Gütersloh 1991. Jürgen Moltmann: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, Mün‐ chen 1985. Wolfhart Pannenberg: Die Frage nach Gott als Schöpfer und die neuere Kosmo‐ logie, in: ders.: Beiträge zur Systematischen Theologie II, Göttingen 2000, 82-92. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-1, 218-240 (§§ 36-41). Michael Welker: Schöpfung und Wirklichkeit. Biblische contra natürliche Theo‐ logie, Neukirchen-Vluyn 1995. 5.1.2.3 Gott und das Böse Gott hat die Welt nicht nur geschaffen, er erhält sie auch im Dasein und wirkt in allen innerweltlichen Ereignissen mit. Doch in seiner Schöpfung, die er nach den biblischen Schöpfungsberichten für sehr gut befand (Gen 1,31), findet sich nicht nur Gutes. In ihr begegnen Übel und Böses. Mit 196 5 Gott und Glaube <?page no="197"?> Theodizee Theodizee‐ problem ihnen sind Leiden und Tod verbunden. Sie werfen die Frage auf, wie sich Gott zu dem Bösen verhält. Wenn ihm die Eigenschaften der Allmacht und der Güte zukommen, wie kann es, wenn Gott doch in allen Ereignissen dieser Welt mitwirkt, überhaupt Böses und Übel geben? Für diese Frage, die bereits die antike Philosophie beschäftigte, hat sich in der Neuzeit der Name The‐ odizee etabliert. Theodizee Die Versuche, Gott gegenüber dem Leiden in der Welt zu rechtfertigen, nennt man im Anschluss an das Buch Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710) von Gottfried Wilhelm Leibniz Theodizee. Das Problem wurde schon in der Antike verhandelt. So fragte Epikur (341-271 v.-Chr.): „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott geziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg? “ (Epikur 1991, 136) Das Theodizeeproblem resultiert aus drei Aussagen: (a) Gott ist vollkommen gut, (b) Gott ist allmächtig, und (c) es gibt Übel und Böses in der von Gott geschaffenen Welt. Infrage steht somit, ob diese drei Aussagen zusammen wahr sein können oder nicht. Lassen sich alle drei Aussagen konsistent als wahr begründen, dann ist der allmächtige und gute Gott angesichts des Bö‐ sen in der Welt gerechtfertigt. Im anderen Fall ist eine der drei Aussagen, oder auch mehrere, falsch. Dann ist Gott entweder nicht gut oder nicht all‐ mächtig oder beides nicht, so dass die Behauptung seiner Existenz durch die Übel in der Welt falsifiziert wird. Freilich kann auch argumentiert werden, es gebe weder Übel noch Böses in dieser Welt, um an der Allmacht und Güte Gottes festzuhalten. Im Hintergrund der Theodizee-Diskurse steht ein the‐ istisch-metaphysisches Gottesverständnis. Gott wird als ein Gegenstand verstanden, dem Aussagen zugesprochen werden können, von denen gilt, 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 197 <?page no="198"?> evidential argument from evil dass sie notwendig entweder wahr oder falsch sind. Damit ergibt sich die Grundalternative, um die sich die Debatte bewegt. Entweder widersprechen das Böse und die Übel der Annahme eines guten und allmächtigen Gottes (evidential argument from evil) oder nicht. Positionen, die nachzuweisen versuchen, dass die drei Aussagen, Gott ist gut und allmächtig, sowie es gibt Böses in der Welt, nicht zugleich wahr sein können, führen in der Regel noch zwei weitere Zusatzannahmen ein: (d) das Gute steht in einem Gegensatz zum Bösen, so dass es dieses überwindet, und (e) Allmacht sei im Sinne von Schrankenlosigkeit zu verstehen. Bezieht man diese beiden Zusatzannahmen in die Überlegungen mit ein, dann treten die drei Aussagen in einen kontradiktorischen Widerspruch. Wenn Gott gut und allmächtig ist und es Übel und Böses in der Welt gibt, muss eine der drei Aussagen notwendig falsch sein. Ein guter und allmächtiger Gott müsste, wenn er dies wäre, das Böse verhindern und überwinden. Da es jedoch evidenterweise Böses, Übel, unschuldiges Leiden und Tod in dieser Welt gibt, können die Aussagen Gott ist gut und Gott ist allmächtig nicht zugleich wahr sein. Denn wäre er wirklich gut und allmächtig, dürfte es diese Übel nicht geben. Aus diesem Dilemma führt auch die Annahme einer von Gott gewollten menschlichen Freiheit als Ursprung des Bösen nicht hinaus. Diese Hypothese entlastet Gott deshalb nicht angesichts des Bösen und der Übel, weil sie seine Allmacht aufhebt. Das Böse und die Übel in der Welt, so das evidential argument from evil, falsifiziert die Behauptung eines guten und allmächtigen Gottes. Gott ist entweder gut und nicht allmächtig oder allmächtig und nicht gut oder beides nicht. Auch die Kritiker des evidential argument from evil gehen von einem the‐ istisch-metaphysischen Gottesverständnis sowie den drei Aussagen, Gott ist gut, allmächtig, und es gibt Böses in der Welt, aus. Sie versuchen hingegen nachzuweisen, dass diese drei Aussagen zugleich wahr sind. Hierzu muss gezeigt werden können, dass es für Gott moralische Gründe gibt, Übel und Böses in der Welt zuzulassen. In diesem Sinne hatte bereits Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Theodicée argumentiert: Übel gehören notwendig zur besten aller möglichen Welten, die Gott geschaffen habe. Ohne das malum metaphysicum (metaphysisches Übel), also die Endlichkeit der Welt, würde sie sich nicht von Gott unterscheiden. 198 5 Gott und Glaube <?page no="199"?> Verteidi‐ gung Got‐ tes ange‐ sichts des Bösen Formen der Übel Die theologische und philosophische Lehrtradition unterscheidet im Anschluss an Augustins Buch Confessiones (Buch VII,3) drei Formen von Übeln. Aufgenommen und systematisch durchgearbeitet wurde diese Unterscheidung von Leibnitz in seiner Schrift Theodicée. Metaphysisches Übel (lateinisch: malum metaphysicum): Übel, das mit der Endlichkeit der Welt verbunden ist, wie zum Beispiel der Tod. Physisches Übel (lateinisch: malum physicum): Übel, das durch natür‐ liche Ursachen entsteht, wie Naturkatastrophen etc. Moralisches Übel (lateinisch: malum morale): Übel, das durch willent‐ liches, intentionales Handeln des Menschen entsteht. Ein Widerspruch zwischen der Annahme eines guten und allmächtigen Gottes sowie der Existenz von Übeln in der Welt lässt sich vermeiden, wenn Gott Gründe hat, diese zuzulassen und sie nicht zu beseitigen oder zu ver‐ hindern. Doch welche könnten das sein? Übel, so argumentiert Richard Swinburne (geb. 1934), sind notwendig, damit der Mensch etwas lernen kann. Für den erfahrungsbasierten Wissenserwerb haben sie eine unerläss‐ liche Funktion. Indem der Mensch aus Übeln wie Schmerzen lernt, diese zu vermeiden, etwa durch die Entwicklung der Medizin, führen sie zu einem höherwertigen Gut, nämlich freiem und verantwortlichem Handeln. Ist es Gottes Intention, freie und verantwortliche Menschen zu schaffen, so muss er notwendig auch Übel wollen. Böses und Übel widersprechen somit nicht der Annahme eines guten und allmächtigen Gottes. Doch die Verteidigung Gottes angesichts der Übel gelingt nur, indem den Übeln eine notwendige Funktion zugesprochen wird. Sind diese Mittel zur Erlangung eines höher‐ wertigen Guten, dann sind sie selbst gut. Jeder Nachweis von Gründen, die Gott haben könnte, um Übel zuzulassen, funktionalisiert und instrumenta‐ lisiert diese und hebt sie auf. Ähnlich wie im evidential argument from evil scheidet auch hier, wenngleich stillschweigend und unter der Hand, eine Aussage als falsch aus. Sowohl die Verteidiger der Allmacht und Güte Gottes gegenüber den Übeln in der Schöpfung als auch deren Opponenten teilen dieselben Voraus‐ setzungen und logischen Verfahren. Beide setzen einen theistisch-metaphy‐ sischen Gottesgedanken voraus, von dem Aussagen gemacht werden, deren Verträglichkeit in einem logischen Verfahren aufgewiesen oder bestritten 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 199 <?page no="200"?> wird. Da sowohl Kritiker als auch Gegner zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen, mindestens eine der drei Aussagen wird eliminiert, wird deutlich, dass die gesamte Fragestellung in einer religiösen Perspektive verfehlt ist. Sie blendet die Selbstsicht der Leidenden aus und hebt das Problem des Verhältnisses von Gott und dem Bösen auf eine allgemeine logische Ebene, auf der es gar nicht theoretisch auflösbar ist. Das wiederum weist darauf hin, dass religiöse Aussagen über Gott nicht als gegenständlich sachhaltige Aussagen zu verstehen sind. Sie haben eine andere Funktion. L IT E R ATU R : Augustinus: Bekenntnisse, hrsg. v. Kurt Flasch/ Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2008. Ingolf U. Dalferth: Das Böse. Essay über die Denkform des Unbegreiflichen, Tübingen 2006. Christian Danz: God and Evil. Systematic-Theological Reflections on the Doctrine of God, in: Religions 2022, 13 (11), 1075. Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsamm‐ lung, Fragmente, hrsg. v. Olof Gigon, München 1991. Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologi‐ sche Grundlegung, Gütersloh 2002. Daniel Howard-Snyder (ed.): The Evidential Argument from Evil, Blooming‐ ton/ Indianapolis 1996. Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, Hamburg 1996. John L. Mackie: Evil and Omnipotence, in: The Problem of Evil, ed. by Marilyn McCord Adams/ Robert M. Adams, New York 1990, 24-37. Dewi Z. Phillips: The Problem of Evil and the Problem of God, Minneapolis 2005. James P. Sterba: Is a good God logically possible? , Cham 2019. Richard Swinburne: Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, 273-308. 5.1.3 Die Wirklichkeit Gottes in der christlichen Religion Gegenständliche Konstruktionen des Gottesgedankens, wie in der altluthe‐ rischen Gotteslehre, ziehen unweigerlich diejenigen Probleme nach sich, die eben diskutiert wurden: Die Behauptung der Wirklichkeit Gottes unterliegt dem Projektionsverdacht, der Schöpfungsglaube tritt in Konkurrenz zur naturwissenschaftlichen Welterklärung, und das Böse sowie die Übel in der Welt werfen die Frage auf, ob es einen guten und allmächtigen Gott gibt. Auf der Ebene von sachhaltigen Aussagen lassen sich diese Fragen nicht 200 5 Gott und Glaube <?page no="201"?> beantworten. Um sie einer Lösung zuzuführen, ist ein anderer Weg einzu‐ schlagen. Er knüpft an die dargestellte Entwicklung der protestantischen Theologie seit der Aufklärung an und führt diese weiter (vgl. oben 2.5 und 2.6). Grundlage der dogmatischen Gotteslehre ist die vorgeschlagene Neubestimmung der christlichen Religion als durchsichtiges, selbstbezüg‐ liches und strukturiertes Kommunikationsgeschehen (vgl. oben 4.3). Im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation entstehen die christliche Religion und mit ihr zusammen Glaube und Gott. Indem sich der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion auf Gott bezieht, bezieht er sich auf sich selbst und stellt sich selbst und sein durchsichtiges Funktionieren als Religion dar. Das christliche Gottesverständnis ist folglich ab ovo trinitarisch zu verstehen. Für die Gotteslehre der Systematischen Theologie bedeutet das, dass sie keine Aussagen über einen gegebenen metaphysischen Gegenstand macht, sondern Aussagen über Gott als re‐ flexive Beschreibungen der christlich-religiösen Kommunikation versteht. Das ist im Folgenden auszuführen, wobei nicht alle Bestimmungen der klassischen lutherischen Gotteslehre aufgenommen werden können, da sie sich aufgrund ihrer Bindung an die aristotelische Substanz-Metaphysik nicht reformulieren lassen. 5.1.3.1 Gott und Offenbarung Aufgabe einer dogmatischen Gotteslehre ist es, den dreieinigenden Gott als theologischen Gehalt des Glaubens aus der Sicht der Glaubenden zu beschreiben. Ihr geht es weder um einen metaphysischen Gegenstand noch um den Nachweis seiner Existenz. Eine dogmatische Gotteslehre kann folglich auch nicht mit einer dem Glauben vorgängigen und von ihm unabhängigen Wirklichkeit Gottes einsetzen. Jeder diesbezügliche Versuch zieht nicht nur den Verdacht auf sich, eine Projektion zu sein, er führt auch unweigerlich dazu, dass der Glaube zu einem sekundären und als solchem notwendigen Moment wird (vgl. oben 5.1.2.1). Gerade dadurch wird Gott wieder abhängig vom ihn erkennenden Glauben, der stets ein menschlicher Aneignungsakt ist. Doch Gott ist kein Gegenstand. Er ist von der Welt aus nicht zu erkennen. Von ihr aus führt kein Weg zu Gott. Auf der Ebene inhaltlicher Aussagen, und die Behauptung der Wirklichkeit Gottes ist eine solche, lässt sich nicht hinreichend entscheiden, ob es sich um religiöse Aussagen handelt oder nicht. Diese hängen am gelingenden religiösen Gebrauch des Wortes ‚Gott‘ in der christlichen Religion. In ihm entstehen 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 201 <?page no="202"?> Offenba‐ rungsbe‐ griff Wirklichkeit Gottes Gott und Glaube zusammen. Um die Alternative von Existenzbehauptung Gottes und Projektionsverdacht hinter sich zu lassen, muss in einer theolo‐ gischen Gotteslehre anders angesetzt werden. Gott kommt im Glauben zur Wirklichkeit. Davon hat eine theologische Gotteslehre auszugehen, und so ist sie von einem philosophischen, kosmologischen oder metaphysischen Gottesverständnis unterschieden. Von der Gotteslehre sind Gott und Glaube von vornherein miteinander zu verbinden. Sie dürfen nicht getrennt werden. Diese Zirkelstruktur erör‐ tert der theologische Offenbarungsbegriff. Offenbarung meint weder die Mitteilung von übernatürlichen Informationen durch eine unabhängig ge‐ gebene göttliche Wirklichkeit noch die Aktualisierung einer im Subjekt be‐ reits vorhandenen religiösen Anlage sowie eines ihr eingeschriebenen Got‐ tesbezugs. Sie ist auch keine Voraussetzung des Glaubens, wie in der protestantischen Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. oben 2.6.3). Vielmehr beschreibt der theologische Offenbarungsbegriff das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation. Indem in ihr gebrauchte Inhalte von Menschen als Religion angeeignet und artikuliert werden, ent‐ steht Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion und mit diesem zusammen Gott als ihr Gehalt. Gott und Glaube sind ein Effekt der christlich-religiösen Kommunikation, aber weder deren Vorgaben noch Ursachen. Sie konstituieren sich zugleich in und mit der christlichen Religion als deren Bestandteile. Genau diesen selbstbezüglichen Zusam‐ menhang von Glaube und seinem Gehalt expliziert der Offenbarungsbegriff. Offenbarung normiert somit den religiösen Sinn, den Inhalte in der christ‐ lichen Religion haben: Sowie Gott allein im Glauben wirklich ist, ist es der Glaube allein in Bezug auf Gott. Was bedeutet das für den christlichen Got‐ tesgedanken? Die Wirklichkeit Gottes besteht im Glauben als der symbolproduktiven Wirklichkeit der christlichen Religion. Indem Glaube entsteht, konstituiert sich mit ihm zusammen die Wirklichkeit Gottes. Mit dem Gottesgedanken als Inhalt und Gegenstand des Glaubens stellt dieser sich selbst und sein durchsichtiges Funktionieren als Religion dar. Gott ist folglich ein gegen‐ ständlicher Inhalt der christlichen Religion, mit dem sie ihre eigene Refle‐ xivität im Gebrauch von Inhalten in der christlich-religiösen Kommunika‐ tion darstellt. Als Religion konstituiert sich diese, indem um den religiösen Sinn der kommunizierten Inhalte gewusst wird, sie also Religion und nichts anderes meinen. 202 5 Gott und Glaube <?page no="203"?> Gott als In‐ halt Mit der vorgeschlagenen selbstbezüglichen Fassung des Gottesgedankens ist die Alternative von Existenzbehauptung und Projektionsverdacht über‐ wunden. In ihrem Hintergrund steht die Entgegensetzung von Realität und Fiktion. Doch dieser Gegensatz greift erheblich zu kurz. Fiktion bedeutet nicht per se nichtreal oder unwahr, und real ist nicht nur das, was sich sinnlich wahrnehmen lässt. Jede Existenzaussage und Bezugnahme auf etwas bringt ihren Gegenstand durch Bezeichnungen und Formierungen hervor. Wenn das zutrifft, dann ist jeder Ausgang von der Wirklichkeit Gottes selbst schon eine Setzung. Eine theologische Gotteslehre, der es um den christlichen Gottesgedanken geht, kann weder von einem gegebenen Objekt noch von einem Subjekt ausgehen. Die Wirklichkeit Gottes ist keine Setzung eines bereits vorhandenen religiösen Subjekts. Vielmehr entsteht dieses zusammen mit seinem Gegenstand erst im Gelingen der christlichen Religion. Gott kommt in ihr zur Wirklichkeit, die sich in und mit dem Gottesgedanken selbst darstellt. Freilich bleibt auch hier der Gottesgedanke ein menschlicher Gedanke, also ein Produkt des Menschen. Doch was er darstellt, ist nicht ein unabhängig von ihr existierender Gegenstand, sondern das durchsichtige Funktionieren der christlichen Religion im Gebrauch von Inhalten in der Kommunikation. Der Gottesgedanke verweist somit nicht auf eine gegebene Wirklichkeit hinter den Gottesbildern, die er repräsentiert, sondern auf den Glauben als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion. Hinter ihrem trinitarischen Gottesverständnis steht keine allgemeine Transzendenz. Ein solches Gottesverständnis fußt auf einem in der Theologie hergestellten Konstrukt, welches wie in der plura‐ listischen Religionstheologie (vgl. oben 4.2.1) eine Gleichheit der Religionen ermöglichen soll. Eine solche allgemeine und unbestimmte Transzendenz steht jedoch in Spannung zur Selbstsicht der Religionen, die sich auf ihre konkreten Symbolträger beziehen. Der trinitarische Gottesgedanke der christlichen Religion, auf den sie sich bezieht, beschreibt sie selbst und ihr durchsichtiges, selbstbezügliches und strukturiertes Funktionieren als Religion. Gott kommt in ihr von Gott durch Gott als Gott. Glaube als Wirklichkeit der christlichen Religion ist abhängig von der in der Kultur auf eine erkennbare Weise weitergegebenen Erinne‐ rung an Jesus Christus, die von Menschen als Religion angeeignet und ar‐ tikuliert werden muss. Er ist abhängig von Inhalten, also der christlichen Tradition, in der das Wort ‚Gott‘ bereits zur Artikulation von Religion ge‐ braucht wurde. Ohne solche Überlieferungen und Traditionen wäre es gar nicht möglich, dass der Gottesbegriff als Beschreibungselement der christ‐ 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 203 <?page no="204"?> religiöse Aneignung Gottes lichen Religion fungieren könnte. Darin besteht das Wahrheitsmoment der natürlichen Gotteserkenntnis der theologischen Lehrtradition (vgl. oben 5.2.2.1). Um von Gott wissen zu können, muss der Mensch bereits Kenntnis von ihm haben. Doch dieses Wissen ist dem Menschen weder angeboren noch von Gott eingestiftet. Es verdankt sich auch nicht einer Beobachtung der Natur und ihrer Regelmäßigkeiten und Ordnungen. Jedes Wissen und jede Kenntnis von Gott stammen aus der religiösen Überlieferung, in der sie weitergegeben wurde. Von der theologischen Lehrtradition bis hin zu mo‐ dernen Auffassungen einer im Menschen angelegten Religion wird die in der Kultur tradierte Rede von Gott zu einer menschlichen Anlage naturali‐ siert und *hypostasiert. Aber das ist nur möglich, wenn es religiöse Kom‐ munikation gibt, die sich auf Gott bezieht. Obgleich die christliche Religion abhängig ist von der christlich-religiösen Tradition, in der Gott mit der Erinnerung an Jesus Christus verbunden wurde, so ist sie doch mit der Überlieferung selbst noch nicht gegeben. Als Religion entsteht sie erst in der religiösen Aneignung solcher Erinnerung durch Menschen. Diese ist weder in der Überlieferung enthalten noch lässt sie sich aus den übermittelten Inhalten ableiten. Es besteht ein Moment von Diskontinuität, ein Hiatus zwischen der kommunizierten Erinnerung an Je‐ sus Christus und ihrer verstehenden Aneignung als Religion. Indem die christlich-religiöse Kommunikation von Menschen in einem religiösen Sinne verstanden und aufgenommen wird, wird diese erst zur religiösen Anrede und zum Wort Gottes. Allein im religiösen Verstehen der Kommu‐ nikation kommt Gott von Gott durch Gott. Diesen Übergang von der kom‐ munizierten Erinnerung an Jesus Christus zu ihrem aneignenden religiösen Verstehen, der aus den Inhalten der Kommunikation nicht herleitbar oder begründbar ist, bezeichnet die theologische Lehrtradition als übernatürliche Gotteserkenntnis (vgl. oben 5.2.2.1). Als ein metaphysisch-supranaturalisti‐ sches Geschehen ist dieser Übergang nicht denkbar. Gleichwohl bleibt die religiöse Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation unableitbar und in diesem Sinne transzendent sowie in Diskontinuität zur Welt. Diesen Hiatus, der für ihre Kontinuität konstitutiv ist, stellt die christliche Religion mit ihrem trinitarischen Gottesgedanken dar. Doch Gott kommt in der christlichen Religion nicht nur von und durch Gott, er kommt in ihr auch als Gott. Wirklich wird Gott in ihr allein dann, wenn er in der christlich-religiösen Kommunikation zu ihrer Darstellung 204 5 Gott und Glaube <?page no="205"?> religöse Ar‐ tikulation Gottes und Artikulation von Menschen benutzt wird. Die christlich-religiöse Kom‐ munikation gelingt, indem Gott als Gott verstanden und zur Kommunika‐ tion des religiösen Sinnes gebraucht wird. Um in der Kultur als eine eigene Form der Kommunikation existent zu werden, muss sich die christliche Re‐ ligion verkörpern und materialisieren. Anders kann sie nicht sichtbar und fortgesetzt werden. Gott kommt im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation zur Wirklichkeit, deren durchsichtiges Funktionieren als Religion er darstellt. Mit dem dreieinigen Gott beschreibt die dogmatische Gotteslehre den Glauben als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Radikale Theologie, Leipzig 4 2021. Ingolf U. Dalferth: Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992. Philipp David/ Anne Käfer/ Malte Dominik Krüger/ André Munzinger/ Chris‐ tian Polke: Neues von Gott? Versuche gegenwärtiger Gottesrede, Darmstadt 2021. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 271-285. Markus Gabriel/ Malte Dominik Krüger: Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie, Tübingen 2018. Doris Hiller: Gottes Geschichte. Hermeneutische und theologische Reflexionen zum Geschehen der Gottesgeschichte, orientiert an der Erzählkonzeption von Paul Ricœur, Neukirchen-Vluyn 2009. Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 4 1986. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-1, Göttingen 1988, 73-205. Hartmut von Sass: Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie, Tübingen 2013. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 77-94. 5.1.3.2 Wesen und Eigenschaften Gottes Der dreieinige Gott ist ein Beschreibungselement der christlichen Religion, der mit ihr zusammen zur Wirklichkeit kommt. Es geht in der dogmatischen Gotteslehre also nicht um ein metaphysisches Sein Gottes hinter dem Ge‐ schehen der christlich-religiösen Kommunikation, sondern sie erörtert diese 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 205 <?page no="206"?> Gottes Wirklichkeit ist sein Of‐ fenbarsein im Glauben in ihrer reflexiven Struktur. Das ist die Folge der Bindung Gottes an seine Offenbarung. Gottes Wirklichkeit ist sein Offenbarsein im Glauben als sym‐ bolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion. Für die Lehre vom Wesen und den Eigenschaften Gottes bedeutet das, dass sie von vornherein den dreieinigen Gott thematisiert und kein allgemeines Wesen Gottes, zu dem dann die Trinität hinzutritt. Mit dem dreieinigen Gott stellt der Glaube sich selbst und sein durchsichtiges Funktionieren als Religion im Gebrauch von Inhalten in der Kommunikation dar. Die Lehre vom Wesen Gottes eta‐ bliert folglich keinen Gegenstand, von dem inhaltliche Aussagen zu machen sind. Sie beschreibt vielmehr die Funktion dieser Aussagen für die christliche Religion. Damit ist der metaphysische Rahmen der Lehre vom Wesen und den Eigenschaften Gottes der altprotestantischen Dogmatik verlassen. Ihre Unterscheidung von Wesen und Eigenschaften setzt eine *Metaphysik vor‐ aus, die unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr nachzuvollziehen ist. Zudem konnte auch die altprotestantische Gotteslehre diese Unterschei‐ dung nur so aufnehmen, dass sie diese zugleich außer Kraft setzte (vgl. oben 5.1.1.1). Gottes Wesen und Eigenschaften beschreiben das Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation. Mit der vorgeschlagenen Fassung der dogmatischen Lehre vom Wesen und den Eigenschaften Gottes wird die Entwicklung der Gotteslehre im mo‐ dernen Protestantismus aufgenommen, die seit Friedrich Schleiermacher die Eigenschaften Gottes als Bestimmung der Religion und im 20. Jahrhundert als Beschreibung der reflexiven Struktur der selbstbezüglichen Offenbarung Gottes im Akt des Glaubens versteht. Aussagen über Gott haben eine reflexive und keine gegenständliche Funktion. Es ist der Glaube, der sich als durchsichtiges und selbstbezügliches Kommunikationsgeschehen mit dem dreieinigen Gott darstellt. Das Dilemma der überlieferten Eigenschaftslehre, Eigenschaften Gottes als symbolische oder metaphorische Repräsentatio‐ nen eines unzugänglichen göttlichen Wesens aufzufassen, ist mit dem Vorschlag überwunden. Versteht man nämlich die göttlichen Eigenschaften als menschliche Beschreibungen des transzendenten göttlichen Wesens, dann muss stets eingeräumt werden, dass diese die Einheit Gottes gar nicht erfassen können und ihr gegenüber sekundär sind. Da die Unterscheidung der Eigenschaften an das menschliche Auffassungsvermögen gebunden ist, löst sich ihre Differenz in der Einheit des Wesens Gottes auf. Doch in der Lehre von Gottes Wesen und Eigenschaften geht es gerade nicht, wie in der neuplatonischen *Metaphysik, um eine inhaltliche Bestimmung einer 206 5 Gott und Glaube <?page no="207"?> Gottes We‐ sen Gottes Transzen‐ denz transzendenten göttlichen Substanz, sondern um den reflexiven Gebrauch von Inhalten in der christlichen Religion. Aufzunehmen in die Lehre von Gottes Wesen und Eigenschaften ist die überlieferte Bestimmung Gottes als essentia spiritualius infinitia. Aber die Formel ist nicht gegenständlich zu verstehen. Sie beschreibt keine gegebene metaphysische Substanz. Unendliches geistiges Wesen ist der dreieinige Gott und nicht Gott überhaupt. Er ist absolut und aus-sich-selbst (lateinisch: aseitas). Absolutheit und Aseität bezeichnen keine inhaltlichen Merkmale Gottes. Sie beziehen sich auf die Selbstbezüglichkeit der christlichen Reli‐ gion. Diese ist absolut, weil sie sich auf sich selbst bezieht und aus sich selbst entsteht. Anders könnte die christliche Religion keine autonome Form in der Kultur sein. Mit der unendlichen geistigen Substanz des dreieinigen Gottes stellt sich folglich die christliche Religion als eine eigenständige Weise der Kommunikation dar, die einerseits neben anderen kulturellen Formen der Kommunikation steht und andererseits in sich unendlich ist. Ihre Inhalte, die sie kommuniziert, meinen Religion. Genau das, den reli‐ giösen Gebrauch der Inhalte in der Kommunikation, beschreibt Gott als In‐ halt in der christlichen Religion. Der dreieinige Gott ist nicht nur absolut und aus sich selbst, er ist auch transzendent. Auch Gottes Transzendenz ist keine gegenständliche Bestim‐ mung. Sie bezieht sich nicht auf eine substantielle Hinterwelt oder eine ei‐ gentliche Wirklichkeit und Wahrheit der Welt oder des Individuums, son‐ dern auf die Welt der christlichen Religion, die mit ihr zusammen wirklich wird. Gottes strikte und bleibende Transzendenz gegenüber der Welt be‐ zeichnet diejenige Diskontinuität, die für die christliche Religion konstitutiv ist. Diese lässt sich weder aus der Kommunikation noch aus ihren Inhalten ableiten. Alle inhaltlichen Aussagen sind menschlich-kulturelle Kommuni‐ kation, in der Sprache der alten Dogmatik formuliert, sie bleiben Welt. Zwi‐ schen der christlich-religiösen Kommunikation, die in der Kultur weiterge‐ geben wird, und ihrem religiösen Verstehen durch Menschen, die sie religiös benutzen, besteht ein Hiatus. Im Gelingen der christlich-religiösen Kom‐ munikation, also im Offenbarsein Gottes, verschwindet der Hiatus nicht. Das Kommen Gottes im Glauben ist an den durchsichtigen religiösen Ge‐ brauch der Kommunikation gebunden. Gott ist in seiner Offenbarung tran‐ szendent und in seiner Transzendenz offenbar. Beides sind Beschreibungs‐ formen der Reflexivität der christlich-religiösen Kommunikation, aber keine inhaltlichen Aussagen über einen gegebenen Gegenstand. Deswegen blei‐ ben Konstruktionen Gottes ungenügend, die seine Wirklichkeit in der christ‐ 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 207 <?page no="208"?> Gottes Ei‐ genschaf‐ ten lichen Religion entweder als Transzendenz oder als Wirken an uns bestim‐ men. Beides ist zu unbestimmt, um die religiöse Wirklichkeit des dreieinigen Gottes theologisch zu erfassen. Es muss der religiöse Sinn, der im Glauben hergestellt wird und um den die Glaubenden wissen müssen, hinzukommen. Gottes Transzendenz stellt folglich die Reflexivität der christlich-religiösen Kommunikation dar. Sie beschreibt den religiösen Sinn, der mit den Inhalten in der Kommunikation gemeint ist, aber aus ihnen nicht abgeleitet werden kann. Diese Reflexivität der Inhalte der christlich-religiösen Kommunika‐ tion benennen die Eigenschaften Gottes. Wenn die theologische Gotteslehre keinen substantiellen Gegenstand in‐ stalliert, dann kann auch die Eigenschaftslehre keinen gegenständlichen Sinn haben. Gottes Eigenschaften sind keine Beschreibungen eines gegebe‐ nen Subjekts oder Trägers. Sie strukturieren vielmehr die christlich-religiöse Kommunikation. Hierin besteht eine Parallelität der Eigenschaftslehre zur Trinitätslehre. Doch anders als diese explizieren die Eigenschaften Gottes nicht die Strukturelemente Inhalt, Aneignung und Artikulation, aus deren Wechselverhältnis die christliche Religion entsteht, sondern deren Reflexi‐ vität im religiösen Gebrauch von Inhalten in der Kommunikation. Gott ist nicht einfach ein gegenständlicher Inhalt des Glaubens, sondern ein Inhalt, der die Reflexivität von Inhalten in der christlich-religiösen Kommunikation zum Ausdruck bringt. Er stellt in ihr ihr durchsichtiges Funktionieren als Religion im Gebrauch von Inhalten dar. Daraus ergibt sich eine Fassung der Eigenschaftslehre, welche die Aporien hinter sich lässt, die sich aus ihrer gegenständlichen Konstruktion ergeben. Die dogmatische Lehrtradition unterscheidet im Anschluss an die Diffe‐ renzierung von immanenter und ökonomischer Trinität zwei Reihen von Eigenschaften Gottes: solche, die Gott absolut betrachtet zukommen und solche, die ihm in seinem Weltverhältnis zukommen, also attributa absoluta und attributa relativa (vgl. oben 5.1.1.1). Dabei variiert das Schema der Einteilung der Eigenschaften ebenso wie die attributa oder Vollkommenhei‐ ten (lateinisch: perfectiones) unterschiedlich sind, die Gott zugesprochen werden. So können sogenannte negative oder ruhende Eigenschaften von positiven oder aktiven unterschieden werden sowie inkommunikable und kommunikable Eigenschaften. Obwohl diese Unterscheidungen von zwei Reihen von göttlichen Eigenschaften signifikant für dogmatische Gottesleh‐ ren sind, sind sie nicht ohne systematische Schwierigkeiten. Diese bestehen nicht nur in dem bereits genannten Problem, dass die Eigenschaften in der substantiellen göttlichen Einheit wieder aufgelöst werden, da sie mensch‐ 208 5 Gott und Glaube <?page no="209"?> absolute Ei‐ genschaf‐ ten liche Bestimmungen sind, die grundsätzlich die Einfachheit Gottes nicht erfassen können. Es fragt sich vor allem, wie man zwischen Eigenschaften unterscheiden soll, die Gott selbst zukommen und nur ihm vorbehalten sind, und solchen, die ihn in seinem Weltverhältnis auszeichnen, also Welt und Mensch einbeziehen, wenn jede Eigenschaft Gott selbst und ganz beschreibt. Das gilt sowohl für die absoluten als auch die relativen Eigenschaften Gottes. Damit wird jedenfalls ihre Strukturierung in solche, die Gott sich vorbehält und solche, an denen Welt und Mensch Anteil erhalten (Wilfried Härle), schwierig. Weiterführend sind Konzeptionen der Eigenschaftslehre, die die göttlichen Attribute nicht als Explikation oder Bestimmung einer Substanz oder eines Trägers verstehen, sondern als Beschreibungen der Ereignisstruktur der Offenbarung Gottes (Karl Barth). Dann expliziert die Eigenschaftslehre die reflexive Struktur des Offenbarseins Gottes im Glau‐ ben. Für die Unterscheidung der beiden Reihen von Eigenschaften bedeutet das, dass sie als Wiederholung dieser reflexiven Ereignisstruktur konstruiert werden. Deutlicher wird indes die Funktion der Eigenschaften Gottes, wenn man im Rahmen der Gotteslehre im engeren Sinne lediglich die absoluten Eigen‐ schaften behandelt und die relativen in die Schöpfungs- und Vorsehungs‐ lehre verschiebt. Wenn die Eigenschaften Gottes die Reflexivität der christ‐ lich-religiösen Kommunikation im Gebrauch von Inhalten strukturieren, dann explizieren sie auf der Ebene der Gotteslehre das durchsichtige Funk‐ tionieren der christlichen Religion. Im Unterschied hierzu geht es bei den weltbezogenen Eigenschaften Gottes um das Gelingen der christlich-reli‐ giösen Kommunikation an konkreten Inhalten, also um die Einbeziehung der Welt in die christliche Religion beziehungsweise die Sprachwerdung Gottes in ihr. Beide Formen von Eigenschaften, die absoluten und die welt‐ bezogenen, sind nicht zu trennen, da es jeweils Gott selbst ist, der in ihnen zur Sprache kommt. Ihr Unterschied liegt lediglich darin, dass in der Schöp‐ fungs- und Vorsehungslehre das mit den Eigenschaften Gottes dargestellte durchsichtige Funktionieren der christlichen Religion an Inhalten auf die Welt übertragen wird. Mit den Eigenschaften Gottes gibt die theologische Gotteslehre keine inhaltliche Beschreibung Gottes als eines Gegenstands. Es geht vielmehr in der Eigenschaftslehre um die Reflexivität und Durchsichtigkeit der christlichen Religion im Gebrauch von Inhalten. Indem sich diese auf Gott bezieht, nimmt sie auf den religiösen Sinn Bezug, der in ihr mit dem inhaltlichen Ausdruck Gott gemeint ist. Um zur Existenz zu kommen, muss 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 209 <?page no="210"?> sich die christliche Religion artikulieren und verkörpern. Doch die Inhalte, in denen sie sich darstellt, meinen Religion. Dieses Wechselverhältnis von Inhalten und ihrer religiösen Benutzung in der christlichen Religion expliziert die theologische Gotteslehre mit den Eigenschaften Gottes. Wenn es die Funktion der Eigenschaften Gottes ist, die Reflexivität der christlichen Religion in der Kommunikation von Inhalten mit dem Gottesgedanken darzustellen, dann scheiden alle neuplatonisch-metaphysischen Attribute der Lehrtradition für eine Neufassung der Eigenschaftslehre aus, die aus der Negation oder Übersteigerung der Welt gewonnen sind und auf eine inhaltliche Bestimmung eines substantiellen Trägers abzielen. Da es darum geht, die Reflexivität der christlich-religiösen Kommunikation zu beschrei‐ ben, lassen sich von den traditionellen Eigenschaften Gottes seine simplicitas (Einfachheit) und infinitas (Unendlichkeit) aufnehmen. Gottes Einfachheit bezeichnet den religiösen Sinn, der in der christlich-religiösen Kommuni‐ kation hergestellt und mit den inhaltlichen Aussagen in ihr gemeint wird, und Gottes Unendlichkeit die christlich-religiöse Kommunikation selbst, die alles in der Welt einbeziehen kann. Gott ist somit ein Inhalt und Gegenstand des Glaubens, der den religiösen Sinn von Inhalten artikuliert, der in der christlich-religiösen Kommunikation mit ihnen zum Ausdruck gebracht wird. L IT E R ATU R : Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. II/ 1, Zollikon-Zürich 3 1948, 362-764. Hermann Cremer: Die christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes, Gütersloh 1897. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 258-271. Eberhard Jüngel: Thesen zum Verhältnis von Existenz, Wesen und Eigenschaften Gottes, in: ZThK 96 (1999), 405-423. Hartmut von Sass: Gott und seine Prädikate. Skizze eines revisionären Atheismus, in: NZSTh 63 (2021), 429-454. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-1, 300-356 (§§ 50-56). Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-1, Berlin (Ost) 1977, 439-508. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 87-94. 210 5 Gott und Glaube <?page no="211"?> Funktion der Schöp‐ fungslehre 5.1.3.3 Gott der Schöpfer Die klassische Schöpfungslehre der Dogmatik in ihrer gegenständlichen Fas‐ sung ist unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne nicht mehr fortsetz‐ bar (vgl. oben 5.1.1.3). Dogmatik ist keine ‚höhere‘ Naturwissenschaft oder Weltentstehungslehre. Aber ebenso ungenügend sind Neuformulierungen des Schöpfungsglaubens, die ihn als religiöse Deutung der Welt im Ganzen neben die naturwissenschaftliche Welterklärung stellen oder ausgehend von ihrer jeweiligen Eigenständigkeit beide wieder ineinanderschieben. In jenem werden beide zu getrennten Bereichen, die beziehungslos koexistie‐ ren, und in diesem wird die theologische Deutung der Welt als Grundlage oder innerer Grund der von den Naturwissenschaften beschriebenen Welt‐ entwicklung postuliert. Doch das hebt die Eigenständigkeit sowohl des christlichen Schöpfungsglaubens als auch der Naturwissenschaften auf. Theologie wird dadurch zu einer universalen Wirklichkeitswissenschaft (Wolfhart Pannenberg), der die eigentliche Deutung der Welt zugänglich ist, die Naturwissenschaften und Kultur prinzipiell entzogen ist. Gleichwohl sind religiöser Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliche Weltbeschrei‐ bung auch keine festumrissenen Bereiche, die völlig getrennt nebeneinander existieren. Denn die christliche Religion bezieht sich auf die Welt und macht Aussagen von ihr. So wie sich die Weltbeschreibungen und Deutungen in den diversen Wissenschaften ändern und durch Popularisierungen zum Bestandteil der Alltagswelt werden, so wandeln sich auch die christlichen Aussagen über die Welt. Naturwissenschaftliche Beschreibungen der Welt und Schöpfungsglaube überlagern sich auf komplexe Weise, aber sie fallen deswegen nicht zusammen. Sie bleiben eigene Weisen der Kommunikation, die nicht miteinander vermischt werden dürfen. Was bedeutet das für eine dogmatische Lehre von der Schöpfung? Sie hat keine gegenständliche Funktion. Die christlichen Aussagen von Gott, dem Schöpfer und Erhalter der Welt, beschreiben keinen Grund oder Ursprung der Welt. Sie erklären auch nicht, wie diese entstanden ist und sich entwi‐ ckelt. Gegenstand der Schöpfungslehre ist nicht die Welt als solche, sondern diese, wie sie in der christlichen Religion erscheint. Wie in der Lehre von Gott geht es in der von der Schöpfung um den religiösen Sinn, der in der christlich-religiösen Kommunikation hergestellt wird. Doch anders als jene thematisiert diese das durchsichtige Funktionieren der christlichen Religion an den Inhalten der Welt. Auf diese Weise wird Martin Luthers Deutung des 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 211 <?page no="212"?> Schöpfungsglaubens als Ausweitung des Heilsglaubens auf die Welt aus dem Kleinen Katechismus aufgenommen und weitergeführt. Martin Luthers Deutung des Schöpfungsglaubens im Kleinen Katechismus „Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturen, mir Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuch, Essen und Trinken, Haus und Hofe, Weib und Kind, Acker, Viehe, und alle Güter, mit aller Notdurft und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährnisse beschirmet und für allem Ubel behüt und bewahret, und das aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schüldig bin; das ist gewißlich wahr.“ (BSLK, 510 f.) Auch die Schöpfungslehre hat eine reflexive Funktion für die christlich-re‐ ligiöse Kommunikation. Ihre Aussagen beschreiben, wie Inhalte als religiöse in der Kommunikation entstehen und welche Inhalte zum Gegenstand von dieser werden können. Genau das zu explizieren, ist die Aufgabe einer dog‐ matischen Lehre von der Schöpfung. In ihren Fokus rückt die soteriologische Dimension des Schöpfungsglaubens. Die von der Lehrtradition mit der Schöpfungslehre verbundene soteriologische Unterscheidung von Gott und Welt ist so aufzunehmen, dass der religiöse Sinn nicht aus der Welt abgeleitet werden kann. Er entsteht unableitbar in und aus der christlich-religiösen Kommunikation. Die Lehre von der Schöpfung ist an die Gotteslehre gebunden und setzt sie voraus. Sie thematisiert das Zur-Sprache-Kommen Gottes im Weltbezug der christlich-religiösen Kommunikation. Deshalb geht es in der Schöpfungs‐ lehre weder um Wirklichkeit überhaupt noch um eine eigentliche oder wahre Wirklichkeit, sondern um diese, sofern Gott auf sie bezogen ist. Da Gott in der christlich-religiösen Kommunikation von, durch und als Gott kommt, muss der Schöpfungsglaube trinitarisch expliziert werden. Schöpfungs-, Erhaltungs- und Vorsehungslehre stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden einen in sich strukturierten Zusammenhang, 212 5 Gott und Glaube <?page no="213"?> Sprachwer‐ dung Got‐ tes Entstehen religiöser Inhalte der das durchsichtige Funktionieren der christlichen Religion an konkreten Inhalten beschreibt. Gegenstand der Lehre von der Schöpfung ist die Sprachwerdung Gottes. Gott kommt zur Welt, indem Inhalte in die christlich-religiöse Kommuni‐ kation einbezogen werden und an ihnen diese Kommunikation gelingt. Während die Gotteslehre die Reflexivität der christlich-religiösen Kommu‐ nikation im Gebrauch des Inhalts Gott thematisiert und damit die Eigen‐ ständigkeit der christlichen Religion als einer kulturellen Form neben an‐ deren, überträgt die Schöpfungslehre diese Reflexivität auf alle wirklichen und möglichen Inhalte und bezieht diese in die christliche Religion ein. Auf diese Weise entsteht eine eigene Weltsicht neben anderen Sichtweisen der Welt, die in sich das Ganze der Welt zur Erscheinung bringt: die Welt als Schöpfung Gottes. Erkennbar und damit fortsetzbar ist die christliche Reli‐ gion indes allein durch die Bibel als Erinnerung an Jesus Christus (vgl. unten 6.2.3.2). In der wiederholenden Aneignung und Verkörperung dieser Erin‐ nerung besteht das Christentum als Religion. Aber jede ihrer Wiederholun‐ gen ist zugleich ihre Transformation, Neuerzählung und Neuschaffung, in der sich nicht nur deren Bedeutung wandelt, sondern auch neue Inhalte aus der Kultur in die christlich-religiöse Kommunikation aufgenommen und einbezogen werden. Was Inhalt und Gegenstand von ihr werden kann und wie diese als christlich-religiöse Inhalte entstehen, das erläutert die Schöp‐ fungslehre. Indem die Schöpfungslehre das durchsichtige Funktionieren der christ‐ lich-religiösen Kommunikation auf die Welt überträgt, bezieht sie alles, was ist und sein kann, in diese ein. Alles kann somit zum möglichen Gegenstand der christlichen Religion werden. Das Weltverhältnis Gottes hat keine Gren‐ zen. Doch dass etwas in die christlich-religiöse Kommunikation aufgenom‐ men werden kann, hängt nicht an den Inhalten als solchen und ihrer kultu‐ rellen sowie gesellschaftlichen Bedeutung. Aus den Inhalten, ihrer Qualität und Bedeutung ist die christliche Religion gerade nicht herleitbar oder be‐ gründbar. Religion entsteht weder aus der Welt noch ist sie aus ihr ableitbar. Zum Gegenstand der christlichen Religion werden weltliche Inhalte erst dann, wenn an ihnen die religiöse Kommunikation gelingt, sie also religiö‐ sen Sinn zum Ausdruck bringen und nicht mehr ihren kulturellen, ethischen, historischen oder politischen Sinn, den sie in der Kultur haben. Inhalte der christlich-religiösen Kommunikation, also die Welt als Schöpfung, entsprin‐ gen in ihr ex nihilo, aus dem Nichts. 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 213 <?page no="214"?> Eco-Theolo‐ gien Dass nicht nur alles, was ist und sein kann, in das Gottesverhältnis auf‐ genommen werden kann und dessen Bedeutung einem Wandel unterliegt, zeigt sich an der Geschichte der Schöpfungslehre selbst. Vor dem Hinter‐ grund der ökologischen Krisen der modernen Industriegesellschaften seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind neue Formen der Schöpfungs‐ lehre, sogenannte Eco-Theologien, entstanden, welche die Natur und ihre Bewahrung in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Der Schöpfungsge‐ danke steht, wie ausgeführt, in der Tat dafür, dass alles auf dieser Welt in die christlich-religiöse Kommunikation einbezogen werden kann. Doch auch hier gilt, dass es nicht die Bedeutung des Klimawandels, der Umwelt‐ verschmutzung, des Artensterbens usw. selbst ist, die diese Themen zu Ge‐ genständen der christlichen Religion qualifizieren. Es ist allein das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation an Themen wie zum Beispiel dem Klimawandel, die ihn zum Inhalt der christlichen Religion machen. Indem aber am Klimawandel sein religiöser Gebrauch durchsichtig wird, dann hat er in der christlich-religiösen Kommunikation nicht mehr seine kulturelle, ethische oder politische Bedeutung, sondern bringt den religiösen Sinn zum Ausdruck, der mit ihm gemeint ist. Andernfalls würde der religiöse Schöp‐ fungsglaube für gesellschaftliche Zwecksetzungen funktionalisiert. Doch damit verdoppelt die Schöpfungslehre lediglich den notwendigen Umwelt‐ schutz. Für diesen bedarf es nicht der christlichen Religion. Sie löst keine Probleme der Welt, der Gesellschaft oder des Individuums. Während die Schöpfungslehre das Entstehen von religiösen Inhalten in der christlichen Religion und damit die Sprachwerdung Gottes in der Welt als Kommen Gottes von Gott beschreibt, thematisiert die Erhaltungslehre das Bestehen des religiösen Sinnes in der christlich-religiösen Kommuni‐ kation. Gott kommt nicht nur von Gott, er kommt auch durch Gott. Ebenso wenig wie die Schöpfung der Welt durch Gott ist ihre Erhaltung gegenständlich zu verstehen. Der Erhaltungsgedanke hat vielmehr eine reflexive Funktion für die christlich-religiöse Kommunikation. Ihre Existenz hat die christliche Religion als eine eigene in der Kommunikation herge‐ stellte Welt allein im durchsichtigen religiösen Gebrauch, der von den in die Kommunikation aufgenommenen Inhalten und Gegenständen gemacht wird. Die christlich-religiöse Welt als Schöpfung hängt daran, dass sie, wie sie von Gott ist, auch durch ihn ist. Sie und ihre Gegenstände sind in ihrer Existenz abhängig von der christlich-religiösen Kommunikation. Ohne ihre wiederholende Wiederaufnahme, die stets durch einen Hiatus und eine Diskontinuität hindurchgeht, gibt es keine Welt als Schöpfung Gottes. Wie 214 5 Gott und Glaube <?page no="215"?> Vorse‐ hungslehre die Erhaltung der Welt durch Gott ihre Schöpfung voraussetzt, so ist die Einbeziehung der Welt in die christlich-religiöse Kommunikation und deren Bestehen daran gebunden, dass sie religiös benutzt werden. Religiöse Inhalte konstituieren sich in der christlichen Religion, indem an ihnen die christlich-religiöse Kommunikation durchsichtig funktioniert, sie also in der Kommunikation religiösen Sinn zum Ausdruck bringen. Das ist nicht ohne Menschen möglich, die Gott auf ihr Leben und die konkreten Ereignisse in diesem beziehen. Als Gott kommt dieser allein im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation an den Ereignissen und Widerfahr‐ nissen des konkreten Lebens zur Welt. Diese Dimension des Schöpfungsg‐ laubens, die weder in der Schöpfungsnoch in der Erhaltungslehre involviert ist, thematisiert die Vorsehungslehre. Mit ihr wird der oder die Einzelne zum Gegenstand des Schöpfungsglaubens, indem dieser auf sie angewandt wird. Gelingen kann die christlich-religiöse Kommunikation allein dann, wenn Menschen ihr eigenes Leben in der Welt in die religiöse Kommunikation einbeziehen und es religiös verstehen. Auch die Vorsehungslehre hat eine reflexive Funktion und keine gegenständliche. Sie fragt nicht danach, wie sich die göttliche Freiheit zu der des Menschen verhält, auch nicht wie eine göttliche Erstursache mit weltlichen Zweitursachen zusammenwirken kann. Bereits die klassischen Probleme der Lehrform wie das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit lassen den religiösen Sinn der Lehre erkennen. Vielmehr bezieht der Vorsehungsglaube Gott auf das konkrete Leben von Menschen in der Welt, die religiösen Sinn an den jeweiligen Ereignissen ihres Lebens immer wieder neu herstellen müssen. Deshalb ist erst die Vor‐ sehungslehre der Ort, wo sowohl die weltbezogenen Eigenschaften Gottes als auch die Frage nach dem Verhältnis von Gott und dem Bösen thematisch werden können. Beide Aspekte betreffen das Funktionieren der christlichen Religion an konkreten Begebenheiten und Ereignissen des Lebens. Religiösen Sinn erhalten konkrete Ereignisse im Leben eines Menschen allein dann, wenn die christlich-religiöse Kommunikation an ihnen gelingt. Dann werden sie in das Gottesverhältnis aufgenommen und Gott unterstellt. Da sich religiöser Sinn nicht aus Inhalten ableiten lässt, spielt die Qualität der Inhalte, Begegnungen und Ereignisse hierfür keine Rolle. Zu Inhalten und Gegenständen der christlichen Religion werden diese, indem sie in sie aufgenommen werden. Das bedeutet zugleich, dass weder Gott noch die christliche Religion durch Ereignisse in der Welt in Frage gestellt werden können. Somit falsifizieren auch das Böse, Übel, Leid und Tod Gott nicht. Werden solche Ereignisse von Menschen in die christliche Religion einbe‐ 5.1 Gott und die christliche Religion: Theologie 215 <?page no="216"?> weltbezo‐ gene Ei‐ genschaf‐ ten Gottes zogen, so gelingt sie an ihnen. Dann ist Gott auf sie bezogen, und sie werden zum Gegenstand von Lob und Klage, Dank und Freude ihm gegenüber. Ge‐ nau das beschreiben die weltbezogenen Eigenschaften Gottes, nämlich das durchsichtige Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation an den konkreten Ereignissen des Lebens, welches an ihnen jeweils neu her‐ vorgebracht werden muss. Wie bei den absoluten Eigenschaften geht es bei den weltbezogenen um die Wirklichkeit Gottes selbst, die im Gelingen der christlichen Religion zur Existenz kommt. Aber im Unterschied zu jenen thematisieren diese das Gelingen der Kommunikation an den konkreten Be‐ gebenheiten des Lebens. Folglich sind auch die weltbezogenen Eigenschaf‐ ten Gottes, seine Güte und Allmacht, nicht gegenständlich zu verstehen. Die christlich-religiöse Kommunikation funktioniert, wenn an Inhalten und Gegenständen religiöser Sinn geschaffen wird. Dieser muss jedoch an konkreten Ereignissen und Begebenheiten des Lebens immer wieder neu hergestellt werden. Für die wiederholende Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus in der christlich-religiösen Kommunikation ist Diskonti‐ nuität konstitutiv. In jeder ihrer Wiederholungen besteht ein Hiatus, durch den hindurch sich ihre Kontinuität aufbaut. Darin liegt es begründet, dass konkrete Ereignisse im Leben von Menschen auch nicht in die christliche Religion aufgenommen werden und die christlich-religiöse Kommunikation an ihnen scheitert. Dann kommt Gott nicht zum Erscheinen. Doch auch dadurch wird Gott nicht falsifiziert. Gelingt die christlich-religiöse Kommu‐ nikation nicht an Erfahrungen von Bösem, Übel, Leid und Tod, so ist Gott nicht auf sie bezogen. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit, alle Ereignisse im Leben christlich-religiös zu deuten, da sie jederzeit auch kulturell, ethisch, politisch verstanden werden können. Das Wissen, Geschehnisse des konkreten Lebens in der Welt auch nichtreligiös zu beschreiben, gehört in einer komplexen ausdifferenzierten Kultur von vornherein zur christlichen Religion. Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Neufassung der Schöpfungslehre erscheinen die Kontroversen über Theodizee, wie sie in den gegenwärtigen Debatten geführt werden (vgl. oben 5.1.2.3), als ein abstrakter Nachhall des Gelingens oder Nichtgelingens der christlichen Religion angesichts der konkreten Begebenheiten des Lebens in der Welt. Doch die unterschiedli‐ chen Antworten, die auf die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Gott und dem Bösen in diesen Kontroversen gegeben werden, transformieren das Funktionieren oder Nichtfunktionieren der christlichen Religion angesichts der Erfahrung von Übel und Leid in die gegenständliche Frage, ob ein Träger 216 5 Gott und Glaube <?page no="217"?> der Eigenschaften von Allmacht und Güte denkbar sei, wenn es in der von ihm geschaffenen Welt Übel gebe. Auf dieser logischen Ebene, die zudem von der Selbstsicht der Beteiligten abstrahiert, ist, wie die Debatten selbst zeigen, das Problem des Verhältnisses Gottes zum Bösen gar nicht zu lösen. L IT E R ATU R : Reiner Anselm: Bewahrung der Schöpfung. Genese, Gehalt und gegenwärtige Bedeutung einer Programmformel in der Perspektive ethischer Theologie, in: EvTh 74 (2014), 227-236. Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 79-169. Christian Danz: Theology of Nature. 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Gegenstand der Christologie ist folglich der christliche Glaube, der in ihr eine Weiterbestimmung erfährt. Die Einfügung des Christusbekenntnisses in den Gottesgedanken führt in der christlichen Religion zu einer Neufassung des Verständnisses von Religion. Diese besteht in der individuellen Aneignung Gottes, so dass sie zu einem Bestandteil des Gottesgedankens wird. Genau das beschreibt das Christusbild des Glaubens in der christlichen Religion. Ebenso wenig wie der dreieinige Gott ist Jesus Christus ein inhaltlicher Bestandteil in ihr, sondern 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 217 <?page no="218"?> eine reflexive Beschreibungsform der christlich-religiösen Kommunikation. Erst durch eine reflexive Fassung der christologischen Aussagen lassen sich die Schwierigkeiten der überlieferten gegenstandsbezogenen Christologie der Lehrtradition sowie die moderne Kritik an ihr aufnehmen und konstruk‐ tiv bearbeiten. Einzusetzen ist mit dem christologischen Lehrbegriff der altlutherischen Dogmatik (vgl. unten 5.2.1). Da in ihm die Konsequenzen aus der klassischen Zweinaturenlehre gezogen werden, macht der lutherische Lehrbegriff die mit ihr verbundenen Aporien sichtbar. Den Umgangsweisen mit den syste‐ matischen Problemen einer gegenständlich gefassten Christologie widmet sich der zweite Unterabschnitt anhand von exemplarischen christologischen Problemfeldern (vgl. unten 5.2.2). Im abschließenden dritten Unterabschnitt werden die diskutierten Probleme der christologischen Lehrbildung auf‐ genommen und im Rahmen einer Systematischen Theologie der christ‐ lich-religiösen Kommunikation im Rückgriff auf Elemente des traditionellen Lehrbegriffs einer Lösung zugeführt (vgl. unten 5.2.3). 5.2.1 Grundbegriffe der dogmatischen Christologie des Luthertums Im Hintergrund der christologischen Debatten im 20. und 21. Jahrhundert steht die Christologie der alten lutherischen Dogmatik. Ähnlich wie bei der Gotteslehre kann es nicht darum gehen, diese in ihrer problemgeschichtli‐ chen Entwicklung nachzuzeichnen. Es sind vielmehr die christologischen Grundlagen zu skizzieren, um einerseits die Probleme herauszuarbeiten und zu vertiefen, die mit einer gegenständlichen Fassung der Christologie verbunden sind, und andererseits die Bestandteile der überlieferten Lehrfas‐ sung zu benennen, an die in einer Neufassung der Lehre von Jesus Christus angeknüpft werden kann. Die Christologie des Luthertums des 16. und 17. Jahrhunderts bildet den formellen Abschluss der altkirchlichen Christologie. Erst von ihr wurde die in dem christologischen Dogma der Alten Kirche fixierte Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu Christi gedanklich in ihren Konsequenzen durchgearbeitet. Zwar zielt die Christologie der altlutherischen Theologie auf die Soteriologie, doch ihr Schwerpunkt ver‐ lagert sich auf die Konstruktion des Erlösers als Voraussetzung seines Erlösungswerks. Der dreiteilige Aufbau des christologischen Lehrbegriffs des alten Luthertums in die Lehre von der Person, dem Amt und den Ständen 218 5 Gott und Glaube <?page no="219"?> Dogma von Chalcedon Jesu Christi ist das Resultat theologiegeschichtlicher Entwicklungen, in der sich diese drei Formen der Behandlung des dogmatischen Stoffs ausdiffe‐ renzierten, die grundsätzlich in einem Wechselverhältnis stehen. Aufbau der Christologie des alten Luthertums 1. de persona Christi (von der Person Christi) 2. de officio Christi (vom Amt Christi) 3. de statibus Christi (von den Ständen Christi) 5.2.1.1 Die Lehre von der Person Jesu Christi Das Lehrstück von der Person Jesu Christi, mit dem die christologische Er‐ örterung einsetzt, expliziert die Beschaffenheit des Erlösers, welche Vor‐ aussetzung und Grundlage seines Erlösungswerks ist. Es ist von vornherein gegenständlich-sachhaltig ausgerichtet. Im Fokus steht die Konstruktion der Person des Erlösers in der Einheit seiner beiden Naturen. Die Besonderheit dieser Christologie resultiert aus einer Aufnahme und Weiterführung der christologischen Überlegungen Martin Luthers. Daraus erst ergibt sich eine Neufassung der Lehre von der Person Jesu Christi, in der die altkirchliche Christologie zu einem formellen Abschluss gelangt und zugleich die Aporien einer solchen Lehrfassung unübersehbar wurden. Ausgangspunkt der alt‐ lutherischen Lehre von der Person des Erlösers ist das christologische Dogma von Chalcedon aus dem Jahre 451. Es statuierte Jesus Christus als Person, in der göttliche und menschliche Natur zur Einheit verbunden sind. Das Symbol von Chalcedon, 25. Oktober 451 „Den heiligen Vätern folgend, lehren wir alle übereinstimmend, als einen und denselben Sohn unsern Herrn Jesus Christus zu bekennen, denselben vollkommen in der Gottheit und denselben vollkommen in der Menschheit, wahrhaft Gott und denselben wahrhaft Mensch, aus Vernunftseele und Leib, wesensgleich [ὁμοούσιον] dem Vater nach der Gottheit und denselben uns wesensgleich nach der Menschheit, in allem uns gleich, ausgenommen die Sünde [vgl. Hebr. 4, 15], vor den Äonen aus dem Vater geboren nach der Gottheit, aber in den letzten Tagen denselben um unsertwillen und um unsres Heils willen (geboren) aus Maria, der Jungfrau, der Gottesmutter [ϑεοτόκου], nach der Menschheit, einen und denselben Christus, Sohn, 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 219 <?page no="220"?> Luthers Christus‐ bild Herrn, Einziggeborenen, in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, un‐ getrennt, unzerteilt [ἐν δύο φύσεσιν ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως, ἀδιαιρέτως, ἀχωρίστως] erkannt, wobei keinesfalls die Verschiedenheit der Naturen wegen der Einigung aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder Natur erhalten bleibt und zu Einer Person und Einer Hypostase [εἰς ἓν πρόσωπον καὶ μίαν ὑπόστασιν] vereinigt wird, nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern einen und denselben einziggeborenen Sohn, Gott-Logos, Herrn Jesus Christus, wie von alters her die Propheten von ihm und Jesus Christus selber uns gelehrt haben und das Bekenntnis der Väter uns überliefert hat.“ (Karpp 1972, 138-140, Hervorhebung C. D.) Doch die Kompromissformel von Chalcedon definierte diese Einheit der Naturen in Jesus Christus lediglich negativ. In seiner Person seien die beiden Naturen unvermischt und unverwandelt sowie ungetrennt und ungeteilt. Offen blieb, wie diese Einheit der beiden Naturen zu denken sei. Zu einer Klärung dieser Frage kam es erst durch die Reformation. Luther fokussierte die Christologie zwar ganz auf die Soteriologie, so dass Jesus Christus zu einem Bild des Glaubens und seines Zustandekommens wird, aber er setzte noch fraglos die historische Objektivität der Geschichte Jesu Christi voraus und knüpfte formell an das christologische Dogma an. An dieser Stelle schloss die dogmatische Weiterentwicklung in der altlutherischen Christo‐ logie an. Hinzu kommen jedoch noch zwei weitere Aspekte: zum einen das Interesse des Reformators an der Menschheit Jesu Christi. In ihr sind Gott‐ heit und Menschheit unzertrennlich verbunden, so dass es zu einer wech‐ selseitigen Übertragung der idiomata (Eigenschaften) der Naturen kommt. Und zum anderen Luthers in der Auseinandersetzung mit den oberdeut‐ schen Reformatoren entwickeltes Abendmahlsverständnis, demzufolge auf der leiblichen Präsenz Jesu Christi in den Elementen Brot und Wein zu be‐ harren sei (vgl. unten 6.2.1). Beide Aspekte wurden auch für die dogmatische Ausgestaltung der Lehre von der Person Jesu Christi im Luthertum bedeut‐ sam. Es sind vor allem drei Themenkomplexe, welche in der Lehre von der Person Christi in der Dogmatik des alten Luthertums behandelt werden: zunächst die beiden Naturen Jesu Christi, sodann die Einheit seiner Person und schließlich die wechselseitige Mitteilung der Eigenschaften in seiner Person, die sogenannte communicatio idiomatum. Aus der Beschaffenheit 220 5 Gott und Glaube <?page no="221"?> die zwei Naturen Christi Einheit der Person Christi seiner Person ergibt sich sein Erlösungswerk, auf das die dogmatische Erörterung zielt (vgl. unten 5.2.1.2). Und es sind von vornherein die beiden Stände der Erniedrigung und Erhöhung in der Personlehre thematisch, die sich im Laufe der Entwicklung zu einem eigenen Lehrstück verselbständigt haben (vgl. unten 5.2.1.3). Jesus Christus ist eine Person in zwei Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen. Erstere hat der Sohnes Gottes oder Logos von Ewigkeit her durch seine Zeugung von Gott dem Vater, letztere ist zeitlich durch seine Geburt von Maria. Im Mutterleib Marias hat der Logos die menschliche Na‐ tur aufgenommen und sich mit ihr vereinigt. In dieser Vereinigung bleiben die beiden Naturen intakt und verändern oder vermischen sich nicht, so dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Seine menschliche Natur zeichnen einige Eigentümlichkeiten (lateinisch: proprietates) aus. Diese sind ihre Anhypostasie oder Personlosigkeit, Anharmatesie oder Sündlosigkeit und die besondere Vorzüglichkeit des Leibs und der Seele (lateinisch: sin‐ gularis animae et corporis). Erst diese drei Eigentümlichkeiten der mensch‐ lichen Natur Jesu Christi machen es dem Logos möglich, sich mit ihr zu vereinigen. Der Logos verbindet sich nicht mit einem Menschen oder einer menschlichen Person, sondern mit einer menschlichen Natur, die selbst keine eigene hypostase (Person) hat. Doch diejenige Natur, mit der sich der Sohn Gottes vereinigt, kann nicht der Sünde unterliegen, da das Göttliche diese ausschließt. Mit der Lehrtradition gehen die altlutherischen Theologen davon aus, dass die menschliche Natur Christi ohne die Beteiligung eines menschlichen Vaters zustande gekommen ist (Lk 1,35), so dass seine Geburt übernatürlich und dem sündhaften Zusammenhang entnommen ist. Seine Sündlosigkeit wiederum bedingt seine Vorzüglichkeit von Leib und Seele. Für diese menschliche Natur, mit der sich der Sohn Gottes vereinigt, ist er das personbildende Moment. Genau das bezeichnen die alten lutherischen Theologen mit der antiken Lehrtradition als Enhypostasie: die hypostase der göttlichen Natur wird der menschlichen Natur zuteil. Jesus Christus ist aus zwei Naturen gebildet, die in ihm zu einer Person vereinigt sind. Den Vorgang der Vereinigung, also den Übergang vom Logos asarkos (dem Logos außerhalb seiner Vereinigung mit der menschlichen Natur) zum Logos ensarkos beziehungsweise die *Inkarnation ( Joh 1,14), nennen die alten Dogmatiker unitio personalis. Sie ist ein Akt des dreieinigen Gottes, dessen Werke nach außen ungeteilt sind (vgl. oben 5.1.1.2). Vollzogen wird der Akt jedoch von dem ewigen Sohn Gottes, der in dieser Vereinigung das aktive Moment ist, während die menschliche Natur passiv bleibt. Durch 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 221 <?page no="222"?> communi‐ catio idio‐ matum die Aufnahme der menschlichen Natur in die hypostase des Logos sind beide Naturen in Jesus Christus zu einer Person verbunden. Diese Einheit, als bleibender Zustand verstanden, bezeichnet man als unio personales seu hy‐ postatica (persönliche Einheit der beiden Naturen). Sie ist unzertrennlich. Weil die beiden Naturen zur Einheit einer Person verbunden sind, sind sie stets zusammen, so dass, wo die Gottheit ist, auch die Menschheit ist. Da die Einheit der beiden Naturen in Christus eine reale und persönliche ist und keine bloß verbale oder figürliche, lassen sich die Naturen in ihm nur ge‐ danklich unterscheiden. Mit der unio personalis der beiden Naturen in Jesus Christus ist deren persönliche Gemeinschaft in ihm gesetzt, die sogenannte communio natu‐ rarum. Von dem Erlöser ist also nicht nur eine göttliche Natur auszusagen, sondern auch eine menschliche. Beide Naturen in ihm, obwohl sie sich nicht verändern und in ihren jeweiligen Eigenschaften intakt bleiben, verhalten sich gleichwohl nicht äußerlich zueinander. Vielmehr hat sich die Person oder hypostase des Logos der menschlichen Natur mitgeteilt und diese durchdrungen. Es besteht somit eine wahre Mitteilung (lateinisch: commu‐ nicatio) und Gemeinschaft der Naturen in seiner Person. Aus dieser com‐ munio naturarum folgen für die altlutherischen Theologen zwei Konse‐ quenzen, einmal die sogenannten propositiones personales (die von beiden Naturen hergenommenen Personenbezeichnungen) und sodann die com‐ municatio idiomatum (Mitteilung der Eigenschaften). Aus beiden Aspekten ergibt sich erst eine Beschreibung des Verhältnisses der Naturen in Jesus Christus, die über die negativen Bestimmungen des Konzils von Chalcedon hinausgeht und die Eigenart der lutherischen Christologie ausmacht. Propositiones personales oder praedicationes personales Aus der persönlichen Einheit der beiden Naturen in der Person Jesu Christi schließen die altlutherischen Theologen, dass diese das Subjekt von Aussagen ist, in denen das Konkretum der einen Natur von dem der anderen Natur ausgesagt wird. Auf diese Weise sollen das Einssein der beiden Naturen sowie ihre Gemeinschaft in der Personeinheit Jesu Christi zur Geltung gebracht werden. Diese Aussagen gelten nicht von der menschlichen und der göttlichen Natur im Allgemeinen oder abstrakt, sondern ausschließlich im Hinblick auf ihre Vereinigung in seiner Person, dem Konkretum der beiden Naturen unter Mitbezeich‐ nung der Person. So meinen die Aussagen ‚der Mensch ist Gott‘ und 222 5 Gott und Glaube <?page no="223"?> genus idio‐ matum ‚Gott ist Mensch‘ die Person Jesu Christi in seinen beiden Naturen und nicht zwei Subjekte oder Personen. Bei den propositiones personales handelt es sich für die Lutheraner nicht um eine Redeweise, wie gegen die reformierte Christologie geltend gemacht wird, sondern um die Wiedergabe eines realen Tatbestands in Jesus Christus, der mit der unio personalis gesetzt ist. Grundlage der Lehre von der Mitteilung und Gemeinschaft der Eigenschaf‐ ten der beiden Naturen in Jesus Christus ist die unio personalis. Sie benennt folglich eine Konsequenz, die mit dieser bereits gegeben ist. In der Konstruk‐ tion der Lehre, die die Beschaffenheit des Erlösers als Voraussetzung seines Erlösungswerks beschreibt und für seine beiden Stände gilt, knüpfen die altlutherischen Dogmatiker an die antike Lehrtradition an, führen diese jedoch in Aufnahme der Christusanschauung Martin Luthers entscheidend weiter. Die beiden Naturen in Jesus Christus stehen in einer persönlichen Wechselwirkung und teilen sich gegenseitig mit. Erst diese Konsequenz begründet sein Erlösungswerk, wie es in der Bibel dargestellt ist und an dem sich die Ausarbeitung der Christologie zu orientieren hat. Sie ist ausgeführt in dem sogenannten genus majestaticum (Genus der Majestät), um das die Lutheraner in Absetzung von den Reformierten die überlieferte Lehre von der communicatio idiomatum erweitern. In ihrer durchgeführten Endform unterscheidet die lutherische Dogmatik drei genera oder Dimensionen der Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen in der Person Jesu Christi: das genus idiomatum (Übereignung), das genus majestaticum und das genus apotelesmaticum (Gemeinschaft der Tätigkeit). Diese drei Formen ergeben sich aus der wechselseitigen Mitteilung der Eigenschaften der Naturen in der Person des Erlösers. Da eine reale unio personalis in ihm besteht, lassen sich Person und Natur in ihm nicht trennen, so dass die Mitteilung der Eigenschaften sowohl zwischen den Naturen und der Person als auch zwischen den Naturen stattfindet. Dem genus idiomatum zufolge besitzt Jesus Christus aufgrund der unio personalis alle Eigenschaften der göttlichen und der menschlichen Natur. In seiner Person „wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). Aus‐ sagen über die Eigentümlichkeiten beziehungsweise Merkmale der jeweili‐ gen Naturen gelten folglich von der ganzen Person. Sie sind also nicht nur verbal oder figürlich, sondern beziehen sich auf die reale Durchdringung beider Naturen in seiner Personeinheit. Obwohl die göttliche Natur weder 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 223 <?page no="224"?> genus ma‐ jestaticum genus ta‐ peinoticum genus apo‐ telesmati‐ cum leiden noch sterben und die menschliche Natur nicht schaffen kann, ist von Jesus Christus auszusagen, er ist geboren, hat gelitten und die ganze Welt geschaffen. Das genus idiomatum zielt auf das eine Subjekt dieser Aussagen, welches in seine göttliche Natur die menschliche aufgenommen hat, und schließt die häretische Auffassung von zwei Subjekten aus. Erst durch es kann an der Passion Jesu Christi festgehalten werden, da die göttliche Natur aufgrund ihrer Unveränderlichkeit weder leiden noch sterben kann. Das Verhältnis sowie die wechselseitige Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen in ihrer persönlichen Einheit in Jesus Christus entfaltet das genus majestaticum weiter. Da mit der unio personalis eine reale wechsel‐ seitige Mitteilung der Merkmale der Naturen gesetzt ist, hat die in die gött‐ liche Natur aufgenommene und von ihr durchdrungene menschliche Natur realen Anteil an den Merkmalen der göttlichen Natur. Seit der unitio perso‐ nalis nimmt folglich die menschliche Natur an den göttlichen Majestätsei‐ genschaften der Allmacht, Allgegenwärtigkeit sowie der Kraft, lebendig zu machen, teil. Somit ist sie, die menschliche Natur Jesu Christi, obwohl sie ebenso wie seine göttliche Natur die ihr wesentlichen Merkmale erhalten soll, bereits im Mutterleibe allmächtig und allgegenwärtig und sitzt zur Rechten Gottes (lateinisch: sessio ad dextram patris). Menschwerdung des Logos und Erhöhung der menschlichen Natur fallen zusammen. Wenngleich die Mitteilung der Eigenschaften der Naturen und ihre Gemeinschaft in der persönlichen Einheit Jesu Christi wechselseitig ist, schließen die Lutheraner - anders als Martin Luther - eine Anteilhabe der göttlichen Natur an der menschlichen aus und lehnen ein sogenanntes genus tapeinoticum (Mittei‐ lung der Merkmale der menschlichen Natur an die göttliche) ab. Es würde, so ihr Argument, der Unveränderlichkeit der göttlichen Natur widerspre‐ chen. Mit dem genus majestaticum ist die Allgegenwart (lateinisch: ubique oder omnipraesentia) der menschlichen Natur Jesu Christi und damit des Wortes Gottes begründet, welches die Voraussetzung seiner leiblichen Prä‐ senz im Abendmahl ist. Auf das genus majestaticum folgt das genus apotelesmaticum, für welches jenes in der Endgestalt der Lehre von der communicatio idiomatum die Grundlage liefert. Auch das genus apotelesmaticum ist eine Konsequenz der unio personalis. Es beschreibt die Gemeinschaft der beiden Naturen in ihrem Erlösungswerk, dessen Voraussetzungen in der Person des Erlösers die dog‐ matische Lehrbildung entfaltet und zu dem dieses genus überleitet. Die Wir‐ kungen, die von dem Werk Jesu Christi ausgehen, sind auf beide Naturen und ihre gemeinschaftliche Tätigkeit zurückzuführen. In der Erlösung wir‐ 224 5 Gott und Glaube <?page no="225"?> ken diese folglich zusammen, indem jede Natur entsprechend ihrer idiomata an den Tätigkeiten der anderen teilnimmt. Durch ihr Insistieren auf der wechselseitigen Gemeinschaft der Naturen im Erlösungswerk schließen die lutherischen Theologen in ihrer Christologie aus, dass die Erlösung entwe‐ der lediglich durch die menschliche Natur Jesu Christi vollbracht wurde, wie in den mittelalterlichen Lehrsystemen, oder ausschließlich durch die gött‐ liche Natur, wie der lutherische Theologe Andreas Osiander (ca. 1496-1552) behauptete. Sein Mittlergeschäft übt Christus in seinen beiden Naturen aus. Mit der Lehre von der communicatio idiomatum kommt die Lehre von der Person Jesu Christi der lutherischen Christologie zum Abschluss. Indem dieses Lehrstück das Verhältnis der beiden Naturen in der Einheit der Person entfaltet, zieht es die Konsequenzen aus der unio personalis. Diese führen nicht nur in Absurditäten, sondern lösen auch das Menschsein Jesu Christi nahezu restlos auf. Doch ihnen entgeht man nicht schon dadurch, indem man sich wie in der reformierten Christologie auf die unio personalis der beiden Naturen in der Person Christi zurückzieht. Es ist bereits deren gegenständliche Konstruktion, welche die genannten Aporien nach sich zieht. L IT E R ATU R : Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 94-99. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 77-87. Franz Hermann Reinhold Frank/ Reinhold Seeberg: Art.: Communicatio idio‐ matum, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hrsg. v. Albert Hauck, Bd.-4, Leipzig 3 1898, 254-261. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 189-204. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 26-50 (Reformatoren). 321-330 (lutherische Christologie). 404-407 (reformierte Christologie). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 269-281. Heinrich Karpp: Textbuch zur altkirchlichen Christologie. Theologie und Oikono‐ mia, Neukirchen-Vluyn 1972. Theodor Mahlmann: Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Problem und Geschichte seiner Begründung, Gütersloh 1969. 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 225 <?page no="226"?> Jesus Chris‐ tus der Mittler Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 210-246. Ulrich Wiedenroth: Krypsis und Kenosis. Studien zu Thema und Genese der Tübinger Christologie im 17.-Jahrhundert, Tübingen 2012. 5.2.1.2 Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi Ebenso wie die Lehre von der Person des Erlösers stellt die Lehre von seinem dreifachen Amt (lateinisch: munere oder officium Christi triplex) eine reformatorische Neubildung dar. Zwar sprechen bereits antike Theologen vom priesterlichen und königlichen Amt Christi, Eusebius von Caesarea (260/ 264-339/ 340) fügt beiden gar ein prophetisches hinzu, doch erst Johan‐ nes Calvin hat im Anschluss an Luthers Freiheitstraktat von 1520 und Andreas Osiander in der letzten Auflage seiner Institutio Christianae Reli‐ gionis von 1559 eine Lehre vom dreifachen Amt systematisch durchgeführt. Signifikant für Calvins Fassung der Lehre vom dreifachen Amt Christi ist, dass er sie zugleich auf die Gemeinde bezieht. Indem es die Sendung Christi durch Gott in den Dimensionen des Propheten, Königs und Priesters erörtert, thematisiert es die Grundlage des Heils der Gemeinde. Während sich die neue Lehrform in der reformierten Theologie schnell durchsetzte, taten sich die Lutheraner aufgrund ihrer auf die Rechtfertigungslehre fokussierten Christologie zunächst schwer mit ihr. Erst seit dem Jenaer Theologen Johann Gerhard (1582-1637) hat sie unter dem Titel de officium Christi triplex Eingang in die altlutherische Christologie gefunden, blieb jedoch im Luthertum umstritten. Grundlage der neuen christologischen Lehrbildung ist die *Inkarnation des Gottessohnes sowie der mit ihr verbundene Zweck, nämlich die Durch‐ führung der Erlösung. Diese setzt die Lehre von der Person Christi in seinen beiden Naturen voraus, so dass sie gegenständlich-sachhaltig ausgerichtet ist. Im Fokus stehen die objektiven Grundlagen des Heilsglaubens. Aufgrund seiner *Inkarnation, also der Aufnahme der menschlichen Natur in die gött‐ liche, ist Jesus Christus der Mittler. Sein Mittleramt entfalten die drei Funk‐ tionen des Propheten, Priesters und Königs. Durch diese Lehrweise wird die Christologie nicht nur an diese alttestamentlichen Funktionen zurückge‐ bunden, die für die Namensgebung Pate standen, sondern auch an die neu‐ testamentliche Geschichte Jesu Christi von seiner Geburt bis zur Himmel‐ fahrt. Als inkarnierter Gottessohn ist er der wahre Mittler zwischen Gott und Mensch, der die drei Funktionen vollkommen erfüllt und dadurch das 226 5 Gott und Glaube <?page no="227"?> officium propheti‐ cum officium sa‐ cerdotale Heil vollständig verwirklicht. Es bedarf folglich keiner weiteren Ergänzun‐ gen mehr. Die drei Ämter fächern den Christustitel auf und strukturieren sein Mittleramt. Es geht also nicht um drei separate Ämter, sondern um ein dreifaches Amt. Sie stehen nicht neben- oder nacheinander, sondern liegen ineinander. Aufgrund der unio personalis der beiden Naturen in Jesus Chris‐ tus beziehen sie sich sowohl auf den Stand der Erniedrigung als auch auf den der Erhöhung (vgl. unten 5.2.1.3). Indem er sein priesterliches Amt ausführt, also am Kreuz stirbt, regiert er zugleich in seinen beiden Naturen die Welt, die er auch erhält. Aus dem Ineinander der Ämter schließlich re‐ sultiert, dass ihre Reihenfolge in der dogmatischen Behandlung in den alt‐ lutherischen Dogmatiken variiert. Lehrbuchmäßig hat sich schließlich die Unterscheidung des officium propheticum (prophetisches Amt), sacerdotale (priesterliches Amt) und regium (königliches Amt) durchgesetzt. Mit dem officium propheticum beziehen die altlutherischen Theologen die Verkündigung Jesu Christi in die Darstellung seines Erlösungswerks ein. Den Inhalt seiner Verkündigung bildet der ewige Ratschluss Gottes zur Er‐ lösung der Menschen, die wiederum in Gesetz und Evangelium unterschie‐ den wird. Indem die Verkündigung als ein prophetisches Amt aufgefasst wird, ist die Kommunikation Jesu Christi auf die der alttestamentlichen Pro‐ pheten bezogen. Wie diese verkündigt er den Willen Gottes, doch im Un‐ terschied zu den alttestamentlichen Propheten ist seine Verkündigung auf‐ grund der unio personalis vollkommen. Die altlutherischen Theologen unterscheiden eine unmittelbare und eine mittelbare Ausübung dieses Amts und verbinden es so mit der Ständelehre. Während seiner Erdentage übte Jesus das Amt des Propheten in seinen beiden Naturen selbst aus und nach seiner Himmelfahrt durch die von ihm gestiftete Kirche. Aufgrund der An‐ teilhabe der menschlichen Natur an den Majestätseigenschaften der göttli‐ chen Natur spricht Christus durch die Verkündigung der Kirche in Wort und Sakrament. Gott durch Opfer zu versöhnen, ist das Amt der Priester im Alten Testa‐ ment. Unter dieser Leitperspektive entfalten die altlutherischen Theologen das von Jesus Christus vollbrachte Erlösungswerk unter dem Titel officium sacerdotale. Biblischer Anknüpfungspunkt ist der Hebräerbrief, in dem Christus als Hohepriester bezeichnet wird (Hebr 8,1-6). Indem die priester‐ liche Funktion auf Christus übertragen und er in eine Reihe mit den alttes‐ tamentlichen Priestern gestellt wird, unterscheidet er sich jedoch grundle‐ gend von ihnen. Er bringt nicht wie sie ein fremdes Opfer dar, sondern sich selbst. Jesus Christus ist Priester und Opfer in einer Person. Sein Amt ist 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 227 <?page no="228"?> Anselm von Canterbury selbstbezüglich und deshalb vollkommen. In Analogie zu den alttestament‐ lichen Priestern unterscheiden die altlutherischen Theologen im priesterli‐ chen Amt zwei Dimensionen, die satisfactio (Genugtuung) und intercessio (Fürbitte) und verbinden sie mit den beiden Ständen der Erniedrigung und Erhöhung. In der lutherischen Fassung der Ämterlehre steht das priesterliche Amt Christi im Fokus. Es nimmt unter dem Titel satisfactio die objektive Grund‐ lage der Rechtfertigung des Sünders in den Blick, die im Erlösungswerk Christi besteht (vgl. unten 6.3.1.2). Durch dieses ist die iustificatio (Recht‐ fertigung) propter Christum per fidem (CA IV: ‚um Christi willen durch den Glauben‘) begründet. Im Unterschied zur dogmatischen Lehrtradition der antiken und mittelalterlichen Theologie beziehen die Lutheraner die von Christus geleistete Genugtuung nicht nur auf den Tod Jesu Christi am Kreuz. Sie unterscheiden zwischen einem aktiven (lateinisch: oboedientia activa) und einem passiven Gehorsam (lateinisch: oboedientia passiva) Jesu Christi und verknüpfen das Erlösungswerk mit dem irdischen Wirken des Gott‐ menschen. Im Hintergrund dieser Lehrbildung steht die westliche Versöh‐ nungslehre, wie sie von Anselm von Canterbury (vgl. 2.2) in seiner Schrift Cur Deus homo (1094/ 98) grundgelegt wurde. Anselms sogenannte Satisfak‐ tionstheorie setzt einen Konflikt im Gottesbegriff voraus, der nicht anders als durch den stellvertretenden Versöhnungstod des Gottmenschen Jesus Christus aufgelöst werden kann. Durch den Sündenfall hat der Mensch die Ehre Gottes verletzt. Da Gott sowohl heilig als auch wahrhaftig und gerecht ist, kann er die Verletzung seiner Ehre nicht einfach vergeben oder verzei‐ hen. Dies würde seiner Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit widersprechen. Damit das durch den Fall gestörte Gottesverhältnis, welches zugleich Kon‐ sequenzen für die Ordnung des Kosmos hat, wieder zurechtgebracht werden kann, ist eine Genugtuung der Schuld notwendig. Zu dieser ist der die Ehre Gottes verletzende Mensch verpflichtet, aber er kann diese Genugtuung nicht selbst leisten. Daraus ergibt sich das Dilemma, welches seine Auflö‐ sung in der notwendigen Menschwerdung Gottes findet. Denn nur ein Gott‐ mensch kann die Genugtuung für die verletzte Ehre Gottes stellvertretend für die Menschen leisten. Über Melanchthon hat diese Lehrweise Eingang in die altlutherische Dogmatik gefunden, und sie erhielt ihre systematische Entfaltung in der Lehre vom officium sacerdotale. Es zerfällt in den bereits erwähnten aktiven und passiven Gehorsam Jesu Christi, durch den er sein Erlösungswerk vollbrachte und dadurch die Welt mit Gott versöhnte. 228 5 Gott und Glaube <?page no="229"?> aktiver Ge‐ horsam passiver Gehorsam Fürbitte Durch die Aufnahme der menschlichen Natur in der Menschwerdung des Logos nimmt dieser an den menschlichen Gegebenheiten teil. Da seine menschliche Natur sündlos ist (vgl. oben 5.2.1.1), unterliegt Jesus Christus diesen Gegebenheiten nicht mit Notwendigkeit, sondern freiwillig. Deshalb ist er dem Gesetz weder verpflichtet noch unterworfen. Er unterstellt sich ihm vielmehr freiwillig und vollbringt es stellvertretend für die Menschheit. In seinem aktiven Gehorsam erfüllte Jesus Christus die Forderung ein für alle Mal, zu der alle Menschen verpflichtet sind, ihr jedoch nicht nachkom‐ men, so dass Gott in Christus das Gesetz als erfüllt betrachten kann. Mit der stellvertretenden Erfüllung der Forderung des Gesetzes ist die Schuld der Menschheit allerdings noch nicht abgetragen, die aus dessen Übertretung resultiert (vgl. unten 6.3.1.1). Den Aspekt der stellvertretenden Übernahme der Strafe für die Sünden der Menschen thematisiert der passive Gehorsam Jesu Christi. Er stirbt am Kreuz den Tod, den die Menschheit aufgrund der Schuld, die sie durch den Sündenfall auf sich lud, verdient hat. Sein Tod ist somit ein stellvertretendes Strafopfer, welches der verletzten Ehre Gottes Genugtuung leistet. Durch beide Aspekte, den aktiven und passiven Gehor‐ sam, den Christus in seinen beiden Naturen vollbringt, hat er die satisfactio geleistet, so dass Gott das durch Christus erworbene Verdienst den Men‐ schen anrechnen kann. Christi priesterliche Genugtuung ist die Grundlage der Fürbitte, die die zweite Dimension des priesterlichen Amts bildet. Diese wird mitunter dem erhöhten Christus zugesprochen, obwohl er sie ebenso wie die satisfactio bereits in seinem irdischen Dasein ausübte. Da durch die *Inkarnation seine menschliche Natur an den Eigenschaften der göttlichen Anteil hat, gelten Genugtuung und Fürbitte für beide Stände. Auch das priesterliche Amt der intercessio unterscheiden die altlutherischen Theologen in zwei Aspekte, eine generelle und eine besondere Fürbitte. Durch den Verdienst, den sich Jesus Christus durch seinen aktiven und passiven Gehorsam erworben hat, bitte er in der allgemeinen Fürbitte Gott, diesen allen Menschen zuzurech‐ nen, und in der besonderen, die an ihn Glaubenden, also die Kirche, zu er‐ halten, stärken und zu schützen. Die Funktion des Königs übt Jesus Christus im königlichen Amt aus. Ebenso wie bei den beiden anderen Ämtern ist die unio personalis die Grund‐ lage. Als ewiger Sohn Gottes herrscht Christus seit Ewigkeit über die Welt, die er zusammen mit dem Vater und dem Heiligen Geist geschaffen hat, erhält und leitet, doch durch die *Inkarnation des Logos ist auch die mensch‐ liche Natur Jesu Christi in das königliche Amt einbezogen. Da dies für die 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 229 <?page no="230"?> officium regnum lutherische Christologie mit der *Inkarnation gesetzt ist, erhält und regiert Christus ebenso wie im Mutterleib Marias auch als Sterbender am Kreuz die Welt. Doch das officium regnum, welches Christus in beiden Stände innehat, beschränkt sich nicht auf die Welterhaltung. Seit Johann Gerhard unter‐ scheiden die Lutheraner das Amt in drei Dimensionen: das regnum potentiae (Reich der Macht), das regnum gratiae (Reich der Gnade) und das regum gloriae (Reich der Herrlichkeit). Während das Reich der Macht die schöp‐ fungstheologisch-kosmologische Funktion Jesu Christi in seinen beiden Na‐ turen thematisiert, bezieht sich das Reich der Gnade auf die Kirche. Diese erhält, stärkt und regiert Christus im königlichen Amt durch sein Wort und die Sakramente. Damit überschneidet sich allerdings dieses Amt mit seinem prophetischen. Mit dem Ende der Zeit geht die Kirche in das ewige regnum gloriae über (vgl. unten 6.4.1.3). In ihm herrscht Jesus Christus in seinen beiden Naturen zusammen mit dem Vater und dem Heiligen Geist. Das königliche Amt in seiner Verschränkung mit der Ständelehre spannt einen Bogen von der Schöpfung bis zum Eschaton. Es handelt sich folglich auch nicht um drei Reiche, sondern um drei Dimensionen der göttlichen Wirkungen Jesu Christi. Zusammen mit den beiden anderen Ämtern struk‐ turiert und systematisiert das königliche Amt das Erlösungswerk Christi, wobei die Betonung durchgehend auf seiner Person als der objektiven Grundlage des Heils liegt. Doch dadurch tritt in der Soteriologie das zurück, worum es in ihr eigentlich gehen sollte, die Beziehung Gottes auf den Menschen. L IT E R ATU R : Karin Bornkamm: Christus - König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, Tübingen 1998. Knud Henrik Boysen: Christus und sein dreifaches Amt. Multiperspektivische Annäherungen an eine zentrale Figur christologischen Denkens, Berlin/ Boston 2019, 77-119. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 99-103. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 204-217. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 50-74 (Reformatoren). 336-340 (lutherische Christologie). 404-409 (reformierte Christologie). 230 5 Gott und Glaube <?page no="231"?> Phil 2,5-11 Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 328-338. Alfred Krauß: Das Mittlerwerk nach dem Schema des munus triplex. Ein Beitrag zur Geschichte der Dogmatik, in: JDTh 17 (1872), 600-630. Ernst Friedrich Karl Müller: Art.: Jesu Christi dreifaches Amt, in: Realencyklo‐ pädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd.-8, Leipzig 3 1900, 733-741. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 246-271. 5.2.1.3 Die Lehre von den Ständen Jesu Christi Bei der Ständelehre (lateinisch: de statibus Christi), mit der der christologi‐ sche Lehrbegriff des Luthertums zum Abschluss kommt, handelt es sich ebenfalls um eine genuin lutherische Neubildung. Sie nimmt Martin Luthers Christusanschauung auf, in deren Fokus im Anschluss an Phil 2,5-11 der Mensch Jesus Christus in seiner Erniedrigung bis zum Kreuz steht. Als ein eigenes Lehrstück hat sich die Lehre von den beiden Ständen Christi erst spät etabliert, da sie zunächst in der von der Person Christi und später in der von seinem Amt behandelt wurde. Auch die Besonderheit dieses Lehrstücks resultiert aus der lutherischen Christologie. Nach dem Philipperhymnus sind zwei Stände Christi zu unterscheiden, der der Erniedrigung (lateinisch: status exinanitionis) und der der Erhöhung (lateinisch: status exaltationis). Grundlage der Lehrbildung ist die unio personalis. Da aber die Lutheraner in ihrer Christologie davon ausgehen, dass mit dieser unio in der menschlichen Natur des Erlösers die göttlichen Majestätseigenschaften verbunden bezie‐ hungsweise ihr mitgeteilt werden (vgl. oben 5.2.1.1), ist die Menschwerdung des Logos zugleich die Erhöhung der menschlichen Natur. Jesus Christus sitzt seit seiner Vereinigung mit der menschlichen Natur im Mutterleib Ma‐ rias nicht nur seiner Gottheit nach, sondern auch seiner Menschheit nach zur Rechten Gottes. Das sich hieraus ergebende Problem, wie dann die Knechtsgestalt, von der im Philipperhymnus die Rede ist, zu verstehen sei, behandelt die Lehre von den beiden Ständen Christi. Wenn die Mitteilung der Eigenschaften der göttlichen Natur an die menschliche aufgrund der unio personalis besagt, dass dieser die göttlichen Eigenschaften der Allmacht, Allgegenwärtigkeit etc. zukommen, dann fragt sich, wie dies mit der von der Schrift dargestellten Niedrigkeit Christi zu‐ sammen bestehen könne. Festzuhalten ist an beidem, da sonst die persönli‐ che Gemeinschaft der beiden Naturen in Christus nicht aufrechtzuerhalten 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 231 <?page no="232"?> Besitz und Gebrauch ist. Weder an der *Inkarnation noch am genus majestaticum sind somit Ab‐ striche zu machen. Die Lehrentwicklung im Luthertum behalf sich zunächst mit der Auskunft, Jesus Christus habe während seiner Erdentage, also im Stand der Erniedrigung, seiner menschlichen Natur nach die göttlichen Ma‐ jestätseigenschaften besessen, diese jedoch verheimlicht und nur ausnahms‐ weise bei seinen Wundern sich ihrer bedient. Erst nach seiner Himmelfahrt habe er auch seiner menschlichen Natur nach vollständigen Gebrauch von diesen Eigenschaften gemacht. In diesem Sinne erörtert die Formula Con‐ cordia in ihrem achten Artikel die beiden Stände Christi auf der Grundlage des genus majestaticum. Dass eine solche Auskunft nicht ausreicht und man die Frage, wie es sich mit dem Besitz und Gebrauch der der menschlichen Natur mitgeteilten göttlichen Eigenschaften während der Erdentage Jesu Christi verhält, nicht einfach offen lassen konnte, wurde in der weiteren Entwicklung der lutherischen Theologie schon bald klar. Hat Jesus Christus während seiner Erdentage die seiner menschlichen Natur mitgeteilten gött‐ lichen Majestätseigenschaften der Allmacht und Allgegenwart verhüllt oder sich ihrer entäußert? Hatte er diese Eigenschaften besessen und nicht ge‐ braucht, oder hatte er sie vielleicht gar nicht besessen? Der Streit über Besitz und Gebrauch der göttlichen Eigenschaf‐ ten der menschlichen Natur Christi in der lutherischen Theo‐ logie Vor dem Hintergrund der von der Formula Concordia offen gelassenen Frage, wie der Besitz und Gebrauch der der menschlichen Natur Jesu Christi mitgeteilten göttlichen Majestätseigenschaften zu verstehen sei, kam es 1616 zu dem sogenannten Kenosisstreit zwischen Theolo‐ gen der Tübinger und Gießener Fakultät. Beide Parteien setzen die lutherische Christologie und damit das genus majestaticum voraus. Umstritten ist die Frage, wie die Verborgenheit der der menschlichen Natur Jesu Christi mitgeteilten göttlichen Eigenschaften der Allgegen‐ wart etc. zu verstehen sei. Während die Gießener Theologen Balthasar Mentzer (1565-1627) und Justus Feuerborn (1587-1656) annahmen, Jesus Christus habe sich im Stand der Erniedrigung des Gebrauchs (griechisch: chresis), nicht aber des Besitzes (griechisch: ktesis) ent‐ äußert (griechisch: kenosis), votierten die Tübinger Lucas Osiander (1571-1638), Melchior Nicolai (1578-1659) und Theodor Thummius (1586-1638) für deren verborgenen Gebrauch (griechisch: krypsis). 232 5 Gott und Glaube <?page no="233"?> Stand der Erniedri‐ gung Schlichtungsversuche des Streits, wie die Decisio Saxonia von 1624, führten zu keiner Entscheidung, und im Dreißigjährigen Krieg verlief sich die Kontroverse im Sande. Wie auch immer man die umstrittene Frage, wie es sich mit Besitz und Gebrauch der der menschlichen Natur Jesu Christi mitgeteilten göttlichen Majestätseigenschaften verhält, im Einzelnen beantwortet, im Rahmen der Voraussetzungen der lutherischen Christologie lassen sich Aporien nicht vermeiden. Optiert man für eine Verheimlichung seiner Majestätsei‐ genschaften während seiner Erdentage, dann spielt Jesus Christus ledig‐ lich Theater und begeht am Kreuz Selbstmord (Friedrich Schleiermacher). Sterben kann lediglich seine menschliche Natur, nicht aber die göttliche. Besitzt aber auch jene die idiomata von dieser, dann muss sie Christus, um überhaupt sterben zu können, irgendwie zurücknehmen. Nimmt man hingegen an, Christus habe sich, um sterben zu können, der seiner mensch‐ lichen Natur mitgeteilten Majestätseigenschaften entäußert und nur seiner göttlichen Natur nach die Welt erhalten, regiert und geleitet, als er tot am Kreuz hing, dann ist offensichtlich die unio personalis der beiden Naturen aufgehoben, und man ist bei zwei Personen gelandet, einer göttlichen und einer menschlichen. Mit dem Stand der Erniedrigung bezeichnen die lutherischen Theologen die Ereignisse des irdischen Lebens Jesu Christi seit der Vereinigung des Logos mit der menschlichen Natur bis zu seinem Tod am Kreuz und seiner Grablegung. Er betrifft lediglich die menschliche Natur seiner Person, nicht seine göttliche, da diese per definitionem unwandelbar ist und folglich weder erniedrigt noch erhöht werden kann. Hauptmomente des status exinanitionis 1. conceptio (Empfängnis) 2. nativitas (Geburt) 3. circumcisio (Beschneidung) 4. educatio (Unterstellung unter das Familiengesetz) 5. conversatio visibilis Christi his in terris (Widrigkeiten des Lebens in der Niedrigkeit) 6. passio magna (Leiden Christi in den letzten Tagen seines Lebens) 7. mors Christi (Tod Christi am Kreuz) 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 233 <?page no="234"?> Stand der Erhöhung 8. sepultura (Grablegung Christi) Dem Philipperhymnus entsprechend folgt auf den Stand der Erniedrigung der der Erhöhung. Für diesen gilt, dass in ihm auch die menschliche Natur die ihr mitgeteilten göttlichen Majestätseigenschaften, die Christus wäh‐ rend seiner Erdentage verheimlicht hat beziehungsweise auf deren Anwen‐ dung er weitgehend verzichtete, uneingeschränkt gebraucht. Damit ist er auch seiner menschlichen Natur nach ausdrücklich und durchgehend wirk‐ sam als das, was sie seit der *Inkarnation bereits ist: allmächtig und allge‐ genwärtig, so dass sein Wort ubiquitär (lateinisch: ubique, allgegenwärtig) und er im Abendmahl leiblich real präsent ist. Anders als die Reformierten zählen deshalb die Lutheraner die Höllenfahrt Jesu Christi (lateinisch: des‐ census ad inferos) bereits zum Stand der Erhöhung. Sein Abstieg in die Hölle ist der Beginn der Auferstehung, da Christus über die Dämonen triumphiert. Weil seine göttliche Natur per definitionem allgegenwärtig ist, betrifft die Höllenfahrt seine menschliche Natur. Hauptmomente des status exaltationis 1. descensus ad inferos (Höllenfahrt Jesu Christi nach 1Petr 3,18-20 und Kol 2,15) 2. resurrectio (Auferstehung) 3. ascensio (Himmelfahrt auch der menschlichen Natur nach Lk 24,51 und Apg 1,9) 4. sessio ad dextram Dei (Sitzen zur Rechten Gottes nach Heb 1,13, Eph 4,20-22) Sein dreifaches Amt als Prophet, Priester und König übt Christus in seinen beiden Naturen in seinen beiden Ständen aus. L IT E R ATU R : Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 103-105. Formula Concordia, in: Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 9 1982, Solida Declaratio, VIII. (Von der Person Christi), 1017-1049. IX. (Von der Hellfahrt Christi), 1049-1053. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 217-225. 234 5 Gott und Glaube <?page no="235"?> Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 330-336 (lutherische Christologie). 409-413 (reformierte Christologie). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 281-288. Ernst Friedrich Karl Müller: Art.: Stand Christi, doppelter, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hrsg. v. Albert Hauck, Bd.-18, Leipzig 3 1906, 755-759. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 271-293. Ulrich Wiedenroth: Krypsis und Kenosis. Studien zu Thema und Genese der Tübinger Christologie im 17.-Jahrhundert, Tübingen 2012. 5.2.2 Problemfelder der Christologie Seit der europäischen Aufklärung ist die überlieferte dogmatische Lehre von Jesus Christus, in deren Zentrum seine Person steht, in der göttliche und menschliche Natur vereinigt sind, der Kritik ausgesetzt. Die Auseinander‐ setzung mit den kritischen Anfragen führte zu zahlreichen Versuchen ihrer Neubestimmung. Doch auch diese Neufassungen der Christologie blieben einer gegenständlich-objektiven Fassung verhaften, wie sie bereits für die dogmatische Lehrtradition signifikant war. Sie konstruieren die Besonder‐ heit der Person Jesu Christi, indem ihm bestimmte Prädikate zugesprochen werden. Aus solchen gegenständlichen Konstruktionen der Christologie ergeben sich Aporien, die eine grundsätzliche Neufassung erforderlich ma‐ chen. Mit der Grundlegungsalternative einer Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘, dem Verhältnis von impliziter und expliziter Christologie und schließlich dem Judäer Jesus und seinem Verhältnis zum christlichen Erlöser werden im Folgenden drei exemplarische Problemfelder der Christologie diskutiert, die aus ihrer gegenständlichen Fassung resultieren. 5.2.2.1 Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘? Grundlegend für die christliche Religion ist ihr Christusbekenntnis. Es bekennt Jesus Christus als Gott und Mensch. Von der antiken Theologie wurde das Christusbekenntnis zur Christologie, zur dogmatischen Lehre von Jesus Christus ausgearbeitet. Klassische Bestandteile der Lehre sind die 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 235 <?page no="236"?> Christolo‐ gie der Lehrtradi‐ tion *Inkarnation des Logos, sein Tod am Kreuz sowie seine Auferstehung und Himmelfahrt. Sie wurden von den christologischen Lehrbildungen gegen‐ ständlich-sachhaltig aufgenommen und diskutiert. Im Fokus des Interesses stand, von der Person Jesu Christi sowohl sein Menschsein als auch sein Gottsein auszusagen. Seit dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 erfolgte das in Form der Zweinaturenlehre. Jesus Christus ist eine Person, in der eine göttliche und eine menschliche Natur zu einer Einheit verbunden sind, wobei die beiden Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungeteilt bleiben (vgl. oben 5.2.1.1). Ausgangspunkt der Christologie der dogmatischen Lehrtradition bis hin zum alten Luthertum ist die *Inkarnation des Logos, die Sendung des Sohnes in die Welt durch Gott den Vater. Ihre Grundlage ist Gott, der in Ewigkeit in drei Personen *subsistiert (vgl. oben 5.1.1.2). Die Menschwerdung des Soh‐ nes Gottes ist ein Werk des dreieinigen Gottes nach außen. Für die Kon‐ struktion der Christologie bedeutet das, sie hat ihre Grundlage in der im‐ manenten Trinität, die den übergeordneten Rahmen bildet. Beide, Trinität und Christologie, sind wie Grund und Folge unterschieden. Voraussetzung der Christologie ist die zweite Person der Trinität, der Sohn Gottes. In seiner *Inkarnation nimmt er die menschliche Natur in die unio personalis seiner göttlichen Natur auf. Es besteht nicht nur eine Differenz zwischen dem be‐ reits gegebenen Sohn Gottes und der menschlichen Natur, diese kommt als etwas Sekundäres zu ihm hinzu. Beide sind zunächst getrennt, auch wenn letztere erst durch die Menschwerdung von Gott geschaffen ist. Aufgabe der Christologie ist es, die Einheit der göttlichen und der menschlichen Naturen in der Person Jesu Christi zu klären. Zu verdeutlichen ist, wie sich die vom Logos aufgenommene menschliche Natur zur göttlichen in seiner Natur verhält. Grund der Einheit der beiden Naturen in seiner Person ist Gott be‐ ziehungsweise der Sohn Gottes. Er ist das aktive Moment in diesem Ge‐ schehen. Zur Folge hat das nicht nur, dass die Christologie von der Person Jesu Christi aufgrund der in ihm persönlich geeinigten Naturen Aussagen machen muss, die sich gegenseitig ausschließen. Aufgrund seiner göttlichen Natur kommen Christus die Eigenschaften der Unveränderlichkeit, Leidlo‐ sigkeit, Ewigkeit und aufgrund seiner menschlichen Natur die Eigenschaften der Veränderlichkeit, des Leidens, der Zeitlichkeit zu. Beides ist nicht zu‐ gleich zu haben, so dass das Christusbild unverständlich wird. Im Horizont einer von den beiden Naturen ausgehenden Inkarnationschristologie lässt es sich, wie die Lehrentwicklung im Luthertum zeigt, nicht mehr vermeiden, die menschliche Natur in die göttliche aufzulösen. 236 5 Gott und Glaube <?page no="237"?> Inkarnati‐ onschristo‐ logie Jesus als Grundlage der Christo‐ logie Eine Inkarnationschristologie, die von dem Sohn Gottes ausgeht, der se‐ kundär die menschliche Natur aufnimmt, führt jedoch nicht nur zur Auf‐ hebung des Menschseins in der Einheit seiner Person. Sie lässt auch die Ge‐ schichte Jesu von Nazareth unwesentlich werden und eliminiert ihre Bedeutung für den dreieinigen Gott. Wenn der Sohn Gottes, der Logos, Vor‐ aussetzung und dominierendes Prinzip der Christologie ist, von dem auf‐ grund seiner Unveränderlichkeit gilt, dass er in sich vollendet ist, dann bleibt die menschliche Natur, die er in die Einheit seiner Person aufnimmt, ohne jede Bedeutung für ihn. Sie kann ihm per definitionem nichts mehr hinzu‐ fügen. Das aber heißt, eine Christologie, die von der *Inkarnation der zwei‐ ten Person der Trinität und der Gottheit des Sohnes Gottes ausgeht, erreicht die Geschichte Jesu von Nazareth gar nicht, von der doch auch sie ausgehen und die sie voraussetzen muss. So enden christologische Konstruktionen, die den bereits gegebenen Sohn Gottes mit einer zu ihm hinzukommenden menschlichen Natur vereinigen, in einem Dilemma. Sie erreichen das Chris‐ tusbekenntnis nicht, welches sie plausibilisieren wollen. Die in der Aufklärung einsetzende historische Jesusforschung wies nicht ohne Grund das christologische Dogma zurück und suchte nach einer neuen Grundlage der christlichen Religion. Sie fand sie im geschichtlichen Jesus von Nazareth. Er soll nun als ihr neues Fundament fungieren, da die dog‐ matische Konstruktion des Gott-Menschen im Ausgang von seinen beiden Naturen sein Menschsein ausschaltet und folglich ihre Intention, das Chris‐ tusbekenntnis zu begründen, nicht erreicht. Mit dem durch die Aufklärung geschaffenen neuen Ansatzpunkt der Christologie beim Menschen Jesus von Nazareth und seiner Geschichte ist eine Alternative zur klassischen Inkar‐ nationschristologie etabliert, die man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Christologie ‚von oben‘ und ‚von unten‘ unterscheidet. Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ Bei der Alternative einer Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ geht es um den methodischen Ausgangspunkt der Lehre von Jesus Christus. Sie setzt die Erkenntniskritik der Neuzeit ebenso voraus wie die historische Kritik an den biblischen Schriften. Eingeführt wurde diese Unterscheidung in den Kontroversen über die Christologie Albrecht Ritschls (vgl. oben 2.5.4) durch den Erlanger Theologen Franz Hermann Reinhold Frank (1827-1894) am Ende des 19. Jahrhunderts. Obwohl diese Alternative die christologischen Debatten vor allem 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 237 <?page no="238"?> Suche nach der Beson‐ derheit Jesu im 20. Jahrhundert bestimmte, bleibt unklar, was jeweils mit ‚oben‘ und ‚unten‘ gemeint sein soll. Eine Christologie ‚von oben‘ kann sich auf die zweite Person der Trinität (antike Lehrtradition), die Idee des Christentums (Hegel und theologische Hegelschule) sowie auf das Kerygma (Rudolf Bultmann) beziehen. Ebenso unbestimmt ist das, was mit einer Christologie ‚von unten‘ gemeint ist. Infrage kommen ein Ausgang von dem ‚wirklichen‘ Jesus hinter den Evangelien (Paul Alt‐ haus, Wolfhart Pannenberg), der vorösterliche Jesus in den Evangelien (Albrecht Ritschl) oder die Identifikation des ‚wirklichen‘ Jesus mit dem biblischen Christusbild (Martin Kähler [1835-1912]). Zudem handelt es sich bei der Unterscheidung nicht um eine Alternative, sondern um ein Wechselverhältnis. Es expliziert die zirkuläre Struktur des christlichen Christusbildes. Ausgangspunkt der Christologie ‚von unten‘ ist im Unterschied zu Konzep‐ tionen, die ‚von oben‘ bei der Voraussetzung des Sohnes Gottes als zweiter Person der Trinität einsetzen, der Mensch Jesus von Nazareth. Aufgenom‐ men sind damit sowohl die Geschichte als auch die historische Forschung. Diese eröffnet die Möglichkeit, aus den neutestamentlichen Quellen ein Bild des Nazareners zu rekonstruieren, welches von den Übermalungen frei ist, die es durch seine Nachfolgerinnen und Nachfolger sowie die dogmatische Kirchenlehre erhalten hat. Aus der so freigelegten Geschichte Jesu von Nazareth soll seine Einheit mit Gott begründet werden. Letztere ist also nicht schon vorausgesetzt, wie in der alten Inkarnationschristologie, sondern sie soll aus seinem Lebenszeugnis heraus aufgewiesen werden. Doch wie gelangt man von dem Nazarener und seiner Geschichte zu Gott und zu seiner Einheit mit Gott? Indem man nach Merkmalen seiner Besonderheit sucht. An die Stelle der vormaligen göttlichen Natur Christi tritt nun seine re‐ ligiöse oder moralische Besonderheit, die ihn gegenüber anderen Menschen auszeichnet. Das ist selbst in sogenannten Jesulogien noch der Fall, die aus‐ drücklich von einer Gottheit Jesu absehen und sich auf ihn als Menschen konzentrieren ( Julie Hopkins [geb. 1956]). Ohne eine religiöse, ethische oder sonstige Besonderheit, die ihm zugesprochen wird, wäre nicht ersichtlich, warum man sich mit ihm überhaupt beschäftigen sollte. Konzeptionen, die von dem geschichtlichen Nazarener als Grundlage der Christologie ausge‐ hen, sehen seine Besonderheit in einer gegenüber dem Judentum neuen (autonomen) Moral ( Johann Salomo Semler), seiner einzigartigen Religiosi‐ 238 5 Gott und Glaube <?page no="239"?> Wechsel‐ verhältnis von ‚oben‘ und ‚unten‘ tät, seinem engen Gottesverhältnis und seinem inneren Leben (Wilhelm Herrmann) etc. In diesen Eigenschaften, die sich historisch ausweisen lassen sollen, manifestiere sich seine Einheit mit Gott, die Jesus von Nazareth zum Bezugspunkt der christlichen Religion machen. Allein, aus dem historisch rekonstruierten Leben und Wirken des Nazareners, seinen Handlungen, Ei‐ genschaften und Merkmalen, lässt sich seine Einheit mit Gott gerade nicht ableiten. Wenn Gott transzendent und unsichtbar ist, kann es auch keine Merkmale im Leben eines Menschen geben, an denen sich sein besonderes Gottesverhältnis aufweisen lässt. Das aber heißt, eine Christologie ‚von un‐ ten‘ gelangt nicht zu Gott. Sie muss, schon um Jesus Eigenschaften zu‐ schreiben zu können, die seine besondere Gottesnähe bezeichnen, Gott in irgendeiner Form voraussetzen. Wie die Christologie ‚von oben‘ nicht zum Menschen Jesus von Nazareth führt, erreicht die ‚von unten‘ nicht seine Gottheit. Beide sind einseitig und müssen folglich in ein Wechselverhältnis überführt werden. Zur Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi gelangt man nicht, wenn man entweder zu einem bereits gegebenen Sohn Gottes eine menschliche Natur hinzufügt oder vom Menschen Jesus von Nazareth ausgeht, um sein Gottsein aufzuweisen. Man muss mit ihrer Einheit einsetzen. Das kann auf unter‐ schiedliche Weise geschehen. Offenbarungstheologische Fassungen der Christologie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet wurden, lösen die Alternative ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ in eine Beschrei‐ bung der reflexiven und zirkulären Struktur des Glaubensakts auf (vgl. oben 2.6.2). Gott und Mensch fungieren nicht als gegenständliche Ausgangs‐ punkte der Konstruktion der Christologie. Sie strukturieren den als Offen‐ barung Gottes in Jesus Christus neu bestimmten Glauben, in dem dieser allein wirklich ist (Karl Barth, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten). Indem die zirkuläre Struktur des Glaubensakts zum Gegenstand der Christologie avanciert, der seine Begründung, Geltung und Wahrheit in sich selbst hat, ist diese von gegenständlichen Voraussetzungen wie empirischen Beson‐ derheiten Jesu von Nazareth und damit auch von der historischen Forschung abgelöst. An ihre Stelle tritt das Geschehen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Es ersetzt den Ausgang vom Menschen Jesus von Nazareth. Wird aber nicht mit einer Christologie, die von der Selbstoffenbarung Gottes ausgeht, die alte Christologie ‚von oben‘ der dogmatischen Lehrtra‐ dition revitalisiert und als Gegengeschichte zum historischen Bewusstsein der Moderne und ihren Erkenntnisbedingungen inszeniert? Der Rekurs auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus reiche, wie argumentiert 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 239 <?page no="240"?> wurde, nicht aus, um eine Christologie zu begründen. Weil er die historische Jesus-Forschung programmatisch aus der Grundlegung der Christologie ausscheide, bleibe er eine bloß subjektive Behauptung, die lediglich einem vorausgesetzten Glauben zugänglich sei (Wolfhart Pannenberg). Um argu‐ mentativ ausweisbar zu sein, müssen die historischen Bemühungen der Geschichtswissenschaft um Jesus von Nazareth in die christologische Theo‐ riebildung aufgenommen werden. Erst vor dem Hintergrund der Kritik an der Wort-Gottes-Theologie in den 1950er und 1960er Jahren erhalten die Kontroversen über Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ ihr spezifisches Profil. Aufgenommen ist nämlich auch in den neuen Christologien ‚von un‐ ten‘, dass die Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi weder im Ausgang von seinem Gottsein noch von seinem Menschsein erreicht werden kann. Beide Perspektiven bilden ein Wechselverhältnis, von dem auszugehen ist. Um subjektive Engführungen zu vermeiden und zu einer argumentativ ausweisbaren Begründung des Christusglaubens zu gelangen, muss die Einheit von Gott und Mensch vom Glaubensakt gelöst und als dessen Voraussetzung verstanden werden. Das heißt aber, die Zirkelstruktur, in dessen Erörterung die Theologie des frühen 20. Jahrhunderts die Aufgabe der Christologie erblickt hatte, muss auf die ganze Welt übertragen werden. Nicht nur Jesus Christus ist auf Gott bezogen, sondern die Menschheit als solche steht in einer für sie konstitutiven Gottesbeziehung. In Gottes Offenbarung in Christus sei diejenige Einheit von Gott und Mensch zu ihrer Wahrheit gekommen, die der gesamten Geschichte bereits zugrunde liegt. Um das nachzuweisen und zu begründen, müsse eine Christologie von unten beim Menschen Jesus von Nazareth ansetzen. Freilich nicht, um sein Gottesverhältnis als eine sekundäre Dimension hinzuzufügen. Sie muss vielmehr anhand seines Lebenswegs und Geschicks die Besonderheit seiner Einheit mit Gott aufzeigen. Diese findet man nun genau darin, dass das Jesusbild, welches die historische Forschung aus den Evangelien zutage fördert, davon gekennzeichnet sei, dass Jesus von Nazareth es zurückweist, der Messias zu sein. Indem sich der Nazarener selbst von Gott unterscheidet (Wolfhart Pannenberg), gleichsam sagt, er sei nicht der Christus, ist er als der wahre Mensch (Eberhard Jüngel) und Christus erkennbar. In den neuen christologischen Ansätzen ‚von unten‘ fungiert der Rekurs auf die Geschichte als Begründung der Christologie. Sie richten sich gegen ‚von oben‘ einsetzende Offenbarungstheologien und ihre vermeintlichen Begründungsdefizite in dem subjektiven Zirkel des Glaubens. Aber die Behauptung, die Wirklichkeit Gottes umfasse und umgreife die gesamte 240 5 Gott und Glaube <?page no="241"?> Wirklichkeit, bleibt ebenfalls eine Setzung der Theologie, die sich gerade nicht begründen lässt. Das macht nicht nur deutlich, dass die Alternative einer Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ keine ist. Das Gottsein und Menschsein Jesu Christi, um das es im Christusbekenntnis geht, lässt sich auch nicht gegenständlich fassen. Christologische Aussagen der christlichen Religion haben keine gegenständlich-sachhaltige Funktion, sondern eine hermeneutische. Christologie ist eine Reflexionsebene der Systematischen Theologie. Sie beschreibt den Glauben als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 2 1949, 195-201. Benjamin Dahlke/ Cornelia Dockter/ Aaron Langenfeld (Hrsg.): Christologie im Horizont pneumatologischer Neuaufbrüche. Bestandsaufnahmen und Per‐ spektiven, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2022. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 189-192. Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21.-Jahrhundert, Tübingen 2 2011. Johannes Fischer: Wahrer Gott und wahrer Mensch. Zur bleibenden Aktualität eines alten Bekenntnisses, in: NZSTh 37 (1995), 165-204. Julie Hopkins: Sind Christologie und Feminismus unvereinbar? Zur Debatte zwischen Daphne Hampson und Rosemary Radford Ruether, in: Doris Strahm/ Regula Strobel (Hrsg.): Vom Verlangen nach Heilwerden. Christologie in feminis‐ tisch-theologischer Sicht, Fribourg/ Luzern 1991, 194-206. Walter Kasper: Christologie von unten? Kritik und Neuansatz gegenwärtiger Christologie, in: Leo Scheffczyk (Hrsg.): Grundfragen der Christologie heute, Freiburg i.Br. 1975, 141-183. Wolfhart Pannenberg: Christologie und Trinität, in: ders.: Grundfragen systema‐ tischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd.-2, Göttingen 1980, 129-145. Wolfhart Pannenberg: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, 26-31. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-2, 35-164 (§§ 91-105). Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-2, Berlin (Ost) 1977, 20-36. 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 241 <?page no="242"?> implizite und expli‐ zite Chris‐ tologie 5.2.2.2 Implizite und explizite Christologie Historisch gesehen war Jesus von Nazareth Judäer aus der Zeit des Zweiten Tempels und teilte die religiösen Überzeugungen seiner Zeitgenossen ein‐ schließlich ihres Gottesglaubens. Auch seine Nachfolger gehörten in diesen komplexen religionskulturellen Kontext. Doch sie rückten den Nazarener in das Zentrum ihrer religiösen Kommunikation. In diesem Prozess wurde aus dem Verkündiger des Gottesreichs der Verkündigte (Rudolf Bultmann). Wie verhält sich der verkündigte nachösterliche Christus zu dem vorösterlichen Jesus? In den christologischen Debatten wird diese Frage seit den 1920er Jahren als Verhältnis von impliziter und expliziter Christologie verhandelt. Eingeführt in die Debatte wurde dieses Schema von Rudolf Bultmann, und es bestimmte vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die christo‐ logischen Diskussionen. Ähnlich wie bei der Alternative Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ geht es bei diesem Schema um Grundlegungsfragen der Christologie. Es setzt die erkenntnistheoretische und historische Kritik am überlieferten christologischen Dogma sowie den biblischen Schriften voraus, so dass sich in der Frage nach dem Verhältnis von impliziter und expliziter Christologie historische und systematisch-theologische Perspek‐ tiven überlagern. Das Schema besagt, dass in Wirken, Verkündigung und Geschick Jesu von Nazareth bereits eine Christologie angelegt ist, die den nachösterlichen Ge‐ meinden bewusst und von ihnen ausdrücklich gemacht wurde. Der verkün‐ digte Jesus Christus, das Kerygma der frühen Gemeinden oder der geglaubte Christus bringen nichts anderes zur Sprache als das, was der Nazarener selbst verkündigte beziehungsweise war. Sowohl der Christus des Glaubens als auch das in der Alten Kirche geschaffene christologische Dogma seien mithin Explikation desjenigen Bedeutungsgehalts, der in der Geschichte Jesu von Nazareth angelegt ist (Wolfhart Pannenberg). In dem Verhältnis von impliziter und expliziter Christologie überlagern sich mehrere Aspekte. Zunächst die Frage nach der Kontinuität zwischen dem historischen oder vorösterlichen Jesus und dem geglaubten oder kerygmatischen Christus. Diese Kontinuität enthält eine Diskontinuität, da die Gemeinde nicht einfach die Verkündigung Jesu wiederholt, sondern Jesus als der Christus selbst zum Bestandteil der Verkündigung wird. Sodann ist das Schema gegenständlich orientiert. Es fragt nach Merkmalen oder Eigenschaften Jesu, an denen die Kontinuität zwischen dem Verkündiger und dem Verkündigten ihren Anhalt hat (Gerhard Ebeling). Drittens steht mit dem Verhältnis von impliziter und 242 5 Gott und Glaube <?page no="243"?> Vorausset‐ zung des Schemas expliziter Christologie die Frage ihres Ausgangspunkts zur Debatte. Ruht der Glaube an das Gottsein Jesu Christi auf diesem selbst, oder verdankt er sich dem Glauben der Gemeinde? Und schließlich wird viertens mit dem Schema das Verhältnis von Glaube und Geschichte thematisch. Voraussetzung des Schemas von impliziter und expliziter Christologie ist die christologische Entwicklung im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der historischen und religionsgeschichtlichen Erforschung der biblischen Schriften um 1900. Insbesondere die sogenannte *religionsgeschichtliche Schule (vgl. oben 2.6.1), welche die Frühgeschichte des Christentums durch religionsgeschichtliche Vergleiche mit der zeitgenössischen religiösen Um‐ welt zu erhellen versuchte, verstand Jesus von Nazareth als Apokalyptiker im Kontext des antiken Judentums ( Johannes Weiß [1863-1914], Albert Schweitzer [1875-1965]). Dadurch wurde der Abstand zwischen ihm und dem Christentum zunehmend bewusst. Der geschichtliche Jesus sei Teil der jüdischen Religionsgeschichte und nur in diesem Kontext zu verstehen. An dieses historische Resultat knüpfte die weitere Entwicklung an. Für Rudolf Bultmann gehört der Nazarener in die Vorgeschichte der christli‐ chen Religion, während diese mit dem Osterglauben der Gemeinde, dem Kerygma beginnt. Allein dieses und nicht der historische Jesus begründet den Glauben. Von der historischen Rekonstruktion des Nazareners durch die Geschichtswissenschaften führt damit kein Weg mehr zum geglaubten Jesus Christus der christlichen Religion. Von dieser geschichtsmethodologischen Erkenntnis sowie den aus ihr gezogenen theologischen Konsequenzen geht auch die weitere christologi‐ sche Debatte im 20. Jahrhundert und ihre Aufnahme des Verhältnisses von impliziter und expliziter Christologie aus. Ausgangspunkt des Schemas ist der kerygmatische oder geglaubte Christus, also die explizite Christologie der frühen Gemeinden, wie sie in den neutestamentlichen Texten vorliegt. Doch anders als Bultmann und die Dialektische Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. oben 2.6.2) argumentieren viele Theologen seit den 1940er und 1950er Jahren, es müsse hinter das Kerygma der Gemeinde zurückgegangen und der vorösterliche, geschichtliche oder irdische Jesus als Voraussetzung und Grundlage eben des Glaubens an Jesus Christus aufgewiesen werden (vgl. oben 2.6.3). Andernfalls, so das Argument, werde das Kerygma oder der geglaubte Christus zur Projektion der Gemeinde und somit zur Illusion oder zum Mythos. Das Kerygma habe seinen Grund in der Geschichte und dem Wirken Jesu, aber nicht in der Verkündigung seiner Ge‐ meinde. Aufgabe der Christologie ist es folglich, die Wirklichkeit Jesu Christi 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 243 <?page no="244"?> implizite Christolo‐ gie hinter den Texten des Neuen Testaments herauszuarbeiten. Sonst würde sie lediglich die neutestamentlichen Christologien wiederholen. Begründet ist der Christusglauben in Jesus Christus und nicht in den Berichten über ihn. Methodisch kontrolliert wäre ein Rückgang hinter das Kerygma zwar nur mit den Mitteln der historischen Kritik möglich, doch die es begründende geschichtliche Wirklichkeit Christi sei allein dem Glauben und nicht der Geschichtswissenschaft zugänglich (Paul Althaus). Der geschichtliche Jesus, der hier in Anspruch genommen wird, ist ein systematisch-theologisches und kein historisches Konstrukt. Ähnlich argumentieren auch die Schüler Bultmanns, die wie Ernst Käsemann und Ernst Fuchs in den 1950er Jahren die sogenannte neue Frage nach dem historischen Jesus initiiert haben. Ihnen geht es - nun jedoch im Medium der historisch-kritischen Exegese - um einen Anhalt des geglaubten Christus am historischen Jesus, da andernfalls jener zu einer bloßen Projektion der Gemeinde werde. Allerdings blieb es in den historischen und systematisch-theologischen Debatten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unklar, worauf sich die implizite Christologie überhaupt bezieht. Ist damit der historische Jesus hinter den neutestamentlichen Evangelien gemeint (Paul Althaus, Wolfhart Pannenberg) oder der vorösterliche Jesus Christus in den Evangelien (Ger‐ hard Ebeling, Eberhard Jüngel), oder sind beide gar identisch? Es bleibt offen, ob es um eine historische oder eine systematisch-theologische Perspektive geht. Aus dieser Gemengelage resultieren unterschiedliche Funktionen des Schemas. Es kann als hermeneutischer Rahmen benutzt werden (Ernst Kä‐ semann, Ernst Fuchs, Gerhard Ebeling, Eberhard Jüngel) oder als Begrün‐ dung der Christologie (Paul Althaus, Wolfhart Pannenberg). Deutlich ist, dass sich in der Frage nach dem Verhältnis von impliziter und expliziter Christologie historische und systematische Perspektiven auf unklare Weise überlagern und vermischen. Genau darin ist das Schema Ausdruck der Theologie in der Mitte des letzten Jahrhunderts und ihres Selbstverständ‐ nisses als einer autonomen Wissenschaft. In der Konstruktion einer impli‐ ziten Christologie entwirft sie ein eigenes theologisches Bild der Geschichte, welches allein ihr und nicht den anderen Wissenschaften zugänglich ist (Paul Althaus, Eberhard Jüngel). Indem sie eine implizite Christologie kon‐ struiert, mit der der Anspruch verbunden ist, die eigentliche und den zu behandelnden neutestamentlichen Texten allein angemessene Geschichts‐ sicht zu sein, bestätigt sich die Theologie als eine autonome Wissenschaft. Doch das funktioniert lediglich durch eine Suspendierung der historischen Wissenschaft, die in diesen Konzeptionen zu einer Funktion der Theologie 244 5 Gott und Glaube <?page no="245"?> Probleme des Sche‐ mas wird, indem theologische und historische Deutung ineinandergeschoben werden. Es zeigt sich, dass die Frage nach dem Verhältnis von impliziter und ex‐ pliziter Christologie, an dem die christologischen Debatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientiert waren, um das dogmatische Christus‐ bild mit der historischen Forschung auszugleichen, aus mehreren Gründen ungenügend ist. Zunächst bleibt auch die Suche nach einer impliziten Chris‐ tologie gegenständlich ausgerichtet. In ihrem Fokus stehen ausweisbare Merkmale und Eigenschaften des geschichtlichen, vorösterlichen oder irdi‐ schen Jesus, an denen das Kerygma, von dem ja ausgegangen wird, seinen Anhalt hat. Gleichwohl soll die implizite Christologie verhindern, dass das Kerygma eine Projektion der Gemeinde sei. Sodann geht es um ein Ent‐ wicklungsschema, nämlich den Übergang von Jesus von Nazareth zum Christus des Glaubens sowie dem christologischen Dogma der Alten Kirche. Kontinuität und Diskontinuität sind in diesem Prozess verschränkt. Aber was heißt das? Man kann den Übergang vom Verkündiger zum Verkündig‐ ten so konstruieren, dass ihm eine ontologische Identität zugrunde liegt, die entweder christologisch (Eberhard Jüngel) oder pneumatologisch (Otto Alexander Dilschneider [1904-1991]) ausgearbeitet wird. Dann ist es der trinitarische Gottesgedanke, der die Identität und Differenz zwischen dem vor- und dem nachösterlichen Jesus Christus umgreift, dadurch freilich auch ihre Differenz auslöscht. Da eine implizite Christologie nur aus der Per‐ spektive einer expliziten erschlossen werden kann, setzt drittens jene diese schon voraus. Ohne religiöse Aneignung und produktive Weitergabe der Verkündigung Jesu gibt es keine implizite Christologie. Diejenige Kontinui‐ tät, an der das Entwicklungsschema von impliziter und expliziter Christo‐ logie so interessiert ist, setzt Diskontinuität voraus (Ernst Käsemann). Diese ist nivelliert, wenn ihr eine Substanz zugrunde liegt. Jesu Tod am Kreuz wäre dann lediglich ein Durchgangsmoment zu seiner Auferstehung. Das lässt sich nur verhindern, wenn die Kontinuität zwischen Karfreitag und Ostern als Abbruch verstanden wird. Kontinuität entsteht erst in der wiederholen‐ den Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus in der Kommunikation, in der er nicht nur zum Ursprung der christlichen Religion wird, sondern in der diese Erinnerung stets auch transformiert und anders erzählt wird. Das Schema von impliziter und expliziter Christologie kann nicht gegen‐ ständlich verstanden werden. Es erörtert die Zirkelstruktur der christlichen Religion, aber es bietet keine Begründung des geglaubten oder kerygmati‐ schen Christus durch den geschichtlichen Jesus. Es ist in eine reflexive 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 245 <?page no="246"?> Fassung der Christologie zu überführen, in der die Zusammenführung und Vermischung von historischer Forschung und dogmatischem Christusbild aufgelöst wird und beide Dimensionen deutlich unterschieden werden. Die christliche Religion ist auf die Geschichte bezogen und in sie eingebunden. Doch ihr Geschichtsbezug hat keinen historischen Sinn. Glaube ist kein historisches Wissen, obwohl er sich auf die Geschichte Jesu und damit auf historische Aussagen bezieht. Der Christologie obliegt es, deren religiösen Sinn zu explizieren. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 2 1949, 195-211. Rudolf Bultmann: Kirche und Lehre im Neuen Testament, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd.-1, Tübingen 8 1980, 153-187. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 185-189. Otto Alexander Dilschneider: Die Geistvergessenheit der Theologie. Epilog zur Diskussion über den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus, in: ThLZ 86 (1961), 255-266. Gerhard Ebeling: Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie, in: ders.: Wort und Glaube, Bd.-1, Tübingen 3 1967, 300-318. Ernst Fuchs: Zur Frage nach dem historischen Jesus (= Gesammelte Aufsätze, Bd. 2), Tübingen 1960. Eberhard Jüngel: Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes. Ein hermeneutischer Beitrag zum christologischen Problem, in: ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Erörterungen I, Tübingen 3 2000, 126-144. Eberhard Jüngel: Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 214-242. Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus, in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd.-1, Göttingen 4 1965, 187-214. Wolfhart Pannenberg: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966. Gerd Theißen: Vom historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn. Soziologi‐ sche Rollenanalyse als Beitrag zum Verständnis neutestamentlicher Christologie, in: EvTh 68 (2008), 285-304. Falk Wagner: Systematisch-theologische Erwägungen zur neuen Frage nach dem historischen Jesus, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 289-308. 246 5 Gott und Glaube <?page no="247"?> 5.2.2.3 Jesus der Judäer und der christliche Erlöser Anders als die zweite Runde der Suche nach dem historischen Jesus der deutschsprachigen Nachkriegs-Theologie, die den Nazarener als Durchbre‐ chung und Überwindung der jüdischen Religion konstruierte (Ernst Käse‐ mann, Ernst Fuchs), ordnete ihn die in den 1980er Jahren einsetzende ‚third quest‘ in die komplexen judäischen Selbstverständigungsdebatten der Zeit des Zweiten Tempels ein. Zwar liefert auch diese Runde der Suche nach dem historischen Jesus höchst unterschiedliche Bilder von ihm, aber ein gewichtiger Konsens besteht darin, dass der Mann aus Nazareth geschichtlich nur im Horizont des antiken Judäertums zu verstehen sei. An keiner Stelle breche er mit Ethos, Kultus und Ritus seines Volks, so dass die Konflikte, von denen das Neue Testament berichtet, Auseinandersetzungen im Judäertum des Zweiten Tempels spiegeln, jedoch keine mit diesem (Gerd Theißen [geb. 1943]). Damit entfällt die religionsgeschichtliche Grundlage für Deutungen, die mit dem Auftreten und Wirken Jesu von Nazareth den Anfang einer neuen Religion verbinden. Im Unterschied zur zweiten Runde, die nach einem Anhalt des Kerygmas am geschichtlichen Nazarener suchte, rückt in der ‚third quest‘ das historische Interesse in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zwar bleibt auch in diesem veränderten Rahmen die Aufgabe bestehen, die Entstehung des frühen Christentums geschichtlich verständlich zu machen, aber indem gewissermaßen die Ausgangsbedingun‐ gen verflüssigt werden, ergibt sich nun ein wesentlich komplexeres Bild. Das Christentum ist nicht einfach im 1. Jahrhunderts aus dem Judentum entstanden, sondern beide haben sich als eigenständige Religionen in einem längeren Prozess ausdifferenziert, der von wechselseitigen Überlagerungen, Anziehungen und Abstoßungen charakterisiert ist. Für den geschichtlichen Jesus von Nazareth bedeutet das, dass er sowohl in die judäische als auch in die christliche Religionsgeschichte gehört. In ersterer hat er gelebt und gewirkt, während sich letztere ebenfalls auf ihn bezieht. Was bedeutet es für die christliche Religion sowie die dogmatische Christologie, wenn Jesus historisch Judäer war und den Gottesglauben seines Volks geteilt hat und eben nicht den christlichen? Muss seine judäische Identität nicht in einer theologischen Lehre von Jesus Christus Berücksichtigung finden? Auch diese Problemstellung resultiert aus einer gegenständlich-objekti‐ ven Fassung der Christologie. Vor dem Hintergrund des christlichen Antiju‐ daismus und seinen katastrophalen Konsequenzen im 20. Jahrhundert wur‐ den seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Recht zahlreiche Vorschläge 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 247 <?page no="248"?> Christolo‐ gie als Be‐ stätigung des Bundes Gottes mit Israel unterbreitet, das Verhältnis des Christentums zum Judentum theologisch neu zu bestimmen und alte Überlegenheitsansprüche abzubauen. Ausgangs‐ punkt ist nun das Judäersein Jesu. Indem es in der Christologie dogmatisches Gewicht erhält, es also zur Grundlage der Lehre von Jesus Christus wird, soll jeglichem christlichen Antijudaismus der Boden entzogen werden. Denn wenn der Nazarener Judäer war, beide Religionen also in seiner Person verbindet, dann sei das Judentum ab ovo in einem theologischen Sinne konstitutiv für die christliche Religion. Doch was das genau bedeutet, lässt sich unterschiedlich verstehen. Vorgeschlagen wurde zunächst, die Christologie als Bestätigung und Wie‐ derholung des Bundes Gottes mit dem Volk Israel zu konstruieren (Fried‐ rich-Wilhelm Marquardt [1928-2002], Berthold Klappert [geb. 1933]), und nicht mehr, wie in der Lehrtradition, als dessen Aufhebung in dem von Jesus Christus gestifteten neuen Bund. Indem die Gottesoffenbarung in ihm den Gottesbund mit Israel wiederholt, nimmt er die Völker in diesen auf und lässt sie zu Miterben der Verheißung Israels werden. Die Christologie be‐ schreibt nicht mehr die Besonderheit und Eigenständigkeit der christlichen Religion, sondern genau umgekehrt, die Bedingung, wie Nichtjuden Zugang zum Judentum erlangen können. In diesem christologischen Modell wird das Judäersein Jesu aufgenommen und zur Kritik an der christlichen Religion benutzt. Ihr Selbstverständnis als eigenständiger Religion gegenüber dem Judentum stellt ein verhängnisvolles Missverständnis dar, mit dem sie sich selbst widerspricht. Damit besteht jedoch der eigentliche theologische Ge‐ halt der christlichen Religion in dem Bund Gottes mit Israel, der in der Christusoffenbarung lediglich wiederholt und bestätigt wird. Zur Konse‐ quenz hat das eine Aufhebung der Selbständigkeit des Christentums als ei‐ ner eigenen Religion. Seinem eigentlichen theologischen Gehalt nach ist es eine Universalisierung des Judentums. Problematisch ist eine solche chris‐ tologische Konzeption, weil sie die Eigenständigkeit des Christentums be‐ streitet und eine theologische Einheit beider Religionen auf der Ebene der Theologie konstruiert, die den beiden Religionen selbst gar nicht zugänglich ist (vgl. oben 4.2.1). Da sie jegliche theologische Differenz zwischen beiden Religionen programmatisch ausschaltet, vermag sie das Judentum auch nicht mehr als eine autonome Religion anzuerkennen. Unter der Hand wird es als eigentliche Christologie konstruiert und dadurch vereinnahmt. Man kann das Judäersein Jesu von Nazareth jedoch auch so in der dog‐ matischen Christologie berücksichtigen, dass zugleich die Eigenständigkeit der christlichen und der jüdischen Religion aufrechterhalten bleibt. Beide 248 5 Gott und Glaube <?page no="249"?> Jesus Chris‐ tus als Er‐ füllung der Tora verdanken sich einer Offenbarung desselben Gottes, aber die Gottesoffen‐ barung in Jesus Christus wiederholt nicht einfach den Bund mit Israel, son‐ dern sie bestätigt ihn. Auf diese Weise erhält die Christologie die Funktion, in der christlichen Religion die bleibende theologische Geltung des Juden‐ tums zu begründen. Gibt man diesem Gedanken die Wendung, dass Jesus Christus die Erfüllung der Tora sei (Karl-Heinz Menke [geb. 1950]), dann liegt die Erfüllung des Judentums nicht in diesem, sondern im Christentum. Jenes ist dann eine unvollkommene Vorstufe der christlichen Religion. Um eine solche christologische Vereinnahmung des Judentums zu vermeiden, kann man davon ausgehen, dass die Gottesoffenbarung in der Tora und die in Jesus Christus Erscheinungsweisen desselben Gottes sind, die sich auf der Ebene der Zeichen unterscheiden, aber in ihrer Tiefenstruktur identisch sind ( Jürgen Moltmann, Helmut Hoping [geb. 1956], Klaus von Stosch [geb. 1971]). Der Judäer Jesus von Nazareth fungiert gleichsam als Bestätigung des ungekündigten Bundes Gottes mit Israel in der christlichen Religion. Indem sich diese auf Jesus Christus bezieht, erkennt sie das Judentum als wahre Religion an, da das Christentum andernfalls seinem Stifter wider‐ sprechen würde (Klaus von Stosch). Doch diese Berechtigung des Judentums gilt lediglich für die Geschichte. Im Eschaton, dessen geschichtliche Vor‐ wegnahme die Gottesoffenbarung in Christus ist, wird es von Gott selbst als eigenständige Religion aufgehoben und seinem Richter Jesus Christus zu‐ geführt. Eine solche Aufhebung und Vereinnahmung des Judentums lässt sich nicht vermeiden, wenn man es in der Gestalt Jesu von Nazareth in die christliche Religion einbezieht oder einen beide Religionen übergreifenden Religionsbeziehungsweise Gottesbegriff postuliert. Es ist die gegenständ‐ lich inklusivistische Konstruktion, die mit der theologischen Differenz zwischen beiden Religionen auch das Judentum als eigenständige Religion auflöst (vgl. oben 4.2.1). Wird diesem das christliche Gottesverständnis zu‐ grunde gelegt, dann ist es lediglich eine verkleidete Form des Christentums, von dem es selbst nichts weiß. Das lässt sich auch dann nicht vermeiden, wenn man Jesus Christus als Repräsentation des jüdischen Gedächtnisses im Christentum konstruiert (Barbara U. Meyer [geb. 1968]). Historisch gesehen lebte Jesus von Nazareth im Judäertum des Zweiten Tempels, doch als Christus und Erlöser ist er gerade kein Bestandteil der jüdischen Religion. Dies ist er in der christlichen Religion. Sie repräsentiert, indem sie sich auf Jesus Christus bezieht, sich selbst und ihre Besonderheit als Religion. Wenn das Christusbild des Glaubens diesen selbst darstellt, dann 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 249 <?page no="250"?> fungieren alle inhaltlichen Bestimmungen Jesu Christi als Ausdruck der christlichen Religion. Seine Bedeutung für diese fußt nicht auf besonde‐ ren Merkmalen, die sich historisch aufweisen lassen, sondern auf seiner Funktion, die christlich-religiöse Kommunikation zu beschreiben. Diese expliziert die Christologie. Ihre gegenständlichen Aussagen haben keine sachhaltige Funktion. Sie beziehen sich auf die christliche Religion und nicht auf eine Person sowie ihre Eigenschaften und Merkmale. L IT E R ATU R : Florian Bruckmann: In IHM erkannt: Gott und Mensch. Grundzüge einer anthro‐ pologischen Christologie im Angesichte Israels, Paderborn 2014. Christian Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020. Christian Danz/ Kathy Ehrensperger/ Walter Homolka (Hrsg.): Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa, und der christliche Erlöser, Tübingen 2020. Kayko Driedger Hesslein: Dual Citizenship. Two-Natures Christologies and the Jewish Jesus, London/ New Delhi/ New York/ Sydney 2015. Walter Homolka: Jewish Jesus Research and its Challenge to Christology Today, Leiden/ Boston 2019. Helmut Hoping: Jesus aus Galiläa - Messias und Gottes Sohn, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2019. Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus, in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd.-1, Göttingen 4 19965, 187-214. Bertold Klappert: Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog, Neukirchen-Vluyn 2000. Friedrich-Wilhelm Marquardt: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, 2 Bde., München 1990/ 91. Karl-Heinz Menke: Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie, Regensburg 2008. Barbara U. Meyer: Jesus the Jew in Christian Memory. Theological and Philoso‐ phical Explorations, Cambridge 2020. Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religio‐ nen, Paderborn/ München/ Wien 2012. 250 5 Gott und Glaube <?page no="251"?> 5.2.3 Die Wirklichkeit Jesu Christi in der christlichen Religion Mit der lutherischen Christologie, welche die Konsequenzen aus der unio personalis der beiden Naturen in Jesus Christus zieht und auf diese Weise die Lehrentwicklung im Rahmen der Zweinaturenlehre zum formellen Abschluss bringt, sind unlösbare Aporien verbunden, die, versteht man sie als Beschreibungen seiner Person, in Absurditäten treiben. Diese lassen sich nicht schon dadurch vermeiden, dass man sich auf die unio personalis und - wie die antike Lehrtradition - auf negative Aussagen beschränkt oder - wie in der protestantischen Theologie seit der Aufklärung - das Leben des geschichtlichen Jesus von Nazareth als Grundlage der Christologie ansetzt. Es ist die gegenständlich-objektive Konstruktion der Lehre von Jesus Christus, welche unweigerlich in Schwierigkeiten führt. Dies zeigt sich noch in den Debatten über Christologie ‚von oben‘ oder ‚von unten‘, von impliziter und expliziter Christologie und schließlich den Versuchen, das Judäersein Jesu in der christlichen Religion christologisch als Begründung des Judentums zu benutzen. Sie machen deutlich, dass sie nicht gegenständ‐ lich zu verstehen und auflösbar sind. Sie explizieren die zirkuläre Struktur der christlichen Religion und damit sie selbst. Für die Christologie ergibt sich hieraus die Forderung, das Christusbekenntnis nicht gegenständlich aufzunehmen, sondern es als Beschreibung der reflexiven Struktur des Glaubens als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion zu interpretieren. Christologie ist eine theologische Reflexionsebene, der es obliegt, die Aneignung der religiösen Erinnerung an Jesus Christus zu beschreiben. Mit ihr rückt das religiöse Subjekt in den Fokus der theologi‐ schen Konstruktion der christlichen Religion, welches als Effekt zugleich mit ihrem Inhalt in der Kommunikation entsteht. Das ist im Folgenden mit Bezug auf die diskutierten drei Problemfelder auszuführen, wobei mit der geschichtlichen Dimension der Christologie einzusetzen ist. Auf dieser Grundlage ist sodann eine Neubestimmung der materialen Aussagen des Christusbekenntnisses vorzulegen, welche an die Ämterlehre anknüpft, deren metaphysische Grundlagen durch den Glaubensbegriff reformuliert werden. 5.2.3.1 Der erinnerte Jesus Christus und die christliche Religion Gegenstand der Christologie ist der Glaube als symbolproduktive Wirklich‐ keit der christlichen Religion. Seine reflexive Struktur bestimmt sie weiter. 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 251 <?page no="252"?> christologi‐ sche Aus‐ sagen Während es in der Gotteslehre um den Gehalt der christlichen Religion geht (vgl. oben 5.1.3.1), wird in der Christologie ihr Subjekt zum Thema der theologischen Beschreibung. Es entsteht als Effekt der christlich-religiösen Kommunikation zusammen mit seinem Inhalt in dessen Aneignung. Wenn das Christusbekenntnis die christliche Religion weiterbestimmt, hat es eine reflexive Funktion. Seine Aussagen beziehen sich auf die christlich-religiöse Kommunikation, aber nicht auf einen Gegenstand beziehungsweise eine historische Person. Im Christusbekenntnis des christlichen Glaubens geht es nicht um geschichtliche Aussagen, auch wenn es historisches Material benutzt. Es hat, wie seine Verbindung mit dem Gottesgedanken deutlich macht, eine religiöse Funktion. Diese zu explizieren, ist die Aufgabe der Christologie. Da christologische Aussagen keine Person und ihre Besonderheit be‐ schreiben, kann der Ausgangspunkt einer Christologie weder die Person Jesu Christi noch das Kerygma der frühen Gemeinden sein. Beide traditio‐ nellen Grundlegungen der Lehre von Jesus Christus sind ungenügend. Sie fokussieren einerseits auf Besonderheiten der Gestalt Jesu, seine Vollmacht, sein Gottesverhältnis oder seine Verkündigung und sein Handeln, um diese als Begründung des Glaubens anzusetzen. Doch seine Besonderheiten ma‐ chen seine religiöse beziehungsweise soteriologische Funktion nicht hin‐ reichend deutlich. Sie muss stets schon vorausgesetzt werden. Sonst wird der Bezug auf Jesus Christus unverständlich. Andererseits reicht auch eine Konstruktion der Christologie nicht aus, die vom Kerygma der Gemeinde ausgeht. Wenn sich der Glaube an die Gottheit Jesu Christi der Gemeinde verdankt, dann ist der Verdacht nicht mehr abzuweisen, dass sie, die Ge‐ meinde, es ist, die ihn zum Gott erhoben hat. Eine Christologie kann folglich, wenn sie deren Grundlegungsaporien vermeiden und überwinden möchte, ebenso wenig von einem gegebenen Objekt, also der Person Jesu Christi, wie von dem Glauben der Gemeinde ausgehen (vgl. oben 5.2.2.2). Beide mögli‐ chen Ausgangspunkte sind in die christlich-religiöse Kommunikation zu überführen. Für die Begründung der Christologie bedeutet das, sie hat mit dem erinnerten Jesus Christus einzusetzen. Die vorgeschlagene Grundlegung der Christologie in der christlich-reli‐ giösen Kommunikation erlaubt es, diese mit der historischen und religions‐ geschichtlichen Entwicklung zu verbinden und die neuere historisch-kriti‐ sche Jesusforschung in sie aufzunehmen und zu berücksichtigen. Zwar lässt sich der Christusglaube auch im Rahmen einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation nicht durch die historische For‐ 252 5 Gott und Glaube <?page no="253"?> dogmati‐ sche Chris‐ tologie Entstehung des Chris‐ tusglau‐ bens schung begründen oder ableiten, aber seine Entstehung aus der Weitergabe des erinnerten Jesus Christus in der Kommunikation wird auf diese Weise re‐ ligionsgeschichtlich verständlich. Mit der Umstellung auf die wiederholende Wiederaufnahme der Erinnerung an ihn wird die Suche nach besonderen Merkmalen der Person Jesu, welche die bisherige christologische Debatte dominierte, fallen gelassen. Eine dogmatische Christologie, auch wenn sie durch die historische For‐ schung nicht begründet werden mag, kann nicht davon absehen, dass Jesus von Nazareth und seine Anhängerinnen und Anhänger ebenso wie die frü‐ hen Christusgläubigen in das Judäertum des Zweiten Tempels gehören und mithin einen Bestandteil der judäischen Religionsgeschichte bilden. Sie teil‐ ten den judäischen Gottesglauben und nicht den christlichen. Doch ebenso wenig kann eine Christologie davon abstrahieren, dass sich Judentum und Christentum zu selbständigen Religionen ausdifferenziert haben. Obwohl Jesus von Nazareth Judäer war, ist er zugleich der Ursprung der christlichen Religion, die sich auf ihn als Sohn Gottes bezieht. Die historische Erkenntnis, dass Jesus von Nazareth in zwei Religionen gehört, ist aufzunehmen. Sie begründet den Christusglauben nicht, macht jedoch seine Voraussetzung in der religiösen Kommunikation deutlich, ohne die er nicht hätte entstehen können. Die Entstehung des Christusglaubens sowie des Christusbekenntnisses setzt die judäischen Selbstverständigungsdebatten aus der Zeit des Zweiten Tempels voraus. Nur weil es bereits religiöse Kommunikation als Element in einem komplexen Identitätsdiskurs gab, der mit dem Gottesgedanken verbunden war, konnte die Kommunikation Jesu von Nazareth religiös ver‐ standen und weitergegeben werden. In diesem Sinne sind die judäischen Religionsdiskurse und Selbstverständigungsdebatten Voraussetzung sowohl der Kommunikation Jesu als auch der christlichen Religion. Jesu religiöse Kommunikation ist nur in diesem Horizont möglich. Wenn diese weder an seiner Besonderheit noch an seiner Rezeption festgemacht werden soll, dann muss man das Gelingen der religiösen Kommunikation mit der Erinnerung an ihn verbinden. Es ist also nicht der Totaleindruck Jesu (Friedrich Schlei‐ ermacher), sein impact ( James Dunn [1939-2020]), der seine Rezeption ver‐ ursachte und hervorbrachte, sondern impact und Rezeption bilden mit der Artikulation ein Wechselverhältnis. Aus allen drei Elementen zusammen entsteht erst der erinnerte Jesus Christus. Er lässt sich nicht auf eines der Elemente zurückführen, die ihn konstituieren. 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 253 <?page no="254"?> Funktionie‐ ren der reli‐ giösen Kommuni‐ kation Geht man in dem genannten Sinne von dem erinnerten Jesus als Bedin‐ gung der Entstehung der christlichen Religion aus, kann anerkannt werden, dass diese Kommunikation zu seinen Lebzeiten im Judäertum des Zweiten Tempels erfolgte. Sie hängt als religiöse Kommunikation nicht an den In‐ halten, die kommuniziert wurden (obwohl Kommunikation stets inhaltlich konkret ist), sondern an ihrem Gelingen. Folglich kann auf die Suche nach inhaltlichen Bestandteilen der Kommunikation, die diese von anderen zeit‐ genössischen Kommunikationen unterscheiden, ebenso verzichtet werden wie auf ein besonderes religiöses Bewusstsein oder Gottesverhältnis Jesu. Beides ist nicht zugänglich oder historisch nachweisbar, aber auch nicht nötig, um die Entstehung des Christusglaubens im Kontext der Selbstverständigungsdebatten über judäische Identität verständlich zu machen. Hierzu reicht die religiöse Kommunikation völlig aus. Entscheidend ist allein das Funktionieren der religiösen Kommunikation mit ihm. Mit Jesu Tod bricht diese religiöse Kommunikation ab. Sie endet vollständig. Sein Tod am Kreuz markiert eine radikale Diskontunität, das Ende und den Abbruch aller Kommunikation mit ihm. Vor diesem Hintergrund lässt sich Ostern als wie‐ derholende Wiederaufnahme der religiösen Kommunikation des erinnerten Jesus Christus durch seine Nachfolgerinnen und Nachfolger verstehen. Sie verbinden das Funktionieren ihrer religiösen Kommunikation mit der Erin‐ nerung an ihn. Auf diese Weise wird verständlich, dass der erinnerte Jesus Christus, also das Gelingen der religiösen Kommunikation, zum Bestandteil der Kommunikation und mit dem jüdischen Gottesgedanken verbunden wird. Jesus Christus ist kein Inhalt, der zum Gott erhoben wird, sondern sein Gottsein beschreibt, dass die religiöse Kommunikation seiner Erinnerung trotz des Abbruchs infolge seines Todes gelingt. In der wiederholenden Wiederaufnahme des erinnerten Jesus Christus in der religiösen Kommunikation wird dieser transformiert und neu erzählt. Wiederholung von Kommunikation ist nicht nur ihre Neuschaffung und ihr Anderswerden, sie erfolgt stets durch einen Hiatus und eine Diskontinuität hindurch. Zwischen dem kommunizierten erinnerten Jesus Christus und seiner religiösen Aneignung in der Kommunikation besteht ein Hiatus, der Bestandteil von ihr ist. Für den Übergang vom Verkündiger zum Verkündigten (Rudolf Bultmann) heißt das, die religiöse Kommunikation der Anhängerinnen und Anhänger Jesu wird reflexiv. Der erinnerte Jesus Christus als Inhalt der religiösen Kommunikation stellt in ihr deren reflexive Struktur dar: sie funktioniert, indem eine Diskontinuität überbrückt wird, die kommunizierten Inhalte also religiös angeeignet und artikuliert werden. 254 5 Gott und Glaube <?page no="255"?> Refle‐ xiv-Werden der religiö‐ sen Kom‐ munikation theologi‐ sche Diffe‐ renz Versteht man die Entstehung des Christusglaubens der Jesus-Anhänge‐ rinnen und -Anhänger wie vorgeschlagen als Ausdifferenzierung und Re‐ flexiv-Werden der religiösen Kommunikation des erinnerten Jesus Christus, dann ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Erstens können die Resul‐ tate der ‚third quest‘ sowie der jüngeren, literaturwissenschaftlich inspi‐ rierten Evangelienforschung aufgenommen werden. Mit der Einführung des Konzepts des erinnerten Jesus in die historische Jesusforschung ( James Dunn, Jens Schröter [geb. 1961]) ist einerseits grundsätzlich zugestanden, dass ein ‚wirklicher‘ Jesus hinter den vielfältigen Rezeptionsprozessen nicht zugänglich ist. Anderseits lässt sich in einer historischen Sicht der erinnerte Jesus allein in den komplexen Diskursen über judäische Identitäten in der Zeit des Zweiten Tempels sinnvoll verstehen. Der erinnerte Jesus sowie seine Weitergabe erfolgt in diesem Kontext und durchbricht den judäischen Gottesglauben an keiner Stelle, sondern setzt ihn durchgehend voraus. Auch das aus dem kommunikativen Gedächtnis hervorgegangene soziale Ge‐ dächtnis der Christusgläubigen, ihre narrativen Identitätskonstruktionen in Form der Evangelien, lässt sich, ohne an den kommunizierten Inhalten etwas zu ändern, als Beitrag zu judäischen Identitätsdiskursen lesen (Daniel Boya‐ rin [geb. 1946]). Doch zugleich ist der erinnerte Jesus Christus in der christ‐ lichen Religion ihr Ursprung. In ihr fungieren die Evangelien nicht nur als soziales Gedächtnis, sondern als kulturelles ( Jan Assmann [1938-2024]). Als eigenständige Religionen sind Judentum und Christentum in einem kom‐ plexen, sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Prozess von Über‐ lagerungen, Anziehung und Abstoßung nach der Zerstörung des Jerusale‐ mer Tempels im Jahr 70 zugleich entstanden (Peter Schäfer [geb. 1943]). Beide gab es folglich noch gar nicht, als Jesus und seine Nachfolgerinnen und Nachfolger kommunizierten und sich die Kommunikation des erinner‐ ten Jesus Christus in dieser ausdifferenzierte. Zweitens macht es die skizzierte Entwicklungsgeschichte des Christus‐ glaubens in der religiösen Kommunikation möglich, eine theologische - nicht eine historische! - Differenz zwischen Judentum und Christentum zu benennen, die mit dem erinnerten Jesus Christus verbunden ist. Dieser be‐ schreibt das Gelingen der religiösen Kommunikation Jesu von Nazareth mit seinen Anhängerinnen und Anhängern im Wechselverhältnis von Inhalt, Aneignung und Artikulation. Religiöse Kommunikation im Horizont des Judäertums des Zweiten Tempels ist, wie auch immer sie im Einzelnen in‐ haltlich genauer zu bestimmen sein mag, mit dem Gottesgedanken verbun‐ den. Indem das Funktionieren der Kommunikation des erinnerten Jesus 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 255 <?page no="256"?> Christus nach seinem Tod reflexiv wird, wird die Diskontinuität zwischen dem kommunizierten Inhalt und seiner Aneignung zum Bestandteil der re‐ ligiösen Kommunikation. Dadurch transformiert sich auch der Gottesge‐ danke. Er wird mit seiner individuellen Aneignung durch einen Hiatus hin‐ durch verbunden. Auf diese Weise ist mit dem erinnerten Jesus Christus als Inhalt der religiösen Kommunikation die Grundlage für ein neues und ge‐ genüber dem Judäertum des Zweiten Tempels anderes Religionsverständnis etabliert. Ausdrücklich wird es allerdings erst im sich als eigenständige re‐ ligiöse Kommunikation ausdifferenzierenden Christentum, welches sich selbst auf den erinnerten Jesus Christus zurückbezieht. Dass Jesus Christus Gott ist, ist keine Aussage über eine Person, die zu göttlichen Würden er‐ hoben wird, sondern sie beschreibt die religiöse Aneignung Gottes als kon‐ stitutiven Bestandteil des religiösen Gottesgedankens. Gott ist nur Gott, in‐ dem er für Menschen Gott ist. Darin besteht der systematische Gehalt des Christusglaubens beziehungsweise der Einbeziehung des erinnerten Jesus Christus in den Gottesgedanken. Die Entstehung des Christusbekenntnisses lässt sich in einer historischen Perspektive aus der religiösen Kommunikation verständlich machen, ohne eine inhaltliche Besonderheit Jesu von Nazareth oder besondere Merkmale wie seine Botschaft oder sein Selbstverständnis in Anspruch zu nehmen. Wenn das zutrifft, dann kann in einer dogmatischen Christologie das Judäersein Jesu zugestanden werden. Da aber die inhaltliche Besonderheit Jesu von Nazareth für die Christologie gerade nicht konstitutiv ist, folgt daraus weder positiv noch negativ etwas für die christliche Religion und ihr Verhältnis zum Judentum (vgl. oben 5.2.2.3). Das Judäersein Jesu reprä‐ sentiert, dass seine religiöse Kommunikation mit seinen Anhängerinnen und Anhängern eine inhaltliche konkrete und vom Judäertums des zweiten Tempels bestimmte war. Was sein Judäersein auszeichnet und worin ihre Kommunikation inhaltlich bestand, dies zu rekonstruieren, ist Aufgabe der historischen Forschung, nicht aber der Systematischen Theologie. Letztere knüpft an die historische Forschung an, doch diese begründet nicht den Christusglauben. Ihre Aufgabe ist es, das Funktionieren des erinnerten Jesus Christus in der christlich-religiösen Kommunikation zu beschreiben. L IT E R ATU R : Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Iden‐ tität in den frühen Hochkulturen, München 7 2013. 256 5 Gott und Glaube <?page no="257"?> Daniel Boyarin: Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015. Christian Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020, 178-207. James Dunn: Jesus Remembered, Bd. I, Grand Rapids/ Cambridge 2003. Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums, Tübingen 2010. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-2, 35-164 (§§ 91-105). Jens Schröter: Die Frage nach dem historischen Jesus und der Charakter histori‐ scher Erkenntnis, in: ders.: Jesus und die Anfänge der Christologie, Methodolo‐ gische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2001, 6-36. Folkart Wittekind: Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes. Systematische Überle‐ gungen zur Möglichkeit der Rückfrage nach dem historischen Jesus, in: Christian Danz/ Michael Hackl (Hrsg.): Transformationen der Christologie. Herausforde‐ rungen, Krisen und Umformungen, Göttingen 2019, 123-145. 5.2.3.2 Jesus Christus, Gott für uns Der erinnerte Jesus Christus ist ebenfalls der Gegenstand der Christologie. Indem sie sich auf ihn bezieht, sind mit ihr historische Aussagen verbunden. Doch diese haben in der Christologie keinen historischen Sinn, sondern ei‐ nen religiösen. Im Christusglauben, auch wenn er auf Geschichte Bezug nimmt, stellt sich die christlich-religiöse Kommunikation selbst als Religion dar. Die Differenz zwischen historischen und religiösen Aussagen liegt nicht auf der Inhaltsebene. Beide können inhaltlich identisch sein. Es ist der Ge‐ brauch, der von diesen Inhalten gemacht wird, der Historie von Religion unterscheidet. Der christlich-religiöse Gebrauch des erinnerten Jesus Chris‐ tus in der Kommunikation, um den es in der dogmatischen Christologie al‐ lein geht, lässt sich jedoch aus den kommunizierten Inhalten, also aus der Geschichte nicht ableiten. Deshalb ist mit der Konstruktion der historischen Entstehung des Christusglaubens in und aus der religiösen Kommunikation des erinnerten Jesus Christus noch keine Begründung einer Christologie gegeben (vgl. oben 5.2.3.1). Ebenso wie der Christusglaube bleibt die Chris‐ tologie aus geschichtlichen Inhalten oder Aussagen unableitbar. Es gilt aber ebenfalls das Umgekehrte. Weder durch den Christusglauben noch durch 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 257 <?page no="258"?> theologi‐ scher Of‐ fenba‐ rungsbegriff ‚Gott für uns‘ eine Christologie lassen sich historische Aussagen begründen. Gegenstand der Christologie ist nicht einfach die geschichtliche Weitergabe des erin‐ nerten Christus, sondern sein durchsichtiger religiöser Gebrauch in der christlich-religiösen Kommunikation. Diesen Zirkel expliziert der theologi‐ sche Offenbarungsbegriff (vgl. oben 5.1.3.1). Gottes Offenbarung ist keine Voraussetzung des Glaubens. Sie beschreibt ihn als ein durchsichtiges, selbstbezügliches und strukturiertes Kommunikationsgeschehen, der in der christlich-religiösen Kommunikation aus sich selbst entsteht. Diese zirku‐ läre Struktur bestimmt die Christologie weiter. In ihr geht es nicht mehr, wie in der Gotteslehre, um den Gehalt der christlichen Religion, sondern mit dem erinnerten Jesus Christus um ‚Gott für uns‘. Mit dem erinnerten Jesus Christus thematisiert die Christologie ‚Gott für uns‘, also den Bezug Gottes auf den Menschen. Von der Lehrtradition des Luthertums wurde diese Beziehung im Rückgriff auf die christologischen Bestimmungen der Alten Kirche in Form einer Lehre von der Person Jesu Christi durchgeführt (vgl. oben 5.2.1.1). In ihm sind Gott und Mensch mit‐ einander verbunden. Er selbst ist in seiner Person Gott für uns. Doch eine solche gegenständliche Fassung der Christologie führt in Aporien. Diese lassen sich, wie die oben diskutierten Grundlegungsalternativen deutlichen machten, auf einer gegenständlichen Ebene nicht lösen (vgl. oben 5.2.2). Sie fordern eine Neugestaltung der überlieferten Christologie. Das ist noch nicht erreicht, wenn die Zweinaturenchristologie im Anschluss an Friedrich Schleiermacher umgeformt wird zu einem Bestimmtsein des Menschen Je‐ sus von Nazareth durch Gottes Wesen (Wilfried Härle). In derartigen Kon‐ zeptionen bleibt es bei einer theologischen Konstruktion der Besonderheit Jesu Christi, der sich entweder qualitativ (Wolfhart Pannenberg) oder quan‐ titativ (Roger Haight [geb. 1936]) von anderen Menschen unterscheidet. Re‐ ligiöse Bedeutung erhält Christus jedoch nicht durch die Besonderheit seiner Person, sondern erst durch den Glauben, der sich auf ihn bezieht. Dieser wird in einer solchen Christologie allerdings zu einem sekundären, hinzu‐ kommenden Element, das gleichwohl konstitutiv bleibt. Das ist selbst dann noch der Fall, wenn Christologie und Soteriologie, Christus und sein Werk, als Wechselverhältnis verstanden werden, wie es seit Friedrich Schleierma‐ cher in der protestantischen Dogmatik gehandhabt wird. Indem dieses Wechselverhältnis seine Grundlage in einer gegenständlichen Konstruktion der Person Jesu Christi findet, um jeglichen Projektions- oder Illusionsver‐ dacht des Heils auszuräumen, sind die Aporien der alten Personchristologie nicht überwunden. Zu ihrer Überwindung kommt man erst dann, wie es 258 5 Gott und Glaube <?page no="259"?> Subjekt des Glaubens bereits Albrecht Ritschl, Paul Althaus und Ulrich Barth gefordert haben, wenn man jeden Anklang an eine Theorie der Person aus der Christologie ausscheidet. Die christologischen Aussagen von der Gottheit und Mensch‐ heit Jesu Christi sind reflexiv als Beschreibungsformen der christlich-reli‐ giösen Kommunikation zu verstehen und nicht als Eigenschaften, die einer Person zugeschrieben werden ( Johannes Fischer [geb. 1947]). Mit diesem Vorschlag wird die metaphysische Fassung der Christologie, wie sie sich in der Antike etabliert hatte und mit Modifikationen bis in die Moderne wei‐ tergeführt wurde, fallengelassen und nicht mehr fortgesetzt. Indem die klassische Form der Personchristologie verlassen wird, kann freilich nicht ein gegebenes religiöses Subjekt an ihre Stelle treten. Jesus Christus ist nicht einfach ein Ausdruck einer im Subjekt angelegten Religion oder Inhalt einer religiösen Deutung. Dann wäre es in der Tat der Christus‐ glaube der Gemeinde, der den Nazarener zur Gottheit erhebt. Ebenso wenig wie es in der Christologie um die Beschreibung einer gegebenen Person geht, ist ihr Gegenstand ein schon vorausgesetztes religiöses Subjekt. Beides, Jesus Christus und das Subjekt des Glaubens, sind Bestandteile der christlich-re‐ ligiösen Kommunikation, die zusammen mit dieser in ihr entstehen. Erst damit ist die Christologie auf eine neue Grundlage gestellt, die es ermöglicht, die Aporien der alten Lehrfassung konstruktiv zu überwinden. Gottheit und Menschheit Jesu Christi beschreiben kein gegenständliches Subjekt und seine Merkmale. Sie haben einen reflexiven Sinn und stellen dar, wie sich in der christlich-religiösen Kommunikation ein religiöses Subjekt konstituiert. Im Fokus der Christologie steht folglich das Subjekt des Glaubens und seine Herstellung in der Kommunikation. Es wird also nicht vorausgesetzt. Viel‐ mehr ist es ein Effekt der christlich-religiösen Kommunikation. Als Aufgabe der Christologie ergibt sich somit, Gott für uns beziehungs‐ weise das Subjekt des Glaubens zu thematisieren. Es ist ein notwendiger Bestandteil des Glaubens, und es entsteht mit ihm zusammen in der christ‐ lich-religiösen Kommunikation. Anders als in ihr kann Gott nicht zum Menschen kommen. Das setzt voraus, dass Gott als Inhalt der Kommunika‐ tion von Menschen religiös angeeignet und benutzt wird. Ohne religiösen Gebrauch Gottes gibt es keine christliche Religion. Weder aus den Inhalten der Kommunikation als solchen noch aus ihrem bloßen Gebrauch oder ihrer Nennung ergibt sich schon die christliche Religion. Für sie ist ihre religiöse Aneignung konstitutiv. Genau das stellt Jesus Christus in der christlichen Religion dar: Den Bezug Gottes auf den Menschen sowie den des Menschen auf Gott. Ein Subjekt des Glaubens existiert allein in der Aneignung des 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 259 <?page no="260"?> Christolo‐ gie als theologi‐ sche Refle‐ xionsebene erinnerten Jesus Christus, in der es hervorgebracht wird. Die Aussagen über die Gottheit und Menschheit Jesu Christi strukturieren die Herstellung des Subjekts des Glaubens in der christlich-religiösen Kommunikation. Indem diese gelingt, in der Kommunikation religiöser Sinn entsteht, kommt Gott zum Menschen und der Mensch zu Gott. Christologische Aussagen beschreiben das in Kommunikation eingebundene Geschehen, in dem ein Mensch ein anderer, nämlich ein religiöser oder, traditionell formuliert, er bekehrt wird. Christologie ist eine theologische Reflexionsebene, welche die Konstitu‐ tion des Subjekts des Glaubens in der wiederholenden Aneignung des erinnerten Jesus Christus in der christlich-religiösen Kommunikation the‐ matisiert. Erst in ihr wird die christlich-religiöse Kommunikation zur An‐ rede an den Einzelnen, die ihn zur religiösen Person macht. Sowohl das pro me (für mich) als auch das extra me (außer mir) Jesu Christi entspringen erst in der Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation und sind an sie gebunden. Im Christusbekenntnis sprechen die Glaubenden schließlich aus, wie ihr Glaube in der aneignenden Wiederholung des erinnerten Jesus Christus zustande gekommen ist. Somit symbolisiert das Christusbild des Glaubens diesen als ein durchsichtiges religiöses Aneignungsgeschehen, ohne das er nicht existieren kann. Jesus Christus ist Ausdruck und Reflexion des Funktionierens der Kom‐ munikation. Er stellt keinen Inhalt dar, den es in seinen Eigenschaften zu beschreiben gelte. Vielmehr repräsentiert sich der Glaube als symbolpro‐ duktive Wirklichkeit selbst als wiederholende personale Aneignung des in der christlich-religiösen Kommunikation weitergegebenen erinnerten Jesus Christus im Christusbild. Christologie und Soteriologie können folglich nicht als getrennte Lehrstücke konzipiert, sondern müssen miteinander verbunden werden. Aus diesem Grund wird hier auf eine Personchristologie verzichtet und diese vollständig durch die Ämterlehre ersetzt. Demgegen‐ über bezieht sich die Soteriologie auf die Herstellung religiösen Sinnes in der christlich-religiösen Kommunikation. Doch dieser lässt sich weder konstruieren noch ableiten. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 1949, 220-240. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV/ 1, Zollikon-Zürich 1953, 83-170. 260 5 Gott und Glaube <?page no="261"?> Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 313-338. Christian Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020, 208-214. Johannes Fischer: Wahrer Gott und wahrer Mensch. Zur bleibenden Aktualität eines alten Bekenntnisses, in: NZSTh 37 (1995), 165-204. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 307-359. Roger Haight: Jesus Symbol of God, Maryknoll 1999. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie Bd.-2, Göttingen 1991, 315-440. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd.-3, Bonn 4 1895, 364-465. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 133-161. 5.2.3.3 Munus Christi triplex Die Aufgabe der Christologie ist es, die Herstellung des Subjekts des Glaubens in der Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation zu beschreiben. Auf diese Weise entfaltet sie die Beziehung Gottes auf den Men‐ schen. Gott kommt zum Menschen, wenn die wiederholende Aneignung des erinnerten Jesus Christus gelingt, mit dieser also in der Kommunikation religiöser Sinn sich ereignet. Indem sich die christliche Religion auf Jesus Christus bezieht, stellt sie sich selbst als ein durchsichtiges, selbstbezügli‐ ches und strukturiertes Aneignungsgeschehen dar. Um diese Funktion Jesu Christi für den Glauben dogmatisch zu erfassen, ist auf die Lehre vom dreifachen Amt zurückzugreifen, wie sie von der lutherischen Lehrtradition ausgearbeitet wurde (vgl. oben 5.2.1.2). Bereits ihr oblag es, die Funktion Jesu Christi, also sein Amt, zu strukturieren. Allerdings sind die metaphysi‐ schen Voraussetzungen dieser Lehrform, nämlich ihre Grundlegung in einer Konstruktion des Gottmenschen, ebenso fallenzulassen wie die gegenständ‐ liche Fassung, die sie in der altlutherischen Christologie erhalten hat. Die Ämter beziehen sich nicht auf eine vorausgesetzte Person, deren Wirken sie strukturieren. Sie beschreiben vielmehr die reflexive Struktur des in die christlich-religiöse Kommunikation eingebundenen Aneignungsgesche‐ hens. Damit thematisiert die Ämterlehre den Glauben als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion in seiner Abhängigkeit von der wiederholenden Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation, der sich im Christusbild, auf das er sich bezieht, selbst in seiner reflexiven 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 261 <?page no="262"?> Ämterlehre Struktur darstellt. Deshalb kann eine Neufassung der Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi die überlieferte Personchristologie vollständig ersetzen und an ihre Stelle treten. Indem die Ämterlehre auf die Reflexivität der christlich-religiösen Kom‐ munikation übertragen wird, strukturiert sie diese als ein selbstbezügliches und durchsichtiges Aneignungsgeschehen. In dieser Neufassung wird je‐ doch nicht nur ihre metaphysische Grundlegung in einer gegenständlichen Konstruktion der Person Jesu Christi aufgelöst, sondern auch ihr Bezug auf das Judentum. Christologie ist eine theologische Reflexionsebene. Sie stellt mit Jesus Christus die christliche Religion und ihr durchsichtiges Entstehen in der christlich-religiösen Kommunikation dar. Doch Jesus als den Christus gibt es allein in ihr und nicht unabhängig von ihr. Als ihr Ursprung konsti‐ tuiert er sich erst in ihr, in der gelingenden wiederholenden Aneignung des erinnerten Jesus Christus. Indem die Ämterlehre das religiöse Verstehen Jesu Christi expliziert, kann sie nicht auf das Judentum oder andere Religionen übertragen werden. Um die Christologie als reflexive Beschreibungsform des durchsichtigen Funktionierens der christlich-religiösen Kommunikation auszuarbeiten und diese dadurch auf eine neue Grundlage zu stellen, ist die Lehre vom munus Christi triplex mit der von seinen beiden Ständen zu verschränken (vgl. oben 5.2.1.3). Auch die beiden Stände der Erniedrigung und Erhöhung sind nicht gegenständlich aufzunehmen. Sie beschreiben kein Subjekt in seinen aufeinanderfolgenden Zuständen der Erniedrigung und der Erhöhung (Wil‐ fried Härle). Schon die altlutherische Theologie hat, wenn auch in ihrer gegenständlichen Fassung der beiden Stände, diese nicht als ein Nachein‐ ander konstruiert. Als Erniedrigter ist Jesus Christus der Erhöhte und als Erhöhter der Erniedrigte (Karl Barth). Beide Stände gehören zusammen, da sie die Struktur religiösen Sinnes explizieren, der in der christlich-religiösen Kommunikation unableitbar entsteht. Jesus von Nazareth ist in der christ‐ lichen Religion von Anfang an der Christus. Entsprechend repräsentieren die neutestamentlichen Narrative vom Wirken, Verkündigen, von Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi die gelingende Wiederholung der christlichen Religion in der Kommunikation und keine Zustände eines Subjekts hinter dieser. Wie die Ämterlehre kein Subjekt hinter der christlich-religiösen Kom‐ munikation beschreibt, so auch kein allgemeingültiges Subjekt. Sie expli‐ ziert das Subjekt, wie es in der christlichen Religion mit dieser zugleich entspringt. Christologie ist keine Theorie eines exemplarischen Selbstbe‐ 262 5 Gott und Glaube <?page no="263"?> wusstseins, welche dessen allgemeine Struktur und seine Aufbauelemente in der Ämterlehre entwickelt (Falk Wagner). Die Ämterlehre lässt sich auch nicht zur Universalisierung des christlichen Glaubens benutzen (Michael Welker [geb. 1947]). Dadurch wird sie unbestimmt, da die drei Ämter jeweils dasselbe beschreiben, das emergente Geschehen des unscheinbaren Reichs Gottes in der Welt. In beiden Fällen wird die christologische Lehre von dem dreifachen Amt Jesu Christi funktionalisiert. Im ersten Fall dient sie zur Lösung von subjektivitätstheoretischen Problemen und im anderen zur Integration der Welt in die christliche Religion. Demgegenüber ist darauf zu beharren, dass die als Lehre vom triplex munus Christi durchgeführte Christologie auf das Subjekt des Glaubens bezogen ist. Es konstituiert sich in der Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation, und es stellt im Christusbild seine in die Kommunikation eingebundene Herstellung dar. Die Ämter Christi strukturieren dieses Ge‐ schehen und entfalten die hermeneutische Funktion Jesu Christi in der durchsichtigen Konstitution des Subjekts des Glaubens. Indem die drei Ämter die Funktion Jesu Christi für den Glauben ausdifferenzieren, sind sie unterschieden. Jedes Amt thematisiert einen bestimmten Aspekt in dem triadischen Wechselverhältnis, aus dem das Subjekt des Glaubens entsteht. Sie stehen weder einfach nebeneinander noch nacheinander. Ähnlich wie in der altlutherischen Lehrtradition entfalten die Ämter den Christustitel, jedoch in einem reflexiven und nicht in einem gegenständlichen Sinne. Auf diese Weise erlaubt es die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi, die Struktur desjenigen Aneignungsgeschehens, in dem das Subjekt des Glaubens entsteht, theologisch vollständig zu erfassen. Das Subjekt des Glaubens als symbolproduktiver Wirklichkeit der christ‐ lichen Religion entsteht in der Aneignung des erinnerten Jesus Christus. Es ist also nicht schon vorauszusetzen. Wenn das Subjekt der christlichen Re‐ ligion in der Aneignung erst hergestellt wird, dann setzt diese die in der Kommunikation weitergegebene religiöse Erinnerung an Jesus Christus be‐ reits voraus. Es muss etwas kommuniziert, erzählt und mitgeteilt werden, damit es angeeignet werden kann. Doch das, was kommuniziert wird, die Inhalte der Kommunikation, müssen als christliche erkennbar sein. Andern‐ falls wäre die Kommunikation nicht zu identifizieren. Damit setzt die An‐ eignung der christlichen Religion diese schon als eine ausdifferenzierte und kenntliche Form der Kommunikation voraus, nämlich die an bestimmte Texte gebundene Erinnerung an Jesus Christus. Erkennbar und identifizier‐ bar bleibt die christlich-religiöse Kommunikation durch die Bibel, die selbst 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 263 <?page no="264"?> propheti‐ sches Amt wiederum als gelungene religiöse Kommunikation des erinnerten Jesus Christus verstanden werden muss (vgl. unten 6.2.3.2). Indem die Konstitu‐ tion des Subjekts des Glaubens in der Aneignung des erinnerten Christus erfolgt, ist sie als erstes Strukturmoment an seine Weitergabe in der Kom‐ munikation gebunden. Diese Funktion Jesu Christi lässt sich als seine Anrede oder mit der Lehrtradition als sein prophetisches Amt bezeichnen. Schon die altlutherische Theologie hat diese Funktion Jesu Christi mit seiner Verkündigung und ihrer Wiederholung durch die Kirche sowie seinen beiden Ständen verknüpft. Das ist aufzunehmen, jedoch reflexiv und nicht gegenständlich. In der christlichen Religion repräsentiert das munus propheticum ihre Abhängigkeit von dem erinnerten Jesus Christus. Er muss in der Kommunikation weitergegeben werden, damit die christliche Religion und mit ihr zusammen ihr Subjekt entstehen kann. Doch der erinnerte Jesus Christus ist selbst schon das Resultat seiner religiösen Aneignung und Artikulation in der Kommunikation. Er und seine Text gewordene Erinnerung stellen die Bindung religiösen Sinns an die Kommunikation dar. Beide Dimensionen, Kommunikation und religiöser Sinn, gehören zusammen, sind aber nicht identisch. Als Erniedrigter und Erhöhter, als Gott und Mensch, symbolisiert Jesus Christus in der christlichen Religion den hermeneutischen Verstehensprozess, in dem sie selbst besteht. Mit dem prophetischen Amt benennt die christliche Religion, dass sie aus der Anrede Jesu Christi entsteht. Seine Anrede ist - wie bereits im altpro‐ testantischen Lehrbegriff - selbstbezüglich. Ihren Inhalt bildet der erinnerte Jesus Christus, wie er in den biblischen Texten verkörpert ist. Auch er ist in der religiösen Kommunikation nicht inhaltlich-gegenständlich gemeint. Die verkündigte Geschichte Jesu Christi von seiner Geburt, seinem Wirken, dem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung und Himmelfahrt beschreiben, wie der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion in der christlich-religiösen Kommunikation entspringt. Als religiöse Kom‐ munikation bietet der erinnerte Jesus Christus keine Informationen über ein historisches, religiöses oder sonstiges Geschehen. Er stellt dar, wie der Mensch anders wird, indem er sich als Subjekt des Glaubens konstituiert. Indem sich die Anrede Jesu Christi an Einzelne richtet, individualisiert sie die kommunizierte Erinnerung an Jesus Christus. Denn die christliche Religion ist nicht schon mit der Kommunikation des erinnerten Jesus Christus gegeben, obwohl nur diese weitergegeben und kommuniziert werden kann. Als Religion hängt sie am religiösen Gebrauch, den Menschen von ihr in der Kommunikation machen. Genau das, ihre Bindung an die individuelle 264 5 Gott und Glaube <?page no="265"?> priesterli‐ ches Amt religiöse Aneignung und Artikulation, repräsentiert Jesus Christus in der christlichen Religion. Mit der Anrede Jesu Christi beziehungsweise dem prophetischen Amt ist deshalb lediglich eines ihrer drei Strukturelemente benannt. Erst in der verstehenden Aneignung wird der kommunizierte erinnerte Jesus Christus zur religiösen Anrede an Einzelne. Mit seiner Weitergabe ist weder Kommunikation noch eine Anrede gegeben. Beide konstituieren sich ausschließlich im Verstehen, indem zwischen der Mitteilung und ihrem re‐ ligiösen Sinn unterschieden wird. Doch das verstehende Aneignen ist gerade nicht aus den mitgeteilten Inhalten ableitbar. Zwischen den kommunizierten Inhalten und ihrer Aneignung besteht ein Hiatus. Was auch immer mitgeteilt wird, es enthält noch nicht seine verstehende Aufnahme. Sie ist ein eigenes Element, ohne das die Anrede als Voraussetzung und Grundlage der reli‐ giösen Kommunikation und der Subjektwerdung in ihr nicht zustande kommt. Die elementare Funktion der aneignenden Wiederholung Jesu Christi für die Konstitution des Subjekts des Glaubens in der christlich-re‐ ligiösen Kommunikation repräsentiert in ihr das priesterliche Amt Jesu Christi. Von der dogmatischen Lehrtradition des Luthertums wurde das munus sacerdotale auf den aktiven und passiven stellvertretenden Gehorsam Jesu Christi sowie seine Fürbitte bezogen und mit den beiden Ständen der Erniedrigung und Erhöhung verknüpft. In den Fokus rückte sie den Tod Jesu am Kreuz als sein Erlösungswerk, welches die Grundlage der Versöh‐ nung des Menschen mit Gott bildet. Diese Deutung des Todes Jesu wird nicht weitergeführt, auch nicht in Form einer theologischen Interpretation als Tod des abstrakten Allmachtsgottes (Falk Wagner), einer Teilnahme Gottes am Leiden der Kreatur ( Jürgen Moltmann) oder der Negativität des Todes (Eberhard Jüngel). Demgegenüber ist Jesu Tod am Kreuz als Abbruch der religiösen Kommunikation zu verstehen. Mit ihm ist ein Hiatus, ein Riss (Philipp Stoellger [geb. 1967]) verbunden. Diskontinuität ist ein konstitutives Element christlich-religiöser Kommunikation. Ihre wiederho‐ lende Aneignung lässt sich aus der kommunizierten Erinnerung an Jesus Christus weder herleiten noch begründen. Dass der mitgeteilte erinnerte Jesus Christus von Menschen religiös verstanden und aufgenommen wird, bleibt unableitbar. Erfolgt dies, dann nur durch eine Überbrückung des Hiatus in der religiösen Wiederholung der Erinnerung an Jesus Christus. Das priesterliche Amt Jesu Christi oder seine Wiederholung ist auf sein prophetisches Amt bezogen, aber nicht auf dieses reduzierbar. Es 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 265 <?page no="266"?> königliches Amt hat eine eigene Funktion, die von der prophetischen unterschieden ist. Letztere konstituiert sich als Anrede Jesu Christi erst in seiner Wiederholung durch Menschen. In der wiederholenden Aneignung der christlich-religiö‐ sen Kommunikation entsteht das Subjekt des Glaubens aus der Anrede. Diese individualisiert nicht nur die christlich-religiöse Kommunikation, sie personalisiert sie auch. Mit dem priesterlichen Amt beschreibt die christliche Religion, dass sie allein in der wiederholenden Aneignung durch Menschen zur Existenz kommt, die den Hiatus des Todes überbrücken, indem sie zu religiösen Subjekten werden. Jesus Christus, der Erniedrigte und Erhöhte, der gekreuzigte Auferweckte. Der Prozess der Herstellung des Subjekts des Glaubens in der christ‐ lich-religiösen Kommunikation ist indes mit ihrer wiederholenden Aneig‐ nung noch nicht abgeschlossen. Es konstituiert sich erst dann, wenn es sich mit der religiös aufgenommenen Erinnerung an Jesus Christus identifiziert und sie wieder religiös in der Kommunikation symbolproduktiv artikuliert und verkörpert. Zur Existenz kommt das Subjekt des Glaubens mit diesem zusammen in der aneignenden Herstellung seiner selbst in der Wiederho‐ lung des erinnerten Jesus. Diesen Aspekt der Formierung des Subjekts der christlichen Religion repräsentiert das Bild Jesu Christi oder sein königliches Amt. Mit dem munus regnum bezeichnet die lutherische Christologie die Herrschaft Jesu Christi über die Welt, die Kirche und das Reich der Herr‐ lichkeit und verbindet es mit seinen beiden Ständen. Es beschreibt das Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation, den auferweckten Gekreuzigten und ist somit auf das prophetische und das priesterliche Amt bezogen, aber in beiden nicht enthalten. Mit dem Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation benennt es einen eigenen Aspekt in dem Kommunikationsgeschehen, in dem der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion zugleich mit seinem Subjekt entsteht. Dieses konstituiert sich in der identifizierenden Herstellung seiner selbst mit der angeeigneten Anrede in einem Bild Jesu Christi. Doch aneignende Wiederholung des erinnerten Jesus Christus ist stets deren Transformation und Alterierung. Indem er von Menschen wiederholt aufgenommen wird, kommt Jesus Christus nicht nur zur Wirklichkeit, er wird auch jedes Mal neu geschaffen. Nicht zu Unrecht hatte bereits die altlutherische Dogmatik das königliche Amt in verschiedene Funktionen ausdifferenziert. Das Sub‐ jekt des Glaubens entsteht erst in der identifizierenden Artikulation des angeeigneten Jesus Christus in einem Bild seiner selbst (regnum gratiae), so‐ 266 5 Gott und Glaube <?page no="267"?> Bild des Glaubens dann bezieht es in seiner identifizierenden symbolischen Selbstherstellung kulturelle und damit weltliche Gehalte in die christlich-religiöse Kommuni‐ kation ein (regnum potentiae), und schließlich existiert es als Subjekt des Glaubens ausschließlich in der ständigen wiederholenden Wiederaufnahme der christlich-religiösen Kommunikation (regnum gloriae). Seine *Subsistenz hat das Subjekt der christlichen Religion in seiner aneignenden Herstellung in der kommunikativen Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus. In ihrem Gelingen erfüllt sich die Zeit in der Zeit. Das Bild Jesu Christi in der christlichen Religion repräsentiert in ihr die identifizierende symbolische Herstellung ihres Subjekts als notwendigen Bestandteil von ihr selbst als Religion. Jesus Christus ist nicht einfach ein Inhalt der christlichen Religion. Er stellt sie, die sich auf ihn bezieht, selbst in ihrem durchsichtigen Funktio‐ nieren als Religion dar. Seine Funktion für den Glauben entfaltet die Äm‐ terlehre. Anrede, Wiederholung und Bild Jesu Christi beschreiben den struk‐ turierten Prozess, in dem in der christlich-religiösen Kommunikation das Subjekt des Glaubens mit diesem zusammen entsteht. Jesus Christus als Bild des Glaubens repräsentiert in diesem den Glauben selbst als symbolproduk‐ tiver Wirklichkeit der christlichen Religion. So ist er als Bild des Glaubens zugleich dessen Grund, Norm und Grenze. In diesem Sinne ist Jesus Christus in der christlichen Religion Stellvertreter und ‚Real-Bild‘ des Glaubens (Paul Tillich). Da das Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation we‐ der abgeleitet noch hergestellt werden kann, bleibt es bei der Unterschei‐ dung von Christologie und Soteriologie, von Struktur und Ereignis. L IT E R ATU R : Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV/ 1, Zollikon-Zürich 1953, 83-170. Knud Henrik Boysen: Christus und sein dreifaches Amt. Multiperspektivische Annäherungen an eine zentrale Figur christologischen Denkens, Berlin/ Boston 2019. Christian Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020, 214-226. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 307-359. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992, 470-505. Jürgen Moltmann: Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972. 5.2 Gott und Mensch: Jesus der Christus 267 <?page no="268"?> Philipp Stoellger: Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ‚categoria non grata‘, Tübingen 2010. Paul Tillich: Systematische Theologie; Bd. I-II, hrsg. v. Christian Danz, Berlin/ Bos‐ ton 9 2017, 394-472. Falk Wagner: Christologie als exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 309-342. Michael Welker: Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 195- 233. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 133-161. 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist Mit der Lehre vom Heiligen Geist, der Pneumatologie, kommt die Entfaltung der Strukturelemente des Glaubens als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion zum Abschluss. Es geht auch in ihr um eine Wei‐ terbestimmung der christlichen Religion. Nachdem in der Gotteslehre ihr Gehalt und in der Christologie ihr Subjekt erörtert wurden, thematisiert die Pneumatologie ihre symbolproduktive Artikulation. Erst in ihr kommt die christliche Religion in der Kultur als eigene Wirklichkeit zur Existenz. Ihre Artikulation und Verkörperung ist abhängig von dem religiös angeeigneten erinnerten Jesus Christus. Doch seine wiederholende Wiederaufnahme in der Kommunikation ist, da sie ein zeitlicher Prozess ist, stets eine transfor‐ mierende schöpferische Neugestaltung. Beide Aspekte repräsentiert der Heilige Geist in der christlichen Religion. Er erinnert an Jesus Christus. Auch der Heilige Geist ist kein inhaltlicher Bestandteil der christlichen Religion. Indem sie mit dem Heiligen Geist sich selbst als symbolproduktive Artikulation der Erinnerung an Jesus Christus darstellt, hat der Gottesgeist eine reflexive Funktion in ihr. Anders als die Gotteslehre und die Christologie hat die Pneumatologie keine so durchgreifende Gestaltung von der Lehrtradition erhalten. Zu einem eigenen Lehrstück wurde diese im Unterschied zu jenen von der dogmatischen Tradition nicht ausgearbeitet. Signifikant für die Pneumato‐ logie ist, dass sie im Zusammenhang mit anderen dogmatischen Themen wie Gotteslehre, Christologie, Ekklesiologie, Sakramentenlehre, Gnadenlehre und Eschatologie behandelt wird. Hieraus resultiert eine gewisse Unüber‐ 268 5 Gott und Glaube <?page no="269"?> sichtlichkeit dieses dogmatischen Lehrstücks. Im Folgenden sind zunächst grundlegende Aussagen der altlutherischen Dogmatik zum Heiligen Geist zu diskutieren (vgl. unten 5.3.1). Aus seiner gegenständlichen Fassung ergeben sich systematische Probleme, die im zweiten Unterabschnitt erörtert werden (vgl. unten 5.3.2). Im abschließenden dritten Unterabschnitt wird eine Neu‐ bestimmung der Pneumatologie im Rahmen einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation skizziert, in der die Aporien der Lehre vom Heiligen Geist einer Lösung zugeführt werden (vgl. unten 5.3.3). 5.3.1 Grundbegriffe der dogmatischen Pneumatologie des Luthertums Im Anschluss an die Glaubensbekenntnisse sowie die dogmatische Lehrtra‐ dition versteht die altlutherische Theologie den Heiligen Geist als göttliche Person, die von Gott dem Vater und dem Sohn unterschieden ist. Das Neue, welches die Reformation für die Pneumatologie bedeutet, besteht darin, dass sie den Geist Gottes durch die Christologie normiert und ihn als Zueignung sowie Aneignung des Heils in Christo versteht. Seine Begründung als göttli‐ che Person erhielt der Geist in der Trinitätslehre. Diese bildet das Fundament seiner soteriologischen Funktion, die in der Lehre von der Heilszueignung (ordo salutis) ausgeführt wurde (vgl. unten 6.3.1). Ein eigenes Lehrstück, welches die Pneumatologie traktierte, kennt die altlutherische Dogmatik so wenig wie die antike oder mittelalterliche theologische Lehrtradition. Sie alle behandeln den Heiligen Geist in Kombination mit anderen dogma‐ tischen Topoi. Das ist bereits im Glaubensbekenntnis der Fall. Es stellt den Gottesgeist in eine Reihe mit anderen Themen. Der Heilige Geist im Glaubensbekenntnis „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Wenn es im Folgenden um die dogmatischen Grundbegriffe der Pneumato‐ logie der lutherischen Dogmatik gehen soll, dann kommen Themen zur Sprache, die bereits im Zusammenhang mit der Trinitätslehre angesprochen wurden (vgl. oben 5.1.2.2) oder im sechsten Abschnitt ausführlicher erörtert werden müssen, in dem es um die Lehren von der Kirche, der Heilsmittel 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 269 <?page no="270"?> Besonder‐ heit der Person des Heiligen Geistes sowie der Heilsaneignung geht. Aus diesem Grund beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen zum Heiligen Geist auf drei Aspekte, die hier nur knapp behandelt werden. Diese sind die Person des Heiligen Geistes, die Differenz von Erlösung und Heiligung und schließlich die Gabe des Heiligen Geistes. 5.3.1.1 Die Person des Heiligen Geistes Begründet wird der Heilige Geist als göttliche Person in der Trinitätslehre. Allerdings ist die Ableitung seiner Person in der immanenten Trinität nicht ohne Schwierigkeiten. Dies hat seine Gründe in der antiken dogmatischen Lehrtradition, welche die Person des Heiligen Geistes in Analogie zu der des Sohnes Gottes konstruierte. Als dritte Person der Trinität unterscheidet sich der Geist vom Vater und dem Sohn. Worin besteht seine Besonderheit ihnen gegenüber, und wie kann er als Person verstanden werden, wenn die bibli‐ schen Schriften ihn als Kraft beschreiben und ihn mit Gott sowie Christus verbinden und identifizieren können? Das Problem der Begründung der Besonderheit der Person des Heiligen Geistes rückt auch in der Trinitäts‐ lehre der altlutherischen Dogmatik in den Fokus. Es wird im Rückgriff auf die Bibel und ihre Aussagen über den Gottesgeist in Angriff genommen. Doch im Hinblick auf den Heiligen Geist stellen sich noch weitere Probleme ein. Sie betreffen bereits seinen Namen. Geist ist zunächst eine Bestimmung, die dem Wesen Gottes und damit allen drei göttlichen Personen zukommt. Denn Gott ist unendliche geistige Substanz (vgl. oben 5.1.2.1). Wenn Geis‐ tigkeit ein Merkmal ist, welches Gott zugesprochen wird, was zeichnet dann aber die Besonderheit des Heiligen Geistes aus? Diese resultiert aus seinem Hervorgang aus Vater und Sohn, der spiratio (Hauchung). Unterschieden vom Vater und dem Sohn ist der Heilige Geist durch seine Hervorbringung. Auf dem filioque beharren die altlutherischen Theologen (vgl. oben 5.1.2.2), da ohne es weder an einem Unterschied von Sohn und Geist festgehalten noch eine Relation zwischen beiden behauptet werden könnte. Mit dem Ge‐ winn der Unterscheidung von Sohn und Geist durch das filioque ist aller‐ dings ein Preis verbunden. Er besteht darin, dass die homoousie der göttli‐ chen Personen durch die Ursprungsrelationen unterminiert wird. Nur der Vater ist a se (von sich), während Sohn und Geist a alio (von anderem) vom Vater hervorgebracht sind. Da aber der Sohn den Geist zusammen mit dem Vater haucht, bleibt in der immanenten Trinität für den Heiligen Geist le‐ 270 5 Gott und Glaube <?page no="271"?> Heiligkeit diglich die einlinige Bestimmung der spiratio passiva (passive Hauchung) übrig. Ein ähnliches Problem wie beim Namen des Geistes stellt sich bei seiner Heiligkeit (lateinisch: sanctitas). Auch sie gibt keine Besonderheit des Geis‐ tes an, da sanctitas dem göttlichen Wesen und folglich allen drei Personen eignet. Was ist dann aber das Besondere des Heiligen Geistes, durch die er eine gegenüber Vater und Sohn eigene göttliche Person ist? Für die altlu‐ therische Trinitätslehre ist es sein Werk, sein opus, welches die Heiligkeit des Geistes begründet. Er heiligt und heißt aus diesem Grund Heiliger Geist (2Thess 2,13). Damit ist es jedoch die soteriologische Funktion des Geistes, dem Menschen das Heil zuzueignen, durch die er eine gegenüber Vater und Sohn eigenständige Person und nicht nur eine unpersönliche Kraft ist. Das bedeutet nun aber, dass die Besonderheit der Person des Heiligen Geistes im Rahmen der immanenten Trinität funktional durch ein opus ad extra be‐ stimmt wird und nicht, wie bei den anderen beiden Personen aus den opera ad intra, die getrennt sind. Die Grundlegung des Heiligen Geistes in der Trinitätslehre führt in ein Dilemma. Als eigene göttliche Person lässt er sich nur behaupten, aber nicht ableiten. Das Dilemma, mit dem die trinitätstheologische Behandlung des Heiligen Geistes in der altlutherischen Dogmatik konfrontiert ist, zeigt sich auch an den weiteren Bestimmungen seiner Person, die im Rückgriff auf die Bibel genannt werden. Person heißt in der Trinitätslehre relatio (vgl. oben 5.1.2.2). Um die Eigenständigkeit der Person des Geistes gegenüber Vater und Sohn begründen zu können, fassen die altlutherischen Theologen die persona spiritus als incommunicabiliter subsistere (nicht mitteilbares Bestehen) und substantia intelligens (intelligente Substanz). Person bedeutet damit im Hinblick auf den Geist etwas anderes als bei Vater und Sohn, so dass die Perichorese der drei göttlichen Personen nicht mehr verständlich wird. Mit der trinitätstheologischen Begründung des Heiligen Geistes in der altlutherischen Dogmatik sind erhebliche Probleme verbunden. Sie resultie‐ ren aus der gegenständlich-objektiven Fassung der theologischen Gehalte und reichen weit über die lutherische Theologie hinaus. Im Rahmen der immanenten Trinität lässt sich seine Besonderheit als einer gegenüber Vater und Sohn eigenen göttlichen Person, die mit ihnen wesensgleich ist, nicht begründen. Vor allem in den westlichen Trinitätslehren, die, im Anschluss an Augustin, den Heiligen Geist als Band der Liebe (lateinisch: vinculum amoris) zwischen Vater und Sohn oder als Relation der Relationen (Eberhard Jüngel) verstehen, wird das überdeutlich. Ist der Heilige Geist die Einheit 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 271 <?page no="272"?> von Vater und Sohn, dann ist er entweder keine eigene Person mehr, so dass auch von einer Trinität nicht mehr die Rede sein kann, oder er ist als Relation der Relationen den beiden anderen Personen übergeordnet, so dass das homoousios der drei Personen aufgelöst ist. L IT E R ATU R : Najeeb Awad: God Without a Face? On the Personal Individuation of the Holy Spirit, Tübingen 2011. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 208-222. Wolf-Dieter Hauschild: Art.: Geist/ Heiliger Geist/ Geistesgaben. IV. Dogmenge‐ schichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-12, Berlin/ New York 1984, 196-217. Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 338-342. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992, 512-514. Michael Murrmann-Kahl: Der ungeliebte Dritte im Bunde. Geist und Trinität, in: Christian Danz/ ders. (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessen‐ heit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, 85-108. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 2, Gütersloh 1966, 138-154. Notger Slenczka: Die klassische Pneumatologie im Gespräch, in: Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistverses‐ senheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.-Jahrhundert, Tübingen 2014, 109-129. 5.3.1.2 Erlösung und Heiligung Schon die trinitätstheologische Begründung der Person des Heiligen Geis‐ tes war den alten Lutheranern nur im Rückgriff auf sein Werk ad extra möglich. Seine Funktion besteht darin, dass er heiligt, dem Menschen also das Heil in Christo zueignet. Dieses Werk des Heiligen Geistes erörtert die altlutherische Dogmatik in ihrer Lehre von der gratia spiritus sancti applicatrice (Zueignung der Gnade des Heiligen Geistes) beziehungsweise des sogenannten ordo salutis (Heilsordnung), von der im sechsten Abschnitt zu reden ist (vgl. unten 6.3.1). Hier muss kurz auf eine Voraussetzung der klassischen Lehre eingegangen werden, die aus ihrer gegenständlich-objek‐ 272 5 Gott und Glaube <?page no="273"?> Zueignung des Heils tiven Fassung resultiert. Wie für die theologische Lehrtradition ist auch für die altlutherische Dogmatik die Erlösung eine objektive Gegebenheit, die in der Geschichte bereits fertig vorliegt. Sie besteht in dem von Jesus Christus vollbrachten Erlösungswerk. Durch dieses Werk Christi ist Gott mit den Menschen versöhnt. Es ist vollständig, bedarf also keiner Hinzufügung oder Vervollständigung mehr (vgl. oben 5.1.1.2). Aus dieser Konstellation ergibt sich die Notwendigkeit der Zueignung der Erlösung an den Menschen. Sie ist das heiligende Werk des Heiligen Geistes. Ganz in diesem Sinne hatte Martin Luther den Gottesgeist als Aneignung des Heils bestimmt. Martin Luther über den Heiligen Geist im Kleinen Katechismus „Ich gläube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, in rechten Glauben geheiliget und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft, sammlet, erleuchtet, heiliget und bei Jesu Christi erhält im rechten einigen Glauben, in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sunden reichlich vergibt und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir sampt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird“ (BSLK, 511 f.). Der Heilige Geist ist die Zueignung des Heils an den Menschen. Sie kann kein Werk des Menschen sein, das er von sich aus vollbringen könnte. An‐ dernfalls wäre das Heil des Glaubens durch ihn bedingt. Gleichwohl muss der Mensch das von Jesus Christus erworbene Heil aneignen. Ohne Aneig‐ nung bliebe es nicht nur nutzlos, der Mensch wäre auch nicht am Glau‐ bensgeschehen beteiligt. Für diese gegenläufige Struktur der Heilsaneig‐ nung steht der Heilige Geist. Indem er das Aneignungsgeschehen des Heils ist, ist jeglicher Synergismus, also die Mitbeteiligung des Menschen am Zu‐ standekommen seines Heils, ausgeschlossen. Es ist allein das Werk Gottes im Menschen. Luthers soteriologische Bestimmung des Heiligen Geistes als Aneignung des Heils hat die altlutherische Dogmatik aufgenommen. Seine dogmatische Fassung setzt voraus, dass Erlösung und Heiligung nicht nur unterschieden, sondern auch getrennt sind. Ersteres ist Grundlage und Voraussetzung von Letzterem. Vor dem Hintergrund dieser Differenz obliegt es dem Heiligen 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 273 <?page no="274"?> heiligendes Werk Geist, das Heil dem Menschen zuzueignen. Aufgrund dieser Funktion, die durch die Trennung von Erlösung und Heiligung notwendig ist, ist er eine eigene göttliche Person. Er fungiert als Medium, wobei dieses als eine Art Behälter verstanden wird, der das Heil, welches Christus durch sein Erlösungswerk vollbracht hat, in der Geschichte verallgemeinert. Gebunden ist der Heilige Geist in seinem Werk, das Heil zu übertragen, an Medien, die in der Lehre von den media salutis (Heilsmitteln) erörtert werden (vgl. unten 6.2.1). Als gleichsam substantielles Übertragungsmedium überführt er seine Gabe. L IT E R ATU R : Martin Luther: Der kleine Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evange‐ lisch-lutherischen Kirche, Göttingen 9 1982, 501-542. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 2, Gütersloh 1966, 138-154. Notger Slenczka: Die klassische Pneumatologie im Gespräch, in: Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistverses‐ senheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.-Jahrhundert, Tübingen 2014, 109-129. 5.3.1.3 Die Gabe des Heiligen Geistes Das Werk des Heiligen Geistes ad extra besteht in der Heiligung. Er eignet den Menschen das Heil, die durch Jesus Christus vermittelte Gnade Gottes innerlich zu. Entsprechend ist seine proprietas ad extra (äußeres Merkmal) die sanctificatio. Sein Werk vollbringt er als göttliche Person, die Vater und Sohn gegenübersteht. Er ist keine Kraft, wie die altlutherischen Theologen gegen die Sozinianer geltend machen, welche die Person des Geistes be‐ streiten und ihn als virtus (Kraft) verstehen. Durch den Heiligen Geist, der die Gabe des Heils Einzelnen zueignet, ist diese in der Ewigkeit Gottes selbst begründet. Als göttliche Person verwirklicht er den ewigen Heilsratschluss Gottes in seinem heiligenden Werk. Jeglicher Synergismus ist in der Heils‐ zueignung ausgeschlossen. Gott wirkt im Menschen ohne ihn das Heil des Glaubens. Im Anschluss an Martin Luther normiert die altlutherische Dogmatik den Heiligen Geist durch Jesus Christus. Ihn aktualisiert der Gottesgeist im Menschen, indem er ihm die Gabe, nämlich die durch Christi Erlösungswerk vollbrachte Sündenvergebung, zueignet. Durch diese ist dem Sünder die 274 5 Gott und Glaube <?page no="275"?> Möglichkeit einer neuen Gemeinschaft mit Gott eröffnet, die durch den Sündenfall des Menschen verloren gegangen ist (vgl. unten 6.3.1.1). Vor Gott gerecht ist er durch die Gabe des Heiligen Geistes. Sie ist die neue Existenz des Menschen als Glaubender. Ihre Konstitution durch Gott den Heiligen Geist behandeln die lutherischen Theologen in den Lehren von der Schrift (vgl. unten 6.2.1.1) und der gratia spiritus sancti applicatrice (vgl. unten 6.3.1.2). In seinem heiligenden Wirken ist der Geist Gottes an die Schrift und die Sakramente gebunden, durch die er dem Menschen die Gabe des Heils und sich selbst innerlich zueignet. Indem er in den Gläubigen einwohnt (lateinisch: inhabitatio), verbindet er sie mit Jesus Christus und untereinander zur Gemeinschaft der Heiligen, der Kirche (vgl. unten 6.1.1). Durch die substantielle Fassung des Heiligen Geistes in der altlutheri‐ schen Theologie stellt er die religiöse Qualität der Gabe, die er selbst ist, unmittelbar durch seine Einwohnung in den Gläubigen her. Auf diese Weise wirkt er nicht nur das Heil des Glaubens, er fundiert auch dessen Identität und Kontinuität als ein überzeitliches, invariantes Prinzip. Sie haben, da sie die Gabe des Heiligen Geistes sind, ihren Ursprung im ewigen Ratschluss Gottes, der mit seinem heiligenden Wirken an den Sündern ans Ziel kommt. L IT E R ATU R : Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 74-77. Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 355-357. Karsten Lehmkühler: Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen, Göttin‐ gen 2004. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil 2, Gütersloh 1966, 138-154. Notger Slenczka: Die klassische Pneumatologie im Gespräch, in: Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistverses‐ senheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.-Jahrhundert, Tübingen 2014, 109-129. 5.3.2 Problemfelder der Pneumatologie Der Glaube an den Heiligen Geist bildet ebenso wie der an Gott und Jesus Christus einen konstitutiven Bestandteil des christlichen Glaubensbe‐ 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 275 <?page no="276"?> Geber des Heils kenntnisses. Gleichwohl ist die dogmatische Pneumatologie mit diversen Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert, die in der Lehrtradition immer wieder erörtert wurden. Sie hängen damit zusammen, dass ein grundlegen‐ des Merkmal des Gottesgeistes sein ‚Überschuss‘ gegenüber Festlegungen ist. Er ist die ‚Kraft von oben‘, die, wie der Wind, weht, wo er will, und den man nicht sieht ( Joh 3,8). Zugleich ist er göttliche Person, und zwar im Unterschied zu Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Als trinitarische Person gehört der Heilige Geist auf die Seite Gottes. Er ist Gott selbst und transzendent. Als solcher ist er das Sein Gottes beim und im Menschen. Aus dieser Konstellation resultieren Probleme, von denen drei exemplarisch diskutiert werden. Sie betreffen die Fragen, ob der Heilige Geist als Geber des Heils oder als dessen Gabe, ob er christologisch oder kosmologisch und schließlich wie er als Geist des Christentums, dessen Identität und Kontinuität er stiftet, zu verstehen sei. 5.3.2.1 Der Heilige Geist als Geber oder Gabe? Grundlegend für Martin Luthers reformatorisches Neuverständnis des Hei‐ ligen Geistes ist, dass ihm die Aneignung des Heils zugewiesen wird (vgl. oben 5.3.1.2). Sie ist ein Akt, der vom Menschen nicht hervorgebracht, von ihm aber vollzogen werden muss. Obgleich der Glaube kein Werk ist, zu dem ein Mensch von sich aus in der Lage ist, muss er doch irgendwie an ihm beteiligt sein. Für diese Eigenart des Glaubens steht der Heilige Geist. Er ist transzendent und unabhängig vom Menschen, der Geber des Heils des Glaubens, und zugleich ist er immanent, die Gabe des Heils und die Neuschaffung des Menschen. Damit beschreibt der Heilige Geist die Eigenart des religiösen Glaubens im Unterschied zu anderen Weisen des menschlichen Weltumgangs. Doch die gegenständlich-objektive Fassung, die der Gottesgeist in der reformatorischen Lehrtradition erhalten hat, wirft die Fragen auf, wie das Verhältnis von transzendentem Geber des Heils und dessen immanenter Gabe genauer zu verstehen sei und wie von ihm gewusst werden kann. Das Heil des Menschen hängt daran, dass der Glaube Gottes Werk in ihm und nicht sein eigenes ist. Folglich muss der Heilige Geist unabhängig vom Menschen und ihm vorgeordnet sein. Nur indem der Geber des Heils selbst‐ bezüglich ist, ist sowohl er selbst als auch sein Wirken allem menschlichen Wollen und Denken vorgängig und von ihnen unabhängig. Er realisiert die Aneignung des von Christus erworbenen Heils, in dem allein das Heil des 276 5 Gott und Glaube <?page no="277"?> Gabe des Geistes Glaubens besteht, selbst im Menschen. Allein unter dieser Bedingung ist alle Mitwirkung des Menschen am Heil des Glaubens ausgeschlossen. Auch in seiner Einwohnung (lateinisch: inhabitatio) in ihm bleibt der Heilige Geist der Geist Gottes und mithin transzendent. Wenn der Gottesgeist jedoch in seinem neuschaffenden Wirken im Menschen selbstbezüglich ist, dann ist nicht ohne Weiteres deutlich, wie der Mensch von dem in ihm den Glauben schaffenden Heiligen Geist wissen kann. Aufgrund der notwendigen Selbst‐ bezüglichkeit des Geistes Gottes kann nur er sich selbst erkennen, nicht aber der Mensch, in dem jener das Heil des Glaubens hervorbringt. Für ihn ist der Geber des Heils unerkennbar. Denn alles, was der Mensch erkennen und erfassen kann, ist Welt, aber eben nicht der transzendente Heilige Geist. Im Rahmen einer solchen theologischen Konstruktion ist zwar die Eigenart des Glaubens prägnant als Werk Gottes des Geistes im Menschen bestimmt, je‐ doch um den Preis, dass weder der Mensch von dem sich in ihm realisie‐ renden Heil wissen kann noch die Theologie, die den Heiligen Geist als An‐ eignung des Heils behauptet. Um das Problem zu bearbeiten, dem Menschen eine Erkenntnis des in ihm das Heil des Glaubens schaffenden Heiligen Geistes zuzugestehen, kann die theologische Konstruktion bei der Gabe des Geistes ansetzen. Ausgangs‐ punkt der Bestimmung des Heiligen Geistes ist nicht mehr der Geber der Gabe, die dritte Person der Trinität extra nos (außer uns), sondern die Gabe, der Akt des Glaubens, der Heilige Geist in nos (in uns). Im Rahmen einer solchen theologischen Konstruktion des Heiligen Geistes ist er als Anlage im Menschen verstanden (Rudolf Otto), die ihm bereits mitgegeben ist, oder als spekulative Identität von menschlichem und göttlichem Geist (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Falk Wagner). Wenn der Geist Gottes Bestandteil der conditio humana ist oder zwischen beiden eine Identität besteht, dann ist auch ein Wissen des Menschen um ihn und sein Wirken in ihm möglich. Dem menschlichen Dabeisein ist auf einer solchen Grundlage ebenso Rech‐ nung getragen wie der Erkennbarkeit des Heiligen Geistes. Ihm kann auch Transzendenz und Differenz zum menschlichen Geist zugesprochen wer‐ den. Doch diese Transzendenz des Heiligen Geistes ist an den Menschen gebunden, und damit ist der Geist Gottes ein Bestandteil der Welt. Wie lässt sich mit diesem Dilemma umgehen, das aus der gegenständ‐ lich-objektiven Fassung des Heiligen Geistes als Geber und Gabe, als extra nos und in nos resultiert? Behauptet man seine Transzendenz, kann weder der Mensch noch die Theologie von ihm wissen. Nimmt man den umgekehr‐ ten Weg, gelangt man nicht mehr zum Heiligen Geist. Gleiches kann nur von 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 277 <?page no="278"?> Heiliger Geist als Selbstgabe Gleichem erkannt werden. Dennoch sind beide Dimensionen notwendig, das extra nos des Geistes sowie sein in nos. Ist der Heilige Geist nicht selbstbezüglich, dann ist der Gottesgedanke aufgelöst. Gott wäre abhängig vom Menschen. Und doch muss der Mensch den Geist Gottes erkennen können, da er sonst nicht am Heil des Glaubens beteiligt wäre. Zwei Umgangsweisen mit diesem Dilemma wurden in den pneumatologischen Debatten der letzten Jahrzehnte vorgeschlagen. Man kann die Differenz von Transzendenz und Immanenz des Geistes, sein extra nos und sein in nos als Momente des Offenbarungsgesehen verstehen und dieses entweder gegenständlich oder ereignisbezogen ausarbeiten. Im ersten Fall werden Geber und Gabe als Strukturmomente der Offen‐ barung Gottes im Geist verstanden. Der Heilige Geist ist Selbstgabe, dessen unreduzierbare Momente Geber und Gabe sind (Walter Kasper [geb. 1933], Wilfried Härle). Beide Momente lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Würde man das in nos in das extra nos aufheben, dann wäre der Mensch aus dem Heilsgeschehen ausgeschlossen, und im umgekehrten Fall ist es nicht mehr Gott, der die Gabe gibt. Doch auch als Selbstgabe muss der Heilige Geist selbstbezüglich sein. Andernfalls wäre er vom Menschen abhängig oder eine menschliche Deutung. Das soll jedoch gerade durch die theologi‐ sche Konstruktion des Heiligen Geistes als Selbstgabe ausgeschlossen wer‐ den. Folglich muss er als Selbstgabe unabhängig vom Menschen und ihm vorgeordnet sein. Dass er Selbstgabe ist, expliziert die trinitarische Struktur der Selbstoffenbarung Gottes in der Welt. Sie ist Grundlage und Vorausset‐ zung des Glaubens als menschliche Antwort auf das trinitarische göttliche Erschließungsgeschehen. Dem Menschen kann sich der Grund seines Seins nur passiv erschließen. Woher aber weiß er in diesem für ihn passiven Er‐ schließungsgeschehen, dass es der Heilige Geist ist, der ihm die grundle‐ gende Gewissheit seines Daseins erschlossen hat, in der sich seine Bestim‐ mung erfüllt? Auch in der Fassung des Heiligen Geistes als Selbstgabe, welche Voraussetzung und Basis des Glaubens bildet, kann der Mensch ihn nicht erkennen. Würde er ihn erkennen, dann wäre diejenige Gewissheit, in der der Mensch zu sich selbst kommt, lediglich eine menschliche Deutung neben anderen. Man kann den Gegensatz von Geber und Gabe, von extra nos und in nos auch in das Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes aufheben und dieses nicht gegenständlich, sondern ereignisontologisch verstehen (Eberhard Jüngel, Ingolf U. Dalferth). Das führt zu einem Verständnis des Heiligen Geistes als Durchsichtigkeit und Selbstidentifikation des göttlichen Lebens. Hier ist er 278 5 Gott und Glaube <?page no="279"?> Heiliger Geist als Er‐ eignis der Selbstof‐ fenbarung Gottes ebenfalls ein Bestandteil der Offenbarung Gottes in der Welt, die unabhängig vom Menschen und ihm vorgängig immer schon geschieht. Die strikt selbst‐ bezüglich gefasste Trinitätslehre wird als Explikation der Struktur der Got‐ tesoffenbarung benutzt. Andernfalls wären Gott sowie seine Offenbarung abhängig vom Menschen. Gottes ad nos ist Bestandteil seines extra nos. Der dreieinige Gott ist ein selbstbezüglicher semiotischer Verstehensprozess, der von Gott dem Vater konstituiert wird, durch den Sohn Gottes seine Be‐ stimmtheit erhält und sich im Heiligen Geist durchsichtig wird und selbst identifiziert. Glaube ist dann das kontingente und nicht herstellbare Ge‐ schehen, in dem der Mensch in dieses allem menschlichen Verstehen bereits zugrunde liegende und ihm vorgängige Verstehensgeschehen, welches Gott ist, aufgenommen wird. Erkennbar ist Gott auch hier allein durch den Hei‐ ligen Geist, der sich nicht nur selbst als solcher identifiziert, sondern dessen Erkenntnis auch an ihn gebunden bleibt. Dass sich der Geist Gottes nur selbst erkennen kann, ist ebenfalls eine Erkenntnis, die ausschließlich ihm selbst zukommt. Fassungen des Heiligen Geistes, die ihn als Geber der Gabe des Heils konstruieren, die dem Glauben vorgängig und von ihm unabhängig ist, machen seine Erkenntnis durch den Menschen unmöglich. Versteht man ihn hingegen als Gabe, die dem Menschen in welcher Form auch immer mitgegeben ist, wird sein Gottsein revoziert. Beide Weisen, den Heiligen Geist zu bestimmen, treiben in ein Dilemma. Es fußt auf seiner unumgäng‐ lichen Selbstbezüglichkeit. Wäre er nicht selbstbezüglich, dann wäre er ein Bestandteil der Welt, aber eben nicht mehr autonom. In gleicher Weise muss auch das religiöse Subjekt selbstbezüglich sein, wenn anders die Religion, die durch es grundgelegt werden soll, eine eigene Form in der Kultur und kein *Epiphänomen sein soll. Beide Formen arbeiten mit gegenständlichen Voraussetzungen, die sein Verständnis unmöglich machen. Sie trennen Gott und Glaube und postulieren den Heiligen Geist entweder als extra nos vor‐ handene Voraussetzung des Glaubens im trinitarischen Leben Gottes oder als in nos bereits gegebenes religiöses Subjekt. Doch das sind theologische Konstruktionen, die auf der Ebene der christlich-religiösen Kommunikation, also in der Selbstsicht der Glaubenden, gar nicht zugänglich sind. Sie sind völlig ungeeignet, um das innere Funktionieren der christlichen Religion aus ihrer Selbstsicht verständlich zu machen. Zudem reißen sie die Struktur des Heiligen Geistes auseinander, wenn er als Geber die Gabe oder umgekehrt als Gabe den Geber begründen soll. Aus dem Dilemma seiner theologi‐ schen Erörterung als Geber oder Gabe ergibt sich die Forderung seiner 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 279 <?page no="280"?> christologi‐ sches Geistver‐ ständnis Neubestimmung. Der Heilige Geist ist nicht als inhaltlich-gegenständliche Beschreibung eines Gebers oder einer Gabe zu verstehen, sondern reflexiv als Beschreibungselement des Glaubens als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 160-236. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationa‐ lität, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1991, 101-158. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 171-175. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 360-386. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992, 505-514. Walter Kasper: Der Gott Jesu Christi, Leipzig 1985, 252-260. Rudolf Otto: Die Anschauung des Heiligen Geistes bei Luther. Eine Histo‐ risch-Dogmatische Untersuchung, Göttingen 1898. Falk Wagner: Sozialethik als Theorie des Geistes, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 373-393. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 209-218. 5.3.2.2 Christologisches oder kosmologisches Geistverständnis? Grundlegend für die reformatorische Neubestimmung des Heiligen Geistes ist, dass er das von Jesus Christus erworbene Heil dem Menschen zueignet. Der Heilige Geist ist die Selbstanwendung des in der Geschichte bereits fer‐ tig vorliegenden Heils an Einzelne. Damit ist er mit Jesus Christus verwoben und christologisch-soteriologisch bestimmt. Gott, der Heilige Geist über‐ mittelt ihn, die Norm des Glaubens, in der Geschichte. Diese Übertragung und Selbstanwendung Jesu Christi, welche der Heilige Geist ist, ist an Me‐ dien gebunden, nämlich die Heilige Schrift und die Sakramente (vgl. unten 6.2). Inhalt von Bibel und Sakramenten ist Jesus Christus. Durch die von den Reformatoren vorgenommene christologische Rückbindung des Heiligen Geistes ist er als Geist Jesu Christi bestimmt und erkennbar. Kriterium seines Wirkens sind Jesus Christus und der Buchstabe der Schrift. Zwar fällt der Heilige Geist nicht mit Jesus Christus oder der Bibel zusammen, da Buch‐ 280 5 Gott und Glaube <?page no="281"?> christolo‐ gisch-sote‐ riologische Engführung stabe und Geist zu unterscheiden sind, aber er hat sich am Wort Gottes fest‐ gemacht. Er wirkt nicht außerhalb und unabhängig von Gottes Wort. Sowohl gegen den linken Flügel der Reformation, die sogenannten ‚Schwärmer‘ und ‚Fanatiker‘, als auch gegen die römisch-katholische Kirche beharren Martin Luther und ebenso Johannes Calvin auf der Erkennbarkeit des Heiligen Geistes sowie Kriterien, an denen sich sein Wirken identifizieren lässt. Löst man ihn und sein Wirken von der Christologie sowie dem Buchstaben der Schrift ab, so das Argument, kann schlichtweg alles als Wirkung und Of‐ fenbarung des Heiligen Geistes behauptet werden. Dem Subjektivismus wäre auf diese Weise Tür und Tor geöffnet. Untermauert wird seine Bindung an Jesus Christus in den abendländi‐ schen Kirchen durch das filioque, die Auffassung, dass der Heilige Geist im innertrinitarischen Leben Gottes von Gott dem Vater und dem Sohn zusammen konstituiert wird (vgl. oben 5.1.1.2). Auf diese Weise ist seine christologische Normierung gleichsam trinitätstheologisch zementiert. Der Heilige Geist realisiert Jesus Christus in der Geschichte und wiederholt ihn in seinem das Heil den Menschen zueignenden Werk. Wenn er aber nur das ist, nichts Eigenes ‚sagt‘, sondern auf Jesus Christus verweist, wie kann er dann eine eigene göttliche Person sein, die sich von Gott dem Vater und Gott dem Sohn unterscheidet? Seine christologisch-soteriologische Fassung, die er in der lutherischen Theologie erhalten hat, macht ihn zu einer Dublette Jesu Christi. Gegenüber einer solchen Konzeption der Pneumatologie wurde eingewandt, in ihr komme der Reichtum des Wirkens des Heiligen Geistes, seine neuschöpferische Kraft nicht mehr in den Blick. Im Resultat verschwinde er in der Lehre von Christus, zu deren Anhängsel er geworden ist, und werde gleichsam einer theologischen Vergessenheit anheimgegeben (Otto Alexander Dilschneider). Eine christologisch-soteriologische Konstruktion des Heiligen Geistes reiche somit nicht aus. Mit ihr sei eine Fokussierung auf den Einzelnen und sein Heil verbunden, welche die drängenden Probleme der gesellschaftli‐ chen Wirklichkeit außen vor lasse. Die Folge ist, dass auch die Theologie nichts mehr zu den die Menschen bedrängenden und bewegenden gesell‐ schaftlichen Problemen zu sagen weiß, da sie sich auf das Heil des Indivi‐ duums beschränkt habe. Um die christologisch-soteriologische Engführung des Heiligen Geistes aufzubrechen und ihm eine eigenständige Funktion zukommen zu lassen, muss sein Wirken erweitert und universalisiert wer‐ den. Nur dadurch ist es möglich, die Welt und die gesellschaftliche Wirk‐ lichkeit in die Theologie einzubeziehen. In der Folge avancierte vor allem in 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 281 <?page no="282"?> Heiliger Geist als kosmische Kraft den theologischen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Pneumatologie zu einem dogmatischen Lehrtopos, in dem die Krisenphä‐ nomene der modernen Gesellschaft aufgenommen und einer theologischen Bearbeitung zugeführt wurden. An die Stelle seiner alten Funktion, das von Christus erworbene Heil dem Menschen zuzueignen, treten nun die Kritik der Gesellschaft, des Subjekts, der modernen Rationalität, heterosexueller Geschlechternormen, Umweltzerstörung und vieles andere mehr. Um zu ei‐ ner Erweiterung des Wirkens des Heiligen Geistes zu gelangen, muss man die Christologie in die Pneumatologie einordnen und diese tendenziell von jener abtrennen. Löst man die Pneumatologie aus ihrer Umklammerung durch die Chris‐ tologie, ist es nicht mehr Jesus Christus, der den Heiligen Geist sendet, son‐ dern er ist selbst schon ein vom Gottesgeist gesandter Geistträger. Der Hei‐ lige Geist ist nun Jesus Christus vorgeordnet. Als kosmische Kraft wirkt er bereits in der Schöpfung und im Alten Testament, folglich aber vor der Er‐ lösung und nicht nur in ihr. Damit ist der Weg frei, die Schöpfung und die Eschatologie in die Pneumatologie einzubeziehen. In diesem Rahmen kommt die Gottesoffenbarung in Jesus Christus als Verwirklichung der neuen Schöpfung in den Blick. Für den Heiligen Geist bedeutet das, er ist die eschatologische Durchsetzungskraft der in Jesus Christus durch Gott realisierten neuen Schöpfung beziehungsweise des Reichs Gottes (Hans-Joa‐ chim Kraus [1918-2000], Jürgen Moltmann). Universal wird der Gottesgeist nur dadurch, dass man ihn von seiner alten Funktion ablöst, das Heil in Jesus Christus dem Einzelnen zuzueignen und so die Kirche durch Wort und Sa‐ krament hervorzubringen und zu erhalten. Als kosmische Kraft wirkt der Heilige Geist seit der Schöpfung der Welt als Selbsttranszendenz des Lebens (Wolfhart Pannenberg), als Durch‐ brechung der sündhaften Zerstörung des Lebens (Michael Welker), als Befreiungsgeschehen ( Jürgen Moltmann), als Kritik an der Ökonomisierung der Lebenswelt (Sigurd Bergmann [geb. 1957]) oder als neue Form des Zusammenlebens. Abgelöst von der Christologie und ihr übergeordnet, lässt sich sein universales Wirken behaupten. Es ermöglicht einerseits eine theologische Totalintegration der Welt, aber es führt andererseits auch dazu, dass der Heilige Geist selbst unbestimmt wird. Wenn jedes Befreiungsgeschehen, jede Kritik an der Gesellschaft oder der Moderne und ihrer Rationalität sich dem Heiligen Geist verdankt, auch wenn dies den Akteuren weder bewusst noch von ihnen intendiert ist, dann ist er selbst unerkennbar. Er wird zu einer anonymen Kraft, die lediglich denjenigen 282 5 Gott und Glaube <?page no="283"?> Religions‐ theologie erkennbar ist, die ihn postulieren. Doch der Heilige Geist wird in diesen Konzeptionen nicht nur unbestimmt, er wird auch funktionalisiert. Seine theologischen Neubestimmungen als Befreiungsgeschehen, Kritik an der Moderne, der Ökonomisierung und Umweltzerstörung verdoppeln diejenige Kritik an sich selbst, welche die Moderne bereits ist, tragen aber weder etwas zur Erfassung der Krisenphänomene der modernen Gesellschaft noch des Heiligen Geistes bei. Universalisiert wird der Heilige Geist auch, wenn man ihn, wie in der Religionstheologie, auf nichtchristliche Religionen überträgt (vgl. oben 4.2.1). Damit er in den nichtchristlichen Religionen wirken kann, muss seine Bindung an die Gottesoffenbarung in Jesus Christus aufgelöst und eine Ge‐ genwart Gottes im Geist postuliert werden, die von der Christologie unab‐ hängig ist. Grundlage von solchen religionstheologischen Konzeptionen ist die Trinitätslehre (Reinhold Bernhardt). Diese avanciert zum Modell oder einer Rahmentheorie, um den Pluralismus der Religionen theologisch be‐ schreiben zu können. Auf diese Weise meint man, neben der Gottesoffen‐ barung in Jesus Christus auch andere Religionen als Offenbarungen dieses Gottes theologisch anerkennen zu können, ohne sie zu vereinnahmen. Got‐ tes Geist wirke nicht allein in der christlichen Religion, sondern auch in nichtchristlichen Religionen. Indem er ihnen zugrunde liegt, integriert er sie zugleich in das Kraftfeld des universalen schöpferischen Gottes. In religi‐ onstheologischen Konzeptionen, welche den Heiligen Geist als universales Medium der Präsenz des Göttlichen konstruieren, wird er nicht nur unbe‐ stimmt, er hebt gerade dadurch, dass er Diversität inkorporiert, diese in eine die einzelnen Religionen übergreifende Einheit auf. Doch diese Einheit ist den einzelnen Religionen selbst gar nicht zugänglich, sondern nur der Re‐ ligionstheologie, die sie konstruiert. Setzt man in den nichtchristlichen Re‐ ligionen die christliche Trinitätslehre als übergeordneten Rahmen voraus, dann lässt sich ihre Eigenständigkeit nicht mehr aufrechterhalten. Sie wer‐ den zu anonymen Formen eines Christentums, von dem sie selbst nichts wissen. Im Resultat führt eine Übertragung des göttlichen Schöpfungsgeis‐ tes auf nichtchristliche Religionen, um sie als Selbstmanifestationen des schöpferischen göttlichen Geistwirkens zu verstehen, auf ihre Vereinnah‐ mung hinaus. Behauptet man den Heiligen Geist schöpfungstheologisch als weltum‐ spannende Präsenz des Göttlichen in der Welt oder eschatologisch als Durchsetzung der neuen Schöpfung, so ist das nur möglich, wenn man seine christologische Normierung preisgibt. Zur Folge hat das jedoch, dass 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 283 <?page no="284"?> er selbst unbestimmt wird. Vom Heiligen Geist kann dann nur noch seine Andersheit gegenüber dem Geist der Welt ausgesagt werden. Unklar wird dadurch, wie sich dieser Geist noch von anderen Geistern unterscheiden lässt. Er ist als allgemeines Integrationsmedium konstruiert, welches jeg‐ liche Differenz ausschaltet. Ist der Heilige Geist alles, so ist er nichts Bestimmtes mehr. Die Konsequenz ist, dass sich die Pneumatologie selbst auflöst. Bindet man, um das zu vermeiden, den Heiligen Geist an die Christologie und die biblischen Schriften, dann lässt sich seine Bestimmtheit und Erkennbarkeit aufrechterhalten, allerdings um den Preis, dass sich seine Funktion darin erschöpft, Jesus Christus den Einzelnen zuzueignen, und mithin nichts Eigenes ist. Dieses Dilemma der pneumatologischen Debatten ist nur auflösbar, wenn der Heilige Geist neu als reflexives Beschreibungs‐ element der christlichen Religion verstanden wird. L IT E R ATU R : Sigurd Bergmann: Where on Earth Does the Spirit “Take Place” Today? Consi‐ derations on Pneumatology in the Light of the Global Environmental Crisis, in: Ernst M. Conradie/ ders./ Celia Deane-Drummond (eds.): Christian Faith and Earth. Current Paths and Emerging Horizons in Ecotheology, London 2014, 51-64. Reinhold Bernhardt: Monotheismus und Trinität. Gotteslehre im Kontext der Religionstheologie, Zürich 2023. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 6-39. Otto Alexander Dilschneider: Die Geistvergessenheit der Theologie. Epilog zur Diskussion über den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus, in: ThLZ 86 (1961), 255-266. Christian Henning: Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im 20.-Jahrhundert, Gütersloh 2000. Klaas Huizing: Lebenslehre. Eine Theologie für das 21.-Jahrhundert, Gütersloh 2022, 413-452. Hans-Joachim Kraus: Reich Gottes: Reich der Freiheit. Grundriß Systematischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1975, 317-366. Jürgen Moltmann: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-2, Berlin (Ost), 1977, 260-291. Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 7 2022. Folkart Wittekind: Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie, in: Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit 284 5 Gott und Glaube <?page no="285"?> substanti‐ elles Konti‐ nuum substanti‐ elle Identi‐ tätsmo‐ delle und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.-Jahrhundert, Tübingen 2014, 13-68. 5.3.2.3 Der Geist des Christentums Das Christentum ist eine geschichtliche Religion. Es unterliegt einem Wan‐ del, durch den es sich ändert. Dass es hierbei identisch bleibt, ist das Werk des Heiligen Geistes. Er vermittelt Einzelnen das Heil in Jesus Christus. In‐ dem er dieses in der Geschichte verallgemeinert, stiftet er Identität und Kontinuität der christlichen Religion. Als Heiliger Geist kommt er zwar nicht von dieser Welt, aber er verwirklicht sich in ihr durch die Schaffung der Kirche, die zunehmend die Welt überwindet. Von der altlutherischen Dogmatik wird der Heilige Geist als Identitätsvermittler der christlichen Religion verstanden, der das religiöse Heil im geschichtlichen Wandel iden‐ tisch sein lässt (vgl. oben 5.3.1.3). Er steht hinter dem geschichtlichen Wandel als substantielles Kontinuum, welches Identität und Kontinuität des christ‐ lichen Heils verbürgt. Doch in einem solchen Kontinuitätsmodell kann der geschichtliche Wandel nur als ein Schein begriffen werden, der lediglich die Oberfläche betrifft. Der substantielle Kern der christlichen Religion, das Heil in Christo, bleibt identisch und fundiert ihre Identität. Substantielle Identitätsmodelle der christlichen Religion sind unge‐ schichtlich. Sie postulieren mit dem Heiligen Geist eine hinter dem ge‐ schichtlichen Wandel stehende Identität. Wie aber lassen sich Identität und Kontinuität der christlichen Religion verstehen, wenn Geschichte zum über‐ geordneten Rahmen ihres Selbstverständnisses wird? In diesem Horizont ist Jesus Christus der geschichtliche Ursprung der christlichen Religion, und aus dem Heiligen Geist wird ein geschichtlicher Identitätsvermittler. Dieser bindet, wie in Friedrich Schleiermachers Pneumatologie, Einzelne in das von Jesus Christus gestiftete neue Gesamtleben der Kirche ein und verknüpft sie durch den geschichtlichen Wandel hindurch mit dem Erlöser. Zum Konstruktionsprinzip avanciert der Glaube, der als invariante Struktur hinter dem geschichtlichen Wandel Identität und Kontinuität der christli‐ chen Religion stiftet. Der an die kirchliche Verkündigung gebundene Heilige Geist verwirklicht die Erlösung in der Geschichte, da er die Entstehung derjenigen Religion in Einzelnen realisiert, die mit dem Erlöser in die Geschichte eingetreten ist. In den Pneumatologien des 19. Jahrhunderts liegt den unterschiedlichen Konzeptionen ein Religionsbegriff zugrunde, der in der Struktur des Bewusstseins verankert ist und der nicht nur 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 285 <?page no="286"?> Wirkungs‐ geschichte die Allgemeinheit der christlichen Religion garantiert, sondern auch ihre Identität und Kontinuität im geschichtlichen Wandel sichert. Mit dem Religionsbegriff und seiner Verankerung in der allgemeinen Grundlegungs‐ struktur des Bewusstseins legen auch diese pneumatologischen Modelle dem geschichtlichen Wandel der christlichen Religion einen invarianten Kern zugrunde, der Differenz und Diskontinuität ausschließt. Indem der Heilige Geist als Aktualisierung und Realisierung einer bereits gegebenen Struktur verstanden wird, welche dem Wandel enthoben ist, ist er selbst ungeschichtlich. Theologische Fassungen des Heiligen Geistes als einem hinter den geschichtlichen Transformationen der christlichen Religionen stehenden Identitätsvermittler konstruieren ihn als einen invarianten Kern. Dadurch werden die geschichtlichen Formen, in denen sich dieser Kern darstellt, zu einer unwesentlichen Schale. Wenn sich aber der Kern der christlichen Religion, ihr Geist oder Wesen, nur in ihren geschichtlich wandelbaren Formen darstellt, wie lässt sich dann überhaupt ihr Geist von seiner Schale unterscheiden? Er selbst ist ja gar nicht zugänglich, sondern nur die Zeichen und Bilder, in denen er sich manifestiert. Und kann es einen Wandel der Formen geben, ohne dass sich ihr Inhalt ändert? Die Konstruktion des Heiligen Geistes als invarianten Kern der christlichen Religion, der ihre Identität und Kontinuität in der Geschichte begründet, ist ein bloßes Postulat. Es lässt die Geschichte selbst unwesentlich werden und hat die Funktion, Diskontinuität, Differenz und Alterität aus der Realisierung der christlichen Religion auszuschließen. Anders verfahren Konstruktionen des Heiligen Geistes, die ihn nicht als Kern hinter dem geschichtlichen Wandel der christlichen Religion verstehen, sondern ihren geschichtlichen Ursprung als identitätsstiftendes Prinzip ansetzen. Identität und Kontinuität der christlichen Religion hängen an ihrem Ursprung und nicht an dem Überlieferungsmaterial. Es ist die Wirkung, die von dem Eindruck der Person Jesu Christi ausgeht (Friedrich Schleiermacher), die das Kontinuum des Christentums begründet. Im Rah‐ men eines solchen Konzepts erscheint der Heilige Geist als Wirkungs- (Hans-Georg Gadamer [1900-2002]) oder Überlieferungsgeschichte (Wolf‐ hart Pannenberg). Auf diese Weise lässt sich der Wandel der christlichen Religion als Wirkung ihres Ursprungs oder als dessen Explikation aufneh‐ men. Argumentiert man wirkungsgeschichtlich, dann ist es der Ursprung der christlichen Religion, der sich in ihrem Verstehen selbst zur Geltung bringt. 286 5 Gott und Glaube <?page no="287"?> Überliefe‐ rungsge‐ schichte Rezeption‐ sästhetik Jedes gegenwärtige Verstehen ist durch einen geschichtlich gewordenen Horizont geprägt, der ein Verstehen der Vergangenheit erst möglich macht. Im verstehenden Aneignen des geschichtlichen Ursprungs der christlichen Religion, dessen Wirkung in den biblischen Schriften vorliegt, legt sich die‐ ser selbst im Subjekt aus. Denn das Selbstverständnis des Subjekts ist bereits durch diejenige Wirkungsgeschichte bestimmt, die es verstehend aneignet. Verstehen ist damit dasjenige Geschehen, in dem sich der Ursprung im ver‐ stehenden Subjekt selbst versteht. Auch die Wirkungsgeschichte konstruiert Geschichte als Kontinuum und Einheit. Im (Selbst-)Verstehen des Ursprungs der christlichen Religion verschwindet die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, die zunächst zwischen dem Subjekt und der Fremdheit des Ge‐ wesenen bestand. Damit schließt der Heilige Geist, das Sich-selbst-zur-Gel‐ tung-Bringen des Ursprungs, Differenz und Alterität aus. Überlieferungsgeschichtlich kann der Heilige Geist als Explikation des in der Geschichte Jesu angelegten Bedeutungsgehalts konstruiert werden (vgl. oben 5.2.2.2). Hier ist der Ursprung der Identität und Kontinuität der christlichen Religion begründet. Sein und Bedeutung liegen in ihm verbunden vor. Indem sich in Jesus Christus die Ganzheit der Geschichte, Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit, erschlossen hat, diese jedoch in keiner ihrer Deutungen vollständig erfasst werden kann, bleiben alle ihre geschichtlichen Interpretationen vorläufig und wandelbar. Anders als im wirkungsgeschichtlichen Modell ist die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart festgehalten. Sie löst sich nicht in einem Horizont auf. Doch auch in der Überlieferungsgeschichte bleibt es bei einem Einheitsmodell, welches Diskontinuität und Differenz ausschließt. Das Ursprungsereignis umgreift bereits alle Differenzen und hebt sie dadurch auf. Gegenüber Begründungen von Identität und Kontinuität der christlichen Religion in einer Substanz hinter dem geschichtlichen Wandel oder ihrem Ursprung kann auch ihre Rezeption als fundierend angesetzt werden (vgl. oben 3.4). Der Heilige Geist ist in der Rezeptionsästhetik der Akt der Auf‐ nahme der christlichen Religion sowie ihrer Weiterführung durch Einzelne (Ulrich H.J. Körtner [geb. 1957]). Diese begründen ihre Einheit und Konti‐ nuität. Beide liegen folglich nicht vor, sondern entstehen erst, indem Men‐ schen die christliche Überlieferung sich aneignen. In rezeptionsästhetischen Pneumatologien ist die Diskontinuität der Entwicklung der christlichen Re‐ ligion grundsätzlich berücksichtigt und die Vorstellung einer ihr zugrunde liegenden Substanz, die ihre Einheit gewährt, verabschiedet. Einheit und Kontinuität verdanken sich der Produktivität von Rezipientinnen und Re‐ 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 287 <?page no="288"?> zipienten, die stets ihre eigenen Perspektiven in der Aneignung der christ‐ lichen Religion mitbringen. Da sich die Horizonte der Rezeption ständig än‐ dern, bleibt die christliche Religion wandelbar. Eine abschließende Interpretation kann es folglich nicht geben. Damit repräsentiert der Heilige Geist die Dynamik und schöpferische Kreativität des Interpretationsprozesses, in dem die christliche Religion in der Geschichte weitergegeben wird. Doch wie entsteht in der Aneignung der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus religiöser Sinn? Das wird in der Fokussierung des Heiligen Geistes auf die Rezeption nicht deutlich. Der Geist des Christentums lässt sich weder durch eine substantielle Fassung noch durch ihren Ursprung oder ihre Rezeption hinreichend verständlich machen. Begreift man den Heiligen Geist als Substanz der christlichen Religion, dann wird ihr geschichtlicher Wandel zur bedeutungs‐ losen Hülle. Ihre Zeichen, Aussagen und Bilder repräsentieren einen Kern, der selbst nicht zugänglich ist. Einem repräsentationstheoretischen Bedeu‐ tungsmodell bleiben auch Grundlegungen der Identität und Kontinuität der christlichen Religion in ihrem Ursprung verpflichtet. Aufgrund seiner Invarianz stiftet er deren Kontinuum in der Geschichte. Aber einen Ursprung der christlichen Religion gibt es nicht ohne seine Weitergabe, durch die er erst zum Anfang einer Reihe wird. Davon abstrahieren sowohl wirkungsals auch überlieferungsgeschichtliche Modelle der Identität und Kontinuität der christlichen Religion. Wie jedoch ihre Identität und Kontinuität nicht durch ihren Ursprung begründet werden kann, so wenig reicht es aus, dies durch ihre Rezeption zu tun. Auch diese bildet lediglich ein Element der komplexen Struktur, aus der der Geist des Christentums entsteht. L IT E R ATU R : Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 175-186. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 2 1965. Ulrich H.J. Körtner: Rezeption und Inspiration. Über die Schriftwerdung des Wortes und die Wortwerdung der Schrift im Akt des Lesens, in: NZSTh 51 (2009), 27-49. Jörg Lauster: Der heilige Geist. Eine Biographie, München 2 2021. Wolfhart Pannenberg: Über historische und theologische Hermeneutik, in: ders.: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 123-158. 288 5 Gott und Glaube <?page no="289"?> Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-2, 278-303 (§§ 121-125). Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Frei‐ burg i.Br./ Basel/ Wien 2018. Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 4 1994. 5.3.3 Die Wirklichkeit des Heiligen Geistes in der christlichen Religion Die Entfaltung der Strukturelemente der christlichen Religion kommt mit dem Heiligen Geist zum Abschluss. Es schließt sich der Kreis der christ‐ lich-religiösen Kommunikation, indem sie wieder religiös kommuniziert wird. Wie in der Christologie wird der Glaube in der Pneumatologie weiterbestimmt. Seine Entstehung hängt nicht nur an kommunizierten Inhalten, die als Religion angeeignet werden müssen, sondern auch an der symbolproduktiven Artikulation der aufgenommenen Inhalte in der christlich-religiösen Kommunikation. Diese stellt ein eigenes Element in der christlichen Religion dar, ohne das sie nicht zur Existenz kommen kann. Genau das ist das Thema der Pneumatologie: Die wiederholende Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation, die ihre schöpferische Transformation ist. Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion ist nicht einfach abhängig von einer bestimmten Überlieferung. Er besteht im selbständigen schöpferischen Um‐ gang mit ihr. Dieses dynamische Moment repräsentiert in der christlichen Religion der Heilige Geist. Mit ihm, dem spiritus creator (Schöpfungsgeist), stellt sie sich selbst als symbolproduktive Kommunikation dar. Der Heilige Geist ist ein reflexives Beschreibungselement der christlichen Religion. Im Rahmen einer Systematischen Theologie der christlich-religiö‐ sen Kommunikation wird seine gegenständliche Fassung, die er in der Lehrtradition erhalten hat, aufgelöst und seine dogmatische Entfaltung auf die christliche Religion übertragen. Ebenso wie Gott und Jesus Christus stellt der Heilige Geist einen Bestandteil von ihr dar, der mit ihr zusammen in der christlich-religiösen Kommunikation erst entsteht. Auf der Grundlage der vorgeschlagenen Neubestimmung des Heiligen Geistes lassen sich die eben erörterten Problemfelder auflösen. 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 289 <?page no="290"?> Funktion des Heili‐ gen Geis‐ tes 5.3.3.1 Trinitarische Pneumatologie Von der Lehrtradition wurde die Göttlichkeit des Heiligen Geistes in der Trinitätslehre begründet. Er ist eine gegenüber Gott dem Vater und Gott dem Sohn eigene Person, die mit ihnen wesensgleich, homoousios, ist. Allerdings gelingt es nicht, im Rahmen der immanenten Trinität ihn als selbständige göttliche Person abzuleiten. Der lutherischen Dogmatik war dies nur im Rückgriff auf seine soteriologische Funktion der Heiligung möglich (vgl. oben 5.3.1.1). Das weist auf ein grundsätzliches Problem hin, das mit seiner substantiellen Fassung verbunden ist. Seine Göttlichkeit muss anders be‐ gründet werden. Sie hängt an seiner notwendigen Funktion für das innere religiöse Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation. Der Heilige Geist ist ein konstitutives Element desjenigen triadischen Wechselverhält‐ nisses, aus dem diese entsteht. Er bezeichnet in ihr die wiederholende Arti‐ kulation der religiös angeeigneten Erinnerung an Jesus Christus, durch die sie transformiert und alteriert wird. Mit dem Heiligen Geist stellt die christ‐ liche Religion ihr Wissen dar, vom symbolproduktiven Umgang mit der Er‐ innerung an Jesus Christus abhängig zu sein. Das Geschehen der christ‐ lich-religiösen Kommunikation ist ein zeitlicher Prozess, in dem sie sich in sich wandelnden kulturellen Kontexten jeweils neu schafft, wenn sie von Menschen eigenständig gebraucht wird. Gott der Heilige Geist bezeichnet das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus. Mit dieser Fassung des Heiligen Geistes ist die Intention der protestantischen Lehrtradition aufge‐ nommen, ihn als theologische Beschreibung der Besonderheit des Glaubens im Unterschied zu anderen Weisen des menschlichen Weltumgangs zu verstehen. Doch anders als in den Pneumatologien des 20. Jahrhunderts ist er keine Voraussetzung und Grundlage des Glaubens. Theologische Konstruk‐ tionen des Gottesgeistes, die ihn als theologische Begründung des Glaubens postulieren, die unabhängig von ihm und ihm vorgängig ist (Eberhard Jüngel, Ingolf U. Dalferth), sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie dem Menschen absprechen müssen, den Heiligen Geist zu erkennen (vgl. oben 5.3.2.1). Wenn, um alle Mitwirkung des Menschen am Heilsgeschehen auszuschließen, es nur der Heilige Geist selbst sein kann, der sich erkennt, dann kann er vom Menschen nicht erkannt werden. Aus diesem Dilemma führt auch seine Bestimmung als Selbstgabe nicht hinaus (Walter Kasper, Wilfried Härle), da diese ebenfalls selbstbezüglich verstanden werden muss. Andernfalls wäre die Freiheit Gottes aufgehoben. 290 5 Gott und Glaube <?page no="291"?> Heiliger Geist als Geber und Gabe trinitari‐ sche Pneu‐ matologie So wenig der Heilige Geist eine Voraussetzung der christlichen Religion darstellt, die als Geber ihr vorgeordnet ist, ist er eine Gabe, die im Menschen angelegt ist. Eine solche Konstruktion des Heiligen Geistes vermag zwar ein Wissen des Menschen um ihn verständlich zu machen, indem er als religiöse Deutung verstanden wird. Allerdings bleibt er dann ein Bestandteil der Welt. Er wäre auch selbst unbestimmt. Da es beim Heiligen Geist um die Beson‐ derheit des Glaubens geht, reicht es nicht aus, ihn als unbestimmte Religion oder allgemeinen Transzendenzbezug zu verstehen, die im Subjekt bereits mitgegeben sind. Zudem stellt seine Bestimmung als religiöse Anlage ein bloßes Allgemeinheitspostulat dar, welches in einer pluralen Gesellschaft weder überzeugt noch sich überprüfen lässt (vgl. oben 4.1.3). Geber und Gabe, extra nos und in nos des Heiligen Geistes, bezeichnen keine Voraussetzungen. Sie sind Bestandteile seines Geschehens im Gelin‐ gen der christlich-religiösen Kommunikation. Als reflexive Beschreibung des Glaubens entstehen Geber und Gabe mit ihm zusammen. Zur Existenz kommt der Glaube, indem die religiös angeeignete Erinnerung an Jesus Christus von Menschen selbständig wieder religiös artikuliert und religiös gebraucht wird. Schon die lukanische Pfingstgeschichte verbindet die Aus‐ gießung des Heiligen Geistes damit, dass die Jünger zu reden beginnen (Apg 2,3f.). Sichtbare Wirklichkeit in der Kultur wird er in der wiederholenden Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation. Da diese aus dem Wechselverhältnis von Inhalt, Aneignung und Artikula‐ tion entsteht, muss ebenso wie Gott und Jesus Christus auch der Heilige Geist eine trinitarische Auslegung erhalten. Mit der Forderung einer trinitarischen Pneumatologie wird an die theo‐ logische Entwicklung im 20. Jahrhundert angeknüpft und diese weiterge‐ führt. Bereits Karl Barth hatte in seinem Vortrag Der Heilige Geist und das christliche Leben von 1929 den Heiligen Geist trinitarisch als Schöpfer, Ver‐ söhner und Erlöser expliziert und zur Beschreibung der reflexiven Struktur des Glaubensakts benutzt. In der Kirchlichen Dogmatik hat Barth indes diese Intention nicht aufgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg strukturierte Otto Weber in seiner Dogmatik aus den 1950er Jahren den Heiligen Geist unter Aufnahme der christologischen Ämterlehre (vgl. oben 5.2.3.3). Ähnli‐ che Überlegungen zu einer trinitarischen Pneumatologie finden sich bei Jürgen Moltmann und seinem Schüler Michael Welker. Doch beide verste‐ hen ebenso wie Weber den Heiligen Geist als eine dem Glauben vorgeord‐ nete theologische Begründung des Glaubens. Um die systematischen Pro‐ bleme, die sich aus einer solchen Konstruktion des Gottesgeistes ergeben, 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 291 <?page no="292"?> aufzulösen, ist der Heilige Geist auf das Selbstverhältnis der christlich-reli‐ giösen Kommunikation zu übertragen, dessen reflexive Struktur er in der christlichen Religion für diese darstellt. Für den Gottesgeist bedeutet das, dass er als Geber, Gabe und Glaube zu explizieren ist. Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion ent‐ steht in der christlich-religiösen Kommunikation aus sich selbst und hat seine Begründung, Geltung und Wahrheit in sich selbst. Der Heilige Geist, der sich als Voraussetzung der christlichen Religion mit dieser zusammen in der religiösen Artikulation der angeeigneten Erinnerung an Jesus Christus konstituiert, kommt von sich, durch sich und als er selbst. Er ist der Geber der Erinnerung an Jesus Christus, ihre Gabe und ihre Wirklichkeit im Glauben. Die trinitarische Struktur des Heiligen Geistes ist nicht gegen‐ ständlich zu verstehen. Sie strukturiert die artikulierende Wiederholung der christlich-religiösen Kommunikation unter dem Gesichtspunkt ihres Funk‐ tionierens. Der Heilige Geist erinnert an Jesus Christus, und er ist abhängig von der Erinnerung an ihn, die in der Kultur kommunikativ weitergegeben wird. Ohne sie gibt es weder die christliche Religion noch den Heiligen Geist. Ihr Geber ist der Heilige Geist. Aber als Geber der Erinnerung an Jesus Christus konstituiert er sich allein im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation, welches gerade nicht aus der kommunizierten Erinnerung an Jesus Christus abgeleitet werden kann. Was der Heilige Geist als Geber gibt, ist die Erinnerung an Jesus Christus. Die Gabe ist die christliche Religion selbst. Sie konstituiert sich in ihrer Aneignung. Mit ihr entstehen erst Geber und Gabe, das extra nos und in nos des Geistes. So ist die Gabe zwar auf den Geber bezogen, ihm gegenüber aber ein eigenständiges Moment des Heiligen Geistes. Zur Existenz kommt er allein in der symbolproduktiven Artikulation der Erinnerung an Jesus Christus. Als ihre wiederholende Wiederaufnahme ist diese ihre schöpferi‐ sche Neuschaffung, die Menschen im religiösen Gebrauch von ihr in der Kommunikation machen. Den gelingenden symbolproduktiven Umgang mit der Erinnerung an Jesus Christus repräsentiert in der christlichen Religion der Heilige Geist als Glaube. Als Geber, Gabe und Glaube stellt der Heilige Geist den Glauben als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion in seinem durch‐ sichtigen Funktionieren im religiösen Gebrauch von Inhalten in der Kom‐ munikation dar. Er verweist weder auf eine Substanz noch auf ein religiöses Subjekt außerhalb der christlich-religiösen Kommunikation, sondern auf diese als ein selbstbezügliches, strukturiertes und sich als Religion wissen‐ 292 5 Gott und Glaube <?page no="293"?> des Geschehen. Glaube entsteht unableitbar in der gelingenden religiösen Artikulation der angeeigneten Erinnerung an Jesus Christus, und er symbo‐ lisiert mit dem Heiligen Geist sich selbst als produktiven Umgang mit ihr. Christlich-religiöse Kommunikation ist Kommunikation im Heiligen Geist. Mit ihm stellt sie ihre Lebendigkeit dar, die darin besteht, dass sie nur dann sie selbst bleibt, wenn sie sich verändert und jeweils neu wird. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 1949, 279-285. Karl Barth: Der heilige Geist und das christliche Leben, in: ders./ H. Barth: Zur Lehre vom heiligen Geist, München 1930, 39-105. Ingolf U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 160-236. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 186-194. Gerhard Ebeling: Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959, 118-133. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 360-386. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992, 512-514. Jürgen Moltmann: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-2, Berlin (Ost), 1977, 260-291. Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 7 2022. 5.3.3.2 Der Heilige Geist als Erinnerung an Jesus Christus Der Heilige Geist erinnert an Jesus Christus. So jedenfalls inszeniert ihn das Narrativ des Johannesevangeliums ( Joh 14,26). Wenn es aber die Funktion des Heiligen Geistes ist, Erinnerung an Jesus Christus zu sein, dann ist an seiner christologisch-soteriologischen Bestimmung festzuhalten. Er ist der Geist Jesu Christi. Versuche, den Gottesgeist von der Christologie abzulösen, ihn schöpfungstheologisch oder eschatologisch zu fundieren, um sein uni‐ versales Wirken zu postulieren, sind zurückzuweisen. Solche Konstruktio‐ nen der Pneumatologie bleiben nicht nur bloße Behauptungen, die sich nicht überprüfen lassen, sie führen auch dazu, dass der Heilige Geist unbestimmt wird und seine Konturen einbüßt (vgl. oben 5.3.2.2). Dadurch verliert er seine 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 293 <?page no="294"?> Neuschaf‐ fung der Er‐ innerung an Jesus Christus Erinnerung Funktion für die christliche Religion. Auf seiner christologischen Bindung ist ebenso wie auf seiner notwendigen Funktion für den Glauben als sym‐ bolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion zu beharren, ohne die diese nicht als eigenständige Religion funktionieren könnte. Wie im letzten Abschnitt ausgeführt, stellt der Heilige Geist in ihr dar, dass sie allein in der wiederholenden Artikulation der angeeigneten Erinnerung an Jesus Chris‐ tus in der Kultur zur Wirklichkeit gelangt. Da die wiederholende Wieder‐ aufnahme die Erinnerung symbolproduktiv transformiert, ist der Heilige Geist nicht einfach der Vollstrecker Jesu Christi in der Geschichte oder seine Dublette. Als spiritus creator ist er die schöpferische Verlebendigung und Neuschaffung der Erinnerung an Jesus Christus. In ihrer permanenten Neu‐ beschreibung besteht die christliche Religion in der Geschichte, und in ihr hat sie ihre *Subsistenz. Beide Dimensionen, die Abhängigkeit der christli‐ chen Religion von der Erinnerung an Jesus Christus sowie ihre Transfor‐ mation in der Artikulation, sind in der Bestimmung des Heiligen Geistes, an Jesus Christus zu erinnern, aufgenommen und zusammengebunden. Wie erinnert der Heilige Geist an Jesus Christus, und was ist Erinnerung? Sie ist zunächst ein soziales Phänomen. Das gilt auch für die religiöse Erin‐ nerung an Jesus Christus, die der Heilige Geist ist. Ohne Sozialität und Kommunikation ist sie nicht möglich. Auch als individuelle hängt sie an einer Erinnerungsgemeinschaft, welche die Erinnerung an Jesus Christus lebendig hält und religiös versteht. Eine solche Erinnerungsgemeinschaft ist die Kirche, die einen notwendigen Bestandteil der Pneumatologie bildet. Sie gibt die religiöse Erinnerung an Jesus Christus in der Geschichte als Religion weiter (vgl. unten 6.1.3). Sodann ist Erinnerung die Gegenwart eines Ver‐ gangenen. Sie bezieht sich auf etwas zeitlich Vorangegangenes und lässt es im Gedächtnis anwesend sein. Es ist nicht das Vergangene selbst, das im Gedächtnis gegenwärtig ist, sondern sein Erinnerungsbild. Erinnerung ist nur als imaginatio (Einbildungskraft), als Bildwerdung und damit als Pro‐ duktion möglich. In ihr überlagern sich Abhängigkeit von der Vergangenheit und Produktion der Vergangenheit, memoria und imaginatio. Was bedeutet das für die Erinnerung? Ist sie Realität oder Fiktion? Man kann Erinnerung, da sie von der Vergangenheit abhängig ist, als Einschreibung, Eindruck, Affekt oder Trauma verstehen, die selbst nicht hergestellt sind. Im Abdruck ist die Referenz auf ein Anderes der Erinnerung enthalten, welches im Gedächtnis seine Spur hinterlassen hat (Paul Ricœur [1913-2005]). Diese stiftet im Gedächtnis Kontinuität zwischen Vergangen‐ heit und Gegenwart im Erinnern. In diesem Falle ist Erinnerungsarbeit die 294 5 Gott und Glaube <?page no="295"?> Gedächtnis und Spur religiöse Er‐ innerung Freilegung einer Spur, die sich in das Gedächtnis eingeschrieben hat. Sie, die Erinnerung, besteht in der Rekonstruktion des Vergangenen, wobei die Spur deren Repräsentation im Erinnern ermöglicht. Versteht man Erinnerung als Repräsentation beziehungsweise Abbildung des Vergangenen, dann unter‐ stellt man seine Kontinuität im Gedächtnis. Nur indem die Spur präsent bleibt, bewahrt sie das Erinnerte, welches sie repräsentiert, im Prozess des Erinnerns auf. Doch Spur ist ein Zeichen oder Medium nur dann, wenn man weiß, wofür sie dies ist. Damit ist die für Erinnerung signifikante Asymme‐ trie ausgeschlossen. Erinnern setzt Vergessen und damit Diskontinuität vor‐ aus, so dass es nicht ausreicht, es als Rekonstruktion einer gegebenen Spur zu verstehen. Fraglich ist nicht nur, ob man Erinnerung überhaupt als Re‐ präsentation erfassen kann, sondern auch die Anwendung dieses Modell auf die religiöse Erinnerung. Wenn es kein Erinnern ohne Vergessen gibt, Diskontinuität mithin für Erinnerung konstitutiv ist, dann lässt sich diese nicht im Rahmen eines repräsentationstheoretischen Bedeutungsmodells angemessen beschreiben. Mit der zeitlichen Ausdehnung ändern sich die Kontexte und mit ihnen die Bedeutungen des im Erinnern Erinnerten. Erinnerung ist an Medien gebunden. Ohne Medien wie Kommunikation oder Zeichen gibt es keine Erinnerungsspuren. Aber nichts ist an sich Medium oder Spur. Sie werden es erst im Gebrauch in sich ändernden Kontexten. Indem sich die Kontexte des Zeichengebrauchs verändern, wandeln sich die Bedeutungen des Erin‐ nerten, kommen neue Bedeutungen hinzu, die in früheren Kontexten nicht vorgesehen oder intendiert waren. Erinnerung ist ein unabschließbarer, spannungsvoller Prozess. Die Erinnerung an Jesus Christus, die der Heilige Geist in der christlichen Religion ist, lässt sich weder als Rekonstruktion einer abgeschlossenen Ver‐ gangenheit noch als Repräsentation einer ihr vorgegebenen und von ihr unabhängigen Sache oder Person verstehen. Das religiöse Gedächtnis bildet nicht einfach Jesus Christus ab, wie er wirklich war. Wäre dies der Fall, dann würde es sich nicht von historischen oder anderen Formen der Erinnerung unterscheiden. Erinnerung ist nicht per se Religion. Und ebenso wenig ist diese ein Wissen von Geschichte. Der religiösen Erinnerung an Jesus Chris‐ tus liegen auch keine Gedächtnisspuren in Form einer religiösen Anlage zugrunde, die es im Menschen bereits gibt und die lediglich freigelegt oder erschlossen werden müssten (Rudolf Hermann [1887-1962]). Als Religion entsteht die religiöse Erinnerung an Jesus Christus in der christlichen Reli‐ gion, und sie bezieht sich auf sich selbst, nicht aber auf eine Wirklichkeit 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 295 <?page no="296"?> außerhalb der christlich-religiösen Kommunikation. Indem die religiöse Er‐ innerung an Jesus Christus selbstbezüglich ist, lässt sie Abwesendes anwe‐ send sein. Sie bezieht sich auf Vergangenheit, da sie von der Erinnerung an Jesus Christus abhängig ist. Gleichwohl ist die christliche Religion nicht aus der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus und ihren inhaltlichen Be‐ standteilen ableitbar. Zwischen dieser und ihrem religiösen Gebrauch, den Menschen von ihr machen, besteht ein Hiatus. Erinnerung setzt einen Bruch voraus. Für das Erinnern sind Asymmetrien und Diskontinuität konstitutiv. Sie machen erst verständlich, dass das Erinnerte im Erinnern neue Bedeu‐ tungen und Funktionen annehmen kann, die sich von den ursprünglichen Kontexten unterscheiden und gar mit ihnen brechen können. Der an Jesus Christus erinnernde Heilige Geist, so zeigt sich, lässt sich nicht im Rahmen eines repräsentationstheoretischen Bedeutungsmodells erfassen. Obwohl sich Erinnerung auf Vergangenes bezieht, geht es in der religiösen Erinnerung an Jesus Christus gerade nicht um die Mitteilung von Informationen über die Geschichte des Mannes aus Nazareth. Wo der Heilige Geist zur Wirklichkeit kommt, entsteht eine neue und andere Sicht der Welt und eine Transformation des Menschen, nämlich der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion. Mit dem Gottes‐ geist stellt diese sich selbst und ihr durchsichtiges Funktionieren als Religion dar. Er beschreibt in der christlichen Religion ihre Abhängigkeit von einer bestimmten Geschichte und ihrer an Medien gebundenen kommunikativen Weitergabe in einer religiösen Gemeinschaft, die in der produktiven reli‐ giösen Artikulation dieser angeeigneten Geschichte erst als Erinnerung an Jesus Christus als Religion entsteht. Diese Einheit von Abhängigkeit und Transformation des Erinnerten, welche die christliche Religion selbst ist, symbolisiert sie mit dem Heiligen Geist. In ihm ist Jesus Christus als Abwesender anwesend. Die religiöse Erinnerung an ihn ist also nichts, was gleichsam fertig vorliegt, sondern sie entspringt in der Artikulation, die den religiösen Sinn bezeichnet, den sie selbst in ihrer wiederholenden Wiederaufnahme herstellt und bezeichnet. L IT E R ATU R : Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Iden‐ tität in den frühen Hochkulturen, München 7 2013. Christian Danz: Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der Erinnerung an Jesus Christus. Über Religion Gedächtniskultur, in: ders. (Hrsg.): Medien - 296 5 Gott und Glaube <?page no="297"?> Erinnerung - Affekte. Dimensionen einer Theologie der Kultur, Tübingen 2024, 161-175. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 6 2019. Rudolf Hermann: Der erinnerte Christus, in: ders.: Bibel und Hermeneutik (= Gesammelte und nachgelassene Werke, Bd. 3), hrsg. v. Gerhard Krause, Göttingen 1971, 216-223. Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. Philipp Stoellger: Bild, Pathos und Vergebung. Ricœurs Phänomenologie der Erinnerung und ihr bildtheoretischer Untergrund (mit Blick auf G. Didi-Huber‐ man), in: Burkhard Liebsch (Hrsg.): Bezeugte Vergangenheit oder versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Berlin 2010, 179-213. Philipp Stoellger: Glaube als Geschichte - Religion als Gedächtnis. Vom Nutzen und Vorteil der Historie für den Glauben, in: EvTh 69 (2009), 209-224. Mirko Wischke: Asymmetrien der Erinnerung. Ricœur über die Zeitlichkeit des Verstehens, in: Burkhard Liebsch (Hrsg.): Bezeugte Vergangenheit oder versöh‐ nendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Berlin 2010, 77-89. 5.3.3.3 Der Heilige Geist als Identität und Kontinuität der christlichen Religion Mit dem Heiligen Geist stellt der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion sich als abhängig von der in der Kultur weitergege‐ benen Erinnerung an Jesus Christus dar, die von Menschen transformierend angeeignet und symbolisch artikuliert werden muss, damit er, der Glaube, zur Existenz kommt. Wie jede Identität so hängt auch die der christlichen Religion an der Erinnerung. Eben weil ihre Identität eine geschichtlich gewordene ist, kann sie weder begrifflich konstruiert noch aus einem Prinzip oder einer Idee abgeleitet werden. Die christliche Religion bezieht sich auf einen Namen, auf Jesus Christus. Indem der Heilige Geist ihn erinnert, konstituiert er ihre Identität und Kontinuität in der Geschichte. Beide werden in der Pneumatologie thematisch. Es ist also nicht schon die Christologie, in der es um Identität und Kontinuität der christlichen Religion geht. Sie beschreibt, wie das Subjekt des Glaubens in seiner Aneignung entsteht (vgl. oben 5.2.3). Zwar ist die christliche Religion das, was sie ist, allein durch ihren Bezug auf Jesus Christus, aber ihr Ursprung ist er allein in ihr. In seiner symbolproduktiven Artikulation, also im Heiligen 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 297 <?page no="298"?> Identität der christli‐ chen Reli‐ gion Geist, ist Jesus Christus Grund und Anfang der christlichen Religion. Zur Wirklichkeit kommt er als Christus praesens (gegenwärtiger Christus) im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an ihn, die mit ihm in die Geschichte eingetreten ist. Der christlichen Religion liegt folglich weder ein gegebener Urspruch noch eine Substanz oder ein Rezipient zugrunde, die ihre Identität und Kontinuität begründen (vgl. oben 5.3.2.3). Sie werden in der wiederholenden Artikulation der angeeigneten Erinnerung an Jesus Christus erst hergestellt und entstehen als Effekt des Funktionierens der christlich-religiösen Kommunikation in dem triadischen Wechselverhältnis von Geber, Gabe und Glaube im Heiligen Geist. Der Heilige Geist symbolisiert in der christlichen Religion, wie Identität und Kontinuität in der Artikulation der christlich-religiösen Kommunika‐ tion der Erinnerung an Jesus Christus hergestellt werden. Ihre Identität ist keine Gegebenheit, die schon vorliegt und einfach nur aufgenommen und weitergeführt werden müsste. Sie entsteht in der wiederholenden Artiku‐ lation, die als Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus ihre Trans‐ formation, Variation und Innovation ist. Indem Menschen die christlich-re‐ ligiöse Kommunikation als Religion aufnehmen und zur Artikulation religiösen Sinnes benutzen, den sie mit ihrer Kommunikation meinen, iden‐ tifizieren sie sich mit ihr und stellen her, was sie bezeichnen. Entstehen kann die christliche Religion nur durch Identifizierung, durch die der religiöse Sinn der Kommunikation von anderen Formen des Sinns unterschieden wird. Doch dieser Prozess der Herstellung der Identität der christlichen Re‐ ligion ist und bleibt grundsätzlich instabil. Er ist an die wiederholende Wie‐ deraufnahme der Erinnerung an Jesus Christus gebunden, die, um fortge‐ setzt werden zu können, einen Hiatus überbrücken muss. Jede Iteration der christlich-religiösen Kommunikation, die kontingent ist, ist ihre produktive Neuschaffung, in der allein sie ihre *Subsistenz hat. Ein substantielles Verständnis der Identität der christlichen Religion greift, wie deutlich geworden ist, erheblich zu kurz. Es ist nicht nur ungeschichtlich, da es einen invarianten Kern postuliert, der den sich wandelnden Formen, in denen sich das Christentum in der Geschichte darstellt, zugrunde liegt. Es folgt auch einem repräsentationstheoretischen Bedeutungsmodell. Wenn jedoch nur geschichtlich wandelbare Formen zugänglich sind, wie will man von diesen dann einen substantiellen Kern unterscheiden? Er ist stets eine geschichtlich bedingte Konstruktion. Jede Unterscheidung von Kern und Schale ist ein Konstrukt der Theologie, um die Identität der christlichen Religion im Wandel der Zeit verständlich zu 298 5 Gott und Glaube <?page no="299"?> Kontinuität der christli‐ chen Reli‐ gion machen und zu begründen. Doch denjenigen, die diese praktizieren, den Glaubenden, ist diese Unterscheidung gar nicht zugänglich. Demgegenüber gilt es, theologisch zu beschreiben, wie die Identität der christlichen Religion in der Sicht der Glaubenden in der wiederholenden kommunikativen Wie‐ deraufnahme der Erinnerung an Jesus Christus hergestellt wird. Genau das erfolgt in der Pneumatologie. Der Heilige Geist ist keine Substanz hinter den sich wandelnden Bildern und Zeichen, in denen die christliche Religion kommuniziert wird. Er beschreibt in ihr, wie ihre Identität durchsichtig in der symbolischen Artikulation der christlich-religiösen Kommunikation entsteht. Wenn diese sich in dieser Iteration der Erinnerung an Jesus Christus konstituiert, diese zugleich ihre Alterierung ist, dann wandelt sich die christliche Religion in der Geschichte im Ganzen, einschließlich ihres Selbstverständnisses als Religion. In ihrer symbolischen Artikulation und Identifizierung stellt sich somit das Christentum als Religion jeweils neu her. Ihre Identität ist folglich eine dynamische, die als ipse und nicht als item zu verstehen ist (Paul Ricœur). Indem die Identität der christlichen Religion zusammen mit dieser in der christlich-religiösen Kommunikation entspringt, kann auch ihre Kontinuität nicht als Gegebenheit oder in einer Ursprungserfahrung fundiert verstanden werden, die es irgendwie bereits gibt und die ihre Implikationen in einer Überlieferungsgeschichte entfaltet (Wolfhart Pannenberg). So wenig die Kontinuität der christlichen Religion in der Explikation dessen besteht, was in ihrem Ursprung angelegt ist, so wenig ist es der Eindruck der Person Jesu Christi, sein Totaleindruck (Friedrich Schleiermacher) oder ein Transzen‐ denzeinbruch in ihm ( Jörg Lauster [geb. 1966]), der ihre Beständigkeit stiftet, indem der Ursprung oder Totaleindruck an Überlieferung gebunden durch die Geschichte transportiert wird. Es ist auch nicht die Rezeption des erin‐ nerten Jesus Christus, welche die Kontinuität der christlichen Religion be‐ gründet. Diese entsteht im Heiligen Geist, dem Wechselverhältnis von Ge‐ ber, Gabe und Glaube und lässt sich nicht auf eines seiner Momente zurückführen. Begründungen ihrer Kontinuität, die sie durch den Geber, die Gabe oder den Glauben fundieren, lösen nicht nur das komplexe Wechsel‐ verhältnis auf, durch das der Heilige Geist zur Existenz kommt, sie hypos‐ tasieren auch eines seiner Elemente zu einer Voraussetzung. Geber, Gabe und Glaube sind keine Voraussetzungen der christlichen Religion, sondern ihre Bestandteile. Sie beschreiben in ihr, wie sie sich in der wiederholenden Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation durchsichtig als Religion konstituiert und weitergegeben wird. Ihre Konti‐ 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 299 <?page no="300"?> Identität und Selbst‐ beschrei‐ bung nuität hängt an der funktionierenden christlich-religiösen Kommunikation, dem Heiligen Geist als wiederholender Artikulation der angeeigneten Er‐ innerung an Jesus Christus. In der Kommunikation kann die christliche Re‐ ligion jedoch nur fortgesetzt werden, wenn sie sich in der Kultur verkörpert und materialisiert. Hierzu muss sie sichtbar werden. Im Prozess der wiederholenden Artikulation transformiert sich fortlau‐ fend die Identität der christlichen Religion. Ihre symbolische Artikulation ist ihre Neuschaffung. Es werden nicht nur neue Inhalte in die christlich-re‐ ligiöse Kommunikation einbezogen, es wandeln sich mit den sich verän‐ dernden kulturellen Kontexten auch Funktion und Bedeutung der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Durch ihren Bezug auf diese Erinnerung bleibt die christliche Religion erkennbar. Das setzt Medien, also Verkörperungen voraus, die sichtbar sind. Ohne sie gibt es weder den Heiligen Geist noch eine Erinnerung an Jesus Christus. Identifizierbar und erkennbar sind beide lediglich durch ein bestimmtes Korpus an Texten, nämlich den biblischen Kanon, der in der Kommunikation benutzt wird (vgl. unten 6.2). Doch die Bibel ist nicht von sich aus ein Medium des Heiligen Geistes. Zu einem sol‐ chen wird sie ebenso wie andere Medien der christlichen Religion allein im christlich-religiösen Gebrauch, der von ihr in ihr gemacht wird. Medien des Heiligen Geistes entstehen zusammen mit ihm in der christlichen Religion (vgl. unten 6.3). Aber diese, so notwendig die inhaltlich bestimmten Narra‐ tive der Erinnerung an Jesus Christus für ihre Erkennbarkeit sind, hängt nicht an den Inhalten dieser Texte. Die christliche Religion besteht im reli‐ giösen Sinn, der in der Artikulation mit den biblischen Texten gemeint ist. Religion ist kein Wissen von Inhalten, sondern die religiöse Benutzung von Inhalten in der Kommunikation. Religiöser Sinn liegt auch nicht einfach vor, so dass er vom Heiligen Geist transportiert werden könnte. Religiösen Sinn stellt die christlich-religiöse Kommunikation her, indem sie ihn bezeichnet. In diesem performativen Geschehen der Selbstbeschreibung konstituieren sich Identität und Kontinuität der christlichen Religion in der wiederholen‐ den Artikulation. Identität und Kontinuität der christlichen Religion werden in der christ‐ lich-religiösen Kommunikation jeweils neu hergestellt, indem die Erinne‐ rung an Jesus Christus von Menschen transformierend aufgenommen und symbolisch in der Kultur artikuliert wird. Es sind diejenigen, welche die christliche Religion praktizieren und ihre Neubeschreibungen der Erinne‐ rung an Jesus Christus als ihre zeitgemäße Weiterführung verstehen, die über deren Identität und Kontinuität entscheiden. Beides entsteht durch 300 5 Gott und Glaube <?page no="301"?> Kriterium der Christ‐ lichkeit ihre Fortsetzung und Fortschreibung in der christlich-religiösen Kommuni‐ kation. In ihr werden neue Deutungen und Bedeutungen in die Kommunika‐ tion der Erinnerung an Jesus Christus aufgenommen, an sie angeknüpft und als gegenwärtig angemessener Ausdruck von ihr verstanden. Das erfolgt nicht nur in sich wandelnden kulturellen Kontexten, die stets mit darüber entscheiden, was ein plausibles gegenwärtiges Verständnis der christlichen Religion ist und was nicht, sondern auch in sozialen Aushandlungsprozes‐ sen. Deutlich ist, dass das Kriterium der Christlichkeit ihrer diversen Fort‐ schreibungen nicht nur auf der Inhaltsebene liegen kann, sondern im durch‐ sichtigen religiösen Funktionieren der Erinnerung an Jesus Christus. Genau das symbolisiert der Heilige Geist in der christlichen Religion. Er beschreibt ihre Symbolproduktivität, ihr Wissen, in der Transformation der angeeig‐ neten Erinnerung an Jesus Christus ihre Lebendigkeit zu haben. Nicht zu Unrecht hatte bereits die dogmatische Lehrtradition mit dem Heiligen Geist sowohl die Dimension der Verflüssigung beziehungsweise eines Überschus‐ ses über den Buchstaben (2Kor 3,6) als auch die Kraft der Unterscheidung (1Kor 12,10) verbunden. Er scheidet die Geister und hält die christliche Re‐ ligion lebendig. Gegenwärtig ist er, wo die christlich-religiöse Kommunika‐ tion in der symbolproduktiven Artikulation gelingt, im Neu- und Anders‐ erzählen der Erinnerung an Jesus Christus. Im Heiligen Geist kommt die christliche Religion in der Geschichte zur sichtbaren Wirklichkeit. Die dogmatische Pneumatologie thematisiert ihre Identität und Kontinuität in ihrer geschichtlichen Realisierung vor dem Hintergrund sich wandelnder kultureller und gesellschaftlicher Kon‐ texte. Darin ist sie von der Gotteslehre und der Christologie unterschieden und bildet ein eigenes Strukturelement des Glaubens. Ihre wiederholende Wiederaufnahme in der Geschichte ist ein notwendiger Bestandteil der christlichen Religion. Sie geschieht im Heiligen Geist und wird von ihm in der Kultur weitergegeben. Mit seinen drei Momenten Geber, Gabe und Glaube ist zugleich ein Leitfaden gegeben, durch den die Verwirklichung des Glaubens in der Geschichte, um die es im abschließenden sechsten Abschnitt gegen soll, strukturiert werden kann. L IT E R ATU R : Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2 2004. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 11 2021, 257-303. 5.3 Gott, Mensch und Geschichte: Der Heilige Geist 301 <?page no="302"?> Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 194-203. Gerhard Ebeling: Heiliger Geist und Zeitgeist. Identität und Wandel in der Kirchengeschichte, in: ZThK 87 (1990), 185-205. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darm‐ stadt 2005. Michael Moxter: Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheolo‐ gie, Tübingen 2000, 382-409. Wolfhart Pannenberg: Hermeneutik und Universalgeschichte, in: ders.: Grund‐ fragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 91-122. Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. 5.4 Der dreieinige Gott als Ereignis des Glaubens Gegenstand der Systematischen Theologie ist der Glaube als symbolproduk‐ tive Wirklichkeit der christlichen Religion. Ihn konstruiert sie als durch‐ sichtiges, selbstbezügliches und in sich strukturiertes Kommunikationsge‐ schehen (vgl. oben 4.3). Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten mit der Theologie, der Christologie sowie der Pneumatologie das triadi‐ sche Wechselverhältnis erläutert wurde, in und aus dem der Glaube in der christlich-religiösen Kommunikation entsteht, kann nun abschließend die Trinitätslehre als zusammenfassende Darstellung des Ereignisses des Glaubens erörtert werden. Diese ist keine spekulative oder metaphysische Theorie über ein Sein Gottes jenseits der christlich-religiösen Kommunika‐ tion. Vielmehr ist die Lehre vom dreieinigen Gott eine hermeneutische Theorie (Eberhard Jüngel, Ingolf U. Dalferth). In ihr stellt der Glaube sich selbst als in die Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus einge‐ bundenes hermeneutisches Geschehen dar. Der dreieinige Gott ist jedoch keine Voraussetzung des Glaubens, der, wie bei Eberhard Jüngel, Ingolf U. Dalferth und anderen Theologen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun‐ derts (vgl. oben 2.6.3), hinter der christlich-religiösen Kommunikation steht und sie begründet. Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist beschreiben das durchsichtige und selbstbezügliche Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation in dem Wechselverhältnis von Inhalt, Aneignung und Artikulation. Sie sind auch nicht lediglich Ausdruck einer zugrunde liegenden und im Menschen bereits gegebenen Religion, sondern Darstellung der Reflexivität ihrer eigenen Herstellung in der Kommunika‐ tion sowie ihrer Bindung an diese. 302 5 Gott und Glaube <?page no="303"?> trinitari‐ scher Gott Mit dem trinitarischen Gott, auf den sich die christliche Religion bezieht, beschreibt sie ihre Besonderheit als Religion. Gott kommt in ihr von Gott durch Gott als Gott. Als Religion ist sie abhängig von der Erinnerung an Jesus Christus, ihrer verstehenden religiösen Aneignung und ihrer religiö‐ sen Artikulation. In diesem Wechselverhältnis tritt sie ins Dasein und hat sie ihr Bestehen als eine eigene, von anderen unterschiedene Form der Kom‐ munikation in der Kultur. Jesus Christus sowie der Heilige Geist sind in der christlichen Religion keine Inhalte, die einem allgemeinen Gottesgedanken, der auch andere Religionen umfasst, hinzugefügt werden. Durch ihre Auf‐ nahme in den Gottesgedanken kommt es in ihr zu einer Neubestimmung Gottes sowie der Religion. Die Aneignung Gottes und seine symbolproduk‐ tive Artikulation sind Bestandteile des christlichen Gottesverständnisses, ohne die das durchsichtige Funktionieren der christlichen Religion nicht verständlich wird. Deshalb sind in ihr Jesus Christus und der Heilige Geist selbst Gott. Gott ist an die Erinnerung an Jesus Christus gebunden, die, um als Religion entstehen zu können, von Menschen religiös angeeignet und symbolproduktiv artikuliert und verkörpert werden muss. Religion und Gottesgedanke sind zusammengebunden. Die dogmatische Arbeit am trini‐ tarischen Gott ist stets Arbeit am Begriff der christlichen Religion und vice versa. Wenn die christliche Religion mit dem dreieinigen Gott die Besonderheit und Autonomie ihres Religionseins darstellt, dann kann es keinen allgemei‐ nen Gottesbegriff geben, der gleichsam hinter ihr steht und die diversen Religionen übergreift. Gottesvorstellungen, eben weil sie die Eigenart des Religionseins beschreiben, sind an die verschiedenen Religionen gebunden und lassen sich nicht von ihnen ablösen. Ein allgemeiner Gottesbegriff oder eine unbestimmte Transzendenz, wie sie die pluralistische Religions‐ theologie postuliert (vgl. oben 4.2.1), hebt unweigerlich die Besonderheit der geschichtlichen Religionen auf. Ebenso wie das christliche Verständnis von Gott kein allgemeines ist, ist es auch nicht einfach monotheistisch oder theistisch. In dieser Hinsicht sind die theologischen Debatten der 1970er Jahre über einen Gott jenseits von Theismus und Atheismus ( Jürgen Molt‐ mann, Eberhard Jüngel, Falk Wagner) aufzunehmen und ein trinitarisches Gottesverständnis auszuarbeiten. Es beschreibt indes keine Voraussetzung des Glaubens, wie in diesen Debatten, sondern dessen reflexive Struktur sowie seinen Ereignischarakter. Was die Trinitätslehre expliziert, ist die zirkuläre Struktur des hermeneutischen Geschehens des Glaubens, der mit 5.4 Der dreieinige Gott als Ereignis des Glaubens 303 <?page no="304"?> Grundle‐ gung der Trinitäts‐ lehre Ereignis des Glau‐ bens seinem Inhalt, dem dreieinigen Gott, zugleich entsteht und sich mit diesem auf sich selbst bezieht. Das hat Konsequenzen für die Grundlegung der Trinitätslehre. Sie erfolgt nicht, wie in der theologischen Lehrtradition, in der sogenannten imma‐ nenten Trinität. Alle Versuche, den trinitarischen Gott in seinen drei Per‐ sonen im Ausgang von den innertrinitarischen Ursprungsbeziehungen zu begründen, scheitern (vgl. oben 5.1.1.2). Gehen sie, wie in der ostkirchlichen Tradition, von Gott dem Vater als der Quelle der göttlichen Personen aus, dann lässt sich ihre Wesensgleichheit (lateinisch: homoousios) nicht mehr einsehen. Ursprungslos ist allein der Vater. Da er den Sohn zeugt und den Geist haucht, sind beide von ihm abhängig und ihm mithin subordiniert. Am eklatantesten zeigt sich diese Dependenz beim Heiligen Geist, der im Rah‐ men der immanenten Trinität rein passiv bestimmt ist (vgl. oben 5.3.1.2). Es ist aber nicht nur das homoousios, welches durch die Ursprungsrelationen konterkariert wird, es ist vor allem im Horizont der westlichen Tradition der Trinitätslehre der Heilige Geist, dessen eigenständiges Personsein nicht erreicht wird. Wird er in den Bahnen Augustins als Band der Liebe von Vater und Sohn und damit als Einheit beider verstanden, dann ist nicht mehr deutlich, wie er eine gegenüber beiden eigenständige Person sein kann. An‐ ders als Vater und Sohn ist der Heilige Geist dann keine Relation, sondern eine Relation der Relationen. Dadurch ist er jedoch Vater und Sohn überge‐ ordnet. Und kann von einer Trinität überhaupt die Rede sein, wenn der Hei‐ lige Geist lediglich die Einheit von Vater und Sohn ist? Grundlegen lässt sich eine Trinitätslehre allein im Ausgang von dem Ereignis des Glaubens. Mit diesem Zugang werden offenbarungstheologi‐ sche Konstruktionen der Trinitätslehre, wie sie im 20. Jahrhundert Karl Barth ausarbeitete, aufgenommen und weitergeführt. Sie stehen auch im Hintergrund der für die trinitätstheologischen Debatten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einflussreichen Formel des römisch-katholischen Theologen Karl Rahner. Ihm zufolge ist die immanente Trinität identisch mit der ökonomischen und vice versa. Doch anders als bei Rahner und den vielfältigen Aufnahmen, die seine Formel in der protestantischen Theologie von Jürgen Moltmann bis hin zu Christoph Schwöbel gefunden hat, fungiert die immanente Trinität nicht als ontologische Begründung der ökonomi‐ schen. Dadurch werden der dreieinige Gott und der Glaube wieder ausein‐ andergerissen und jener als Grundlage und Begründung von diesem ver‐ standen. Eine solche Konzeption bleibt aporetisch. Sie leistet nicht, was sie beansprucht, da sie über eine bloße Setzung einer Voraussetzung nicht hin‐ 304 5 Gott und Glaube <?page no="305"?> auskommt. Zudem macht sie den Glauben zu einem sekundären Werk, der zu dem trinitarischen Gott hinzu kommt. Wenn der dreieinige Gott nur im Glauben gegeben und erkennbar ist, dann ist dieser, obwohl er sekundär sein soll, doch wiederum notwendig. Dem Projektionseinwand, das sollte deut‐ lich sein, entgeht man mit dieser Begründung des dreieinigen Gottes gerade nicht (vgl. oben 5.1.2.1). Zu einer methodisch kontrollierten Grundlegung des dreieinigen Gottes gelangt man nur dann, wenn man die Identität von immanenter und ökonomischer Trinität sensu stricto versteht und ihn auf die Reflexivität der christlich-religiösen Kommunikation bezieht. Beide lösen sich dadurch nicht ineinander auf. Gleichwohl steht Gottes an-sich-Sein nicht hinter seinem für-uns-Sein. Es ist in diesem offenbar. Sein für-uns-Sein, die ökonomische Trinität, ist Bestandteil seines absoluten Selbstverhältnisses. Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist explizieren das Ereignis des Glaubens als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion. Sie sind eigene unreduzierbare Elemente in dem Wechselverhältnis, aus dem der Glaube besteht, und konstituieren sich zusammen mit ihm. Der dreieinige Gott kommt mit dem Glauben, der sich auf ihn bezieht und sich mit ihm darstellt, zugleich zur Wirklichkeit. Damit ist die Trinitätslehre in der Tat die Explikation desjenigen hermeneutischen Geschehens, welches der Glaube selbst ist. Seine eigene Wirklichkeit, die aus der Aneignung der Erinnerung an Jesus Christus und ihrer wiederholenden symbolproduktiven Artikulation unableitbar entspringt und an diese gebunden bleibt, stellt der Glaube mit dem dreieinigen Gott dar. Gott der Dreieinige kommt im durchsichtigen, selbstbezüglichen und in sich strukturierten Geschehen der christlich-religiösen Kommunikation zur Wirklichkeit. Sie hat ihre Begründung, Wahrheit und Geltung in sich selbst, so dass Gott in der christlichen Religion von Gott durch Gott als Gott kommt. L IT E R ATU R : Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/ 1, Zürich 8 1964, 311-514. Ingolf U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 160-236. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 6 1992, 505-514. Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 4 1986, 103-122. 5.4 Der dreieinige Gott als Ereignis des Glaubens 305 <?page no="306"?> Jürgen Moltmann: Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 2 1986. Michael Murrmann-Kahl: „Mysterium Trinitatis“? Fallstudien zur Trinitätslehre in der evangelischen Theologie des 20.-Jahrhunderts, Berlin/ New York 1997. Karl Rahner: Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, Bd.-2, hrsg. v. Johannes Feiner/ Magnus Löhrer, Einsiedeln 1967, 317-401. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-2, 514-532 (§§ 170-172). Christoph Schwöbel: Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens. Vier Thesen zur Bedeutung der Trinität in der christlichen Dogmatik, in: Mar‐ burger Jahrbuch Theologie, Bd. X: Trinität, hrsg. v. Wilfried Härle/ Reiner Preul, Marburg 1998, 129-154. Linn Marie Tondstad: God and Difference. The Trinity, Sexuality, and the Trans‐ formation of Finitude, New York 2016. Falk Wagner: Sozialethik als Theorie des Geistes, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 373-393. Folkart Wittekind: Dogmatik als Selbstbewusstsein gelebter Religion. Zur Mög‐ lichkeit theologiegeschichtlicher Beschreibung der reflexiven Transformation der Religion, in: Christian Danz/ Jörg Dierken/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, Frankfurt a.-M. 2005, 123-152. 306 5 Gott und Glaube <?page no="307"?> 6 Glaube und Geschichte Der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion stellt mit dem dreieinigen Gott, auf den er sich bezieht, sich selbst als ein in die christlich-religiöse Kommunikation eingebundenes durchsichtiges, selbstbezügliches und strukturiertes Verstehensgeschehen dar. Wenn es in diesem Abschnitt um Glaube und Geschichte geht, dann wird kein neues Thema angeschlagen. In den Fokus rückt nun die Realisierung der christlichen Religion, ihre Übertragung auf Einzelne, durch die sie sich in der Geschichte verwirklicht. Das erfolgt im Heiligen Geist. In ihm wird sie in der Kultur sichtbar wirklich und kann dadurch in ihr fortgesetzt werden. Der Heilige Geist ist ein in sich strukturiertes Geschehen (vgl. oben 5.3.3.1). Er entsteht mit der christlichen Religion zusammen als Geber, Gabe und Glaube. Mit der trinitarischen Struktur des Heiligen Geistes ist der Leitfaden benannt, der es erlaubt, die Verwirklichung der christlichen Religion zu gliedern. Ohne einen Geber, der die religiöse Erinnerung an Jesus Christus in der christlich-religiösen Kommunikation weitergibt, kann der Glaube nicht zur Existenz kommen. Die christliche Religion ist abhängig von Inhalten, die in der Kommunikation von einem Geber weitergegeben werden. Das obliegt der Kirche (vgl. unten 6.1). Sie entsteht in der christlich-religiösen Kommunikation und setzt sie als Religion fort. Da die Realisierung der christlichen Religion in der Kultur an ihrer religiösen Weitergabe hängt, bildet die Kirche einen notwendigen Bestandteil von ihr. Was die Kirche in ihrer christlich-religiösen Kommunikation weitergibt, ist die Gabe, nämlich die christliche Religion selbst. Jede Übermittlung der religiösen Erinnerung an Jesus Christus ist an Medien gebunden. Der Heilige Geist wirkt stets durch Medien. Jesus Christus und seine Medienkörper thematisiert die Dogmatik in ihrer Medientheorie, den media salutis (Heilsmittel) (vgl. unten 6.2). Medien der christlichen Religion liegen jedoch weder einfach vor noch sind alle Medien bereits religiös. Sie konstituieren sich als Medienkörper Christi im Heiligen Geist als Artikulation des Glaubens. Das ist der Gegen‐ stand der dogmatischen Lehre vom ordo salutis (Heilsaneignung) (vgl. unten 6.3). In der symbolproduktiven Artikulation der angeeigneten Erinnerung an Jesus Christus entsteht der Heilige Geist als Geber, Gabe und Glaube und mit ihm ein Subjekt des Glaubens. Ekklesiologie, media salutis und <?page no="308"?> ordo salutis strukturieren die Übertragung der christlichen Religion auf Einzelne in der Geschichte. Alle drei Momente des Heiligen Geistes haben keine gegenständliche Funktion. Sie beschreiben die reflexive Struktur der christlich-religiösen Kommunikation im Hinblick auf ihre Realisierung: ihr Wissen, in eine soziale Gemeinschaft eingebunden zu sein, die medienge‐ bunden die Erinnerung an Jesus Christus religiös in der Kommunikation weitergibt und die religiös angeeignet und symbolproduktiv artikuliert werden muss, damit sie als Religion wirklich werden kann. Zur Dimension der Realisierung des Glaubens als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion in der Geschichte gehört auch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen (vgl. unten 6.4). Sie thema‐ tisiert kein gegenständliches Wissen über jenseitige Dinge wie das Fortleben des Menschen nach seinem Tod oder das zukünftige Schicksal der Welt. Auch die Eschatologie hat eine reflexive Funktion für die christlich-religiöse Kommunikation. Während Ekklesiologie, media salutis und ordo salutis die Bedingungen ihrer Realisierung als Bestandteil der christlichen Religion be‐ schreiben, wird in der Lehre von den letzten Dingen diese selbst zum Thema. Das Eschaton bezieht sich auf die christlich-religiöse Kommunikation und ihre spannungsvolle Verwirklichung in der Geschichte. 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche Die Kirche bildet einen Bestandteil des Glaubensbekenntnisses. Es nennt sie zusammen mit dem Heiligen Geist. Sie entsteht im Gelingen der christ‐ lich-religiösen Kommunikation. Im Heiligen Geist wird die religiöse Kom‐ munikation der Erinnerung an Jesus Christus in der Geschichte wirklich und religiös in der Kommunikation weitergegeben (vgl. oben 5.3.3). Mit dem Entstehen der Kirche in der christlich-religiösen Kommunikation wird sie zu einer sichtbaren Wirklichkeit in der Kultur und zu einem Teil der Geschichte. Doch als Geschöpf des Heiligen Geistes ist die Kirche aus der Geschichte nicht ableitbar. Sie konstituiert sich unableitbar in der religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus. Aufgabe der dogmatischen Lehre von der Kirche ist es, die Funktion der religiösen Gemeinschaft für die christlich-religiöse Kommunikation zu beschreiben. Kirche ist ein notwendiger Bestandteil der Realisierung der christlichen Religion. Als Religion ist diese nicht nur von der Erinnerung an Jesus 308 6 Glaube und Geschichte <?page no="309"?> Christus abhängig, sondern auch von deren religiösem Gebrauch in einer religiösen Gemeinschaft, die sie symbolproduktiv in der Kommunikation übermittelt. Begriff, Wesen und Funktion der Kirche sind in der protestantischen Theologie umstritten. Seinen Grund hat das in der gegenständlichen Fas‐ sung des Kirchenverständnisses in der theologischen Lehrtradition sowie der Dogmatik des alten Luthertums. Mit den grundlegenden Bestimmungen der Ekklesiologie der altlutherischen Theologie ist einzusetzen (vgl. unten 6.1.1). Im zweiten Unterabschnitt werden exemplarische Problemfelder diskutiert, die mit einem gegenständlichen Kirchenverständnis im Luther‐ tum verbunden sind (vgl. unten 6.1.2). Vor dem Hintergrund sowohl der Problemfelder der Lehre von der Kirche als auch ihrer Fassung in der altlutherischen Dogmatik skizziert der abschließende dritte Unterabschnitt den Vorschlag, die Ekklesiologie im Rahmen einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation als reflexive Beschreibung von ihrer kommunikativen Weitergabe in der Geschichte auszuarbeiten (vgl. unten 6.1.3). 6.1.1 Grundbegriffe der dogmatischen Ekklesiologie des Luthertums Im Hintergrund der Ekklesiologie der altlutherischen Theologie steht die Kritik Martin Luthers an dem sakramentalen, hierarchischen Kirchenver‐ ständnis, das sich in der Alten Kirche herausgebildet hatte. In ihren Dogma‐ tiken behandeln die lutherischen Theologen die Kirche im Zusammenhang der media salutis im Anschluss an das Wort Gottes und die Sakramente (vgl. unten 6.2.1). Sie gehört zu den Heilsmitteln. Strukturiert ist das Lehrstück de ecclesia (über die Kirche) in den späteren dogmatischen Lehrbüchern in drei Hauptabschnitte. Aufbau der Lehre von der Kirche in der altlutherischen Dogma‐ tik 1. ecclesia stricte et late dicta (Kirche im engeren und weiteren Sinne) 2. ecclesia synthetica et repraesentativa (synthetische und repräsenta‐ tive Kirche) 3. ordo triplex hierarchicus (Lehre von den drei Ordnungen) 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 309 <?page no="310"?> Martin Lu‐ ther Dieser Aufbau der Lehre von der Kirche ist das Resultat eines komplexen Entwicklungsprozesses im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. Er steht nicht am Anfang der dogmatischen Ausarbeitung der Ekklesiologie. Im Folgenden werden drei Dimensionen des altlutherischen Kirchenbegriffs erörtert: das Wesen der Kirche, die Kennzeichen der Kirche und schließlich der ordo triplex hierarchicus. 6.1.1.1 Das Wesen der Kirche Die dogmatischen Ausarbeitungen der Lehre von der Kirche im alten Lu‐ thertum knüpfen an Martin Luthers Neuverständnis der Kirche an und bil‐ den es weiter. Für den Wittenberger Reformator besteht das eigentliche We‐ sen der Kirche darin, communio sanctorum (Gemeinschaft der Heiligen) zu sein. Er entnahm es der Bibel sowie dem Apostolikum. Anders als für die Lehrtradition ist die Gemeinschaft der Heiligen prinzipiell unsichtbar. Sie besteht in der inneren Gemeinschaft der Glaubenden mit Jesus Christus. Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche Mit der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche knüpft Martin Luther an die theologische Lehrtradition an. Augustin hatte das Problem, dass zu den Mitgliedern der Kirche auch Sünder und Böse gehören, durch eine Unterscheidung bearbeitet (vgl. oben 2.2). Zur geschichtlichen Gestalt der Kirche gehören Glaubende und Böse. Sie ist ein corpus permixtum (ein durchmischter Körper). Von ihr unterscheidet er die durch Gottes Vorherbestimmung (*Prädestination) Erwählten. Sie bilden die wahre Kirche, die im Reich Gottes von den Bösen geschieden wird. Luther nimmt diese Unterscheidung auf, gibt ihr allerdings eine andere Wendung. Sie basiert auf seinem Neuver‐ ständnis des christlichen Glaubens als einer Gabe, die Gott gibt (vgl. oben 2.3.1). Die wahre Kirche ist die Gemeinschaft der Glaubenden. Da der Glaube innerlich ist, ist er verborgen. Nur Gott, der in das Herz des Menschen blicken kann, kennt die wahren Glaubenden. Die unsicht‐ bare Kirche entsteht allein durch die äußere Verkündigung. Folglich ist die Gemeinschaft der Glaubenden ein Geschöpf des Evangeliums (lateinisch: creatura evangelii). So ist die unsichtbare Kirche zwar auf die sichtbare bezogen, aber beide sind nicht identisch. 310 6 Glaube und Geschichte <?page no="311"?> Wesen der Kirche Grundlage und Norm zur Bestimmung des theologischen Wesens der Kirche ist die communio sanctorum, die durch das an die Heilsmittel gebundene Wirken des Heiligen Geistes zustande kommt. Zwar ist diese Kirche an die sichtbare Verkündigung des Wortes Gottes und der Sakramente gebunden, aber sie fällt nicht mit dieser zusammen. Das eigentliche Wesen der Kirche, jene innerliche Gemeinschaft mit Jesus Christus, ist von der sichtbaren Kirche unterschieden. Von der altlutherischen Theologie wurde Luthers Neubestimmung der Kirche aufgenommen, allerdings in der Form, wie es von Philipp Melanchthon rezipiert wurde und in die lutherischen Bekennt‐ nisschriften Eingang gefunden hatte. Die dogmatische Bestimmung der Kirche in der Confessio Au‐ gustana (Art. VII) „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, dass da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allent‐ halben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht zun Ephesern am 4.: ‚Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung eures Berufs, ein Herr, ein Glaube, ein Tauf.‘“ (BSLK, 61) Zur Folge hatte das, dass die Spitze von Luthers Kirchenverständnis, die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche, in der dogmati‐ schen Lehrentwicklung zurücktrat. Damit wird die ecclesia auf die vom Wort Gottes Berufenen (lateinisch: coetus vocatorum) ausgedehnt, da, so der späte Melanchthon, die Kirche in der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente zur Erscheinung kommt. Hier knüpfte die dogmatische Ausarbeitung der Lehre von der Kirche an. Ausgangspunkt der theologischen Bestimmung des Wesens der Kirche in den altlutherischen Dogmatiken ist die communio sanctorum. Diese ist die Kirche, die im Glaubensbekenntnis gemeint und Gegenstand des Glaubens ist. Ebenso wie die anderen dogmatischen Lehrtopoi wird das Wesen der 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 311 <?page no="312"?> communio sanctorum Kirche in Form von Distinktionen erörtert und entfaltet. Es sind vor allem drei Unterscheidungen, die in der Lehre von der Kirche thematisiert werden, um ihr Wesen theologisch zu erfassen: ecclesia universalis et particularis (universale und partikulare Kirche), ecclesia stricte et late dicta (Kirche im engeren und weiteren Sinne) und ecclesia synthetica et repraesentativa (syn‐ thetische und repräsentative Kirche). Ihre Existenz verdankt die Gemeinschaft der Heiligen dem heiligenden Wirken des Heiligen Geistes (vgl. oben 5.3.1.1). Er eignet den Menschen durch die Heilsmedien Wort Gottes und Sakrament das von Jesus Chris‐ tus durch seinen Tod am Kreuz erworbene Heil zu. Diejenigen, die das ihnen angebotene Heil im Glauben ergreifen, bilden die Gemeinschaft der Heiligen, deren Haupt Jesus Christus ist. Aufgrund seines Erlösungswerks hat er die Gemeinschaft gestiftet, und er erhält sie im Glauben (vgl. oben 5.2.1.2). Durch den vom Heiligen Geist gewirkten Glauben sind diejenigen, welche die Gemeinde bilden, mit Christus sowie untereinander innerlich verbunden. Von dieser so konstituierten Gemeinschaft gilt, dass sie universal ist. Sie umfasst alle Lebenden und Toten. Während jene jedoch noch auf dem Weg zum ewigen Heil sind, haben diese es bereits erreicht. Hieraus resultiert die Unterscheidung zwischen der ecclesia militans (kämpfende Kirche) in der Zeit und der eccelsia triumphans (triumphierende Kirche) im Reich Gottes. Ihrem Wesen nach ist die Kirche die Gemeinschaft der Heiligen. Sie ist eine und universal. Ihr allein kommt Irrtumslosigkeit zu. Mit dem Wort Gottes ist sie im Besitz der Wahrheit, und ihr gilt die Verheißung, für alle Zeiten zu bestehen. Gebunden ist die communio sanctorum an die Verkün‐ digung des Wortes Gottes sowie die rechte Verwaltung der Sakramente. In ihnen manifestiert sich die Kirche sichtbar. Was jedoch in Erscheinung tritt, also die um das Wort Gottes sowie die Sakramente versammelte Gemeinde, ist nicht universal, sondern partikular. Dementsprechend unterscheiden die altlutherischen Dogmatiker zwischen einer allgemeinen und universalen Kirche (lateinisch: ecclesia universalis), nämlich der communio sanctorum, und partikularen Kirchen (lateinisch: ecclesia particularis). Letztere umfas‐ sen nicht nur die wahre Kirche der Gemeinschaft der Heiligen, sondern auch solche, die nicht glauben und die ihnen durch die Heilsmittel angebotene Gnade nicht ergriffen haben. Als biblische Begründung für diese Unter‐ scheidung gelten Mt 20,16 und 22,14. Partikular-Kirchen sind damit grund‐ sätzlich ein corpus permixtum. Ihr gehören sowohl Glaubende als auch Heuchler an. Äußerlich sind die wahren Glaubenden und die Nichtglaub‐ enden jedoch nicht zu unterscheiden. Nur Gott, der ins Herz der Menschen 312 6 Glaube und Geschichte <?page no="313"?> ecclesia stricte et late dicta ecclesia synthetica et reprae‐ sentativa sieht, kennt die communio sanctorum. Menschen ist diese Kenntnis grund‐ sätzlich entzogen, so dass es in der Geschichte in den Partikular-Kirchen sowohl Glaubende als auch Heuchler gibt, die erduldet werden müssen (Mt 13,25-30). Da die Partikular-Kirchen ein corpus permixtum sind, muss zwischen einer ecclesia stricte et late dicta (Kirche im eigentlichen und im weiteren Sinn) unterschieden werden. Erstere umfasst die wahren Glaubenden der Ge‐ meinschaft der Heiligen, letztere alle diejenigen, die einer bestimmten Kir‐ che angehören, also an deren Kultus teilnehmen und ein gemeinsames Be‐ kenntnis teilen. Mit der Unterscheidung zwischen einer Kirche im engeren und im weiteren Sinne nehmen die altlutherischen Theologen in ihrer Ek‐ klesiologie Luthers Differenzierung zwischen einer unsichtbaren und einer sichtbaren Kirche auf. Doch anders als bei dem Reformator ist diese Unter‐ scheidung nun an die sichtbare Kirche gebunden, in der die unsichtbare in Erscheinung tritt. Beide Kirchen verhalten sich zueinander wie zwei kon‐ zentrische Kreise mit unterschiedlichem Umfang. Die ecclesia stricte bildet eine Teilklasse derjenigen, die einer Partikular-Kirche angehören. Kirche im eigentlichen Sinne ist die Gemeinschaft der Heiligen beziehungsweise die Kirche im engeren Sinne. Von den sichtbaren Kirchen kann somit nicht im eigentlichen Sinne gesagt werden, dass sie Kirche sei, sondern lediglich *Synekdoche. Nur auf die Kirche im weiteren Sinne, also die Partikular-Kirchen, lässt sich die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Kirche anwenden, da die Kirche im engeren Sinne, die ecclesia stricte dicta, die eine ecclesia universalis und mithin wahre Kirche ist. Dem Irrtum können lediglich Partikular-Kirchen verfallen und nicht die ecclesia stricte dicta. Dass einer Partikular-Kirche das Prädikat der Wahrheit zukommt, kann, da die com‐ munio sanctorum unsichtbar ist, nicht an den Glaubenden liegen, die ihr angehören. Es fußt auf der Verkündigung des Wortes Gottes und den Sakramenten, den Kennzeichen der Kirche (vgl. unten 6.1.1.2). Neben der Unterscheidung von ecclesia stricte dicta und ecclesia late dicta nehmen die altlutherischen Theologen noch eine weitere Differenzierung im Kirchenbegriff vor. Mit Blick auf die sichtbaren Partikular-Kirchen un‐ terscheiden sie zwischen einer synthetischen und einer repräsentativen Kir‐ che (lateinisch: ecclesia synthetica et repraesentativa). Während erstere alle Glieder der sichtbaren Kirche umfasst, bezieht sich die repräsentative Kirche auf die Amtsträger beziehungsweise den Lehrstand. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht Martin Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 313 <?page no="314"?> aller Gläubigen sowie die auf sie aufbauende funktionale Unterscheidung zwischen Priestern und Laien. In der communio sanctorum sind zwar alle Priester, so dass es keinen Unterschied zwischen ihnen und Laien gibt. Doch geordnet kann die Weitergabe der christlichen Religion nur erfolgen, wenn nicht alle zugleich und durcheinander reden, sondern die Gemeinde sich einige auswählt, welche die Funktion der Verkündigung stellvertretend übernehmen. Diese Anschauung des Reformators erhält jedoch in der alt‐ lutherischen Ekklesiologie ein starkes hierarchisches Gefälle hin zu einer Pastorenkirche, welche die reine Lehre verwaltet. Über diese zu wachen, obliegt dem Lehrstand, nicht der synthetischen Kirche. Ihm kommt es zu, über theologische Streitfragen in einem Konzil zu beraten. Es einzuberufen, ist die Aufgabe der weltlichen Obrigkeit und nicht der Kirche. Universal ist ein solches Konzil (lateinisch: concilium generale sive universale), wenn meh‐ rere Partikular-Kirchen zusammenkommen. Grundlage der theologischen Entscheidungen dieses Konzils ist die Bibel als Heilige Schrift. Autorität kommt Konzilsbeschlüssen nur zu, wenn sie mit der Schrift übereinstimmen, doch in Glaubenssachen können sie keine absolut verbindliche haben. L IT E R ATU R : Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 429-444. Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 143- 148 (Martin Luther). 148-153 (lutherische Ekklesiologie). Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 264-268. 277-278. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 192-216 (Reformatoren). 371-374 (lutherische Ekklesiolo‐ gie). 421-423 (reformierte Ekklesiologie). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 342-354. Julius Köstlin: Art.: Kirche, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hrsg. v. Albert Hauck, Bd.-10, Leipzig 3 1901, 315-344. Ulrich Kühn: Art.: Kirche VI. Protestantische Kirchen. VI/ 1. Reformation und pro‐ testantische Orthodoxie, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-18, Berlin/ New York 1989, 262-267. Ulrich Kühn: Kirche. Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 10, Gütersloh 1980, 19-75. 314 6 Glaube und Geschichte <?page no="315"?> äußere Merkmale Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 427-445. 6.1.1.2 Die notae ecclesiae Einen Bestandteil der altlutherischen Ekklesiologie, der im Zusammenhang der theologischen Bestimmung des Wesens der Kirche behandelt wird, bil‐ den die sogenannten notae ecclesiae (Merkmale der Kirche). Diese entfalten das Wesen der Kirche und gehen auf die antike Lehrtradition zurück. Das Glaubensbekenntnis von Nizäa, das Symbolum Nicaenum, nennt vier Merk‐ male: die Kirche sei eine, heilige, katholische und apostolische (lateinisch: una, sancta, catholica et apostolica ecclesiam). Von der Reformation wurden diese Merkmale oder Kennzeichen der Kirche aufgenommen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche erhielten sie jedoch eine neue Bestimmung. Einerseits bezogen Martin Lu‐ ther und die altlutherischen Theologen die notae ecclesiae nicht mehr, wie in der dogmatischen Lehrtradition üblich, auf die sichtbare Kirche, sondern die unsichtbare. Von der communio sanctorum und nur von ihr gilt, dass sie una, sancta, catholica et apostolica sei. Andererseits ergänzen die altlutherischen Theologen im Anschluss an Luther diese notae durch Merkmale, die sie auf die sichtbare Kirche beziehen, die sogenannten notae externa (äußere Merkmale). Diese sind zwei, nämlich die reine Verkündigung des Wortes Gottes und die diesem entsprechende Verwaltung der beiden Sakramente Taufe und Abendmahl. Martin Luthers Bestimmung der äußeren Merkmale der Kirche in Von dem Papsttum zu Rom (1520) „Die Zeichen, an denen man äußerlich merken kann, wo diese Kirche [sc. die Gemeinschaft der Heiligen] in der Welt ist, sind Taufe, das Sakrament und das Evangelium, nicht aber Rom, dieser oder jener Ort. Denn wo Taufe und Evangelium sind, da soll niemand zweifeln, daß da auch Heilige sind, und sollten es gleich lauter Kinder in der Wiege sein.“ (Luther 1995, 31) In die äußeren Merkmale der sichtbaren Kirche sind die Heilsmittel Wort Gottes und Sakrament aufgenommen. Den media salutis, die mit den notae externa der Kirche verbunden werden, kommt eine gleichsam gegenständ‐ 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 315 <?page no="316"?> notae ecc‐ lesiae lich-objektive Realität zu. Wort Gottes und Sakramente sind nicht einfach nur Zeichen, sondern sie enthalten die res signata (bezeichnete Wirklich‐ keit), nämlich das von Jesus Christus durch seinen Tod erworbene Heil (vgl. unten 6.2.1.2). An den beiden Merkmalen Wort Gottes-Verkündigung und Sakramentsverwaltung erkennt man nicht nur die wahre sichtbare Kirche, die communio sanctorum, tritt auch mit ihnen in Erscheinung. Erst aus dieser gegenständlichen Fassung der notae externa ergibt sich die Konsequenz nulla salus extra ecclesiam (außerhalb der Kirche kein Heil). Zwar gehen die alt‐ lutherischen Theologen im Anschluss an Melanchthon davon aus, dass die lutherische Partikular-Kirche die wahre Kirche sei, doch das schließt nicht aus, dass es auch in anderen Partikular-Kirchen wahre Gläubige geben kann, die zur Gemeinschaft der Heiligen gehören. Obwohl diese Gemeinschaft nicht an eine bestimmte partikulare Konfessionskirche gebunden sei, ist sie doch außerhalb einer solchen, das heißt unabhängig von der Verkündigung des Wortes Gottes sowie der Austeilung der Sakramente, gerade nicht mög‐ lich. Auch die notae ecclesiae werden von den altlutherischen Theologen ge‐ genständlich verstanden. Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität beziehen sich auf die Gemeinschaft der Heiligen. Diese ist unsichtbar, aber real. Im Glauben ist die Gemeinschaft der Heiligen sowohl mit Jesus Christus als auch untereinander innerlich verbunden. Indem die notae ecclesiae diese universale Gemeinschaft beschreiben, entfalten sie das Wesen der Kirche. Sie ist eine einzige (una) Gemeinschaft, da sie allein im Glauben besteht, der die Einzelnen mit Jesus Christus sowie untereinander verbindet. Folglich hat die Gemeinschaft der Heiligen auch nur ein Haupt, Jesus Christus. Heilig (sancta) ist die Kirche, da der Glaube durch das heiligende Werk des Heiligen Geistes zustande kommt. Er beruft, sammelt, erleuchtet und erhält die Kirche im rechten Glauben, wie Martin Luther im Kleinen Katechismus formulierte (vgl. oben 5.3.1.2). Da alle Mitglieder der Gemeinschaft der Heiligen densel‐ ben Glauben bekennen, ist die Kirche catholica beziehungsweise universal und allgemein. Alle haben zu allen Zeiten und Orten denselben Glauben, der in ihnen vom Heiligen Geist gewirkt wurde. Und schließlich ist diese Kirche apostolisch (apostolica) da sie denselben Glauben bekennt, den bereits die Apostel verkündigt haben. Der Glaube ist das innere Band der communio sanctorum, welches die notae ecclesiae als das wahre Wesen der Kirche mit den vier Merkmalen beschreiben. Er ist gegenständlich gefasst, da er in der Aneignung des von Gott von Ewigkeit her beschlossenen Heils des Menschen besteht, welches 316 6 Glaube und Geschichte <?page no="317"?> der Sohn in der Zeit durch seine Sendung in der Erlösung verwirklicht hat und das der Heilige Geist dem Einzelnen zueignet. L IT E R ATU R : Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 429-444. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 115-119. Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 146- 148. Wilfried Härle: Art.: Kirche VII. Dogmatisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-18, Berlin/ New York 1989, 277-317. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 192-216 (Reformatoren). Martin Luther: Von dem Papsttum zu Rom, wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Karin Bornkamm/ Ger‐ hard Ebeling, Frankfurt a.M./ Leipzig 1995, 7-65. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 427-441. 6.1.1.3 Ordo triplex hierarchicus Der sogenannte ordo triplex hierarchicus (Lehre von den drei Ordnungen) ist in den altlutherischen Dogmatiken zumeist der Lehre von der syntheti‐ schen und repräsentativen Kirche (vgl. oben 6.1.1.1) vorangestellt. Er dient der näheren Bestimmung der ecclesia synthetica. Mit ihr bezeichnen die lutherischen Theologen die sichtbare Kirche. Einerseits sind alle Mitglie‐ der der Kirche Glieder von dieser und in dieser Hinsicht gleich. Doch andererseits haben sie unterschiedliche Berufe, sie differieren durch die sozialen Ordnungen, denen sie in der Zeit angehören. In der Lehre von den drei Ordnungen geht es somit um die Sozialstruktur der Kirche in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Mit ihr knüpft die altlutherische Ekklesiologie an Martin Luthers Unterscheidung von den drei Ständen des Priesters, der Ehe und der weltlichen Obrigkeit an und differenziert zwischen status ecclesiasticus (Lehrstand), magistratus politicus (weltliche Obrigkeit) und status oeconomicus (Haushaltsstand). 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 317 <?page no="318"?> status ecc‐ lesiasticus Dogmatische Definition der Lehre von den drei Ordnungen bei Johann Andreas Quenstedt „In der Kirche, die hier auf Erden streitet (in ecclesia in his terris militante) sind drei Ordnungen (ordines) oder Stände (status) von Gott eingesetzt, die man auch Hierarchien zu nennen sich gewöhnt hat: des kirchlichen Amts (ecclesiasticus), der weltlichen Obrigkeit (politicus) und des Hausstandes (oeconomicus). Die Ordnung des Hausstandes dient der Vermehrung und Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts; die der weltlichen Obrigkeit seiner Verteidigung und Regierung; die des kirchlichen Amts der Förderung der ewigen Seeligkeit. Die erste ist den ungebundnen Lüsten entgegenge‐ setzt, die zweite der Tyrannei und den Räubereien, die dritte den Ketzereien und Verderbnissen der Lehre.“ (Hirsch 1937, 368) Der status ecclesiasticus bezeichnet die repräsentative Kirche als Teilmenge der synthetischen. Er ist von Gott eingesetzt zur Verkündigung des Wortes Gottes sowie zur Verwaltung der Sakramente. Aus beiden media salutis, die zugleich als notae externa der Kirche fungieren, die selbst als Heilsmittel gilt, geht die communio sanctorum hervor. Diese ist creatura verbi (Geschöpf des Wortes). Das setzt die geordnete Verkündigung voraus, die dem Lehrstand obliegt. Er wacht über die reine Lehre, an deren Kenntnis das Heil hängt. Zwar ist der status ecclesiasticus von Gott gewollt, aber er wird durch die Ordination von der Kirche eingesetzt. Dadurch erlangt der Lehrstand das Recht zur Verkündigung und der Verwaltung der Sakramente. In dieser Funktion handeln die Amtsträger im Auftrag Jesu Christi, der sein prophe‐ tisches Amt durch den Lehrstand ausführt (vgl. oben 5.2.1.2). Zur synthetischen Kirche gehört auch die weltliche Obrigkeit, die einen von Gott eingesetzten Stand bildet. Ihre biblische Begründung hat die dem Staat verliehene Schwertgewalt in Röm 13,1, Prov 8,15 und Dan 2,21. Auf‐ gabe der weltlichen Obrigkeit ist es, die Ordnung im Gemeinwesen auf‐ rechtzuerhalten und durchzusetzen. Dadurch dient sie nicht nur dem Ge‐ meinwohl, sondern auch der Kirche, da sie deren ungehinderte Verkündigung gewährleistet. Doch die Schwertgewalt der Obrigkeit bezieht sich lediglich auf die äußere Ordnung und ihre Erhaltung, nicht auf das Ge‐ wissen der Einzelnen. Dieses ist ihr entzogen. Auf es zielt die Verkündigung 318 6 Glaube und Geschichte <?page no="319"?> magistra‐ tus politi‐ cus status oe‐ conomicus geschichtli‐ che Wirk‐ lichkeit der Kirche der Kirche. So gewährleistet der magistratus politicus die ungestörte Durch‐ führung des Auftrags der Kirche, mischt sich jedoch in deren Lehre und Verwaltung nicht ein. Den dritten Stand in der synthetischen Kirche bildet der status oeconomi‐ cus, der ebenfalls von Gott eingesetzt ist. Er bezieht sich auf die Familie und ihre frühneuzeitlich patriarchalische Struktur. Unter den Haushaltsstand fallen die Ehe, das Verhältnis der Eltern zu den Kindern sowie das der Knechte zu den Herren. Die von Gott gewollte Ehe (Gen 2,24. Mt 19,4f. 1Kor 7,2. 4) ist zugleich ein geistliches und ein leibliches Band und gilt als unauflöslich. Sie dient der geregelten Fortpflanzung zur Ehre Gottes und ist in der Regel das einzige Thema, welches von den altlutherischen Theologen erörtert wird. L IT E R ATU R : Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010, 151- 153. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 268-276. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 246-259 (Reformatoren). 368-371 (lutherische Ekklesiolo‐ gie). 421-428 (reformierte Ekklesiologie). Martin Luther: Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, in: ders.: Werke in Auswahl, Bd.-3: Schriften 1524-1528, hrsg. v. Otto Clemen, Berlin/ Boston 1983, 352-518. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 445-460. Reinhard Schwarz: Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, in: Christian Danz (Hrsg.): Martin Luther, Darmstadt 2015, 212-229. 6.1.2 Problemfelder der Ekklesiologie Mit der Kirche wird die christlich-religiöse Kommunikation zu einem sicht‐ baren Teil der geschichtlichen Wirklichkeit. Doch sie verdankt sich nicht der Geschichte, sondern dem Heiligen Geist. Aus dieser Konstellation re‐ sultieren eine ganze Reihe von systematischen Problemen der dogmatischen Ekklesiologie. Sie betreffen nicht nur das Verhältnis der sichtbaren christ‐ lich-religiösen Gemeinschaft zur Dimension des Heiligen Geistes, die für die Kirche konstitutiv sein soll, sondern auch die, wie die religiöse Gemeinschaft 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 319 <?page no="320"?> zu verstehen ist und welche Funktion sie für die christliche Religion hat. Das Credo bekennt eine katholische Kirche, aber in der Geschichte existieren viele verschiedene Kirchen, die sich zum Teil gegenseitig das Kirchesein absprechen. Exemplarisch lassen sich die Problemfelder der dogmatischen Ekklesiologie in drei Themenkreisen bündeln: das Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, das Verständnis der Kirche als Heilsanstalt oder ideale Gemeinschaft und schließlich die Universalität der Kirche. 6.1.2.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche Kirche ist nicht nur in der Kultur sichtbar, sie ist auch ein Teil der ge‐ schichtlichen Wirklichkeit. In ihr verkörpert sich die christlich-religiöse Kommunikation in einer religiösen Gemeinschaft, die die Erinnerung an Jesus Christus in der an Medien gebundenen Kommunikation weitergibt. All das ist sichtbar, hörbar, wahrnehmbar. Wäre das nicht der Fall, dann wäre die christlich-religiöse Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus nicht erkennbar und könnte auch nicht in der Kommunikation übermittelt werden. Im Prozess der Geschichte hat sich die religiöse Gemeinschaft der Kirche als eine eigene Form der Kommunikation ausdifferenziert und unterliegt den Bedingungen der sozialen Wirklichkeit. Anders könnte sie in der geschichtlichen Wirklichkeit, die ihrerseits in einem Ausdifferen‐ zierungsprozess steht, gar nicht existieren und die Erinnerung an Jesus Christus weitergeben. Doch zugleich soll die Kirche mehr sein als Geschichte und eine Wirklichkeit in Raum und Zeit. Ihr Ursprung und ihre Begründung liegen nicht in ihr selbst, sondern in Gott und seiner Offenbarung in Jesus Christus. Schon die theologische Lehrtradition arbeitete unter Aufnahme der neutestamentlichen Aussagen zur ekklesia (griechisch: Volksversamm‐ lung, Gemeinde) in der Antike den Gedanken aus, dass die Kirche zwar sichtbar sei, diese jedoch nicht mit der wahren Kirche zusammenfalle. Die sichtbare Kirche, so Augustin, sei ein corpus permixtum, da zu ihr Gläubige und Heuchler gehören. Von ihr sei die wahre Kirche unterschieden, die unsichtbar ist und deren Glieder durch den Heiligen Geist in Liebe unter‐ einander verbunden sind. Doch die unsichtbare Kirche gibt es ausschließlich in der sichtbaren, da sie allein durch die an den sichtbaren Empfang der Sakramente gebundene Eingießung der Gnade entstehen kann. Wahre und geschichtliche Kirche entsprechen sich also nicht. Auch die lutherische Dogmatik unterscheidet im Anschluss an Martin Luther zwischen einer sichtbaren und unsichtbaren Kirche, um die Frage zu klären, wie sich deren 320 6 Glaube und Geschichte <?page no="321"?> unsicht‐ bare Kirche geschichtliche Wirklichkeit zu ihrem Wesen verhält (vgl. oben 6.1.1.1). Lu‐ thers Kirchenverständnis unterscheidet sich nicht nur von dem Augustins, sondern auch von dem des römischen Katholizismus. Für diesen ist die sichtbare Kirche einschließlich ihrer hierarchischen Struktur sowie ihrer Rechtsgestalt die wahre und selbst unfehlbare Kirche. In ihrer sichtbaren Gestalt ist sie die Verlängerung der Menschwerdung des Sohnes Gottes in der Geschichte und eine vollkommene ethische Gemeinschaft (lateinisch: societas perfecta). Obwohl die Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche für das lutherische Verständnis der Kirche konstitutiv ist, sind ihre Bedeutung sowie ihr Verständnis in der Lehrentwicklung der protestantischen Dog‐ matik seit dem Reformationszeitalter umstritten. Es sind vor allem zwei systematische Probleme, mit denen die Differenzierung konfrontiert. Auf der einen Seite besteht kein Konsens darüber, was mit der unsichtbaren Kirche überhaupt gemeint ist, und auf der anderen ist unklar, wie sich die beiden Kirchen aufeinander beziehen. Der Begriff unsichtbare oder auch verborgene Kirche meint in den diver‐ sen lutherischen Dogmatiken sehr unterschiedliche Dinge: den Akt des Glaubens, die Gemeinschaft der Glaubenden, das Reich Gottes, eine spiri‐ tuelle Liebesgemeinschaft, eine Gewissensgemeinschaft und vieles andere mehr. Sie bezeichnet die Dimension in der religiösen Gemeinschaft, die nicht vom Menschen hergestellt ist, sondern ihre Konstitution durch Gott und damit ihre religiöse Dignität. In der Regel fungiert die unsichtbare Kirche als substantielle, überzeitliche Einheit, die hinter der sichtbaren Kirche steht und ihre Identität und Kontinuität verbürgt. Ihre Begründung erhält diese Kirche im trinitarischen Gottesgedanken, in der Christologie, der Pneuma‐ tologie oder der Eschatologie. Aus ihren unterschiedlichen Fassungen erge‐ ben sich verschiedene Zuordnungen zur sichtbaren Kirche, wobei diese als religiöse Gemeinschaft, als Institution und ihre organisatorische Struktur oder als Kommunikation der christlichen Religion verstanden werden kann, also als all das, was in der Kultur sichtbar ist. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Bestimmungen und Begründungen der beiden Kirchen ergeben sich in den komplexen Debatten der protestantischen Theologie zwei Extreme ihres Bezogenseins. Es kann sowohl der Gegensatz von un‐ sichtbarer und sichtbarer Kirche betont werden als auch ihre Einheit. Geht man von einem Gegensatz beider Kirchen aus, dann lässt sich dieser platonisch als Unterscheidung von Wesen und Erscheinung oder als Differenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit verstehen. In beiden Fällen 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 321 <?page no="322"?> Zwei-Kreise- Modell liegt der Fokus auf dem Wesen beziehungsweise der inneren Dimension, mit der Konsequenz, dass die sichtbare Kirche unwesentlich wird. Eine solche cum grano salis dualistische Zuordnung beider Kirchen ist für Luthers Auf‐ fassung charakteristisch. Sie steht noch im Hintergrund von dogmatischen Ekklesiologien im sogenannten Linksbarthianismus aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von einem christologisch begründeten Gegensatz von Gemeinde und kirchlicher Institution ausgehen (Hans-Joachim Kraus, Jürgen Moltmann). In der Erkenntnis, dass das wahre Sein der Kirche in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus bereits eschatologisch verwirklicht sei, besteht die christliche Gemeinde, die ekklesia. Sie ist kategorial von der sichtbaren institutionellen Kirche unterschieden, die zur Welt gehört und die Gottesoffenbarung in menschliche Religion verkehrt. Daraus ergibt sich ein ausschließender Gegensatz zwischen beiden. Die christliche Gemeinde realisiert sich als Gegengeschichte zu Kirche und Welt als revolutionäre Dauerkritik an beiden. Sie ist zwar nicht unsichtbar wie die communio sanc‐ torum Luthers, aber eben auch nicht positiv bestimmbar. Da die sichtbare Kirche zur Welt gehört, kommt ihr keine konstitutive Funktion für den dogmatischen Begriff der ekklesia zu, obwohl auch diese allein durch ihre Verkündigung entsteht. Um einen tendenziell dualistischen Gegensatz von unsichtbarer und sicht‐ barer Kirche zu vermeiden, durch den letztere für das Kirchenverständnis nur negativ in den Blick kommt, muss man beide enger aneinanderbinden. Diesen Weg ist bereits die altlutherische Theologie im Anschluss an die Bekenntnisschriften und Philipp Melanchthon gegangen, um ein Verständ‐ nis der unsichtbaren Kirche im Sinne einer civitas platonica (platonische Gemeinschaft) zurückzuweisen. Anders als bei Martin Luther ist die sicht‐ bare Kirche hier als Erscheinung der unsichtbaren verstanden. Dadurch tritt vor allem seit dem 19. Jahrhundert die Unterscheidung beider Kirchen in den protestantischen Ekklesiologien in den Hintergrund. Indem beide stärker aufeinander bezogen werden, ist der Verdacht eines ekklesiologi‐ schen Doketismus (Karl Barth) ausgeschaltet. Zwei Zuordnungsmodelle von unsichtbarer und sichtbarer Kirche sind möglich. Man kann ihr Verhältnis im Sinne eines Zwei-Kreise-Modells (Augustin, Martin Luther, Philipp Me‐ lanchthon) verstehen oder als Perspektiven- (Albrecht Ritschl) beziehungs‐ weise Begriffsdifferenz (Wilfried Härle). Im Rahmen des Zwei-Kreise-Modells ist die unsichtbare Kirche eine Teil‐ menge der umfassenderen sichtbaren. Während jene die eigentliche Kirche ist, die communio sanctorum, ist diese ein corpus permixtum. Aus diesem 322 6 Glaube und Geschichte <?page no="323"?> Perspekti‐ vendiffe‐ renz christologi‐ sche Kir‐ chenbe‐ griffe Grund ist die sichtbare Kirche für die theologische Erfassung des Wesens der Kirche irrelevant. Ihr Wesen ergibt sich aus dem Heilswillen Gottes, der mit der unsichtbaren Kirche identifiziert wird. Zu ihr gehören im Unter‐ schied zu den Berufenen lediglich die Erwählten (vgl. unten 6.3.1.2). Über‐ winden lässt sich die negative Bedeutung der sichtbaren Kirche für den theologischen Kirchenbegriff, wenn die Unterscheidung der beiden Kirchen als Perspektivendifferenz gefasst wird. Unsichtbare und sichtbare Kirche bezeichnen zwei Standpunkte, den des Glaubens und den des Unglaubens. Die unsichtbare communio sanctorum ist nur dem Glauben zugänglich, dem Unglauben hingegen lediglich die sichtbare Kirche. Diese Lesart der Unter‐ scheidung der beiden Kirchen hat sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt. Es geht nun nicht mehr um zwei konzentrische Kreise mit unterschiedlichem Umfang, sondern um eine Differenz in der sichtbaren Kirche. In ihr mani‐ festiert sich die unsichtbare Kirche, aus der nun eine verborgene wird. Theologisch kann die Perspektivendifferenz beider Kirchen christologisch, eschatologisch oder trinitätstheologisch begründet werden. Gegen das aktualistische Kirchenverständnis der Wort-Gottes-Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. oben 2.6.2), für die Kirche das Ereignis des Wortes Gottes ist, wird in den 1960er Jahren die Kirche als geschichtliche Existenzform der Gemeinde Jesu Christi verstanden (Wolfgang Trillhaas [1903-1995]). Kirche und Gemeinde sind unterschieden. Jene ist von Menschen hervorgebracht und unterliegt den Zweideutigkeiten und Bedingtheiten der Geschichte. Diese hingegen ist das Korrelat des Heiligen Geistes. Sie verdankt sich nicht dem menschlichen Handeln und ist die elementarere Dimension der Kirche, nämlich ihre Konstitution durch den Heiligen Geist. Dass die Kirche die vom Heiligen Geist konstituierte Gemeinde Jesu Christi ist, kann man ihr nicht ansehen. Es sieht nur der Glaube. Darin besteht das Paradox der Kirche, die sie zum Gegenstand des Glaubens macht. Ihre notae externae, schriftgemäße Verkündigung und rechter Sakramentsgebrauch, beziehen sich auf die Gemeinde Jesu Christi, also auf ihre Konstitution. Doch die Kontinuität der Kirche hängt an der sichtbaren Kirche, der geschichtlichen Existenzform der Gemeinde. Christologische Grundlegungen des Kirchenbegriffs können eschatolo‐ gisch erweitert und gedeutet werden. Demnach ist das wahre Sein der Kirche in Jesus Christus eschatologisch verwirklicht (Heinrich Vogel, Otto Weber). Kirche besteht dann in der Erkenntnis, dass in ihm die eschatologische Heilsgemeinde realisiert ist, die in der Geschichte im Kommen ist. In der Welt ist die Kirche sichtbar. Unsichtbar an ihr ist, was sie bereits jetzt ist, 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 323 <?page no="324"?> trinitari‐ sche Kir‐ chenbe‐ griffe nämlich die eschatologische Gemeinde, ihre christologisch-eschatologische Konstitution sowie ihre Einheit. Die notae ecclesiae beziehen sich auf ihre Konstitution in Jesus Christus, die sich in der geschichtlichen Kirche sichtbar realisiert, aber von dieser unterschieden und ihr vorgängig ist. Als Engführungen werden christologische Begründungen der Kirche von Ansätzen kritisiert, die von dem trinitarischen Gott ausgehen und in diesem Rahmen die sichtbare Kirche als Manifestation und Erscheinung der un‐ sichtbaren auffassen (Wolfhart Pannenberg, Eilert Herms, Wilfried Härle, Dietrich Korsch [geb. 1949]). Sie benutzen die Unterscheidung zur Refor‐ mulierung der Konstitutions- und Realisierungsdimension der Kirche. Das Handeln des dreieinigen Gottes sei der Grund der Kirche unter Ausschluss menschlichen Handelns. Doch ihre Konstitution realisiert sich durch die Glaubenden und unter ihrer Mitwirkung. Damit ist die sichtbare Kirche die Vollzugsgestalt der unsichtbaren, die nur in jener in Erscheinung treten kann. Anders als bei Martin Luther gehört die sichtbare Kirche zum Wesen der Kirche hinzu (Eilert Herms, Wilfried Härle). Zwar beziehen sich die notae ecclesiae auf die unsichtbare oder - wie es nun heißt - verborgene Kirche, aber diese und ihre Merkmale wie Einheit und Katholizität verwirklichen sich in der sichtbaren. Aus der Unterscheidung der beiden Kirchen ist hier eine Begriffsdifferenz (Wilfried Härle) geworden. Der Gewinn der perspektivischen Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche besteht darin, dass letztere aufgewertet und nicht mehr rein negativ bestimmt ist, wie im Zwei-Kreise-Modell. Beide Kirchen sind im Kirchenbegriff als Innen- und Außendimension verschränkt. In der sichtbaren Kirche tritt die unsichtbare in Erscheinung. Gleichwohl wird weiterhin darauf beharrt, dass die unsichtbare Kirche, also ihre Konstitution, unabhängig von der sichtbaren und ihr vorgeordnet sei. Nur der unsichtba‐ ren Kirche komme zu, dass sie die Einheit der Kirche (Wolfhart Pannenberg), die Universalkirche (Eilert Herms), die Selbstverkündigung Jesu Christi (Dietrich Korsch), das eschatologische Sein der Kirche in Jesus Christus (Heinrich Vogel, Otto Weber) ist. Das heißt aber, die Konstitutionsdimension der unsichtbaren Kirche ist eine hinter der sichtbaren stehende überzeitliche Identität, die sich in dieser manifestiert. Damit ist eine substantielle Identität der Kirche postuliert, die unabhängig von der sichtbaren Kirche ist und sie erst begründet. Tendenziell ist hier das alte (platonische) Schema von Wesen und Erscheinung in der Ekklesiologie wieder etabliert, welches durch das Perspektivenmodell überwunden werden sollte. Doch kann das theologische Konstrukt einer gegebenen Identität der Kirche (Universalkirche, Einheit der 324 6 Glaube und Geschichte <?page no="325"?> Kirche, Selbstverkündigung Jesu Christi etc.) auf der Ebene der christlichen Religion überhaupt gewusst werden? Die theologische Konstitutionsebene der Kirche steht hinter den menschlichen Deutungen und ist von ihnen un‐ abhängig. Andernfalls wäre die unsichtbare Kirche selbst eine menschliche Deutung. Genau das soll durch die Unterscheidung der beiden Dimensionen sowie die Vorordnung der unsichtbaren Kirche gegenüber der sichtbaren ausgeschlossen werden. Dadurch sind beide Dimensionen getrennt, so dass die sichtbare als konstituierte zur konstituierenden unsichtbaren Kirche hinzukommt. Aber ohne diese, obwohl sie sekundär ist, kann auch die unsichtbare nicht erkannt werden. Es reicht noch nicht aus, unsichtbare und sichtbare Kirche als unter‐ schiedliche Perspektiven zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Um das noch mit diesem Modell verbundene Problem eines latenten Platonismus zu überwinden, darf die Konstitutionsdimension der unsichtbaren Kirche nicht als eine gegenständliche Voraussetzung konstruiert werden, die von der sichtbaren Kirche unabhängig und ihr vorgängig ist. Vielmehr muss die unsichtbare Kirche auf die sichtbare christlich-religiöse Kommunikation bezogen und als hermeneutisches Geschehen in ihr verstanden werden. L IT E R ATU R : Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV/ 2, Zollikon/ Zürich 1955, 695-824. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV/ 1, Zollikon/ Zürich 1953, 718-826. Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 421-429. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 226-234. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 574-604. Eilert Herms: Was heißt es, im Blick auf die EKD von „Kirche“ zu sprechen? , in: Marburger Jahrbuch Theologie, Bd. VIII: Kirche, hrsg. v. Wilfried Härle/ Reiner Preul, Marburg 1996, 83-119. Hans-Joachim Kraus: Reich Gottes: Reich der Freiheit. Grundriß Systematischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1975, 369-413. Dietrich Korsch: Antwort auf Grundfragen des Glaubens. Dogmatik als integrative Disziplin, Tübingen 2 2020, 175-188. Michael Moxter: Das Unsichtbare der Gemeinschaft und die Verborgenheit der Kirche, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/ Ferdinando G. Menga (Hrsg.): Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Begegnung zwischen sozial-politischer und theologisch-religiöser Perspektive, Tübingen 2016, 127-148. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 13-155. 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 325 <?page no="326"?> Friedrich Schleier‐ macher Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 502-560. Heinrich Vogel: Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Teil 2, Stuttgart 1982, 808-832. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-2, Berlin (Ost) 1977, 564-644. 6.1.2.2 Individuum und Gemeinschaft Gegenstand der dogmatischen Lehre von der Kirche ist die christlich-reli‐ giöse Gemeinschaft. Sie gibt die Erinnerung an Jesus Christus weiter. Diese gelingt, wenn die christlich-religiöse Kommunikation von Menschen als Religion angeeignet und eigenständig artikuliert wird. In diesem Geschehen ereignet sich der Glaube. Er ist eine personale Wirklichkeit. Wie verhält sich der Glaube zur religiösen Gemeinschaft der Kirche, in die er als individuelle Wirklichkeit eingebunden ist? Was zeichnet sie aus, und wie unterscheidet sie sich von anderen Gemeinschaften? In Abgrenzung zum römischen Katholizismus, in dem die sichtbare Kirche sowie der Glaube der Kirche (lateinisch: fides ecclesiae) dem Individuum vor- und übergeordnet ist, beharrt der Protestantismus auf einem Vorrang des Einzelnen vor der Kirche. Subjekt des Glaubens ist nicht die Kirche, sondern das Individuum. Der Weg läuft von den Einzelnen zur Kirche und nicht um‐ gekehrt. Ganz in diesem Sinne ordnet die lutherische Dogmatik die Soteri‐ ologie, die Zueignung des Heils an den Menschen durch den Heiligen Geist, der Lehre von der Kirche voran. In einer klassischen Formel hatte Friedrich Schleiermacher in seiner Dogmatik den Gegensatz zwischen römischem Katholizismus und Protestantismus auf diese Weise bestimmt. Während in jenem der Einzelne durch die Kirche zu Jesus Christus komme, sei es in diesem genau umgekehrt. Aus dem Glauben der Einzelnen an Jesus Christus entsteht die Kirche. Im römischen Katholizismus hänge der Glaube an der kirchlichen Sozialgestalt und im Protestantismus die Kirche am Glauben der Einzelnen. Schleiermachers Formel richtet sich gegen ein Verständnis der Kirche als Heilsanstalt, wie es sich in der antiken Theologie etabliert hatte. Für Augustin ist die Kirche sichtbare Sakramentsgemeinschaft. Sie verwaltet die die Gnade vermittelnden Sakramente. Anteil an ihr kann der Mensch aufgrund der Erbsünde nur durch das Taufsakrament der Kirche haben. Da‐ mit ist die Kirche als gleichsam objektiv gegebene Heilsanstalt verstanden, die den Glaubenden vorgeordnet und für den Glauben konstitutiv ist. Die Weiterentwicklung dieses anstaltlichen Kirchenverständnisses im Mittelal‐ 326 6 Glaube und Geschichte <?page no="327"?> Besonder‐ heit der re‐ ligiösen Ge‐ meinschaft ter fügt ihm den Gedanken hinzu, dass sie den von Jesus Christus durch seinen Tod erworbenen Heilsschatz, den thesaurus ecclesiae, verwaltet. Grundlage dieser Lehrbildung ist die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod des Gott-Menschen Jesus Christus (vgl. oben 2.2). Obwohl die Reformation ein solches Verständnis der sichtbaren Kirche als einer objektiv gegebenen Heilsanstalt, welche die Gnade verteilt und die Wahrheit besitzt, aufgelöst hat, etablierte sich in der altlutherischen Dogmatik wieder ein Verständnis der Kirche als Heilsanstalt, welche im Besitz der wahren und reinen Lehre sei (vgl. oben 6.1.1). Zur Auflösung des heilsanstaltlichen Kirchenverständnis‐ ses und zur Modernisierung des Kirchenbegriffs kam es in der Aufklärung. Dadurch rückte die Frage in den Fokus, wie sich Individualität und Sozialität im protestantischen Kirchenverständnis zueinander verhalten. Schleiermachers Bestimmung des Gegensatzes von römischem Katholi‐ zismus und Protestantismus, welche die moderne, durch die Transformation des Kirchenverständnisses in der Aufklärung bedingte Problemstellung auf‐ nimmt, ist jedoch ungenügend. Auch für den Protestantismus kommt der Glaube aus der Verkündigung der Kirche, so dass diese für das Entstehen des individuellen Glaubens, durch den die religiöse Gemeinschaft sich kon‐ stituiert, bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen ist. Wenn die Kirche durch einen Zusammenschluss oder das Zusammentreten der Glau‐ benden erst entsteht, so das Argument gegen Schleiermachers Formel, wie unterscheidet sie sich noch von einem Verein oder anderen Vereinigungen? Die religiöse Gemeinschaft wäre dann Resultat eines natürlichen Gemein‐ schaftstriebs. Sie ist aber keine natürliche Gemeinschaft. Muss also nicht auch in der protestantischen Ekklesiologie eine dem Glauben der Einzelnen vorausgehende und sie erst zur Kirche verbindende Grundlage angenom‐ men werden, um die Besonderheit der religiösen Gemeinschaft im Unter‐ schied zu anderen Gemeinschaftsformen zu begründen? Ein Vorrang der Sozialdimension der Kirche gegenüber dem individuellen Glauben lässt sich christologisch, eschatologisch oder trinitarisch begründen. In Absetzung von der Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts machten lutheri‐ sche Dogmatiker geltend, die Kirche sei kein Verein oder Zusammenschluss von Menschen, sondern sie habe einen objektiven Grund, der dem Glauben der Individuen vorangehe und ihren Zusammenschluss allererst begründe (Paul Althaus). Der den Einzelnen vorgegebene Grund der Kirche sei ihre Stiftung durch Jesus Christus (Werner Elert). Aus ihr ergebe sich die Beson‐ derheit der Sozialität der Kirche sowie ihre Vorordnung gegenüber den Individuen und ihre innere Einheit. Kirche ist kein Verein, der, wie bei Schlei‐ 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 327 <?page no="328"?> christologi‐ scher Ge‐ mein‐ schaftsgedanke trinitari‐ scher Gemein‐ schaftsgedanke ermacher, durch Zusammenschluss der Wiedergeborenen entsteht, sondern eine gegebene soziale Ordnung, in die Menschen durch den Heiligen Geist einbezogen und verbunden werden. Sie ist nicht aus der Welt ableitbar und ist ihr verborgen. Nur dem Glauben ist diese wahre Gemeinschaft zugänglich, die ihn selbst erst begründet. Man kann den christologisch begründeten Gemeinschaftsgedanken auch eschatologisch wenden, wie in theologischen Konzeptionen aus der Schü‐ ler-Generation der Wort-Gottes-Theologie in den 1950er und 1960er Jahren (vgl. oben 2.6.3). In Jesus Christus ist die wahre Gemeinschaft von Menschen untereinander eschatologisch realisiert, die in der Geschichte im Kommen ist (Heinrich Vogel, Otto Weber). Auch hier bleibt es bei einer christologi‐ schen Konstruktion wahrer Gemeinschaft, die nicht aus der Welt ableitbar und ihr entgegengesetzt ist. Durch den Heiligen Geist, in dem die in Jesus Christus realisierte eschatologische Gemeinde in der Geschichte aktuell wird, werden die Einzelnen in diese Gemeinschaft einbezogen. Dadurch verlieren diese ihre bisherige autonome individuelle Existenz, die alle Ge‐ meinschaft zerstört, und erhalten Anteil an der vorweg bereits in Jesus Christus realisierten wahren Gemeinschaft. Ist aber ein christologisch fundiertes Gemeinschaftsmodell nicht selbst abstrakt und individualistisch, indem es soteriologisch auf die Sünde bezo‐ gen ist und Gesellschaft und Natur ausblende? Da es einem unitarischen Gemeinschaftsbegriff ( Jürgen Moltmann) verpflichtet sei, reiche es nicht aus, sondern müsse durch ein trinitarisch fundiertes Modell der Vergemein‐ schaftung ersetzt werden. Somit wird die Trinität zum Modell idealer Ge‐ meinschaft, das nicht nur das Gott-Welt-Verhältnis strukturiert (Eberhard Jüngel, Wolfhart Pannenberg), sondern auch die universale Schöpfungsge‐ meinschaft. In Jesus Christus sei die neue Schöpfung des dreieinigen Gottes eschatologisch verwirklicht. Sie beziehe sich auf die Welt als Ganze und überwinde den Individualismus in der neuen Gemeinschaft der wirklichen und wahren Freiheit des Reichs Gottes (Hans-Joachim Kraus). Grundlage wahrer Gemeinschaft der Individuen untereinander sowie mit der Schöpfung ist das Leben des dreieinigen Gottes in der wechselseitigen Selbstunterscheidung des Sohnes von dem Vater im Heiligen Geist (Wolfhart Pannenberg). Wie der Gottesgeist die Einheit von Vater und Sohn ist, so ist er auch die Erkenntnis ihrer Einheit. Er verbindet die Menschen mit Jesus Christus und untereinander zur Gemeinschaft der Liebe (Wilfried Härle), indem er sie in die bereits bestehende Gemeinschaft des dreieinigen Gottes einbezieht. Die von dem Sohn und dem Heiligen Geist zusammen 328 6 Glaube und Geschichte <?page no="329"?> konstituierte Kirche ist das Wissen um die wahre Struktur der Gemeinschaft. In der Geschichte ist die Kirche Zeichen und Werkzeug der Einheit der Menschheit im Reich Gottes, in der die Spannungen von Individuum und Gemeinschaft, die Gesellschaft und Kirche zugrunde liegen, überwunden sind. Das trinitarische Gemeinschaftsmodell ist dem Glauben der Einzelnen vorgegeben und ermöglicht erst ihren Glauben. Aus der Welt ist diese wahre Gemeinschaft weder ableitbar noch von ihr erkennbar. In den ekklesiologischen Debatten wird die Besonderheit der religiö‐ sen Vergemeinschaftung durch die Konstruktion einer wahren, christologi‐ schen, eschatologischen oder trinitarischen Gemeinschaft bearbeitet, die dem Glauben der Einzelnen vorgeordnet und von ihnen unabhängig ist. In diese ideale und wahre Gemeinschaft werden die Einzelnen einbezogen und aufgenommen. Doch wie ist eine solche theologisch konstruierte Gemeinschaft von denjenigen erkennbar, die die christliche Religion prakti‐ zieren? Als dem Glauben vorausgehende und von ihm unabhängig gegebene Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft kommt er zu ihr hinzu. Gleichwohl ist die wahre Gemeinschaft nur im Glauben zugänglich. Das ist aber nur durch individuelle Deutungen möglich, die durch das theologische Gemeinschaftsmodell gerade ausgeschlossen und überwunden werden sol‐ len. Theologische Konstruktionen eines dem Glauben vorgeordneten Ge‐ meinschaftsprinzips bleiben aporetisch. Sie haben die Funktion, die Beson‐ derheit der religiösen Gemeinschaft im Unterschied zu anderen Formen der Vergemeinschaftung zu beschreiben. Mit ihnen reklamiert die Theologie ein Wissen um die wahre Gemeinschaft, welches der Welt grundsätzlich entzogen ist und ihr abgesprochen wird. Doch in einer pluralen Kultur sind solche theologischen Gemeinschaftsmodelle unplausibel geworden. Sie funktionalisieren die Ekklesiologie für Probleme der Welt, indem sie eine wahre Gemeinschaft und wahre Freiheit im Gegensatz zu dieser postulieren. Was dadurch in den Hintergrund tritt, ist die Funktion, die die Kirche für den Glauben hat. Für die dogmatische Ekklesiologie ergibt sich daraus die Forderung, gegenständliche Konstruktionen einer idealen Gemeinschaft, welche dem Glauben vorgegeben ist, aufzulösen. Religiöse Gemeinschaft und Glaube entstehen zugleich. Aufgabe der Lehre von der Kirche ist es nicht, eine der Welt entgegengesetzte wahre Gemeinschaft zu konstruie‐ ren, sondern die notwendige Funktion der religiösen Gemeinschaft für die christlich-religiöse Kommunikation durchsichtig zu machen. Kirche 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 329 <?page no="330"?> nulla salus extra eccle‐ siam entsteht durch einen Bruch mit der Welt. Doch er darf nicht gegenständlich gefasst werden. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 2 1949, 285-294. Werner Elert: Der christliche Glaube. Grundlinien lutherischer Dogmatik, Ham‐ burg 4 1956, 395-438. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 574-604. Hans-Joachim Kraus: Reich Gottes: Reich der Freiheit. Grundriß Systematischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1975, 369-413. Jürgen Moltmann: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 115-155. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/ 31), hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, Bd.-1, 163-169 (§ 24). Heinrich Vogel: Gott in Christo. Ein Erkenntnisgang durch die Grundprobleme der Dogmatik, Teil 2, Stuttgart 1982, 808-832. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd.-2, Berlin (Ost) 1977, 564-575. 6.1.2.3 Die Universalität der Kirche Das apostolische Glaubensbekenntnis spricht von einer heiligen christlichen Kirche. Sie ist die Gemeinschaft der Heiligen, in der sich das von Jesus Christus erworbene Heil in der Geschichte verwirklicht. Ist das Heil somit an die Kirche gebunden, oder ist es auch außerhalb der Kirche möglich? Wenn Gottes Heilswillen universal ist, also jedem Menschen gilt und alle berufen sind, kann das Heil dann an eine Kirche gebunden sein, die stets geschichtlich und damit partikular ist? Die Frage nach der Universalität der Kirche hat von der theologischen Lehrtradition zwei gegensätzliche Ant‐ worten erhalten. Auf der einen Seite steht die Formel von Cyprian von Kar‐ thago (um 200-258), nulla salus extra ecclesiam, und auf der anderen die Position eines Christentums außerhalb der Kirche. Allerdings ist diese grundsätzliche Alternative eine moderne. Sie setzt die Aufklärung und die Entwicklung moderner Staaten und ihrer demokratischen Rechtsverfassun‐ gen voraus. Und auch Cyprians Formel steht im Kontext der Christenver‐ folgungen und ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Gleichwohl mar‐ 330 6 Glaube und Geschichte <?page no="331"?> Christsein außerhalb der Kirche? kiert seine Auffassung sowie ihre Rezeption in der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theologie die dominierende Sicht von der Kirche. Diese ist eine sakramentale Heilsanstalt, in die man durch das Taufsakra‐ ment inkorporiert sein muss, um am Heil Anteil haben zu können. Wer nicht getauft ist, ist vom christlichen Heil ausgeschlossen und der ewigen Ver‐ dammnis anheimgegeben. Grundlage dieses Kirchenbegriffs ist ein gegen‐ ständlich-objektives Verständnis der Universalität der Kirche. Sie als sicht‐ bare Institution ist die Verwalterin des Heils, welches sie durch ihre hierarchische Struktur verteilt. Mit der Reformation ist ein solches Ver‐ ständnis der Kirche und ihrer Universalität fraglich geworden. Martin Lu‐ thers Unterscheidung zwischen einer unsichtbaren und einer sichtbaren Kirche löste das Zusammenfallen beider Kirchen auf (vgl. oben 6.1.1.1). Wenn die unsichtbare Kirche ihre Grenze nicht an der sichtbaren findet, dann ist es möglich, Glied der unsichtbaren zu sein, auch wenn man keiner sichtbaren Kirche angehört. Das Christsein hängt nicht an der Kirchenmit‐ gliedschaft. Zwar ist die altlutherische Theologie in ihrer Lehre von der Kir‐ che zu einem anstaltlichen Kirchenverständnis zurückgekehrt und dem Re‐ formator in dieser Hinsicht nicht gefolgt, aber ein Verständnis der Kirche als universaler Heilsanstalt lässt sich unter den Bedingungen einer moder‐ nen pluralistischen Kultur nicht mehr aufrechterhalten und fortsetzen. Es wurde seit der Aufklärung durch den gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Entwicklungsprozess aufgelöst. Was aber bedeutet das für das Verständnis der Kirche und ihrer Universalität? Ist das Christsein an die Teilhabe an einer Kirche gebunden, oder gibt es auch ein Christsein außer‐ halb der Kirche? Und wenn ja, wie lässt sich dieses theologisch verstehen? In den theologischen Debatten über die Kirche sind im 20. Jahrhundert drei Antworten auf das in Frage stehende Problem gegeben worden: zu‐ nächst die Auffassung von einer latenten Kirche (Paul Tillich), sodann die von einem anonymen Christentum (Karl Rahner) und schließlich die von einem Christsein außerhalb der Kirche (Trutz Rendtorff [1931-2016]; Ulrich Barth). Alle drei Konzeptionen räumen ein, dass es Religion und Christentum auch außerhalb der sichtbaren Kirche gibt. Beide sind nicht an eine institutionelle Kirche gebunden. Sowohl das Konzept einer latenten Kirche als auch das von einem anonymen Christentum gehen von einer in der conditio humana verankerten Religion aus. Religion ist im Subjekt schon gegeben und damit ein allgemeines menschliches Phänomen (vgl. oben 4.1.2). Geht man davon aus, dass jeder Mensch bereits religiös ist, dann sind sowohl Religion als auch religiöse Gemeinschaften außerhalb 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 331 <?page no="332"?> anonymes Christen‐ tum der Kirche möglich. In diesem Sinne unterscheidet Paul Tillich zwischen einer manifesten und einer latenten Kirche (Singular! ). Diese bezeichnet eine religiöse Gemeinschaft, der sich der Sinn der Geschichte erschlossen hat. Sie repräsentiert diesen Sinn, von dem sie unterschieden ist. Doch die latente Kirche ist ambivalent, da sie den Sinn der Geschichte mit einer bestimmten Form identifiziert. Anders die manifeste Kirche. Sie überwindet die Ambivalenz der latenten Kirche, indem sie jede bestimmte Form des Sinnes und Ziels der Geschichte wieder negiert. Damit ist die manifeste Kirche die reflexiv gewordene latente. Tillichs Unterscheidung resultiert aus einem allgemeinen Religionsbegriff, der für alle Religionen gilt und nicht auf das Christentum beschränkt ist. Es ist eine besondere Ausprägung, in der Religion in der Geschichte anschaulich wird. Auch Karl Rahners Konzeption eines anonymen Christentums (vgl. oben 4.3.1) geht von einer in jedem Menschen bereits angelegten Verwiesenheit auf Gott, einem ‚übernatürlichen Existential‘, aus. Das Gottesverhältnis ist nicht nur konstitutiv für den Menschen, es ist auch universal. Jeder Mensch ist von Natur aus auf den Gott bezogen, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Wenn das der Fall ist, dann sind alle Menschen, auch diejenigen, welche nichtchristlichen Religionen angehören, implizit, also ohne, dass sie es selbst wissen oder wissen können, Christen. In der Begegnung der römisch-ka‐ tholischen Kirche mit anderen Religionen trifft sie folglich nicht auf etwas Fremdes, sondern auf sich selbst. Ein Christsein außerhalb der Kirche ist deswegen möglich. Es findet seine Begründung in einem universalen an‐ thropologischen Religionsbegriff. Doch die anonymen Christen außerhalb der Kirche und in den nichtchristlichen Religionen wissen nicht um ihr an‐ onymes Christsein. Zudem ist es, da unbewusst, unvollständig und defizitär. Ihrer selbst werden die anonymen Christen allein in der römisch-katholi‐ schen Kirche ansichtig und bewusst. Im Resultat führen sowohl Tillichs latente Kirche als auch Rahners anony‐ mes Christentum nicht zu einer Anerkennung und einer Berücksichtigung eines Christseins außerhalb der Kirche. Beides sind Allgemeinheitspostulate entweder der Religion oder des Christentums. Sie verdanken sich einer theologischen Konstruktion, die den Akteuren selbst gar nicht bewusst sein kann. Über einen Inklusivismus, der die Selbständigkeit der außerkirch‐ lichen Religion beziehungsweise des Christentums aufhebt, gelangen sie nicht hinaus. Zudem konstruieren beide Modelle die Kirche als bewusste Gestalt dessen, was sich in der latenten Kirche sowie dem anonymen 332 6 Glaube und Geschichte <?page no="333"?> Universali‐ tät des Christen‐ tums Christentum unbewusst bleiben muss. Verstehen sich beide nur richtig, dann sind sie selbst manifeste Kirche oder römisch-katholische Kirche. Anders ist es in dem Modell eines Christentums außerhalb der Kirche von Trutz Rendtorff und dessen Weiterführung bei Ulrich Barth. Es setzt kultur- und sozialgeschichtlich an und lässt sich als Reformulierung von Luthers Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche verstehen. Aufge‐ nommen ist die Ausdifferenzierung des Religionssystems im Prozess der Differenzierung der Kultur. Seit der Aufklärung verlor das kirchliche Chris‐ tentum zunehmend das Deutungsmonopol über die christliche Religion. Es entstand ein Christentum außerhalb der Kirche, welches sich unabhängig von dieser entwickelte. Zwar bestehen komplexe Wechselverhältnisse zwi‐ schen kirchlichem und nichtkirchlichem Christentum, doch beide Formen sind grundsätzlich gleichberechtigt und autonom. Christsein fällt damit nicht mit Kirchenmitgliedschaft beziehungsweise der institutionalisierten christlichen Religion zusammen. Es reicht weiter als die institutionellen Kirchen. Wird aber die Universalität des Christentums in diesem Modell nicht durch seine Invisibilisierung gewonnen? Wie lässt sich ein Christentum au‐ ßerhalb der Kirche überhaupt erkennen? Von der Kritik wurde auch immer wieder geltend gemacht, ein kirchlich nicht gebundenes Christentum sei besonders anfällig für Ideologien und vor allem inkonsequent (Wilfried Härle, Dietrich Korsch). Es übersehe seine eigenen Existenzbedingungen. Um seiner normativen Konstanz willen bedürfe der Glaube der Kirche. Doch was heißt das? Ein theologischer Umgang mit der Frage nach der Universalität der Kirche kann weder von ihrem Verständnis als Heilsanstalt noch als Institution ausgehen. Doch ebenso wenig kann das Problem der Erkennbarkeit der christlichen Religion oder des Glaubens offen bleiben. Andernfalls wäre die Universalität der Kirche ein bloßes Allgemeinheitspostulat. Außerhalb der Weitergabe der christlich-religiösen Überlieferung der Erinnerung an Jesus Christus kann es kein Christentum geben. Eine unsichtbare Religion ist nicht erkennbar und folglich nicht als christliche Religion identifizierbar. Sie ließe sich auch nicht fortsetzen. Die christliche Religion ist an die Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus gebunden. In modernen Gesellschaften ist ihre Übermittlung nicht auf die kirchlichen Institutionen beschränkt. So gewiss diese grundlegenden Formen christlich-religiöser Kommunikation sind, so haben sie kein Monopol mehr über sie. Christlich-religiöse Kommunikation erfolgt auch außerhalb der institutionellen Kirchen. Was bedeutet das 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 333 <?page no="334"?> für das theologische Verständnis der Kirche? Es muss vom Glauben als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion ausgehen und die Funktion der Kirche für diesen deutlich machen können. Das führt zu einem hermeneutischen Kirchenbegriff, der diese als Kommunikations‐ gemeinschaft versteht, in der die religiöse Erinnerung an Jesus Christus durchsichtig und erkennbar als Religion weitergegeben wird. L IT E R ATU R : Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 444-461. Wilfried Härle: Art.: Kirche VII. Dogmatisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-18, Berlin/ New York 1989, 277-317, bes. 290-292. Dietrich Korsch: Antwort auf Grundfragen des Glaubens. Dogmatik als integrative Disziplin, Tübingen 2 2020, 175-188. Karl Rahner: Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders.: Schriften zur Theologie V, Einsiedeln 1962, 136-158. Trutz Rendtorff: Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklä‐ rung, Hamburg 1969. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. III, hrsg. v. Christian Danz, Berlin/ Bos‐ ton 5 2017, 589-759. 6.1.3 Die Wirklichkeit der Kirche in der christlichen Religion Das Verhältnis von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, von Individuum und Gemeinschaft sowie die Universalität der Kirche sind in der dogmatischen Ekklesiologie umstritten. Im Hintergrund dieser ekklesiologischen Problem‐ felder steht eine gegenständlich-objektive Fassung der Kirche. Sie führt nicht nur in systematische Probleme, sondern lässt auch die Funktion der Kirche für den Glauben undeutlich werden. Aus diesem Grund ist das gegen‐ ständlich orientierte Verständnis in eine reflexive Fassung zu überführen. Im dogmatischen Begriff der Kirche geht es um eine Beschreibung der reflexi‐ ven Struktur der christlich-religiösen Kommunikation im Hinblick auf ihre Realisierung in der Geschichte. Er thematisiert eine notwendige Bedingung für ihre Entstehung. Erst im Rahmen einer hermeneutischen Fassung des Kirchenbegriffs kommt die Funktion der religiösen Gemeinschaft für den Glauben in den Blick. Dieser ersetzt in einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation die Orientierung an der kirchlichen Institution, die für die bisherige ekklesiologische Debatte signifikant ist. 334 6 Glaube und Geschichte <?page no="335"?> creatura verbi Religion als soziales Geschehen Das ermöglicht es, die diskutierten ekklesiologischen Problemfelder einer Lösung zuzuführen. 6.1.3.1 Kirche und Heiliger Geist An einer pneumatologischen Fassung des dogmatischen Begriffs der Kirche ist festzuhalten. Kirche ist die geschichtliche Realisierung des Heiligen Geis‐ tes. In ihm kommt die christlich-religiöse Kommunikation als eine eigene Form der Kommunikation in der Kultur zur sichtbaren Existenz (vgl. oben 5.3.3). Ihr Wirklichwerden und ihre Weitergabe in der Kommunikation be‐ zeichnet der Begriff der Kirche. Als creatura verbi (Martin Luther) entsteht diese im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus im Medium des Heiligen Geistes, dem dreipoligen Ge‐ schehen von Geber, Gabe und Glaube. Christliche Religion gibt es nur in der religiösen Benutzung der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunika‐ tion. Sie ist abhängig von bereits vorliegender christlich-religiöser Kommu‐ nikation. Diese Bedingung ihrer Realisierung, an einen Geber der Gabe ge‐ bunden zu sein, macht der dogmatische Begriff der Kirche ausdrücklich. Die Übermittelung und Verwirklichung der christlichen Religion in der Geschichte ist ein soziales Geschehen. Glaube ist abhängig von einer reli‐ giösen Gemeinschaft, die die Erinnerung an Jesus Christus religiös versteht und in der Kommunikation religiös benutzt. Obwohl er aus den kommuni‐ zierten Inhalten nicht ableitbar ist, ereignet er sich nicht unabhängig von ihr. Für die Kirche heißt das, sie entsteht im Gelingen des hermeneutischen Geschehens der christlich-religiösen Kommunikation. Der hermeneutische Kirchenbegriff der Systematischen Theologie beschreibt das durchsichtige Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation. Mit ihm ist die Fi‐ xierung der Ekklesiologie auf die kirchliche Institution aufgebrochen. Die Realisierung der christlichen Religion ist zwar abhängig von christlich-re‐ ligiöser Kommunikation, aber das bedeutet nicht, dass sie ausschließlich an eine Institution gebunden ist. Christlich-religiöse Kommunikation ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften auch außerhalb der institutio‐ nellen Kirchen gegeben (vgl. oben 6.1.2.3). Ein Monopol auf die christliche Religion haben die empirischen Kirchen nicht mehr. Christlichkeit und Kirchlichkeit fallen nicht zusammen. Wo immer christlich-religiöse Kom‐ munikation gelingt, sie also von Menschen religiös aufgenommen und ar‐ tikuliert wird, ist Kirche, die sichtbare Verwirklichung des Heiligen Geistes. Freilich bedeutet das nicht, dass die institutionellen Kirchen bedeutungslos 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 335 <?page no="336"?> Realisie‐ rung des Heiligen Geistes werden oder für deren Abschaffung plädiert werden soll. Ohne Institutio‐ nalisierung der religiösen Weitergabe der religiösen Erinnerung an Jesus Christus könnte die christliche Religion in der Geschichte gar nicht existie‐ ren. Sie ist abhängig von geprägten symbolischen Formen und Medien sowie deren Neuprägung. Das ist die Aufgabe der kirchlichen Institution. Doch die religiöse Weitergabe der christlich-religiösen Tradition ist in modernen Ge‐ sellschaften nicht auf die Kirchen beschränkt. Sie geschieht auf vielfältige Weise durch moderne Kommunikationsmedien. Deshalb wäre es eine un‐ zulängliche Verengung des dogmatischen Blicks, würde sich die Ekklesio‐ logie lediglich auf die institutionellen Kirchen konzentrieren und das Chris‐ tentum außerhalb der Kirchen ausblenden. Kirche ist die geschichtliche Realisierung des Heiligen Geistes im Gelin‐ gen der christlich-religiösen Kommunikation. Auf dieser Grundlage lässt sich die Differenz von sichtbarer und unsichtbarer Kirche theologisch be‐ stimmen (vgl. oben 6.1.2.1). Die Entstehung des Glaubens als symbolpro‐ duktiver Wirklichkeit der christlichen Religion ist an die Weitergabe der religiösen Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation gebunden. Unabhängig von ihrer Übermittlung gibt es die christliche Religion nicht. Das bedeutet aber, dass die kommunizierte Erinnerung an Jesus Christus in der Kultur sichtbar und erkennbar sein muss. Sie muss nicht nur inhaltlich bestimmt sein, sie muss sich auch in der Kommunikation verkörpern und segmentieren. Wäre das nicht der Fall, könnte die christliche Religion nicht fortgesetzt werden. Es bedarf bestimmter Medien und symbolischer Formen, damit die Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation wiederholt werden kann. Diese Funktion erfüllen das Speicher- und Funktionsgedächt‐ nis (Aleida Assmann [geb. 1947]) der christlichen Religion, ihre Medienkör‐ per Bibel und Sakramente (vgl. unten 6.2). Sie sind ebenso wie die christ‐ lich-religiöse Kommunikation sichtbar und müssen es sein. Doch der Glaube besteht nicht schon in der medialen Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus. Er kommt allein im religiösen Gebrauch, der von ihr in der Kom‐ munikation gemacht wird, im Heiligen Geist zur Wirklichkeit. Das setzt die religiöse Aneignung dieser Erinnerung sowie ihre symbolische Artikulation voraus. Aber weder Aneignung noch Artikulation lassen sich aus den kom‐ munizierten Inhalten ableiten. Es besteht ein Hiatus zwischen der kommu‐ nikativ übermittelten Erinnerung an Jesus Christus und ihrem religiösen Gebrauch, den Menschen von ihr machen. Erst in der gelingenden wieder‐ holenden Wiederaufnahme der christlich-religiösen Kommunikation in dem dreipoligen Geschehen von Geber, Gabe und Glaube wird die kommunizierte 336 6 Glaube und Geschichte <?page no="337"?> unsicht‐ bare Kirche Erinnerung an Jesus Christus zur religiösen Anrede an Einzelne. Creatura verbi ist die Kirche allein im Heiligen Geist. Für die unsichtbare Kirche heißt das, sie ist an die sichtbare Kirche, die verkörperte und medial weitergegebene Erinnerung an Jesus Christus, ge‐ bunden. Sie ist aber nicht mit dieser identisch, fällt also auch nicht mit ihr zusammen. Gleichwohl ist die unsichtbare Kirche keine von der christ‐ lich-religiösen Kommunikation unabhängige und von ihr ablösbare Konsti‐ tutionsdimension (Wilfried Härle) oder eine hinter der sichtbaren Kirche stehende Identität der Kirche (Wolfhart Pannenberg). Sie bezeichnet auch keine wahre oder authentische Gemeinschaft der Liebe (Wolfgang Trillhaas) oder einen Stoßtrupp des Reichs Gottes als dem wahren Reich der Freiheit, der sich als Dauerkritik an Kirche und Gesellschaft realisiert (Hans-Joachim Kraus). Ebenso wenig ist sie eine innere Wirklichkeit (Ulrich Barth). Die unsichtbare Kirche bezeichnet das Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus, die Herstellung religiö‐ sen Sinns, der von den Glaubenden mit ihrer Kommunikation gemeint ist. Doch das hängt an der christlich-religiösen Kommunikation. Unabhängig von der sichtbar kommunizierten Erinnerung an Jesus Christus kann es keine unsichtbare Kirche geben. Beide Dimensionen des dogmatischen Kir‐ chenbegriffs gehören zusammen. Ohne sichtbare Kirche existiert auch keine unsichtbare. Diese geht jener somit auch nicht voran, so dass sie in ihr in Erscheinung tritt (Wolfhart Pannenberg, Gunther Wenz [geb. 1949]). Gleich‐ wohl ist das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation aus ihr nicht ableitbar oder mit ihr bereits gegeben. Es bildet einen eigenen Aspekt der Kommunikation, der erst darüber entscheidet, auf welche Weise die Erin‐ nerung an Jesus Christus von Menschen gebraucht wird. Diesen Aspekt in dem triadischen Geschehen der christlich-religiösen Kommunikation be‐ schreibt die unsichtbare Kirche: den Glauben als hermeneutisches Verste‐ hensgeschehen, in dem die christliche Religion wirklich wird. Kirche ist die existierende und sichtbare christlich-religiöse Kommunika‐ tion, die als Religion verstanden und weitergegeben wird. In ihr verwirklicht sich der Heilige Geist, die symbolproduktive Artikulation der Erinnerung an Jesus Christus. Sie ist sowohl an deren Überlieferung als auch an ihren religiösen Gebrauch gebunden. Im dogmatischen Begriff der Kirche geht es um eine Bedingung der geschichtlichen Weitergabe der christlichen Religion. Diese besteht in der christlich-religiösen Kommunikation. Das Wissen, für ihr durchsichtiges und selbstbezügliches religiöses Funktio‐ nieren von der in der Kommunikation weitergegebenen Erinnerung an 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 337 <?page no="338"?> Jesus Christus abhängig zu sein, bildet einen notwendigen Bestandteil des Glaubens. Er entspringt aus der Kommunikation der christlich-religiösen Gemeinschaft, die sich als Verstehens- und Kommunikationsgemeinschaft mit dem Glauben zugleich als dessen Voraussetzung konstituiert. Kirche hält die christliche Religion erkennbar, indem sie sich in ihrer Kommuni‐ kation auf ihr symbolisches Gedächtnis bezieht. Zugleich schafft sie die Erinnerung an Jesus Christus in deren wiederholender Wiederaufnahme im Heiligen Geist jeweils neu. Genau darin besteht die Funktion der Kirche für den Glauben, die, wie ausgeführt, nicht auf die Institution beschränkt ist. Das Kirchesein hängt nicht an der institutionellen Gestalt der religiösen Gemeinschaft, sondern an der durchsichtigen religiösen Weitergabe der christlich-religiösen Kommunikation. Indem sie sich in der artikulierenden Herstellung von religiösem Sinn konstituiert, gibt sie die Erinnerung an Jesus Christus als Religion, und das heißt, eben nicht als Ethik, Historie, Politik etc. in ihrer Kommunikation weiter. L IT E R ATU R : Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2018. Sylvia Avakian: Die Gemeinschaft der Heiligen und die Kirche von heute, in: NZSTh 63 (2021), 184-202. Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 444-461. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 234-241. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 574-604. Hans-Joachim Kraus: Reich Gottes: Reich der Freiheit. Grundriß Systematischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1975, 369-413. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 115-155. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 522-533. Gunther Wenz: Kirche. Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumeni‐ scher Absicht, Göttingen 2005. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 237-244. 6.1.3.2 Die Kennzeichen der Kirche Die theologische Lehrtradition des Protestantismus unterscheidet zwischen Kennzeichen der Kirche, nämlich Einheit, Heiligkeit, Katholizität und 338 6 Glaube und Geschichte <?page no="339"?> Eigenschaf‐ ten der Kir‐ che Apostolizität, und den äußeren Kennzeichen der Kirche Wort Gottes und Sakramente (vgl. oben 6.1.1.2). Erstere beziehen sich auf die unsichtbare Kirche und letztere auf die sichtbare. Um die hermeneutische Funktion der Kirche für den Glauben als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion theologisch zu erfassen, werden hier in der Ekklesiologie lediglich die notae ecclesiae thematisiert und die notae externa im Zusammenhang mit den Medien des Heils (vgl. unten 6.2). Dadurch soll die für die protestantische Ekklesiologie signifikante enge Verzahnung von äußeren Kennzeichen der Kirche und Heilsmitteln aufgebrochen werden, die in der Lehre zu einer Fokussierung auf die kirchliche Institution führte. Kirche als Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation hängt nicht an den von der institu‐ tionellen Kirche dargebotenen media salutis Wort Gottes und Sakrament, sondern am religiösen Gebrauch der Erinnerung an Jesus Christus, den Menschen von ihr machen. Folglich ist sie im Sinne des hermeneutischen Kirchenbegriffs einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation dort, wo „zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“, denn „da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Grundlage der dogmatischen Ekklesiologie ist das Geschehen des Glaubens, der an die christlich-religiöse Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus ge‐ bunden ist. Das hat Konsequenzen für die notae ecclesiae. Sie beziehen sich auf die in der Kommunikation sichtbar weitergegebene Erinnerung an Jesus Christus und nicht auf die unsichtbare Kirche, wie in der protestantischen Lehrtradition. Erst auf diese Weise wird die Funktion der Kennzeichen der Kirche für den Glauben deutlich. Sie beschreiben die Reflexivität der wiederholenden Wiederaufnahme der christlich-religiösen Kommunikation in ihrer Abhängigkeit von der religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus. Damit wird ein gegenständlich-objektives Verständnis der Merkmale oder Eigenschaften der Kirche fallen gelassen. Ihre notae Einheit, Heiligkeit, Ka‐ tholizität und Apostolizität benennen keine Substanz oder Identität, die es bereits gibt (Wilfried Härle) und die als Konstitutionsdimension, wahre Ge‐ meinschaft (Wolfgang Trillhaas) oder Identität (Wolfhart Pannenberg) hin‐ ter der sichtbaren Kirche stehen. Sie explizieren die Bedingungen des durch‐ sichtigen Funktionierens der christlich-religiösen Kommunikation, in der sich die Kirche konstituiert und die Erinnerung an Jesus Christus religiös in der Kommunikation weitergibt. Indem die notae ecclesiae die reflexive Struk‐ tur der Realisierung des Glaubens in seiner Bindung an die christlich-reli‐ giöse Kommunikation explizieren, sind sie selbstbezüglich. Sie beziehen sich 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 339 <?page no="340"?> Einheit der Kirche Heiligkeit der Kirche auf die christliche Religion, aber nicht auf die Welt. Was bedeutet das nun für die Kennzeichen der Kirche, und wie werden sie in einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation verstanden? Una ist die Kirche nicht, weil sie eine objektive Einheit darstellt oder weil ihr eine objektiv gegebene Identität zugrunde liegt, die in der geschichtli‐ chen Kirche zur Erscheinung kommt. Das Merkmal der Einheit bezeichnet keine gegenständliche Einheit, auch nicht die der unsichtbaren Kirche, die gleichsam hinter der sichtbaren ihren Ort hat. Das wäre in der Tat eine civitas platonica. Von der lutherischen Lehrtradition wurde die Einheit der Kirche mit dem Glauben verbunden, allerdings in einem gegenständlichen Sinne. Doch eine gegenständliche Lesart der Einheit der Kirche ist nicht mehr fort‐ zusetzen. Sie ist ein theologisches Konstrukt, welches in der Weitergabe der christlich-religiösen Kommunikation weder gegeben noch zugänglich ist. Demgegenüber ist die Einheit der Kirche reflexiv zu verstehen. Sie be‐ schreibt den verstehenden religiösen Gebrauch der Erinnerung an Jesus Christus. Einheit bezieht sich auf den hermeneutischen Verstehensprozess, in dem in der religiösen Benutzung dieser Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation der Glaube durchsichtig entspringt. Er konstituiert sich in dem triadischen Wechselverhältnis des Heiligen Geistes als Geber, Gabe und Glaube. An diesem hermeneutischen Kommunikationsgeschehen hängt die Einheit der Kirche. Una als Merkmal der Kirche bezeichnet das an die christlich-religiöse Kommunikation gebundene selbstbezügliche Verste‐ hensgeschehen als notwendiger Bedingung der Entstehung des Glaubens. Auch die Heiligkeit der Kirche hat eine reflexive Funktion für die christ‐ lich-religiöse Kommunikation. Sie bezeichnet keinen gegebenen Gegen‐ stand oder eine universale Gemeinschaft hinter der sichtbaren Kommuni‐ kation der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Das Merkmal der Heiligkeit der Kirche meint auch keine ideale, der Welt entgegengesetzte Gemeinschaft, welche als religiöses Vergemeinschaftungsprinzip dem Glau‐ ben der Einzelnen vorgeordnet ist und christologisch, eschatologisch oder trinitätstheologisch begründet werden könnte (vgl. oben 6.1.2.2). Solche ge‐ genständlichen Konstruktionen der Besonderheit der religiösen Gemein‐ schaft bleiben aporetisch. Sancta beschreibt kein inhaltliches Merkmal der Kirche, sondern die Reflexivität der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus als notwendiger Bedingung ihrer kom‐ munikativen Weitergabe als Religion. Heilig ist die Kirche, weil sie nicht Welt, sondern von ihr unterschieden ist. Sie verdankt sich dem Heiligen Geist. Das bedeutet, dass es beim Merkmal der Heiligkeit der Kirche um die 340 6 Glaube und Geschichte <?page no="341"?> Katholizität der Kirche Differenz von christlich-religiöser und kultureller Kommunikation geht. Diese Differenz ist aus der Kommunikation selbst weder ableitbar noch liegt sie bereits in den kommunizierten Inhalten beschlossen. Auf der Ebene der kommunizierten Inhalte lässt sich die christlich-religiöse Kommunikation gerade noch nicht hinreichend von kultureller Kommunikation unterschei‐ den. Inhalte können jederzeit sowohl religiös als auch nichtreligiös ge‐ braucht werden, ohne dass sich an ihnen etwas ändert. Das Kennzeichen der Heiligkeit beschreibt das Wissen der christlich-religiösen Kommunikation, die Erinnerung an Jesus Christus religiös und nicht in einem kulturellen Sinne weiterzugeben. Es benennt den religiösen Gebrauch der Kommuni‐ kation, um den von den Kommunizierenden ebenso gewusst werden muss wie um seine Unableitbarkeit aus den kommunizierten Inhalten. Christlich-religiöse Kommunikation gelingt, wenn die wiederholende Wiederaufnahme der kommunizierten Erinnerung an Jesus Christus religiös verstanden wird. Darin besteht die Kirche, nämlich im durchsichtigen reli‐ giösen Gebrauch der christlich-religiösen Kommunikation. Als hermeneu‐ tische Verstehensgemeinschaft artikuliert sie die angeeignete Erinnerung an Christus in der Kommunikation und gibt sie in ihr sichtbar weiter. Subjekt des Glaubens und religiöse Gemeinschaft entstehen zugleich in der Herstellung religiösen Sinnes in der Kommunikation. Kirche realisiert sich, indem sie die Erinnerung an Jesus Christus religiös fortsetzt. Das Merkmal der Heiligkeit der Kirche bezieht sich auf das durchsichtige selbstbezügliche Funktionieren der christlich-religiösen Kommunikation und nicht auf die Welt. So wenig die Kirche eine ideale Gemeinschaft darstellt, welche der Welt entgegengesetzt und von ihr unerkennbar ist, so wenig repräsentiert sie die Einheit der Welt oder der Menschheit im Reich Gottes. Dass die Kirche heilig ist, benennt den rein religiösen Sinn der wiederholenden Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus. Ebenso wie die Einheit und Heiligkeit ist die Katholizität der Kirche ein reflexives Beschreibungselement der christlich-religiösen Kommunikation. Catholica ist die Kirche nicht, weil es eine Universalkirche oder eine Einheit der Kirche hinter den sichtbaren Kirchen gibt, welche deren Identität und Kontinuität stiftet. Eine solche überzeitliche Einheit hinter der sichtbaren christlich-religiösen Kommunikation lässt sich nur auf der Ebene der Theo‐ logie konstruieren und postulieren. Auf der Ebene der geschehenden Kom‐ munikation ist dieses Postulat gar nicht zugänglich, da es gleichsam in deren Rücken liegt. Gegenüber einem gegenständlichen Verständnis der Katholi‐ zität der Kirche, in dem die sichtbaren Kirchen als partikulare Erscheinun‐ 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 341 <?page no="342"?> Apostolizi‐ tät der Kir‐ che gen ihres allgemeinen und unabhängig von ihnen bereits gegebenen Wesens konstruiert werden, ist dieses Merkmal reflexiv aufzufassen. Die christlich-religiöse Kommunikation ist an die Erinnerung an Jesus Christus gebunden, und sie besteht in ihrer sichtbaren religiösen Weiter‐ gabe. Anders wäre die christliche Religion nicht zu erkennen und mithin auch nicht fortsetzbar. Außerhalb der christlich-religiösen Kommunikation, also der sichtbaren Kirche, kann es keine unsichtbare geben. In diesem Sinne ist das berüchtigte Diktum Cyprians von Karthago nulla salus extra ecclesiam aufzunehmen. Es bezieht sich jedoch weder auf die unsichtbare Kirche (Wilfried Härle) noch auf eine Heilsanstalt. An der Unsichtbarkeit der Kirche hängt ihre Universalität so wenig wie an ihrer Sichtbarkeit. Beides bleibt einem gegenständlichen Kirchenverständnis verhaftet. Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion ist von der christ‐ lich-religiösen Kommunikation abhängig. Alle Postulate eines unbewussten oder impliziten Christentums sind aus dem dogmatischen Kirchenbegriff auszuscheiden. Sie stellen inklusivistische Konstruktionen dar, die sich nicht überprüfen lassen und zur Vereinnahmung von Andersheit führen. Als reflexive Bestimmung bezieht sich die Katholizität der Kirche auf die christlich-religiöse Kommunikation. Ihre Weitergabe ist an keine besonde‐ ren Voraussetzungen gebunden, so dass es weder anthropologische oder kulturelle Grenzen der christlich-religiösen Kommunikation gibt. In diesem reflexiven Sinne ist die hermeneutische Verstehens- und Kommunikations‐ gemeinschaft der Kirche universal. Sie realisiert sich in der gelingenden wiederholenden Wiederaufnahme der in der Kommunikation mitgeteilten Erinnerung an Jesus Christus. Und schließlich ist auch die Apostolizität der Kirche kein gegenständli‐ ches Merkmal, sondern ein reflexives Beschreibungselement der christ‐ lich-religiösen Kommunikation. Die christliche Religion besteht in der Bin‐ dung an die Erinnerung an Jesus Christus und ihrer religiösen Weitergabe in der Geschichte. Apostolica ist die Kirche aufgrund ihrer Ursprungsbin‐ dung. Doch diese meint keine gegenständlich-historische Kontinuität, etwa die apostolische Sukzession der Bischöfe, wie in der römisch-katholischen Kirche. Eine solche ist historisch weder aufweisbar noch würde ihr, wenn sie es wäre, eine religiöse Bedeutung zukommen. Zwar ist die christliche Religion in die Geschichte eingebunden, aber sie besteht nicht in histori‐ schen Fakten. Apostolische Ursprungsbindung bezeichnet auch kein Kon‐ stitutionsgeschehen, welches unabhängig von der christlich-religiösen Kommunikation und ihr vorgängig in einer aus der Christologie oder der 342 6 Glaube und Geschichte <?page no="343"?> Trinitätslehre abgeleiteten unsichtbaren Gemeinschaft oder Universalkir‐ che gegeben ist. Ursprung und Grund ist Jesus Christus allein in der christ‐ lichen Religion (vgl. oben 5.2.3.1). Apostolizität als Beschreibungselement der christlich-religiösen Kommunikation benennt deren Abhängigkeit von der Tradierung der Erinnerung an Jesus Christus. Der christlichen Religion liegt keine Substanz zugrunde, welche ihre Identität und Kontinuität stiftet. Beide werden in der wiederholenden Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation erst hergestellt. Ohne Diskontinuität ist ihre Kontinuität gar nicht möglich, weil die Fortsetzung der christlich-re‐ ligiösen Kommunikation gerade nicht aus den kommunizierten Inhalten abgeleitet werden kann oder in ihnen bereits enthalten ist. Doch jede wie‐ derholende Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus ist ihre Transfor‐ mation und Variation, da sie in sich wandelnden Kontexten erfolgt. Apostolisch ist die Kirche, weil sie an die Erinnerung an Jesus Christus und ihre religiöse Weitergabe in der Kommunikation gebunden ist. Nur so ist sie erkennbar. Aber sie besteht nicht in der Tradierung von Inhalten, der bloßen Reproduktion von bestimmten Worten, sondern im religiösen Gebrauch, der von ihnen in der Kommunikation gemacht wird. In ihm entsteht der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion und als die Wirklichkeit der Kirche. Die notae ecclesiae beziehen sich nicht auf eine Wirklichkeit hinter der christlich-religiösen Kommunikation, sondern auf die reflexive Struktur ihrer Realisierung in der Geschichte. Sie beschreiben die Bindung des Glaubens an die Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus sowie deren religiösen Sinn, der in der Kommunikation erst hergestellt wird. Auf diese Weise stellen die Kennzeichen oder Merkmale der Kirche das durchsichtige selbstbezügliche Funktionieren der christlichen Religion als produktiven Umgang mit der Erinnerung an Jesus Christus dar, von der sie abhängig ist. L IT E R ATU R : Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Berlin 4 2012, 371-384. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 580-582. Dietz Lange: Glaubenslehre, Bd.-2, Tübingen 2001, 273-320. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 442-452. Henning Theißen: Das Erkennungszeichen der Kirche, in: EvTh 68 (2008), 332- 347. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 522-533. 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 343 <?page no="344"?> Kultur Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 237-244. 6.1.3.3 Kirche und Kultur Kirche als hermeneutische Verstehens- und Kommunikationsgemeinschaft ist das Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation. In ihr kommt der Heilige Geist zur sichtbaren geschichtlichen Existenz. Sie entsteht in dem dreipoligen Wechselverhältnis von Geber, Gabe und Glaube. Im Heiligen Geist wird die Kirche im Ereignis des Glaubens wirklich, und in ihm erfolgt die religiöse Weitergabe der christlich-religiösen Kommunikation. Als geschichtliche Wirklichkeit der christlichen Religion ist die Kirche Teil der Kultur und der sozialen Welt. Allein in einer konkreten, geschichtlich gewordenen Kultur kann sich die christlich-religiöse Kommunikation ver‐ wirklichen. Erkennbar ist die Kirche durch ihren Bezug auf die Erinnerung an Jesus Christus, die sie als Religion kommuniziert. In ihrer wiederholenden Wiederaufnahme dieser Erinnerung transformiert und alteriert sie diese. Das Geschehen, in dem in der Kommunikation im Gebrauch von Inhalten religiöser Sinn hergestellt wird, ist ein zeitliches. Es wandeln sich der Kontext der Kommunikation und mit ihm die Erinnerung an Jesus Christus. Kirche und Kultur stehen in einem Wechselverhältnis. Wie bezieht sich aber die Kirche auf die Kultur, und welche Funktion hat diese für jene? Mit dem Wandel der Kultur im Prozess ihrer Evolution und Ausdifferen‐ zierung ändert sich auch die christlich-religiöse Kommunikation. Allerdings schlagen die Transformationen der Kultur nicht unmittelbar auf die christ‐ lich-religiöse Kommunikation der Kirche zurück. Beides sind nicht nur au‐ tonome Formen der Kommunikation, Kultur steht der Kirche auch nicht einfach als ihr Anderes gegenüber, sondern ist selbst ein Begriff für ein Ne‐ beneinander von ausdifferenzierten pluralen Kommunikations- oder Exis‐ tenzweisen, für die es keine sie übergreifende Einheit gibt. Der Wandel der kulturellen Kommunikationen kann in der christlich-religiösen Kommuni‐ kation nur als Religion aufgenommen werden. Allein auf diese Weise kön‐ nen sich Veränderungen der Kontexte der christlichen Religion in ihr nie‐ derschlagen. Andernfalls wäre diese nicht selbstbezüglich beziehungsweise autonom. Parallel zur kulturellen Entwicklung kommt es zur Erneuerung der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus. Das betrifft sowohl die Bedeutungen der Gehalte als auch die kommuni‐ zierten Inhalte. Zwar bleibt die christliche Religion auf die Bibel bezogen, 344 6 Glaube und Geschichte <?page no="345"?> christ‐ lich-reli‐ giöse Kom‐ munikation anders wäre sie gar nicht identifizierbar, aber die Traditionsbestände, auf die in der christlich-religiösen Kommunikation zurückgegriffen wird, ändern sich. Narrative, Inhalte und symbolische Formen der biblischen Schriften, die für eine Zeit von Bedeutung sind, werden vor dem Hintergrund des kul‐ turellen Wandels, sich ändernder Kontexte und kultureller Plausibilitätsho‐ rizonte durch andere ersetzt, die lange Zeit unberücksichtigt blieben. In die‐ sem Sinne fungiert die Bibel als Speichergedächtnis der christlichen Religion. Angesichts zunehmender Bewusstheit ökologischer Krisen in der Kultur erhält beispielsweise in der christlich-religiösen Kommunikation die Schöpfungsvorstellung eine neue Aufmerksamkeit und wird zum Kristalli‐ sationspunkt der Kommunikation. Doch nicht nur als wesentlich erachtete biblische Narrative und Motive werden durch andere ersetzt, die aufgrund des Wandels der Kultur nun als konstitutiv von denen erachtet werden, die die christliche Religion praktizieren. Es wandeln sich auch die Bedeutungen der Narrative der tradierten Erinnerung an Jesus Christus. Vor dem Hinter‐ grund der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Shoa sowie des Antijudaismus der christlichen Kirchen wird Jesus von Nazareth nicht mehr in einen Gegensatz zum Judentum gestellt, sondern als Teil von ihm gesehen. Da die christlich-religiöse Kommunikation in einer pluralen Kultur er‐ folgt, die permanenten Wandlungen und komplexen, sich überlagernden Aushandlungsprozessen unterliegt, die mit darüber entscheiden, was in ihr plausibel ist und was nicht, verändert sich die christliche Religion jederzeit als Ganze. Ihre Iteration erfolgt nicht nur in sich wandelnden Kontexten. Da sie selbst ein zeitlicher Prozess ist, transformiert sie die Erinnerung an Jesus Christus selbst in ihrer wiederholenden Wiederaufnahme. Freilich bedeutet das nicht, dass ständig neue Themen und Inhalte in die christlich-religiöse Kommunikation eingespeist werden müssten. Auch der Rückgriff auf alte, bislang vernachlässigte Themen der Bibel ist eine Erneuerung. Doch das Religiöse der christlichen Religion hängt nicht an den Inhalten, die kom‐ muniziert werden, sondern am religiösen Gebrauch, der von ihnen gemacht und in der Kommunikation hergestellt wird. Die biblischen Schriften fun‐ gieren in ihr als Inhalte, mit denen christlich-religiöse Kommunikation ge‐ lungen ist. Ihre Wiederholung in der Kommunikation, die sie fortlaufend zitiert und bestätigt, macht sie als christlich-religiöse Inhalte identifizierbar. Wie jedoch biblische Inhalte jederzeit in einem nichtreligiösen Sinne benutzt werden können, so ist es ebenso möglich, nichtreligiöse, also kulturelle In‐ halte in die christlich-religiöse Kommunikation aufzunehmen und einzube‐ ziehen. 6.1 Die Weitergabe der christlichen Religion: Die Kirche 345 <?page no="346"?> Kultur als Horizont Kultur ist der Horizont, in dem die Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus erfolgt. Auf der Ebene der Pneumatologie entspricht sie der Schöp‐ fungslehre (vgl. oben 5.1.3.3). Wie der Heilige Geist der Geber der Gabe ist, ohne die der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Re‐ ligion nicht entstehen kann, so ist Schöpfung das Weltwerden Gottes durch seine Sprachwerdung. Alle wirklichen und möglichen kulturellen Inhalte können in die christlich-religiöse Kommunikation aufgenommen werden. Indem sie in diese einbezogen werden, verlieren sie ihre kulturelle, das heißt, ethische, rechtliche, historische, politische etc. Bedeutung und werden zum Ausdruck und zur Darstellung der christlichen Religion. Dadurch ändert sich nicht die Inhaltsebene. Ihr wird durch den religiösen Gebrauch weder etwas hinzugefügt noch weggenommen. Der religiöse Sinn hängt nicht an den Inhalten, sondern an ihrem Gebrauch in der Kommunikation. Dieser lässt sich aber aus den Inhalten ebenso wenig herleiten wie kultureller Sinn. Zwischen Inhalten und der Fortsetzung der Kommunikation besteht stets ein Hiatus. Christlich-religiöse Kommunikation ist auf Kultur bezogen, ohne aus ihr herleitbar zu sein. Dass sie gelingt, religiöser Sinn in der Kommunikation von Inhalten hergestellt wird, lässt sich weder begründen noch ableiten. Doch nur indem die christlich-religiöse Kommunikation neue Inhalte in sich aufnimmt, sich transformiert und verändert, bleibt sie lebendig und dieselbe. Das symbolisiert der Heilige Geist in der christlich-religiösen Kom‐ munikation: in der wiederholenden Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus sich beständig zu alterieren und dadurch identisch zu bleiben (vgl. oben 5.3.3.3). Zur geschichtlichen Existenz kommt die christlich-reli‐ giöse Kommunikation in der hermeneutischen Verstehensgemeinschaft der Kirche, die zugleich ihre Erneuerung im schöpferischen Umgang mit der Erinnerung an Jesus Christus ist, von der sie abhängt. Kirche verwirklicht sich in der Kultur, in der sie die Erinnerung an Jesus Christus in ihrer Kommunikation als Religion weitergibt. Sie hat jedoch keine Funktion für die Kultur, wie in den Konzeptionen einer Kirche für die Welt aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts postuliert. Aufgabe der Kirche ist es, die christlich-religiöse Kommunikation religiös fortzusetzen, nicht aber, die Einheit oder Grundlage der Kultur zu begründen, einen Sinn des Lebens und der Welt zu stiften. Religion löst weder Probleme der Kultur noch die von Menschen. Sie ist ebenso selbstbezüglich wie andere kulturelle Formen der Kommunikation, die neben ihr als eigene Existenzmodi existie‐ ren. Diese stehen in einer ausdifferenzierten Kultur nebeneinander und ha‐ 346 6 Glaube und Geschichte <?page no="347"?> Diversität der kultu‐ rellen Kom‐ munikati‐ onsformen ben ein reflexives Wissen um ihre eigene Partikularität. Keine der kulturel‐ len Existenzweisen kann eine übergeordnete und zusammenfassende integrierende Perspektive für sich reklamieren. Eine solche Einheitsper‐ spektive hinter den kulturellen Systemen, die nur der Theologie zugänglich ist, wie sie Kulturtheologien von Paul Tillich bis hin zu Christoph Schwöbel beanspruchen, ist ein in einer radikal pluralen Kultur nicht mehr überzeu‐ gendes Postulat. Systematische Theologie konstruiert das innere Funktio‐ nieren der christlichen Religion, aber so wenig sie einen wahren Pluralismus (Eilert Herms) begründet, beantwortet sie Fragen der Ökologie, Ökonomie, Politik, Ethik oder der Menschheit. Eine Berücksichtigung der Diversität der kulturellen Kommunikationsformen setzt eine Selbstbeschränkung der christlichen Religion auf sich selbst voraus. Nur auf diese Weise kann Kirche die plurale Kultur der Moderne anerkennen und ihrer Funktion nachkom‐ men, die Erinnerung an Jesus Christus in ihrer Kommunikation zugleich erkennbar und lebendig zu kommunizieren. L IT E R ATU R : Christian Danz (Hrsg.): Medien - Erinnerung - Affekte. Dimensionen einer Theologie der Kultur, Tübingen 2024. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 241-257. Eilert Herms: Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995. Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2018. Christoph Schwöbel: Glaube und Kultur. Gedanken zur Idee einer Theologie der Kultur, in: NZSTh 38 (1996), 137-154. Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/ Werner Schüßler/ Erdmann Sturm, Berlin/ New York 2008, 26-41. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 245-264. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis Der Heilige Geist ist nicht nur Geber, er ist auch die Gabe der Erinnerung an Jesus Christus, die in der christlich-religiösen Kommunikation religiös weitergegeben wird. Wie jede Kommunikation ist die christlich-religiöse an Medien gebunden. Letztere bilden einen notwendigen Bestandteil desje‐ nigen Kommunikationsgeschehens, in dem sich der Glaube als symbolpro‐ 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 347 <?page no="348"?> duktive Wirklichkeit der christlichen Religion realisiert und in der Kultur zur sichtbaren Existenz kommt. Die Mediengebundenheit des Heiligen Geistes ist ebenfalls ein zentrales Thema der dogmatischen Pneumatologie. Von der lutherischen Dogmatik wurde sie unter dem Leitbegriff media salutis (Heils- oder Gnadenmittel) behandelt. Sie war der Auffassung, der Heilige Geist wirke nicht unmittelbar, das heißt, ohne Medien, sondern binde sich an bestimmte sinnliche Träger. Er ist nicht nur Medium, er ist auch an Medien gebunden. Im Fokus der dogmatischen Medientheorien des Luthertums stehen das Wort Gottes sowie die Sakramente Taufe und Abendmahl, die Medienkörper Jesu Christi. Sie haben die Funktion, das von Jesus Christus erworbene Heil dem Menschen zu übermitteln, fungieren also als Übertragungsmedien. Aus der gegenständlich-objektiven Fassung, die die media salutis in der lutherischen Lehrtradition erhalten haben, ergeben sich systematische Probleme, die ihre Funktion für die christliche Religion undeutlich werden lassen. Deshalb werden die Heilsmedien hier als reflexive Beschreibungselemente der Realisierung der christlich-religiösen Kommunikation verstanden und an die Christologie zurückgebunden. Im Folgenden sind zunächst Grundbegriffe der Medientheorie der altlu‐ therischen Dogmatik zu thematisieren (vgl. unten 6.2.1). Sodann werden exemplarische Problemfelder der Lehre von den Heilsmedien diskutiert, die sich aus ihrer gegenständlichen Fassung ergeben (vgl. unten 6.2.2). Im abschließenden Unterabschnitt wird eine reflexive Fassung der media salutis im Rahmen einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation vorgeschlagen, um die mit ihrer gegenständlich-objektiven Konstruktion verbundenen Probleme einer Lösung zuzuführen (vgl. unten 6.2.3). 6.2.1 Grundbegriffe der dogmatischen Lehre von den Heilsmedien des Luthertums Medientheorie ist bereits die Pneumatologie der altlutherischen Dogmatik. Unter dem Titel de media salutis behandeln die altlutherischen Theologen im direkten Anschluss an die Christologie die Heilsmedien Wort Gottes, Sakramente und Kirche. Diese sind Übertragungsmedien, deren sich der Heilige Geist in der Zueignung des Heils in Christo an den Menschen bedient. Medien sind die Heils- oder Gnadenmittel deshalb, weil sie sinnliche und damit sichtbare Zeichen sind, mit denen der Heilige Geist verbunden ist. Aufgabe der dogmatischen Medienreflexion ist es folglich, diese Verbindung 348 6 Glaube und Geschichte <?page no="349"?> Martin Lu‐ ther von sinnlichem Zeichen und Heiligem Geist zu klären und zu bestimmen. Genau das ist eine medientheoretische Problemstellung par excellence. Sie wird in einer gegenständlich-objektiven Weise bearbeitet. In den lutheri‐ schen Dogmatiken erfolgt das in Aufnahme und Weiterführung von Martin Luthers Glaubensverständnis und der mit diesem verbundenen Kritik an dem Medienbeziehungsweise Sakramentsverständnis der römisch-katholi‐ schen Kirche einerseits und radikal-reformatorischen Gruppen andererseits. Hieraus ergibt sich die für die altlutherische Theologie signifikante Verzah‐ nung und Überlagerung von Schriftlehre, Christologie und Abendmahl. Im Folgenden werden die drei Hauptthemen der Lehre von den Heilsmedien erörtert: die Lehre vom Wort Gottes, die Lehre von den Sakramenten und die Lehren von Taufe und Abendmahl. 6.2.1.1 Die Lehre vom Wort Gottes In den Dogmatiken des alten Luthertums erhält die Lehre vom Wort Gottes eine doppelte Behandlung. Sie wird sowohl in den Prolegomena der Dog‐ matik in der Schriftlehre als auch in der Lehre von den media salutis abge‐ handelt. Während es in der Schriftlehre um das Erkenntnisprinzip der Theo‐ logie geht, rückt in letzterer die Wirkung des Wortes Gottes in den Fokus. Allerdings ist die Wirksamkeit des Gotteswortes bereits in der Lehre von der Heiligen Schrift (lateinisch: de scriptura sacra) ein grundlegendes Thema. Mit der zentralen Stellung, welche das Wort Gottes in den Dogmatiken des alten Luthertums einnimmt, folgen diese Theologen dem Wittenberger Re‐ formator. Luther hatte im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der römi‐ schen Kurie und später mit radikal-reformatorischen Gruppen sowie den oberdeutschen Reformatoren zunehmend die Prinzipienfunktion der Heili‐ gen Schrift betont und das Wirken des Heiligen Geistes an den Buchstaben der Schrift gebunden. Alleiniges Erkenntnisprinzip der Theologie sei die Heilige Schrift. Das setzt voraus, dass diese in sich klar, vollständig und wirksam zum Heil ist. Erst diese Bedingungen schließen andere theologische Erkenntnisquellen wie Vernunft, Erfahrung und Tradition oder theologische Entscheidungsinstanzen wie ein kirchliches Lehramt im Falle von unklaren und zweideutigen Aussagen der Heiligen Schrift aus. Hieraus ergibt sich nicht nur, dass die Heilige Schrift als Wort Gottes in sich suffizient ist, son‐ dern auch ihre Vor- und Überordnung gegenüber der Kirche, ihrem Lehramt und allen menschlichen Vernunftgründen. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 349 <?page no="350"?> Erkenntnis‐ prinzip der Theologie Wesen der Heiligen Schrift Martin Luthers Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift In seiner 1525 publizierten Streitschrift De servo arbitrio hat Martin Luther sein Schriftverständnis in der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift zusammengefasst. Er unterscheidet hier zwischen einer claritas externa scripturae (äußere Klarheit der Schrift) und einer claritas interna scripturae (innere Klarheit der Schrift). Erstere bezieht sich auf die Zeichen des biblischen Textes. Sie repräsentieren eine vorliegende Sache, die ihnen eindeutig zugeordnet ist. Damit kommt den Zeichen Sachevidenz zu. Die innere Klarheit der Schrift bezieht sich hingegen auf die Heilsgewissheit, die durch das Wirken des Heiligen Geistes im Inneren des Menschen zustande kommt. Äußere und innere Klarheit der Schrift sind aufeinander bezogen, da das innere Wirken des Heiligen Geistes an die äußeren Zeichen der Schrift gebunden ist. Durch die von ihm gewirkte Herzenserkenntnis, also die claritas interna scripturae, vermag der Mensch die äußere Klarheit der Schrift im Einzelnen und im Ganzen zu erfassen. An Luthers Schriftverständnis knüpft die altlutherische Dogmatik an und baut es in einem komplexen Entwicklungsprozess zum Schriftprinzip aus. Letzteres wird in den Prolegomena der Dogmatik behandelt und bildet deren Schwerpunkt, da die Heilige Schrift das Erkenntnisprinzip der Theologie (lateinisch: principio theologiae cognoscendi) darstellt. Es sind insbesondere drei Themenkomplexe, die in den ausgeführten Schriftlehren der lutheri‐ schen Dogmatik traktiert werden: das Wesen der Heiligen Schrift, ihre Ei‐ genschaften und der Kanon der Heiligen Schrift. Grundlegend für die Bestimmung des Wesens der Heiligen Schrift im alten Luthertum ist die Unterscheidung von Wort Gottes und Schrift. Beide sind nicht dasselbe. Dogmatisch relevant ist allein das Wort Gottes, welches den Glauben wirkt. Doch dieses Wort ist ausschließlich in der Schrift gegeben. Sie ist verbum externum (äußeres Wort), welches als Medium fungiert. Dar‐ aus ergibt sich die Aufgabe, das Verhältnis von verbum externum, also den Zeichen des Textes, und verbum Dei (Wort Gottes) zu bestimmen. Das erfolgt durch Distinktionen, durch die Zeichen und Bedeutung, signum und signa‐ tum, unterschieden und einander zugeordnet werden. In der dogmatischen Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Wort Gottes liegt der Akzent auf der Produktion der Schrift. Dadurch bekommt die Schriftlehre einen ge‐ 350 6 Glaube und Geschichte <?page no="351"?> Eigenschaf‐ ten auctoritas genständlich-objektiven Zuschnitt. Verbunden werden nämlich die Zeichen der Schrift mit dem Wort Gottes durch die Inspiration oder *Theopneustie (nach 2Tim 3,16). Durch diesen Produktionsakt der Schriftentstehung in‐ korporiert der Heilige Geist den Zeichen das Wort Gottes, so dass eine feste Kopplung von diesem und der Schrift etabliert ist. Verbum Dei und Schrift bleiben zwar unterschieden, aber es besteht kein realer Unterschied zwi‐ schen ihnen. Die Heilige Schrift enthält das Wort Gottes vollständig. Ihre Zeichen sind mehr als Zeichen, in ihnen ist die res signata (bezeichnete Sa‐ che) gegeben. Auf diese Weise ist der Heilige Geist durch die Produktion des Textes an die Zeichen gebunden. Er kommt also nicht im religiösen Ge‐ brauch der Schrift zu den Zeichen hinzu, sondern ist in ihnen auch extra usum (außerhalb des Gebrauchs) präsent. Erst damit ist das Wesen der Hei‐ ligen Schrift als unfehlbarem Erkenntnisprinzip der Theologie bestimmt, welches allen menschlichen Erkenntnisprinzipen vor- und übergeordnet ist. Das Wesen der Heiligen Schrift entfaltet die Lehre von ihren Eigenschaf‐ ten (lateinisch: affectiones). Grundlage der Lehre ist die aristotelische Sub‐ stanz-Metaphysik, die bereits bei der Bestimmung des Wesens der Schrift zur Anwendung kam. Bei den affectiones geht es um Eigenschaften, die der Heiligen Schrift als Substanz zukommen. Dabei werden diese affectiones als Wirkungen der Schrift verstanden. Sie explizieren ihre soteriologische Di‐ gnität. Unterschieden werden in der Regel die drei Eigenschaften der auc‐ toritas (Autorität), perfectio seu sufficientia (Vollständigkeit) und perspicuitas seu efficacia (Klarheit und Wirksamkeit), wobei der Fokus auf der Autorität der Heiligen Schrift liegt und die beiden anderen Eigenschaften als deren Explikation fungieren. Im Blick ist bei der auctoritas das Wort Gottes, wel‐ ches den Glauben und die mit ihm verbundene Gewissheit schafft. Der mit den Zeichen der Schrift durch die Inspiration bereits verbundene Heilige Geist zeugt in ihrem Gebrauch von sich selbst, indem er den Glauben her‐ vorbringt. Das besagt das testimonium spiritus sancti internum (inneres Zeugnis des Heiligen Geistes). Indem die scriptura sacra durch das Wirken des Heiligen Geistes den Glauben wirkt, der sich streng genommen auf das in ihren Zeichen enthaltende verbum Dei bezieht, kommt ihr auctoritas cau‐ sative (verursachende Vollmacht) zu, die von der auctoritas normativa (normgebende Autorität) unterschieden wird, die die theologische Lehre betrifft. Neben dem inneren Zeugnis des Heiligen Geistes führen die alten lutherischen Theologen noch weitere Kriterien zum Erweis der göttlichen Dignität der Schrift an. Doch diese inneren und äußeren Kriterien (latei‐ nisch: criteria interna et externa), wie das Alter der Heiligen Schrift, ihr Inhalt 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 351 <?page no="352"?> perfectio seu suffi‐ cientia perspicui‐ tas seu effi‐ cacia Kanon verbum Dei als Heils‐ mittel oder ihre Bezeugung durch die Kirche, beziehen sich nicht mehr auf das unwandelbare Wort Gottes, welches die Zeichen enthalten, sondern auf den Text. Ihnen kommt ein untergeordneter Status zu, da lediglich das Wort Gottes unfehlbar wahr ist und nicht die menschlichen Zeichen. Die beiden anderen Kennzeichen der Heiligen Schrift, perfectio seu suffi‐ cientia und perspicuitas seu efficacia, entfalten ihre auctoritas, wobei auch hier die soteriologische Dimension im Fokus steht. Einerseits nehmen sie Martin Luthers Lehre von der doppelten Klarheit auf, und andererseits haben sie eine kontroverstheologische Funktion. Sie stellen sicher, dass die Heilige Schrift aufgrund ihrer Vollständigkeit hinreichend ist, um das Heil zu ver‐ mitteln, es also keiner über sie hinausgehenden Quellen bedarf, wie dem römisch-katholischen Traditionsprinzip. Und da das mit den Zeichen der Heiligen Schrift verbundene verbum Dei klar ist, bedarf es keiner ihr gegen‐ über externen Entscheidungsinstanz wie dem römisch-katholischen Lehr‐ amt. Entsprechend der facultas scripturae se ipsam interpretandi (Vermögen der Schrift, sich selbst auszulegen) ist die Heilige Schrift aus ihr selbst aus‐ zulegen. Dass der Kanon der scriptura sacra an das Ende der dogmatischen Erör‐ terung der Schriftlehre rückte, ist das Resultat ihrer Entwicklung in der alt‐ lutherischen Theologie. Begründen kann der zweiteilige Kanon die Autorität der Heiligen Schrift nämlich nur dann, wenn seine Fixierung nicht von der Kirche abhängt, sondern von seiner Produktion durch den Heiligen Geist. Seine Thematisierung setzt somit die Bestimmung von Wesen und Eigen‐ schaften der Schrift voraus. Folglich gelten die libri canonici (kanonischen Bücher) des Alten und Neuen Testaments als solche, die vom Heiligen Geist inspiriert sind. Von ihnen unterschieden sind die libri apocryphi (*apokryphe Bücher), deren göttlicher Ursprung zweifelhaft ist. Allerdings lassen es die altlutherischen Theologen ebenso wie die lutherischen Bekenntnisschriften offen, welche biblischen Bücher zum Kanon gehören. Mit der Schriftlehre der Prolegomena sind sowohl die Grundlagen der Dogmatik als auch der Behandlung des Wortes Gottes im Kontext der media salutis benannt. Liegt doch bereits den Erörterungen der scriptura sacra in den Prolegomena der Gedanke zugrunde, dass es allein das mit der Schrift verzahnte Wort Gottes ist, welches den Glauben wirkt und die übergeord‐ nete Perspektive darstellt. Die Ausführungen zum verbum Dei als Heilsmittel nehmen das auf und entfalten zunächst dessen Wirksamkeit (lateinisch: efficacia) und sodann seine Unterscheidung in Gesetz und Evangelium. Diese ergibt sich aus der Wirkung des Wortes Gottes. 352 6 Glaube und Geschichte <?page no="353"?> usus theo‐ logicus Im Fokus der Erörterung der Wirksamkeit des Wortes Gottes steht die Verbindung von Zeichen und Heiligem Geist. Es ist nicht das äußere sinnliche Zeichen als solches, welches den Glauben schafft, sondern der mit ihm verzahnte Heilige Geist. Er ist die Grundlage der efficacia des Wortes und unterscheidet es von menschlichen Worten. Damit wohnt dem verbum Dei eine übernatürliche Kraft ein, die substantiell mit dem Zeichen verbunden ist und sich, nachdem beide verschränkt sind, nicht mehr trennen lässt. Der Heilige Geist kommt folglich im Gebrauch der Heiligen Schrift in der Verkündigung nicht zum Zeichen hinzu, um innerlich zu wirken, sondern er ist bereits in ihm gegeben. Beide, die Zeichen der Schrift und der Gottesgeist, werden dadurch tendenziell identisch gesetzt und als gegenständliche Voraussetzung des Glaubens postuliert. Der Glaube ist Wirkung des Wortes Gottes. Diese differenzieren die alt‐ lutherischen Theologen in Gesetz und Evangelium, so dass das verbum Dei auf zwei zu unterscheidende Weisen wirkt. Hier ist eine grundlegende Dif‐ ferenzierung Martin Luthers in die Lehre vom Wort Gottes aufgenommen. Für den Reformator entsteht der Glaube aus dem *antinomischen Verhältnis von Gesetz und Evangelium (vgl. oben 2.3.1). In der dogmatischen Ausar‐ beitung des verbum Dei als Heilsmittel knüpfen die altlutherischen Theolo‐ gen an diese Unterscheidung an und bestimmen sie weiter. Das Wort Gottes als Gesetz bezeichnet die Kundgabe des göttlichen Willens in Form von Ge‐ boten und Verboten. Diese unterscheiden sich ihrem Geltungsbereich nach in einen allgemeinen und einen besonderen. Ersteres bezeichnet die lex mo‐ ralis (moralisches Gesetz) beziehungsweise die lex naturae (natürliches Ge‐ setz) und letzteres die lex ceremonialis et forensis (Zeremonialgesetz und öf‐ fentliches Gesetz). Als Inbegriff der sittlichen Forderungen, unter denen der Mensch steht, ist die von Gott gegebene und dem Menschen in der Schöp‐ fung ins Herz geschriebene lex naturae (Röm 1,19) Richtschnur des mensch‐ lichen Handelns. Insofern dient es dem Menschen zur Seligkeit. Doch auf‐ grund des Sündenfalls vermag der Mensch das Gesetz nicht mehr zu erfüllen (vgl. unten 6.3.1.1), so dass Letzterem die Funktion zukommt, die Erkenntnis der Sünde zu bewirken und die Sünderinnen und Sünder für das Heil in Jesus Christus empfänglich zu machen. Darin besteht die theologische Funktion des Gesetzes, der sogenannte usus elenchticus oder theologicus (theologischer Gebrauch des Gesetzes). Es überführt den Menschen als Sünder vor Gott, indem es durch das Aufdecken des Zurückbleibens des Menschen hinter der Forderung des Gesetzes Sündenerkenntnis bewirkt. Neben dem usus theo‐ logicus kommt dem Gesetz noch eine weitere Funktion zu, nämlich die Re‐ 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 353 <?page no="354"?> usus politi‐ cus usus pae‐ dagogicus gulierung des äußeren Zusammenlebens der Menschen. Im usus politicus (politischer Gebrauch des Gesetzes) bezieht sich das Gesetz nicht direkt auf das Gottesverhältnis, sondern auf die politische Gemeinschaft. Anders als Martin Luther kennt die altlutherische Theologie noch einen dritten Ge‐ brauch des Gesetzes für die Wiedergeborenen, den usus paedagogicus (päd‐ agogischer Gebrauch des Gesetzes). Das Evangelium bezieht sich auf die mit dem Gesetz in seinem theologi‐ schen Gebrauch verbundene Sündenerkenntnis. Es fordert nicht, wie das Gesetz, sondern hat die Sündenvergebung aufgrund des von Jesus Christus erwirkten Heils zum Inhalt und wirkt den Glauben. Gesetz und Evangelium sind unterschieden, aber aufeinander bezogen. Das eine Wort Gottes bringt den Glauben im Durchgang durch die mit dem Gesetz verbundene Sünden‐ erkenntnis hervor, so dass es der sündige Mensch ist, der sich vor Gott aufgrund der ihm durch das Wort Gottes als Evangelium zugesprochenen Sündenvergebung gerechtfertigt wissen kann (vgl. unten 6.3.1.2). L IT E R ATU R : Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 269-278. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 88-94. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 77-100. 247-252. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 74-117 (Reformatoren). 311-321 (lutherische Schriftlehre). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 160-169. 359-363. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklä‐ rung, Teil I, Gütersloh 1964, 71-137. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 18-58. 367-382. 6.2.1.2 Die Lehre von den Sakramenten Eine allgemeine Lehre vom Sakrament wurde von den altlutherischen Theo‐ logen nicht ausgearbeitet. Sie erläuterten das Sakramentsverständnis im Zusammenhang der Behandlung von Taufe und Abendmahl, den beiden sakramentalen Handlungen der lutherischen Kirchen. Auch die Confessio 354 6 Glaube und Geschichte <?page no="355"?> Martin Lu‐ ther Augustana erörtert den Begriff des Sakraments erst im Anschluss an Taufe und Abendmahl in Artikel XIII, legt also ihrer Thematisierung kein allge‐ meines Verständnis dessen zugrunde, was ein Sakrament ist. Gleichwohl wird hier das Verständnis der Sakramente in einem eigenen Abschnitt dis‐ kutiert, da mit ihm im Luthertum besondere Probleme verbunden sind (vgl. unten 6.2.2.1). Sie resultieren aus Martin Luthers reformatorischer Neube‐ stimmung des Sakraments sowie seiner Weiterentwicklung in Auseinan‐ dersetzung mit der römischen Kurie auf der einen und der innerreformato‐ rischen Entwicklung auf der anderen Seite. Sakramentslehre Grundlegend für die Entwicklung des Sakramentsverständnisses der westlichen Kirchen ist Augustin (vgl. oben 2.2). Er unterscheidet zwischen einem hörbaren (lateinisch: verbum audibile) und einem sichtbaren Wort (lateinisch: verbum visibile). In seiner Schrift De doctrina christiana (396/ 97 begonnen und 426/ 27 fertiggestellt) schreibt er: „Von den Zeichen also, mit denen die Menschen untereinander ihre Wahrnehmungen austauschen, beziehen sich einige auf den Sehsinn und sehr viele auf den Gehörsinn, die wenigsten auf die übrigen Sinne.“ (Augustin 2002, 47 f.) Augustin differenziert im Horizont seiner (plato‐ nischen) Zeichentheorie zwischen sichtbaren und hörbaren Zeichen. Den Sakramentsbegriff verwendet er einerseits in einem weiten Sinne für sinnlich wahrnehmbare Zeichen (lateinisch: signum), die auf eine verborgene geistige, überirdische Wirklichkeit (lateinisch: res divinae) verweisen. Andererseits stehen bei ihm die heiligen Handlungen von Taufe und Eucharistie im Blickpunkt des Interesses. Der wichtigste Bestandteil des Sakraments ist das Wort, so dass es gleichsam verbum visibile ist. „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“ (tritt das Wort zum Element, so entsteht das Sakrament). Das hohe Mittelalter hat unter dem Einfluss der Aristotelesrezeption die Sakramentslehre weitergebildet, und zwar vor allem unter Auf‐ nahme der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz. Die sich hieraus ergebende Transsubstantiationslehre wurde auf dem IV. Late‐ rankonzil 1215 dogmatisch fixiert und als verbindlich erklärt. Diese Lehre versucht, die Präsenz Christi in der Eucharistie mittels der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz zu erläu‐ tern. Ihr zufolge werden die beiden Substanzen Brot und Wein in der 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 355 <?page no="356"?> die Kritik der Refor‐ matoren Konsekration (Weihe beziehungsweise Wandlung bei der Eucharistie) der Elemente durch den geweihten Priester annihiliert, so dass sie sich unter Wahrung ihrer Akzidentien (Aussehen, Geschmack) in die Substanzen Leib und Blut Christi verwandeln. Die akzidentiellen Formen von Brot und Wein, also ihr Aussehen und Geschmack, bleiben als äußere Erscheinungsformen erhalten, aber so, dass ihre Substanzen in die Substanzen von Leib und Blut Christi durch die Konsekrations‐ worte des Priesters gewandelt werden. Auf diese Weise wiederholt der Priester in der Messe das Opfer Christi auf Golgatha, auf eine unblutige Weise. Das Zweite Vatikanische Konzil hat zwar diese Formulierung vermieden, der Sache nach jedoch an ihr festgehalten (DH 4048). Die Siebenzahl der Sakramente - die zuerst bei Petrus Lombardus begegnet - wurde auf dem Konzil von Florenz im Jahre 1439 dogma‐ tisch fixiert. Konstitutive Bestandteile des Sakraments sind: die materia (das Element), die forma (das Wort), und die intentio (die Absicht, ein Sakrament zu spenden). Die sieben Sakramente sind: Taufe, Firmung, Abendmahl, Buße, letzte Ölung, die Priesterweihe (lateinisch: ordo) und die Ehe. Auf der Grundlage seines Verständnisses des Glaubens, der aus dem Wort Gottes entsteht, bestreitet Luther die überlieferte Auffassung des Sakra‐ ments der dogmatischen Lehrtradition. Sakrament sei, wie er in der 1520 erschienenen Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium ausführt, lediglich Jesus Christus, das Medium des unsichtbaren Gottes, in dem Sinn‐ lichkeit und Bedeutung, signum und signatum, zusammenfallen. Jesus Chris‐ tus ist Wort Gottes und Sakrament. Ihm gegenüber haben die kirchlichen Handlungen lediglich den Status von signa sacramentalia, von sakramenta‐ len Zeichen, die ihn repräsentieren, denen aber selbst keine res sacra (heilige Sache) zukommt. Damit ist, obwohl Luther am Begriff des Sakraments fest‐ gehalten hat, dessen überlieferte ekklesiologische Fassung aufgelöst. Es wird christologisch bestimmt und in Parallele zum Wort Gottes verstanden, wobei dieses sowie der ihm korrespondierende Glaube den übergeordneten Ge‐ sichtspunkt darstellt. Wie das Wort Gottes sind Sakramente äußere sinnliche Zeichen, denen eine innere Bedeutung zugeordnet ist, die im Glauben emp‐ fangen wird, der Zeichen und Bedeutung verbindet. Sakramente sind dem Wort Gottes und dem Glauben untergeordnet und entbehrlich. Bei dieser Position ist Luther jedoch nicht stehengeblieben. In seiner Auseinanderset‐ 356 6 Glaube und Geschichte <?page no="357"?> altlutheri‐ sche Dog‐ matik Sakra‐ mente zung mit anderen reformatorischen Ansichten seit der Mitte der 1520er Jahre wertet er das Sakrament auf, hält jedoch an der grundlegenden Korrelation von Wort Gottes und Glaube fest. Die Verkopplung von Zeichen und Be‐ deutung verdankt sich, wie nun betont wird, nicht dem Glauben, sondern ihrer Stiftung durch Jesus Christus. Schriftlehre, Christologie und Sakramentsauffassung sind eng verbunden. Hieraus resultiert die Reduktion der sieben Sakramente auf zwei. Nur für Taufe und Abendmahl liegt eine von der Heiligen Schrift bezeugte göttliche Einsetzung vor, durch die ein äußeres, sinnliches Element mit der Verheißung der Sündenvergebung verbunden ist. Der sündentheologische Rahmen bleibt in Luthers Sakramentsverständnis ebenso erhalten wie die substantielle Verzahnung von Zeichen und Wort Gottes. Dieses ist in den sinnlichen Elementen des Sakraments präsent, so dass die Zeichen mehr als Zeichen sind. Sie repräsentieren nicht etwas anderes, sondern sind selbst die res signata. Luthers Neufassung der sakramentalen Handlungen von Taufe und Abendmahl hat die altlutherische Dogmatik aufgenommen und weiterge‐ führt. Ebenso wie das Wort Gottes sind Sakramente sinnliche Zeichen, die als Träger des Heiligen Geistes fungieren, der durch diese das von Jesus Christus erworbene Heil dem Menschen übermittelt und zueignet. Sakra‐ mente sind somit Medien des Heiligen Geistes. Sie haben einen instrumen‐ tellen Charakter und vermitteln wirksam die Heilsgnade in der Geschichte, die in Jesus Christus gleichsam fertig vorliegt. Damit die Gnade nicht nutzlos bleibt, muss sie vom Menschen im Glauben ergriffen werden. Das Vehikel des Transports der Heilsgnade ist das Sakrament. Es ist gegenständlich-ob‐ jektiv aufgefasst. Zwar ist es auf den Glauben bezogen, aber die Verkopplung von sinnlichem Element und Heiligem Geist kommt nicht durch ihn zu‐ stande, sondern durch die Stiftung des Sakraments durch Jesus Christus. Diese fundiert die substantielle ontosemiologische Verbindung von signum und signatum, die jedoch strikt an den Vollzug der sakramentalen Handlung gebunden ist. Folglich kann von einem Sakrament nur dann die Rede sein, wenn eine von Christus bezeugte Einsetzung eines sinnlichen Elements zum Träger der Heilsgnade in der Heiligen Schrift vorliegt. Das trifft lediglich für Taufe und Abendmahl zu, denen allein der Status von sakramentalen Hand‐ lungen der Kirche zukommt. Anders als die Heilige Schrift wirken die Sa‐ kramente nicht extra usum. Sakramente bezeichnen Handlungen der Kirche, die sich durch ihre beiden Merkmale von anderen kirchlichen Handlungen unterscheiden. In 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 357 <?page no="358"?> Einset‐ zungsworte ihnen liegt ein sichtbares Element, ein Zeichen, vor und ein unsichtbarer Gehalt, der nicht in die Sinne fällt und lediglich dem Glauben zugänglich ist. Letzterer, das Unsichtbare am sichtbaren Zeichen, ist das eigentlich Wirkende im Sakrament. In der weiteren Entwicklung der Lehre von den Sakramenten im alten Luthertum wurde die Relation von Element und Wort Gottes durch die Unterscheidung von materia terrestris (irdische Materie) und materia coelestis (himmlische Materie) weiterbestimmt. Erstere meint die sinnlichen Zeichen, die als Vehikel des unsichtbaren Göttlichen fungieren. Doch letztere wird nun vom verbum Dei unterschieden und als etwas verstanden, welches durch die Einsetzungsworte (lateinisch: verba consecrationis) als übernatürliche Substanz zum Element hinzukommt. Hier‐ für ist eine besondere Einheit der beiden Materien in Anspruch genommen, die unio sacramentalis (sakramentale Einheit). Dadurch wird die materia coelestis zur Grundlage und Bedingung der durch das Sakrament vermittel‐ ten Heilsgnade und begründet eine über die Wort-Gottes-Verkündigung hinausgehende eigenständige Dignität der Sakramente. Im Fokus dieser Distinktion der altlutherischen Sakramentsauffassung steht das Abendmahl, in dem Jesus Christus real präsent ist (vgl. unten 6.2.1.3). Doch in Parallele zu ihm bestimmen die alten Lutheraner auch eine materia coelestis der Taufe. Mit der Einführung einer himmlischen Materie tendiert die lutheri‐ sche Sakramentsauffassung zu einem metaphysischen Substantialismus, der ähnlich wie im römischen Katholizismus die Sakramente dem Wort Gottes überordnet. Von der späteren lutherischen Theologie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde denn auch die Distinktion von materia terrestris und materia coelestis fallengelassen und zur Relation von elementum und verbum zurückgelenkt. In der sakramentalen Handlung kommt das Wort Gottes nicht sekundär zu dem sichtbaren äußeren Element hinzu. Vielmehr ist die wirkende Heils‐ gnade des Heiligen Geistes in ihr fest mit dem Zeichen aufgrund ihrer Stif‐ tung durch Jesus Christus verbunden. Vor dem Hintergrund dieser Konstel‐ lation erhalten die Einsetzungsworte eine konstitutive Bedeutung für die Sakramente. Damit ein Sakrament entstehen kann, muss es in genauer Ent‐ sprechung zu seiner Stiftung vollzogen werden. Indem der Amtsträger die verba consecrationis spricht, wiederholt er ihre Einsetzung durch Jesus Christus, durch die Zeichen und Bedeutung verbunden sind. Er spricht diese Worte nicht in seinem, sondern in Jesu Christi Namen. Konstitution und Wirkung des Sakraments hängen weder am Amtsträger noch am Glauben der Gemeinde. Beides ist unabhängig von ihnen und dem Glauben vorge‐ 358 6 Glaube und Geschichte <?page no="359"?> geben. Zu empfangen sind die Sakramente im Glauben, der sie jedoch nicht konstituiert. Nur in ihm erfüllen sie ihre Funktion, durch die sakramentale Handlung das Heil in Christus wirksam zu vergewissern. Deshalb ist der Empfang der Sakramente an die Mitgliedschaft in der lutherischen Kirche gebunden beziehungsweise wie im Falle der Taufe die Aufnahme in sie. Zwar gibt es auch in ihr Heuchler und Nichtglaubende. Sie empfangen jedoch die himmlische Substanz lediglich zum Gericht und nicht die heilsame Wirkung des Sakraments. Es ist dieses substantielle Verständnis des Wortes Gottes sowie der Sakra‐ mente als Gnaden- oder Heilsmittel, welches sie für das alte Luthertum zu äußeren Kennzeichen der Kirche macht (vgl. oben 6.1.1.2). Sie sind wirksame Zeichen oder operative Medien. Mit und durch sie tritt die unsichtbare Kirche sichtbar in Erscheinung. L IT E R ATU R : Augustin: Die christliche Bildung (De doctrina christiana), hrsg. v. Karla Pollmann, Stuttgart 2002. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 283-288. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 119-122. Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen / Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hrsg. v. Peter Hünermann, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 45 2017 (= DH). Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 252-264. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 216-245 (Reformatoren). 358-368 (Luthertum). 423-428 (Calvinismus). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 363-367. Ferdinand Kattenbusch: Art.: Sakrament, in: Realencyklopädie für protestanti‐ sche Theologie und Kirche, hrsg. v. Albert Hauck, Bd. 17, Leipzig 3 1906, 349-381, bes. 369-374. Ulrich Kühn: Sakramente. Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 11, Gütersloh 1990. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 359 <?page no="360"?> Taufe Wesen der Taufe Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae. Praeludium / Von der Babylo‐ nischen Gefangenschaft der Kirche. Ein Vorspiel, in: ders.: Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd.-3, Leipzig 2009, 173-375. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 382-394. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 354-360. Gunther Wenz: Art.: Sakramente I. Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realen‐ zyklopädie, Bd.-29, Berlin/ New York 1998, 663-684, bes. 670-673. 6.2.1.3 Die Lehre von Taufe und Abendmahl Taufe (lateinisch: de baptismo) und Abendmahl (lateinisch: de sacra coena) sind die beiden Sakramente, die in der lutherischen Dogmatik ausführlich behandelt werden. Mit ihnen knüpfen die altlutherischen Theologen an Martin Luther sowie die lutherischen Bekenntnisschriften an und geben ihnen eine gegenständlich-objektive Begründung, die auf den Konnex von Schriftlehre, Christologie und Abendmahl aufbaut. Den Rahmen der dog‐ matischen Lehren von Taufe und Abendmahl bildet wie in der kirchlichen Lehrtradition und bei dem Reformator die Sündenlehre. Vor diesem Hinter‐ grund werden die beiden media salutis parallel konstruiert, indem zunächst ihr Wesen, sodann ihre Form und schließlich ihr Endzweck thematisiert werden. Eine sakramentale Handlung ist die Taufe, weil sie von Jesus Christus eingesetzt und durch ihre Stiftung das sinnliche Element Wasser mit dem Wort Gottes verbunden ist. Da mit ihr die Aufnahme in die Kirche verbunden ist, geht sie dem Abendmahl voran. Sein Empfang setzt die Taufe voraus. Sie tilgt zwar nicht, wie in der antiken und mittelalterlichen Lehrtradition die Erbsünde, aber ihr sakramentaler Vollzug eignet dem Täufling die Heils‐ gnade zu und gliedert ihn, der Sünder bleibt, in den Leib Christi ein. Das Wesen der Taufe, also ihr sakramentaler Charakter, besteht in der Verbin‐ dung des äußeren, sinnlichen Elements Wasser mit dem Wort Gottes bezie‐ hungsweise der Verheißung der Sündenvergebung. Beide Elemente sind in der sakramentalen Handlung miteinander verbunden, so dass das sichtbare Wasser zugleich das unsichtbare verbum Dei ist, welches die eigentlich wirksame übernatürliche Kraft in der Taufe ist. In ihrem Vollzug ist das Wasser als materia terrestris durch eine besondere unio sacramentalis mit einer materia coelestis verbunden. Worin letztere besteht, ist in der altluthe‐ rischen Dogmatik umstritten. Sie wird zunächst mit dem Heiligen Geist 360 6 Glaube und Geschichte <?page no="361"?> Form der Taufe Zweck der Taufe Abendmahl identifiziert, später zumeist im Anschluss an den Taufbefehl aus Mt 28,18- 20 mit der Trinität. Die himmlische Materie kommt in der consecratio der Taufe durch die sakramentale Vereinigung zu dem sinnlichen Element sowie dem verbum hinzu und ist die Grundlage der heilsschaffenden Wirksamkeit des Sakraments. Das sinnliche Zeichen repräsentiert somit nicht einen über‐ natürlichen Gehalt. Er ist in dem Wasser, welches als solches bleibt, durch das Hinzutreten der materia coelestis real präsent. Ihrer Form nach ist die Taufe eine sakramentale Handlung und ein Werk‐ zeug der Mitteilung und Austeilung der Gnade. In ihr sind materia terrest‐ ris, also das Wasser, und materia coelestis, der Heilige Geist beziehungsweise die Trinität, zur sakramentalen Einheit verbunden. Für diese Verbindung ist der Vollzug der Handlung in genauer Entsprechung zu ihrer Stiftung erfor‐ derlich. Als Sakrament konstituiert sich die Taufe in der Wiederholung der Einsetzungsworte, ihrer Spendung und ihrem Empfang. Aufgrund ihrer Bindung an die sakramentale Handlung wirkt die Taufe zwar nicht extra usum, doch in ihrem Vollzug ist ihre sakramentale Dignität aufgrund der unio sacramentalis der beiden Materien unabhängig sowohl von dem Spen‐ der als auch von ihrem Empfänger. Der Zweck der Taufe besteht in der wirksamen Übermittlung der sub‐ stantiell verstandenen Heilsgnade an den Menschen. Die Taufhandlung hat einen werkzeuglichen beziehungsweise operativen Charakter. In dieser Hin‐ sicht entspricht ihr Endzweck dem Wort Gottes. Da dieses jedoch an das Verstehen gebunden ist, geht die Taufe der Wortverkündigung voraus und richtet sich an die Kinder. Anders als bei Erwachsenen ist bei Kindern als Empfänger der sakramentalen Handlung weder mit Heuchelei noch mit Wi‐ derstand zu rechnen, so dass im Vollzug der Taufe sowohl die himmlische Substanz als auch die mit ihr verbundene Wirkung gleichsam ungehindert zur Entfaltung kommt. Durch die Taufe wird der Täufling in den Leib Christi und den Bund Gottes aufgenommen, der unabhängig von menschlichen Schwankungen ist und ewig besteht. Aus diesem Grund ist die korrekt ent‐ sprechend der verba institutionis (Einsetzungsworte) vollzogene Taufe nicht wiederholbar. Als Fortsetzung und Erneuerung der Taufe dient die Buße. Mit dieser Einordnung der Taufhandlung folgen die altlutherischen Theologen Luther, der die Buße zunächst noch als eigenes Sakrament bestehen ließ, sie jedoch seit den 1520er Jahren, da ihr kein äußeres, sinnliches Element kor‐ respondiert, als Rückkehr zur Taufe verstand. Während die sakramentale Handlung der Taufe den Menschen in den Leib Christi integriert, hat das Abendmahl einen anderen Charakter. Es dient der 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 361 <?page no="362"?> Wesen des Abend‐ mahls Vergewisserung und Stärkung des Glaubens durch den Genuss von Leib und Blut Jesu Christi. Im Fokus der dogmatischen Ausführungen über das Abendmahl steht die Realpräsenz des erhöhten Jesus Christus in den Ele‐ menten Brot und Wein. Mit dieser Überzeugung folgen die altlutherischen Theologen dem Wittenberger Reformator, der seit der Mitte der 1520er Jahre in Auseinandersetzung mit den oberdeutschen Reformatoren sowie radi‐ kalreformatorischen Gruppen seine frühere Auffassung des Sakraments des Altars revidierte und auf der leiblichen Gegenwart Jesu Christi in den Abendmahlselementen beharrte. Im Hintergrund seiner Anschauung steht seine Christologie, die wiederum auf seinem Schriftverständnis beruht. Lu‐ ther liest die Einsetzungsworte des Mahls „Das ist mein Leib“ (Lk 22,19) als Identifikation beziehungsweise Ineinssetzung der beiden Elemente Brot und Wein mit Leib und Blut Jesu Christi. Brot und Wein bleiben damit erhalten und werden nicht, wie in der römisch-katholischen Lehre von der Trans‐ substantiation, durch den Priester gewandelt. Doch durch die Einsetzungs‐ worte tritt zu ihnen Leib und Blut Christi hinzu, so dass beide fest verbunden sind. Die Elemente sind dann nicht einfach nur Zeichen, die, wie für den Züricher Reformator Ulrich Zwingli (1484-1531), Leib und Blut Christi be‐ deuten (lateinisch: significare), indem sie auf Christus im Glauben verweisen und das Heilsgeschehen erinnern. Für den Wittenberger Reformator ist der seit seiner Menschwerdung zur Rechten Gottes sitzende Jesus Christus so‐ wohl in seiner göttlichen als auch seiner menschlichen Natur in Brot und Wein leibhaft präsent und nicht nur irgendwie in, unter und mit den Ele‐ menten gegeben. Grundlage dieser Auffassung ist die Christologie Luthers, die aufgrund der unio personalis der beiden Naturen von einer Anteilhabe der menschlichen Natur an den Majestätseigenschaften der göttlichen aus‐ geht (vgl. oben 5.2.1.1). Aus ihr ergibt sich die Ubiquität (Allgegenwärtigkeit) der menschlichen Natur Jesu Christi, die seit der *Inkarnation mit dem Logos persönlich geeint ist. An die Aufstellungen Luthers knüpft die dogmatische Ausgestaltung der Lehre vom Abendmahl in der altlutherischen Dogmatik an. Das Wesen der sakramentalen Handlung ist in den verba institutionis ausgesprochen. Zu den Elementen Brot und Wein kommen Leib und Blut Jesu Christi hinzu. Die für das Sakrament wesentlichen Merkmale sind die Einsetzung durch Jesus Christus, die sichtbaren äußerlichen Elemente Brot und Wein und das verbum Dei der Verheißung der Sündenvergebung. Doch im Abendmahl kommt mit Leib und Blut Christi zu dem Gnadenmittel noch etwas hinzu, das über das verbum hinausgeht und dessen heilswirkende Kraft und Wirk‐ 362 6 Glaube und Geschichte <?page no="363"?> Form des Abend‐ mahls Zweck des Abend‐ mahls samkeit erst hervorbringt. Diese Auffassung, welche Luthers Insistieren auf der leiblichen Realpräsenz Christi im Altarsakrament aufnimmt, motivierte die Annahme einer materia coelestis in der Abendmahlslehre der altlutheri‐ schen Dogmatik. Materia terrestris sind Brot und Wein, die sich in der sak‐ ramentalen Handlung nicht wandeln. Zu ihr tritt die himmlische Materie von Leib und Blut Christi in der Handlung hinzu und wird mit ihr in der unio sacramentalis vereinigt. Aufgrund dieser substantiellen Konstruktion des Abendmahls, die sich streng auf dessen Vollzug bezieht und extra usum nicht besteht, ist das Abendmahl kein bloßes Zeichen, welches etwas anderes repräsentiert, sondern ein Zeichen, das die bezeichnete Sache, die res signata realpräsent enthält. Ihre theologische Fundierung hat diese Abendmahls‐ lehre in der lutherischen Christologie, deren Eigenart in der personalen Mitteilung der Eigenschaften der Naturen in dem Gottmenschen besteht. Die Form des Sakraments umfasst die sakramentale Handlung entspre‐ chend ihrer Stiftung durch Jesus Christus. Sie beinhaltet die verba institu‐ tionis, durch die die Konsekration erfolgt, die Austeilung der konsekrierten Elemente sowie ihren leiblichen Genuss. Zeichen und himmlische Materie sind im Sakrament des Altars verbunden, wobei letztere die wirksame Kraft darstellt, die durch Brot und Wein übertragen wird. Ihre substantielle Ver‐ bindung fußt auf ihrer Stiftung beziehungsweise göttlichen Einsetzung, die der Amtsträger im Namen Jesu Christi wiederholt, so dass sie sowohl von ihm als auch vom Glauben derjenigen, die das Mahl empfangen, unabhängig und ihnen vorgeordnet ist. Im Empfang der durch die Elemente vermittelten Heilsgnade besteht der Endzweck des Abendmahls. Zwar empfangen alle in der sakramentalen Handlung mit den konsekrierten Elementen Brot und Wein die himmlische Substanz. Doch die heilsame Gnadenwirkung hängt an dem Genuss von Brot und Wein im Glauben, während die Heuchler die göttliche Substanz als Gericht erfahren. Auf diese Weise vergewissert das Abendmahl die Glaubenden des ihnen von Christus für sie erworbenen Heils, indem sie seinen Leib und sein Blut real leiblich genießen (lateinisch: manducatio oralis), und bindet sie mit ihm sowie untereinander in der Ge‐ meinschaft der Heiligen zusammen. Es setzt die Taufe voraus, die den Men‐ schen in den Leib Christi inkorporiert, und ist mithin an die Gliedschaft in einer lutherischen Kirche gebunden. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 363 <?page no="364"?> L IT E R ATU R : Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 283-288. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 123-127. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 252-264. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 216-245 (Reformatoren). 358-368 (Luthertum). 423-428 (Calvinismus). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 367-386. Martin Luther: Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, in: ders.: Werke in Auswahl, Bd.-3: Schriften 1524-1528, hrsg. v. Otto Clemen, Berlin/ Boston 1983, 352-518. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 394-427. Johann Anselm Steiger: „Das Wort sie sollen lassen stahn …“. Die Auseinanderset‐ zung Johann Gerhards und der lutherischen Orthodoxie mit Hermann Rathmann und deren abendmahlstheologische und christologische Implikate, in: ZThK 95 (1998), 338-365. Johann Anselm Steiger: Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der ‚fröhliche Wechsel‘ als hermeneutischer Schlüssel zu Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor, in: NZSTh 38 (1996), 1-28. 6.2.2 Problemfelder der Lehre von den Heilsmedien Im Kern ist bereits die altlutherische Pneumatologie Medientheorie. Der Heilige Geist wirkt nicht immediat, sondern ist an bestimmte sinnliche Träger gebunden, die media salutis. Diese sind die Heilige Schrift sowie die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl. Ihre Funktion, das von Jesus Christus erworbene Heil an den Menschen zu übermitteln und es ihm zuzueignen, macht sie zu Medien des Heils. Von der altlutherischen Dogmatik werden die media salutis im Anschluss an Martin Luther und in Weiterführung seiner Überlegungen gegenständlich-objektiv konstruiert. Sinnlichkeit und Sinn beziehungsweise Zeichen und Bedeutung sind in Schrift, Taufe und Abendmahl fest verzahnt. Als Zeichen sind sie mehr als Zeichen. Sie enthalten die res signata. Sowohl die Erkenntnisals auch die 364 6 Glaube und Geschichte <?page no="365"?> Bibelkritik der Aufklärung löste die substanz-metaphysische Fassung von Schrift, Taufe und Abendmahl auf, die sie im Altprotestantismus erhalten hatten. Auch die Medienrevolutionen der Moderne ließen die alten Medien der christlichen Religion nicht unberührt. Das schlägt sich in den dogmati‐ schen Kontroversen über die media salutis seit der Aufklärung nieder. Im Folgenden werden drei exemplarische Problemfelder der Lehre von den Heilsmedien diskutiert: das Verhältnis von Wort Gottes und Sakrament, die theologische Begründung der media salutis und die klassischen protestanti‐ schen Leitmedien im Lichte moderner Medienrevolutionen. 6.2.2.1 Wort und Sakrament Das Leitmedium des Protestantismus ist die Heilige Schrift. Sie ist die normative Grundlage und Richtschnur der Theologie. Aufgrund ihrer Ent‐ stehung durch den Heiligen Geist sind die Zeichen der Schrift mit dem Wort Gottes fest verzahnt (vgl. oben 6.2.1.1). Das macht die Heilige Schrift zum zentralen Medium lutherischer Theologie. Als Zeichen enthält sie die bezeichnete Sache, das verbum Dei, das wiederum selbstwirksam den Glauben hervorbringt. Dieser Status kommt, wie die Schriftlehren der altlutherischen Dogmatik ausführen, der scriptura sacra auch extra usum zu, so dass das verkündigte Wort Gottes das alles entscheidende Heilsmittel ist. Ihm entsprechend sind die Sakramente verstanden. Sie sind verbum visibile (sichtbares Wort) und das Wort verbum audibile (hörbares Wort). Beide enthalten dasselbe, nämlich das verbum Dei. Wenn aber sowohl Wort als auch Sakrament dasselbe enthalten, dieses also selbst lediglich jenes ist, wozu bedarf es dann neben der Heiligen Schrift und der Verkündigung des Wortes noch der Sakramente? Vor dem Hintergrund dieser Konstellation hatte bereits der junge Luther in seinen Sermonen zum Sakrament vor 1520 die Konsequenz gezogen, dass es eigentlich überflüssig sei. Das verkündigte Wort Gottes sei ausreichend. Zudem ist das Sakrament, auch wenn der Reformator in seinen späteren Ausführungen zur Sache es theologisch mas‐ siv aufwertete, im Luthertum durchaus umstritten. Neben Jesus Christus, dem sacramentum schlechthin, kann es, wie Luther ebenfalls notierte, kein weiteres Sakrament geben. Aufgrund der ekklesiologischen Implikationen, die der Sakramentsbegriff in der römisch-katholischen Theologie erhalten hatte, ist seine Verwendung in der protestantischen Theologie seit der Refor‐ mationszeit kontrovers und wird als Oberbegriff für Taufe und Abendmahl zurückgewiesen. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 365 <?page no="366"?> Nebenein‐ ander von Wort und Sakrament Mit dem Nebeneinander von Wort und Sakrament ist das Problem aufge‐ worfen, worin der Eigenwert von diesem gegenüber jenem besteht. Geht das Sakrament über das verkündigte Wort hinaus, wenn es doch selbst nichts anderes als dieses enthält? Ein Eigengewicht gegenüber dem Wort und sei‐ ner Verkündigung erhielt das Sakrament in der altlutherischen Theologie durch die Einführung einer mit dem sinnlichen Zeichen verbundenen ma‐ teria coelestis (vgl. oben 6.2.1.2). Durch die himmlische Substanz, die in der sakramentalen Handlung durch seine Einsetzung zu dem äußeren Zeichen hinzukommt und sich mit ihm verbindet, zeichnet sich das Sakrament in der Tat durch etwas aus, was über das verbum hinausgeht und dessen heils‐ wirksame Kraft erst begründet. Doch der substanz-metaphysische Realis‐ mus des altlutherischen Sakramentsverständnisses, der die Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl gegen abweichende Positionen zementieren soll, wirft mehr Probleme auf, als er löst. Nicht nur wird das verbum durch eine solche Sakramentsauffassung depotenziert, es ist vor allem die Frage, was man sich unter einer derart dinglich-gegenständlich gefassten himmlischen Substanz des erhöhten Herrn überhaupt vorstellen soll. Schon die Schwie‐ rigkeit, eine solche für die Taufe zu benennen, macht die Verlegenheit der altlutherischen Theologen mehr als deutlich. Eine Auszeichnung der Eigen‐ ständigkeit der Sakramente gegenüber dem verkündigten Wort lässt sich nur durch eine theologische Setzung gewinnen, die jedoch aus Taufe und Abendmahl magische Mirakel werden lässt. Wo in der weiteren Entwicklungsgeschichte der lutherischen Theologie nicht, wie im konfessionellen Luthertum des 19. und 20. Jahrhunderts, an dem Gedanken einer himmlischen Substanz des Abendmahls festgehalten wurde, wird das Nebeneinander von Wort und Sakrament in der Regel anthropologisch begründet. Anders als bei Luther und in der altlutherischen Theologie rückt dadurch die Handlungssituation in den Fokus, der Ritus (so schon Philipp Melanchthon), und nicht lediglich die Elemente der Sakramente. Demnach enthalten beide dasselbe, nämlich das Wort Gottes, so dass kein Unterschied zwischen der Wortverkündigung und der sakra‐ mentalen Handlung besteht. Aber beide wenden sich an unterschiedliche Dimensionen des Menschseins. Während das Wort und seine Verkündigung auf den Intellekt des Menschen abzielen, richten sich die Sakramente an den leiblichen Sinn (Wilfried Härle), an seine leibliche Ganzheit und Naturgebundenheit (Dietz Lange [geb. 1933]). Wort und Sakrament sind unterschiedliche Begegnungsweisen des verbum Dei (Gerhard Ebeling, Dietz Lange). Verstehen und Erleben wäre damit die Differenz, welche 366 6 Glaube und Geschichte <?page no="367"?> Besonder‐ heit des Sa‐ kraments die Unterscheidung sowie das Nebeneinander von Wortverkündigung und Sakramentshandlung begründet. Letztere eröffnet eine Atmosphäre von leibhaftiger Nähe, die erlebt wird, und ersteres spricht die Geistigkeit des Menschen an (Lukas Ohly [geb. 1969]). Auf ähnliche Weise hatte bereits die lutherische Orthodoxie die Taufe den Kindern zugeordnet, welche die Verkündigung nicht verstehen können. Doch ohne Verstehen funktionieren auch die sakramentalen Handlungen nicht. Als christliche Symbolhandlun‐ gen können sie nur erkannt werden, wenn man schon weiß, worum es in ihnen geht. Wenn das ohne deutende Worte nicht möglich ist, dann wird unklar, was das Sakrament dem Wort gegenüber auszeichnet. Es wurde deshalb vorgeschlagen, die Besonderheit des Sakraments darin zu sehen, dass es sich an Einzelne richtet, während das Wort an alle ergeht, die es hören. Diesem Argument zufolge, welches schon Luther geltend machte, ist die persönliche Teilnahme an den sakramentalen Handlungen das Entscheidende. Im Unterschied zur Wortverkündigung, die sich an die versammelte Gemeinde als Ganze richtet, sind beim Sakrament die Einzel‐ nen persönlich angesprochen. Sie werden leibhaftig getauft und genießen Leib sowie Blut Jesu Christi. In der lutherischen Theologie kann sich der leibhafte Vollzug mit der Realpräsenz Christi im Abendmehl verbinden. In der manducatio oralis der Glaubenden und nicht schon im Hören des Wortes wird die Zerrissenheit von Leib und Seele überwunden (Werner Elert). Die Besonderheit der sakramentalen Handlung gegenüber der Wortverkündi‐ gung, ihre wesentliche Bedeutung, besteht folglich in der Fokussierung auf die Einzelnen und ihrer leiblichen Kopräsenz im Gottesdienst. Auch das gilt für die Verkündigung des Wortes. Selbst wenn es sich an die versammelte Gemeinde richtet, so ist doch kaum von der Verkündigung intendiert, über die Köpfe hinwegzureden. Vor dem Hintergrund der Medienrevolutionen seit dem Ende des 20. Jahr‐ hundert ist diese Argumentation wieder revitalisiert worden. Elektronische Medien schalten die leibliche Anwesenheit der Kommunikanten in der Kommunikation aus und ersetzen sie durch Technik (vgl. unten 6.2.2.3). Das ist aber bereits durch die Einführung der Medien Schrift und Buch der Fall. Digitale Medien verstärken dies lediglich. Was bedeutet das für das Nebeneinander von Wort und Sakrament? Sind sie an ihre Medien sowie an die leibliche Kopräsenz im Gottesdienst gebunden, oder funktionieren sie auch in elektronischen und digitalen Medien? Während Übertragun‐ gen von Wort-Gottesdiensten in Rundfunk und Fernsehen sich seit dem 20. Jahrhundert etabliert haben, ist es im Hinblick auf die sakramentalen 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 367 <?page no="368"?> Wechsel‐ verhältnis von Wort und Sakra‐ ment Handlungen umstritten, ob sie ebenfalls in elektronischen Medien inszeniert werden können. An ihnen, da sie sich an Einzelne richten, müsse man in persönlicher Kopräsenz teilnehmen. Andernfalls liege kein Sakrament vor beziehungsweise wirke es nicht. Trifft das zu, dann würde das Besondere der sakramentalen Handlung gegenüber der Wortverkündigung darin bestehen, dass es nicht nur die Individualität der Einzelnen persönlich anspricht, sondern hierfür auch unmittelbare leibliche Kopräsenz der Kommunikanten konstitutiv ist. Weiterführender sind Konzeptionen, in denen das Nebeneinander von Wort und Sakrament als Wechselverhältnis gefasst ist, beide sich also auf‐ einander beziehen. Dadurch erhält das Sakrament eine Funktion für das Wort und vice versa. Die sakramentale Handlung macht hier den religiösen Sinn oder Vollzugscharakter des Wortes in der mündlichen Kommunikation deutlich (Paul Althaus). Sie ist Hinweis darauf, dass es in der Verkündigung des Wortes nicht um die Mitteilung von Informationen geht, sondern um seine existentielle Aneignung im Glauben. Auf diese Weise hebt das Sakra‐ ment den Akt-Charakter des Wortes hervor. Eine andere Wendung bekommt die Funktion der sakramentalen Handlung für die Verkündung des Wortes, wenn sie als Hinweis darauf verstanden wird, dass die mündliche Kommu‐ nikation des Wortes Gottes sich nur in Situationen personaler Kopräsenz der Kommunikanten eindeutig als es selbst erschließt (Ingolf U. Dalferth). Die übersprachlichen symbolischen Zeichenhandlungen der Kirche, an de‐ nen man teilnehmen muss, repräsentieren und thematisieren die Situation der christlich-religiösen Kommunikation, die auch für die mündliche Ver‐ kündigung konstitutiv ist, nämlich die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes in seiner sich selbst deutenden und interpretierenden Selbstoffenba‐ rung in Jesus Christus im Heiligen Geist unter Anwesenden. Zu symboli‐ sieren, dass sowohl die Kirche als auch ihre Kommunikation von diesem ihr vorgängigen Kommunikationsgeschehen Gottes abhängig ist, ist die epis‐ temische Funktion der Sakramente. Das Nebeneinander von Wort und Sakrament ist in der lutherischen Theologie nicht ohne Probleme. Anders als in der römisch-katholischen Theologie soll das Sakrament keine Steigerungsform des Wortes sein, so dass das Eigentliche in ihm und gerade nicht in der Verkündigung liegt. Es soll dem Wort aber auch nicht einfach untergeordnet sein, wie in der reformierten Theologie. Geht man von zwei unterschiedlichen Begegnungsweisen des Wortes Gottes in verschiedenen Medien aus, um ein Nebeneinander zu begründen, dann sind es letztlich anthropologische 368 6 Glaube und Geschichte <?page no="369"?> Gründe, aus denen eine Selbständigkeit beziehungsweise der Mehrwert des Sakraments gegenüber dem verkündigten Wort resultiert. Doch die Funktion der Medien für die christlich-religiöse Kommunikation wird auf diese Weise nicht deutlich. Im Hintergrund der diversen Begründungen der Unterscheidung und des Nebeneinanders von Wort und Sakrament steht ein gegenständlich-objektives Verständnis der media salutis und der Nachklang ihrer Heilsnotwendigkeit. Beide sollen mehr als Zeichen sein. Darin besteht ihre religiöse und theologische Besonderheit, die gegenständlich zu erfassen versucht wird. Demgegenüber ist nicht nur die geschichtliche *Kontingenz der Medien der christlichen Religion zu berücksichtigen, die es ausschließt, sie theologisch begründen zu wollen, sondern vor allem auch ihre Funktion für ihre Realisierung und Weitergabe in und durch die christlich-religiöse Kommunikation. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 1949, 330-342. Ingolf U. Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transfor‐ mation der Theologie, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1993, 247-295. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationa‐ lität, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1991, 148-154. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Berlin 4 2012, 296-330. Werner Elert: Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Hamburg 4 1956, 354-391. 439-452. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 535-574. Eberhard Jüngel: Die Kirche als Sakrament? , in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 311-334. Ulrich Kühn: Sakramente. Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 11, Gütersloh 1990. Dietz Lange: Glaubenslehre, Bd.-2, Tübingen 2001, 291-312. Lukas Ohly: Anwesenheit und Anerkennung. Eine Theologie des Heiligen Geistes, Göttingen 2015, 158-173. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 265-404. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 369 <?page no="370"?> Lehrtradi‐ tion Erkenntnis- und Bibel‐ kritik 6.2.2.2 Media salutis zwischen göttlicher Produktion und menschlicher Rezeption Media salutis haben die Funktion, Einzelnen das Heil in Christo zuzueignen. Der Heilige Geist, dem diese Vermittlung obliegt, ist an äußere sinnliche Träger gebunden. Ohne Medien ist eine Weitergabe der Gabe des Heiligen Geistes und damit der christlichen Religion nicht möglich. Sie erfüllen eine notwendige instrumentelle Funktion als Boten beziehungsweise Speicher- und Übertragungsmedien. Als Medien sind in ihnen Sinnlichkeit und Sinn, Zeichen und Bedeutung verbunden. Schrift, Taufe und Abendmahl sind dadurch media salutis, dass sie mit ihren Zeichen das Heil in Christo transportieren. Doch wie konstituieren sich diese media des Heiligen Geistes als Medienkörper Jesu Christi? Sowohl die antike und mittelalterliche als auch die lutherische Lehrtra‐ dition gehen davon aus, dass media salutis durch ihre göttliche Produktion entstehen. Heilsmedium ist die Heilige Schrift, weil sich der Heilige Geist in ihrer Hervorbringung mit den Zeichen fest verkoppelt hat (vgl. oben 6.2.1.1). Er ist die wirksame Kraft, die, gebunden an den äußeren Buchstaben, den Glauben beim Hören des Wortes bewirkt. Entsprechend sind die beiden Sa‐ kramente Taufe und Abendmahl von Jesus Christus gestiftet, so dass in ihrer Einsetzung Zeichen und Heiliger Geist gekoppelt werden (vgl. oben 6.2.1.2). Zugleich fungiert ihre Stiftung durch Christus als Kriterium für die Reduk‐ tion der überlieferten sieben Sakramente auf zwei. Nur für Taufe und Abend‐ mahl bezeugt die Heilige Schrift eine Verbindung von Zeichen und der Ver‐ heißung der Sündenvergebung. Aufgrund ihrer göttlichen Konstitution kommt den Heilsmedien eine Objektivität zu, die unabhängig vom Glauben und ihm vorgeordnet ist. Nicht der Glaube bringt die media salutis hervor, sondern genau umgekehrt, diese jenen. Deshalb sind sie mehr als Zeichen. Als signa enthalten sie die res signata, verweisen also nicht nur auf das von Jesus Christus erwirkte Heil. Er ist in den media salutis real präsent. Das substantielle Verständnis der Heilsmedien der altlutherischen Theo‐ logie löste die Aufklärung durch ihre Erkenntnis- und Bibelkritik auf. Indem sich die historisch-kritische Betrachtungsweise der Bibel durchsetzte, konnte diese nicht länger als ein gleichsam vom Himmel gefallener Text verstanden werden, wie im Schriftprinzip des alten Luthertums in Anspruch genommen, sondern nur noch als ein geschichtlich gewordener Text. Aus der durch den Heiligen Geist inspirierten Schrift wurden historische Ur‐ kunden der israelitischen und der (früh-)christlichen Religion im Kontext 370 6 Glaube und Geschichte <?page no="371"?> der Religionsgeschichte des alten Orients und ihren vielfältigen Transfor‐ mationen im Zeitalter des *Hellenismus. Den Zeichen des biblischen Textes, der nun als ein komplexes Artefakt in den Blick rückt, entspricht kein fest mit ihnen verkoppelter Sinn mehr. Damit zerbrechen die ontosemiologi‐ schen Grundlagen des Schriftprinzips der altlutherischen Lehre. In der Hei‐ ligen Schrift liegen nicht mehr Zeichen und Bedeutung substantiell ver‐ schränkt vor, sondern ihre Verknüpfung verdankt sich dem Interpretanten, der durch die Inspirationslehre lediglich invisibilisiert wurde. Zur Folge hat die Entkopplung von Zeichen und Bedeutung, dass ihr Zusammenhang zwar erhalten bleibt, da es keinen Sinn ohne Sinnlichkeit und vice versa gibt, aber ihre Kopplung verdankt sich nicht mehr einer vorgängigen göttlichen Pro‐ duktion, sondern der Rezeption der biblischen Schriften. Der Auflösung des Schriftprinzips des alten Luthertums folgte die der Sakramente auf den Schritt. Betrachtet man die biblischen Schriften in einer historischen Perspektive, dann lässt sich eine Einsetzung der beiden sakra‐ mentalen Handlungen Taufe und Abendmahl durch Jesus von Nazareth nicht mehr aufrechterhalten. Von einer solchen wissen die neutestamentli‐ chen Berichte über den Nazarener in einer historischen Perspektive nichts. Er hat weder selbst getauft oder die Taufe als ein Sakrament eingesetzt noch ein sakramentales Abendmahl, welches zu wiederholen sei, angeordnet. Mit dem Schriftprinzip bricht die biblische Grundlage der altlutherischen Lehre von den Sakramenten zusammen, welche die Zusammenfügung von Zeichen und verbum Dei an ihre Einsetzung bindet und dem Glauben vorord‐ net. Beide sakramentalen Handlungen gehen auf frühe christliche Gruppen zurück, die in einem komplexen Entwicklungsprozess Sinn und Bedeutung mit den Zeichen verbanden und auf Jesus Christus zurückführten. Auch bei den Sakramenten verdankt sich ihr theologischer Gehalt nicht einem Stiftungsakt, der sie substantiell verzahnt, sondern ihrer wiederholenden Rezeption. Im Resultat lösten sowohl die historische als auch die erkenntnistheore‐ tische Kritik das überlieferte substantielle Verständnis der media salutis der lutherischen Lehrtradition auf. Heilsmedien sind keine dem Glauben vorge‐ gebenen und von diesem unabhängigen fixen Verkopplungen von Zeichen und verbum Dei. Sie sind selbst geschichtlich gewordene Medien, die sich der christlichen Religion verdanken. Von ihr werden in komplexen und sich überlagernden Entwicklungsprozessen Zeichen und Sinn verbunden, deren Zuordnung einem Wandel unterliegt und mithin alles andere als fixiert ist. Indem sich die Konstitution der Heilsmedien von ihrer Produktion in ihre 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 371 <?page no="372"?> sakramen‐ tale Hand‐ lung konstitu‐ tive Funk‐ tion der Heilsme‐ dien Rezeption verschiebt, ist es der Glaube, der die Verbindung von Zeichen und Sinn herstellt. Doch diese Position, auch wenn sie der junge Luther vor 1520 selbst vertreten hat, wurde von ihm später in seiner Auseinandersetzung mit Zwingli ebenso abgewiesen wie von der altlutherischen Dogmatik. Wie lässt sich vor dem Hintergrund der Auflösung der ontosemiologischen Verkopplung von Zeichen und Sinn der media salutis an ihrer Vorordnung vor dem Glauben festhalten, und wie kann man das theologisch begründen? Eine Möglichkeit, dem veränderten Problemhorizont der dogmatischen Lehre von den Heilsmedien Rechnung zu tragen, besteht darin, von der sakramentalen Handlung auszugehen und sich von der Frage zu lösen, wie die Elemente Buchstabe, Wasser, Brot und Wein mit dem Wort Gottes ver‐ bunden sind. Media salutis sind an ihren Gebrauch gebunden und lassen sich nur angemessen erfassen, wenn ihr Kontext, der christliche Gottesdienst, berücksichtigt wird. Somit wird ihre Bestimmung in einen komplexeren Rahmen gestellt und die zweistellige Relation von Zeichen und Bedeutung durch eine dreistellige ersetzt, weil nun die Funktionsstelle des Interpretan‐ ten in der dogmatischen Bestimmung der Heilsmittel Berücksichtigung fin‐ det. Allerdings verschiebt sich dadurch lediglich das Problem ihrer Konsti‐ tution, indes ihr religiöser Sinn entweder bereits vorausgesetzt oder durch die sakramentale Handlung oder das religiöse Subjekt konstituiert wird. Es bleibt bei der Frage, ob media salutis den Glauben begründen oder sie Aus‐ druck des Glaubens sind. Wenn media salutis zwar auf den Glauben bezogen sind, er sie aber nicht konstituieren soll, sondern umgekehrt erst durch sie entsteht, dann müssen sie unabhängig von ihm und ihm vorgegeben sein (Paul Althaus, Wolfhart Pannenberg). Betont wird, sie sind Grund des Glaubens, nicht aber seine Folge oder sein Ausdruck (Wilfried Härle). Begründen lässt sich die konsti‐ tutive Funktion der Heilsmedien, die sie erst zu solchen macht, weder me‐ taphysisch noch historisch durch ihre Stiftung durch Jesus. Ein möglicher Umgang mit dem in Frage stehenden Problem ist ihre theologische Fundie‐ rung, die von der Offenbarung Gottes ausgeht. Media salutis verdanken sich nicht dem geschichtlichen Nazarener, wohl aber dem erhöhten Jesus Chris‐ tus, also der Gottesoffenbarung, die dem Glauben vorgegeben ist. Je nach‐ dem, wie diese konstruiert ist, ergeben sich unterschiedliche theologische Fundierungen der Heilsmedien. Konstruiert man die Selbstoffenbarung Got‐ tes in Jesus Christus ereignistheologisch als Selbstidentifikation Gottes, dann begründet sie den Glauben, von dem sie unabhängig ist. Die Heilsme‐ dien Wort und Sakrament sind folglich Hinweis auf das Ereignis der Selbst‐ 372 6 Glaube und Geschichte <?page no="373"?> Heilsme‐ dien als Ausdruck der Reli‐ gion identifikation Gottes in eschatologischen Kopräsenzsituationen (Ingolf U. Dalferth). Ebenso kann die Gottesoffenbarung konstitutionstheoretisch als Erschlossenheit des Grunds des Selbst verstanden werden, die als passive Konstitution von Gewissheit Grundlage und Voraussetzung des Glaubens ist (Eilert Herms, Wilfried Härle). Hier fungieren media salutis als Ausdruck des Konstitutionsgeschehens, welches sie repräsentieren. In beiden Fällen werden sie und der Glaube getrennt. Obwohl er zu ihnen hinzukommt, sind Wort und Sakrament allein im Glauben zu ergreifen und zu erfassen, so dass er doch wieder konstitutiv für jene ist. Heilsmedien sind Empfangshand‐ lungen (Werner Elert, Gerhard Ebeling). Doch woher weiß der sie empfan‐ gende Glaube, der in diesem Geschehen passiv sein soll, dass es der dreiei‐ nige Gott ist, der sich in diesen Medien selbst identifiziert oder sich selbst gibt? Ohne seine eigenen Deutungsleistungen, die durch die theologische Konstruktion ausgeschlossen werden soll, ist das nicht möglich. Theologi‐ sche Konstitutionsidee und Glaube treten in der Fundierung der media sa‐ lutis in einen Gegensatz. Denn auf der Ebene des Glaubens ist die theologi‐ sche Voraussetzungskonstruktion von unabhängig von ihm gegebenen Heilsmedien, die ihn selbst konstituieren, gar nicht zugänglich. Wenn Heilsmedien ohne menschliche Deutungsleistungen nicht als sol‐ che erfasst und verstanden werden können, dann müssen diese in ihre theo‐ logische Beschreibung aufgenommen werden. Sie sind Ausdruck der Reli‐ gion oder des Glaubens, nicht aber deren Grund. Auch eine solche Fassung der media salutis lässt sich unterschiedlich begründen. Entweder geht man von einer im Menschen bereits angelegten Religion aus (Friedrich Schleier‐ macher) oder von einer religiösen Erfahrung und einem mit dieser verbun‐ denen Transzendenzbezug (Rudolf Otto, Jörg Lauster). Wort und Sakrament sind dann Deutungen von religiösen Erfahrungen, durch die sie ihre reli‐ giöse Qualität erst erhalten. Diese Ausdrucksformen sind keinesfalls belie‐ big, da sie in einer Überlieferungsgeschichte stehen, also auf einen maßgeb‐ lichen Transzendenzeinbruch verweisen und Formen der Erfahrungsverarbeitung bereitstellen, die es Menschen erlaubt, religiöse Trans‐ zendenzerfahrungen zu deuten. Vorausgesetzt ist in Grundlegungen der media salutis als Ausdruck religiöser Erfahrung nicht mehr, dass es sie unabhängig von der Religion und ihr vorgängig gibt, wohl aber, dass diese als religiöses Subjekt oder allgemeine Transzendenz vorhanden sind. Damit werden Wort und Sakrament jedoch ebenfalls zum Ausdruck einer theologischen Konstitutionsidee, die nun in ein gegebenes religiöses Subjekt sowie seine Transzendenzbeziehung verschoben ist und nicht mehr in eine 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 373 <?page no="374"?> Rezeption als Inspira‐ tion ihm vorgegebene Selbstoffenbarung Gottes. Unklar bleibt es indes auch hier, wie die theologische Voraussetzungskonstruktion eines religiösen Subjekts oder einer allgemeinen Transzendenz auf der Ebene der Religion oder der religiösen Erfahrung überhaupt gewusst werden kann. Um das Dilemma von objektiver und subjektiver Konstitution der media salutis zu überwinden, kann man schließlich ihre Rezeption als Inspiration verstehen (Ulrich H.J. Körtner). Diese liegt nicht in der Produktion von Wort und Sakrament, sondern in ihrem religiösen Gebrauch, den Menschen von ihnen machen. Indem sie in ihm erst entstehen, liegen Heilsmedien nicht bereits vor. Ebenso wird das Postulat eines gegebenen religiösen Subjekts oder einer allgemeinen Transzendenz bestritten. Dadurch rückt die Beson‐ derheit des Glaubens in den Fokus, der kein Fall einer allgemeinen Religio‐ sität ist. Er konstituiert sich in der religiösen Rezeption von Wort und Sa‐ krament, dem inspirierenden Geschehen des Heiligen Geistes. Gleichwohl reicht es noch nicht aus, die Produktion der media salutis durch ihre Rezep‐ tion zu ersetzen, um ihre Funktion für die durchsichtige Weitergabe der christlich-religiösen Erinnerung an Jesus Christus theologisch zu erfassen. Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion konsti‐ tuiert sich nicht lediglich durch die Rezeption von Inhalten, sondern in dem triadischen Wechselverhältnis des Heiligen Geistes als Geber, Gabe und Glaube. Von einer dogmatischen Theorie der media salutis ist der Gegensatz von göttlicher Produktion und menschlicher Rezeption in den durchsichtigen religiösen Gebrauch von Medien in der christlich-religiösen Kommunika‐ tion aufzuheben. Medien sind ein notwendiger Bestandteil der Weitergabe der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Sie liegen weder einfach schon vor noch entstehen sie durch ihre Rezeption oder religiöse Deutung. L IT E R ATU R : Paul Althaus: Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd.-2, Gütersloh 1949, 330-342. Ingolf U. Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transfor‐ mation der Theologie, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1993, 247-295. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationa‐ lität, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1991, 148-154. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Berlin 4 2012, 295-330. Werner Elert: Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Hamburg 4 1956, 354-391. 439-452. 374 6 Glaube und Geschichte <?page no="375"?> Medien Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 535-574. Ulrich H. J. Körtner: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneu‐ tik, Göttingen 1994. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darm‐ stadt 2005, 109-141. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 265-404. 6.2.2.3 Analoge und digitale Medienkörper Jesu Christi Wie alle Kommunikation ist auch die Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus nur medial möglich. Der Heilige Geist ist an Medien gebunden. Weder er noch seine Gabe sind immediat. Medien des Heiligen Geistes sind ein notwendiges ‚Zwischen‘. Es lässt durch Zeichen Jesus Christus sehen, erkennen, wahrnehmen und zeigt ihn durch Bilder, Narrative, Musik, Menschen und anderes mehr. Medien sind keine durchsichtigen Fenster. Wie Zeichen sind sie materielle sinnliche Träger eines Sinnes. Wenn sich dieser nicht von der Sinnlichkeit ablösen lässt, Sinn und Sinnlichkeit also unhin‐ tergehbar verbunden sind, dann bestimmt die Materialität der Medien stets die Gabe des Heiligen Geistes mit. Unabhängig von materiellen Formen gibt es die Erinnerung an Jesus Christus nicht. Doch Medien lassen nur so etwas sehen, indem sie es zugleich verdecken. Sie sind Wahrnehmungsformen und Wahrnehmungspraxen (Fritz Heider [1896-1988]). Christlich-religiöse Kommunikation ist verkörpert und materialisiert sich in Medienköpern Jesu Christi, die in der Kultur sichtbar sind. Medien unterliegen einem Wandel. Parallel zum Medienwandel der Kul‐ tur ändert sich die christlich-religiöse Kommunikation. Schon die Reforma‐ tion war ein religiöser Medienwandel. Sie verband Medieninnovation mit Medienkritik. Medium Gottes (sacramentum) ist allein Jesus Christus und nicht die Kirche. Seine Medienleiber sind Wort und Schrift. Sowohl das verbum audibile als auch das verbum visibile lassen Christus sehen, indem sie ihn in der Geschichte übermitteln. Grundlage der Medienreflexionen Martin Luthers und der altlutherischen Theologie ist die Bibel als Wort Gottes sowie die in Analogie zu ihm konstruierten Sakramente Taufe und Abendmahl (vgl. oben 6.2.1). Auch für sie wirkt der Heilige Geist nicht immediat. Er ist an die Schrift gebunden und mit ihren Buchstaben durch den Akt der Schriftproduktion fest gekoppelt. Nur in ihr, dem Schriftleib Jesu Christi und seinen Derivaten, begegnet der Heilige Geist. Doch sein mediales Wirken bedient sich bestimmter Medien. Media salutis sind Schrift und Sakrament. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 375 <?page no="376"?> Gottes‐ dienst als Kriterium des Medi‐ enge‐ brauchs Allein aufgrund ihrer Qualität, die sie von anderen Medien unterscheidet, vermitteln sie das Heil in Jesus Christus an den Menschen. Historische und erkenntnistheoretische Kritik haben das ontosemiologische Medienver‐ ständnis der altlutherischen Theologie sowie die für es konstitutive feste Verkopplung von Sein und Sinn in der weiteren Entwicklung aufgelöst. Aus der göttlich inspirierten Heiligen Schrift wurde Tradition, und aus den beiden von Jesus Christus gestifteten Sakramenten wurden symbolische Handlungen des frühen Christentums, welche dieses auf ihn zurückführte. Die Medienentwicklungen der Moderne verbinden Sein und Sinn nicht mehr ontologisch, sondern funktional, und tendieren, wie manche Medientheore‐ tiker meinen, zur Ersetzung von Sinn durch die Sinnlichkeit ( Jochen Hörisch [geb. 1951]). Mit den neuen elektronischen und digitalen Medien würde sich dann, wenn auch auf andere Weise, der Sinn des Abendmahls erst erfüllen: das Versprechen reiner Präsenz. Aber diese wird unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters ubiquitär. Präsenz hängt nicht mehr an der leiblichen Kopräsenz der Kommunizierenden, sondern an Technik. Sie ist abgelöst von persönlicher Anwesenheit. Was bedeutet der Medienwandel für die Medienkörper Jesu Christi? Ist christlich-religiöse Kommunikation nur mit analogen Medien möglich oder auch mit digitalen? Es sind vor allem zwei Umgangsweisen mit dem Wandel des Medialen, die sich in den gegenwärtigen theologischen Mediendebatten beobachten las‐ sen. Beide nehmen die mit dem Medienwandel verbundenen Transformatio‐ nen der christlichen Religion auf. Auf der einen Seite stehen Konzeptionen, welche dem Gottesdienst eine grundlegende Funktion für den christlichen Mediengebrauch einräumen, und auf der anderen solche, die Medien selbst schon eine religiöse Funktion zusprechen. Dass die Weitergabe der christlichen Religion medial erfolgt, das Chris‐ tentum also ab ovo Medienreligion sei, davon gehen theologische Medien‐ reflexionen aus, die den Gottesdienst als Kriterium des Mediengebrauchs verstehen. Christlich-religiöse Kommunikation sei stets medial und offen für Medieninnovationen. Folglich ist sie mit allen Medien möglich, seien diese nun analog oder digital. Da jedoch der Glaube an der personalen Kop‐ räsenz der Kommunizierenden hängt, ist der Gottesdienst konstitutiv für ihn. Wenn der Glaube in der Kommunikation unter leiblich Anwesenden im Gottesdienst entsteht und an ihn gebunden ist, dann ist dieser sowohl Kri‐ terium als auch Grenze des Mediengebrauchs der christlichen Religion. Be‐ gründen lässt sich eine solche Position christologisch (Michael Welker, In‐ golf U. Dalferth, Günter Thomas [geb. 1960]). Wie Jesus Christus das 376 6 Glaube und Geschichte <?page no="377"?> digitale Me‐ dien leibliche Medium Gottes ist und der Heilige Geist das durch die christolo‐ gische Form bestimmte Verbreitungsmedium, so ist die im Gottesdienst leib‐ lich versammelte Gemeinde sein Medienleib. Grund und Grenze des Medi‐ engebrauchs ist der Gottesdienst aufgrund der Medialität Jesu Christi. Seine Leiblichkeit werde doketistisch revoziert, wo die leibliche Anwesenheit der Kommunizierenden suspendiert wird. Doch genau das erfolgt in elektronischen und digitalen Medien. Sie er‐ setzen leibliche Kopräsenz durch Technik. Indem sie die Kommunikation räumlich und zeitlich von der personalen Begegnung lösen, erhöhen sie die Möglichkeit ihrer Ablehnung, so dass Unverbindlichkeit in sie einzieht. Deshalb mag man zwar die christlich-religiöse Kommunikation von der Gottesdienstsituation ablösen, aber die Konstitution des Glaubens bleibt an die Kommunikation unter leiblich Anwesenden gebunden und könne nicht durch Medien ersetzt werden, die diese ausschalten (Lukas Ohly). Was macht die leibliche personale Kommunikation unter Anwesenden konstitutiv für den Glauben und seine Medien, wenn doch alle Kommunikation medial ist? Anders als in der digitalen Kommunikation, die an Technik gebunden ist und ohne sie nicht funktioniert, mache die leiblich kopräsente christlich-re‐ ligiöse Kommunikation ihre Medialität vergessen. Die mediale Kommuni‐ kation des Gottesdiensts zielt also auf Unmittelbarkeit, in der das Medium verschwindet und Gott gleichsam immediat begegnet. Digitale Medien kön‐ nen demgegenüber ihre Medialität nicht zum Verschwinden bringen. Ohne sie, also ohne Technik und Strom, gebe es mediale Welten und ihre Illusion von Unmittelbarkeit gar nicht. Theologische Medientheorien, welche die Kommunikation unter leiblich Anwesenden im Gottesdienst zum Kriterium und zur Grenze des Medien‐ gebrauchs der christlichen Religion machen, sind an der Besonderheit der Medienkörper Jesu Christi interessiert. Diese resultiert nicht aus den Medien als solchen, da alle Kommunikation medial ist, sie fuße auf der personalen Kopräsenz der Kommunizierenden. Mit der Fokussierung auf den Gottesdienst avanciert wie in der alten Lehre von den media salutis die institutionelle Kirche zum Rahmen und Kriterium der christlich-religiösen Kommunikation. Kirche tritt im Gottesdienst beziehungsweise im Abend‐ mahl (Wolfhart Pannenberg, Michael Welker) in Erscheinung, so dass die eigentliche christlich-religiöse Kommunikation in ihm erfolgt. Anders verfahren theologische Medienreflexionen, welche den Medien‐ gebrauch vom Gottesdienst ablösen. Auch sie nehmen die modernen Medi‐ eninnovationen auf. Diese verändern nicht nur die Kommunikation, sie füh‐ 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 377 <?page no="378"?> religiöse Kommuni‐ kation in der moder‐ nen Kultur Medien als Religion ren auch dazu, dass sich die religiöse Kommunikation von den institutionellen Kirchen ablöst. Religiöse Kommunikation ist in der moder‐ nen Kultur nicht mehr an die Kirchen gebunden. Sie erfolgt unabhängig von ihnen und hat sich von den überlieferten Formen der christlichen Religion emanzipiert. In der Moderne entscheiden die Individuen selbst über ihre Religion. Neue Medien wie World-Wide-Web oder Social Media beschleu‐ nigen die Transformationsdynamiken der religiösen Kommunikation, da sie sich pluralisiert und globalisiert. Zwar bleibt auch in der digitalisierten Welt die Kommunikation von Medien abhängig, und alte analoge Medien ver‐ schwinden nicht einfach, aber die Kommunikation verändert sich. Es ent‐ stehen neue Formen des Dabeiseins und der Präsenz. Elektronische Medien bauen zeitliche und räumliche Distanzen ab, so dass sich eine Form globaler Präsenz etabliert, die mit Distanz verbunden ist. Man kann dabei sein, ohne einbezogen zu sein. Auch neue Medien vermitteln und lassen sehen. Wie die alten analogen media koppeln sie Sein und Sinn, nur eben nicht mehr ontosemiologisch wie beim Abendmahl der alten Lutheraner. Diese Funktion der Medien kann man selbst als Religion verstehen. Wenn es keine Religion ohne Medien gibt, dann ist das Medium selbst Religion. In der digitalisierten Welt der Moderne über‐ nehmen neue Medien gleichsam die Funktion, welche ehedem die Religion innehatte. Indem sie Sein und Sinn vermitteln, bieten sie Sinnorientierung und Sinndeutungen jenseits der alten Formen der christlichen Religion (Wil‐ helm Gräb [1948-2023]). Sei es das Fernsehen, das Kino, das Theater, der Gottesdienst oder Social Media, sie alle koppeln Sein und Sinn und stiften auf diese Weise Orientierung. Sie schaffen Formen und Muster, die es Ein‐ zelnen ermöglichen, ihr Leben als sinnhafte Ganzheit zu erfassen und zu gestalten. Besteht Religion in der Sinndeutung des Lebens, im Aufbau einer individuellen Ganzheit, die über das Gegebene ausgreift und Sinn verspricht, dann lässt sich diese Funktion nicht auf traditionelle Religionsanbieter wie die Kirchen beschränken. Die religiöse Funktion erfüllen bereits Medien, die damit selbst zur Religion werden. Doch was ist das Religiöse an den Medien und ihrer Sinnstiftung? Sein und Sinn zu vermitteln, charakterisiert jedes Medium. Aber dadurch wird es nicht schon zur Religion. Ebenso wenig wie Sinndeutung, Sinn- oder Transzendenzerfahrungen bereits Religion sind, sind es Medien. Daraus, dass religiöse Kommunikation medial ist, folgt weder ein Religionsein von Medien noch ihre religiöse Dignität. Theologische Annahmen einer Medienreligion postulieren eine humane Allgemeinheit der Religion, die sie 378 6 Glaube und Geschichte <?page no="379"?> selbst unerklärt lassen. Sie setzen Religion einfach voraus. Das reicht für eine theologische Medientheorie aber nicht aus. Sie muss erklären können, wie Medien in der christlichen Religion religiös funktionieren und welche Funktion sie für sie, nicht aber für das Leben als solches haben. Dass die christliche Religion medial operiert, ist in den theologischen Mediendebatten anerkannt und unbestritten. Gleichwohl neigt die Diskus‐ sion entweder zu einer Engführung des Mediengebrauchs, indem sie ihn an den Gottesdienst bindet, oder zu einer Ausweitung, die ihn mit Religion gleichsetzt. In beiden Fällen wird die Funktion der Medien für die christliche Religion nicht erfasst. Diese hängt weder an der leiblichen Kopräsenz der Kommunikation noch an Medialität als solcher. Vielmehr besteht die Besonderheit der Medien der christlichen Religion in ihrem Bezug auf Jesus Christus. Seine Medienkörper vermitteln ihn, lassen ihn anwesend sein und machen ihn sichtbar, wahrnehmbar und erkennbar. Aufgabe theologischer Medienreflexion ist es, das durchsichtige religiöse Funktionieren von Me‐ dien in der christlich-religiösen Kommunikation zu erklären. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transfor‐ mation der Theologie, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1993, 247-295. Ingolf U. Dalferth: Kirche in der Mediengesellschaft - Quo vadis? Eine Anfrage, in: ThPr 20 (1985), 183-194. Christian Danz (Hrsg.): Medien - Erinnerung - Affekte. Dimensionen einer Theologie der Kultur, Tübingen 2024. Christian Danz: Christus und seine Medienkörper. Religiöse Kommunikation im digitalen Zeitalter, in: Wolfgang Beck/ Ilona Nord/ Joachim Valentin (Hrsg.): Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 2021, 388-406. Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. Fritz Heider: Ding und Medium, hrsg. v. Dirk Baecker, Berlin 2005. Michael Moxter: Medien - Medienreligion - Theologie, in: ZThK 101 (2004), 465-488. Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2021. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 314-369. Philipp Stoellger: Gott als Medium und der Traum der Gottunmittelbarkeit, in: Hans-Peter Großhans/ Michael Moxter/ ders. (Hrsg.): Das Letzte - der Erste. Gott 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 379 <?page no="380"?> denken. Festschrift für Ingolf U. Dalferth zum 70. Geburtstag, Tübingen 2018, 333-375. Günter Thomas: Die Multimedialität religiöser Kommunikation. Theoretische Unterscheidungen, historische Präferenzen und theologische Fragen, in: Ingolf U. Dalferth/ Philipp Stoellger (Hrsg.): Hermeneutik der Religion, Tübingen 2007, 189-213. Michael Welker: Kirche und Abendmahl, in: Marburger Jahrbuch Theologie, Bd. VIII: Kirche, hrsg. v. Wilfried Härle/ Reiner Preul, Marburg 1996, 47-60. Roman Winter: Abendmahl digital empfangen? Überlegungen angesichts aktuel‐ ler Herausforderungen durch Pandemie(n) und Digitalisierung, in: Kerygma und Dogma 67 (2021), 235-259. 6.2.3 Die Wirklichkeit der media salutis in der christlichen Religion Medien sind Bestandteil christlich-religiöser Kommunikation, ohne die sie nicht entstehen und in der Kultur fortgesetzt werden kann. Von der dogmatischen Lehrtradition des Luthertums wurden die media salutis ge‐ genständlich aufgefasst. Heilige Schrift, Taufe und Abendmahl sind äußere, sinnliche Träger, an die der Heilige Geist sich gebunden hat, um das Heil in Christo dem Menschen zuzueignen. Entsprechend behandelt sie die Dogmatik im Anschluss an die Christologie in der Soteriologie als Übertra‐ gungsmedien. Ihre Konstitution als Medien des Heils verdanken sie ihrer göttlichen Produktion, so dass sie dem Glauben vor- und übergeordnet sind. Sowohl aus der gegenständlichen Konstruktion der Heilsmedien als auch aus der Trennung von media salutis und Glaube resultieren Probleme, die sich auf einer gegenständlich-objektiven Ebene nicht auflösen lassen. Aus diesem Grund wird im Folgenden dafür plädiert, die Medien der christlichen Religion als Gabe des Heiligen Geistes zu verstehen. Er ist die an Medien gebundene Erinnerung an Jesus Christus, die sich als christlich-religiöse media im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation konstituieren. Damit werden die media salutis aus der Ekklesiologie herausgenommen und christologisch bestimmt. Wort Gottes, Taufe und Abendmahl sind den Ämtern Jesu Christi zugeordnet (vgl. oben 5.3.3.3) und beschreiben das durchsichtige religiöse Funktionieren der christlichen Religion in ihrer Bindung an Medien. 380 6 Glaube und Geschichte <?page no="381"?> Medienkör‐ per Jesu Christi 6.2.3.1 Christologie und media salutis Der an Jesus Christus erinnernde Heilige Geist ist an Medien gebunden. Er überführt die Erinnerung an Christus in den religiösen Gebrauch in der christlich-religiösen Kommunikation, die im Glauben zur Existenz kommt. Da darin die Funktion der Medien der christlichen Religion besteht, reicht es weder aus, ihre Besonderheit an der leiblichen Kopräsenz der Kommu‐ nizierenden festzumachen noch diese gegenständlich zu konstruieren. Viel‐ mehr besteht diese in ihrem Bezug auf Jesus Christus und seiner iterierenden Weitergabe. Christlich-religiöse Medien sind Medienkörper Jesu Christi, die ihn erinnern und ihn, der abwesend ist, anwesend sein lassen. Als solche entstehen sie im gelingenden christlich-religiösen Gebrauch dieser Erinne‐ rung in der Kommunikation. Wie der Glaube als symbolproduktive Wirk‐ lichkeit der christlichen Religion in dem triadischen Kommunikationsge‐ schehen von Inhalt, Aneignung und Artikulation sich konstituiert, so entspringen seine Medien im Geschehen des Heiligen Geistes als Geber, Gabe und Glaube. Medienkörper Christi liegen also nicht, wie in der dog‐ matischen Lehrtradition, bereits vor und transportieren wie Behälter ein schon gegebenes und objektiv vorliegendes Heil. Sie entstehen aber auch nicht durch den Glauben als religiöse Deutungen. Sowohl ein objektives als auch ein subjektives Verständnis der Konstitution der media salutis führt in Aporien (vgl. oben 6.2.2.2). Medien dienen der Übermittlung und Übertragung der Kommunikation. Sie sind Wahrnehmungsformen und Wahrnehmungspraxen, die etwas zei‐ gen, sehen, wahrnehmen und erkennen lassen. Wenn man in ihnen sieht, wahrnimmt, hört, erkennt etc., dann sind sie ein Worin und Wodurch. Als solche entstehen Medien in der Kommunikation. Nicht alles ist ein Medium, doch alles kann zu einem werden. Es konstituiert sich, indem in der Kom‐ munikation Formen gesetzt werden als Voraussetzung der Formsetzung. In der Bezeichnung entsteht das Medium als Grund der bezeichneten Figur, das sie sichtbar werden lässt. Obwohl man nur durch ein Medium sieht, hört, erkennt etc., es also als Voraussetzung vorgängig ist, konstituiert es sich nachträglich. Das Dilemma von Setzung und Voraussetzung, Produktion und Rezeption, ist in dem vorgeschlagenen Medienbegriff unterlaufen. Auch der Heilige Geist als Medium der Erinnerung an Jesus Christus, in dem alle christlich-religiöse Kommunikation erfolgt und durch das Jesus Christus sichtbar, hörbar, erkennbar und wahrnehmbar wird, entspringt mit dem Glauben als symbolproduktiver Wirklichkeit der christlichen Religion. Er ist 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 381 <?page no="382"?> Materialität der Medien die Gabe der christlichen Religion, von der sie abhängig ist. Aber als Geber und Gabe konstituiert er sich mit ihr zusammen im Glauben, also in ihrer Aneignung und Artikulation. Wie alle Medien sind die Medienkörper Jesu Christi beziehungsweise die media salutis materiell. In ihrer Materialität übertragen sie die Erinnerung an ihn in die christlich-religiöse Kommunikation. Ihre Besonderheit besteht in ihrem Bezug auf Jesus Christus. Die Rückbindung der media salutis an ihn bedeutet freilich nicht, sie auf den historischen Jesus zurückzuführen und sie durch seine Einsetzung oder Stiftung zu begründen. Ebenso wenig wie sich Medienkörper Christi inhaltlich fundieren lassen, können sie historisch aus der geschichtlichen Gestalt des Nazareners abgeleitet werden. Als media salutis entstehen sie im christlich-religiösen Gebrauch, der in der Kommu‐ nikation von der schriftgewordenen Erinnerung an Jesus Christus sowie den symbolischen Handlungen der Taufe und des Abendmahls gemacht wird. So wie Jesus Christus im Heiligen Geist ihr Grund ist, entstehen auch die Me‐ dienkörper Jesu Christi in der wiederholenden Wiederaufnahme der Erin‐ nerung an ihn in der christlich-religiösen Kommunikation. Ihre Iteration, die zugleich ihre Transformation ist, setzt, erzeugt und bestätigt die media salutis als Voraussetzung der Übertragung der christlich-religiösen Kom‐ munikation. Das besagt ein Doppeltes: Zunächst stellt die christliche Reli‐ gion sich in ihren materiellen Medienkörpern selbst als ein an Medien ge‐ bundenes Kommunikationsgeschehen dar, welches sich in der medialen Übertragung als Religion hervorbringt und bezeichnet. Und sodann lassen sich ihre Medien weder ableiten noch theologisch begründen. Warum es gerade Taufe und Abendmahl sind, die zu grundlegenden Medien der christ‐ lichen Religion wurden, hängt an ihrer Wiederholung in der christlich-re‐ ligiösen Kommunikation und nicht an Voraussetzungen, die außerhalb von ihr liegen. Was folgt aus dem skizzierten Verständnis der media salutis als materiel‐ len Übertragungsmedien der Erinnerung an Jesus Christus für das Neben‐ einander von Wort und Sakrament in der lutherischen Lehre von den Heils‐ medien? Ihre Koexistenz wird in den dogmatischen Debatten in der Regel anthropologisch begründet (vgl. oben 6.2.2.1). Wort und Sakrament bein‐ halten dasselbe. Sie sind Begegnungsgestalten des einen Wortes Gottes. Während sich die Wortverkündigung an den Intellekt und das Verstehen wendet, richten sich die Sakramente Taufe und Abendmahl an die Sinne des Menschen, seine Ganzheitlichkeit oder Naturgebundenheit. Eine solche Fas‐ sung der Differenz von Wortverkündigung und sakramentaler Handlung 382 6 Glaube und Geschichte <?page no="383"?> Wechsel‐ verhältnis von Wort und Sakra‐ ment Ämterlehre greift zu kurz. Sie begründet den Unterschied der beiden Gestalten des Wor‐ tes Gottes nicht nur anthropologisch und nicht theologisch, sie vermag auf‐ grund ihrer gegenständlichen Fassung die religiöse Funktion der media sa‐ lutis nicht zu erklären. Zu einer theologisch befriedigenden Erklärung des Nebeneinanders von Wortverkündigung und Sakrament gelangt man erst dann, wenn beide aufeinander bezogen werden. Wort und Sakrament bilden ein Wechselverhältnis. Wie das Wort in der christlichen Religion bereits Sa‐ krament ist, so ist dieses stets auch jenes. Das Sakrament verdeutlicht, dass das Wort nicht inhaltlich zu verstehen ist, sondern religiös, und das Wort weist darauf hin, dass das Sakrament worthaft ist (Folkart Wittekind [geb. 1963]). In der christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus geht es nicht um inhaltliche Mitteilungen oder Informationen über das Leben und die Geschichte des Nazareners, sondern um religiösen Sinn, der durch die Kommunikation mit Bezug auf ihn hergestellt und bezeichnet wird. Das Wort in der christlich-religiösen Verkündigung meint Religion. Deshalb ist es Sakrament. Umgekehrt ist das Sakrament stets Wort, nämlich mediale Artikulation religiösen Sinns. Entsteht es doch erst dadurch, dass zum Element das Wort hinzukommt. Medium der christlichen Religion ist Jesus Christus. Er ist in ihr verbum Dei und sacramentum. Christus ist kein inhaltlicher Bestandteil der christ‐ lichen Religion. Als Medium stellt er in ihr dar, wie sich das Subjekt des Glaubens in der Aneignung der christlichen Religion durchsichtig konsti‐ tuiert (vgl. oben 5.2.3). Das ist die Funktion der inhaltlichen Aussagen der Erinnerung an Jesus Christus, zu beschreiben, wie in ihrer Kommunikation religiöser Sinn hervorgebracht und der Mensch neu wird. Überführen in die christlich-religiöse Kommunikation lässt sich die Erinnerung an Jesus Chris‐ tus nur durch Medien. Als seine Übertragungsmedien sind sie seine Medi‐ enkörper. Ihre Entfaltung ist mit der christologischen Ämterlehre zu ver‐ binden (vgl. oben 5.2.3.3). Entsprechend den drei Ämtern strukturieren Wort Gottes, Taufe und Abendmahl die Herstellung der Medienkörper Christi in der Aneignung der christlich-religiösen Kommunikation. Medienkörper und Erinnerungszeichen Jesu Christi sind sie im Funktionieren dieser Kom‐ munikation. Allein im Heiligen Geist wird Christus durch seine Medien‐ körper sichtbar, erkennbar, hörbar und wahrnehmbar. Wort und Sakrament sind aufeinander bezogen. Sie sind reflexive Be‐ schreibungselemente der an Medien gebundenen Realisierung der christ‐ lich-religiösen Kommunikation. Diese hermeneutisch-reflexive Fassung von Wort und Sakrament als Übertragungsmedien der Erinnerung an Jesus 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 383 <?page no="384"?> Sünde als religiöse Selbstbeur‐ teilungs‐ form Christus ersetzt in einer Systematischen Theologie der christlich-religiösen Kommunikation deren überlieferte sündentheologische Fundierung. Theo‐ logische Konstruktionen des Heils sowie der Heilsübermittlung vor dem Hintergrund der als Negativfolie fungierenden Sündenlehre sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie funktionalistische Deutungen der christli‐ chen Religion nicht ausschließen können. Zudem ist Sünde eine religiöse Selbstbeurteilungsform, welche die christliche Religion voraussetzt. Sie ist innerhalb der christlich-religiösen Kommunikation zu behandeln, aber nicht als Voraussetzung von ihr (vgl. unten 6.3.3.3). Medienköper Jesu Christi sind keine Behälter, die eine übernatürliche Substanz transportieren, welche ei‐ nen humanen Defekt heilt. Im Horizont eines solchen sündentheologischen Rahmens lässt sich ein magisches Verständnis der media salutis, welches auch im Protestantismus fortlebt, nicht vermeiden. Um es auszuschließen, ist auf einem reflexiven Verständnis der Medienkörper Christi zu beharren. Sie geben die Gabe der Erinnerung an Jesus Christus weiter und überführen sie in die christlich-religiöse Kommunikation. Ihre Besonderheit besteht in der Präsenz Jesu Christi, die an Repräsentation gebunden ist und vice versa. Seine Medienkörper verweisen nicht auf Gegenstände und Sachver‐ halte jenseits der christlich-religiösen Kommunikation, sie stellen dar, wie Medien in ihr durchsichtig als Religion funktionieren. Indem sie sich auf Jesus Christus beziehen, übertragen sie ihn in die christlich-religiöse Kom‐ munikation und lassen ihn sichtbar in seinen Medien zur Existenz kommen. L IT E R ATU R : Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 268-299. Stephan Günzel: Raum | Bild. Zur Logik der Medien, Berlin 2012. Michael Moxter: Medien - Medienreligion - Theologie, in: ZThK 101 (2004), 465-488. Philipp Stoellger: Gott als Medium und der Traum der Gottunmittelbarkeit, in: Hans-Peter Großhans/ Michael Moxter/ ders. (Hrsg.): Das Letzte - der Erste. Gott denken. Festschrift für Ingolf U. Dalferth zum 70. Geburtstag, Tübingen 2018, 333-375. Philipp Stoellger: Die Medialität des Geistes oder: Pneumatologie als Medientheo‐ rie des Christentums. Zum Medium zwischen Gottes- und Menschenwerk, in: Heike Springhart/ Günter Thomas (Hrsg.): Risiko und Vertrauen/ Risk and Trust. Festschrift für Michael Welker zum 70. Geburtstag, Leipzig 2017, 139-174. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen, 2018, 162-186. 384 6 Glaube und Geschichte <?page no="385"?> propheti‐ sches Amt altlutheri‐ sche Dog‐ matik 6.2.3.2 Jesus Christus als Wort Gottes Jesus Christus ist Wort Gottes und Sakrament. Er beschreibt, wie in der me‐ dialen christlich-religiösen Kommunikation der Erinnerung an ihn religiö‐ ser Sinn in deren Aneignung hergestellt wird. Das entfaltet die christologi‐ sche Ämterlehre (vgl. oben 5.2.3.3). Sie strukturiert die Herstellung des Subjekts des Glaubens in der wiederholenden Aneignung der christlich-re‐ ligiösen Kommunikation als konstitutivem Bestandteil ihres durschichtigen religiösen Funktionierens. Demgegenüber beschreiben die Medienkörper Christi die Übertragung der Erinnerung an Jesus Christus in die christ‐ lich-religiöse Kommunikation, in der diese im religiösen Gebrauch der Me‐ dien entsteht. Christologie und Soteriologie sind folglich verbunden. Wäh‐ rend jene die Struktur der christlichen Religion beschreibt, geht es in dieser um ihre gelingende Realisierung. Entsprechend wird hier die Lehre von den Medienkörpern Jesu Christi mit der von seinem dreifachen Amt verknüpft. Zur Wirklichkeit kommt die Gabe der christlichen Religion im Wechselver‐ hältnis von Wort, Taufe und Abendmahl. Für die Lehre vom Wort Gottes bedeutet dies, dass sie entsprechend dem prophetischen Amt Christi die in‐ haltliche Dimension der christlichen Religion thematisiert, in deren religiö‐ ser Aneignung und Artikulation sie besteht und übertragen wird. Die altlutherische Dogmatik behandelte die Lehre vom Wort Gottes in den Prolegomena ihrer Lehrsysteme als Erkenntnisprinzip der Theologie und in der Lehre von den media salutis unter dem Aspekt seiner Wirksamkeit (vgl. oben 6.2.1.1). Das in der Bibel enthaltene und mit ihren Zeichen fest gekoppelte Wort Gottes ist Grundlage, Prinzip und Richtschnur der Theo‐ logie und zugleich das entscheidende Heilsmedium. Von der historischen Bibelkritik der Aufklärung wurde die Prinzipienfunktion der Heiligen Schrift, welche das Fundament der altlutherischen Dogmatik bildet, ebenso aufgelöst wie die in Anspruch genommene fixe Verbindung von Zeichen und Bedeutung im Akt ihrer Produktion durch den Heiligen Geist. Durch die Auflösung des Schriftprinzips infolge der historischen Kritik verlor die Bibel als Heilige Schrift ihre Begründungsfunktion für die theologische Dogmatik. Wenn die Bibel nicht mehr als solche Grundlage und Autorität der Theologie sein kann, sondern allein im religiösen Gebrauch, der in der christlich-religiösen Kommunikation von ihr gemacht wird, dann ändert sich ihre Stellung und Funktion für die Systematische Theologie. Ist ihr re‐ ligiöser Sinn an ihre religiöse Benutzung gebunden, dann kann sie nicht mehr als Voraussetzung fungieren, der eine religiöse Dignität sogar extra 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 385 <?page no="386"?> Funktion der Bibel propheti‐ sches Amt usum wie im alten Luthertum zukommt. Schriftlehre und Lehre von den media salutis rücken dadurch zusammen. Diese Konsequenz hatte auch Friedrich Schleiermacher in seiner Glaubenslehre vor dem Hintergrund der Auflösung des Schriftprinzips der altprotestantischen Theologie gezogen. Er verschob die Schriftlehre in die Pneumatologie beziehungsweise die Lehre von der Kirche. Damit ist in ihre dogmatische Behandlung aufge‐ nommen, dass die Bibel allein in ihrem religiösen Gebrauch in der christ‐ lich-religiösen Kommunikation religiöse Autorität haben kann. Auch wenn es in den Debatten über die Schriftlehre seit der Aufklärung umstritten ist, ob diese in den Prolegomena oder in der materialen Dogmatik zu verhandeln sei, wird hier dafür plädiert, sie in der pneumatologischen Lehre von den Medienkörpern Jesu Christi zu thematisieren. Wort Gottes ist die Schrift, weil sie im Funktionieren ihrer Kommunikation die Erinnerung an Jesus Christus in die christlich-religiöse Kommunikation überführt und als Reli‐ gion wirklich werden lässt. Worin besteht die Funktion der Bibel für die christliche Religion, und wie lässt sie sich theologisch begründen, wenn das alte Schriftprinzip der luthe‐ rischen Theologie nicht mehr fortgesetzt werden kann? Die christliche Re‐ ligion bezieht sich auf Jesus Christus. Darin liegt ihre Besonderheit als Re‐ ligion. Sie ist abhängig von der Erinnerung an ihn und ihrer Übertragung in der christlich-religiösen Kommunikation. Das entspricht dem propheti‐ schen Amt Christi. Ohne eine inhaltlich bestimmte religiöse Kommunika‐ tion, die sie bereits voraussetzt, kann die christliche Religion nicht entstehen. Es muss schon eine wiederholende Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation geben, die sich auf ihn bezieht (vgl. oben 5.2.3.1). Doch iterierende Wiederaufnahme des in der Kommunikation tra‐ dierten erinnerten Jesus Christus ist stets seine Transformation, Variation und Alterierung. Das symbolisiert der Heilige Geist in der christlichen Re‐ ligion. Er verflüssigt die Erinnerung an Christus und lässt sie so dieselbe bleiben. Das erfolgt zunächst in der mündlichen Kommunikation des kom‐ munikativen Gedächtnisses und sodann in dessen Verarbeitung zu einem sozialen Gedächtnis in Form von Evangeliennarrativen. Mit ihnen haben im Medium von Textwelten frühchristliche Gruppen ihre Identität geschaffen, die sich auf Jesus Christus zurückbezieht und ihre gelingende religiöse Kommunikation der Erinnerung an ihn in Narrativen in Szene setzt. Schon durch die Schriftwerdung und Externalisierung des erinnerten Jesus Chris‐ tus im Schriftleib wird die Variation der Erinnerung, ihr Anders- und Neu‐ erzählen eingeschränkt. Durch ihren wiederholenden Gebrauch in der 386 6 Glaube und Geschichte <?page no="387"?> Erkennbar‐ keit der christlichen Religion christlich-religiösen Kommunikation wird die textgewordene Erinnerung an Christus bestätigt und jeweils neu in Geltung gesetzt. Allein in ihrer Ite‐ ration imponiert (Karl Barth) sie sich als Voraussetzung der christlich-reli‐ giösen Kommunikation, durch die sie als Religion entsteht. Da man in der wiederholenden Weitergabe der Erinnerung an Christus diese jedoch zu‐ gleich alteriert, sie ständig über-, neu- und weiterschreibt, reicht schriftliche Fixierung nicht aus. Ob abweichende Narrative der funktionierenden reli‐ giösen Kommunikation des erinnerten Jesus Christus noch dieselben sind, weiß nur der Heilige Geist. Am Textbestand, der sich ebenfalls auf den Got‐ tesgeist beruft, ist das nicht zu entscheiden. Um die christliche Religion er‐ kennbar zu halten, bedarf es einer Varianzbändigung. Erst durch Kanoni‐ sierung der Erinnerung an Jesus Christus wird der Prozess ihres alterierenden Weiterschreibens unterbunden, bestimmte Texte werden als maßgeblich ausgewählt und andere ausgeschieden. Kanonisierung bedeutet einen Bruch. Sie lässt ein bestimmtes Textkorpus entstehen, den zweiteiligen biblischen Kanon, der die christliche Religion erkennbar hält. Indem die ka‐ nonisierte textgewordene Erinnerung an Jesus Christus nicht mehr fortge‐ schrieben, sondern nur wiederholt werden kann, konstituiert sich ein kul‐ turelles Gedächtnis. Es wird in jeder Iteration des Kanons als Autorität erzeugt, in Geltung gesetzt und dadurch sedimentiert und materialisiert. Ohne die in dem zweiteiligen biblischen Kanon materialisierte Erinne‐ rung an Jesus Christus ist die christliche Religion weder möglich noch er‐ kennbar. Damit eine Kommunikation als christlich-religiöse identifizierbar ist, bedarf sie inhaltlich bestimmter Texte und Narrative. Das leistet die Bibel als Heilige Schrift. Erkennbar und damit fortsetzbar ist die christlich-reli‐ giöse Kommunikation allein dadurch, dass sie sich auf bestimmte Texte be‐ zieht und diese in der Kommunikation weitergibt. Doch die christliche Re‐ ligion besteht nicht in den Inhalten des biblischen Kanons, ihrer inhaltlichen oder historischen Wahrheit. An Inhalten ist sie gerade noch nicht hinrei‐ chend erkennbar, sondern allein am religiösen Gebrauch der biblischen Texte, der in der christlich-religiösen Kommunikation von ihnen gemacht wird. So ist die im biblischen Kanon materialisierte Erinnerung an Jesus Christus selbst eine Sedimentierung gelungener religiöser Kommunikation des erinnerten Jesus Christus. Für die dogmatische Schriftlehre bedeutet dies, dass sie die religiöse Funktion der Bibel für die christliche Religion herauszuarbeiten hat. Sie fragt nicht nach der Wahrheit der Bibel und ihrer Aussagen in einem historischen oder gegenständlichen Sinn, sondern sie hat zu beschreiben, wie in ihrem religiösen Gebrauch in der Kommunikation 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 387 <?page no="388"?> Inspiration der Schrift Autorität der Schrift Eigenschaft der Schrift religiöser Sinn hergestellt wird. Die biblischen Schriften halten die christli‐ che Religion aber nicht nur erkennbar und ermöglichen ihre Identifizie‐ rung. Sie haben auch eine normative Funktion für die christliche Religion, die in ihrer religiösen Benutzung besteht. Beides erörtert die dogmatische Schriftlehre, wenn sie die Bibel als Wort Gottes versteht. Wort Gottes ist die Bibel in ihrem gelingenden religiösen Gebrauch. Doch dieser lässt sich weder durch ihre Inhalte begründen noch aus ihnen ableiten. Zwischen den biblischen Inhalten und ihrer religiösen Benutzung besteht ein Hiatus. Religiöser Sinn entsteht unableitbar in der christlich-religiösen Kommunikation, indem die biblischen Texte religiös angeeignet und wieder in der Kommunikation verwendet werden. Das besagt die Inspiration der Schrift. Dass sie inspiriert ist, beschreibt das aus den biblischen Inhalten unableitbare Funktionieren in ihrer Verwendung in der christlich-religiösen Kommunikation. Inspiration ist folglich kein gegenständliches Merkmal der Bibel. Sie benennt ihre durchsichtige und selbstbezügliche christlich-reli‐ giöse Anwendung in der Kommunikation. Folglich hat auch die der Inspi‐ ration korrespondierende Eigenschaft der Autorität der Bibel eine reflexive und keine gegenständlich-objektive Funktion. Sie zielt auf die religiöse Funktion der biblischen Schriften für die christliche Religion. Nur im reli‐ giösen Gebrauch, den Menschen von ihr machen, hat die Bibel Autorität. Diese kommt in der Tat nicht dem Schrifttext als solchem zu (Ingolf U. Dal‐ ferth), wohl aber seiner wiederholenden Wiederaufnahme in der christ‐ lich-religiösen Kommunikation. In seiner Iteration wird der Schrifttext zum Wort Gottes und in seiner auctoritas jeweils neu in Geltung gesetzt und be‐ stätigt. Die dogmatischen Bestimmungen der Inspiration und der Autorität der Bibel beschreiben ihre religiöse Funktion in der christlichen Religion. Reli‐ giöser Sinn entsteht, indem die christlich-religiöse Kommunikation der bi‐ blischen Texte gelingt, diese also religiös angeeignet und wieder artikuliert werden. Genau das explizieren die affectiones der Schrift (vgl. oben 6.2.1.1). Sufficientia, perspicuitas und efficacia strukturieren die Herstellung religiö‐ sen Sinnes in der religiösen Aufnahme und Artikulation der biblischen Schriften in der Kommunikation. Sie sind hermeneutisch-reflexiv zu ver‐ stehen und nicht, wie in der Lehrtradition des Luthertums, gegenständlich. Sie entfalten, wie die auctoritas der Schrift in ihrer religiösen Benutzung sich konstituiert. Dass die Bibel suffizient sei, heißt: durch sie ist die christliche Religion hinreichend zu erkennen. Es bedarf keiner weiteren Texte hierfür. Beim Merkmal der sufficientia der Bibel geht es nicht gegenständlich um 388 6 Glaube und Geschichte <?page no="389"?> Gesetz und Evange‐ lium ihre inhaltliche Vollkommenheit, sondern um ihre Funktion, die in ihrer christlich-religiösen Benutzung liegt. Deutlich und klar ist die Schrift, indem sie religiös angeeignet wird. Auch die perspicuitas meint keine gegenständ‐ liche Eigenschaft der Bibel. Sie beschreibt ihre religiöse Funktion, die erst durch ihre religiöse Aneignung sich konstituiert. Und schließlich besteht die Wirksamkeit der Schrift in dem religiösen Sinn, der durch die religiöse Ar‐ tikulation der religiös angeeigneten biblischen Texte hergestellt wird. Wort Gottes ist die Bibel in ihrer funktionierenden christlich-religiösen Benut‐ zung. Das ist ihre efficacia in der christlichen Religion. Wenn die dogmatische Schriftlehre den durchsichtigen und selbstbezüg‐ lichen religiösen Gebrauch der Bibel in der christlich-religiösen Kommuni‐ kation thematisiert, in dem sie erst als Wort Gottes entsteht, dann geht es in ihr bereits um die mediale Übertragung der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Schriftlehre und Lehre von den media salutis haben dieselbe Funk‐ tion. Was bedeutet das für die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die einen zentralen Topos der altlutherischen Lehre bildete? In der Form, wie diese Unterscheidung von der altlutherischen Dogmatik behandelt wurde, ist sie nicht mehr weiterzuführen. Sie setzt einmal die Sündenlehre voraus, indem sie den Übergang von der Sünde zum Heil des Glaubens be‐ schreibt. Durch eine solche Fassung von Gesetz und Evangelium lässt sich jedoch eine Funktionalisierung des Heils des Glaubens nicht ausschließen. Und zum anderen hat das, was die dogmatische Lehrtradition im Anschluss an Martin Luther Gesetz nannte, in der Moderne seine Funktion verloren. Damit wird aber auch das auf das Gesetz bezogene Evangelium funktionslos. Aus diesem Grund wird hier vorgeschlagen, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auf die christlich-religiöse Kommunikation zu übertragen und ihr eine hermeneutische Fassung zu geben, die an die Stelle der alten harmatiologischen tritt. Gesetz bezeichnet die Abhängigkeit der christlichen Religion von der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus. Um entstehen zu können, setzt der Glaube als symbolproduktive Wirklichkeit der christ‐ lichen Religion ein inhaltlich bestimmtes Textkorpus voraus. Er ist abhängig von diesen Texten. Obwohl sie Ausdruck und Niederschlag gelungener christlich-religiöser Kommunikation sind, sind sie doch als Texte lediglich Erinnerung an die christliche Religion und Erwartung, dass mit ihrem Ge‐ brauch christlich-religiöse Kommunikation gelingt (Karl Barth). Da durch die Bibel die christliche Religion erkennbar ist, ist sie äußerlich klar. Doch zur Religion und zum Wort Gottes wird die Bibel allein in ihrer gelingenden religiösen Benutzung in der Kommunikation. Diesen Übergang vom Text 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 389 <?page no="390"?> und seinem inhaltlichen Bestand zu dem aus ihm nicht ableitbaren christ‐ lich-religiösen Gebrauch bezeichnet das Evangelium. Erst mit ihm entsteht der Glaube als eine sichtbare Wirklichkeit in der Kultur zugleich mit dem Wort Gottes. Im gläubigen Umgang mit der Schrift ist diese innerlich klar. Glaube und Wort Gottes hängen am religiösen Gebrauch der Bibel, in dem sie sich konstituieren. Medienkörper und Schriftleib Jesu Christi ist die Bibel im Glauben. Das setzt einen Kontext voraus. Ohne ihn kann ein religiöser Sinn der Bibel nicht entstehen. Doch das bedeutet weder die Voraussetzung von leiblich kopräsenter Kommunikation im Gottesdienst noch eine Privilegierung des Hörens der Verkündigung in diesem (Ingolf U. Dalferth). Den Kontext der christlich-religiösen Verwendung der Bibel in der Kommunikation bildet die christliche Religion. Diese muss es als eine eigene Form in der Kultur geben, damit die Kommunikation biblischer Texte als Religion verstanden werden kann. Das Funktionieren dieser Kommunikation besteht in der wiederholenden Wiederaufnahme der im Schriftleib übertragenen Erinnerung an Jesus Christus. Es ist an den Ge‐ brauch gebunden, den Menschen von der angeeigneten christlich-religiösen Kommunikation machen, nicht aber an eine Kommunikation unter leiblich Anwesenden. Sie gelingt, indem die christlich-religiöse Kommunikation der Erinnerung an Christus fortgesetzt, sie also religiös wiederholt wird. Dies auf das Hören im Gottesdienst zu beschränken, wäre eine unzulängliche Engführung der christlichen Religion auf die institutionelle Kirche. L IT E R ATU R : Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2 2004. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/ 2, Zollikon-Zürich 5 1960, 505-598. Ingolf U. Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transfor‐ mation der Theologie, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1993, 247-295. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 278-282. Christian Danz: Autor und Autorität der Schrift. Anmerkungen zur Schriftlehre der Dogmatik, in: Autor und Autorität. Historische, systematische und praktische Perspektiven. Wiener Jahrbuch für Theologie, Bd.-12, hrsg. v. Uta Heil/ Antje Klein/ Annette Schellenberg, Göttingen 2019, 113-127. Sandra Huebenthal: Gedächtnistheorie und Neues Testament. Eine metho‐ disch-hermeneutische Einführung, Tübingen 2022. Sandra Huebenthal: Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, Göttingen 2 2018. 390 6 Glaube und Geschichte <?page no="391"?> mediale Übertra‐ gung Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegen‐ wart, Tübingen 2004. Frederike van Oorschot: Schriftlehre, Schriftauslegung und Schriftgebrauch. Eine Untersuchung zum Status der Schrift in der und für die Dogmatik, Tübingen 2022. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen, 2018, 95-114. 6.2.3.3 Jesus Christus als Sakrament Wie das Wort bereits Sakrament ist, so ist dieses auch jenes. Die an Medien gebundene Wiederholung der christlichen Religion in der christlich-religiö‐ sen Kommunikation zielt auf die Herstellung von religiösem Sinn, und dieser hängt an der Erinnerung an Christus. Sie, die medialen Formen der christ‐ lichen Religion, sind Bestandteil von ihr, in denen sie - sich selbst realisie‐ rend - in der Kommunikation auf Einzelne übertragen wird. Während Jesus Christus als Wort Gottes die notwendige Bindung des Glaubens an die Kom‐ munikation der Erinnerung an ihn thematisiert, beschreiben die sakramen‐ talen Formen Abendmahl und Taufe ihre Aneignung und Artikulation. Wie die Verkündigung des Wortes Gottes sind beide Sakramente mit der christ‐ logischen Ämterlehre zu verbinden. Diese stellt insgesamt die durchsichtige Herstellung des Subjekts des Glaubens als Aneignung in der Erinnerung an Jesus Christus dar. Für die Sakramentslehre, die mit der Lehre vom Wort Gottes zusammengenommen wird, bedeutet das, sie thematisiert die mediale Übertragung der gelingenden christlich-religiösen Kommunikation auf die Gemeinde, die in der christlichen Religion mit den media salutis Wort Gottes, Taufe und Abendmahl symbolisiert wird. Heilsmedien sind Beschreibungs‐ elemente ihrer Realisierung. Damit ist die überlieferte sündentheologische Fassung der dogmatischen Lehre von den media salutis fallengelassen und durch eine hermeneu‐ tisch-reflexive ersetzt. Sowohl bei der Taufe als auch beim Abendmahl geht es nicht um die Übertragung einer übernatürlichen Gnadensubstanz, einer materia coelestis (vgl. oben 6.2.1.2). Es wird auch kein irgendwie bereits gegebenes Heil, welches dem Glauben vor- und übergeordnet ist, durch die sakramentalen Zeichen Wasser, Brot und Wein übertragen (Wilfried Härle) oder durch die sakramentale Handlung repräsentiert (Ingold U. Dalferth). Vielmehr ist es die christliche Religion selbst, die sich in ihrer Bindung an mediale Formen als notwendigen Bestandteilen ihrer Realisierung in Taufe 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 391 <?page no="392"?> Abendmahl Erinne‐ rungszei‐ chen und Abendmahl darstellt. Beide sind ebenso wie das Wort Gottes Medien ihrer realisierenden Weitergabe, ohne die die christliche Religion nicht zur Existenz kommen kann. Sie übertragen den erinnerten Jesus Christus in der Kommunikation auf Einzelne und explizieren die Konstitution seiner Gabe in ihrer wiederholenden Wiederaufnahme. Dabei wird das Abendmahl dem priesterlichen Amt Christi zugeordnet und die Taufe dem königlichen Amt (vgl. oben 5.2.3.3). Das Abendmahl stellt in der christlichen Religion dar, dass ihre Realisie‐ rung an die individuelle Aneignung der medial kommunizierten Erinnerung an Jesus Christus gebunden ist. Das entspricht dem priesterlichen Amt, der Wiederholung Jesu Christi. Wie das Subjekt der christlichen Religion, wel‐ ches die Christologie thematisiert, so entstehen auch ihre Medien in der Aneignung der medialen Formen der Erinnerung an Jesus Christus durch Menschen. Aneignung ist ein notwendiger Bestandteil ihrer Realisierung, durch die sie sich konstituiert. Indem das Abendmahl dies in der christlichen Religion symbolisiert, ist sein Kern die wiederholende Aneignung der christ‐ lichen Religion, also die Überführung des erinnerten Jesus Christus in die christlich-religiöse Praxis durch eine symbolische Form: dies tut zu meinem Gedächtnis (1Kor 11,24). Ein Erinnerungszeichen oder Medienkörper Jesu Christi ist das Abend‐ mahl allein in der christlichen Religion. Es entsteht in dem trinitarischen Geschehen des Heiligen Geistes als Geber, Gabe und Glaube. Ebenso wie das Wort Gottes lässt es sich nicht auf eines der Elemente des Heiligen Geistes zurückführen. Aus diesem Grund reicht es nicht aus, die Objektivität des Abendmahls, seinen Gabecharakter, durch seine Vor- und Überordnung ge‐ genüber dem Glauben zu begründen. Eine theologische Konstruktion des Abendmahls als Grund des Glaubens (Wilfried Härle), als Widerfahrnis (Ro‐ man Winter [geb. 1986]), Ursprungssituation (Wolfhart Pannenberg) oder als dem Glauben vorgeordnetes Ereignis der Selbstinterpretation des drei‐ einigen Gottes in eschatologischen Kopräsenzsituationen (Ingolf U. Dal‐ ferth), die seinen Charakter als (subjektive) Deutung oder Ausdruck des Glaubens ausschließen soll, bestätigt ihn vielmehr. Nur im Glauben er‐ schließt sich eine Heilswirkung des Abendmahls. Es konstituiert sich nicht durch eine subjektive Deutung der Zeichen, wohl aber mit ihr zusammen in dem trinitarischen Ereignis des Heiligen Geistes, indem es mit dem Subjekt des Glaubens als Gabe entsteht. 392 6 Glaube und Geschichte <?page no="393"?> christologi‐ sche Bin‐ dung das pries‐ terliche Amt Konstitutiv für das Abendmahl ist seine christologische Bindung. Hierin liegt seine Besonderheit als Erinnerungszeichen und Medienkörper Jesu Christi. Als ein solches entsteht es in seiner religiösen Benutzung. Auf eine Einsetzung durch den geschichtlichen Jesus von Nazareth lässt es sich nicht zurückführen. Dass er das Abendmahl als eine sakramentale Handlung ge‐ stiftet hat, ist historisch wohl eher unwahrscheinlich. Als symbolische Handlung ist es in der Wiederholung des erinnerten Jesus Christus im frü‐ hen Christentum entstanden. Durch seine Iteration sedimentiert es sich als symbolische Form der christlichen Religion und wird in jeder Wiederholung als solche bestätigt. Das Abendmahl ist selbstbezüglich. Mit ihm und seiner Einsetzung durch Jesus Christus stellt die christliche Religion in sich dar, dass sie in ihrer geschichtlichen Realisierung an die Aneignung von sym‐ bolischen Formen gebunden ist. Erinnerungszeichen Jesu Christi und Gabe, die empfangen wird, ist das Abendmahl im Funktionieren der christlich-re‐ ligiösen Kommunikation der medialen Formen der Erinnerung an ihn. Wie alle Medien entsteht es als Empfangshandlung (Werner Elert, Gerhard Ebe‐ ling) in seiner Aneignung durch Menschen. Im Essen des Brots und im Trin‐ ken des Weins in der religiösen Aufnahme konstituiert sich die empfangene Gabe und wird zur Anrede Jesu Christi an den Einzelnen. Seine Externität sowie die seiner Medienkörper entspringt in seiner Aneignung. Ohne in nos kein extra nos und vice versa. Erinnerungszeichen Jesu Christi ist das Abendmahl, weil es ihn in der christlichen Religion erinnert, sich auf ihn bezieht und als Abwesenden an‐ wesend sein lässt. Entscheidend für den gelingenden Mediengebrauch ist nicht die leibliche Kopräsenz der Kommunizierenden. Kommunikation be‐ steht nicht in der Übertragung von Informationen von einem Sender zu ei‐ nem Empfänger. Sie gelingt, wenn Mitteilung und Information unterschie‐ den werden, die an Medien gebundene Erinnerung an Jesus Christus also religiös verstanden wird. Doch das ist nicht an die personale Anwesenheit der Kommunikanten gebunden, sondern an das Verstehen des religiösen Sinnes, der im Verzehr von Brot und Wein hergestellt wird. Das setzt einen Kontext voraus (Ingolf U. Dalferth). Ohne ihn ist das Abendmahl nicht als eine christliche Symbolhandlung zu verstehen. Sein Kontext ist der Heilige Geist, die Erinnerung an Jesus Christus, die sich allerdings nicht auf den Gottesdienst beschränken lässt. Ebenso wie das priesterliche Amt ist das Abendmahl kein inhaltlicher Bestandteil der christlichen Religion. Es ist ein Beschreibungselement ihrer Realisierung in der Geschichte. 6.2 Die Gabe der christlichen Religion: Media salutis 393 <?page no="394"?> Taufe königliches Amt gelingen‐ des Emp‐ fangen der Erinnerung an Christus Während das Abendmahl die wiederholende religiöse Aneignung der medialen Erinnerung an Jesus Christus als konstitutives Element der an Medien gebundenen Realisierung der christlichen Religion darstellt, liegt der Fokus der symbolischen Handlung der Taufe auf ihrer gelingenden Ar‐ tikulation. Zur Existenz kommt der Glaube, indem die angeeignete medial vermittelte Erinnerung an Christus von Einzelnen symbolproduktiv artiku‐ liert wird. Das ist eine bleibende Aufgabe, so dass sich die Taufe auf das gesamte Leben eines Christenmenschen bezieht (Martin Luther). Auch die Taufe ist ein Beschreibungselement der funktionierenden Realisierung der christlichen Religion in ihrer Übertragung auf Einzelne. Ihr sündentheolo‐ gischer Rahmen ist ebenso wenig weiterzuführen wie die substantielle Ver‐ zahnung von Zeichen und Heilsgnade, die sie in der dogmatischen Lehrtra‐ dition erhalten hat. Wie die Verkündigung und das Abendmahl hat sie eine reflexive Funktion. Sie stellt in der christlichen Religion dar, dass ihre Wei‐ tergabe an symbolische Formen gebunden ist, die erst in ihrer gelingenden Verwendung als Medienkörper Jesu Christi entstehen. Aus diesem Grund ist die Taufe mit dem königlichen Amt Jesu Christi verbunden. Erinnerungszeichen Jesu Christi ist die Taufe weder durch ihre Einset‐ zung noch durch ihr Element oder ihre subjektive Deutung. Als christologi‐ scher Medienkörper entsteht sie in dem trinitarischen Geschehen des Heili‐ gen Geistes als Geber, Gabe und Glaube. Auch die Taufe lässt sich nicht durch eines ihrer Elemente begründen. Sie fundiert nicht den Glauben (Wilfried Härle), noch ist sie einfach nur sein Ausdruck. Zum Erinnerungszeichen Jesu Christi wird das mit der Erinnerung an ihn verbundene Wasser in seinem iterierenden religiösen Gebrauch in der christlichen Religion. Dieser konstituiert sie als Medium der Erinnerung an Christus. Ihre Rückführung auf ihn als Voraussetzung der christlichen Religion ist Bestandteil von ihr, aber keine historische Begründung. Ihr Grund und Ursprung ist Jesus Christus allein in ihr. So wie die Gabe erst im Glauben als dem gelingenden Empfang der an Medien gebundenen Erinnerung an Jesus Christus sich als dessen Grund konstituiert, entsteht auch Christus in seiner Artikulation als Geber des Glaubens. Mit der Taufe beschreibt die christliche Religion das gelingende Empfan‐ gen der Erinnerung an Jesus Christus. Sie ist sowohl an die christlich-reli‐ giöse Kommunikation als auch an ihre religiöse Aneignung gebunden, ohne aus ihnen abgeleitet werden zu können. Als Artikulation des an Medien gebundenen religiösen Sinnes stellt die Taufe ein eigenes Element in der medialen Realisierung der christlichen Religion dar. Aus der funktionieren‐ 394 6 Glaube und Geschichte <?page no="395"?> den religiösen Wiederaufnahme der empfangenen christlich-religiösen Kommunikation entspringt das christliche Leben. Es verwirklicht sich im Heiligen Geist, der Jesus Christus sichtbar werden lässt. Nicht zu Unrecht ist die Taufe mit der Aufnahme in die Kirche verbunden. Diese konstituiert sich im Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation im Heiligen Geist, in der Herstellung religiösen Sinnes im Gebrauch der an Medien ge‐ bundenen Kommunikation der Erinnerung an Jesus Christus (vgl. oben 6.1.3). Wort-Gottes-Verkündigung, Abendmahl und Taufe stellen in der christ‐ lichen Religion dar, wie sie durchsichtig in der medialen Kommunikation als Religion weitergegeben wird. Sie beschreiben, wie Medien in der christ‐ lich-religiösen Kommunikation als Medienleiber und Erinnerungszeichen Jesu Christi in ihr entstehen. Als Wort Gottes und Sakrament ist Jesus Christus auf den Glauben bezogen, der sich zusammen mit ihm in der christlich-religiösen Kommunikation konstituiert. L IT E R ATU R : Ingolf U. Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transfor‐ mation der Theologie, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1993, 247-295. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationa‐ lität, Freiburg i.Br./ Basel/ Wien 1991, 151-154. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 288-299. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/ New York 6 2022, 550-572. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd.-3, Göttingen 1993, 265-369. Roman Winter: Abendmahl digital empfangen? Überlegungen angesichts aktuel‐ ler Herausforderungen durch Pandemie(n) und Digitalisierung, in: Kerygma und Dogma 67 (2021), 235-259. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen, 2018, 162-186. 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis Der Heilige Geist ist nicht nur Geber und Gabe der religiösen Erinnerung an Jesus Christus, sondern auch ihr artikulierender Gebrauch im Glauben. Während es in der Lehre von der Kirche um den Geber der christlichen Religion (vgl. oben 6.1) und in der Lehre von den media salutis um ihre Gabe geht (vgl. oben 6.2), thematisiert die Lehre vom ordo salutis (Heils‐ 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 395 <?page no="396"?> Zueignung des Heils ordnung) ihre religiöse Benutzung. Dieser ist ein eigenes konstitutives Element ihrer Realisierung in der Geschichte. Als autonome Form kommt die christliche Religion im sichtbaren Gebrauch der christlich-religiösen Kommunikation zur Existenz. Mit dem Heiligen Geist als Glaube schließt sich der Kreis, aus und in dem die christliche Religion entsteht. Glaube ist die symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion, die wiederholende Wiederaufnahme der Erinnerung an Jesus Christus in der Kommunikation. Gegenstand der dogmatischen Lehre vom ordo salutis ist die Zueignung des von Jesus Christus erworbenen Heils an den Menschen durch den Hei‐ ligen Geist. In dieser Zueignung konstituiert sich mit dem Glauben sein Subjekt. Anders als in der dogmatischen Lehrtradition wird hier dafür plä‐ diert, die theologische Anthropologie in der Lehre von der Heilszueignung zu thematisieren und nicht im Anschluss an die Schöpfungslehre. Auf diese Weise werden die theologische Anthropologie und die Soteriologie von Aussagen über den Menschen als solchen abgelöst und als Beschreibungen der Herstellung des Subjekts des Glaubens in der christlichen Religion ver‐ standen. Es besteht im durchsichtigen religiösen Gebrauch der Erinnerung an Jesus Christus. Für die Sündenlehre bedeutet das, dass sie nicht als Ne‐ gativfolie fungiert, um das Heil des Glaubens zu explizieren. Sie wird auf die Realisierung der christlich-religiösen Kommunikation übertragen und als Darstellung ihrer Verwirklichung in der Spannung von relativem Gelingen und Misslingen interpretiert. Durch die vorgeschlagene Verschiebung der theologischen Anthropologie in die Lehre vom ordo salutis wird der Versuch unternommen, die Aporien der klassischen dogmatischen Lehrform aufzu‐ lösen. Zu erörtern sind deshalb zunächst Grundbegriffe der dogmatischen Lehre von der Heilszueignung im Luthertum (vgl. unten 6.3.1), sodann ex‐ emplarische Problemfelder, die aus der gegenständlich-objektiven Fassung der Lehre resultieren (vgl. unten 6.3.2) und schließlich eine Neufassung des Heils des Glaubens in einer Systematischen Theologie der christlich-reli‐ giösen Kommunikation (vgl. unten 6.3.3). 6.3.1 Grundbegriffe der dogmatischen Lehre von der Heilsaneignung im Luthertum Die systematische Ausgestaltung und Durcharbeitung der Lehre von der Heilsaneignung im Luthertum knüpft an Martin Luthers reformatorische Entdeckung des rechtfertigenden Glaubens an. Seine Fassung von der Rechtfertigung des Sünders ohne Werke des Gesetzes wird im Laufe der 396 6 Glaube und Geschichte <?page no="397"?> lutherische Dogmatik status in‐ tegritatis Lehrentwicklung seit Abraham Calov (1612-1686) in dem Lehrschema de gratia spiritus sancti sive applicatrice (über die Heilszueignung der Gnade durch den Heiligen Geist), dem späteren, unter dem Einfluss des Pietismus sogenannten ordo salutis ( Johann Franz Budde [1667-1729]), ausgeführt. Bei dem genannten Lehrschema handelt es sich um ein spätes Produkt der Lehrentwicklung. In den altlutherischen Dogmatiken ist es nicht einheitlich ausgeführt worden. Gegenstand der Lehrbildung ist die Zueignung des von Jesus Christus erworbenen Heils an den Menschen durch den Heiligen Geist. Im Aufbau der lutherischen Dogmatik folgt die Lehre vom ordo salutis direkt auf die Christologie und erörtert mit dieser zusammen die Lehre von den Prinzipen des Heils (lateinisch: de principiis salutis). An sie schließen die Lehre von den media salutis (vgl. oben 6.2) sowie die von der Kirche an (vgl. oben 6.1). Doch die Lehre von der Heilszueignung setzt nicht nur die Chris‐ tologie voraus, sondern auch die Lehre von der Sünde. Aus der gegenständ‐ lich-objektiven Fassung von beiden Lehrformen resultiert die Eigenart der Lehrgestaltung des ordo salutis. Aus diesem Grund muss im Folgenden zu‐ nächst die Lehre von der Sünde erörtert werden. Sie bildet den Hintergrund der sodann zu erläuternden Lehren von der Rechtfertigung und dem Glau‐ ben. 6.3.1.1 Die Lehre von der Sünde Von der dogmatischen Lehrtradition des Luthertums wird die theologische Anthropologie im Anschluss an die Lehre von der Schöpfung der Welt durch Gott (vgl. oben 5.1.3.3), die einen Teil der Gotteslehre bildet, behandelt. Das Lehrstück de homine (vom Menschen) umfasst zwei Teile. Zunächst wird der Mensch als Ebenbild Gottes in der Lehre vom status integritatis (Zustand des ursprünglichen Menschen) in den Blick genommen und sodann in der Lehre vom status corruptionis (Zustand der Verderbnis) der Mensch als Sünder. In der Lehre vom status integritatis geht es um den von Gott geschaffenen Menschen am Ende der Schöpfung. Grundlage der Entfaltung der Lehre ist der biblische Schöpfungsbericht. Im Unterschied zu allen anderen Kreaturen zeichnet den Menschen aus, dass er Ebenbild Gottes, imago Dei (Gen 1,26f.), ist. Im Allgemeinen besagt die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine Ähn‐ lichkeit mit Gott, die darin ihren Grund hat, dass dieser bei der Erschaffung des Menschen sich als Muster und Urbild genommen hat. Inhaltlich besteht sie in der geistigen und sittlichen Vollkommenheit des Menschen, der iustitia originalis (Ursprungsgerechtigkeit). Biblische Quellen für die inhaltliche Be‐ 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 397 <?page no="398"?> status cor‐ ruptionis stimmung der imago Dei sind Kol 3,10 und Eph 4,24. Beide Stellen sprechen zwar nicht von der Ursprungsgerechtigkeit des Menschen. Da aber von ih‐ rem Verlust und ihrer Wiedergewinnung durch Jesus Christus die Rede ist, sahen sich die altlutherischen Theologen berechtigt, diese Aussagen auf den Menschen vor dem Fall zu übertragen und zur inhaltlichen Bestimmung der iustitia originalis zu benutzen. Diese umfasst drei Aspekte: (a) die vollkom‐ mene Erkenntnis göttlicher, menschlicher und natürlicher Dinge, (b) die Heiligkeit und Freiheit des Willens des Menschen, der sich stets dem Guten zuwendet, und (c) eine vollkommene Harmonie der höheren und niederen Vermögen des Menschen, so dass seine Vernunft die sinnliche Triebe be‐ herrscht. Verbunden mit der vollkommenen Ursprungsgerechtigkeit des Menschen sind bestimmte körperliche Vorzüge wie die Freiheit von Leiden, Unsterblichkeit, Herrschaft über die Geschöpfe sowie der Aufenthalt im Pa‐ radies auf der einen Seite und die gnadenvolle Einwohnung Gottes im Men‐ schen auf der anderen. Der status integritatis bezeichnet einen Zustand der Vollkommenheit des Menschen. Alle inhaltlichen Aussagen, die von ihm als dem Ebenbild Gottes gemacht werden, kommen ihm natürlich zu. Sie bezeichnen seinen Zustand am Ende der Schöpfung, der sich durch eine perfectio naturalis (natürliche Vollkommenheit) auszeichnet. Diese sei, wie gegen die römisch-katholische Dogmatik geltend gemacht wird, kein donum supernaturale externum ac accessorium (übernatürliche externe Gabe und Zugabe). Auf die dogmatischen Aussagen zum status integritatis folgen in der lu‐ therischen Dogmatik die Ausführungen zum status corruptionis. Auch sie orientieren sich an der biblischen Urgeschichte, genauer, dem in Gen 3 be‐ richteten Fall des Menschen. Im Fokus der dogmatischen Behandlung der Sünde steht die Lehre von der Erbsünde (lateinisch: peccatum originale ori‐ ginatum). Erbsündenlehre Eine zentrale Bedeutung für die Herausbildung der Lehre von der Erbsünde kommt Augustin zu (vgl. oben 2.2). In De civitate Dei (413- 426) schreibt er: „Denn Gott, der Urheber der Naturen, nicht der Gebrechen, hat den Menschen wohl gut erschaffen, doch der, durch eigene Schuld verderbt und dafür von Gott gerecht verdammt, hat verderbte Nachkommen erzeugt. Denn wir alle waren in jenem einen, waren damals alle jener eine […] im 398 6 Glaube und Geschichte <?page no="399"?> Samen war die Natur schon vorhanden, aus der wir durch Fortpflanzung hervorgehen sollten. […] So ist denn aus dem verkehrten Gebrauch des freien Willens die ganze Kette des Unheils entstanden, die mit nicht abrei‐ ßendem Jammer das Menschengeschlecht, dessen Ursprung verderbt und gleichsam an Wurzelfäulnis erkrankt war, bis zum endgültigen Untergang im zweiten Tode führen sollte, ausgenommen nur diejenigen, die durch Gottes Gnade erlöst werden.“ (Augustin 2007, XIII, 14; Hervorhebung C. D.). An den Ausführungen von Augustin wird deutlich, dass die Erbsünde nicht als ein naturhaftes Verhängnis verstanden werden soll, dem jeder Mensch aufgrund seiner Geburt ohne sein eigenes Zutun unter‐ liegt. Wäre das der Fall, dann könnte von einer individuellen Schuld nicht mehr die Rede sein. Gleichwohl unterliegen alle Menschen der Erbsünde. Augustin verbindet in seiner Erbsündenlehre zwei Gedan‐ kenreihen. Zunächst sei die Sünde als gleichsam angeborener Defekt dennoch schuldhaft, weil alle Menschen bereits in Adam virtuell gegenwärtig waren. Aus diesem Grund kann ihnen eine Beteiligung an seiner freien und damit schuldhaften Entscheidung zum Ungehorsam gegenüber Gott zugerechnet werden. Nach Augustin waren „alle […] in jenem einen“ (lateinisch: omnes enim fuimus in illo uno). Hierfür beruft er sich auf die lateinische Übersetzung von Röm 5,12: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“ (Hervorhebung C. D.) Die *Vulgata übersetzt den Schluss des Verses mit „in quo omnes peccaverunt“ (in dem [! ] alle gesündigt haben). Augustin bezieht diese Aussage von Paulus auf Adam und zieht die Folgerung, alle Menschen haben in Adam gesündigt. Sodann greift Augustin den Gedanken Tertullians auf, die Sünde - verstanden als Begierde (lateinisch: concupiscentia) - werde gleichsam physisch durch den Geschlechtsakt vererbt. Die lutherische Lehrtradition hat die Lehre von der Erbsünde, wie sie von Augustin eingeführt wurde, aufgenommen. Im zweiten Artikel der Confessio Augustana wird ausdrücklich formuliert, „alle Menschen, so naturlich geboren werden“, werden „in Sunden empfangen und gebo‐ ren“, „daß ist, daß sie alle von Mutterleib an voll boser Lust und Neigung seind“ (BSLK, 53). Diese Vorstellung stellt eine Konsequenz der für die lutherische Theologie maßgeblichen Auffassung des Traduzianismus dar. Die Seele des Menschen wird nicht durch einen unmittelbaren 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 399 <?page no="400"?> Sünde göttlichen Eingriff hervorgebracht, wie im Kreatianismus, sie entsteht im Zeugungsvorgang. Neben dem Gedanken, die Erbsünde werde phy‐ sisch vererbt, hat die lutherische Theologie die Auffassung vertreten, Gott rechne die Sünde Adams seinen Nachkommen zu (lateinisch: imputatur). Augustins dogmatische Innovation, die Lehre von der Erbsünde, hatte Martin Luther aufgenommen und mit Modifikationen ins Zentrum seiner re‐ formatorischen Neubestimmung des Glaubens gestellt. An den Reformator knüpfte die schulmäßige Entfaltung der Sündenlehre in der altlutherischen Dogmatik an. Traktiert wurden vier Themenbereiche, um die Sünde zu bestimmen: der Begriff der Sünde, die Erbsünde, die Tatsünden und die Freiheit des Willens nach dem Fall des Menschen. Sünde, so die altlutherische Theologie, sei die Abweichung (lateinisch: aberratio) vom Gesetz Gottes. Paradigma für diese Definition der Sünde ist die in Gen 3 berichtete Übertretung des göttlichen Verbots, vom Baum der Erkenntnis zu essen, die im Horizont von Röm 5 verstanden wird. Sündigen, also vom göttlichen Gesetz abweichen, kann nur ein freies und vernunftbegabtes Wesen wie der Mensch. Er ist Urheber der Sünde und für sie verantwortlich. Auszuschließen ist, dass Gott der Urheber der Sünde sei. Diese ist weder von ihm in seinem Schöpfungshandeln geschaffen worden noch, wie die lutherischen Theologen gegen die calvinistische Lehre von der doppelten *Prädestination geltend machen, von Gott angeordnet. Gott hasst vielmehr die Sünde. Die Abkehr des Menschen vom göttlichen Gesetz, dessen vollkommene Erkenntnis er als Ebenbild Gottes hat, fußt auf seinem freien Willen. Entsprechend dem Bericht aus Gen 3 geht die Übertretung des göttlichen Verbots nicht vom Menschen aus. Es ist der als Schlange verkleidete Satan, der die Stammeltern zum Abfall von Gott verführt. Mit dem Rekurs auf den Satan, der - um einen Dualismus von einem göttlichen und einem gegengöttlichen Prinzip zu vermeiden - als gefallener Engel verstanden wird, soll sichergestellt werden, dass weder Gott für den Fall des Menschen verantwortlich noch der Mensch als von Gott geschaffenes vollkommenes Wesen von sich aus auf die Idee des Abfalls von Gott gekommen sei. Infolge der Abweichung vom göttlichen Gesetz, dem Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis, hat sich der Mensch schuldig gemacht. Schuld jedoch, für die man durch seine Tat verantwortlich ist, zieht Bestrafung nach sich. 400 6 Glaube und Geschichte <?page no="401"?> Sündenfall Erbsünde Den Übergang vom status integritatis zum status corruptionis bildet der Sündenfall der Stammeltern Adam und Eva. Ihre Ursünde (lateinisch: pec‐ catum originale originans) begründet die Erbsünde des Menschenge‐ schlechts, die strikt allgemein ist und die Versöhnung durch Jesus Christus notwendig macht. Zwar betrifft der Abfall das Gottesverhältnis des Men‐ schen, aber er hat physische Konsequenzen. Er wird in der Zeugung der Nachkommen förmlich vererbt. Übertragen auf alle Nachkommen der Stammeltern wird nicht nur die Erbsünde, sondern auch die mit ihr verbun‐ dene Schuld. Die Zurechnung der Sünde Adams (lateinisch: imputatio peccati Adamitici) an die Menschheit unterscheiden die altlutherischen Dogmatiker in eine unmittelbare und eine mittelbare. Unmittelbar ist allen Menschen die Sündenschuld Adams zuzurechnen, da er das gesamte Menschengeschlecht repräsentiert (Röm 5,12 in der Übersetzung der *Vulgata! ), und mittelbar, da die von ihm abstammende Menschheit ihm gleicht. Inhaltlich besteht die Erbsünde im Verlust der imago Dei und somit der Ursprungsgerechtigkeit (lateinisch: carentia iustitiae originalis) sowie der fleischlichen Begierde des Menschen (lateinisch: carnalis concupiscentia). Sein gefallener Zustand ist das genaue Gegenbild zum status integritatis. Den status corruptionis zeichnet aus, dass der Mensch die ursprünglich vollkom‐ mene Erkenntnis göttlicher, menschlicher und natürlicher Dinge (lateinisch: privatio lucis spiritualis), die Heiligkeit und Freiheit des Willens (lateinisch: carentia sanctitatis originalis) sowie die Harmonie der höheren und niederen Vermögen (lateinisch: privatio obsequii superioribus facultatibus debiti) ver‐ loren hat. Gottebenbildlichkeit in der römisch-katholischen Anthropolo‐ gie Im Anschluss an die sogenannte priesterliche Schöpfungsgeschichte in Gen 1,26f. - „Und Gott sprach: lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde [zelem], uns ähnlich [damuth], die sollen herrschen über die Fische im Meer usw. Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bild Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie“ - unterschied die antike und mittelalterliche Lehrtradition zwei Aspekte der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Das hebräische Wort zelem übersetzte man mit imago (Bild, griechisch: eikon) und identifizierte es mit der Vernunft beziehungsweise der antiken Defini‐ tion des Menschen als animal rationale (vernünftiges Tier). Damuth 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 401 <?page no="402"?> Tatsünde Freiheit des Menschen (lateinisch: similitudo, griechisch: homoiosis) hingegen identifizierte man mit der Urstandsgerechtigkeit, der iustitia originalis, die als übernatürliche Gnadengabe Gottes (lateinisch: donum supernaturale externum ac accessorium) an den Menschen verstanden wurde. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von imago und similitudo bestimmte die dogmatische Lehrtradition den Fall des Menschen als Verlust der si‐ militudo, also der Urstandsgerechtigkeit. Erhalten blieb ihm die imago, ein wenn auch noch so verdunkelter Rest der Gottebenbildlichkeit. Diese gleichsam natürliche Ausstattung ermöglicht es dem Menschen, sich suchend zu Gott hinzuwenden, damit dieser ihm mit seiner Gnade entgegenkommen kann. Aus dem verdorbenen Zustand des Menschen nach dem Fall geht die Tat‐ sünde (lateinisch: peccatum originale) hervor. In ihr tritt der status corrup‐ tionis konkret in der Wirklichkeit des Lebens in Erscheinung. Grund aller einzelnen Sünden ist die Erbsünde, die bereits als solche, also unabhängig von den Tatsünden, den Zorn Gottes sowie zeitliche und ewige Strafen nach sich zieht. Unterschieden werden von den lutherischen Dogmatikern innere und äußere, bewusste und unbewusste Sünden, in denen sich das peccatum originale originatum manifestiert. Für den Menschen unter der Macht der Erbsünde gibt es kein Entrinnen von ihr, so dass der durch sie bedingte Zu‐ stand für ihn nun in dem Sinne natürlich ist, wie es vor dem Fall der status integritatis war. Anders als in der römisch-katholischen Anschauung tilgt für die lutherischen Theologen auch die Taufe nicht die Erbsünde (vgl. oben 6.2.1.3). Was die Taufe bewirkt, ist, dass sie dem Menschen Anteil an der Erlösung gibt und dadurch die mit der Erbsünde verbundene Schuld hin‐ wegnimmt. Im Zustand der Verderbnis hat der Mensch sowohl die Gotteserkenntnis als auch die Fähigkeit verloren, das wahrhaft Gute zu wollen. Er ist voll‐ ständig unfähig, von sich aus Gott und seinen Willen zu erkennen und zu realisieren. Was bedeutet das für die Freiheit des Menschen nach dem Fall? Gegen die calvinistische Lehre von der doppelten *Prädestination gehen die lutherischen Dogmatiker davon aus, dass dem Menschen auch nach dem Abfall von Gott formale Willensfreiheit zukommt. Von einem Willen des Menschen ist, da er konstitutiv für ihn ist, auch nach dem Fall zu sprechen. Aber dieser Wille vermag das wahrhaft Gute, also Gott und seinen Willen, weder zu erkennen noch zu verwirklichen. Aufgrund der Erbsünde ist das 402 6 Glaube und Geschichte <?page no="403"?> Wollen des Menschen durch die concupiscentia irreparabel verdorben. Selbst das Gute, welches der sündige Mensch in seine Willensbestimmung auf‐ nimmt, ist Ausdruck seiner sündhaften Selbstsucht. Lediglich im Hinblick auf das äußere Handeln in der Sozialität vermag der Mensch noch eine iustitia civilis (bürgerliche Gerechtigkeit) zu erreichen, aber diesem geset‐ zeskonformen Handeln liegt keine gute Gesinnung zugrunde. Von der altlutherischen Theologie wird die Sünde als ein gegenständ‐ lich-objektiver Tatbestand konstruiert, die einen gleichsam allgemeinen naturalen Defekt des Menschen bezeichnet. Durch Vererbung wird die naturalisierte Sünde geradezu biologisch an die nachfolgenden Geschlechter weitergegeben. Die in der Sündenlehre begründete humane Allgemeinheit der Sünde ist die Grundlage der Soteriologie, die durch die Anthropologie mit ihr verbunden ist. Unklar bleibt allerdings in der altlutherischen Sün‐ denauffassung und der sie fundierenden Lehre von der Erbsünde, wie an einer Schuld des Menschen für die Sünde festgehalten werden kann, für die er verantwortlich ist und die Strafe verdient, wenn sie gleichsam zu seiner gefallenen Natur gehört, für die er selbst gar nicht verantwortlich sein kann. L IT E R ATU R : Augustin: Vom Gottesstaat (De civitate Dei), hrsg. v. Wilhelm Thimme, München 2007. Christine Axt-Piscalar: Art.: Sünde VII. Reformation und Neuzeit, in: Theologi‐ sche Realenzyklopädie, Bd.-32, Berlin/ New York 2001, 400-436. Ulrich Barth: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hrsg. v. Friedemann Steck, Tübingen 2 2023, 226-252. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 160-181. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 147-173 (Reformatoren). 340-341 (Luthertum). 398-403 (Calvinismus). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 200-206. 230-256. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 163-191. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 194-205. 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 403 <?page no="404"?> Glaube Rechtferti‐ gung des Sünders 6.3.1.2 Die Lehren von der Rechtfertigung und dem ordo salutis Voraussetzungen der Lehre von der Rechtfertigung sind die Sündenlehre und die Christologie. Im status corruptionis kann der Mensch Gott weder erkennen noch sich ihm zuwenden. Aus diesem Grund muss ihm das von Jesus Christus erworbene Heil durch den Heiligen Geist zugeeignet werden, wobei diese Aneignung kein Werk des Menschen sein kann. Das ist der Gehalt von Martin Luthers reformatorischer Neubestimmung des Glaubens, der ohne Werke des Gesetzes vor Gott gerecht macht (Röm 3,28). Ihre lehrmäßige Ausgestaltung hat die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders im ordo salutis der altlutherischen Dogmatik gefunden. Für den Wittenberger Reformator ist Glaube im eigentlichen Sinne fides apprehensiva Christi (Christus ergreifender Glaube), die individuelle Aneig‐ nung des Heils in Christo durch den Heiligen Geist (vgl. oben 2.3.1). Dieser Glaube ist, wie Luther wiederholt einschärft, das Ganze des Heils im Got‐ tesverhältnis. In seinem Glaubensbegriff sind zwei Gedankenreihen ver‐ schränkt, einmal die Sündenerkenntnis des Menschen und zum anderen die Gerechtigkeit Gottes. Die Erkenntnis der Sünde entsteht im Menschen, in‐ dem er Gottes Gerechtigkeit anerkennt, die in Jesus Christus Wirklichkeit geworden ist. Wenn der Mensch Gott als gerecht und wahrhaftig bejaht, so impliziert dies, dass er sich selbst zugleich als Sünder erkennt. Glaube als fides apprehensiva Christi umfasst beide Momente, die Beurteilung Gottes als wahr und gerecht und die Selbstbeurteilung des Menschen als Sünder. Zum Sünder wird der Mensch somit allein im Glauben. Doch genau dadurch kommt er zu der Wahrheit, wer er immer schon ist, nämlich Sünder vor Gott. Im Glauben stimmt der Mensch mit dem Urteil Gottes über ihn - „Alle Men‐ schen sind Lügner“ (Ps 116,11, Röm 3,4) - überein, und darin ist er vor Gott gerecht. Weil der Glaube Gott recht gibt, macht er den Menschen gerecht. Luther benutzt die Christologie zur Beschreibung des rechtfertigenden Glaubens. Im Christus ergreifenden Glauben bezieht sich der Glaube auf sich selbst und sein Zustandekommen in der *Antinomie von *Gesetz und *Evan‐ gelium. An Luthers Verständnis der Rechtfertigung des Sünders sowie die luthe‐ rischen Bekenntnisschriften hat die altlutherische Dogmatik angeknüpft. 404 6 Glaube und Geschichte <?page no="405"?> Aussagen zur Rechtfertigung in der Confessio Augustana, Arti‐ kel IV „Weiter wird gelehrt, daß wir Vergebung der Sunde und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mogen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sondern daß wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden umb Christi willen durch den Glauben, so wir glauben, daß Christus für uns gelitten habe und daß uns umb seinen willen die Sunde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Lebens geschenkt wird. Dann diesen Glauben will Gott fur Gerechtigkeit vor ihme halten und zurechnen“ (BSLK, 56; Hervorhebungen C.D.). Die grundlegenden Lehraussagen zur Rechtfertigung sind: a. vor Gott gerecht werden aus Gnaden umb Christi willen durch den Glauben (lateinisch: sed gratis iustificentur propter Christum per fidem), b. dass Christus für uns gelitten habe und daß uns umb seinen willen die Sunde vergeben wird (lateinisch: quia sua morte pro nostris peccatis satisfecit), c. diesen Glauben will Gott fur Gerechtigkeit vor ihme halten und zurechnen (lateinisch: hanc fidem imputat Deus pro iustitia coram ipso). Die Rechtfertigung geschieht propter Christum (um Christi willen). Sein Versöhnungswerk wird dem Menschen durch Gott zugerechnet und durch den Glauben mitgeteilt. Sodann erfolgt die Rechtfertigung per fidem - durch den Glauben. Die klassische Formel hierfür lautet: sola fide et sola gratia (allein durch den Glauben und allein durch die Gnade). Jegliche menschliche Mitbeteiligung bei der Erlangung seines Heils ist ausgeschlossen, so dass die Rechtfertigung des Menschen gratia gratis data (umsonst geschenkte Gnade) ist. Und schließlich ist die Rechtfertigung ein forensischer Akt. Dem Menschen wird die durch Christus erworbene Gerechtigkeit von Gott zu- oder angerechnet. Die Rechtfertigung des Menschen vollzieht sich imputativ. In der weiteren Entwicklung der lutherischen Dogmatik wurde die Imputation in zwei Akte unterschieden: die Nichtanrechnung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi. Das führt zu der Formel, dem Menschen wird der Glaube an Christus zur Gerechtigkeit angerechnet. 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 405 <?page no="406"?> Lehre von der Heilszu‐ eignung vocatio Von der altlutherischen Theologie wird die Rechtfertigung des Sünders in der Lehre von der gratia spiritus sancti sive applicatrice thematisiert. Gegen‐ stand der Lehrbildung ist die Zueignung des objektiv in der Geschichte vor‐ liegenden Heils an den Menschen durch den Heiligen Geist. Durch die Heilszueignung und Heilsaneignung kommt es zum Übergang von der Sünde zum Glauben. Beides wird im gegenständlichen Sinne als ein anthro‐ pologischer Zustandswechsel verstanden. Dabei unterscheiden die lutheri‐ schen Theologen zwischen dem Glauben und der Rechtfertigung. Ersterer ist das Mittel der Heilsaneignung, und letztere ist Wirkung des Glaubens. Zur Folge hat diese Unterscheidung, dass im Rahmen der Ausführungen zur zueignenden Gnade des Heiligen Geistes lediglich die iustificatio (Rechtfer‐ tigung) behandelt wird. Die Lehre von der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes erörtert die Rechtfertigung in ihren Strukturmomenten im Rückgriff auf biblische Begriffe. Es geht um ihre systematischen Implikationen, die durch Distink‐ tionen im Rückgriff auf die aristotelische Lehre von den vier Ursachen entfaltet werden (vgl. oben 2.3.3). In der Durchführung der Lehre von der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes hat sich in der Dogmatik des alten Luthertums keine einheitliche Form herausgebildet. Seinen Grund hat das in der Abwehr von abweichenden Positionen wie denen der Cal‐ vinisten, Pietisten, Mystiker, Katholiken und anderen. Johann Andreas Quenstedt unterscheidet in seiner Theologia didactico-polemica von 1685 sechs Strukturmomente der Heilszueignung durch den Heiligen Geist: 1. vocatio (Berufung), 2. regeneratio (Wiedergeburt), 3. conversio (Bekehrung), 4. iustificatio (Rechtfertigung), poenitentia (Buße), 5. unio mystica (mystische Vereinigung) und 6. renovatio (Erneuerung oder Heiligung). In jedem der ge‐ nannten Momente ist das Wirken des Heiligen Geistes in der Heilszueignung mit korrespondierenden menschlichen Zuständen verschränkt. Es werden also zwei Kausalitäten miteinander in Beziehung gesetzt. Wirkendes Mo‐ ment im Geschehen der Heilszueignung ist durchgehend der Heilige Geist, so dass der Mensch inaktiv ist. Auf diese Weise soll jegliche ursächliche menschliche Mitwirkung in der Heilsaneignung (lateinisch: Synergismus) ausgeschaltet werden. Normiert ist das Wirken des Heiligen Geistes, der in seinem heiligenden Werk (vgl. oben 5.3.1) an die media salutis Wort und Sakrament (vgl. oben 6.2.1) gebunden ist, durch Jesus Christus. Wenn der rechtfertigende Glaube allein aus dem Hören des Wortes ent‐ steht, dann setzt das die öffentliche Verkündigung des Wortes Gottes, die vocatio, voraus. Gegen die calvinistische Prädestinationslehre, der zufolge 406 6 Glaube und Geschichte <?page no="407"?> regeneratio conversio iustificatio poenitentia nur die von Gott seit Ewigkeit Erwählten von ihm ernstlich berufen sind, betonen die lutherischen Dogmatiker, dass alle Menschen von Gott ernstlich eingeladen sind, an die Erlösung von Sünde und Tod durch Jesus Christus zu glauben. Die Wirkung des verkündigten Wortes Gottes auf den Menschen bezeichnet die regeneratio. Unter ihr ist - wenn sie von Rechtfertigung und Heiligung unterschieden wird - die Mitteilung der Kräfte zum Glauben durch den Heiligen Geist zu verstehen. Dem Wort Gottes kommt eine innere und äußere Dimension zu (vgl. oben 6.2.1.1). Bei der Wiedergeburt steht die innere Dimension des Wortes, das verbum Dei, im Fokus, welches als Zu‐ eignung des Heils fungiert, da der Sünder von sich aus das Wort Gottes weder erkennen noch aneignen kann. Den Übergang zum Rechtfertigungs‐ glauben bildet die conversio. Sie ist vom Heiligen Geist gewirkt, der die durch den aktiven und passiven Gehorsam Christi (vgl. oben 5.2.1.2) erwirkte Gnade durch das Medium des Wortes dem Menschen zueignet. Letzteres richtet sich an den nicht wiedergeborenen Menschen mit dem Ziel, ihn zu erneuern. Durch Wiedergeburt und Bekehrung ist der Mensch durch den Heiligen Geist in den Bereich der Gnade einbezogen. Das ist die Grundlage der Recht‐ fertigung. Sie bezieht sich auf den Menschen als Sünder, sofern ihn das ver‐ kündigte äußere Wort bereits innerlich erreicht und er sich durch es als Sünder erkannt hat und daraufhin das in Jesus Christus ihm dargebotene Heil ergreift. Gerechtfertigt ist er, indem er auf das ihm angebotene Heil vertraut. Dadurch erhält er eine neue Stellung zu Gott und ist in dessen Urteil gerecht, nicht jedoch in sich selbst. Aus der iustificatio folgt keine Umwand‐ lung der menschlichen Natur. Die römisch-katholische Vorstellung einer dem Sünder durch den Heiligen Geist eingegossenen Gnade (lateinisch: gratia infusa), welche den Menschen verändert, lehnen die lutherischen Theologen ab. Im Glaubenden bleibt die Erbsünde bestehen. Lediglich die mit ihr verbundene Schuld ist ihm, der am Erlösungswerk Christi durch den Glauben Anteil hat, vergeben. Gerechtfertigt ist der Sünder allein propter Christum, auf den er sich durch den von Gott dem Heiligen Geist in ihm gewirkten Glauben bezieht und die von Christus vollbrachte Versöhnung im Glauben empfängt. Inhaltlich besagt die Rechtfertigung die Vergebung der Sünden (lateinisch: remissio peccatorum) und die Zurechnung der Gerech‐ tigkeit Christi (lateinisch: imputatio iustitiae Christi). Beides sind die zwei Seiten einer Medaille, die nicht zu trennen sind. Folge der Rechtfertigung ist die poenitentia. Auch ihre wirkende Ursache ist der Heilige Geist. In der Bekehrung hat der Mensch durch den Heiligen 6.3 Glaube als Gebrauch der christlichen Religion: Ordo salutis 407 <?page no="408"?> unio mys‐ tica Geist übernatürliche Kräfte empfangen. Aus ihnen resultieren nicht nur conversio und iustificatio, sondern auch die Buße. Diese ist ein eigener Akt des Menschen, in dem er nicht mehr rein passiv ist, wie im Empfang der übernatürlichen Kräfte, gleichwohl bleibt deren Wirkung dem Heiligen Geist untergeordnet. Der gerechtfertigte Sünder, der Schmerz und Reue über seine Sünden empfindet, ist mit Gott beziehungsweise Jesus Christus im Glauben vereinigt. Darin besteht, wie es die lutherischen Theologen im An‐ schluss an Eph 3,17 und den fröhlichen Wechsel und Tausch aus Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) nennen, die unio mys‐ tica. Sie ist Folge der Rechtfertigung und Akt der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes und bezeichnet eine reale Einheit von Gott und Mensch im Glauben, wobei beide jedoch unvermischt bleiben. Zielpunkt der zueignen‐ den Gnade des Heiligen Geistes ist die renovatio. In ihr gewinnt der Mensch die durch den Fall verlorene Gottebenbildlichkeit wieder. Ihre Form besteht in der Abstoßung der Irrtümer des Verstands, der Ausrichtung des Willens auf das wahre Gute und einer Harmonie der höheren und niederen Kräfte im Menschen (vgl. oben 6.3.1.1). Allerdings bleibt die Heiligung, solange das Leben des gerechtfertigten Menschen währt, unvollkommen, da auch im Glaubenden die Erbsünde bis zu seinem Tod existiert. L IT E R ATU R : Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 47-52. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 94-98. Karl Hase: Hutterus Redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig 12 1883, 225-245. Rudolf Hermann: Gottes Gerechtigkeit und unsere Rechtfertigung, in: ders.: Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums (= Gesammelte und nachge‐ lassene Werke, Bd.-2), hrsg. v. Horst Beintker, Berlin (Ost) 1981, 43-54. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Refor‐ matoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, 117-146 (Reformatoren). 342-357 (Luthertum). 398-403 (Calvinismus). Robert Jelke: Dr. Christian Ernst Luthardts Kompendium der Dogmatik, gegen‐ wartsgemäß gestaltet, Heidelberg 15 1948, 401-432. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 7 1893, 306-365. 408 6 Glaube und Geschichte <?page no="409"?> Glaube als Mittel Reinhold Seeberg: Art.: Heilsordnung, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hrsg. v. Albert Hauck, Bd.-7, Leipzig 3 1899, 593-599. Notger Slenczka: Die klassische Pneumatologie im Gespräch, in: Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistverses‐ senheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.-Jahrhundert, Tübingen 2014, 109-129. Johann Anselm Steiger: Art.: Ordo salutis, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.-25, Berlin/ New York 1995, 371-376. 6.3.1.3 Der Glaube Das Lehrstück von der zueignenden Gnade des Heiligen Geistes strukturiert das Rechtfertigungsgeschehen in seine einzelnen Momente und entfaltet das Rechtfertigungsurteil Gottes. Grundlage der Lehrbildung ist die Unter‐ scheidung von Glaube als Medium der Heilszueignung und R