Die Entscheidung
Ein Ratgeberroman über akademische Berufswege
0404
2022
978-3-8385-5805-9
978-3-8252-5805-4
UTB
Reinhold Haller
10.36198/9783838558059
Nach dem Abschluss eines Hochschulstudiums oder einer Promotion ergibt sich eine Vielzahl reizvoller beruflicher Perspektiven innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Doch mit der Auswahl fällt oftmals die Entscheidung schwer.
Hierbei hilft dieser Ratgeberroman. Anhand der Protagonistin Amisha zeigt Reinhold Haller, welche Berufsmöglichkeiten sich nach dem Abschluss bieten. Er vermittelt die jeweiligen Anforderungsprofile sowie deren spezielle Vorzüge und Nachteile. Anhand typischer Fallbeispiele führt er vor, wie sich mit den richtigen Tools und Informationen gute und nachhaltige Entscheidungen treffen lassen.
Damit ist dieses Buch unverzichtbar für Studierende, Promovierende, Post-Docs und alle, die genauer wissen wollen, welche Chancen und Risiken mit der Arbeit in Wissenschaft und Forschung verbunden sind.
9783838558059/Zusatzmaterial.html
<?page no="0"?> Reinhold Haller Die Entscheidung Ein Ratgeberroman über akademische Berufswege <?page no="1"?> utb 5805 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="3"?> Reinhold Haller Die Entscheidung Ein Ratgeberroman über akademische Berufswege UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838558059 © UVK Verlag 2022 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5805 ISBN 978-3-8252-5805-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5805-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5805-4 (ePub) Umschlagabbildung: © Mananya Kaewthawee - iStock Autorenfoto: privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 11 17 27 31 39 47 53 63 73 77 87 97 107 115 127 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amisha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leos zehn Gebote für angehende Wissenschaftler: innen . . . . . . . . . . . . . Quo vadis: Promotion oder Desertation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kevin: Doch nicht allein zu Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkursion in die deutsche Wissenschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht . . . . . . . . . . . . . . . Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht . . . . . . . . . . . . . . Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkursion zum Weg auf eine Professur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 133 145 157 163 167 169 181 187 189 190 193 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . Leos Verständnis von Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amishas Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amishas kleine Toolbox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfreiche Internetseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Jahr für Jahr steigen viele junge Menschen nach ihrem Studium voller Erwartungen und Enthusiasmus mit eigenen Ideen und herausfordernden Visionen in unser Wissenschaftssystem ein. Allein in Deutschland, Öster‐ reich und der Schweiz stehen so aktuell allein etwa 230.000 junge Menschen in einem Promotionsverfahren beziehungsweise einem Doktoratsstudium. Viele weitere ziehen diesen Schritt gerade in Erwägung und andere junge Wissenschaftler: innen arbeiten nach ihrer erfolgreichen Promotion als aufstrebende PostDocs in Wissenschaft und Forschung. Es ist gut, dass so viele junge Menschen an einer beruflichen Zukunft im Wissenschaftsumfeld interessiert sind. Schließlich braucht die Forschung in Europa und der Welt den beständigen Nachwuchs von klugen, mutigen, begeisterungsfähigen und wissensdurstigen Frauen und Männern. Wenn diese jungen Talente nach ihrem Eintritt den Wissenschaftsbe‐ trieb zunehmend näher kennenlernen, erkennen sie jedoch neben den verlockenden Aussichten und Chancen zunehmend ebenso die speziellen Bedingungen, Hürden, Herausforderungen sowie die möglichen Risiken einer Berufswahl im Wissenschaftsbereich. So verwundert es Insider kaum, dass in einer 2019 durchgeführten Befragung von Doktorand: innen aus der Leibniz-Gemeinschaft vier von zehn der Befragten aus unterschiedlichen Gründen angaben, aktuell oder zwischenzeitig an einen Abbruch ihrer Promotion gedacht zu haben. In anderen Forschungsverbünden oder -institutionen dürfte dies vermutlich kaum anders sein. Alle jene, die nach ihrer Promotion in der Wissenschaft verbleiben, müssen sich schließlich irgendwann vergegenwärtigen, dass über 80 Prozent der sogenannten PostDoc-Stellen zeitlich befristet sind. Eine solide und ver‐ lässliche Berufsperspektive ist damit - anders als in anderen Berufszweigen - für die meisten Aspirant: innen kaum möglich. Dennoch: Menschen, die wissen, was sie im Wissenschaftsbetrieb erwar‐ tet und die ihre Potenziale und Aussichten realistisch einschätzen, haben im Forschungsumfeld durchaus die Möglichkeit, sich zu entwickeln, zu entfal‐ ten und nachhaltig erfolgreich zu werden. Für sehr viele andere bietet sich nach einem „Gastspiel“ in der Forschung zudem die Option, außerhalb des Wissenschaftsbetriebs ihr Glück zu finden; sei es in der Wirtschaft, Industrie <?page no="8"?> sowie in der Freiberuflichkeit. Oder aber sie entscheiden sich, ihre Talente und Fähigkeiten im vielfältigen Bereich des Wissenschaftsmanagements einzusetzen. Wohin die Reise auch immer gehen mag: Wichtig ist in jedem Fall, sich auf den Wissenschaftsbetrieb richtig einzustellen. Um eine Metapher zu bemühen: Wer in ein fernes, fremdes Land reisen möchte, ist gut beraten, sich vor Antritt der Reise mit den Sitten, Gebräuchen, Regeln, Gesetzen und speziell mit den Gefahren des jeweiligen Gastlandes auseinanderzusetzen. Das gilt besonders dann, wenn man in Erwägung zieht, in diesem Land möglicherweise sesshaft zu werden. Nichts anderes kann man alle jenen empfehlen, die nach ihrem Master‐ studium mit einem zunächst temporären oder dauerhaften Aufenthalt im Bereich Wissenschaft und Forschung liebäugeln. Ein umfängliches Wissen über das, was einen an seinem Zielort erwartet, schützt vor überhöhten Ansprüchen, Enttäuschungen und Stolperfallen. Dieses Buch möchte deshalb einerseits Werbung machen für eine tem‐ poräre und im Erfolgsfall andauernde Tätigkeit in Wissenschaft und For‐ schung. Andererseits soll es ebenso aufzeigen, mit welchen „Nebenwirkun‐ gen“, Herausforderungen und Begleitumständen der Aufenthalt oder die Karriere im Forschungsumfeld verbunden sein kann. Aufschlussreich sein dürften diese Ausführungen ebenso für Angehörige von Menschen, die bereits in den verschiedenen Positionen im Wissen‐ schaftsumfeld arbeiten oder zukünftig arbeiten wollen. Die Schilderungen in diesem Roman könnten ihnen helfen zu verstehen, was diesen spannenden und faszinierenden Berufszweig auszeichnet und mitunter so speziell macht. Nach über 30 Jahren der Arbeit im und für den Wissenschaftsbetrieb war es mir ein Bedürfnis, meine Erfahrungen einem breiteren Publikum darzulegen. In all diesen Jahren ist mir das Tätigkeitsfeld Wissenschaft und Forschung nicht nur vertraut geworden. Nach wie vor bin ich fasziniert von der Innovationskraft, Kreativität, Zukunftsorientierung und dem fassetten‐ reichen Bemühen der Wissenschaftler: innen, sich mit neuen Erkenntnissen einzusetzen für eine nachhaltige Umwelt, die Gesundheit der Bevölkerung, die Biodiversität unseres Planeten oder andere wichtige Aspekte, Fragen und Ziele der Menschheit. Bei aller Faszination und Achtung vor der „Community“ der Forscher: in‐ nen, Wissenschaftler: innen und deren Institutionen erlebte ich als Spross des Wissenschaftssystems, als aufmerksamer Beobachter und als Berater und Coach darüber hinaus aber durchaus einige systemimmanente Probleme, die 8 Vorwort <?page no="9"?> spezifischen Tücken, Widersprüche sowie die Hindernisse und Fallstricke, die jedem System innewohnen - auch dem der Wissenschaft. Typische solcher Herausforderungen werden in diesem Roman durch verschiedene Protagonisten dargestellt. Dabei sind diese Personen - wie es sich für einen Roman gehört - fiktiv und frei erfunden. Die Lebensläufe der hier beschriebenen Fallbeispiele sind also sämtlich konstruiert; wenn auch in durchaus realen Szenarien und Kontexten. Vermutete Ähnlichkeiten der hier dargestellten Figuren mit realen oder gar lebenden Menschen wären dennoch durch die Konstruiertheit der Hintergründe, Namen, der lokalen Schauplätze und Biographien absolut zufällig und nicht beabsichtigt. Die Situationen, Gedanken, Schilderungen und Schlussfolgerungen der hier präsentierten Wissenschaftler: innen sind dennoch durchaus idealty‐ pisch und mit den beschriebenen Themen und Bezügen in Beratungs- und Coachingsituationen im Forschungsumfeld häufiger anzutreffen. Diese Ausführungen wurden erzählerisch strukturiert und damit als Roman gestaltet. Der Anspruch liegt dabei nicht etwa darin, ein literarisches Meisterwerk zu schaffen, das Eingang finden soll in die Sphären der Welt‐ literatur. Ebenso wenig ist diese Abhandlung gedacht als Trivialroman oder Heldenepos, die üblicherweise etwa mit einem Nobelpreis enden würden oder mit der erfolgreichen Rettung der Welt. In Abgrenzung zu einem reinen Sachbuch wurde mit diesem Format vielmehr eine unterhaltsame und lebendigere Form gewählt. Mit der Dar‐ stellung von Dialogen zwischen wirklichkeits- und lebensnahen Personen sollen die beschriebenen Hintergründe, Lebensläufe und Einblicke so leben‐ dig, anschaulich und realitätsnah erscheinen, wie sie es im wahren Leben tatsächlich sind. Ich wünsche mir, dass dieser als kurzweilige Erzählung konzipierte Ratgeber trotz der beschriebenen Rahmenbedingungen in diesem Berufsfeld vielen Menschen Mut macht für den Eintritt in die spannende Welt von Wissenschaft und Forschung. All jenen, die bereits Teil des Wissenschaftssystems geworden sind, soll er eine Hilfe sein, die persönlich bestmöglich passende Rolle und Aufgabe in der akademischen Berufswelt zu finden. Bei der Teilhabe an Amishas Entdeckungen, ihren Fragen, Hypothesen, ihrer Erkenntnisgewinnung und ihrer finalen Entscheidungsfindung wün‐ sche ich allen Leser: innen eine ebenso kurzweilige wie informative Lektüre. Berlin, im Frühjahr 2022 Reinhold Haller 9 Vorwort <?page no="11"?> Amisha Amisha Borchert saß auf einer Bank in einem etwas abgelegenen Bereich des Waldfriedhofes Dahlem am südwestlichen Stadtrand Berlins. Es war Mitte Mai und der Friedhof prahlte mit sattem Grün der zahlreichen Bäume und Sträucher. Die Anlage wirkte durch ihren alten Baumbestand eher wie ein weitläufiger Park. An diesem sonnigen Tag spendeten hier die hohen Fichten und Kiefern den bereits zur Mittgaszeit willkommenen Schatten. Amisha zog es immer wieder hierher, wenn sie etwas zu überdenken hatte und einen Ort der Ruhe und Entspannung brauchte. Hier gab es keinen Andrang, Verkehr oder Lärm. Am Rand des Parks vernahm man nur Vogelgezwitscher, einige wenige, mit Gießkannen und kleine Harken ausgestattete Besucher und nur ein wenig Hintergrundrauschen der abseits liegenden Clayallee. Genau das mochte Amisha grundsätzlich an Berlin: Die Vielzahl und den Facettenreichtum der vielen kleinen und größeren grünen Inseln und Oasen mitten in dieser vielerorts wuseligen und meist rastlosen Stadt. Anders als viele andere Menschen fand Amisha Friedhöfe dieser Art weder unheimlich noch makaber. Dass hier lauter zu Lebzeiten vermeintlich unverzichtbare Menschen ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, störte sie nicht. Und schließlich störten umgekehrt die Bewohner dieser Nekropole sie selbst in keiner Weise - im Gegenteil. Sie teilte sich ihren vorübergehenden Zufluchtsort immerhin mit einigen prominenten Literat: innen, Politiker: in‐ nen und Wissenschaftler: innen, deren Wirken oder Werke sie mitunter sogar kannte und deren Andenken sie schätzte. Warum also sollte sie diese Umgebung als störend empfinden? Ein Friedhof war schließlich, nicht nur dem Namen nach, ein Hort des Friedens und der Ruhe. Hier fand sich vielmehr eine wohltuende Atmosphäre und Stimmung; insbesondere für Menschen wie Amisha, die seit fünf Jahren mit ihrem Freund Sinan im turbulenten und lärmenden Stadtteil Kreuzberg lebte. Amisha war die Tochter der aus Indien stammenden Übersetzerin Saira und dem deutschen Anästhesisten Ben Borchert, der vor Amishas Geburt bei der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen für zwei Jahre in Rajasthan tätig war. Dort hatten sich ihre Eltern kennengelernt und nach einer kurzen Etappe im Ruhrgebiet hatte das Paar ein Jahr vor dem Fall der Mauer in Berlin seine neue Heimat gefunden. Mit ihrem jüngeren Bruder Niko und <?page no="12"?> der gleichfalls jüngeren Schwester Rojana wuchs Amisha im beschaulichen Berliner Ortsteil Friedenau auf. Nach dem Abitur und einem Freiwilligen Sozialen Jahr studierte Amisha an der Technischen Universität Berlin Medienwissenschaft. Seit Kurzem war sie nun mit ihrem Master of Arts, nahezu zeitgleich mit ihrem 24. Geburtstag, frischgebackene und stolze Hochschulabsolventin. Da sie als Gasthörerin an einigen Veranstaltungen unterschiedlicher Institute der Freien Universität Berlin teilgenommen hatte, kannte sie den Stadtbezirk Dahlem und damit ihren aktuellen Aufenthaltsort recht gut. Immerhin war das ruhige Dahlem nicht nur ein historischer Berli‐ ner Wissenschaftsstandort, sondern seit der Nachkriegszeit der zerstreute und weitläufige Campus der Freien Universität Berlin. Zudem ist Dah‐ lem der Gründungsort der im Forschungsumfeld weltweit renommierten Max-Planck-Gesellschaft mit den ursprünglichen Wohngebäuden und Wir‐ kungsstätten zahlreicher Nobelpreisträger. So ist dieser ursprünglich ländliche Ort durchzogen von historischen und neueren Instituts-, Lehr- und Verwaltungsgebäuden, Mensen, Bibliotheken und den zahlreichen, bereits vor etwa einhundert Jahren angelegten kleinen Parks und Grünflächen. Dahlem war für Amisha zudem ein guter Ausgangs‐ punkt, um auf dem Weg zum Parkfriedhof mit dem Fahrrad bei ihren Eltern im nahegelegenen Friedau einen kurzen Stopp einzulegen, um sich dort als Proviant ihre kleine Thermosflasche mit frischem Kaffee zu füllen. Für Amisha stellte sich aktuell die Frage, was sie mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer universitären Ausbildung nun anfangen wollte. Genau diese Frage hatte sie, ausgestattet mit ihrem Notizbuch, einem Stück Nusskuchen und ihrer kleinen Thermosflasche voller Milchkaffee zu ihrer Parkbank auf dem Waldfriedhof Dahlem verschlagen. Heute wollte Amisha noch einmal systematisch und konzentriert darüber nachdenken, wie sie ihre nähere berufliche Entwicklung gestalten wollte. Ihr Studium hatte ihr viel Freude bereitet und die Zeit wie im Fluge ver‐ gehen lassen. Der Lernstoff im Bereich Medienwissenschaft war interessant und relevant, mit vielen praktischen Bezügen und Übungen angereichert und ihre Dozent: innen und Hochschullehrer: innen hatte sie mehrheitlich als sehr inspirierend empfunden. Nach einem studienbegleitenden Praktikum hatte sie sich im Wahlpflicht‐ bereich auf das Thema Wissenschaftskommunikation spezialisiert. Hier konnte sie sich dafür begeistern zu lernen, wie es gelingen kann, Fragestel‐ lungen, Hypothesen, Erkenntnisse und Methoden der modernen Wissen‐ 12 Amisha <?page no="13"?> schaft interessant und verständlich einem größeren Anteil der Bevölkerung näherzubringen. Zudem hatte Amisha innerhalb und außerhalb ihres Studiums einige Wissenschaftsjournalist: innen und -moderator: innen kennengelernt. Dazu gehörten etwa Ranga Yogeshwar, Harald Lesch und die mit ihren Sendungen und ihrem Blog in den letzten Jahren kometenhaft aufgestiegene Mai Thi Nguyen-Kim. Wie andere Vertreter: innen dieses Berufszweiges hatten diese Galions‐ figuren des Faches Wissenschaftskommunikation selbst erfolgreich in ver‐ schiedenen Bereichen der Naturwissenschaften studiert und promoviert. Irgendwann später hatten sie dann ihre außergewöhnliche Begabung ent‐ deckt, komplizierte Details, komplexe Bezüge oder scheinbar trockene Fakten und Zahlenwerke derartig interessant, lehrreich und so kurzweilig zu präsentieren, dass ihre Zuschauer: innen gefesselt und bereichert zurück‐ blieben. Amisha wusste, dass dieses Talent der Kommunikation und Wissens‐ vermittlung nicht allen Vertretern der wissenschaftlichen Gemeinschaft gegeben war. Genau deshalb hatten die meisten wissenschaftlichen Institu‐ tionen schließlich eine eigene Abteilung oder Stabstelle Kommunikation, die mit der Aufgabe betraut war, trockene Daten in verständliches oder gar faszinierendes Wissen zu verwandeln. Amisha konnte sich sehr gut vorstellen, genau dies zukünftig später einmal in verantwortlicher Position zu tun. Andererseits hatte sie sich im Studium unter anderem mit großem Inter‐ esse der Journalistik verschrieben, also den wissenschaftlichen Aspekten des Journalismus. Ihrer empirischen Bachelorarbeit hatte sich Amisha mit Fleiß und Eifer gewidmet und als Ergebnis ein glattes „sehr gut“ eingeheimst. Das Thema ihrer Arbeit lautete: „Der Stellenwert von ‚Fake News‘ in der deutschen Online-Berichterstattung. Eine vergleichende Analyse“. Bei der Arbeit hieran spürte sie, dass sie nicht nur die praktischen journa‐ listischen Tätigkeiten reizten, sondern ebenso die theoretischen und wissen‐ schaftlichen Aspekte der wissenschaftlichen Journalistik. Der betreuende Hochschullehrer ihrer Masterarbeit hatte ihr Talent gesehen und insofern gewürdigt, als dass er ihr nach ihrer Masterarbeit eine Doktorand: innen‐ stelle am Institut für Sprache und Kommunikation anbot. Hier könne sie - so sein Versprechen - forschen, promovieren, Forschungsmittel einwerben, publizieren und später selbst vielleicht einmal im wissenschaftlichen Umfeld ihre berufliche Heimat und Zukunft finden. 13 Amisha <?page no="14"?> Wofür sollte sie sich nun entscheiden? Zu allem Überfluss gab es da noch eine weitere Alternative: Onkel Leo. Ihr Patenonkel war für sie eine zusätzlich Inspirationsquelle. Er war als Berater, Trainer und Coach freiberuflich tätig und hatte seinen Tätigkeitsschwer‐ punkt seit vielen Jahren auf das wissenschaftliche Umfeld konzentriert. Leo führte seine Geschäfte von seinem Wohnsitz aus. In einer ruhigen, grünen Seitenstraße unweit des Wohnortes ihrer Eltern hatte er einen Teil seiner Altbauwohnung als Besprechungs- und Beratungsraum eingerichtet. Von hier aus organisierte er Beratungen, Coachings, Vorträge, Workshops und Trainings und war seit mehr als 20 Jahren als Freiberufler sein eigener Herr. In vielen Gesprächen, auf Familientreffen sowie durch die Lektüre seiner Publikationen und der Analyse seiner Medienauftritte hatte sich Amisha ein Bild gemacht vom Arbeitsgebiet ihres Onkels. Sie empfand eine derartige Position und Tätigkeit als sehr interessant und attraktiv. Schließlich gab es im Wirkungsbereich ihres Onkelns viele Überschneidungen mit den ihr vertrauten Themenfeldern wie Kommunikation, Erkenntnisgewinnung und -vermittlung, Orientierungshilfe, Erweiterung des Wissens und der Bewusstwerdung mitunter verdeckter Zusammenhänge. Dies und anderes mehr erschien ihr als die andere Seite der Medaille, die sie in ihrer Studien- und Praktikumszeit im Umfeld des großen Bereichs Kommunikationswis‐ senschaften erlebt hatte. Eine Weiterbildung im Bereich Coaching oder Mediation, so meinte Amisha, würde ihr Wissen und ihre Fähigkeiten wunderbar abrunden. Schließlich ging es in diesen Disziplinen, wie auch in ihrem vertrauten Fachgebiet, um Kommunikation, Moderation und die Kunst der Veranschau‐ lichung, also die herausfordernde Aufgabe, scheinbar Komplexes und Kom‐ pliziertes verständlich werden zu lassen. Amisha nahm Stift und Notiztext und notierte auf der ersten freien Seite: Meine Berufswünsche/ -optionen: ● Arbeit als (Wissenschafts-)Journalistin in der Medienlanschaft ● Arbeit als Wissenschaftlerin in der Wissenschaft ( Journalistik) ● Weiterbildung-/ Aufbaustudium zu den Themen Beratung, Coa‐ ching und Mediation. 14 Amisha <?page no="15"?> Gedankenverloren markierte sie hinter jeder ihrer Optionen mehrere Fra‐ gezeichen und schaute ein wenig entrückt auf ein Wildtaubenpaar, das in einiger Entfernung in einem Baum mit dem Nestbau begonnen hatte. 15 Amisha <?page no="17"?> Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld Zu Leo Borchert, ihrem Onkel, pflegte Amisha eine enge und vertraute Beziehung. Auch ohne Taufe oder andere religiöse Rituale galt Leo nach familiärer Übereinkunft seit ihrer Geburt als ihr Patenonkel. Eine Aufgabe, der er gerne und mit echtem Engagement nachkam. Neben den Gesprächen mit ihren Eltern und Freunden suchte Amisha bei vielen Fragen immer wieder den Rat ihres Onkels. Obwohl er geizig war mit voreiligen Ratschlägen, so war er doch ein verlässlicher und guter Zuhörer, der vertiefende und zum Nachdenken anregende Fragen stellte oder ihr einfach zu einigen ihrer Anliegen seine Wahrnehmung spiegelte. Bei ausdrücklich erbetenen Ratschlägen verhielt er sich dagegen eher zurückhaltend und meinte dazu lapidar: „Manche Ratschläge sind mitunter wie Schläge. Aber ich bin kein Schlägertyp! “ Wenn es aber um sehr konkrete, lebenspraktische Dinge ging, dann hatte er durchaus hin und wieder einen guten Rat, eine Empfehlung oder einen Tipp parat. Gerade diese unaufdringliche, zurückhaltende Art schätzte Amisha an ihrem Onkel. Nach elf Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Doktorand und Post‐ Doc in der Erziehungswissenschaft hatte er einige Jahre als Leiter des Berei‐ ches Personal- und Organisationsentwicklung in einem großen deutschen Forschungszentrum gearbeitet. Ausgestattet mit diesem Erfahrungsschatz und einem entsprechenden Netzwerk machte er sich später selbstständig. Auf Grundlage einer Weiterbildung als systemischer Organisationsberater und seinen Erfahrungen im Wissenschaftssystem bot er seine Dienste als Personalentwickler, Trainer, als Coach für Teams und Einzelpersonen und als Konfliktmoderator vorwiegend wissenschaftlichen Einrichtungen an. Als solcher lernte er über viele Jahre zahlreiche Universitäten und außer‐ universitäre Forschungsinstitute kennen. Seine Klientel bestand aus allen Zielgruppen dieser Organisationen, etwa administrative und technische Fachkräfte, vor allem jedoch aus wissenschaftlichem Personal aller Hierar‐ chiestufen. Insofern war Leo für Amisha immer ein erfahrener Ansprech‐ partner, gerade wenn es um akademische Fragen ging oder die berufliche Entwicklung innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Vor einiger Zeit drehte sich auf einem Familientreffen das Gespräch um das Thema Wissenschaft und Forschung als Berufsfeld. Schließlich hatten <?page no="18"?> alle Anwesenden eine akademische Ausbildung genossen oder sie standen mittendrin: Amishas Eltern und ihr Onkel Leo, ihr jüngerer Bruder Niko, der Betriebswirtschaft studierte, ihre jüngere Schwester Rojana, die vor Kurzem ihr Germanistikstudium begonnen hatte, und Amishas Freund Sinan, der gerade eine Doktorandenstelle an einem Institut für experimentelle Physik angetreten hatte. Nachdem die Anwesenden einige der guten und weniger erbaulichen Erfahrungen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Einrichtungen ausgetauscht hatten, meinte Leo: „Der Bereich Wissenschaft und Forschung ist meiner Meinung nach einer der interessantesten und vielseitigsten Berufszweige, die man sich denken kann. Das gilt zumindest für alle die Menschen, die sich für Natur und Technik, Gesundheits-, Lebens-, Geistes- oder Sozialwissenschaften interessieren, oder - wie Niko etwa - für die Wirtschaftswirtschaft. Das gleiche gilt für all jene, die forschungsrelevante und wissenschaftsorientierte Kompetenzen erlangen wollen im Bereich der Rechtswissenschaft, der Philosophie oder etwa in kulturwissenschaftlichen Fachbereichen. Schließlich sind die Universitäten nicht nur die ältesten, sondern gleicher‐ maßen die gründlichsten und anspruchsvollsten Lehr- und Bildungseinrich‐ tungen der Welt. Das Gleiche gilt heute natürlich für viele außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, welche diese Tradition außerhalb der Universi‐ täten ergänzen. In der Tat begegnen einem in der Wissenschaft oftmals hochintelligente, smarte und nicht nur begabte, sondern nicht selten wirklich begnadete Menschen. Sie stellen extrem kluge Fragen, entwickeln vielversprechende Hypothesen, erschaffen raffinierte Methoden, analysieren ihre Daten und Beobachtungen exakt und nachvollziehbar, sie publizieren brillante Er‐ kenntnisse und schaffen Großartiges und Neues. Wenn du diese Merkmale bei wissenschaftlich tätigen Menschen feststellst, sagst du ‚Chapeau! ‘ und verneigst dich ehrfürchtig im Stillen. Und als Steuerzahler stellst du fest, dass deine ungeliebten und dir hartnäckig abgerungenen Steuerabgaben in solchen Forschungsdisziplinen doch wirklich gut und nachhaltig aufgeho‐ ben sind. Auch aus diesem Grund habe ich nach meinem erziehungswissenschaft‐ lichen Studium ausschließlich im wissenschaftlichen Umfeld gearbeitet und ich bereue dies nicht. Im Gegenteil: Würde eine höhere Macht oder mein Schicksal bestimmen, dass ich noch einmal geboren werde, dann würde ich 18 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="19"?> diese Entscheidung ohne Zögern wieder treffen. Und nebenbei gesagt: Ich kenne viele, die dies ähnlich sehen wie ich. Eine gute akademische Ausbildung an einer Hochschule ist schließlich der erste Schritt für junge Menschen in diesen Bereich. Nach dem Studium stellt sich dann die Frage, ob man sich dort weiterqualifizieren möchte oder den Abzweig nehmen will in einem Beruf außerhalb von Wissenschaft und Forschung. Andererseits kann ein längerer oder gar dauernder Verbleib im Wissenschaftsumfeld eine wirklich attraktive Option sein. Insofern ist ja nicht verwunderlich, dass Sinan diesen Schritt mit seiner Promotionsstelle gerade gemacht hat und dass Amisha aktuell darüber intensiv nachdenkt. Bei allen Entscheidungen und gerade bei beruflichen Optionen sollte man aber im Vorfeld recht gut überlegen, worauf man sich mit seiner Entscheidung einlässt. Nach meiner Erfahrung gibt es kein Paradies auf Erden, weder im Wissenschaftsumfeld noch außerhalb. Und so hat jedes System seine Licht- und Schattenseiten. Speziell im Wissenschaftsbereich sind oftmals, wie in anderen Branchen und Arbeitsgebieten, Licht und Schatten, Schein und Sein nicht weit voneinander entfernt.“ „Du bist mal wieder sehr allgemein und abstrakt unterwegs! “, meinte Ben, Leos Bruder. „Was genau ist denn in der Wissenschaft so speziell, ambivalent und widersprüchlich? Kannst du das nicht mal kurz und prägnant zusam‐ menfassen? “ „Kurz zusammenfassen ist leicht gefordert“, entgegnete Leo. „Es wäre um ein Vielfaches einfacher, gleich ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Ich bin sicher, es würde recht umfänglich.“ Leo seufzte. „Aber lass es mich einmal versuchen. Ich werde mein Bestes geben, es einigermaßen schlüssig und erschöpfend, wenn auch schlagwortartig, zusammenzufassen.“ Er hielt eine Hand auf Schulterhöhe und begann mit der anderen, seine Finger abzuzählen: „Erstens, und das ist wirklich sehr wissenschaftsspezifisch: Es gibt wohl mit Ausnahme des Sports keinen Bereich, der so kompetitiv, also derartig wettbewerbsorientiert ist, wie der Wissenschaftsbetrieb. Die Ursache dafür liegt darin, dass die Universitäten ebenso wie die Forschungsinstitutionen der deutschen Forschungsverbünde laut Auftrag und entsprechend ihrer Mission sozusagen bildungsorientierte ‚Durchlauferhitzer‘ sind. Viele Insider hören den doch sehr technischen Begriff Durchlauferhitzer nicht gerne. Aber nüchtern betrachtet ist es so: Die Beschäftigten kom‐ men und verweilen als Student: innen, Praktikant: innen, später dann als Bachelor- oder Masterabsolvent: innen, als Promovierende oder nach ihrer 19 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="20"?> Dissertation als sogenannte PostDocs im Wissenschaftsbetrieb. So in etwa gestaffelt steigen die Studienabsolvent: innen also auf und qualifizieren sich weiter, vielleicht sogar bis hin zu einer Professur. Der akademische Durch‐ lauferhitzer sorgt also für die bildungsbezogene Aufladung der fachlichen Qualifikation und Potenziale. Nun will aber nicht jeder Mensch, der in dieses System eintritt, dort verbleiben. Viele machen ihren Abschluss oder ihre Promotion nicht, um in der Forschung zu verweilen, sondern um mit ihrem akademischen Abschluss oder Titel in die Wirtschaft, die Verwaltung, die Politik oder in die Freiberuflichkeit zu wechseln und dann dort erfolgreich ihre Brötchen zu verdienen. Auch dort braucht es schließlich wissenschaftlich gut ausge‐ bildete Fachkräfte. Dem Prinzip eines Durchlaufsystems folgend muss die Menge der ein‐ strömenden Materie wieder hinaus, weil das System ansonsten nicht funk‐ tioniert. Passiert das nicht, drohen physikalisch gesehen Überhitzung und Überdruck. Natürlich braucht das Wissenschaftssystem Nachwuchs. Es benötigt Er‐ satz für ausscheidende Fachkräfte, Expert: innen für neue Forschungsthemen und -aufgaben oder frische Talente mit neuen Ideen und dem nötigen Ehrgeiz. Sie sollen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen beitragen und sich durch ihre Arbeitsergebnisse und damit verbundene Publikationen oder andere Auszeichnungen wissenschaftlich hervortun und qualifizieren. Wenn man sich die entsprechenden öffentlich zugänglichen Statistiken anschaut, kann man feststellen, dass letztlich nur für knapp 20 Prozent der Menschen, die in das Wissenschaftssystem eintreten, auf Dauer Platz bleibt. Ergo: 80 Prozent müssen sich nach einer gewissen Zeit nach anderen Tätigkeitsfeldern umsehen, unabhängig davon, ob sie lieber bleiben wollen oder nicht. Genau aus diesem Grund gibt es ein spezielles Arbeitsmarktinstrument für den Wissenschaftsbereich. In Deutschland trägt es den sperrigen Namen ‚Wissenschaftszeitvertragsgesetz‘. Das Äquivalent dazu gibt es im Rahmen des Universitätsgesetzes ebenfalls in Österreich und in der Schweiz gelten ähnliche Restriktionen. Die dafür geschaffenen gesetzlichen Grundlagen sind recht komplex und verändern sich stetig. Um es kurz zu machen und nicht auf die zahlreichen Ausnahmen und Sonderregelungen einzugehen - diese Vorschriften besagen Folgendes: Wis‐ senschaftliche Beschäftigte, egal ob einfache wissenschaftliche Fachkraft, Doktorand: in oder PostDoc, dürfen über verschiedene Einzeltätigkeiten 20 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="21"?> und die damit verbundenen Arbeitsverträge in Deutschland zusammenge‐ rechnet nicht länger als maximal zwölf Jahre zeitlich befristet beschäftigt werden. Speziell für den medizinischen Bereich gelten 15 Jahre, weil hier das Studium bis zur Approbation längere Zeit in Anspruch nimmt. Mit anderen Worten: Ist die Maximalzeit ausgeschöpft, muss die For‐ schungsorganisation den betroffenen Beschäftigten entweder eine Dauer‐ stelle anbieten oder die Betroffenen müssen sich deshalb sechs Jahre nach der Promotion beziehungsweise neun Jahre nach der Dissertation in einem medizinischen Fachgebiet eine anderweitige Beschäftigung außerhalb des Wissenschaftsbetriebes suchen. Das gilt selbst dann, wenn sie lieber im Wissenschaftsbereich bleiben wollen. Das bedeutet, dass alle, die als unbefristete Beschäftigte oder gar als verantwortliche Gruppenbeziehungsweise Abteilungsleiter oder im siche‐ ren Wissenschaftsolymp als Professor oder Professorin in der Wissenschaft verbleiben wollen, einem sehr sportlichen Wettbewerb ausgesetzt sind. Im Götterhimmel der Wissenschaft, in der Professorenschaft, bedeutet dies, dass nicht selten auf eine ausgeschriebene Stelle zehn, 20 oder 30 Bewerbungen eingehen. Bei richtig guten vergleichbaren Positionen ist es nicht viel anders.“ „Mon dieu! “, seufzte Amishas Mutter Saira. „Das klingt ja alles nicht sehr viel anders als die Verhältnisse im Wissenschaftssystem meiner Heimat Indien. Ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal ein Glas Wein. Möchte jemand sonst noch Wein, Tee, ein Bier oder Wasser? “ Nachdem alle mit Getränken, Häppchen und Gebäck versorgt waren, drängten die Anwesenden Leo seine Sicht auf die Bedingungen im Wissen‐ schaftsbereich fortzusetzen. „Der zweite Punkt ist verbunden mit dem ersten, dem genannten Wettei‐ fer. Es geht dabei um das beständige Messen und Vergleichen, das mit jedem Wettbewerb einhergeht. Früher, als in den 1970er- und 1980er-Jahren überall verhältnismäßig viele Steuermittel im politischen System vorhanden waren oder einfach auf Pump hineingesteckt wurde, reichte es, irgendwie ein guter Wissenschaftler zu sein oder für einen solchen gehalten zu werden. Mit zunehmender Knappheit der Stellen und Mittel stieg jedoch beständig der Druck des Wettbewerbes. Nun reichte es nicht mehr, gut zu sein, sondern man hatte mindestens als exzellent zu gelten. Aus dem Lateinischen kommend bedeutet Exzellenz be‐ kanntlich nichts anderes, als überdurchschnittlich gut zu sein. Also musste 21 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="22"?> man zum Aufstieg oder Verbleib in der Wissenschaft überdurchschnittliche Leistung nachweisen. Und da Klugheit, Brillanz oder die Wahrscheinlichkeit der Erlangung eines Nobelpreises schlecht messbar sind, einigte man sich auf etwas profanere Kriterien. Jetzt hieß es, sich im Wettbewerb zu behaupten durch die Anzahl der Publikationen oder die Häufigkeit der Zitierung dieser Veröffentlichungen, der erfolgreichen Einwerbung von Forschungsmitteln, der Anzahl der Eh‐ rungen, Preise oder Einladungen zu wichtigen Tagungen oder Kongressen und ähnliche solcher Wettbewerbskriterien. Als dann der Begriff Exzellenz etwas zu abgegriffen erschien, ersetzte man ihn durch den Qualitätsanspruch outstanding. Semantisch ist das zwar das gleiche wie exzellent, klingt aber irgendwie moderner und internationaler. Durch diesen Anspruch waren Wissenschaftler: innen und deren Organi‐ sationen mit erheblichem Aufwand damit zugange, sich selbst und anderen die notwendige Exzellenz zu bescheinigen. In der Folge gab es faktisch nur noch durchschnittliche gute oder eben exzellente Institutionen, wobei ers‐ tere langsam und diskret abgewickelt oder zumindest geschrumpft wurden. Die restlichen Institutionen - geschätzt etwa 85 Prozent der Einrichtungen - erhielten hingegen in Gänze oder teilweise den Exzellenz- oder Outstan‐ ding-Status. Um diesem inflationär gewordenen Bewertungssystem etwas entgegen‐ zusetzen, einigte man sich erneut auf den neuen Qualifikationsstatus unique, also einzigartig. Wer heute eine wirklich abgesicherte Existenzberechtigung erreichen will, muss also irgendwie nahezu einzigartig sein. Wodurch und womit auch immer; ein jeder auf seine Art. Derlei Behauptungs- und Verdrängungswettbewerb ist im wissenschaft‐ lichen Bereich aber wahrlich nicht neu. Dazu ein kleiner Ausflug in die Geschichte: Um an einer Universität eine Lehrbefugnis zu erhalten, also praktisch Professor: in zu werden, reichte früher, je nach Fachgebiet und Fakultät, der akademische Abschluss als Magister oder Doktor. Letzteres heißt ja bekanntlich auf gut Deutsch nicht mehr als ‚der oder die Gebildete‘. Erst im napoleonischen Zeitalter setzte sich die Habilitation durch; sozusagen als zweite akademische Hürde. Dies geschah vor allem deshalb, weil es schlicht viel mehr Magister oder Doktoren gab, als für den Lehr- und Wissenschaftsbetrieb nötig - und erst recht, um die raren Spitzenämter zu besetzten. Jetzt brauchte man also als zusätzliche Befähigung eine Habilita‐ tion, um die sogenannte Venia Legendi beziehungsweise in Österreich oder der Schweiz die Venia Docendi zu erlangen. Erst mit dieser Auszeichnung 22 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="23"?> hatte man dann die Weihen erlangt, um in die sicheren Sphären des Forschungs- und Lehruniversums aufgenommen zu werden. Man sieht, der Wettbewerb in der Wissenschaft hat eine lange Tradition. Zurück zur Neuzeit: Wer heute unbefristete oder gar verantwortliche Stellen in Wissenschaft und Forschung mit entsprechender Raum-, Mittel- und Personalausstattung bekleiden will, muss sich in diesem Wettbewerb erfolgreich behaupten als außergewöhnlich gut, exzellent oder gar als einzigartig. Oder man schafft es mit Ausdauer und Geschick, längerfristig so überzeugend zu wirken, als ob man es wäre. Auch solche Fälle gibt es vereinzelt im Wissenschaftsbetrieb. Damit meine bereits beschriebene persönliche Begeisterung für dieses Be‐ rufsfeld nicht vergessen wird, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen: Die Arbeit im Bereich Wissenschaft und Forschung kann sehr motivierend sein und sich für viele Menschen als nachhaltig erfolgreich und erfüllend erweisen. Aber die Rahmenbedingungen sind ähnlich beschwerlich wie im Sport oder im künstlerischen Bereich. Selbst im Leistungssport schafft es bekanntlich nicht jedes Talent trotz Begabung, Fleiß und Leidensfähigkeit in eine gute, sichere und auf Dauer existenzsichernde Position zu kommen. Letztlich ist dies ja überall so im Arbeits- und Erwerbsleben, wo die Konkurrenz groß ist und die angestrebten Stellen selten sind. Henry Ford soll einmal gesagt haben: ‚Erfolg besteht darin, dass man genau die Fähigkeiten besitzt, die im Moment gefragt sind.‘ Wenn die Fähigkeiten dazu nicht ganz hinreichend sind oder das richtige Momentum fehlt, wird es schwierig mit der nachhaltigen Sicherung des Berufswunsches. Drittens: Hier muss ich aufpassen, nicht zu klagen, denn von diesem Tatbestand lebe ich letztlich als Berater, Trainer und Coach im Wissen‐ schaftsbereich. In einem weiteren Bereich unterscheidet sich der Wissen‐ schaftsbetrieb von anderen Organisationen in der Verwaltung oder der freien Wirtschaft: Viele Wissenschaftler: innen, selbst solche in höheren Positionen, sind für breite Bereiche ihres Tuns und Schaffens nicht wirklich solide ausgebildet. Die Folge dessen spüren viele Insider des Wissenschafts‐ betriebes mehr oder weniger, früher oder später irgendwann am eigenen Leib.“ „Wie meist du das? “, fragte Niko, Amisha Bruder. „Die meisten Wissen‐ schaftler: innen haben doch ein Bachelor- und darauf aufbauend ein Master‐ studium hinter sich gebracht. Sie haben einige Jahre als Doktorand: innen und vielleicht weitere Jahre als junge PostDocs Erfahrungen gesammelt und 23 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="24"?> sich enormes Wissen angeeignet. Manche haben sich sogar habilitiert und sind als Hochschullehrer: in oder Dozent: in tätig. Mit diesem Pensum sollte man doch ausreichend gut ausgebildet und erfahren sein.“ „Vollkommen richtig! “, entgegnete Leo. „Aber das betrifft ausschließlich die fachliche, wissenschaftliche Ausbildung. Wenn du jedoch in der wissen‐ schaftlichen Ausbildung das Gröbste hinter dir hast, beginnst du, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann leitest du eigenständig Projekte, vielleicht leitest du eine kleine Gruppe an oder du betreust selbst schon Auszubildende im Praktikum oder Studierende. Später bekommst du vermutlich formale Führungsverantwortung für deine Mitarbeitenden. Deine Aufgaben und Verantwortung summieren sich mit der Zeit. Und dann stellst du irgendwann fest, dass du Organisati‐ ons- und Managementkompetenzen brauchst, wie etwa eine strategische Planung, Projektmanagement, Konfliktmanagement für den Umgang mit Kolleg: innen, Mitarbeitenden und Kooperationspartner: innen oder dass du Elemente des Changemanagements einsetzen musst, wenn es hin und wieder Organisationsstrukturen, Teams oder Prozesse zu verändern gilt. Spätestens dann merkst du - das ist zumindest zu hoffen und zu wünschen -, dass du fachlich top bist, aber im Bereich der eben genannten Themen ziemlich auf dem Schlauch stehst. Dann wird immer offensichtlicher, dass du wenig Konkretes und Praktisches gelernt hast über den erfolgreichen Umgang mit Prozessen, Organisationen, Menschenführung oder über den Umgang mit deinem Selbst- und Zeitmanagement. In den meisten Bereichen der Verwaltung und erst recht in der Wirtschaft und Industrie werden angehende Führungskräfte und verantwortliche Ma‐ nager erst einmal gründlich aus- oder weitergebildet, bevor sie als Führungs‐ kraft oder im sogenannten Management auf die Menschheit losgelassen werden. Im Wissenschaftssystem ist es hingegen so, dass offensichtlich die Mei‐ nung vorherrscht, dass die oberen Hierarchien diesbezüglich klug genug seien und entsprechende Weiterqualifikationen nicht brauchen. Fragt man dann aber das wissenschaftliche oder wissenschaftsnahe Personal wie Labo‐ rand: innen, Techniker: innen oder Sachbearbeiter: innen im administrativen Bereich, dann zeigen sich viele der Beschäftigten demotiviert und enttäuscht von ihrer jeweiligen Führungsebene. Ende der sogenannten Nullerjahre, ich glaube es war 2009, erschien dazu eine Studie meiner Kolleg: innen Boris Schmidt und Astrid Richter in der Deutschen Universitätszeitung. Wenn ich recht erinnere, lautete 24 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="25"?> der Titel: ‚Das Führungszeugnis‘. Untersucht wurde das Führungsverhalten von Führungskräften an deutschen Universitäten. Und das Ergebnis war traurig bis desaströs. Wenn es jemand von euch interessiert, kann ich euch den Artikel gerne per E-Mail schicken. Jedenfalls zeigten sich in dieser Studie viele Beschäftigte an den Universitäten sehr unzufrieden mit ihren Führungskräften. Mittlerweile kamen weitere solche Studien leider zu ähnlichen Ergebnissen. Die logische Folge: Man muss in der Tat damit rechnen, im Umfeld von Wissenschaft und Forschung mit relativ spärlich kompetenten Führungskräften konfrontiert zu werden. Dies ist umso gravierender, als dass eben diese Führungskräfte durch den andauernden Wettbewerb des Systems eher weniger Kapazitäten haben für wissenschaftsfremde Tätigkeiten wie Führung, Organisation oder Teamma‐ nagement. Viertens, und das ist nicht nur seltsam, sondern ärgerlich: Es gibt hin und wieder selbst in der Wissenschaft Organisationen, die beständig die Wirksamkeit des sogenannten Peter-Prinzip unter Beweis stellen. Dieses, nach dem Lehrer und Berater Laurence Peter genannte Gesetz besagt sinn‐ gemäß: Hierarchisch ausgeprägte Organisationen neigen dazu, Beschäftigte so lange zu befördern, bis deren höchstmögliche Stufe der Inkompetenz erreicht ist. Das heißt, dass des Öfteren Menschen in Positionen kommen, in welchen sie mindestens so viel oder gar deutlich mehr Unheil anrichten, als sie Gutes beitragen. Man findet sie dann in technischen Abteilungen, der Administration oder mitunter sogar im wissenschaftlichen Bereich. Das Schlimmste daran ist, dass meist nichts geschieht; gleichwohl dies in der Regel oft nicht unbemerkt bleibt. Niemand aber möchte für solche Fehlbesetzungen und fatale Personal‐ entscheidungen später die Verantwortung übernehmen und den Fehler korrigieren. Weder obere Hierarchien noch politisch verantwortliche In‐ stitutionen rühren sich. Die Folge: Viele gute Mitarbeiter wenden sich irgendwann demotiviert und desillusioniert ab und verlassen, falls ihnen das möglich ist, die Organisation. Beständig in einem Bereich zu arbeiten, der schlecht geführt wird und/ oder dysfunktional organisiert ist, ist auf Dauer schwer zu ertragen. Zugegeben: Dieses Phänomen ist prinzipiell durchaus ebenso in der Wirtschaft und Industrie anzutreffen. Tendenziell ist es aber weit mehr im öffentlichen Dienst verbreitet, zu welchem letztlich der größte Teil des 25 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="26"?> Wissenschaftsbetriebs gehört. Vielleicht sind solche Umstände im Wissen‐ schaftsumfeld auffälliger und ärgerlicher, weil man denkt, hier seien mehr Klugheit und Rationalität am Werk. Stattdessen ‚menschelt‘ es aber hier genauso wie anderenorts.“ Leo nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Wasserglas und schaute in die Runde. „Na, wer von euch jüngeren Semestern hat noch Lust und Mut für eine Zukunft im Wissenschaftsbetrieb? “ „Gegenfrage“, konterte Amisha, „gibt es denn Menschen in deinem Wir‐ kungskreis, denen du unter diesen Umständen guten Gewissens empfehlen würdest, ihre berufliche Zukunft im Bereich Wissenschaft und Forschung anzustreben? “, fragte sie und blickte Leo erwartungsvoll an. „Aber ja, auf jeden Fall! “, entgegnete Leo annähernd enthusiastisch. „Hatte ich das nicht zu anfangs bereits gesagt? Die Arbeit im Wissenschaft‐ sumfeld kann sehr erfüllend sein, kreativ, motivierend und in der Summe für nicht wenige Menschen durchaus erfolgsversprechend und zukunftsträch‐ tig. Aber es ist wie mit allen Entscheidungen im Leben: Man sollte vor allen Entscheidungen, die man zu treffen hat, auch die Nebenwirkungen seiner Entscheidungen kennen. Man sollte genau wissen, auf was man sich einlässt und mit welchen Rahmenbedingungen man zu rechnen hat. Wer meint, man finde im Wissenschaftsumfeld das reine Glück auf Erden, der wird sich irgendwann vermutlich enttäuscht abwenden. Wer aber weiß, was ihn erwartet, sich wappnet, sich vorbereitet und bereit ist, den Hindernissen zu trotzen, der kann durchaus zufrieden werden oder sogar glücklich im Umfeld von Wissenschaft und Forschung.“ 26 Leos Sicht der Wissenschaft als Berufsfeld <?page no="27"?> Leos zehn Gebote für angehende Wissenschaftler: innen Das Gespräch zerstreute sich und einzelne Anwesende berichteten in un‐ terschiedlichen Konstellationen über ihre Erfahrungen mit den von Leo beschriebenen wissenschaftstypischen Rahmenbedingungen. Nach einiger Zeit sprach Sinan über den Tisch hinweg Leo direkt an: „Leo, sag mal, wenn man nun glaubt, die von dir genannten Rahmenbedingungen ertragen oder erfolgreich bewältigen oder umschiffen zu können, was muss man dann mitbringen, um in der Wissenschaft erfolgreich zu bestehen? “ „Tja, Sinan, das ist eine gute Frage, die letztlich für jeden Beruf gilt. Schließlich sind Arbeit und Beruf selbst mit einer guten Dosis Leidenschaft und Motivation kein Ponyhof. Und außerdem muss man selbst auf einem Ponyhof hin und wieder den Stall ausmisten oder mit bockigen Pferden und Reiter: innen klarkommen. Wenn ich gerne Bäcker werden will - und wir haben hier in Berlin einige leidenschaftlich kreative und handwerklich gute Bäcker -, dann muss ich wissen, was mich in diesem Beruf erwartet. Als Bäcker: in muss man früh aufstehen, Hitze ertragen, geeignet sein für mitunter schwerere körperliche Arbeit, man sollte fachlich und betriebswirtschaftlich fit sein, weitgehend stressresistent und sichergehen, dass man keine Mehlstauballergie hat oder Ähnliches. Wenn all dies zutrifft, kannst ich ein guter und vermutlich später gutverdienender Bäcker werden, der sich den Respekt und die Wertschät‐ zung treuer Kund: innen verdient. Wer in der Wissenschaft länger verweilen und nicht nur als eine Art Gastspiel die Promotion mitnehmen will, sollte sich, wie bei anderen beruflichen Optionen auch, ein paar Dinge klar machen.“ Leo nahm wieder seine Finger zur Hilfe und begann sie entsprechend seiner Auflistung abzuzählen: „Für die Arbeit im Wissenschaftsbetrieb musst du erstens bereit sein, dich einem gewissen Leistungswettbewerb zu stellen, ohne zu zerbrechen oder ohne vor lauter Konkurrenz zum Mistkerl beziehungsweise zur Zicke zu werden. Du musst dir zweitens im Klaren darüber sein, dass du zeitweise mehr zu geben bereit sein musst als bei einen sogenannten Nine-to-five-Job. <?page no="28"?> Wissenschaft fordert hin und wieder Überstunden oder, gerade in den Naturwissenschaften, mitunter sogar Arbeit am Wochenende. Schließlich sind manche Labore 24 Stunden an sieben Wochentagen in Betrieb und ein Experiment, eine Exkursion oder die klassische Feldforschung enden selten pünktlich um 16 Uhr. Drittens solltest du dir bewusst sein, dass sich ein guter Wissenschaftler oder eine gute Wissenschaftlerin nicht nur durch überdurchschnittlich gutes Methoden- und Handlungswissen auszeichnet. Mindestens ebenso wichtig sind Ausdauer, Beharrungsvermögen und Frustrationstoleranz. Letzteres ist wichtig, weil jeder in den Wissenschaften unterer anderem lernen muss, dass Misserfolge, Sackgassen und Enttäuschungen dazugehören. Wenn man also irgendwann auf der Zielgeraden feststeckt, braucht das die klare Einsicht sowie die Energie und den Mut für einen Neuanfang. Viertens sind eigene Ideen und Eigeninitiative ebenso entscheidend. Wer ständig Ansagen braucht, Aufträge und vorgekaute Themen oder Fragestellungen serviert haben möchte, mag das Zeug haben zu einer guten Laborfachkraft oder Ähnlichem. Ein echter Forscher oder eine echte Wissenschaftlerin zeichnet sich dagegen aus durch eigene Ideen, Aktivität sowie den notwendigen Enthusiasmus. Man sagt manchmal etwas sehr pathetisch, gute Wissenschaftler: innen müssen für ihre Themen, Ideen und Ziele ‚brennen‘. Fünftens brauchst du eine ehrliche und unverblendete Selbstreflexion in Bezug auf dein Verhalten, deine Talente, deine Lücken oder Optimierungs‐ potenziale und -themen. Es gibt im Wissenschaftsbetrieb nicht wenige Menschen, die sich selbst für weit besser und talentierter halten als das ihr Umfeld tut. Es reicht nämlich nicht, in der Wissenschaft nur Objekte, Fakten, Zahlen zu betrachten oder seine Umwelt. Gerade eine gründliche und kritische Selbstreflexion ist eine unverzichtbare Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg. Sechstens: Umgekehrt hilft dir auf Basis deiner Selbstreflexion ein an‐ gemessenes und gesundes Selbstbewusstsein, denn Arbeit im Wissenschaft‐ sumfeld braucht des Öfteren Mut, Selbstvertrauen und Selbstbehauptung. Schaut man sich zum Beispiel das Lebenswerk bekannter Nobelpreisträ‐ ger: innen an, dann zeigt sich, dass viele von diesen über längere Zeit gegen den Strom schwimmen mussten. Wer erfolgreich sein will, muss deshalb un‐ ter Umständen bereit sein, gegen die gängige Lehr- und Mehrheitsmeinung der eigenen Community anzuforschen und zu argumentieren. Das ist für junge Doktorand: innen vielleicht noch nicht so entscheidend. Dieser Faktor 28 Leos zehn Gebote für angehende Wissenschaftler: innen <?page no="29"?> wird aber zunehmend bedeutsam, insbesondere in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Andererseits ist, siebtens, die Fähigkeit zu ein wenig Bescheidenheit und Respekt vonnöten. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin brauchen andere, die helfen und Beiträge leisten. Dazu gehören etwa Zuarbeiten von Kolleg: innen aus der Wissenschaft, der Administration, der Technik, der IT, aus Laboren und so weiter. Wer hier selbstverliebt ist oder hochnäsig und mit Wertschätzung oder Respekt geizt, diskreditiert andere und schadet sich letztlich selbst. Gute Wissenschaftler: innen sollten also ebenso respektable Teamplayer sein. Du musst somit lernen und bereit sein, dich auf andere Menschen einzustellen und mit verschiedenartig gestrickten Menschen zusammenzu‐ arbeiten: Mit Nerds und Ehrgeizlingen, Narzissten, Menschen aus anderen Kulturen und manchmal mit zwar menschlich durchaus angenehmen, aber etwas verpeilten und mitunter schlecht organisierten oder unzuverlässigen Menschen. Das ist spannend und herausfordernd, fordert zuweilen aber auch Beherrschung, Geduld und Gelassenheit. Achtens: Apropos Organisation: Du solltest beizeiten lernen, dich selbst, deine Ziele, deine Zeit und deine Projekte gut zu organisieren. Dafür braucht man im Zweifelsfall Kenntnisse, Fähigkeiten und Instrumente aus dem Pro‐ jekt-, Zeit- und Selbstmanagement. Gerade zu diesen basalen Kompetenzen sind spezielle Weiterbildungen und Trainings empfehlenswert. Neuntens kommt die Fähigkeit hinzu, sich anderen mitzuteilen. Wis‐ senschaft lebt von Sichtbarkeit und Überzeugung. Dazu gehört definitiv, sein Wissen weiterzugeben, etwa an Drittmittelgeber: innen, Kolleg: innen, Studierende oder an die breitere Gruppe der wissenschaftsinteressierten Bevölkerung. Wer ein massives Problem damit hat, in Meetings den Mund aufzumachen oder verständliche Vorträge zu halten, wird es im Wissen‐ schaftsbetrieb auf Dauer schwer haben. Denn wer seine Gedanken, Hypothesen und Ergebnisse oder Schlussfol‐ gerungen am Ende nicht verständlich, präzise und prägnant in schriftlicher Form zusammentragen kann, wird kaum langfristig erfolgreich werden. Denn wie heißt es so treffend: ‚Publish or perish! ‘ oder, etwas positiver formuliert auf Deutsch: ‚Wer schreibt, der bleibt! ‘. Und dann noch ein letzter Punkt, um die zehn Gebote voll zu machen, denn auch dieser Aspekt hat viel zu tun mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur Kommunikation: 29 Leos zehn Gebote für angehende Wissenschaftler: innen <?page no="30"?> Wer im wissenschaftlichen Bereich dauerhaft arbeiten möchte, sollte Ge‐ fallen daran finden, andere Menschen aus- und weiterzubilden. Schließlich bedeutet Wissenschaft neben der Forschung auch Lehre und Ausbildung. Das gilt selbst dann, wenn in der Wertigkeit die Lehre gegenüber der Forschung oft als nachrangig gesehen und bewertet wird. Wer im Wissenschaftsbetrieb bereits etwas mehr Wissen und Erfahrung mitbringt, wird relativ früh gefordert sein, Studierende, Praktikant: innen, Auszubildende oder jüngere Kolleg: innen zu betreuen und zu unterstützen. Bevor du irgendwann selbst Personalverantwortung übernehmen musst, wirst du Bachelor-, Master- oder Doktorarbeiten zunächst assistierend mitbetreuen. Schließlich nennt sich die Spitze der Wissenschaftshierarchie seit alters her ‚Hochschullehrer: in‘ und das sollte kein leeres Etikett sein. Wer dieses Anforderungsprofil kennt und glaubt, dass er oder sie diese Voraussetzungen vom Grund her mitbringt, kann im Bereich Wissenschaft und Forschung durchaus erfolgreich werden, zufrieden oder gar - ein großes Wort - sein Glück finden. So, nun habe ich euch aber wirklich zugetextet“, schloss Leo seine Ausführungen. „Und es ist spät geworden in dieser netten Runde. Ich denke, ich sollte langsam mal die Horizontale ansteuern. Morgen erwartet mich ein arbeitsreicher Tag.“ „Eine Frage noch! “ Amisha ließ vernehmen, dass ihr Wissensdurst noch nicht ganz gestillt war. „Was meintest du eben mit deiner Formulierung ‚Promotion als Gastspiel‘? “ „Puh, Amisha! Du und deine gehaltvollen Fragen! Ihr wolltet mich doch nicht zu einer Ringvorlesung einladen, an diesem schönen, lauen Abend. Wenn euch dieser kleine, aber feine Unterschied im Kontext Promotion interessiert, dann kommt doch am Sonntagabend zu mir. Ich mache uns ein thailändisches Curry und wir setzen uns anschließend mit einer Erd‐ beerbowle auf den Balkon. Dann können wir uns deine Frage gerne noch einmal vornehmen. Wer vom Rest der Gemeinschaft mitkommen möchte, ist herzlich eingeladen! “ Und so löste sich die kleine Gruppe nach den üblichen Abschiedsritualen auf, damit ein jeder für sich auf seine Art den Tag abschließen konnte. 30 Leos zehn Gebote für angehende Wissenschaftler: innen <?page no="31"?> Quo vadis: Promotion oder Desertation? Am darauffolgenden Sonntag erschienen zur verabredeten Zeit Amisha, Si‐ nan und Amishas Bruder Niko bei Leo. Nach dem angekündigten Thai-Curry nahm die kleine Gruppe auf dem Balkon Platz. „Wir wollten heute das Thema Promotion vertiefen“, begann Leo seine Ausführungen. „Lasst mich dazu mit einem kleinen Wortspiel starten: Geht man in die Wissenschaft, um zu bleiben oder um wieder zu gehen? Also: Folgt der Dissertation die Desertation? Man spricht ja für gewöhnlich von der Dissertation oder Promotion. Promotion kommt aus dem Lateinischen und bedeutet bekanntlich so viel wie vorwärtsbewegen oder befördern. Im Gegensatz zu Dissertation meint das Wort Desertation das genaue Gegenteil. Es bedeutet so viel wie aussteigen oder verlassen. An diesem Unterschied setzt mein Wortspiel an, beziehungs‐ weise meine Frage: Warum möchte jemand überhaupt promovieren? Nach dem Studium beziehungsweise einem zufriedenstellenden Master‐ abschluss stellt sich tatsächlich für viele Akademiker: innen die Frage nach der Promotion. Eine Doktorarbeit - das sollte klar sein - ist im Regelfall kein Spaziergang. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie etwa mitunter in der Medizin. Aus einer medizinischen Fakultät kommt das Beispiel für eine Disserta‐ tion, die bei einer schnellen Internetrecherche leicht zu finden ist. Es ist die wohl kürzeste Promotionsschrift aller Zeiten und besteht aus nur drei Seiten inklusive einer Tabelle und einer Graphik. Viele Mediziner: innen schreiben wegen solcher Minimalansprüche deshalb ihre Promotionsschrift noch während ihrer Studienzeit, sozusagen im Vorübergehen. Naturwissen‐ schaftler: innen rümpfen hierüber nur ihre akademischen Nasen. In anderen Fachbereichen ist das nämlich fundamental anders. In der Physik, Biologie, in der Chemie, in den Ingenieurswissenschaften und in vielen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fächern braucht eine Promo‐ tion gut und gerne mindestes drei Jahre als Fulltime-Job. Und das klappt selbst in dieser Zeit nur dann, wenn nicht allzu viel an Pleiten, Pech und Pannen hinzukommt. Da eine Promotion bekanntlich die Voraussetzung ist für eine dauerhafte Laufbahn und Entwicklung im Wissenschaftsbetrieb, empfiehlt sich dieser <?page no="32"?> Aufwand deshalb vor allem für all diejenigen, die im Wissenschaftssystem verbleiben wollen. Die Promotion hat aber noch eine gesellschaftliche, statusbezogene und arbeitsmarktspezifische Komponente. Dieser Aspekt hat rein gar nichts mit Wissenschaft zu tun, sondern mit dem wohlklingenden Etikett oder Titel ‚Doktor‘. Haltet mich bitte nicht für einen ausgemachten Schlaumeier, wenn ich für diesem Aspekt einmal kurz eine paar hundert Jahre zurückspringe. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit war die Dissertation ursprünglich keine Doktorarbeit im Sinne einer umfänglichen Publikation. Dafür war schon allein das Papier zu rar und zu teuer. Der Promotionsprozess bestand aus‐ schließlich aus einer Disputation, in welcher Promovierende ihre Thesen vor dem Kollegium der Fakultät beziehungsweise der Universität begründeten und verteidigten. Diese Disputation ist neben dem sogenannten Rigorosum in vielen Fächern und Fakultäten als spezielle Art der mündlichen Prüfung heute noch üblich. Die der Promotion zugrundgelegten Thesen wurden - wenn überhaupt - schriftlich nur stichwortartig zusammengefasst und in einem Aushang öffentlich gemacht. Genau das war es im Übrigen, was Martin Luther tat, als er seine Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg als Aushang präsentierte, die gleichzeitig als Universitätskirche diente. So war es üblich bei einer Disputation und der gute Luther war da kein Einzelfall. Er war schließlich nicht nur Augustinermönch, sondern ebenso Magister der Freien Künste und Absolvent der theologischen Fakultät. Ungeachtet der Art und Weise ist die Promotion im Kontext der Ge‐ schichte noch aus einem anderen Grund interessant: In der Zeit des Feu‐ dalismus, als Monarchie und Adel das Leben und die Kultur bestimmten, wollten natürlich auch das Bürgertum und die gewöhnlichen Sterblichen dazugehören oder zumindest ein paar Privilegien erhaschen. Gehen wir dazu vom Mittelalter etwa in die Zeit um das 17. und 18. Jahrhundert. Hier begannen die Stände und das Bürgertum das höfische Leben zu kopieren mit Sitten, Stilen, Ritualen, Gebräuchen und der der Sprache. So übernahm man vom höfischen Leben in Ländern wie Frankreich oder Deutschland das Personalpronomen ‚Sie‘ oder ‚Ihr‘. Das war höfisch oder wie man heute sagt ‚höflich‘, was das gleiche meint: Man benimmt sich wie bei Hofe. Aber man wollte nicht nur kopieren und imitieren, man wollte vielmehr dazu gehören. Das jedoch war nicht leicht. Wer bei Fürsten oder Königen 32 Quo vadis: Promotion oder Desertation? <?page no="33"?> auch nur den Hauch von einer Chance haben wollte, gesehen oder gehört zu werden, der musste ‚hoffähig‘ sein. Diese Hoffähigkeit besaßen kraft Amtes nur ausgewählte Stände: der Adel, das Militär, die Geistlichkeit und, da Kirche und Universitäten in historisch enger Verbindung standen, auch die Honoratioren aus der Wissenschaft, also die Professoren und Doktoren. Wer keinen Adelstitel besaß, kein hoher Offizier war oder kirchlicher Würdenträger, konnte seine Standesgemäßheit so zumindest mit seinem Doktortitel unter Beweis stellen. Nach dem ersten Weltkrieg war dann für Deutschland und Österreich das Kapitel Monarchie aus bekannten Gründen endgültig abgeschlossen. Ganz konsequent war man dabei jedoch nur in Österreich, wo man 1919 alle Adelstitel abschaffte und sogar bei Strafe verbot, sie öffentlich zu führen. Kaiser, König und Co. waren nun Vergangenheit, aber einen Titel zu führen war - und ist es bis heute - etwas Besonderes und bleibt für viele allein deshalb erstrebenswert. Nun gibt es Menschen, die sich einen solchen Titel auf verschlungenen Wegen ergaunern oder erkaufen wollen. Auch die neuere Geschichte und die Skandalberichte sind gut bestückt mit solchen Beispielen. Manche Vertreter: innen aus Wirtschaft oder Politik versuchen es mit Plagiaten oder zumindest mit einem über gute Beziehungen erworbenen Ehrendoktortitel. Ähnliches gilt im Übrigen für die noch höherwertigen Professorentitel. Man erhält sie etwa als mitunter recht gefällige Honorarprofessuren. Viele Menschen möchten also mit einem Titel nicht nur hervorstechen und das Renommee aufpolieren, man möchte selbst handfeste Vorteile haben. Vielleicht will man mit einem ‚Doktor‘ auf dem Arztschild signali‐ sieren, man sei eine wissenschaftlich geschliffene Koryphäe, denn das bringt Patient: innen und damit Umsatz. In einschlägigen Job-Portalen wird zudem glaubhaft vorgerechnet, dass ein Doktortitel bezogen auf das Jahresgehalt über verschiedene Branchen hinweg einen Bonus von etwa 20-30 Prozent mit sich bringen kann. In akademischen Berufen macht das also leicht zehn- oder zwanzigtau‐ send Euro an Unterschied - pro Jahr wohlgemerkt. Das trifft selbst dann zu, wenn die Forschungskompetenz des Titelträgers in dem dann besser bezahlten Job möglicherweise überhaupt nicht gefragt und abgerufen wird. Wofür dient dann ein Doktortitel etwa in der Betriebswirtschaft, Juris‐ terei, bei praktisch tätigen Ärzten oder praktizierenden Psychotherapeu‐ ten? Diese promovierten Expert: innen sind meist durchaus kluge akade‐ 33 Quo vadis: Promotion oder Desertation? <?page no="34"?> mische Praktiker: innen, aber alles andere als Wissenschaftler: innen oder Forscher: innen im eigentlichen Sinne. Andererseits ist es gerade in den Naturwissenschaften so, dass man ohne eine Promotion kaum eine anspruchsvolle Stelle findet. Ohne die beiden Buchstaben vor dem bürgerlichen Namen wird es besonders für Chemiker: innen, Physiker: innen und Biolog: innen extrem schwer. Das gilt ebenso für Kunsthistoriker: innen, Soziolog: innen und die Uniabsolvent: in‐ nen einiger anderer Fächer. Hier wird ohne Promotion die Luft auf dem Arbeitsmarkt auch außerhalb der Hochschulen recht dünn. Die Zeit der Dissertation ist jedenfalls im Rahmen des klassischen Dok‐ torats- oder der PhD-Phase meist kein paradiesischer Zustand. Die Arbeit der Doktorand: innen wird nicht nur von Gewerkschaften und anderen kri‐ tischen Geistern als ‚prekäre Beschäftigung‘ angesehen. Die Arbeitszeiten sind oft lang, der Arbeitsvertrag befristet, die Abhängigkeit hoch und der Ausgang ist immer ein wenig ungewiss. Eine gute oder sehr gute Abschluss‐ note ist keinesfalls garantiert. Letztlich ist nicht einmal sichergestellt, dass das Ziel der Promotion überhaupt erreicht wird. Nach einer Studie des Netzwerks der Promovierenden innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft wurden folgende Gründe für einen Abbruch der Promotion genannt Netzwerks der Doktorand: innen innerhalb der Leib‐ niz-Gemeinschaft ich zitiere sinngemäß: 1. Probleme mit der Betreuung durch den Doktorvater oder die Doktor‐ mutter 2. Finanzielle Gründe wie Unvereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Arbeit an der Dissertation unsichere Finanzierung der Promotionsstelle etc. 3. Veränderte Karriereziele oder verlorenes Interesse an einer Wissen‐ schaftskarriere Wird dann nach einer längeren Zeit ein Promotionsvorhaben abgebrochen, bleibt unter Umständen ein Knick im Lebenslauf. Wer will schon einem künf‐ tigen Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch vermitteln, dass die geplante Dissertation nur eine fixe Idee war oder dass man möglichweise mit seinen Zielen und Vorstellungen gescheitert ist? Trotz allem: Der Wissenschaftsbetrieb braucht Promovierende. Die sind preiswert, flexibel zu handhaben, in mehrfacher Hinsicht abhängig, jung und unverbraucht und haben darüber hinaus seltener anderweitige Aufga‐ 34 Quo vadis: Promotion oder Desertation? <?page no="35"?> ben, die in Konkurrenz zur Forschung stehen, wie Familie, Kinder oder etwa pflegebedürftige Angehörige. Vor diesem Hintergrund kann von paradiesischen Arbeitsverhältnissen also keine Rede sein. Noch vor etlichen Jahren hatten Forschungseinrichtun‐ gen zudem die Angewohnheit, ihren Promovierenden nur ein halbes Gehalt zu zahlen, aber eher 50 als 40 Wochenstunden an erbrachter Arbeitsleistung einzufordern. Das muss man sich als Doktorand: in erst einmal leisten können und von den Konditionen her akzeptieren wollen. Noch etwas ist durchaus kritisch zu sehen: Wenn weit mehr Studierende irgendwann promoviert werden als das Wissenschaftssystem tatsächlich be‐ nötigt, entsteht quasi ein doppelter Arbeitsbeschaffungsprozess: Einerseits wollen die Doktorand: innen betreut werden und anderseits entstehen durch den aus den Promotionen generierten Publikationszwang immer mehr Fach‐ publikationen. Viele Wissenschaftler: innen beklagen sich zwangsläufig über die mittlerweile unüberschaubare Fülle wissenschaftlicher Publikationen. Gleichzeitig wird mitunter bemängelt, dass die Relevanz der Promotions‐ themen und die wissenschaftliche Qualität vieler Publikationen in einigen Disziplinen durch den inflationären Zuwachs deutlich abzunehmen scheint. Aus diesem Grund hatte einst in Deutschland der Wissenschaftsrat überlegt, zumindest den Ärzt: innen nach deren Approbation ihren ‚Dr. med.‘ einfach per Urkunde und ohne Doktorarbeit zu verleihen, wie man dies etwa in Österreich, Tschechien, der Slowakei und in den U.S.A. handhabt. Das Entsetzen an den medizinischen Fakultäten in Deutschland war jedoch zu groß, weil diese Maßnahme die Forschung im medizinischen Bereich auf einen Bruchteil reduziert hätte - obwohl ausgerechnet in einigen medizinischen Fachbereichen ein beachtlicher Anteil der Forschung von den reinen Naturwissenschaftler: innen tendenziell als Schmalspurforschung wahrgenommen wird. Mediziner: innen mit wirklich aufwändigen, umfänglichen und empi‐ risch anspruchsvollen Dissertationsvorhaben mögen den Naturwissen‐ schaftler: innen diese Haltung nachsehen.“ Leo schenkte seinen Zuhörer: innen Erdbeerbowle und Mineralwasser nach und fuhr fort. „Warum erzähle ich das alles? Ich denke, es will gut überlegt sein, ob und warum man eine Promotion anstreben sollte. Schließlich bringt sie möglicherweise Risiken und Nachteile, anderseits aber durchaus auch klare Vorteile. 35 Quo vadis: Promotion oder Desertation? <?page no="36"?> Die Vorteile sind: 1. Eine Promotion eröffnet die Option, im Wissenschaftsbereich tätig zu sein, zu bleiben und gegebenenfalls dort sogar aufzusteigen bis zu einer seltenen Dauer- oder Professorenstelle. 2. Sie gibt Zeit und Gelegenheit, den Wissenschaftsbetrieb als solchen wirklich kennenzulernen und in dieser Zeit abzuwägen, ob man flüch‐ ten will oder standhalten. 3. Wenn man sich für ein Forschungsthema wirklich begeistern kann, dann kann man sich mit einer Promotion auf diesem Gebiet zwei bis drei Jahre oder sogar länger austoben. Mit einer Promotionsstelle ist für den Lebensunterhalt gesorgt, ein Labor, Büro oder andere Infrastruktur sowie - hoffentlich - für eine gute und kompetente Betreuung durch Hochschullehrer: innen. 4. Sollte man sich irgendwann für etwas mehr Lehre begeistern und sollten die Türen der Universität verschlossen bleiben, kann man mit einer Promotion immerhin vielleicht eine Professur an einer Fachhochschule erlangen. Hier ist in aller Regel keine Habilitation oder ähnliches gefordert, sondern neben eine Promotion vor allem eine fundierte, mehrjährige Berufsund/ oder Lehrerfahrung. 5. Die Promotion schafft möglicherweise, wenn auch nicht sicher, Vorteile auf dem Arbeitsmarkt und bei der Vergütung späterer Beschäftigungs‐ verhältnisse. Insbesondere in den Arbeitsbereichen Chemie, Biologie oder in den Kulturwissenschaften ist eine qualifizierte Anstellung für Wissenschaftler: innen ohne Promotion kaum erreichbar. Folgende Nachteile einer Promotion sehe ich: 1. Wenn ich später nicht wissenschaftlich tätig sein werde, bietet mir die Promotionszeit keine Berufserfahrung im eigentlichen Sinne. In der Zeit, in welcher ich promoviert habe, sind andere Uniabsolventen vielleicht schon beruflich fest im Sattel oder haben es sogar bereits zu einer Führungsposition gebracht. 2. Der Ausgang der Promotion ist keinesfalls sicher. Einige Studien besa‐ gen, dass bis zu 40 Prozent der Dissertationsvorhaben abgebrochen werden - selbst wenn mir das persönlich deutlich übertrieben erscheint. 3. Ob mir die Promotion für das berufliche Fortkommen außerhalb der Wissenschaft einen echten Vorteil bringt, ist nicht immer eindeutig. 36 Quo vadis: Promotion oder Desertation? <?page no="37"?> Schließlich gibt es in allen Hierarchiestufen in Wirtschaft, Industrie und in der Verwaltung Top-Führungskräfte ohne Promotion. Wenn man also erwägt, nach dem Master eine Promotion anzustreben, sollte man sich folgende Fragen beantworten: ● Kann ich das? Traue ich mir das fachlich zu? Bin ich ausreichend inter‐ essiert, engagiert, eigeninitiativ, diszipliniert, organisiert und belastbar, um eine längere Promotionszeit zu bewältigen. Bin ich in meinen fachlich-wissenschaftlichen Kompetenzen so gut aufgestellt, dass ich mich einem harten Wettbewerb wirklich stellen kann? ● Will ich das? Überwiegen in meiner Bilanz die Vorteile einer Promotion deren mögliche Nachteile? ● Bin ich gut informiert? Kenne ich die Anforderungen, Rahmenbedingun‐ gen und den Wettbewerb in diesem Arbeitsmarkt ausreichend gut? Wer dann in Erwägung zieht, im Wissenschaftsbereich verweilen zu wollen, beziehungsweise wer für sich klare Vorteile sieht, der oder die sollte sich ein packendes Thema suchen, eine gute Betreuung - und dann mutig und zuversichtlich loslegen! “ Leo lehnte sich nach seinem kleinen Vortrag entspannt zurück in seinen Balkonstuhl und schaute erwartungsvoll in die Runde. 37 Quo vadis: Promotion oder Desertation? <?page no="39"?> Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? Amisha machte nach einem kurzen Schweigen der Anfang: „Warum hast du denn nach deiner Promotion den Forschungsbereich verlassen und bist in das Gebiet des Beraters für die Wissenschaft gewechselt, statt in der Wissenschaft zu bleiben? “, fragte sie. „Ganz einfach“, erwiderte Leo, „ich habe tatsächlich aus pragmatischen Gründen promoviert und nicht aus wissenschaftlichem Ehrgeiz. Und das kam so: Aus meiner Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin hatte ich viele aufschlussreiche Themen, Materialien und Daten gesammelt. Alle Kolleg: innen um mich herum fragten mich beständig, wann ich denn endlich promovieren wolle. Ich entgegnete eine Zeit lang, dass ich nicht vorhätte, eine klassische wissenschaftliche Karriere hinzulegen. Deshalb sei für mich eine Promotion nicht erforderlich. Ich wusste aber bereits, dass ich als Berater, Trainer, Moderator und Coach im wissenschaftlichen Umfeld bleiben wollte. Und so kam ich - unterstützt durch viele Tipps und Ratschläge - zu der Überzeugung, dass eine Promotion durchaus Vorteile mit sich bringen würde. Sie würde mir helfen, so dachte ich, mit meiner Klientel aus dem Wissenschaftsumfeld auf Augenhöhe zu bleiben. Schließlich ist ja nicht nur entscheidend, was man selbst alles weiß und kann. Wichtig ist ebenso, welches Bild und welche Erwartungen andere an mich haben. Es ist als Dienstleister also wichtig auf dem Schirm zu haben, was dir deine Klienten zutrauen. Und wenn deine Auftraggeber aus dem Wissenschafts‐ bereich stammen, dann ist es hilfreich, wenn sie wissen, dass man irgendwie dazugehört oder zumindest für einen gewissen Erfahrungszeitraum dazu gehört hat. Und so habe ich mich an die Arbeit gemacht und nebenberuflich an der Technischen Universität Berlin mit meinem eigenen Thema promo‐ viert.“ „Was hat dich denn gereizt, all die Jahre als Berater, Trainer und Coach fast ausschließlich im wissenschaftlichen Umfeld zu arbeiten? “, wollte nun Niko wissen. „Schließlich malst du die Wissenschaft ja nicht nur in den schillerndsten Farben. Jedenfalls habe ich mir das Paradies anders vorge‐ stellt, als du es in Teilen beschrieben hast.“ „Da hast du vollkommen recht! “, entgegnete Leo. „Immerhin ist die Wissenschaft unverzichtbar für die Menschheit, und Bildung. Die Forschung <?page no="40"?> hilft uns, uns selbst als Menschen oder unsere Umwelt einschließlich des Universums besser zu verstehen. Und sie ist vom Potenzial her Grundlage und Motor für die Entwicklung einer nachhaltigen Zukunft. Das finde ich in vielen Facetten faszinierend, sinnvoll und letztlich unverzichtbar. Wenn ich in meiner Funktion einen kleinen Beitrag leisten kann, Wis‐ senschaft motivierender zu gestalten, menschlicher und partiell etwas effi‐ zienter, dann erfüllt mich das wirklich. Schließlich arbeite ich sehr gerne mit Menschen und noch ein bisschen lieber mit klugen Menschen. Nur muss ich dafür nicht selbst Wissenschaft betreiben. Mir reicht es, ein mehr im Hintergrund tätiger Nutzbringer zu sein - sozusagen im Dienst der Wissenschaft.“ „Jetzt bin ich aber neugierig geworden! “, meinte Sinan. „Was wollen denn die Menschen aus dem wissenschaftlichen Umfeld von dir, wenn du doch selbst keine klassische wissenschaftliche Koryphäe bist? “ „Gute Frage! “, antwortete Leo. „Eigentlich gibt es drei Themen, bei welchen man im Forschungs- und Wissenschaftsbereich gerne auf meine Dienste oder auf die meiner zahlreichen Kolleg: innen zurückkommt. Meine Beratungs- oder Coachingleistungen werden vor allem deshalb in Anspruch genommen, weil viele Wissenschaftler: innen zwar fachlich und wissen‐ schaftlich top sind, andere wichtige Kompetenzen in ihrer Ausbildung aber kaum oder gar nicht gelernt haben. Dazu gehören etwa folgende Themen und Fragen, mit denen sich Wissenschaftlerinnen und Forscher befassen: ● Wieviel Management brauche ich als Koordinator: in, Arbeitsgruppen‐ leiter: in oder als Führungskraft einer größeren Abteilung zum Beispiel rund um das Thema Strategiefindung, Organisationsgestaltung oder etwa agiles Projektmanagement? ● Wie führe, forme und entwickle ich ein Team, eine Gruppe oder Abteilung? Die Fragen dazu befassen sich z. B. mit der effizienten Personalauswahl, und mit der Gestaltung von effizienten und infor‐ mativen Meetings und Klausurtagungen für das Team, die man im wissenschaftlichen Jargon Retreats nennt. ● Wie führe ich meine einzelnen Mitarbeiter: innen? Welche Führungs‐ instrumente und -stile muss ich kennen und anwenden können und wie führe ich beispielsweise individuelle Mitarbeiter: innen- oder Ziel‐ vereinbarungsgespräche? ● Wie verhalte ich mich in Konflikten mit Kolleg: innen, Kooperations‐ partner: innen und Mitarbeiter: innen? 40 Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? <?page no="41"?> ● Wie kann ich meine knappe Zeit effizient nutzen und organisieren beziehungsweise meine Life-Balance optimieren, um nicht irgendwann etwa im Burn-out zu landen? ● Wie arbeite ich beispielsweise in den Geisteswissenschaften mit Kol‐ leg: innen zusammen, die durch unterschiedliche Ziele, Ausrichtungen und Schwerpunkte eher diverse „Ich-AGs“ bilden, als ein klassisches Team, das an einem gemeinsamen Projekt arbeitet? All diese wichtigen Themen haben in der Ausbildung an den Hochschu‐ len beziehungsweise Universitäten keinen oder sehr wenig Platz. Und dennoch sind sie unverzichtbar, wenn die Verantwortung innerhalb der beruflichen Weiterentwicklung zunimmt. Diese existenziellen Aufgaben können schließlich nicht einfach delegiert oder ausgelagert werden. Sie gehören zur Arbeit, zur Führung und zum Management - nicht zuletzt in der Wissenschaft. In den 1980er-Jahren hat einmal der damalige Personalchef der Alli‐ anz-Versicherung gefordert, man brauche in allen Organisationen einen ‚Führerschein für Führungskräfte‘. In der Wirtschaft und Industrie ist man diesem Anspruch weitaus mehr gefolgt als im Forschungsumfeld. Insofern besteht meine Aufgabe darin, Wissenschaftler: innen - insbeson‐ dere Führungskräften und solchen, die es werden wollen - entsprechende Themen, Kenntnisse, Tools, Einstellungen und Haltungen zu vermitteln, die im Arbeits- und Führungsalltag benötigt werden. Dabei werde ich für Seminare und Trainings angefragt, vor allem aber als Berater und Coach, wenn Führungskräfte in der Praxis etwa in Konfliktsituationen an ihre Grenzen kommen.“ „Was braucht man denn für eine Qualifikation, um solch einen Job zu machen? “, fragte Amisha. „Am besten ist es, wenn man selbst ein wissenschaftliches Studium abgeschlossen hat. Für mich zum Beispiel war ein Studium von Psychologie und Pädagogik sehr nützlich. Gut ist zudem, wenn man selbst promoviert hat“, antwortete Leo. „Dann kennt man den Wissenschafts- und Promoti‐ onsbetrieb in der Regel sehr gut aus eigener Anschauung. Noch besser ist, wenn man sogar über eigene Führungserfahrung verfügt“, ergänzte Leo. „Dann kennt man die Perspektiven der Positionen beider Seiten: Die der Betreuten und Geführten und die der Betreuer: innen und Führungskräfte. Und natürlich braucht man eine qualifizierte und zertifizierte Weiterbil‐ dung zur Berater: in, Supervisor: in oder als Coach. Hierbei ist es förderlich, 41 Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? <?page no="42"?> wenn man sich bereits im Studium mit Psychologie, Pädagogik oder Perso‐ nalentwicklung beschäftigt hat. Viele meiner Kolleg: innen kommen etwa aus der Soziologie, Psychologie oder Pädagogik. Viele andere aber haben aus den unterschiedlichen Bereichen der Forschung oder Naturwissenschaft über entsprechende Fort- und Weiterbildungen ihren Weg und ihre Bestim‐ mung im Coachingumfeld gefunden. Es braucht allerdings nicht nur Berater: innen im Kontext Kommunika‐ tion, Führung, Konfliktmanagement oder Teamentwicklung. Denn mittler‐ weile hat sich ein ganzer Berufszweig rund um die Wissenschaft gebildet. Man nennt diesen Bereich ‚Wissenschaftsmanagement‘. Hier arbeiten Ex‐ pert: innen aus verschiedenen Disziplinen, die Wissenschaftler: innen in all jenen Bereich unterstützen, die in der Forschung dringend benötigt werden. Bereiche, die einen engen Bezug zur Forschung haben, welche von den Wissenschaftler: innen selbst aber nicht abgedeckt werden können. Und hier gibt es einen großen Bedarf an qualifizierten Fachleuten, die für die Wissenschaft arbeiten und sie unterstützt. Ich will nur ein paar dieser Gebiete nennen: Im Forschungsbetrieb werden etwa von der Europäischen Gemeinschaft, den nationalen Forschungsministerien, den Bundesländern, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in Österreich dem ‚Fonds für wissenschaftliche Forschung‘, in der Schweiz dem ‚Schweizerischen Nationalfonds‘ oder ver‐ schiedenen nationalen Forschungsverbünden Forschungsgelder vergeben. Wissenschaftler: innen bewerben sich allein oder im Verbund mit anderen durch entsprechende Anträge, um für ihre Ideen und die damit verbundenen herausfordernden Ziele die notwendigen Forschungsmittel zu erhalten. Das können ein paar Tausend Euro sein oder - je nach Forschungsvorhaben - bis hin zu Beträgen für große Projektvorhaben, die in die Millionen gehen und über mehrere Jahre verteilt werden. Sobald mir als Wissenschaftler: in nun Geld und Personal für mein For‐ schungsvorhaben bewilligt wurde, bin ich mitverantwortlich für deren ordnungsgemäße Verwendung. Ich brauche also Unterstützung im Finanz- und Personalmanagement, bei der Beschaffung von Technik und Verbrauch‐ material und natürlich benötige ich in labor- und technikorientierten Dis‐ ziplinen etwa Beistand im Bereich Technik, Labor, Werkstatt und anderes mehr. Im Studium haben Wissenschaftler: innen jedoch nicht gelernt, wie man Forschungsgelder genau so beantragt, dass ein Erfolg möglichst wahrschein‐ lich wird. Das ist wahrlich nicht einfach und erfordert viel Erfahrung. Gut 42 Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? <?page no="43"?> ist es, wenn es professionelle Hilfe gibt, sodass die Wissenschaftler: innen hier gezielt beraten und unterstützt werden. So gibt es etwa Fachleute in den Forschungsorganisationen, die als ‚Förderlotse‘ arbeiten und beim Fördermanagement oder Fundraising helfen. Es braucht Spezialist: innen, die Erfindungen, Schutzrechte oder Patente betreuen, sichern und gegebenenfalls vermarkten. Es gibt weitere, die für andere Formen des Transfers sorgen. Dazu gehören etwa Aus- oder Neugründungen, Kooperationen oder Joint-Ventures mit der Wirtschaft oder Industrie. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Erkenntnisse aus der Forschung Wissensvorsprünge schaffen, Zukunftspotenziale und Arbeitsplätze. Man nennt diesen Bereich heute anwendungsbezogene Wis‐ senschaft oder ‚translationale Forschung‘. Wer gute Wissenschaft betreibt, muss den Menschen - und nicht zuletzt den Steuerzahler: innen, die letztlich die Fördergelder aufbringen - gut erklären, was sie tun, wofür, mit welchem Ziel und Zweck. Eben diese Kunst beherrschen wahrlich nicht alle, die forschen oder Wissenschaft betreiben. Aus diesem Grund benötigt jede größere Forschungsinstitution Expert: innen für den Bereich Wissenschaftskommunikation. Das sind dann Fachkräfte, die etwa Schulklassen, Menschen wie uns, Politiker: innen aus dem Bereich Forschungspolitik und anderen Interessierten verständlich erklären, wofür ihre Forschung gut und nützlich ist. Amisha weiß, wovon ich rede, sie hat sich ja schließlich in Richtung Wissenschaftskommunikation spezialisiert. Ihr seht, es gibt ein breites Spektrum von Expert: innen verschiedener Berufszweige, die im Bereich Wissenschaftsmanagement gebraucht und ge‐ sucht werden. Ohne diese Dienstleistungen würde in der heutigen Komple‐ xität und unter Beachtung der verschiedenen europäischen oder nationalen Gesetze, Regelungen und ökonomischen Erfordernissen Wissenschaft und Forschung kaum mehr funktionieren. Und warum erzähle ich euch das? “, fragte Leo eher rhetorisch. „Vermutlich, weil du so gerne redest und deine Erkenntnisse unters Volk bringst! “, meinte Amisha spitz. „Touchez! Ein Punkt für dich! “, entgegnete Leo. „Wenn dem nicht so wäre, hätte ich meinen Beruf verfehlt. Aber ich erzähle das speziell für euch als junge und an der Wissenschaft interessierte Studierende und Promovierende. Und das hat einen simplen aber triftigen Grund: Die Arbeit im Bereich Wissenschaftsmanagement ist 43 Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? <?page no="44"?> nämlich ein sehr breit aufgestelltes, interessantes und zukunftsgerichtetes Arbeitsfeld. Heute arbeiten sehr viele unverzichtbare Expert: innen, die selbst aus der Wissenschaft kommen, in dem Bereich Wissenschaftsmanagements. Menschen also, die Forschung spannend finden, faszinierend, sinnstiftend und nützlich. Und damit Fachkräfte, die aus eigener Anschauung wissen, wie Wissenschaft und Forschung tick. Manche von diesen Spezialist: innen haben während ihrer beruflichen Entwicklung irgendwann festgestellt, dass sie keine klassische Karriere in der Forschung anstreben wollen oder können - im Übrigen aus sehr unterschiedlichen Gründen. Vielleicht haben sie gesehen, dass die Luft im Umfeld der Möglichkeit, eine Dauerstelle oder gar Professur zur erreichen, sehr dünn wird und diese Jobs mit familiären oder privaten Ambitionen nicht selten weniger kompatibel sind. Oder sie haben gelernt, dass sie gerne im Wissenschaftsumfeld arbeiten wollen, aber eher weniger als mehr Führungsverantwortung übernehmen wollen. Oder ihr Forschungsthema, für das sie sich lange leidenschaftlich engagiert haben, wird heute kaum mehr gefördert, weshalb es dann in diesen Forschungsfeldern kaum noch Stellen gibt. Es gibt in der Tat viele sehr plausible und stichhaltige Gründe, den höheren und höchsten Weihen der Wissenschaft nicht oder nicht mehr nachstreben zu wollen. Gerade für diese, wahrlich nicht kleine, Gruppe, hat es sich als Segen erwiesen, dass der Bedarf an Expert: innen im Bereich Wissenschaftsma‐ nagement in den letzten Jahren stetig gewachsen ist. Und nicht nur das: Es gibt heute in Deutschland, in Österreich und der Schweiz - und natürlich ebenso in anderen nicht-deutschsprachigen Ländern - qualifizierende Fort- und Weiterbildungen im Bereich Wissenschaftsmanagement. Das gab es zu meiner Zeit als junger Promovend in dieser Form noch nicht. Und dennoch bin ich letztlich genau dort gelandet - wenn auch in dem recht speziellen Bereich der Personalentwicklung und Beratung. Solltet ihr also irgendwann einmal feststellen, dass ihr die klassische Forscherkarriere für euch nicht weiterverfolgen wollt oder könnt, dann denkt an dieses spannende Berufsfeld. Man muss schließlich nicht unbedingt im Labor forschen, Studien oder Modelle entwickeln, publizieren oder anderweitig unmittelbar selbst Wissenschaft betreiben, um im Forschungs‐ umfeld Nützliches zu bewirken. Auch für die Wissenschaft zu arbeiten und damit einen Beitrag für die Forschung zu leisten, kann interessant und erfüllend sein. 44 Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? <?page no="45"?> Und etwas anderes könnte für viele ein zusätzliches Argument sein: Ein beruflicher Aufstieg, die Arbeitsbedingungen und die Vergütung in diesem Tätigkeitsfeld sind wahrlich nicht schlechter als in der reinen Forschung - im Gegenteil. Denn schließlich sind die meisten der dort angebotenen Arbeitsverträge im Umfeld des Wissenschaftsmanagements nach einer Probezeit unbefristet. Das ist durchaus ein echter Vorteil gegenüber der klassischen Forschungstätigkeit.“ Es war spät geworden und die kleine Gruppe begann nach einer abschlie‐ ßenden, kurzen Diskussion verschiedener Aspekte mit der Verabschiedung, um sich auf den Heimweg zu machen. „Sag mal, Leo“, begann Amisha, „hast du in der kommenden Woche mal zwei bis drei Stunden Zeit für mich? Ich würde gerne etwas mit dir besprechen. Es geht um die Frage, wohin ich mich jetzt nach meinem Master orientieren will und soll. Im Moment eiere ich gerade ein wenig herum.“ „Klar, das können wir gerne machen“, erwiderte Leo. „Wie sieht es denn bei dir am Dienstag aus? Da bin in zu einer Besprechung an der Freien Universität in der Gegend um die U-Bahn-Station Dahlem-Dorf. Wir könnten uns nach meinem Termin gegen 18 Uhr gerne in der Luise treffen, draußen im Biergarten. Ich habe, als ich noch studierte, dort gerne unter den großen Kastanien einen Teil meiner Ausbildungsförderung in Ess- und Trinkbares umgesetzt. Was hältst du davon? Wenn mein Termin an der Uni gut verläuft, würde ich dich auf eine Pizza einladen oder zu einem vegetarischen Flammkuchen. Passt das bei dir? “ „Das passt wunderbar! “, meinte Amisha. Ich könnte das verbinden mit einem Besuch der Campusbibliothek in der Fabeckstraße. Das ist gleich um die Ecke. Perfekt! Dann also bis Dienstag um sechs.“ 45 Arbeit für die Wissenschaft oder in der Forschung? <?page no="47"?> Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft Amisha und Leo trafen sich wie verabredet im Schatten der großen Kas‐ tanienbäume im Biergarten des traditionellen Lokals. Anfang Juni war das Wetter bereits sommerlich warm und der angenehme Luftzug aus dem weitläufigen flachen Brandenburger Umland verschaffte ein perfektes Klima. Wer mit Dahlem als weitläufigen Standort der Freien Universität jemals haderte, weil es dort historisch bedingt keinen echten klassischen Uni-Campus gibt, wurde im Biergarten der Luise mehr als versöhnt. Nach einer kleinen Stärkung und etwas Smalltalk war Leos Neugierde nicht mehr zu bremsen: „Was ist los, Amisha, wo drückt der Schuh? “ „Ach, weißt du“, erwiderte Amisha, „erst einmal bin ich froh, mein Studium doch recht erfolgreich abgeschlossen zu haben. Andererseits geht es mir gerade ein bisschen so wie nach dem Abitur: Eine Hürde ist gerade erfolgreich genommen und dann tut sich ein kleines Loch auf mit der Frage, wie es nun weitergehen kann und soll. Genau das beschäftigt mich momentan.“ „Oh ja, das kann ich sehr gut verstehen“, entgegnete Leo. „Das kenne ich von mir auch ganz gut. Man nennt das etwas dramatisch ausgedrückt eine klassische Krise. Das Wort Krise klingt im Deutschen immer so nach Katastrophe. Im Griechischen bedeutet es aber nichts anderes als Entscheidung. Und eine Entscheidung ist manchmal eine Art Luxusproblem. Man hat dann zwar verschiedene Optionen, muss dafür aber eine Entscheidung treffen, wofür - aber letztlich ebenso wogegen - man sich entscheiden will. Das hat somit immer auch damit zu tun, dass man sich bei Entschei‐ dungen, die man trifft, von den möglicherweise aussortierten Optionen oder Ideen verabschieden und loslassen muss. Damit verbunden ist dann immer ein wenig die Angst, vielleicht eine falsche Entscheidung zu treffen. Mit beidem fühlen wir uns dann eher unbehaglich. Was sind denn deine Wünsche, Ideen oder Optionen aktuell? “ „Du kennst ja meine bisherige Vita recht gut“, begann Amisha ihre Schilderung. „Ich habe Journalismus studiert, und ich bin sicher, dass dies eine gute und richtige Entscheidung war. Jetzt geht es aber darum, wie es weitergehen kann und soll. Ich sehe für mich aktuell drei schlüssige <?page no="48"?> Möglichkeiten - selbst wenn es theoretisch vermutlich noch einige mehr gibt: Erstens: Ich könnte das Angebot des Betreuers meiner Masterarbeit annehmen und am Institut für Sprache und Kommunikation erst einmal für drei Jahre eine Promotionsstelle antreten. Meine theoretisch-wissenschaft‐ liche Bachelorarbeit hat mir sehr viel Spaß gemacht. Insofern kann ich mir sehr gut vorstellen, journalistische Themen empirisch-wissenschaftlich zu bearbeiten. Andererseits habe ich aber bisher nur ein wenig hineinge‐ schnuppert in die Welt der Journalistik. Allein durch meine Bachelorarbeit kann man ja wohl kaum von Berufserfahrung sprechen. Zweitens: Im Masterstudium habe ich mich mehr mit Wissenschaftsjour‐ nalismus beschäftigt. Diesen Bereich finde ich echt spannend, gerade mit dem beständigen Blick über den Tellerrand in andere Wissenschaftsberei‐ che. Auf dem Gymnasium waren die MINT-Fächer immer mein Ding, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Hieran wieder etwas mehr anzuknüpfen, würde mir recht gut gefallen. Zudem hast du ja letzten Sonntag betont, wie interessant und wichtig dieses Feld des Wissenschaftsjournalismus ist. Das würde bedeuten, mich etwa für ein Volontariat bei Printmedien, im Hörfunk oder beim Fernsehen zu bewer‐ ben. Die Alternative wäre, mich zu bewerben im Bereich Kommunikation direkt bei Forschungsinstitutionen oder bei einem der Dachverbände im Wissenschaftsbereich. Das wäre dann der Bereich, den du als Wissenschafts‐ management beschrieben hast. Drittens: Je mehr mir klar wird, was du beruflich so treibst, desto span‐ nender finde ich das. Dein Job hat ja unheimlich viel mit Kommunikation im ureigentlich zwischenmenschlichen Bereich zu tun. Wie Menschen mit‐ einander reden, kooperieren, Wissen vermitteln oder gemeinsam Probleme und Konflikte lösen. Solch eine Tätigkeit als Beraterin, Trainerin und Coach könnte ich mir auch sehr gut vorstellen. Zudem ist dies eine gute Option, sich als Freiberuflerin selbstständig zu machen. Nebenher könnte man das Thema Wissenschaftsjournalismus ja als freie Journalistin parallel betreiben. Das scheint mir vielversprechender als die reduzierte Option, als freie Mitarbeiterin für irgendwelche Medien ausschließlich journalistische Dienstleitungen anzubieten.“ „Na, da hast du ja wirklich die Qual der Wahl“, kommentierte Leo. „Aber ganz so schlimm ist deine Situation ja nicht, weil sich deine Optionen ja langfristig nicht generell ausschließen, sondern eher ergänzen könnten. Dennoch: Du brauchst tatsächlich schon eine Idee davon, was konkret als 48 Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft <?page no="49"?> Nächstes zu tun ist. Theoretisch ließen sich deine Ideen durchaus der Reihe nach verwirklichen, aber eben nicht parallel. Mit irgendetwas musst du starten.“ „Ja, das sehe ich genauso! “, bestätigte Amisha Leos Schlussfolgerung. „Aber immer, wenn ich gerade dabei bin, mich für eine der drei Varianten zu entscheiden, bekomme ich Bauchschmerzen, weil ich merke, wie unsicher ich mir letztlich bin.“ „Das ist völlig normal, weil solche Entscheidungen recht komplex sind“, meinte Leo. „Und weil dir in einigen Teilbereichen der genauere Einblick fehlt in die jeweiligen Arbeitsumstände und die entsprechende Erfahrung, was am besten zu dir passt. Was den Luxus einer Entscheidungssituation zur Krise macht, drückt am besten ein italienisches Sprichwort aus: ‚Wer die alte Straße für eine neue verlässt, weiß, was er verlässt, aber nicht, was er finden wird.‘ Manchmal kann man das Krisenhafte etwas reduzieren, wenn man etwas mehr in Erfahrung bringen kann, was einen später erwartet“, meinte Leo noch etwas kryptisch. „Kann ich denn nicht einmal bei dir hospitieren, wenn du als Berater und Coach im Einsatz bist? “, fragte Amisha. Leo winkte ab und schüttelte den Kopf: „Die Idee ist im Prinzip gut. Du würdest zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Einerseits könntest du dir die Arbeit eines Coaches im Wissenschaftsumfeld näher anschauen. Anderseits hättest du einen guten Einblick in die Themen, Herausforderun‐ gen, Sorgen und Nöte von Menschen, die in Wissenschaft und Forschung tätig sind. Ich fände es darüber hinaus ganz interessant, was einer stillen Beobachterin meiner Coachings als unbeteiligter Person so ein- und auffällt. Daraus könnte für mich durchaus ein willkommenes Feedback entstehen. Das Problem ist nur, dass in Coaching oder Beratung oft sehr private und vertrauliche Themen besprochen werden. Deshalb kann ich als Berater meinen Kunden nur schwerlich zumuten, dass eine dritte Person als stumme Zeugin oder interessierte Beobachterin einem vertraulichen Gespräch bei‐ wohnt. Ich hoffe, dass kannst du verstehen.“ „Na klar! “, meine Amisha ein wenig verschämt. „Daran habe ich nicht gedacht, obwohl es nahliegend ist.“ Zwischen den beiden entstand eine kurze, nachdenkliche Pause. Ihre Blicke verloren sich nachdenklich im Umfeld des Biergartens. Bevor ihr Schweigen begann, unangenehm zu werden und hilflos zu scheinen, griff Amisha den Gesprächsfaden wieder auf. „Dann habe ich eine 49 Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft <?page no="50"?> andere Idee. Ich hoffe, die ist nicht so unrealistisch wie meine erste. Was hältst du von folgendem Plan: Du fragst einige deiner Klienten - oder wie man die nennt -, ob sie einverstanden sind, sich mit mir auf ein kurzes Interview einzulassen. Ich würde sie dann unter anderem Folgendes fragen: Erstens: Was sie an der Arbeit im Wissenschaftsbetrieb schätzen und was sie möglichweise stört. Oder anders herum: Warum sie ihre Entscheidung, in der Wissenschaft zu arbeiten, noch einmal treffen würden. Umgekehrt würde ich fragen, ob sie sich gegebenenfalls heute anders entscheiden würden oder ob sie dies bereits getan haben. Zweitens: Ich würde gerne wissen - wenn das nicht zu intim ist -, warum sie überhaupt ein Coaching gesucht und in Anspruch genommen haben. Ich glaube nämlich, dass man eine Beratung oder ein Coaching nur dann sucht, wenn es im Job oder in der Zukunftsplanung nicht so glatt läuft, wie man es sich wünscht. Meine dritte Frage wäre, welchen Effekt das Coaching für deine Klienten hatte. Ich fände interessant zu wissen, was sie für sich aus dem Coaching mitgenommen haben und welche Auswirkung das Coaching in ihrer Wahr‐ nehmung hatte. Das sind nur ein paar schnelle, grobe Ideen. Wenn das aus deiner Sicht funktionieren könnte, müsste ich natürlich in aller Ruhe einen echten kleinen Interviewleitfaden erstellen. Auf dessen Grundlage könnte ich dann vergleichbare Interwies führen. Mal ehrlich! Hältst du das für verrückt oder machbar? “, fragte Amisha voller Anspannung. Leo schaute Amisha bei ihren Ausführungen konzentriert an und seine Augen weiteten sich zu einem staunenden Blick. „Diese Idee finde ich höchst interessant und verlockend! “, gab Leo begeistert von sich. „Du könntest auf diese Art mehrere deiner Interessen und Anliegen kombinieren. Die Kunden oder Klienten eines Coaches heißen im Übrigen Coachees, das nur am Rande. Von deiner Idee bin ich jedenfalls auf den ersten Blick sehr angetan. Du könntest mit deinen Interviews herausfinden, welche immanenten Freuden und Leiden Wissenschaftler: innen umtreiben, zumindest bei meinen Coa‐ chees. Damit könntest du ein gutes Gefühl entwickeln für eine Antwort auf deine Frage, ob du vielleicht selbst in die Wissenschaft einsteigen solltest - zunächst mit einer Promotionsstelle. Gleichzeit bekämst du einen Einblick in die Themen und Facetten der Arbeit eines Coaches. 50 Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft <?page no="51"?> Und zu guter Letzt könntest du mit den Ergebnissen vielleicht einen wissenschaftsjournalistischen Beitrag leisten. Etwas für deinen Blog, einen Artikel in einer Fachzeitschrift, ein Beitrag bei YouTube oder, oder, oder. Es könnte ein Beitrag werden nach dem Motto: ‚Die Freuden und Leiden der Wissenschaft‘ - oder so ähnlich.“ „Ja, das wäre ein perfekter Nebeneffekt“, ließ Amisha vernehmen. „Aber das würde bei näherem Hinsehen dann doch ein mittelgroßes Projekt. Es ähnelt vom Aufwand ein wenig meiner Bachelorarbeit.“ „Kannst du das denn leisten? “, fragte Leo mit leicht sorgenvollem Unter‐ ton. „Ich denke damit wäre - wenn man es richtig macht - ein ziemlicher Aufwand verbunden.“ „Nun, jetzt ist Sommeranfang“, entgegnete Amisha. „Durch Omas kleine Erbschaft habe ich ein kleines Polster und könnte mir für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen, ohne Hunger leiden zu müssen. So könnte ich mit Ruhe und Sorgfalt an die Arbeit gehen. Nebenbei kann ich ja durchaus mal nach Stellen Ausschau halten und ein paar Bewerbungen schreiben. Was die Promotionsstelle betrifft, habe ich sowieso Zeit bis zum Ende des Sommersemesters im September. Bis dahin ist mein potenzieller Doktorvater in seinem Forschungssemester in Dänemark.“ „Dann sieht das so aus, als könnte aus deiner guten Spontanidee ein noch besserer Plan werden“, fasste Leo das bisherige Gespräch zusammen. „Und wenn das Ergebnis so gut wird, wie ich denke und hoffe, dann lege ich dir gerne noch als Projektförderung als Finanzspritze einen Bonus obendrauf. Dann musst du nicht deine kleine Erbschaft aufzehren. Schließlich bleibt bei deinem Projekt nebenbei für mich ein Erkenntnisgewinn, den ich zu schätzen weiß.“ „Au fein! “, freute sich Amisha. „Auch wenn das mit deinem Bonus nicht notwendig wäre. Aber das wird mich anspornen. Ich werde also an die Arbeit gehen und einen Interviewleitfaden erarbeiten. Den werde ich dann mit dir abstimmen und entsprechend anpassen.“ „Super! “, bestätigte Leo. „Und ich werde mal eine Liste zusammenstellen von geeigneten und mutmaßlich willigen Coachees, mit denen du deine Interviews führen kannst. Allerdings sind persönlich geführte Interviews doch recht aufwändig. Ich würde dir methodisch deshalb folgendes vorschlagen: Du führst mit verschiedenen ausgewählten einige ausführlichere Interviews, sozusagen als Prä-Studie. Ich denke an etwa sechs bis acht Befragungen. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen entwickelst du einen kleinen Fragebogen, den 51 Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft <?page no="52"?> ich dann an einige meiner aktuellen oder vormaligen Coachees senden kann. Du würdest dann die Auswertung übernehmen und hättest eine größere und etwas repräsentativere Gruppe von Coachees. Das muss ja keine hoch wissenschaftliche Erhebung werden, aber deine Stichprobe wäre etwas größer und gleichzeitig ist das Verfahren praktika‐ bler, anstatt ausschließlich mit sehr zeitaufwändigen Interviews zu arbeiten. Zudem werden sich vermutlich mehr meiner Coachees bereitfinden, einen übersichtlichen Fragebogen auszufüllen, als sich auf ein umfänglicheres Interview einzulassen. Was meinst du dazu? “ Amisha nickte heftig und meinte spontan: „Das ist eine super Idee und eine gute Mischung aus gründlicher Befragung und einer eher größeren Stichprobe. In dieser Kombi ist das eine richtig runde Sache.“ Leo sah, dass Amishas Glas noch halb gefüllt war. Also nahm er sein fast geleertes Glas und meinte begeistert: „Dann lass uns anstoßen auf deinen Plan. Ich weiß noch nicht, ob man es einordnen kann als kleines, privates Forschungsprojekt. Aber einen Erkenntnisgewinn wird unser Vor‐ haben allemal bringen. Ich nenne es als Arbeitstitel: ‚Amisha erforscht die Wissenschaft‘. Also: auf das Projekt und auf deine Zukunft! “ Es war späterer Abend geworden und nach und nach leerte sich der beschauliche Biergarten. Wenig später brachen auch Leo und Amisha auf und machten sich auf den Heimweg. 52 Amishas Plan zur Entdeckung der Wissenschaft <?page no="53"?> Kevin: Doch nicht allein zu Haus Amisha hatte mittlerweile einen Interviewleitfaden erarbeitet und mit Leo abgestimmt. Bei ihren Fragen hatte sie sich auf einige wenige bedeutsame konzentriert - schließlich wollte sie ihre potenzielle Interviewpartner: innen weder übermäßig strapazieren noch zu tief in persönliche oder vertrauliche Sphären eindringen. Natürlich war ihr auch daran gelegen, möglichst viele Informationen darüber zu gewinnen, wie ihre Gesprächspartner: innen ihre eigene Situation einschätzten. Sie wollte schließlich herausfinden, welche erfüllenden und welche möglicherweise kritischen Aspekte ihre Proband: innen im Umfeld von Wissenschaft und Forschung zu berichten hatten. Daraus wollte sie in der Gesamtbetrachtung ableiten können, welche der vorgebrachten Einschätzungen offenbar idealtypisch waren und für wie relevant sich die jeweiligen Erkenntnisse ihrer Gesprächspartner: innen für ihre eigenen Zukunftsaussichten erweisen würden. Parallel dazu hatte Leo einige seiner vormaligen und aktuellen Coachees angesprochen und gefragt, ob sie bereit wären, an Amishas kleiner Erhebung teilzunehmen. Dabei hatte er ihnen eine Teilnahme schmackhaft gemacht, indem er den Erkenntnisgewinn aus Amishas Projekt für alle Beteiligte betonte. Seine Coachees könnten die Ziele und Ergebnisse ihres eigenen Coaching-Prozesses noch einmal systematisch reflektieren. Er selbst könnte das Resultat der Erhebung für die Evaluation seiner eingesetzten Methoden und Werkzeuge nutzen. Und schließlich könnte Amisha ihre Zukunftspläne im Wissenschaftsumfeld auf eine solide und annähernd valide Basis stellen. Die Teilnehmer: innen der Mini-Studie könnten damit eine Art Mentor: in‐ nenrolle für eine junge, aufstrebende Nachwuchswissenschaftlerin wahr‐ nehmen. Und so erklärten sich schließlich einige der angefragten Coachees bereit, an Amishas Projekt teilzunehmen. Für das erste Interview hatte sich Amisha mit Kevin verabredet. Da für Kevin ein längerer Gastaufenthalt in Cambridge unmittelbar bevorstand, verabredeten sich die beiden zu einem virtuellen Online-Meeting, was Amisha immerhin Reisezeit und -kosten ersparte. Kevin arbeitete als Doktorand an einer norddeutschen Universität im Fach Biophysik, wo er abschließend seinen Master erworben hatte. Er befand sich nun bereits in seinem dritten Jahr auf seiner Doktorandenstelle. <?page no="54"?> Wie die meisten Promovierenden war er an seiner Universität eingebun‐ den in ein Doktorand: innenprogramm, auch PhD-Programm genannt. Aus dem Englischen abgeleitet steht PhD für Doctor of Philosophy und bezeichnet - in Abgrenzung zum medizinischen Doktortitel - den rein wissenschaftli‐ chen Doktorgrad. Solche PhD-Programme firmieren gleichermaßen unter den Begriffen Research School, Graduate School oder etwa Graduiertenaka‐ demie. Hier werden - gemeinsam oder getrennt - Doktorand: innen sowie die sogenannten PostDocs nach ihrer erfolgreich absolvierten Promotion betreut und weitergebildet. Im Rahmen seines Doktorand: innenprogramms hatte Kevin bereits einige Kurse besucht. Dazu gehörte ein Workshop zum Schreiben wissenschaftli‐ cher Texte, ein Kurs über Empirie und Statistik und das Sprachtraining Scientific English. Ergänzend hatte er sich für ein persönliches Coaching beworben und hierfür einen Zuschlag erhalten. Auf diesem Weg hatte er Amishas Onkel Leo kennengelernt und bei ihm ein sechsstündiges Coaching absolviert. Zum vereinbarten Zeitpunkt fanden sich Amisha und Kevin auf ihrer Online-Plattform ein und stellten erfreut fest, dass Technik und Netzver‐ bindung reibungslos funktionierten. Nach einer kurzen Begrüßung und der obligatorischen Vorstellung kam Amisha zügig zur Sache. Sie wollte zunächst mit ihren Verständnisfragen beginnen. „Ich habe eine leise Ahnung“, begann Amisha, „um was es in der Bio‐ physik geht. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du es mir etwas genauer beschreiben könntest.“ „Sehr gerne“, antwortete Kevin. „Ich versuche es einmal im Wikipe‐ dia-Stil: Die Biophysik ist ein interdisziplinäres wissenschaftliches Fachge‐ biet, das versucht, biologische Prozesse und Strukturen mit Hilfe der Gesetze der Physik und deren Methodik zu untersuchen.“ „Das habe ich schon vermutet“, meinte Amisha ein wenig keck. „Aber vielleicht kannst du mir das noch besser veranschaulichen, was du genau tust und was der Gegenstand deiner Doktorarbeit ist. Ich selbst hatte Bio als Leistungskurs und bin deshalb besonders interessiert und neugierig.“ „Dann will ich einmal versuchen, es kurz zu beschreiben und nicht in ein biophysikalisches Hauptseminar abzugleiten“, versprach Kevin bereitwillig. „Nach meinem Abi habe ich in Köln Biologie studiert und anschließend meinen Master gemacht. Jetzt arbeite und promoviere ich auf dem Gebiet der sogenannten optischen oder holographischen Pinzette. Eine optische Pinzette basiert auf fokussiertem Laserlicht, mit dem kleinste Bestandteile 54 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="55"?> einer Zelle oder im Gewebe bewegt, verändert und fixiert werden können. Der Laserstrahl wirkt dabei wie eine Pinzette. Aber eben nicht mechanisch, sondern mit Licht. Wenn man mehrere Bestandteile bewegen oder fixieren will, kombiniert man dies räumlich beziehungsweise holographisch und lässt damit sozusagen mehrere optische Pinzetten entstehen und zusammen‐ wirken. Mit dieser Methode lernen wir, interzelluläre Prozesse besser zu verstehen und gezielt zu beeinflussen. Dieses Forschungsfeld ist immerhin so relevant, dass für entsprechende Forschungen drei Wissenschaftler 2018 den Nobelpreis erhielten.“ „Das klingt wirklich interessant“, fiel Amisha ein. „Es hört sich an, als sei das sehr vielversprechend für die Grundlagenforschung in der Biologie.“ „Allerdings! “, bestätigte Kevin Amisha Vermutung mit ein wenig Stolz. „Durch die damit verbundene Grundlagenforschung entsteht immerhin zum Beispiel die Basis für ein vertieftes Verständnis spezieller Erkrankungen wie Muskeldystrophie oder Herzinsuffizienz. Eines Tages könnten hierdurch etwa Patient: innen von den Ergebnissen profitieren, weil es Mediziner: innen und Pharmakolog: innen ermöglicht wird, neue Therapien zu entwickeln. Unsere Forschung hat also durchaus einen recht hohen Anwendungsbezug.“ „Das hört sich wirklich sehr spannend an“, meinte Amisha, die sich, ohne gekünstelt zu wirken, tatsächlich wissbegierig zeigte. „Ich wäre mit meinem naturwissenschaftlichen Interesse fast versucht, noch mehr zu erfahren über dein Forschungsgebiet. Aber ich hatte dir ja schon in unserem Vorgespräch mitgeteilt, dass es mir bei unserem Interview mehr um dein Coaching geht, das du während deiner Promotionszeit gemacht hast. Was war denn für dich der Anlass dazu oder die Zielsetzung? “ „Ich hatte nach etwas mehr als einem Jahr nach dem Beginn meiner Promotion eine ziemliche Krise. Und obwohl ich mich für meine Fachrich‐ tung und die Forschung wirklich begeistere, hatte ich zunehmend Gedanken daran, hinzuschmeißen. Das Einzige was mich abhielt, war letztlich die Überlegung, was ich denn ohne eine Promotion in der Biologie oder Bio‐ physik machen sollte. Nur mit einem Master in Biologie - zudem in einem eher theoretischen Gebiet - wären meine Berufsaussichten eher dürftig.“ „Was genau ist denn passiert, dass du plötzlich solche Zweifel entwickelt hast? “, wollte Amisha wissen. „Ach, weißt du, es kamen mehrere Dinge zusammen damals in meinem zweiten Promotionsjahr. Es begann damit, dass meine ersten Versuche technisch ganz gut geklappt haben, nur aber leider nicht zu den erwarteten Ergebnissen führten. Der Ansatz war gut und vielversprechend, aber das 55 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="56"?> erhoffte Ergebnis blieb schlichtweg aus. Und ich habe einfach nicht verstan‐ den warum. Deshalb habe ich immer mehr an mir selbst gezweifelt. Das war vor allem deshalb verzwickt, weil meine Doktormutter Physike‐ rin ist und ich Biologe. Das kann dazu führen, dass man bisweilen unter‐ schiedliche Blickwinkel und Erwartungen hat und manchmal aneinander vorbeidenkt oder redet. Meine Doktormutter ist exzellent auf ihrem Gebiet. Das war für mich letztlich der Grund, sie als Betreuerin zu gewinnen und bei ihr zu promo‐ vieren. Aber um als Lehrstuhlinhaberin und Abteilungsleiterin erfolgreich zu sein, stehen Wissenschaftlerinnen wie sie immer unter Strom. Zudem betreut sie neben mir noch einige Masterstudierende, zwei andere Dokto‐ rand: innen und drei PostDocs. Einer der PostDocs ist im Labor mein direkter Betreuer und Ansprechpartner. Meine Doktormutter war jedenfalls selten greifbar, bei all den Hochzeiten auf denen sie sprichwörtlich tanzte. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Chefin ist wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Wenn ich dann zu ihr kam mit meinen Fragen und den unbefriedigenden Ergebnissen, meinte sie sie lapidar: ‚Ach, Kevin, komm mir doch nicht immer mit Problemen. Als Wissenschaftler musst du selbstständig arbeiten, eigeninitiativ und lösungsorientiert.‘ Leider haben mir solche Ansprachen aber nicht wirklich geholfen. Ich zweifelte eher noch mehr daran, ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Unser Forschungsteam ist an sich sehr nett und kollegial. Es herrscht ein freundlicher und zugewandter Umgangston. Dennoch fühlte ich mich alleingelassen, vor allem mit meinen Selbstzweifeln.“ „Dann machst du deinem Vornamen ja alle Ehre: ‚Kevin allein zu Haus‘ oder noch besser: ‚Allein in New York‘“, meinte Amisha und musste lachen. Kevin lachte höflich mit, wirkte dabei aber nicht wirklich amüsiert. „Gott sei Dank hatte ich - anders als der Leinwand-Kevin - keine Menschen in der Umgebung, die mir wirklich Böses wollten. Und dennoch kam ich mir alleingelassen und hilflos vor. Ich habe noch mehr Fachliteratur gelesen und verbrachte immer mehr Zeit im Labor, manchmal auch am Wo‐ chenende. Schließlich war es mein Ziel, in absehbarer Zeit genug Material zu haben, um die erste Publikation zumindest konkreter zu planen. Also habe ich immer mehr Zeit in ein letztlich hoffnungsloses Unterfangen gesteckt. Das gab dann Stress zu Hause. Mein Partner hatte zwar ein gewisses Verständnis für meine Nöte, fühlte sich aber absolut vernachlässigt. Er wurde unleidlich und nörglerisch. Und ich wusste schließlich nicht mehr, 56 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="57"?> wie ich da rauskommen sollte: Arbeit doof, Zuhause doof und zu meinen sportlichen Aktivitäten kam ich ohnehin so gut wie gar nicht mehr. Der Sport war für mich bis dahin immer ein verlässlicher Ausgleich - körperlich und mental. Es war ein absolut deprimierender Teufelskreis, der endlich dazu führte, dass ich am Ende sogar unter Schlafstörungen litt. Analog zu dem von dir erwähnten Kino-Kevin wäre ich mit zwei Bösewichten im gleichen Haus vermutlich eher klargekommen als mit meinem damaligen Dilemma.“ „Und wie hat dir dann das Coaching geholfen? “, wollte Amisha wissen. „Wir haben erst einmal die Ziele abgesteckt für unser Coaching“, entgeg‐ nete Kevin. „Es waren letztlich zwei: Zunächst einmal sollte das Promotionsprojekt auf eine solidere, hand‐ habbare Basis gestellt werden mit mehr realistischen Zielen und klareren methodischen Absprachen. Noch mehr Zeit in einen offensichtlich nicht funktionierenden Plan zu stecken, konnte das grundsätzliche Problem ja offensichtlich nicht lösen. Zweitens sollte mein Zeit- und Selbstmanagement dahingehend optimiert werden, dass ich irgendwie wieder Grund unter die Füße bekam. Dazu gehörte für mich auch, die Erosion in meiner Partnerschaft und im Bereich meiner sportlichen und mentalen Fitness zu stoppen.“ „Und was ist aus den Zielen geworden? “, fasste Amisha nach. „Wir sind sie nach und nach angegangen und haben sie schließlich im Wesentlichen erreicht. Zu Beginn haben wir uns auf das Thema Promotionsprojekt konzentriert. Dein Onkel hatte dazu einen coolen Spruch parat, der sogar im Internet kursiert als ‚Weisheit der Dakota-Indianer‘. Er lautet: ‚Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, dann steige ab.‘ Im Internet werden hierzu entsprechend die vermeintlichen Alternativen zum Absteigen genannt, welche von den Reitern toter Pferde aus Verzweiflung öfter aber erfolglos einsetzten werden. Viele Menschen neigen nämlich dazu, ihre vertrauten Lösungsversuche einfach zu intensivieren, wenn es kritisch wird. Das heißt, sie schlagen noch mehr ein auf das tote Pferd ein oder sie versuchen etwa, die Kriterien zu ändern, die besagen, dass das Pferd tot ist. Das hört sich witzig an, die realen Analogien können aber durchaus alles andere als lustig sein, wenn man selbst auf einem toten Pferd sitzt. Weniger witzig war, zu erkennen, dass ich das tote Pferd in der Tat ja mit einer guten Portion blindem Aktionismus einige Zeit selbst so geritten bin - vor lauter Hilflosigkeit.“ 57 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="58"?> „Bist du dann einfach auf den Zug umgestiegen oder etwa zu Fuß gegangen? “, spekulierte Amisha mit einem dezenten Unterton von Ironie. „Nein, so nicht. Du musst die Metapher mit dem Pferd schon genauer nehmen! “, korrigierte Kevin etwas streng. „Ich habe - und das war mein erster Schritt - mit Hilfe meiner Doktormutter das Pferd gewechselt. Und das kam so: Ich habe nach den ersten misslungenen und meist spontanen Ge‐ sprächen meine Doktormutter um ein etwas formaleres Mitarbeitergespräch gebeten, das bei uns an der Uni zum Repertoire der Personalentwicklung und Führung gehört. Das Gespräch habe ich mit meinem Coach gründlich vorbereitet und dabei gelernt, dass es durchaus zielführend ist, wichtige Gespräche grundsätzlich sorgfältig vorzubereiten, damit es sich mehr an konkreten Zielen und an einer Lösung orientiert und eine solches wichtiges Gespräch nicht nur um Probleme kreisen lässt. Meine Chefin hat sich dann zwischen ihren Meetings, Vorlesungen, Konferenzen und Dienstreisen wirklich einmal fast zwei Stunden Zeit genommen für ein Vier-Augen-Gespräch. Ich habe ihr dann erst einmal offen, ehrlich und umfänglich meine Situation geschildert und meine Selbst‐ zweifel. Dabei habe ich es bewusst vermieden, zu jammern oder mich in Schuldzuweisungen zu verlieren, etwa was die Betreuungssituation betrifft. In der Mitte des Gespräches sagte sie mir dann, dass sie mit meiner inhaltlichen und fachlichen Arbeit durchaus sehr zufrieden sei und ebenso mit meiner guten Integration ins Team. Dann meinte sie in etwa: ‚Wenn man die von dir erhobenen Daten und Resultate genau ansieht, muss man konstatieren, dass unsere Methodik offensichtlich leider nicht so funktioniert wie erhofft - so vielversprechend der Ansatz auch war. Unsere Ausgangshypothese war gewagt, aber sie hatte Potenzial, war neu und schien schlüssig. Aber so funktioniert nun einmal Wissenschaft. Verifizieren - also harte Belege für die eignen Thesen zu finden - ist immer besser und nutzbringender, als die Falsifikation - also der Beleg, dass etwas nicht funktioniert. Eine gute und verwertbare Publikation braucht aber den Erfolg. Kaum jemand will in einem wissenschaftlichen Beitrag lesen, was alles nicht funktioniert und eben nicht zum Ziel führt. Dein Projekt war zugegebenermaßen als ‚Plan A‘ durchaus gewagt. Aber wer nichts wagt, der gewinnt auch nichts. Besonders dann nicht, wenn man ausgetretene Pfade verlässt und etwas Neues finden will. Aber in deinem Fall haben wir ja zwei Ziele: Erstens neue wissenschaftlich-methodische Erkenntnisse zu generieren, und zweites, deine Promotion mit zwei vorzeig‐ baren Publikationen zu einem guten Ergebnis zu führen. Wir brauchen also 58 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="59"?> jetzt einen ‚Plan B‘, der immer noch anspruchsvoll, aber mit etwas weniger Risiko verbunden ist. Und da habe ich auch schon eine Idee, mit der du neu ansetzen könntest, ohne die bisherigen Ergebnisse über den Haufen werfen zu müssen.‘ So in etwa verlief das Gespräch. Und am Ende hatten wir dann einen neuen Projektplan mit etwas geänderten Zielsetzungen auf Grundlage einer etwas anders gelagerten Methode, also den berühmten ‚Plan B‘. Mit dessen Details will ich dich aber nicht langweilen, das wäre zu komplex für jemanden, der nicht tief in der Thematik steckt.“ „Und wie ging es dann weiter? “, bohrte Amisha nach. „Wir hatten später noch ein Dreier-Gespräch mit meiner Doktormutter, dem mitbetreuenden PostDoc und mir. Zusammen haben wir dann einen echten kleinen Projektplan abgestimmt, mit welchen Schritten, was, wann und wie es genau weitergehen sollte. Ich hatte ja im Rahmen meiner geplanten Promotionszeit von maximal vier Jahren über ein Jahr verloren. Meine Chefin meinte zwar, dass dies - wie sie sagte - ‚erkenntnistheoretisch‘ keine verlorene Zeit war. Aber bezogen auf die Fertigstellung meiner Dissertation war damit der Zeitpuffer doch recht dünn geworden. So haben wir also sinnbildlich das Pferd gewechselt, das sich - wie sich jetzt zeigt - durchaus auf Trab gebracht werden kann. Jedenfalls ging es mir von diesem Zeitpunkt an sehr viel besser. Und ich fühlte mich nicht mehr wirklich alleingelassen mit meinem Dilemma.“ „Was ist denn aus den anderen Zielen geworden, die ihr für das Coaching gesetzt hattet? “, setzte Amisha nach. „Es ging ja auch um das Thema Selbstmanagement.“ „Ja, genau“, pflichtet Kevin bei. „Dein Onkel empfahl mir ein kluges Buch zum Thema Selbstmanagement mit dem treffenden Titel: ‚Der Weg zum Wesentlichen‘. Bei der Lektüre ist mir einiges klar geworden. Es war wie eine kleine Erleuchtung. Gerade wenn man wie ich mit meiner Dissertation viel um die Ohren hat, ist es wichtig, dass man sich klare Ziele setzt und aus den Zielen abgeleitete Zeitslots plant, in denen man sich für die wichtigen Dinge im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit nimmt. Zeit für bestimmte Arbeitsaufgaben, aber eben auch Zeitkontingente für wichtige Dinge wie Sport, persönliche Beziehun‐ gen und andere Themen, die für das innere Gleichgewicht wichtig sind. Neudeutsch heißt das ja heute ‚Work-Life-Balance‘. Hierfür den Überblick zu behalten, realistische Prioritäten zu setzen und die notwenige Achtsamkeit 59 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="60"?> zu bewahren, musste ich erst einmal lernen und mir bewusst machen. In der Schule oder an der Uni lernt man so etwas ja leider nicht - erst recht nicht systematisch. Ich habe deshalb mit meinem Freund zwei feste Zeiten in der Woche abgestimmt, in denen wir Zeit für uns haben. Und für den Sport habe ich den Mittwochnachmittag im Kalender fest eingeplant. Wenn es im Labor mal allzu hoch hergeht, schaffe ich es zwar nicht immer, das einzuhalten. Aber immerhin liegt meine Erfolgsquote bei etwa 70 bis 80 Prozent. Damit kann ich jedenfalls gut und deutlich besser leben. Und dann habe ich bei unserer Research School noch einen Doppelkurs besucht zum Thema ‚Projekt- und Selbstmanagement‘. Der hat mir sehr geholfen, mich besser zu organisieren. Und das gerade dann, wenn ich den Eindruck habe, dass diese ewig begrenzten 24 Stunden am Tag einfach nicht ausreichen für all das, was vermeintlich getan und bedacht werden muss.“ „Letzte Frage“, kündigte Amisha an. „Was hast du gelernt aus dem, was im Rahmen deines Coachings passiert ist? Beziehungsweise: Welche neuen Erkenntnisse sind für dich entstanden? “ Kevin richtete sich vor seiner Laptop-Kamera konzentriert auf und begann mit seinem Resümee: „Lass mich das mal mit dem Versuch der richtigen Reihenfolge so zusammenfassen: Ich musste zunächst lernen, mit Misserfolgen umzugehen. Jede noch so gute Idee und jeder noch so gute Plan sind keine Garantie, dass ein Vorhaben funktioniert. Das gilt selbst dann, wenn du sorgfältig, fleißig und ausdauernd gearbeitet hast. Selbstzweifel können manchmal nützlich sein, um nicht blind zu werden. Wenn sie aber überstrapaziert werden, dann lähmen sie nur noch und blockieren dich. Zweitens: Wenn du dich alleingelassen fühlst und die eigene Hilflosigkeit überhandnimmt, darfst du dich nicht vergraben, einigeln oder in blinden Aktionismus verfallen. Du musst dir Hilfe suchen. Dafür gibt es schließlich Betreuer: innen, die genannten PhD-Programme, erfahrenere Wissenschaft‐ ler: innen in deinem Umfeld - etwa als Mentor: innen - oder eben einen externen Coach, der sich mit Wissenschaft auskennt. Und wenn dein Umfeld deine Situation oder Verzweiflung nicht von allein erkennt, musst du ihnen helfen, es zu verstehen. Das ist immerhin eine Chance einzusehen, dass man oft nicht so allein ist, wie man mitunter glaubt. Einige Unis oder die Dachverbände außeruniversitärer Forschungsinsti‐ tute haben zudem Leitlinien verfasst für die Promotion. Diese Guidelines richten sich sowohl an die Betreuer als auch an die Promovierenden. Hier 60 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="61"?> sind die Rechte und Pflichten beider Seiten geregelt und beschrieben, wie zu verfahren ist, wenn Konflikte entstehen. Um ehrlich zu sein: Ich kannte diese Leitlinien bisher gar nicht. Die Info darüber ist irgendwie an mir vorbeigerauscht. Erst mein Coach hat mich darauf aufmerksam gemacht. Drittens: Ich finde Forschung echt cool. Die Wissenschaft ist genau das Richtige für mich. Die Arbeit ist spannend, interessant und für mich persönlich bereichernd und erfüllend. Aber sie ist auch komplex, anspruchs‐ voll und manchmal derartig herausfordernd, dass man durchaus an seine Grenzen stoßen kann. Insofern sollte man sich bestmöglich gut organisieren. Wie man dazu etwa agiles Projektmanagement oder Werkzeuge für ein abgestimmtes Selbstmanagement nutzen kann, sollte man beizeiten lernen. Da einem genau das in der Schule oder an der Uni nicht vermittelt wird, muss man sich selbst darum kümmern und entsprechende Fortbildungen nutzen. Und eins noch: Wenn Probleme oder Konflikte entstehen, muss man versuchen, sie durch Eigeninitiative im Gespräch zu lösen. Denn es sollte klar sein, dass gerade die Wissenschaft nicht ohne Probleme und Konflikte funktioniert. Genau dann sind Gespräche besonders hilfreich, vor allem, wenn man sie systematisch vorbereitet und sich selbst vorher einigermaßen gut sortiert hat. Wenn man das Problem klar erkennen und benennen kann und sich an der Lösung orientiert, hilft das sehr. Im Coaching wurde mir dafür eine Checkliste zur Gesprächsvorbereitung angeboten. Das hat mir durchaus geholfen. Den Kopf in den Sand zu stecken oder andere für sein Problem verantwortlich zu machen, hilft jedenfalls nicht. Auch dafür braucht es Selbstinitiative, etwas Ausdauer und den Mut, die eigenen Bedürfnisse und Erwartungen klar zu differenzieren und verständlich zu kommunizieren.“ „Ich hoffe, dass du das nicht missverstehst“, leitete Amisha ihren Kom‐ mentar ein. „Das klingt alles logisch und irgendwie selbstverständlich und könnte deshalb als Erkenntnis fast banal erscheinen.“ „Ich verstehe, was du meinst“, beschwichtigte Kevin. „Im Nachhinein wirken Lösungen, die man für sich gefunden hat, meistens schlüssig und zwangsläufig. Aber man steigt ja nicht in ein Coaching ein, weil einem langweilig ist oder man zu unbeholfen ist, um selbst eine Lösung zu finden. Wenn man aber wie ich seinerzeit in einem Teufelskreis steckt, ist manchmal das Naheliegende nicht mehr sicht- und greifbar. Ein Coach sagt einem ja nicht: ‚Tue dies und beachte das! ‘ Ich denke, ein Coach ist weder ein Harry Potter mit Zauberstab und ebensowenig ein 61 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="62"?> Besserwisser. Letztlich hilft er mit Fragen und Hinweisen, die eigene Lösung zu finden und umzusetzen, selbst wenn dies anderen vielleicht als banal erscheinen mag. Aber im Moment des Problems oder des inneren Konfliktes hat man diese Lösung einfach nicht gesehen. Wenn sie dann im Nachhinein als logisch erscheint, spricht das ja nicht unbedingt gegen diese Lösung, oder? In meinem engeren Umfeld habe ich dann gesehen, dass es vielen meiner Kolleginnen ähnlich erging. Oft ging es dabei um Betreuungsfragen, subop‐ timalen Austausch, ungenaue Projektpläne und anderes mehr. Wissenschaft ist einfach sehr komplex und anspruchsvoll. Und wenn dann die Zeit fehlt zum Austausch, zur gemeinsamen Abstimmung und Lösungsfindung, dann entwickeln sich die qualitativen und quantitativen Probleme exponentiell. Insgesamt fand ich jedenfalls das Coaching sehr hilfreich und es kam bei mir wirklich zur rechten Zeit.“ Amisha und Kevin plauderten noch eine Weile über verschiedene Aspekte hilfreicher Fragen und die Wirkung einer guten externen Unterstützung. Dann beendeten sie das für Amisha aufschlussreiche Gespräch. Amishas bedankte sich herzlich und versprach Kevin, ihm nach Abschluss ihrer Studie ihre gesammelten Erkenntnisse aus ihrer kleinen Interviewserie zukommen zu lassen. 62 Kevin: Doch nicht allein zu Haus <?page no="63"?> Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft Während ihres Gespräches mit Kevin hatte sich Amisha fleißig Notizen gemacht und diese in eine Tabelle eingetragen. Das Dokument nannte sie schlicht: „Erkenntnisse“. So wollte sie auch bei den folgenden Interviews vorgehen, um ihre Einsichten und Schlussfolgerungen möglichst systema‐ tisch zu dokumentieren und zu ordnen. Dieses Mal fügte es sich, dass ihr nächstes Interview vor Ort in Berlin vereinbart und durchgeführt werden konnte. Da zudem das Sommerwetter allzu verlockend war, traf sich Amisha mit Sarah an einem weiteren Ort, der den Berliner Ortsteil Dahlem als Standort der Freien Universität so attraktiv machte: der „Königlichen Gartenakademie“. Bereits im Jahr 1823 entstand unweit in Potsdam auf Anregung von Peter Joseph Lenné die erste Ausbildungsstätte für Gartenkultur in Europa. 1903 zog diese Gärtnerlehranstalt in modernere Gebäude und Gewächshäuser nach Berlin-Dahlem, in die Nähe des Botanischen Gartens. Hier sollte zukünftigen Garten- und Landschaftsgestaltern Fächer wie Stillehre, Kunst‐ geschichte, die Technik der Gartenkunst, Entwurfslehre sowie Botanik, Chemie, Physik und Mathematik vermittelt werden. Heute beherbergt die Königliche Gartenakademie eine Reihe nun zum Müßiggang einladende historischer Gewächshäuser, in welchen sich neben Verkaufsflächen für Gewächse und Gartenbedarf auch ein behagliches Café befindet. : innerhalb und außerhalb eines der historischen Glashäuser werden kleine Gerichte, exquisite Kuchen und köstliche Kaffeespezialitäten serviert. Ein idealer Ort, um in schattiger, oasenähnlicher Atmosphäre, anregende und ergiebige Gespräche zu führen. Gut, dass dieser herrliche Flecken in den meisten Reiseführern unerwähnt bleibt. Nach der Begrüßung und einer ersten Melange begann Sarah, ihre Entwicklung sowie ihre aktuelle Situation zu schildern. „Schon während meines Studiums der Soziologie habe ich mich auf den Bereich Umweltökologie und Umweltpolitik spezialisiert. Analog dazu habe ich verschiedene Praktika und Gastaufenthalte in Südamerika und in Schweden absolviert. Anschließend legte ich in an einem außeruniversitären Forschungsinstitutmit engen Kontakten zur Pariser Sorbonne meinen Mas‐ ter ab, mit einer Arbeit zum Thema ‚Klimawandel und Entwicklungspolitik‘. <?page no="64"?> Hierfür war ich für drei Jahre in Paris tätig. Das war vor nun bereits zwölf Jahren. Seitdem habe ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin zuerst in Darmstadt und Stuttgart gearbeitet, Forschungsprojekte unterstützt und koordiniert und publiziert. Aktuell bin ich seit vier Jahren wissenschaftliche Mitarbei‐ terin an einem Leibniz-Institut. Aus all diesen Zeiten kann ich nun bereits auf einige Publikationen verweisen, die aus meinen jeweiligen Arbeitsergebnis‐ sen entstanden sind, auch wenn ich bei einigen Artikeln nur Ko-Autorin bin. Seit nun zwei Jahren bin ich dabei, eine kumulative Promotion zu erstellen bei meinem Doktorvater, den es mittlerweile nach Kopenhagen auf eine angesehene Professorenstelle verschlagen hat.“ „Was bitte ist eine kumulative Promotion? “, wollte Amisha wissen. „Nun, eine kumulative Dissertation ist eine Promotion, die auf bereits veröffentlichten eigenen Fachartikeln basiert. Im Gegensatz zu einer Mono‐ grafie besteht sie aus verschiedenen einzelnen Aufsätzen. Dabei müssen die verschiedenen Veröffentlichungen einer inhaltlichen Logik und Thematik folgen und thematisch verbunden sein. Die Herausforderung besteht unter anderem darin, diesen Zusammenhang als roten Faden zu beschreiben und inhaltlich sowie wissenschaftlich zu begründen.“ „O.k.! “, meinte Amisha. „Das habe ich verstanden. Aber zurück zu deinem Lebenslauf: Das klingt ja super cool, spannend und vielseitig. Wenn ich das richtig interpretiere, bist du durch deine Vita fit im Deutschen, Englischen und sogar noch im Französischen, wenn du drei Jahre in Paris warst. Du hast verschiedene Länder und Institutionen kennengelernt, interessante und abwechslungsreiche Aufgaben bearbeitet und kannst einen attraktiven und erfolgreichen Lebenslauf vorwiesen. Echt faszinierend! Was war nun dein Grund, wenn ich fragen darf, ein Coaching zu beginnen? “ „Zunächst hast du durchaus recht“, meinte Sarah. „Ich hatte wirklich bisher eine sehr gute und erfüllende Zeit in der Wissenschaft. Ich habe viel gelernt, hatte sinnvolle und befriedigende Aufgaben und konnte auf verschiedenen Kontinenten viele gute Kontakte knüpfen. Insofern bin ich ganz gut vernetzt in meinem Forschungsschwerpunkt Umweltpolitik. Das alles ist im Forschungsumfeld allerdings nicht selbstverständlich. Vor ein paar Monaten wurde mir aber immer bewusster, dass ich in meh‐ rerlei Hinsicht in einer Sackgasse stecke. Über eine Beratung bin ich dann auf ein Coachingprogramm gestoßen und darüber dann auf deinen Onkel aufmerksam geworden. So konnte ich schließlich auf Betreiben meiner derzeitigen Chefin ein Coachingbudget von sechs Stunden abrufen. Das ist 64 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="65"?> im Nachhinein betrachtet nicht viel, aber ich kenne viele Doktorand: innen an anderen Institutionen, denen eine solche Option noch nie geboten wurde.“ „Eine Sackgasse? “, fragte Amisha verwundert. „Du hast doch gerade selbst beschrieben, dass du eher auf einer komfortablen Landstraße gefahren und viel erreicht hast. Wo bitte ist da die Sackgasse? “ „Selbst eine komfortable Landstraße kann in einer Sackgasse enden“, entgegnete Sarah. „Und um die Straßenmetapher weiter zu strapazieren: Es gibt bekanntlich sogar Highways, die irgendwo im Nirgendwo enden. Beispiele kann man im Internet googeln oder etwa bei YouTube anschauen.“ „Oh, sorry! Ich wollte den Vergleich mit den Straßen nicht überdehnen“, entschuldigte sich Amisha. „Ich habe nur immer noch nicht verstanden, was dein Problem sein könnte.“ „Für Außenstehende ist das nicht einfach zu verstehen“, beschwichtigte Sarah. „Es ist zudem eine komplexe Misere. Die Sache ist die: Ich bin jetzt 36 Jahre alt. Für eine Wissenschaftlerin läuft da nicht nur die biologische Uhr. Mein Lebensgefährte und ich wollten immer ein Kind, am liebsten sogar zwei. Aber nie war dafür der richtige Zeitpunkt bei all den Projekten und Auslandsaufenthalten. Meine zweite Uhr tickt in Bezug auf die Verweildauer im Forschungs‐ bereich. Meine offizielle Entwicklungszeit in der Wissenschaft ist bereits abgelaufen. Die ist bestimmt durch das sogenannte Wissenschaftszeitvert‐ ragsgesetz. Demnach gilt: Nach summa summarum rund zwölf Jahren muss eine Dauerstelle winken oder du musst raus aus dem System. Da meine Dissertation immer noch nicht fertig ist, bekomme ich aber mit ziemlicher Sicherheit kein Angebot für eine Dauerstelle. Als einziger Notnagel bleibt eine sogenannte befristete Projektstelle, die nicht direkt der wissenschaftlichen Qualifikation dient. Auf einer solchen Stelle bin ich nun. Die Gelder für diese Stellen müssen selbst oder durch an‐ dere Wissenschaftler: innen eingeworben werden bei einem entsprechenden Zuwendungsgeber. Das führt dazu, dass man von Zeitvertrag zu Zeitvertrag wandert und manchmal im Oktober des Jahres noch nicht weiß, ob es im nächsten Jahr mit frischen Projektmitteln weitergehen kann. Spätestens an dieser Stelle trifft die biologische Uhr auf die wissenschaftliche Zeitvert‐ ragsuhr.“ „Meine Güte! “, entfuhr es Amisha. „Jetzt verstehe ich dein Bild von der Sackgasse. Und warum ist deine Dissertation noch nicht abgeschlossen, 65 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="66"?> wenn ich fragen darf ? Ich dachte, eine ordentliche Promotion ist nach drei, vier oder vielleicht fünf Jahren abgeschlossen.“ „Um ehrlich zu sein: Das hat verschiedene Gründe, die zum Teil bei mir selbst liegen“, gestand Sarah. „Ich habe immer sehr engagiert gearbeitet. Da‐ bei habe ich relevante Aufgaben in den verschiedenen Forschungsprojekten selbst gesehen und sie dann angepackt. In der Regel brauche ich niemanden, der mir erst langatmig erklärt, was zu tun und wie es zu tun ist. Dein Onkel sagt dazu: ‚Manche Menschen sind in der Tat sehr nützlich. Und wer nützlich ist, neigt dazu, ausgenutzt zu werden.‘ Ich fürchte, das trifft in Teilen durchaus auf mich zu. Aber das ausschließlich den Nutznießern anzulasten, wäre nicht wirklich ehrlich. Ich habe dazu ja auch meinen Beitrag geleistet. Dein Onkel hatte dazu noch so einen Spruch auf Lager. Er meinte: ‚Manche Kollegen sind sehr geschätzt für ihre Beiträge und ihren Einsatz; aber nicht wirklich geachtet. Der Grund ist, dass in manchen Fällen einfach niemand wirklich darauf achtet, dass sich junge Forscher und Wissenschaft‐ lerinnen in die für sie richtige Richtung entwickeln.‘ Tatsächlich wollte mich niemand bewusst ausnutzen oder mich übervor‐ teilen. Aber es war einfach selten jemand da, der mich gebremst hat und gesagt hat: ‚Tritt mal etwas kürzer und kläre zunächst deine eigenen Ziele und Prioritäten! ‘ Und so habe ich meine Dissertation lange Zeit aus dem Blick verloren und mich stattdessen um andere wichtige und ja schließlich immer interessante Dinge gekümmert. Ich habe organisiert, recherchiert, an Forschungsanträgen mitgewirkt, Fakten zusammentragen und publiziert - wenn auch nicht wirklich üppig und in den besten Journals. Hinzu kamen meine verschiedenen Einsatzorte und der Wechsel in verschiedene Organisationen und Projekte. Hierdurch gab es weniger Kon‐ tinuität und des Öfteren eine Änderung meiner Betreuer. Deren Aufgabe ist es eigentlich, Promovierende sozusagen auf Kurs zu halten bei ihren Promotionsvorhaben. Vor einem Jahr habe ich dann endlich einen Spurt hingelegt und über Kontakte meinen jetzigen Doktorvater gefunden. Noch haben wir nicht alle Details besprochen, aber er hat sich grundlegend bereit erklärt, mein Promotionsvorhaben zu unterstützen und zu betreuen.“ „Doktorvater und Doktormutter - das sind zwei Begriffe, die ich natürlich kenne. Aber was genau beinhalten sie? “, wollte Amisha wissen. „Ein Doktorvater oder eine Doktormutter ist eine Hochschullehrer: in, die in der Regel an einer Hochschule das Promotionsrecht wahrnimmt. Er oder sie begleitet die Dissertation und begutachtet und bewertet zusammen mit 66 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="67"?> einem Zweitgutachter schließlich das Ergebnis. Es ist im Prinzip die gleiche Funktion, wie die Betreuung bei einer Bachelor- oder Masterarbeit. Der Begriff ist eigentlich ziemlich antiquiert. Aber ich kenne kaum jemanden, der ihn nicht benutzt. Man nennt sie offiziell ‚Betreuer: in oder ‚Erstbetreuer: in‘ der Promotion. Oft übertragen sie aber die direkte, inhalt‐ liche und fachliche Betreuung an einen PostDoc oder einen anderen Senior Scientist, der näher am Arbeitsbereich der Promovierenden angesiedelt ist.“ „Wenn du also deine Erstbetreuer: in gefunden hast, dann sollte doch einem absehbaren Abschluss nichts mehr im Wege stehen“, vermutete Amisha. „Theoretisch hast du Recht“, bestätigte Sarah. „Aber genau an dieser Stelle befindet sich die zweite Sackgasse. Und das kam so: Mein Doktorvater ist vor einem Jahr an eine dänische Universität gewechselt. Hier ist er noch nicht so gut vernetzt und genießt nicht mehr so die diversen Freiräume, die er an seiner vormaligen Uni in Deutschland hatte. Zudem sind an seiner neuen Uni in Dänemark die Verfahren und Regeln einer Promotion etwas anders als in seinen und meinen Planungen vorgesehen. Zu allem Übel hatte nun mein Doktorvater vor drei Monaten einen schwereren Unfall mit seinem Rennrad. Jetzt ist er aktuell außer Dienst und für einige Wochen in einer Reha-Klinik. Die Sache ist momentan wirklich verhext und ich weiß nicht wirklich, wann und wie es nun weitergeht.“ „Ups! Das klingt ja wirklich wie ein Alptraum“, kommentierte Amisha. „Kommt denn so eine vertrackte Situation bei Promotionen öfter vor? “ „Die allermeisten Promotionen gehen eher glatt über die Bühne“, meinte Sarah. „Aber es passiert schon mal, dass ein Doktorvater oder eine Doktor‐ mutter die Uni wechselt oder krankheitsbedingt ausfällt. Das verzögert und erschwert natürlich die Fertigstellung und man hängt mit seiner Doktorarbeit in der Luft. Bei mir kommt ja noch hinzu, dass ich wirklich sehr spät gestartet bin und jetzt wirklich keinen Puffer mehr habe. In meinem Themenbereich eine andere Erstbetreuung zu finden - zumal in einer anderen, externen Institution - ist nahezu ausgeschlossen. Das ginge, wenn überhaupt, nur nebenberuflich.“ „Was hat dir denn in dieser Situation das Coaching gebracht? “, wollte Amisha wissen. „Mit Hilfe des Coachings ist es mir gelungen, mich selbst besser - um nicht zu sagen - neu zu sortieren und bei dem, was und wie ich es tue, klare Prioritäten zu setzen. Das heißt, ich habe mich zunächst einmal auf meine Zukunftsplanung konzentriert. Das Coaching hat mich sozusagen auf 67 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="68"?> konstruktive Art und Weise gezwungen, mich meiner beruflichen Situation und Zukunft zu stellen und meine Chancen realistisch zu bewerten. Ich wollte in der Wissenschaft eigentlich nie das machen, was man im Businessbereich außerhalb der Forschung so taff und cool ‚Karriere‘ nennt oder in der Verwaltung ‚Laufbahnplanung‘. Dieser Begriff ist vielen jungen, engagierten Promovierenden und PostDocs eher fremd. Sie sind meist enthusiastisch und zielstrebig in ihre Projekte und Vorhaben eingebunden und mit Leib und Seele bei der Sache. Vielleicht ist das Ausblenden der mittel- und längerfristigen beruflichen Entwicklung aber manchmal ein Fehler? ! Schließlich muss das engagierte, faszinierende und wirklich erfüllende Arbeiten in der Wissenschaft auf der einen und ein wenig strategische und persönliche Zukunftsplanung auf der anderen Seite prinzipiell ja kein Wiederspruch sein. Im Coaching habe ich mir jedenfalls mit Hilfe entsprechender Checklis‐ ten und kleinen Test-Tools noch einmal systematisch meine persönlichen Werte, Talente und Motivationsanker bewusst gemacht. Das war in dieser Konstellation wirklich hilfreich, selbst wenn es zeitlich ein bisschen spät kam. Meine Chancen auf eine der seltenen Dauerstellen als Wissenschaftlerin tendieren jetzt - realistisch betrachtet - gegen Null. Was also sind die Alternativen? Die bin ich im Coaching alle einmal durchgegangen: In den kleinen Weinladen einzusteigen, den mein Lebensgefährte mit einem Freund betreibt, wäre eine Alternative. Damit könnte ich durchaus ein gewisses Einkommen sicherstellen. Leider kann ich mich aber für diese Option nicht wirklich begeistern. Dafür hätte ich schließlich nicht studieren müssen, internationale Erfahrungen sammeln oder meine Kompetenzen im Bereich Organisation, Drittmittelbeantragung und Projektmanagement aufbauen müssen. Also habe ich allein und mit meinem Coach noch ein paar andere Varianten durchgespielt. Letztlich habe ich aber alle verworfen. Dein Onkel hat mich dann auf eine Alternative aufmerksam gemacht, die ich bisher - zumindest nicht konkret - auf dem Schirm hatte: Den Bereich Wissenschaftsmanagement.“ „Ach, ja“, fiel Amisha ein, „von diesem Tätigkeitsbereich hat mein Onkel schon gesprochen. Wissenschaftsmanagement ist doch, so habe ich es verstanden, die Arbeit im Bereich der Organisation und Verwaltung von Forschungseinrichtungen mit dem Ziel, die wissenschaftlichen Bereiche in Sachen Personal, Finanzen, Organisation, Medienarbeit, der Beschaffung von Materialien oder Gerätschaften oder der Finanzierung zu unterstützen.“ 68 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="69"?> „Ja, ganz genau“, bestätigte Sarah. „Bei vielen Wissenschaftler: innen hat dieser Tätigkeitsbereich oft keinen hohen Stellenwert. Für die zählt nur, neue Ideen zu entwickeln, kluge Hypothesenbildung, Forschungsmethoden ausarbeiten, eine sorgfältige Datenanalyse, Publikation der Ergebnisse und bestenfalls noch die Lehre in Form der Ausbildung der Studierenden. Genau das ist ja, was wissenschaftliche Arbeit originär ausmacht. Dabei funktioniert das alles aber nur dann, wenn ein effizientes Wissen‐ schaftsmanagement als Umfeld oder besser Umwelt dafür geschaffen ist und gut funktioniert. Angefangen von den entsprechenden Räumlichkeiten, der Personalbeschaffung, der Beschaffung und Verwaltung von Drittmitteln und all dem Drumherum. Im Nachhinein hätte ich dieses Arbeitsfeld als Option viel eher wahr‐ nehmen können. Aber in der Wissenschaft ist man manchmal etwas zu fokussiert auf die eigene Betriebsamkeit. Wenn man so will, ist auch das eine Art von Umweltignoranz. Dabei war ich in fast all meinen bisherigen Funktionen schon eine Art ‚Brückenkopf ‘ zur Wissenschaftsadministration. Als Projektkoordina‐ torin war ich meist an vorderster Front bei allen organisatorischen und administrativen Prozessen. Das Team zusammenhalten, Projektcontrolling, die Raumverwaltung, Anträge koordinieren, den Stellenplan überwachen und vieles mehr habe ich gemeinsam mit den Kolleg: innen aus der Wissen‐ schaftsadministration kontinuierlich gemanagt. Und oft habe ich mir dabei gewünscht, die Kolleg: innen in der Verwaltung würden die Bedürfnisse und Anforderungen der wissenschaftlich Tätigen ein wenig besser verstehen. Je länger ich mich mit dem Arbeitsbereich Wissenschaftsmanagement beschäftigte, desto interessanter wurde dieser Bereich für mich. Schließlich braucht jede mittelgroße wissenschaftliche Organisationseinheit solche ‚Brückenköpfe‘ oder interne Dienstleister. Das beginnt mit der Teammanagement, der Organisation wissenschaft‐ licher Tagungen oder internationale Beziehungen, dem Fundraising, der Öffentlichkeitsarbeit und vielem mehr. Und wer könnte das alles besser sicherstellen, als jemand, der den Bereich Wissenschaft und Forschung von der Pike auf kennt, die administrativen Vorgänge zumindest rudimentär beherrscht und selbst effizient, verlässlich organisieren und mitgestalten kann? ! Letztlich habe ich gemerkt, dass meine Fähigkeiten und Erfahrungen in diesem Bereich solide und wirklich vorzeigbar sind. Das bestätigen selbst meine bisherigen Zeugnisse und Referenzen.“ 69 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="70"?> „Du klingst schon fast so überzeugend wie in einem Vorstellungsge‐ spräch“, meinte Amisha anerkennend und musste lachen. Sarah lächelte in einer Art Mischung aus Verlegenheit und Genugtuung. „Ja, aber ich klinge vermutlich nur deshalb überzeugend, weil ich mehr und mehr wirklich davon überzeugt bin. Und das Beste ist, ich könnte im wissenschaftlichen Bereich bleiben, vermutlich sogar im Umfeld meiner angestammten Disziplin, dem Bereich Umweltökologie und -politik. Auf einer passenden Stelle könnte ich mich vielleicht sogar auch inhaltlich und fachlich ein wenig mit einbringen und auf meine bisherigen Netzwerke zurückgreifen.“ „Wenn ich das richtig verstehe, hat das Coaching dich darin unterstützt, dich neu zu orientieren und aus eigenen, freien Stücken vielleicht einen neuen, vielversprechenden Weg einzuschlagen. Einen Weg zu finden, der herausführt aus dem, was du Sackgasse genannt hast. Aber hättest du das nicht ebenso ohne ein Coaching geschafft? “, wollte Amisha wissen. „Als Wissenschaftlerin würde ich sagen, mir fehlt für eine kluge Antwort die Vergleichsgruppe. Damit meine ich: Was gewesen wäre, bleibt immer hypothetisch. Möglicherweise wäre ich tatsächlich ohne Coaching auf diese Lösung gekommen. Aber ich denke, ich hätte dafür länger gebraucht und hätte mich allein mit mehr Bedenken, Zweifeln oder Grübeleien herumge‐ schlagen. Und noch etwas: Mit dem Coaching hat sich meine Einstellung und Bewertung geändert in Bezug auf meine bisherige Entwicklung. Zunächst habe ich gedacht, meine letzten Jahre in der Wissenschaft waren planlos und in Teilen vertane Zeit. Jetzt denke ich, dass ich auch ohne stringenten Plan eine wunderbare, erfüllende Zeit hatte und viel Gutes und Nützliches gelernt habe. Und dass ich mit diesem Hintergrund recht gute Voraussetzungen mitbringen werde für den neuen Weg, der vor mir liegt.“ „Das klingt doch gut und zuversichtlich“, meinte Amisha anerkennend. „Was wirst du denn als Nächstes tun? “ „Als Erstes habe ich mir externe Unterstützung gesucht für die finale Konzeption meiner Dissertation. Dabei bin ich auf einige kleinere Schwach‐ stellen und noch offene Punkte gestoßen. Sobald mein Doktorvater wieder einigermaßen gesund auf der Matte steht, werde ich ihn mit einer überar‐ beitenden Version des ursprünglichen Konzeptes überraschen - ich hoffe positiv. Auch das war eine Erkenntnis aus dem Kontext des Coachings: Nicht warten, bis dir jemand zu Hilfe eilt, sondern Hilfe suchen und geeignete und 70 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="71"?> willige Menschen dazu anhalten, wenn du Unterstützung brauchst. Das Ziel ist, die Promotion so bald wie möglich erfolgreich abzuschließen. Parallel halte ich Ausschau nach geeigneten Stellen im Bereich Wissen‐ schaftsmanagement, nach Möglichkeit an einer Uni oder einem Forschungs‐ institut im Umfeld der Soziologie oder besser noch aus dem Umweltbereich. Schon bei der ersten Sichtung habe ich gesehen, dass da durchaus eine Nachfrage besteht. Und obendrein habe ich gesehen, dass viele der dort ausgeschriebenen Stellen nach einer ersten Probezeit sogar unbefristet sind. Davon kann man als Wissenschaftlerin im Forschungsbetrieb ja nur träumen.“ „Das klingt doch alles recht positiv und zuversichtlich“, meinte Amisha. „Wenn alles gut geht, könnte sich dann vielleicht auch deine persönliche und familiäre Planung noch einmal neu überarbeiten lassen. Ganz nach dem Motto von Oscar Wilde: ‚Am Ende wird alles gut! Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende‘“, meinte Amisha abschließend. Die vereinbarte Zeit war bereits um zwanzig Minuten überschritten. Dennoch plauderten die beiden bei einem letzten Cappuccino noch ein wenig über ihre jeweiligen Zukunftsaussichten und Perspektiven. Nach Amishas Dank für das kurzweilige und aufschlussreiche Interview und Sarahs freundlichen Gruß an Amishas Onkel Leo verabschiedeten sich die beiden und gingen wohlgelaunt ihrer Wege. 71 Sarah: Im Dschungel der Wissenschaft <?page no="73"?> Exkursion in die deutsche Wissenschaftsgeschichte Praktischerweise konnte sich Amisha mit Timo, ihrem nächsten Interview‐ partner, auch wieder in Berlin verabreden. Timo war für eine längere Veranstaltung am Berliner Forschungsstandort Adlershof angereist und nahm sich im Rahmen seines Aufenthaltes Zeit für ein persönliches Treffen mit Amisha. Da für den Tag ihrer Verabredung weniger gutes Wetter an‐ gekündigt war, entschied sich Amisha, für ihr Treffen einen geeigneten : in‐ nenraum zu finden. Dafür ließ sie die guten Kontakte ihres Onkels spielen und entschied sich schließlich für das Harnack-Haus in Berlin-Dahlem als ebenso wissenschaftshistorischen wie gastlichen Ort. Benannt nach dem Wissenschaftsorganisator Adolf von Harnack war diese Begegnungsstätte ursprünglich das Vortrags- und Gästehaus der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG), aus der später die Max-Planck-Gesellschaft hervorging. Bis in die 1940er-Jahre waren hier insgesamt 35 Nobelpreisträger aus aller Welt zu Gast; ein würdiger Ort also für ein Gespräch im Kontext von Wissenschaft und Forschung. Die in Berlin-Dahlem seit der Gründung nach und nach entstandenen Forschungsinstitute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurden seinerzeit als das „Deutsche Oxford“ tituliert. Hier wurde eigens für wissenschaftliche Koryphäen die entsprechende Infrastruktur mit Laboren, Arbeitsstätten, Konferenzräumen und Wohnvillen neu geschaffen, um - eben nach dem Vorbild Oxfords - erstklassige Forschung zu ermöglichen und lokal zu bündeln. Bereits damals gab es einen internationalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe und Wissenschaftler, nicht nur durch die 1901 erstmals vergebenen Nobelpreise und deren Prestige. Damit verbunden war ein Wettstreit der Nationen in Europa, insbesondere zwischen den Rivalen Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Zu diesem Zweck wurde Dahlem als zentraler Wissenschaftsstandort in Deutschland auf dem weitläufigen Gelände eines vormaligen Rittergutes, der Domäne Dahlem, seit 1901 als Villenkolonie und Wissenschaftsstandort geplant und entwickelt. Bereits 1913 wurde Dahlem im Zuge dieser Planun‐ gen an die dort oberirdisch verlaufende U-Bahn angeschlossen. <?page no="74"?> Wenn man so will, war das großflächige Areal als ein nationaler Hot‐ spot der Wissenschaften konzipiert, eine Art „Silicon Valley“ des frühen 20. Jahrhunderts. Viele sich ergänzende Naturwissenschaften waren hier in nächster Nähe gebündelt. Schließlich sollten durch die räumliche Verbin‐ dung der Institute und Labore innovative Synergieeffekte für die Naturwis‐ senschaften entstehen, um nicht zuletzt die Industrialisierung durch neue Erkenntnisse, Verfahren und Methoden zu befördern. Diese Art strategischer Planung wissenschaftlicher Infrastruktur und Exzellenzförderung wird noch heute nach dem preußischen Wissenschaft‐ sorganisator und Mitbegründer der KWG als „Harnack-Prinzip“ benannt und vor allem durch die Max-Planck-Gesellschaft praktiziert. Dank der laufenden Semesterferien war das Harnack-Haus als Begeg‐ nungsstätte gerade kaum besucht und die verantwortlichen Organisatoren fanden sich gerne bereit, Amisha im nun fast verwaisten Wintergarten einen kleinen Zweiertisch für ihr Gespräch zu reservieren. Noch bevor die ersten Regentropfen zu erwarten waren, traf sich Amisha mit Timo jedoch zunächst am U-Bahnhof Freie Universität/ Thielplatz. Nach einer kurzen Begrüßung unternahmen sie auf Amishas Vorschlag hin zunächst einen kleinen Spaziergang durch diesen historischen Wissen‐ schaftsstandort. Dabei half ihnen die wunderbare und kostenfreie App „DahlemTour Berlin Audioguide“. Für gute 45 Minuten führte sie dieser Audioguide zu den Wirkungsstätten vormaliger Nobelpreisträger wie Otto Hahn, Lise Meitner, Werner Heisenberg, Fritz Haber und vielen anderen Wissenschaftsgrößen, die dort bis zur Machtergreifung der Nationalsozia‐ listen ihren Forschungen nachgingen und fleißig miteinander im Austausch waren. Dabei kamen sie unter anderem am mittlerweile recht maroden, vorma‐ ligen Physikalischen Institut vorbei, dem Albert Einstein für einige Zeit als Direktor vorgestanden hatte. Lange vor Einsteins Immigration in die USA gab er die operative Leitung jedoch an einen befreundeten Nobelpreiskol‐ legen ab, weil ihm selbst die Leitung und Organisation eines Institutes zu sehr von der wissenschaftlichen Arbeit und dem internationalen Austausch abhielt. All das erfuhren sie durch den kurzweiligen Audioguide. „Wissenschaftsmanagement und Administration ist also nicht jeder‐ manns Sache. Vielleicht gerade auch für die ganz großen Talente“, fasste Timo das soeben Gelernte mit einem erkenntnisbedingten Lächeln zusam‐ men. „Da hat sich Einstein also lieber mit seinem kleinen Arbeitszimmer als Homeoffice in seiner Schöneberger Wohnung und seinen weltweiten Reisen 74 Exkursion in die deutsche Wissenschaftsgeschichte <?page no="75"?> begnügt, als sich einen Managerposten aufdrängen zu lassen“, kombinierte Timo aus den für ihn neuen Informationen. „Und da war er nicht alleine“, ergänzte Amisha. „Ich habe neulich ei‐ nen kurzen Beitrag über den Polarforscher Alfred Wegener gelesen, den Begründer der Theorie der Kontinentalverschiebung. Der war lieber auf Expeditionen in Grönland unterwegs, als im Büro zu sitzen oder in warmen Hörsälen seine Vorlesungen zu halten.“ Nach diesem informativen Spaziergang nahmen sie ihren behaglichen Platz im Wintergarten des Harnack-Hauses ein und Amisha konnte mit ihrem Interview beginnen. Gerade als sie dafür ihren Fragenkatalog zu Hand nahm, merkte sie, dass Timo nachdenklich und abwesend aus der großen Festfront hinaus auf den Garten schaute. „Was ist los? “, fragte Amisha, „du wirkst so nachdenklich.“ „Ich dachte gerade an die Zeit der Wissenschaften hier in Dahlem. Von etwa 1915 bis zu Hitlers Machergreifung stand die Wissenschaft an diesem Ort ja wirklich auf einem absoluten Höhepunkt. Wer hier alles geforscht hat und wie der Austausch funktionierte mit Gästehäusern und -wohnun‐ gen und den zahlreichen Nobelpreisträgern, die zum Teil selbst in ihren Forschungsvillen wohnten, Gäste aus aller Welt einluden, sie bewirteten und wissenschaftlich mit ihnen arbeiteten und austauschten. Das klingt nahezu traumhaft.“ „Bis dann der Nationalsozialismus kam, und die freie, unvoreingenom‐ mene und kooperative Forschung weitgehend ihr Ende fand“, ergänzte Amisha. „Woran ja auch ein Teil der Wissenschaft selbst durch vorausei‐ lenden Gehorsam, Naivität und manchmal durch die dumpfe Gesinnung mitgewirkt hatten. Schließlich wurde - wie wir gerade gelernt haben - hier unter anderem die Forschung zu Rassenhygiene und Eugenetik betrieben, die bereits in der Weimarer Republik angetreten war, die unterstellte Gefahr der ‚Degeneration‘ des deutschen Volkes abzuwenden. Nicht weit von hier, in der Mensa der Freien Universität, steht übrigens ein kaum beachtetes, aber bemerkenswertes Denkmal. Es ist eine Skulptur aus den 1980er-Jahren mit dem etwas makabren Namen ‚Aufbruch - Mit Adolf Hitler für des deutschen Volkes Ehre, Freiheit und Recht! ‘ oder so ähnlich“, berichtete Amisha. „Nach Vorlage eines historischen Fotos von 1933 zeigt diese Plastik die öffentliche Kundgebung angesehener Professoren für das NS-Regime. Mit dabei waren damals deutsche Wissenschaftsgrößen wie Heidegger, Sauerbruch und einige andere angesehene Hochschullehrer: in‐ nen aus allen Teilen des Landes. Schließlich unterzeichneten fast eintausend 75 Exkursion in die deutsche Wissenschaftsgeschichte <?page no="76"?> Hochschullehrer: innen stellvertretend für über fünfundzwanzig Universitä‐ ten ihr Bekenntnis zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. Man sieht: Selbst ein Teil der Wissenschaft hat sich in diesem dunklen Kapitel der deutschen Zeitgeschichte alles andere als mit Ruhm bekleckert oder sich zumindest etwas naiv und entrückt vom Nationalsozialismus vereinnahmen lassen.“ „Und dann kam der Rassenwahn, die Verfolgung der Juden und deren Vertreibung, der Despotismus und schließlich der Holocaust“, ergänzte Timo. „Es waren ja nicht nur die wissenschaftlichen Leuchttürme wie Fritz Haber und Albert Einstein, die aufgrund der Judenverfolgung emigrieren mussten. Allein aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurden über hundert Wissenschaftler diskriminiert, geächtet, vertreiben; einige später sogar de‐ portiert und ermordet. Bei all dieser Diskriminierung und Unmenschlichkeit haben sich schließlich doch sehr viele ihrer ‚arischen‘ Kollegen aus der Wissenschaft nicht unbedingt als engagierte Verteidiger ihrer jüdischen Kollegen oder gar als Helden erwiesen. Ich begann mir eben auszumalen, was aus Deutschland und speziell aus Dahlem als Wissenschaftsstandort hätte werden können, wenn es diesen dumpfen braunen Mopp und das vermeintlich ‚Tausendjährige Reich‘ nicht gegeben hätte.“ „Ja, und dann wundert man sich, dass in Deutschland und anderenorts braunes Nazigedankengut wieder populär wird mit der unter anderem Stig‐ matisierung und Diffamierung jüdischer Mitbürger einhergeht“, ergänzte Amisha. „Um wissenschaftlich zu argumentieren: Vielleicht korreliert dieser chau‐ vinistische Trend damit, dass der Intelligenzquotient in der westlichen Welt seit 20 Jahren rückläufig ist. Zumindest sagen das einige ernstzunehmende Studien“, warf Timo ein. „Das würde in der Tat einige dieser äußerst dummen Tendenzen erklären“, pflichtete Amisha bei. „Aber ich fürchte, uns läuft ein wenig unsere knapp bemessene Zeit davon“, mahnte sie. „Ich wollte dir ja noch ein paar möglichst kluge Fragen stellen, zu unserem eigentlichen Thema, der Arbeit in der Wissenschaft heute.“ 76 Exkursion in die deutsche Wissenschaftsgeschichte <?page no="77"?> Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht Nach diesem kleinen Ausflug in die deutsche und Berliner Wissenschafts‐ geschichte begann Amisha ihr drittes Interview. „Lass mich zunächst aus unserem Vorgespräch noch einmal kurz deine Vita zusammenfassen: Nach dem Abi hast du an der TU Dresden Biover‐ fahrenstechnik studiert und nach stolzen zehn Semestern abgeschlossen. Zwischendurch warst du im Rahmen des europäischen Erasmus-Programm für ein Semester an der TU Graz in Österreichs schöner Steiermark.“ „Korrekt! “, bestätigte Timo kurz. „Meine ersten Fragen dazu: Warum hat dein Studium so lange gedauert und was genau hat dich nach Graz verschlagen? “, wollte Amisha wissen. „Nun, Verfahrenstechnik ist schon ein komplexes Fachgebiet, das Fächer wie Werkstofftechnik, Chemie, Physik, Biochemie und Ingenieurswissen‐ schaften vereint mit dem Schwerpunkt Bioverfahrenstechnik. Daher ist die Regelstudienzeit auf zehn Semester angelegt. Die meisten Studierenden brauchen sogar etwas länger, denn der Lernstoff ist in der Fülle schon sehr anspruchsvoll. Und Graz hat mich gereizt, weil die Technische Universität dort einen ähnlichen Studiengang anbietet, der ergänzend und anschlussfähig war zu meinem Diplomstudiengang.“ „Diplomstudiengang? “, hakte Amisha nach. „Ich denke, es gibt nur noch Bachelor- und Master-Studiengänge in Europa.“ „Weit gefehlt! “, korrigierte Timo. „Es gibt einige eher konservative Fach‐ richtungen wie Medizin, Jura oder eben die Ingenieurstudiengänge, bei denen die Bologna-Reform noch nicht umgesetzt ist. Aus Sicht etwa der Technischen Universitäten machen die vermeintlichen Errungenschaften der Bologna-Reform für sie nicht viel Sinn. Zudem ist ein ‚Dipl.-Ing.‘ mit seiner Kompaktheit und Qualität über viele Jahrzehnte fast zu einem internationalen Markenzeichen geworden. Darauf wollen viele der deutsch‐ sprachigen Technischen Universitäten nicht verzichten. Also haben Diplom‐ studiengänge weiter Bestand, in Dresden ebenso wie in Graz. Graz hat mich gereizt, weil ich einmal über den deutschen Tellerrand hin‐ ausschauen wollte. Zudem ist die Steiermark echt cool. Die Landschaft, das Essen und die Menschen. Weißt du, die Österreicher: innen sind irgendwie <?page no="78"?> gut drauf. Die Menschen dort sind freundlicher, verbindlicher, gleichzeitig aber lockerer und offener - zumindest die meisten. Wenn zum Beispiel ein Dozent ein gutes Seminar oder einen interessanten Vortrag gehalten hat, gibt es Teilnehmer, die sich persönlich bei dem Vortragenden bedanken. So etwas habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Zudem ist die TU in Graz mit etwa der Hälfte der Studierenden kleiner als die TU Dresden, dafür aber auch familiärer, wenn man so will. Und immerhin liegt die TU Graz im internationalen Universitätsranking deutlich im oberen Drittel. Das kommt ja nicht von ungefähr. Nach einem Semester wäre ich am liebsten gleich dageblieben. Aber meine Freundin ist familiär und beruflich an Deutschland gebunden. Also bin ich wieder zurückgekommen.“ „O.k., das hört sich überzeugend an! “, bescheinigte ihm Amisha. „An‐ schließend an dein Diplom hast du - ich denke zur Freude deiner Lebensge‐ fährtin - dann im ‚Elb-Florenz‘ Dresden an einem Leibniz-Institut innerhalb von dreieinhalb Jahren zum ‚Dr.-Ing.‘ promoviert“, ergänzte Amisha Timos Lebenslauf. Und dort bist du jetzt seit zwei Jahren als PostDoc beschäftigt.“ „Exakt! Gut gemerkt und zusammengefasst! “, lobte Timo. „Das klingt doch alles sehr rund und gut“, folgerte Amisha. „Was war denn dann dein Grund, in dieser komfortablen Situation ein Coaching zu erwägen? “ „Komfortabel war meine Situation schon,“ bekannte Timo. „Meine Pub‐ likationsplan war realistisch, die Arbeit machte Spaß, ebenso wie die Betreuung eines Masterstudierenden und einer jungen Doktorandin, mit der ich eng zusammenarbeitete. Was mich als PostDoc aber gestört hat, war das Thema ‚Führung aus der zweiten Reihe‘. Damit meine ich, dass ich meine Masterstudierenden und die mir zugeteilte Doktorandin zwar als Betreuer führen sollte, irgendwie aber auch nicht. Dein Onkel nennt das die, in der Wissenschaft beinahe typische, Rolle als ‚Führungszombie‘. Diese Funktion ist nicht Fisch, nicht Fleisch, du bist also nicht richtig lebendig als Führungskraft, andererseits aber nicht völlig leblos. Für alles Formale und Offizielle ist mein Abteilungsleiter zuständig. Und damit läuft die Führung der Betreuten oft aneinander vorbei. Für manche meiner Schützlinge bin ich eher eine Art Sherpa als eine echte Führungskraft. Wir Ingenieure sagen dazu: Ein echter ‚Halbleiter‘. In der Industrie und Wirtschaft sich solche Führungsstrukturen und -prozesse sehr viel klarer geregelt. Das spart viele Missverständnisse und 78 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="79"?> Frust bei allen Beteiligten. Weit darüber hinaus war aber eher die berufliche Gesamtsituation für mich eher wenig überzeugend. Kennst du im Übrigen die Hashtag-Aktion #IchBinHanna? “, wollte Timo wissen, der sich gerade selbst unterbrach. „Klar! “, meinte Amisha. „Da hat doch das Deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung ein animiertes Video verbreitet, das weitgehend unbeachtet seit 2018 im Netz stand. Das habe ich mir gerade vor ein paar Tagen noch einmal auf YouTube angeschaut. Da wird anhand der virtuellen Biologin Hanna beschrieben, wie das sogenannte Wissenschafts‐ zeitvertragsgesetz funktioniert. Es sagt aus, wie angeblich gut, flexibel und zielführend es ist, dass es in der Forschung immer nur Zeitverträge gibt und wenig feste Stellen. Das sei gut, weil somit ja nicht bestimmte Altersjahrgänge die in der Wissenschaft begehrte und rare Dauerstellen blockieren. So nach dem Motto: Wie schön ist es, ständig prekär beschäftigt zu sein. Das Video war insofern echt krass! Klar, jeder weiß, dass der komplette Wissenschafts- und Forschungsbe‐ trieb letztlich eine riesige Ausbildungsmaschinerie ist. Und wie in jedem Ausbildungsbetrieb müssen die fertigen Auszubildenen, die zum Gesellen oder Meister aufsteigen, in einen anderen Betrieb wechseln oder, wie in Handwerksbetrieben selbst heutzutage noch anzutreffenn für ein paar Jahre auf die Walz gehen, auf Wanderschaft. Aber muss man denn die Knappheit der Dauerstellen in der Wissenschaft derartig euphemistisch ausschmücken, dass es für die Betroffenen beinahe zynisch wirken muss? “ „Ja, genau! “, führte Timo weiter aus. „Das kann man sich nur damit erklären, dass sich ein scheinbar unbedeutendes Land wie Deutschland erlaubt, um die Zeit der Veröffentlichung dieses Videos eine immerhin liebe und rechtschaffende Bank- und Hotelfachfrau zur Ministerin zu machen, die damals für Wissenschaft und Forschung zuständig war. Hauptsache, sie hatte das richtige Parteibuch und die notwendigen Meriten erworben, als brave ‚Parteisoldatin‘, auf der anderen Seite aber offensichtlich kein Feeling für Wissenschaft und deren Rahmenbedingungen. Absolut unver‐ ständlich, warum dies seinerzeit die damalige Kanzlerin Merkel zulassen konnte; zumal sie ja selbst promovierte Wissenschaftlerin ist. Und das Ganze passierte noch 2018, als im Wissenschaftsbereich durchaus einige handfeste Herausforderungen zu bewältigen waren. Echt unglaublich! “ „Das sehe ich genauso! “, pflichtete Amisha bei. „Später gab es wegen des Videos einen riesigen Aufschrei in der Community, besonders bei den 79 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="80"?> Doktorand: innen, den PostDocs, den Juniorprofessor: innen und ähnlich prekär Beschäftigten. Und schwuppdiwupp war das skurrile Video von den Seiten des Ministeriums verschwunden. Dennoch lebte und lebt das Hashtag #IchBinHanna weiter und ist anschließend auch in Österreich und der Schweiz angekommen, wo die Restriktionen ja ähnlich sind. Und gerade hier in Berlin schlagen die Wellen aktuell noch höher. Vor einiger Zeit ist die Präsidentin der Humboldt-Universität zurückgetreten, weil der rot-rot-grüne Senat ihr ein neues Berliner Hochschulgesetz ins Nest gelegt hat. Es enthält nun Regelungen, die eine Universität zwar in Richtung Handlungsunfähigkeit treibt, aber immerhin ein paar Vorteile bringen soll für einen Teil des Nachwuchses. Alles irgendwie nicht richtig durchdacht, wie so oft in der Bildungspolitik.“ „Ja, die Diskussion um das Hashtag und die beruflichen Perspektiven in der Wissenschaft haben auch bei mir ein grundsätzliches Nachdenken bewirkt“, bekannte Timo, „und dies aus zwei Gründen: Eigentlich bin ich mit meiner Arbeit als PostDoc wirklich sehr zufrieden. So könnte es gerne noch zehn oder zwanzig Jahre weitergehen mit der Art meiner Arbeit und meinen Aufgaben - aber leider nur in der Theorie. Andererseits fehlt mir bei näherem Hinsehen eine echte berufliche Perspektive. Denn wer im Forschungsbereich eine Dauerstelle anstrebt, hat ja nach wie vor nur begrenzte Möglichkeiten. Ich bin jetzt 31 Jahre alt. Meine Freundin ist drei Jahre älter und wir denken öfter und zunehmend daran, eine Familie zu gründen. Wer eine wissenschaftliche Karriere also vom Ende her denkt, wird eine Habilitation anstreben oder eine vergleichbare Qualifikation und den Wettbewerb wa‐ gen, um die wenigen offenen Stelle, die es gibt; also um Dauerstellen oder gar eine Professur. Wer sich darauf einlässt, muss bereit sein, zumindest zeitweilig zum reisenden Marketender zu werden: Hier ein Auslandsaufenthalt, dort eine Zwischenstation, später vielleicht der Fokus auf eine Berufung im Ausland oder einer anderen Stadt. Hier ein Jahresvertrag, dort ein zweijähriges Projekt mit der paradiesischen Option auf ein weiteres halbes Jahr der Verlängerung. Meine Freundin hat mir klar gemacht, dass sie nicht vorhat - zumal später vielleicht mit Kindern im Gepäck - mir und meinen zeitlich befristeten Jobs ständig hinterher zu reisen und immer wieder die Zelte abzubrechen. Allein schon das gute halbe Jahr in Graz hat mir schließlich zudem gezeigt, wie belastend eine Fernbeziehung sein kann. 80 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="81"?> Dein Onkel hat mal einen coolen Spruch rausgehauen. Er meinte in etwa: ‚Die Arbeit im Wissenschaftsbetrieb bedeutet für die meisten Nach‐ wuchswissenschaftler: innen die Einlassung auf eine Art Knechtschaft im gegenseitigen Einvernehmen! ‘“ „Wie ist denn das gemeint? “, wollte Amisha wissen. „Das klingt ja schon etwas zynisch“. „Klingt zynisch, ist aber nüchterne Realität“, korrigierte Timo. „Bereits in der Promotionszeit bedeutet die Arbeit in der Forschung für viele in der Regel deutlich mehr als die berühmten 40 Stunden pro Woche. Und das immer mit dem Damokles-Schwert befristeter Verträge. Wenn dann der Erfolg ausbleibt oder nur mäßig ausfällt, bringt es dir kaum echte Bonuspunkte oder ein Highlight im Lebenslauf. Wenn dagegen alles wirklich glatt läuft, bringt es beiden Seiten was. Dein Chef und dein Forschungsinstitut bessern mit deiner Forschung und deinen Publikationen ihre Liste vorzeigbarer Leistungen auf. Oder sie profitieren indirekt später von den Drittmitteln, die du durch deine Forschungsanträge eingeworben hast. Und auch du bekommst nutzbringende Credit Points für deine Zukunft, etwa einen Abschluss, einen Doktortitel oder andere Goodies. Das ist insofern eine Win-Win-Situation - frei nach deinem Onkel eben auf der Basis von ‚gegenseitigem Einvernehmen‘.“ „Ich verstehe! “, ergänzte Amisha ein. „Das ist wie bei meinem Cousin Ulf. Der arbeitet als BWLer bei einer Unternehmensberatung und Wirt‐ schaftsprüfungsgesellschaft. Ulf lebt mehr im Hotel als zu Hause. Nebenbei macht er noch - sogar unterstützt vom Arbeitgeber - seine Ausbildung als Steuerprüfer. Ich denke, der kommt auf gut 60 Wochenstunden, hat also einen echten Knochenjob. Aber wenn er damit durch ist, dann ist er fertiger Steuerprüfer mit vorzeigbarer Berufserfahrung und hat damit - wie er selbst sagt - die ‚Lizenz zum Gelddrucken‘. Nun ja, so eine Tretmühle muss man halt wollen“, warf Amisha ein. „Ja, genau! “, bestätigte Timo. „Und bei Fachärzt: innen und manch anderen Berufen ist das genauso. Ich glaube, wenn man so eine Art Karriereziel hat, ist das vielleicht durchaus belastend, aber immerhin ein irgendwie fairer oder zumindest transparenter Deal. Aber ich frage mich: Will ich das? Und wie lange will ich das? Bei Steuerprüfer: innen oder Fachärzt: innen ist so eine prekäre Phase ja irgendwie überschaubar und planbar. In der Wissenschaft jedoch nicht. Da kann es sein, dass du fünf, sechs oder mehr Jahre ackerst und am Ende dennoch mehr oder weniger leer ausgehst. 81 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="82"?> Ich liebe die Arbeit in der Wissenschaft. Aber ich selbst fühle mich dort vom System eher ungeliebt und wertgeschätzt. Wenn ich nicht gut genug performe, werde ich irgendwann einfach aussortiert, oft eher klammheim‐ lich als offen. Und wenn es dann so weit ist, gibt es keineswegs - wie etwa wie in der Wirtschaft - den sogenannten goldenen Handschlag, also eine nennenswerte Abfindung. Ich fühlte mich manchmal wie ein verliebter Jungspund, der am Wiesen‐ rand sitzt und als Orakel ein Gänseblümchen zerpflückt: ‚Sie liebt mich, sie liebt mich nicht …‘. Wenn ich dann das Pro und Contra abwäge, liegen die meisten der abgezupften Blütenblätter auf dem Contra-Häufchen. Durch seine methodische Unterstützung hat mir mein Coach geholfen, eine nüchterne Analyse meiner Situation anzustellen, die valider, reliabler und praktikabler ist als die Gänseblümchenmethode.“ „Wie das? “, fragte Amisha und grinste. „Hat er dir etwa einen Strauß zertifizierter Gänseblümchen serviert? “ „Nein, natürlich nicht! “, entgegnete Timo ein wenig streng. „Er hatte eine nette kleine Übung zur Hand, die sich SWOT-Analyse nennt. Der Name ist ein Akronym aus den englischen Wörtern Strengths, Weaknesses, Opportunities und Threats, also auf Deutsch: Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken. Es ist nicht anderes als eine erweiterte und systematische Kosten-Nutzen-Analyse.“ „Und wie funktioniert das? “, fragte Amisha aufrichtig interessiert. „Das ist ganz einfach“, erläuterte Timo. „Wenn du eine Entscheidung treffen willst, klärst du zunächst die möglichen Optionen. Bei mir war das etwa: Ich strebe eine Karriere in der Wissenschaft an, ich wechsle in die Wirtschaft oder ich mache mich als Gutachter im Bereich Umweltverträg‐ lichkeit selbstständig. Das waren die naheliegenden Perspektiven. Dann habe ich für alle drei Varianten erst einmal jeweils eine SWOT-Ana‐ lyse gemacht. Und ich habe gemerkt, dass eine gründliche Analyse dieser Optionen einen vor sogenannten blinden Flecken schützt, also davor, ge‐ wisse kritische oder aber positive Aspekte einfach zu übersehen.“ „Und zu welchem Ergebnis bist du schließlich gekommen? “, fasste Amisha nach. „Immer langsam mit den jungen Pferden! “, mahnte Timo. „Nachdem ich ganz unvoreingenommen die verschiedenen Ergebnisse vor Augen hatte, hat mir dein Onkel eine Checkliste angeboten zu meinen Werten und Motivationsankern. Dazu sollte ich beurteilen, welche Kriterien für mich besonders wichtig sind, etwa: wirtschaftliche Sicherheit, Freiräume und 82 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="83"?> selbstbestimmtes Arbeiten, Kreativität, Status, Führungsverantwortung und nicht zuletzt das Kriterium Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder analog Privatleben und Beruf. Bei all diesen Kriterien sollte ich danach auf einer Skala von eins bis fünf bewerten, wie wichtig sie für mich sind. In einer zweiten Runde habe ich dann die Erkenntnisse aus der SWOT-Analyse mit meinen persönliche Wertekriterien abgestimmt. So konnte ich sehen, bei welcher Option welche der eher wichtigeren Kriterien erfüllt waren oder wo sie meinen Wertvorstellungen tendenziell entgegen‐ standen. Et voilà, ich war mir plötzlich doch recht sicher, was ich tun wollte und sollte. Und dieses Mal nicht nur mehr intuitiv, sondern ebenso kognitiv und bestmöglich objektiviert. Eine gute Entscheidung braucht schließlich immer ein gutes intuitives Bauchgefühl und eine ebenso gute kognitive Grundlage.“ „Das hört sich gut an“, meinte Amisha. „Das werde ich auch einmal machen, weil ich meine nächste Zukunftsplanung selbst gerade überdenke und zurzeit mit drei Varianten jongliere.“ Sie erzählte Timo kurz ihre Optionen. „Aber lass uns zurückkommen zu dir und deinem Coaching. Wie hast du dich letztlich entschieden? “ „Ich habe mich dafür entschieden, mein derzeitiges Projekt und die damit angestrebten Publikationen abzuschließen und zu beenden. Dafür habe ich mir noch etwa ein Jahr genommen. Anschließend möchte ich in den industriellen Anwendungsbereich wechseln, am liebesten irgendetwas im Umweltkontext. Weißt du, Wissenschaft und Forschung sind ein super Arbeitsfeld. Aber noch lieber würde ich gerne Verfahren, Methoden oder Produkte entwickeln, die unmittelbar zur möglichst nachhaltigen Umset‐ zung und Anwendung kommen. In meinem Bereich Bioverfahrenstechnik gibt es viele coole Produkte und Anwendungen in der Industrie, im Dienst‐ leistungsbereich oder bei Start-ups. Da hätte ich echt Lust drauf. Ein anderes wichtiges Argument ist für mich meine Partnerschaft und der dazugehörige Kinderwunsch. Wenn ich mir ein neutrales und wohlwollen‐ des Feedback hole, dann sagt man mir, dass ich durchaus wissenschaftliches Talent habe. Aber Talent an sich reicht ja nicht. Ich müsste mich noch intensiver und länger in diesem kompetitiven System aufreiben, ohne das klar ist, ob und wie sich das gegebenenfalls lohnen wird. Manche Forschungseinrichtungen nennen das ja so schaurig-schön ‚Wett‐ bewerb um die besten Köpfe‘ oder etwas drastischer im Englischen ‚War for Talents‘. Da heißt es bei all den Kopfjägern nicht zwischen die Fronten oder 83 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="84"?> ganz aus dem Fokus zu geraten. Dieses Spiel muss man entweder lieben oder zumindest erduldend in Kauf nehmen. Ich aber will für mich noch etwas anderes. Tendenziell möchte mittelfris‐ tig eher eine 40-Stunden-Woche mit Zeit für die Familie, meine Eltern, die auch nicht mehr so jung sind, oder für die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe Umweltpolitik meiner Partei, in der ich seit drei Jahren Mitglied bin. Anfang nächsten Jahres - das sind ja nur noch knappe sechs Monate - werde ich deshalb mit der Stellensuche beginnen. Bis dahin hübsche ich noch meine Bewerbungsunterlagen auf und bereite entsprechende Bewerbungsschreiben vor.“ „Dann also meine traditionell letzte Frage“, kündigte Amisha an. „Was waren für dich die wichtigsten Lern- und Erfahrungsschritte im Umfeld deines Coachings? “ „Erstens das Thema Zukunftsplanung nicht zu sehr hinten anzustellen“, begann Timo. „Ich kenne Kolleginnen, die nach zehn oder mehr Jahren in der Forschung plötzlich und scheinbar unerwartet feststellen, dass ihr letzter Arbeitsvertrag in drei Monaten ausläuft. Manche von ihnen sind fachlich echt gut, begeistert bei der Sache aber vor lauter Enthusiasmus lebensprak‐ tisch irgendwie verpeilt. Das halte ich mit Blick auf die eigene Zukunft und das eigene persönliche Umfeld für naiv, fahrlässig und gefährlich. Manche haben dabei weder einen echten Plan, geschweige denn einen alternativen Plan B für den Fall, dass in der eigentlichen Wissenschaft keine realistische Zukunft geben wird.“ Timo fuhr fort: „Zweitens ist ein Coaching sehr hilfreich dafür, herauszu‐ finden, welche Kriterien eigentlich entscheidend sind, um die richtige Wahl zu treffen. Die Gespräche mit meinem Coach und dessen Tools waren für mich jedenfalls sehr wertvoll. Sicher hätte ich einige Selbstanalysen, Checklisten und Tools in Büchern oder gar im Internet finden können. Aber für die am besten zu mir passenden und für mich persönlich tatsächlich nützlichen Hilfsmittel hätte ich eine ganze Zeit suchen und aussortieren müssen. So hat alles von vorneherein gepasst - sozusagen ‚tailor made‘. Jetzt fühle ich mich jedenfalls sicher und wohl mit meiner Entscheidung und habe eine klare Vorstellung davon, was als Nächstes zu tun ist.“ „Wieviel Zeit hat dein Coaching denn in Anspruch genommen? “, wollte Amisha abschließend wissen. „Ich hatte mit meinem Coach vier Verabredungen. Den ersten als Präsenz‐ termin hier in Berlin und dann noch weitere drei Termine im Online-Modus. 84 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="85"?> Insgesamt kamen wir auf etwa fünf Zeitstunden in einem Zeitraum von drei Monaten. Damit waren wir dann komplett. Ein Punkt aber noch zum Schluss, damit ich ihn nicht vergesse. Auch das ist mir im Coaching noch klarer geworden: Meine Zeit in der Wissenschaft war spannend und erfüllend. Ich habe viel gelernt und nehme sehr viel mit. Wenn ich mich heute entscheiden müsste, würde ich den Weg in die Wissenschaft wieder gehen. Aber alles hat seine Zeit. Jetzt braucht es für mich einen neuen Lebensabschnitt.“ Amisha und Timo saßen noch eine Weile im gastlichen Wintergarten des Harnack-Hauses und sprachen über ihre verschiedenen Entscheidungs‐ situationen. Als sich Timo aufmachen musste zu seiner Abendveranstaltung am Wissenschaftsstandort Adlershof, brachen beide nach einer freundlichen Verabschiedung gemeinsam auf. Amisha freute sich, ihre Erkenntnisliste am Abend zu Hause vervollstän‐ digen zu können. 85 Timo & #Hanna: Sie liebt mich - sie liebt mich nicht <?page no="87"?> Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer Nachdem Amisha ihre Erkenntnistabelle vervollständigt hatte, begann sie, das nächste Interview zu planen. Hierzu nahm sie Kontakt zu Viktoria auf. Auch diesen hat ihr ihr Onkel Leo vermittelt. Viktoria arbeitete im Norden Deutschlands an einem Forschungszentrum für Ozeanforschung als Leiterin einer Forschungsabteilung. Sie hatte sich bereit erklärt, sich aus dem bekannten Anlass mit Amisha in Kiel oder Umgebung zu treffen. Amisha wollte diese Verabredung aus praktischen Gründen mit einem Besuch von Freunden an der Ostsee verbinden. Vor einiger Zeit hatte Amisha gelernt, dass, um endlich einmal Kalifornien besuchen zu können, auch ein Kurztrip nach Schleswig-Holstein ausreichte. So ging es mit dem Zug nach Kiel und weiter mit dem Bus zu ihren dort lebenden Freunden ins Ostseebad Schönberg. Von dort war es fast ein Spaziergang zum Ortsteil „Kalifornien“. Vielleicht war dieses Ziel nicht ganz so spektakulär wie das nordamerikanische Pendent am Pazifik, aber dennoch ein schönes Plätzchen, um mit guten Freunden am Strand der Ostsee zu verweilen. Auf der Rückfahrt nach Berlin traf sich Amisha mit Viktoria in einem netten kleinen Café am Kieler Innenhafen, unweit des Hauptbahnhofes. Da sie sich beide für ihre Verabredung bereits telefonisch kennengelernt hatten, kamen sie schnell zum Thema ihres Austausches und gingen nahezu ebenso schnell zum persönlicheren Du über - gleichwohl Amisha um gute zehn Jahre jünger war. Viktoria meinte, dies sei angemessener, wenn sich zwei Wissenschaftlerinnen, egal welchen Alters, über das Thema Wissen‐ schaft unterhielten. Viktoria hatte nach ihrem Abitur zunächst in Hannover allgemeine Geologie studiert. Schon immer hatte sie aber eine große Affinität für das Meer und seine Küsten. Bereits nach zwei Semestern war sie deshalb an die Universität Kiel zum Fach Ozeanographie mit Schwerpunkt physikalische Ozeanographie gewechselt und hatte ihr Studium dort abgeschlossen - seinerzeit noch mit einem Diplom. „Nach meinem Studium wurde es dann richtig turbulent“, berichtete Viktoria. „Zunächst folgte die Promotion am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, kurz AWI. Anschließend war ich für zwölf Monate zu einem ‚Postdoctoral Fellowship‘ an der Columbia <?page no="88"?> University in New York. Dann ging es zum Leibniz-Institut für Ostseefor‐ schung in Rostock-Warnemünde mit ersten Lehrerfahrungen an der Uni Rostock. Zwischendurch zwei Gastaufenthalte in Australien und Frankreich und seit drei Jahren hat es mich jetzt wieder in Kiel verschlagen.“ „Zunächst einmal: Was ist ein Postdoctoral Fellowship? “, wollte Amisha wissen. „Das ist sozusagen ein Stipendium für Wissenschaftler etwa nach der Promotion oder später im Umfeld einer Habilitation“, antworte Viktoria. „Meist wird das in Deutschland etwa vom Deutschen Akademischen Aus‐ tauschdienst finanziert - kurz DAAD - oder von der Deutschen Forschungs‐ gemeinschaft, abgekürzt DFG. Aber es gibt auch Stipendien von der Europäi‐ schen Gemeinschaft oder von forschungsfördernden Stiftungen. Mitunter gibt es auch Stipendien der gastgebenden Universitäten im Ausland. Mein Stipendium wurde vom DAAD finanziert. Das Ziel solcher Stipendien liegt darin, in maßgeschneiderten For‐ schungsprojekten junge Wissenschaftler: innen nach der Promotion neben den fachspezifischen Belangen auch in universellen Fähigkeiten zu fördern, wie etwa in ihrer internationalen oder interdisziplinären Kompetenz.“ „Dann hast du ja in deiner Zeit nach deinem Studium wirklich viel gelernt, sehr viel erlebt und viel erreicht“, meinte Amisha anerkennend. „Und jetzt leitest du knapp über Mitte 30 eine Forschungsabteilung mit immerhin zusammen neun PostDocs, Promovierenden und Technikern - Respekt! “ „Ja“, bestätigte Viktoria. „Ich hatte bisher und habe noch ein sehr beweg‐ tes, spannendes und wirklich lehrreiches Leben in der Wissenschaft, indem es zuweilen auch recht turbulent zugeht. Hinzu kommen ja auch noch die zahlreichen kleineren, mittleren und größeren Expeditionen, von denen ich zwei mittlere und eine größere als Expeditionsleiterin organisieren und führen durfte. Letztes Jahr war ich sogar für drei Monate als Gastwissenschaftlerin Teilnehmerin der MOSAiC-Expedition mit der Polarstern, dem deutschen Forschungsschiff für Meeres- und Polarforschung. Du hast sicher in den Medien davon gehört und gesehen. Wir waren dort zeitweise weniger als 200 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt. Das war eine wun‐ derbare Zeit in einer perfekten Mischung aus Abenteuer und einer sehr, sehr ergiebigen international kooperierenden Wissenschaft - ein echtes, unvergessliches Highlight, das es in dieser Form vermutlich nur in der Wissenschaft gibt.“ 88 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="89"?> „Was genau ist denn dann dein Forschungsgebiet? “, wollte Amisha wis‐ sen. „Ozeanographie bedeutet bekanntlich nichts anderes als Meereskunde“, entgegnete Viktoria. „Dieses Fach ist ähnlich breit gefächert, wie die Welt‐ meere selbst. So gibt es verschiedene Spezialisierungen in Richtung Biologie, Chemie, physikalische Ozeanographie und Meeresökologie, aber auch enge Berührungen etwa mit der Klimaforschung, der Geologie und der Paläon‐ tologie. Mein Forschungsschwerpunkt ist die physikalische Ozeanographie mit dem Schwerpunkt globale und thermohaline Zirkulation.“ Amisha legte ihre Stirn in Falten. „Bevor du vermutlich fragen wirst: Die thermohaline Zirkulation entsteht durch Schwankungen von Salzgehalt und Temperatur der Meere. Man bezeichnet diesen Austausch auch als globales Förderband, das vier der fünf Ozeane miteinander verbindet und zu einem Kreislauf vereint. Diese globale Zirkulation ist aktuell besonders relevant, weil sie einerseits das Klima beeinflusst, umgekehrt aber durch die zunehmende Erderwärmung ihrerseits vom Klima beeinflusst wird. Eben diesen Wechselwirkungen gilt meine Forschung.“ „Und was war dein Anlass, als doch offensichtlich erfolgreiche Wissen‐ schaftlerin, ein Coaching aufzunehmen? “, wollte Amisha wissen. „Aktuell bin ich tatsächlich eine gut situierte Wissenschaftlerin in der klassischen Position dessen, was man einen Senior Scientist nennt. Ich habe einen durchaus nennenswerten ERC-Grant eingeworben und leite nun eine recht gut ausgestatte eigene Arbeitsgruppe.“ „Was ist ein ERC-Grant? “, wollte Amisha wissen. „Zunächst einmal ist ein sogenannter Grant eine Art Forschungsstipen‐ dium. Anders als ein individuelles Stipendium - etwa für ein Auslandsstu‐ dium, einen Gastaufenthalt im Ausland oder für besonders begabte Studie‐ rende - ist mit einem Grant ein spezieller Forschungsauftrag verbunden. Solche sogenannten Drittmittelförderungen werden von den nationalen Forschungsverbänden und -verbünden vergeben, von Stiftungen oder eben auch vom European Research Council - kurz ERC -, einer Institution der Europäischen Gemeinschaft zur Finanzierung von Grundlagenforschung. Ein Grant umfasst im besten Fall nahezu alle Kosten, die durch ein spe‐ zielles Forschungsvorhaben entstehen. Dazu zählen etwa Personalkosten, Anschaffungen beziehungsweise Leasingkosten für notwendige Geräte, Rei‐ sekosten und alles, was notwendig ist, den zugrundeliegenden Forschungs‐ auftrag erfolgreich zu erfüllen. 89 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="90"?> Durch diesen Grant hat sich mein Team fast schlagartig verdreifacht - von drei auf nun neun Beschäftigte. Ich betreue zwar bereits seit einigen Jahren Masterstudierende und Promovierende. Dazu gehört auch die diszi‐ plinarische Führung einer Labormitarbeiterin und die laterale Führung als Projektleiterin. Aber ein so großes Team habe ich bisher nicht geführt.“ „Was bedeutet laterale Führung? “, wollte Amisha wissen. „Es gibt die klassische hierarchische oder auch disziplinarische Führung, in welcher die Führungskraft die ihr zugeordneten oder, wie man früher sagte, ‚unterstellten‘ Beschäftigten führt. Laterale Führung meint, dass ich zwar in meiner Funktion fachlich führe, aber keine disziplinarische Verantwortung habe. Laterale Führung entsteht in Funktionen wie etwa als Projektleiterin oder als Koordinatorin eines Studiengangs. Hier kann ich die Kolleg: innen nicht anweisen, dies zu tun oder das zu unterlassen. Man kann diese Führungsaufgabe nur mittels guter Kommunikation und Überzeugungskraft ausüben. Genau das nennt man laterale Führung, also Führung ohne formale Hierarchie und Weisungsrecht.“ „Verstanden! “, meinte Amisha kurz. „Das ist wie in unserem Verein ‚Grü‐ nes Berlin‘. Da bin ich im Vorstand tätig. Auch in dieser Funktion können wir unsere Vereinsmitglieder ja nicht von oben herab führen, sondern nur per Mandat durch Überzeugung, durch gute Argumente und Transparenz.“ „Genau“, bestätigte Viktoria. „Ich hatte also bereits etwas Führungserfah‐ rung, brauchte jetzt aber deutlich mehr Zeit, Mittel, Instrumente und ein solides Konzept für eine gute, motivierende und zielorientierte Personalfüh‐ rung, vor allem auch in Bezug auf solche Mitarbeiter: innen, mit denen ich mich besonders schwertue. Das war der eine Aspekt meines Coachings. Der andere Punkt war die strategische Laufbahnplanung oder ganz einfach ein klassisches Karrierecoaching. „Was bitte kann ich darunter verstehen? “, setzte Amisha nach. „Der Hintergrund war, dass ich mit meiner beruflichen Entwicklung bisher eigentlich ganz zufrieden bin. Ich hatte, wie man sagt, in der Tat einen guten Lauf. Nun bin ich in einer klassischen Senior-Scientist-Position und leite eine eigene Arbeitsgruppe, so weit richtig. Aber ich sehe mich beruflich noch nicht am Ziel angekommen. Mein Ziel ist in absehbarer Zukunft eine Professor: innenstelle an einer Universität oder eine Professur in Verbindung mit der Abteilungsleitung an einer außeruniversitären Einrichtung. Vor drei Jahren habe ich an einem speziellen Förderprogramm für Nachwuchswissenschaftler: innen teilgenommen und hatte dort einen re‐ 90 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="91"?> nommierten Naturwissenschaftler als persönlichen Mentor, der mich in dieser Richtung bestärkt und angespornt hat. Eine attraktive Professor: innenstelle zu ergattern ist jedoch nicht so einfach. Auf eine einzige Ausschreibung einer solchen Stelle kommen - je nach Fachgebiet - gerne schon mal zehn oder zwanzig ernstzunehmende Bewerber: innen. Das bedeutet: Der Wettbewerb ist herausfordernd, um nicht zu sagen hart. Und diesem Wettbewerb stellt man sich - ähnlich wie im professionellen Leistungssport - am besten durch ein gezieltes persönliches Coaching und eine solide strategische berufliche Planung. Ich bin mit meinem Forschungsbereich genau dort, wo ich hinwollte: im Bereich der Meeresforschung. Aber ich möchte mehr erreichen und strebe eine leitende Stellung an, in Kombination mit einer Professur an einer Universität. Erstens habe ich in einer solchen Position noch etwas mehr Freiräume und Einfluss auf die Ausrichtung der Forschungsaktivitäten, und zweitens mag ich die Lehre und den Unterricht der Studierenden sehr.“ „Was verstehst du genau unter strategischer Laufbahnplanung? “, wollte Amisha wissen. „Strategische Laufbahn- oder Karriereplanung bedeutet vor allem, ganz systematisch an die Gestaltung der beruflichen Zukunft heranzugehen. Zunächst heißt das, genau zu wissen, was man eigentlich will und sich klarzumachen, was die Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken eines beruflichen Ziels und dessen Varianten sind.“ „Ah, das kenne ich, glaube ich, schon“, fiel Amisha ein. „Ich vermute, du meinst so etwas wie die sogenannte SWOT-Analyse.“ „Ja, genau“, bestätigte Viktoria. „Damit machst du systematisch transpa‐ rent, was du an Vorteilen zu erwarten hast, aber auch das, was dein Onkel das ‚persönliche Invest‘ nennt.“ „Und was bedeutet das persönliche Invest? “, wollte Amisha nun genauer wissen. „Es ist so: Im Leben hat alles seinen Preis. Genauer gesagt: Jede Münze hat zwei Seiten oder jede noch so gute Medizin hat gewisse Nebenwirkungen. Wer zum Beispiel eine Professor: innenstelle ergattern will, sollte wissen, welche persönlichen Folgen sich daraus ergeben. Dazu gehören etwa ein herausfordernder Wettbewerb und eine bestän‐ dige Bindung an die Verwaltung des öffentlichen Dienstes innerhalb von oft nicht gerade üppig finanzierten Universitäten oder Forschungseinrich‐ tungen. Weiter gehört dazu eine starke Abhängigkeit von der Politik, 91 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="92"?> die in Europa und in Deutschland die wissenschaftlichen Themen und Strömungen sehr stark mitbestimmt. So werden zum Beispiel jahrelang bestimmte Forschungsrichtungen besonders stark gefördert, andere dagegen nur sehr spärlich. Manchmal werden bestimmte Themen über längere Zeiträume bevorzugt behandelt. Nach einem politischen Richtungswechsel können sie später dann trotz guter Erfolge stark ausgedünnt werden. Echte Langfristplanung ist also kaum möglich. Ebenso zählt zu den Herausforderungen die Bereitschaft, recht mobil zu sein und flexibel auf Belastungen und Herausforderungen zu reagieren. Alle diese Parameter sind in der Regel nicht besonders familienfreundlich oder geeignet, ein entspanntes Privatleben zu führen. Zumindest dann nicht, wenn man in diesem Wettbewerb eher in der oberen Liga mitspielen möchte. Genau diese Rahmenbedingungen sind das, was dein Onkel als ‚persönlichen Invest‘ beschreibt. Bei mir ist und war aber klar, dass ich bereit bin, diesen Preis für mein Wunschziel zu zahlen, weil meine Berufswünsche mehr sind als nur ein Traum oder eine fixe Idee. Nachdem dies klar war, haben wir im Coaching noch einmal den ent‐ sprechenden Stellenmarkt in meinem Forschungsbereich angeschaut und die Kriterien herausgearbeitet, die in diesem Wettbewerb relevant sind. Dafür bekam ich im Coaching eine aufschlussreiche Checkliste, die schnell Klarheit schaffte, bei welchen dieser Wettbewerbskriterien ich bereits gut oder sehr gut aufgestellt bin und in welchen es noch Luft nach oben gibt. Aus den Erkenntnissen dieser kleinen Übung haben wir dann ein mittelfristiges Optimierungsprogramm erarbeitet, mit welchem ich meine Wettbewerbsposition noch optimieren kann.“ „Darf ich fragen, um welche Kriterien es geht, wenn man die eigene Performance systematisch analysiert? “, wollte Amisha wissen. „Na klar“, meinte Viktoria. „Ab der PostDoc-Phase zählen ja die üblichen Kriterien wie die Anzahl und Qualität der Publikationen, die eingeworbenen Drittmittel. Später kommen dann Kriterien dazu wie Erfahrungen in der Lehre, Preise oder Auszeichnungen, Mitarbeit in universitären Gremien oder der wissenschaftlichen Selbstverwaltung, Einladungen auf renommierte Konferenzen und so weiter. Und natürlich ist es auch gut, wenn man in verschiedenen Verbänden und internationalen Fachgesellschaften gut vernetzt ist. 92 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="93"?> Mit dem kleinen Analysetool deines Onkels haben wir gesehen, dass sich in zwei Bereichen die Performance noch verbessern lässt, und das gehe ich jetzt konsequent an. Dazu gehört eben auch, dass wir als Wissenschaftlerin‐ nen manches wichtige Handwerkszeug nicht systematisch gelernt haben. Damit meine ich etwa das breite Feld des Wissenschaftsmanagements wie eine strategische Planung, Personalführung, Konfliktmanagement und andere Kompetenzen, die man im Forschungsalltag eigentlich dauernd benötigt. Deshalb haben wir uns die dafür notwendigen Qualifikationen meist autodidaktisch aber auch recht lückenhaft angeeignet. Jetzt lerne ich zu‐ sammen mit Kolleg: innen aus dem Forschungsbereich in einem speziellen Programm noch einmal systematisch, was strategische Planung bedeutet, was genau etwa eine Roadmap oder ein Masterplan ist und wie agiles Projektmanagement funktioniert.“ „Was ist denn eine Roadmap oder ein Masterplan? “, wollte Amisha wissen. „Gute Frage! “, gab Viktoria zurück. „Diese Tools habe ich während meiner Laufbahn selbst erst spät kennengelernt. Beides sind im Prinzip eine Mischung aus Ziel-, Strategie- und Projektplan. Sie lassen sich für verschiedene Bereiche anwenden. So etwa auf die Frage: Wohin wird sich mein Forschungsbereich zukünftig entwickeln? Welche Ziele leiten sich daraus für mich oder andere ab? Welche To-Dos leiten sich für mich oder uns daraus ab? Wie organisiere ich mittels konkreter Projektplanung, dass allen notwendigen To-Dos geplant und umgesetzt werden? Solch ein Masterplan oder eine Roadmap lassen sich etwa für die eigenen Arbeitsgruppe erstellen, ein ganzes Forschungsinstitut oder aber im Kleinen ebenso für die eigene berufliche Entwicklung. Dafür gibt es bei Bedarf für komplexere Planungen sogar spezielle Software, die einem die Planung und den Überblick erleichtern.“ „O.k.“, bestätigte Amisha. „Jetzt habe ich verstanden, was eine Berufs- oder Karriereplanung bedeutet und was etwa eine Roadmap ist. Da unsere verabredete Zeit begrenzt ist, würde ich nun gerne wissen, was denn für dich die wichtigsten Erfahrungen und Ergebnisse aus deinem persönlichen Coaching waren“, kündigte Amisha an. „Das waren letztlich zwei Erkenntnisse und ein Lernerfolg“, meinte Viktoria zu ihrem persönlichen Fazit. „Erstens bin ich mir bezüglich meiner beruflichen Ziele noch etwas sicherer geworden. Vorher war ich mir zu 80 Prozent sicher, dass mein Ziel und mein Weg richtig sind. Jetzt würde ich sagen, dass ich auf einem Level von nahezu 100 Prozent angelangt bin. 93 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="94"?> Zweitens habe ich erkannt, in welchen Bereichen ich mich noch weiter‐ entwickeln kann, um meine ambitionierten Ziele zu erreichen und den Wettbewerb um die begehrten und raren Stellen erfolgreich zu bestehen. Im Coaching haben wir noch einmal meine strategische Positionierung geschärft. Bei der nächsten Berufungsverhandlung bin ich so besser gerüs‐ tet, mich mit meinen Forschungsthemen, den gewählten Forschungsansät‐ zen und -methoden und auch bezüglich meines Engagements in der Lehre präziser und überzeugender darzustellen. Und drittens habe ich einiges gelernt und mitgenommen in Bezug auf die Möglichkeiten und Instrumente einer nachhaltig motivierenden Personal- und Teamführung, sehr speziell für meine Belange und bezogen auf die Konstellation meines Teams. In diesem Aufgabenbereich fühle ich mich nun gut aufgestellt und habe durch mein Team bereits einige gute Rückmeldun‐ gen erhalten.“ „Darf ich fragen, welche Fragen, Themen oder Ziele du im Kontext Personal- und Teamführung hattes? “ Amisha war tatsächlich neugierig, welche Aspekte der Führung und Zusammenarbeit für Viktoria relevant waren. „Mit meinem Team war und bin ich im Großen und Ganzen recht zufrieden“, holte Viktoria aus. „Aber zwei Dinge hatten mich seinerzeit gestört. Zunächst unsere langatmigen und zeitraubenden Team-Meetings, die häufig nach dem Motto endeten: ‚Schön, dass wir drüber gesprochen haben! ‘. Das heißt, es gab viele Gesprächsanlässe und ständigen Redebedarf, aber es gab viel zu wenig Output, echte Lösungen und zu wenig verbindliche Absprachen zu echten Lösungsansätzen. Zweitens haben sich viele Themen in unterschiedlichen Konstellationen ständig im Kreis gedreht. Über manche Aspekte im Team wurde über Wo‐ chen und Monate gesprochen, ohne dass ein konstruktives und nachhaltiges Ende in Sicht war. Ich nahm dies alles mit wachsendem Missbehagen war, aber ich hatte keine Lösung dafür. Und genau darüber machte ich mir Vorwürfe. Ich dachte, jetzt bist du die Chefin an Bord und jetzt musst du für solche Problem gefälligst auch die jeweils brillante Lösung aus dem Hut zaubern.“ Amisha hörte gespannt zu. „Und wie hat sich das Coaching auf diese beiden Führungsthemen ausgewirkt? “ „Zunächst habe ich gelernt, mich von den bei Führungskräften verbreite‐ ten Omnipotenzansprüchen zu verabschieden. Ich muss - auch wenn ich die Chefin bin - nicht für jedes Problem ad hoc das perfekte Lösungskaninchen 94 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="95"?> aus dem Hut zaubern. Aber ich muss dafür sorgen, dass ein Raum geschaffen wird, in welchem wir als Team gemeinsam bestehende Unzulänglichkeiten ansprechen und ebenso gemeinsam konkrete, nachhaltige und verbindliche Lösungen erarbeiten. Diesen Raum habe ich dank des Coachings für mich neu oder besser wiederentdeckt. Wir gestalten als Team nun einmal jährlich - im Bedarfsfall auch öfter - einen längeren Team-Workshop über eineinhalb bis zwei Tage. Wir nennen das, wie in den Naturwissenschaften, ein Retreat, also eine Klausurtagung. Hier kommt alles auf den Tisch, was nicht wirklich rund läuft: Die Technik, die Methodik, menschliches Verhalten, die Information, Kommu‐ nikation oder Dokumentation; eben alles, was für eine gute, erfolgreiche und nicht zuletzt respektvolle Zusammenarbeit notwendig ist. Und wenn alles auf dem Tisch liegt, werden für alle Themen Lösungen erarbeitet, ohne dass einzelne für Unzulänglichkeiten oder Probleme verantwortlich gemacht werden. Wir suchen schließlich Lösungen und keine vermeintlich Schuldigen. Durch das Coaching habe ich noch mehr Tipps und Handwerkszeug erhalten, einen solchen Teamworkshop zielführend zu moderieren.“ „Und wie genau war der Vorher-Nachher-Effekt? “, wollte Amisha wissen. „Damit nach unseren Meetings und ebenso nach unseren Teamklausuren letztlich nicht alles im Ungefähren bleibt, haben wir stark an unserer Verbindlichkeitskultur gearbeitet. Damit später nicht mehrere von uns unabgestimmt an einer Baustelle ar‐ beiten oder - auch das ist nicht besser - ständig einer auf den anderen wartet, dokumentieren wir nun unsere Ergebnisse konsequent in Verbindung mit den sogenannten W-Fragen. Diese Fragen klären nichts anderes als: Was wollen wir genau tun? Wie wollen wir das erledigen, was zu tun ist? Wer kümmert sich um diese Angelegenheit? Und ab wann oder bis wann wollen wir das tun, was es zu tun gilt? Mit dieser ergebnisorientierten Verbindlichkeitskultur sind wir auf unse‐ ren Meetings um einiges konkreter und lösungsorientierter geworden, was letztlich allen in Team dient. Insofern war mein Coaching auch mit Blick auf den Themenkomplex Führung und Zusammenarbeit durchaus ein Gewinn.“ Da Amishas Fragen nun sämtlich und ausführlich beantwortet waren, driftete das Gespräch langsam ab in allgemeine Themen rund um die Wissenschaft im Bereich Meeresforschung. Nach einer freundlichen Verab‐ 95 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="96"?> schiedung machte sich Viktoria zu ihrem Heimweg auf und Amisha strebte Richtung Hauptbahnhof, um ihre Rückfahrt nach Berlin anzutreten. Noch während der Zugfahrt fütterte sie ihre langsam wachsende Erkennt‐ nisliste mit ihren neuen Eindrücken und Schlussfolgerungen. 96 Viktoria: Sie will mehr als ihr Meer <?page no="97"?> Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht Mit ihrem nächsten Interviewpartner war Amisha wieder für ein Videomee‐ ting verabredet. Bei ihrem ersten Telefonkontakt hatte Amisha bereits die berufliche Stellung und Entwicklung ihres Interviewpartners in Erfahrung gebracht. Marius arbeitete nach seinem Bachelor- und Masterstudium in Allge‐ meiner Erziehungswissenschaft und seiner Promotion zum Dr. phil. am Institut Erwachsenenbildung und Weiterbildung der Universität Bamberg. Seit drei Jahren ist er als PostDoc an einer deutschen Universität unweit des Bodensees im Bereich Wirtschafts- und Betriebspädagogik tätig. Mit einem Stipendium hatte er während seiner Promotionszeit zudem ein Auslandsjahr in Großbritannien am Institute for Employment Studies in Brighton verbracht. Vor etwa einem Jahr hatte Marius ein Coaching absolviert, um seine beruflichen Chancen und Ambitionen einmal realistisch, gründlich und systematisch abzuklären und um seine künftige Bewerbungsstrategie zu optimieren. Nach dem erfolgreichen Start des Online-Portals wollte Amisha zunächst wissen, aus welchen Gründen sich Marius zu einem Coaching entschlossen hatte. „Meine spezielle Situation war die“, begann Marius, „dass ich zum Zeit‐ punkt des Coachings wusste, dass eineinhalb Jahre später mein Arbeits‐ vertrag als PostDoc zu Ende gehen würde; von heute an also in etwa zehn Monaten. Das hieß für mich, Bilanz zu ziehen und mich mit meinen beruflichen Ideen und Möglichkeiten einmal gründlich zu sortieren.“ „Was deine Bilanz betrifft, so sieht deine Entwicklung in der Erziehungs‐ wissenschaft doch recht gut aus“, meinte Amisha. „Du hast einen Master sowie eine Promotion vorzuweisen und hast sogar einen Auslandsaufenthalt an einem angesehenen Institut im Vereinigten Königreich im Gepäck. Das kling doch nach einem ordentlichen Gesamtpaket.“ „So weit, so gut“, entgegnete Marius. „Auf den ersten Blick sieht das alles recht gut aus. Aber es ist nicht alles so glatt, wie es den Anschein hat. Dazu musst du folgendes wissen: Ein Jahr nach meinem Studienjahr in Brighton kam unsere Tochter zu Welt, also mitten während der Promotion. An der Uni und in meinem PhD-Programm hat man darauf durchaus <?page no="98"?> Rücksicht genommen. Ich konnte ohne Schwierigkeiten für drei Monate in Elternzeit gehen und die Promotionszeit wurde entsprechend verlängert. Man kann also - so meine Erfahrung - durchaus Elternzeit und Promotion zusammen wuppen. Aber es ist doch ein echter Kraftakt. Und ob man will oder nicht, es ist etwas anderes, etwa als Single mit Volldampf und allen zeitlichen Ressourcen voller Enthusiasmus an seiner Promotion zu arbeiten oder die Kraft und Zeit auf zwei Aufgaben zu verteilen - mögen beide Bereiche noch so schön und bereichernd sein. Zumindest gibt es eine gewisse Gefahr oder Tendenz, durch die Eltern‐ zeitpause und die Doppelbelastung mit seinen Arbeiten, Kontakten und der eingeschränkten Präsenzzeit mit seiner Wissenschaft in all dem Gerangel etwas ins Hintertreffen zu geraten. Zumindest heißt es in einer solchen Situation, immer wieder ausdrücklich und kompensatorisch dagegen anzu‐ gehen. Schließlich muss man sich im Wissenschaftssystem früher oder später auch mit solchen Kolleg: innen messen, die unter weniger Restriktio‐ nen auf der Zielgraden unterwegs sind. Ich vergleiche deshalb die Arbeit in der Wissenschaft mit dem Leistungs‐ sport. Wenn du dort weiterkommen und gefördert werden willst, dich im Kader etablieren und behaupten oder als Gewinner einen der wenigen Plätze auf dem Siegertreppchen sichern willst, dann musst du dich schlicht und einfach dem Gerangel des Wettbewerbs stellen. So läuft das.“ „Heißt oder hieß das denn für dich, dass du durch deine Elternschaft bei diesem Wetteifer einen echten beruflichen Nachteil erleben musstes? “, wollte Amisha wissen. „Einen direkten, evidenten Nachteil hatte ich bis auf die Doppelbelastung nicht“, antworte Marius. „Dafür hatte ich persönlich an der Uni zu viel Rückhalt während der Elternzeit und danach. Da kann ich niemanden echte Vorwürfe machen. Aber während meiner PostDoc-Zeit kam dann unser zweites Kind auf die Welt. Alle reden ja zurecht vom Anspruch auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wenn man sich jedoch im Wettbewerb um gute oder außerordentlich gute wissenschaftliche Leistungen befindet, bleibt da ein Spagat, der auf Dauer recht kräftezehrend ist. Sicher, ich kenne ein Wissenschaftlerpaar aus meiner Heimatstadt Heidel‐ berg. Die beiden haben drei Kinder und sind beide wirklich erfolgreich. Luisa hat mit ihren Forschungsarbeiten sogar vor einiger Zeit den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft abgeräumt. Aber das schafft mit drei Kindern wahrlich nicht jede oder jeder, sondern nur jene, die wirklich 98 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="99"?> begabt sind, zielorientiert, resilient und vor allem gut organisiert im Privat- und Berufsleben.“ „War denn für dich der Wettbewerb im Forschungsbereich darüber hinaus ein Thema? “, fasste Amisha nach. „Das ist immer ein Thema“, holte Marius aus. „Manchmal sehr direkt und mitunter eher indirekt. Es stellt sich permanent die Frage, wer hat wie viele Publikationen auf seiner Liste oder in der Planung? Wer steht mit seinem Namen auf den Publikationen und an welcher Stelle? Wer hat als PostDoc wieviel Lehrerfahrung oder Drittmittelanträge im Visier? Genau das sind die wichtigen Faktoren für alle, die im Wissenschaftssystem bleiben und weiterkommen wollen. Wie sagte der alte Sokrates: ‚Stagnation ist der Anfang vom Ende! ‘“ „Und warum ist die Reihenfolge der Autor: innen bei Publikationen ein so wichtiges Thema? “, wollte Amisha wissen. „Eine wissenschaftliche Publikation ist ja - zumindest außerhalb der Geisteswissenschaften - oft keine reine Einzelleistung, sondern das Ergeb‐ nis von Teamarbeit. Wer hatte die ursprüngliche Idee zum Thema oder zur Methodik? Wer hat die Daten erhoben? Wer war an der Analyse und Interpretation beteiligt? Wer hatte anderweitigen Einfluss auf das Ergebnis? All das sind relevante Fragen. Wenn man Wissenschaft vom Endprodukt her denkt, ist es wie Kuchen‐ backen. Wenn der Kuchen dann fertig ist und schön dekoriert auf dem Tisch steht, dann stellt sich die Frage: Wem gehört der Kuchen? Und wer bekommt davon wie viel? Das gilt für das eigene Team bisweilen ebenso wie für größere internationale Forschungsprojekte. Hat jemand den Kuchen im echten Alleingang gebacken, dann ist die Sache klar. War es aber eine Teamarbeit, dann stellt sich die Frage, wie wird der Kuchen verteilt: Welchen Anteil erhält der Geselle, der sich das Rezept ausgedacht hat. Und welchen der Meister, der den Ofen zur Verfügung gestellt hat? Welchen die Auszubildende, die Mehl und Zucker abgewogen hat? Und welchen die Kollegin, die mit Zuckerguss und Schokoflocken das Werk so nett dekoriert und ansehnlich gemacht hat. Forschung bedeutet bekanntlich immer Erkenntnisgewinnung. Und wenn mit einer Publikation die Erkenntnisse publiziert werden, stellt sich - nicht nur für die Leser: innen - die Frage, wem diese Erkenntnis oder wem welcher Teil davon zuzuschreiben ist. In manchen Fachbereichen, wie etwa in der Mathematik, wird die Autor: innenschaft traditionell meist alphabetisch vergeben. In anderen 99 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="100"?> Fachgebieten ist das sehr divers geregelt. Oft sind die Erstautor: innen die eigentlichen Initiator: innen, denen der Hauptanteil der Arbeit und des Resultates zukommt. Ebenso oft ist die Person am Ende der Liste - also der oder die Letztautor: in - der Supervisor oder die Betreuerin, also die Führungskraft der entsprechenden Organisationseinheit, in welcher die Arbeiten für eine Publikation stattgefunden haben. Aber letztlich ist das, wie gesagt, in den verschiedenen Institutionen oder Fachbereichen unterschiedlich geregelt. Meistens wird die Gewichtung der unterschiedlichen Beiträge und Teil‐ leistungen oder die Reihenfolge der Autorenliste etwa in einer Arbeits‐ gruppe fair und einvernehmlich abgestimmt. Aber manchmal gibt es, wie bei einem echten Kuchen, kleinere oder größere Verteilungskonflikte und damit verbundene Rivalität.“ „Und was passiert dann? “, bohrte Amisha nach. „Wenn der Konflikt nicht intern gelöst werden kann, dann kommt irgend‐ wann die Ombudsperson ins Spiel“, erklärte Marius. „Bitte wer? “ „Eine Ombudsfrau oder Ombudsmann ist eine Vertrauensperson, die an jeder größeren wissenschaftlichen Einrichtung zuständig ist für die Einhaltung der sogenannten ‚Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis‘. Meist sind dies neutrale, nicht fachlich involvierte Wissenschaftler: innen, die zur Vertraulichkeit, Neutralität und Fairness verpflichtet sind. Die entsprechenden Leitlinien werden etwa von der Deutschen For‐ schungsgemeinschaft oder größeren Forschungsinstitutionen oder deren Dachverbände verfasst. Diese Leitlinien sind sozusagen die Grundgesetze für Forschung und Wissenschaft. Hier ist klar geregelt, was sein darf in der Wissenschaft und vor allem was eben nicht. Zu letzterem gehören selbstverständlich etwa Plagiate, das Fälschen von Ergebnissen oder eben grobe Ungerechtigkeiten bei der Anerkennung von Beiträgen zu wissen‐ schaftlichen Ergebnissen oder Publikationen.“ Diese Ombudsleute agieren dann zunächst als neutrale Vermittler. Für sie gibt es im Wissenschaftsbetrieb spezielle Fortbildungen über die entspre‐ chenden Gesetze, Regelwerke und den Einsatz als Mediator: in in strittigen Angelegenheiten. Ihre Funktion ist nicht gedacht als die einer Richterin oder eines finalen Entscheiders in bestehenden Konflikten. Eine Ombudsperson ist als Trouble Shooter - etwas flapsig gesagt - so eine Art Robin Hood in der Wissenschaft: 100 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="101"?> Bei den nicht wirklich Tugendhaften sind sie gefürchtet und die Aufrichtigen und Bedürftigen finden es gut und beruhigend, dass es sie gibt.“ „Ich verstehe! “, kommentierte Amisha. „Wer sich ungerecht behandelt oder übervorteilt fühlt, kann sich also bei Streitfällen rund um korrektes und faires Verhalten in wissenschaftlichen Angelegenheiten vertrauensvoll an die für sie zuständige Ombudsperson wenden. Hast du denn selbst einmal einen Anlass gehabt, eine Ombudsperson in Anspruch zu nehmen.“ „Nein, ich selbst Gott sei Dank nicht“, meinte Marius. „Aber ein Kollege von mir, ein PostDoc, den ich aus einer überregionalen Weiterbildung kenne. Der hatte ein Rivalitätsthema mit seiner Chefin. Auch so etwas kommt vor.“ „Magst du mir davon erzählen? “, fragte Amisha vorsichtig. „Nils war PostDoc in der Arbeitsgruppe bei einer Juniorprofessorin an einer Privathochschule. Seine Chefin hatte ihm diese Stelle angeboten und nach seiner Einstellung haben sie etwa zwei Jahre gut und einvernehmlich zusammengearbeitet. Es schien wie eine echte Win-win-Situation. Beide hatten die Idee, zu ihrem Forschungsthema einen Förderantrag zu stellen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Schwerpunktmäßig hat Nils diesen Antrag im Rahmen seiner PostDoc-Stelle bearbeitet, ausfor‐ muliert und eng getaktet mit seiner Chefin abgestimmt. Selbst wenn das Konzept letztlich ein gemeinsames war, kam der Impuls dazu eher von Nils Chefin. Als dann die Einreichung des Antrages immer näher rückte, stellte sich die Frage, wer nun diesen Antrag als verantwortlicher Antragsteller einreichen sollte. Dazu muss man Folgendes wissen: Wenn ein solcher Zuwendungsantrag bewilligt wird, fließen die Fördermittel an den Antragsteller. Wechselt dieser dann sogenannte Zuwendungsnehmer an eine andere Forschungseinrich‐ tung, kann er oder sie weiter über diese Mittel verfügen und die nun geförderten Forschungsarbeiten fortsetzen. Zudem hübscht man natürlich seinen beruflichen Lebenslauf durch solch eine Förderung enorm auf. Ein bewilligter Förderantrag belegt schließlich, dass die eigenen Ideen und Arbeiten so gut und relevant sind, dass sie von den vor der Vergabe hinzu‐ gezogenen wissenschaftlichen Expert: innen als föderungswürdig anerkannt werden. Nils Chefin war als Leiterin der kleinen Arbeitsgruppe wie gesagt eine Ju‐ niorprofessorin. Dies ist eine Position, die zunächst für maximal sechs Jahre befristet ist. Als solche wird sie während der Tätigkeit nach ihren Leistungen und Erfolgen begutachtet beziehungsweite evaluiert. Im Erfolgsfall - aber 101 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="102"?> auch nur dann - kann dann die Juniorprofessur in eine reguläre Dauerstelle als Hochschullehrer: in umgewandelt werden. Seine Chefin hatte nun Interesse daran, den Förderantrag unter ihrem Namen einzureichen, um Nils dann mit den Fördermitteln weiter beschäf‐ tigen zu können und gleichzeitig durch den erhofften Förderzuschlag ihre eigenen Credit Points zur Verstetigung ihrer Stelle als Hochschullehrerin zu nutzen. So weit, so klar und verständlich. Aber auch Nils war daran gelegen, den erhofften Förderzuschlag für seine eigene Reputation und Zukunftssicherung zu nutzen, was mindestens ebenso nachvollziehbar ist. Wie du siehst, entstehen in der Wissenschaft - wie bei der Metapher über das Kuchenbacken - mitunter ernstzunehmende Interessenskonflikte und Gerangel sogar in der eigenen Arbeitsgruppe oder mit dem eigenen Chef. Auch dies ist eine Folge des Wettbewerbs um die raren Dauerstellen im Wissenschaftsbetrieb.“ „Und wie ist die Sache ausgegangen? “, wollte Amisha wissen. „Um ehrlich zu sein, weiß ich das aktuell gar nicht“, gestand Marius. „Ich habe Nils seit Längerem nicht mehr gesprochen. Meines Wissens sollte der Antrag diesen Monat eingereicht werden. Ich werde deine Frage zum Anlass nehmen, um Nils dazu noch einmal anzumailen. Aber ich wollte dieses Beispiel vor allem deshalb aufführen, um zu zeigen, welche Konflikte um die eigenen Interessen in der Wissenschaft prinzipiell entstehen können. Gott sei Dank sind sie dennoch weit mehr die Ausnahme als die Regel. Zudem kann es jenseits von Verteilungskonflikten zu anderen Kontro‐ versen kommen, denn manchmal gibt es rivalisierende Ansichten zwischen Mitarbeitenden und der eigenen Führungskraft.“ „Wie das? “, wollte Amisha wissen. „Ein Beispiel“, begann Marius. „Ein PostDoc möchte eine Publikation in eine bestimmte Richtung verfassen, weil sich dies mit seiner Interpretation der empirischen Daten und seiner Hypothese deckt, obwohl diese vielleicht eher dem aktuellen Trend der wissenschaftlichen Diskussion entgegensteht. Sein Chef oder seine Chefin dagegen würde diese Analyse und deren Schlussfolgerungen jedoch gerne in eine etwas andere Richtung lenken, die eher der eigenen Hypothesenbildung entspricht. Und schon stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist.“ „So weit o.k.“, meinte Amisha. „Aber so etwas kann auch in anderen Berufsfeldern passieren, nicht nur in der Wissenschaft.“ 102 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="103"?> „Ganz richtig“, entgegnete Marius. „Aber für die Wissenschaft gilt das im deutschen Grundgesetz verankerte Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Danach müssen Lehre und Forschung frei sein von äußeren Zwängen, so wie es Wilhelm von Humboldt bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts gefordert hat. Diesen Anspruch reklamieren mehr oder weniger alle für sich, die Wis‐ senschaft betreiben. Viele vergessen jedoch, dass das Postulat von der Freiheit in der Forschung streng genommen nur für ordentlich bestellte Hochschullehrer: innen gilt, also für die Professor: innen. Promovierende oder PostDocs sind aber arbeitsrechtlich Mitarbeitende beziehungsweise Angestellte und unterliegen faktisch dem Weisungsrecht ihrer Vorgesetzten. Natürlich sollten auch Promovierende oder PostDocs gedanklich und in ihren Theorien frei sein, sind es formell aber nicht. Deshalb sind solche Aspekte im Wissenschaftssystem immer etwas anderes und viel sensibler als etwa in einem Produktionsbetrieb oder in der Verwaltung“. „Das sind für mich alles neue und hochinteressante Themen und Infor‐ mationen“, gestand Amisha. „Nun aber - mit Blick auf unsere Zeit - zurück zu deinem Coaching“, drängte Amisha. „Was genau war dein Anlass? “ „Mir war schon länger relativ klar, dass ich nach meiner PostDoc Zeit nicht an der Uni bleiben oder etwa in die außeruniversitäre Forschung wechseln wollte“, ließ Marius Amisha wissen. „Ich habe während der Promotion und als PostDoc viel gelernt und mich fachlich und formell erfolgreich weiterentwickelt. Insgesamt war dies rückblickend eine absolut gute und tolle Zeit, die ich wahrlich nicht missen möchte. Aber so gerne ich auch Wissenschaft und Forschung betrieben habe: eine Habilitation oder eine Professur strebe ich nicht an.“ „Und wohin zieht es dich nun? “ „Ich bin vor und während des Coachings alle Optionen noch einmal durchgegangen - vor allem in Hinblick auf meine familiäre Situation. Meine Frau und ich könnten uns gut ein drittes Kind vorstellen und würden sehr gerne hier im Voralpenland bleiben. Ein erfüllender Beruf ist uns beiden sehr wichtig, aber das nicht das einzige Kriterium für unsere Zukunftsplanung. Durch meine bisherige fachliche Ausrichtung habe ich durchaus einige reizvollere Optionen: Erstens könnte ich mir eine Professur an einer Fachhochschule gut vorstellen. Als Erziehungswissenschaftler reizt mich die Lehre ebenso wie etwas anwendungsorientiertere Forschung, die durchaus an manchen Fach‐ hochschulen möglich ist. Anders als in der universitären oder Grundlagen‐ 103 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="104"?> forschung wäre dies an einer Fachhochschule oder an einer Berufsakademie - etwa in Bayern oder Baden-Württemberg - sehr gut vorstellbar und erreichbar. Zweitens könnte ich bei einem Bildungsträger einsteigen als Fachreferent oder als Leiter eines Fachbereiches in der beruflichen Erwachsenen- und Weiterbildung. Drittens könnte ich mit meinem fachlichen Hintergrund in den operativen Bereich der Personalentwicklung wechseln. Dazu böten sich etwa die Wirt‐ schaft, Industrie oder Verwaltung ebenso an wie der Bereich Personalent‐ wicklung in einer größeren Forschungsorganisation oder einer Universität. Diese letztgenannte Option verfestigte sich zuletzt im Coaching als Idee, im Wissenschaftssystem zu verbleiben, aber eben mit anderen Aufgaben und endlich mit einer festen Stelle. Dein Onkel zitierte dazu einen alten Folksong von Hannes Wader mit dem Titel ‚Heute hier, morgen dort‘. Da heißt es im Refrain: ‚Manchmal träume ich schwer und dann denk ich, es wär' Zeit zu bleiben und nun was ganz andres zu tun.‘ Ich selbst kannte weder das Lied noch den Sänger. Diese Art Musik gehört ja nicht gerade zu den Top-Ten-Charts unserer Generation. Aber die Schluss‐ folgerung aus dem Refrain gefällt mir nach wie vor recht gut.“ „Wenn ich richtig mitgerechnet habe“, konstatierte Amisha, „dann bist du jetzt Mitte dreißig und hast noch ein knappes Jahr, einen neuen Job zu finden. Was ist nun dein Plan? “ „Genau diesen Plan vorzubereiten und zu konkretisieren war ja neben der generellen Entscheidungsfindung das Hauptziel des Coachings“, ließ Marius Amisha wissen. „Momentan arbeite ich noch mit Sicherheitsnetz am Trapez des Bewerbungszirkus, habe aber bereits ein paar Eisen im Feuer, wie man so sagt. Zunächst könnte ich mit Projektmitteln meine PostDoc-Zeit noch um vielleicht ein halbes Jahr verlängern und hätte etwas mehr Pufferzeit. Dann war ich ja mit Promotion und Post-Doc-Zeit lange genug versiche‐ rungspflichtig beschäftigt und hätte theoretisch Anspruch auf Arbeitslosen‐ geld I von der Arbeitsagentur. Mit dem Verdienst meiner Frau könnten wir davon leben, ohne zu darben. Aber das ist für mich und die Familie nicht mehr als ein echtes Notfallnetz, das ich in jedem Fall verhindern möchte. 104 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="105"?> Sich aus der Arbeitslosigkeit heraus irgendwo zu bewerben ist ja alles andere als ein Wettbewerbsvorteil. Nein, ich habe im Coaching nebenbei ganz praktisch meine Bewerbungs‐ unterlagen und -strategien neu aufgestellt. An einer Berufsakademie in der Region habe ich auch eine Bewerbung laufen. Solche Berufungsverfahren ziehen sich immer hin. Daneben habe ich noch zwei weitere Bewerbungen bei einem städtischen Bildungsträger und als Personalentwickler in einer Forschungseinrichtung, von der ich bereits eine Einladung zum Vorstel‐ lungsgespräch erhalten habe. Bis dahin werde ich mich mit deinem Onkel noch einmal in einer Coachingsitzung gezielt darauf vorbereiten. Du siehst, ich bin entspannt und recht zuversichtlich.“ Amisha kam zu ihrer gewohnten Abschlussfrage: „Was hat dein Coaching als Wissenschaftler letztlich für dich bewirkt? “ Marius begann auszuholen: „Erstens fühlte ich mich entlastet und siche‐ rer, meine beruflichen Themen und Fragen einmal mit einer außenstehen‐ den Person anzuschauen und zu sortieren, die nicht irgendwie beteiligt und voreingenommen ist. Sonst habe ich das mit meiner Frau gemacht und mit Kolleg: innen aus meinem Umfeld. Das ist zwar oft entlastend und hilfreich, aber im Coaching tauchten noch andere Fragen, Optionen und Entscheidungsinstrumente auf, die ich bisher nicht kannte. Zweitens hilft es nicht nur, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, sondern vor allem nüchtern und pragmatisch die eignen Potenziale zu erkennen und durch ein fundiertes Feedback die individuellen Optimierungspotenziale speziell für Bewerbungsverfahren zu erfassen. Das schafft in beruflichen Veränderungssituationen deutlich mehr Sicherheit und - zumindest bei mir - mehr Selbstvertrauen. Das ist sozusagen meine Quintessenz aus meinem persönlichen Coaching.“ Auch dieses Interview war durch Marius Schilderungen nun deutlich länger geworden, als Amisha geplant hatte. Aber sie hatte so auch mehr Informationen erhalten, als sie erwartet hatte. 105 Marius: Ohne Gerangel gute Perspektiven in Aussicht <?page no="107"?> Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis Mitten in ihrer Interviewphase meldete sich Amishas Onkel Leo per Text‐ nachricht auf ihrem Smartphone und erkundigte sich freundlich und neu‐ gierig nach dem Stand der Dinge. Statt sich langatmig über die üblichen sozialen Medien auszutauschen, verabredeten sie sich kurzerhand zu einem spontanen Austausch. In der Nähe der Dahlemer Universitätsbibliothek bot sich eine Filiale von „Aux Delices Normands“ an. Diese Boulangerien und Patisserien bieten exzellente französische Backwaren aus der Normandie feil. Hieran ange‐ schlossen war ein nettes kleines Café zum entspannten Verweilen und Genießen. So war schnell der perfekte Ort für ein kurzes Treffen gefunden, zumal sich hier mit wenig Aufwand einmal mehr ihre Wege kreuzen ließen. Amisha berichtete kurz über ihre letzten Interviews und den Zwischen‐ stand ihrer Erkenntnisse: „Was ich immer wieder spannend finde“, meinte Amisha schließlich, „ist das Thema Selbstreflexion einerseits speziell meiner Interviewpartner: innen und anderseits die Selbstreflexion der Menschen aus der beruflichen Umgebung meiner Gesprächspartner. Das scheint ja wirklich ein wichtiges Thema zu sein und ich könnte mir vorstellen, dass das Thema Selbstreflexion gerade im Coaching eine Rolle spielt.“ „Absolut! “, bestätigte Leo. „Das ist wirklich ein wichtiges Thema mit der Frage: Wie sehe ich mich selbst und wie werde ich von meiner Um‐ gebung wahrgenommen? Das Thema ist allein deshalb so relevant, weil es ja im doppelten Sinne um Erkenntnisgewinnung dreht. Schließlich ist Wissenschaft und Forschung nichts anderes als ein professionelles Feld methodisch exakter Erkenntnisgewinnung. Zudem ist es gerade dort not‐ wendig, Erkenntnisse über die Selbstwahrnehmung zu gewinnen, wenn es um die eigene Person geht. Jede Branche und jeder Berufszweig sind, wenn man so will, in gewisser Weise ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, ganz nach dem netten vorviktoriani‐ schen Roman von William Thackeray, der den treffenden Titel ‚Vanity Fair‘ trägt oder in der deutschen Ausgabe ‚Jahrmarkt der Eitelkeiten‘. Auch im Wissenschaftsumfeld geht es ums Sehen und Gesehen werden. Ein wirklich guter Wissenschaftler oder eine exzellente Forscherin, der oder die nicht gesehen wird, bleibt mit der Wirkung der erbrachten Erkenntnisse <?page no="108"?> weit zurück und damit unterhalb der Möglichkeiten der eigenen Entwick‐ lung und Entfaltung. Es geht damit also vor allem um die Frage, wie sehe ich mich selbst und wie, wodurch und wo sehen und verorten mich andere. Dazu gehört dann folgerichtig die Frage: Wie werde ich gesehen und wie kann ich mich angemessen sichtbar machen? Und diese Sichtweise sollte ganz nüchtern erfolgen und vor allem ohne die heute verbreitete Peinlichkeit vieler medialer Influencer: innen, Selbstdarsteller: innen oder aufdringlicher Selfie-Produzent: innen. Das Ganze beginnt immer mit der Frage der Selbstreflexion und der Frage, wie ich mich selbst wahrnehme. Erst wenn ich weiß, wie ich mich selbst sehe, kann ich erschließen, wie und wo mein eigenes Selbstbild und mein Fremdbild durch andere zueinander passen - oder eben nicht. Oft passen beide Faktoren nämlich nicht, denn in Bezug auf die Selbstwahrnehmung gibt es zwei Extreme oder, wenn man so will, zwei Formen der Unstimmig‐ keit der Selbst- und Fremdwahrnehmung“ „Und die wären? “, fasste Amisha fordernd nach. „Dazu noch einmal zurück zur Metapher des Jahrmarktes“, holte Leo aus. „Früher gab es dort zur Belustigung der Besucher: innen ein sogenanntes Spiegelkabinett. Das waren hintereinander aufgereihte, verformte Spiegel. Manche dieser Spiegel hatten etwa eine konkav gekrümmte Oberfläche. Man sah sich folglich größer als in einem normalen, planen Spiegel. Andere Spiegel hingegen waren konvex gewölbt, man sah sich also deutlich kleiner und kompakter. Heute sind solche Unterhaltungsangebote meist nicht mehr spektakulär und attraktiv genug für einen Jahrmarkt, weshalb ein solches Spiegelkabinett zur Rarität verkümmert ist.“ „Aha! “, meinte Amisha lakonisch. „Und was hat das mit dem Thema berufsspezifischer Selbstreflexion zu tun? “ „Ganz einfach“, beschwichtigte Leo. „Es geht um das Thema verzerrte Wahrnehmung oder Selbsttäuschung. Und das ist gerade im beruflichen oder generell im allgemeinen menschlichen Zusammenhang ein wichtiges Thema. Selbstreflexion bedeutet ja nicht automatisch, dass man bei dieser Übung ein objektives, unverzerrtes Bild seiner selbst produziert. Manchmal konstruiert man vielmehr ein Bild seiner selbst, das möglicherweise von Außenstehenden deutlich anders wahrgenommen wird. Im Bereich der Selbstwahrnehmung gibt es - wie du bereits richtigerweise vermutet hast - zwei Extreme, die mitunter gerade im Coaching eine 108 Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis <?page no="109"?> tragende Rolle spielen, und zwar das sogenannte Impostor-Syndrom und der Dunning-Kruger-Effekt.“ „Puh“, meinte Amisha, „jetzt wird es offensichtlich recht fachchinesisch! “ „Klingt schlimmer und komplizierter, als es scheint“, beruhigte Leo. „Kurz gesagt dazu folgendes: Das Impostor- oder - auf gut Deutsch - das Hochstapler-Syndrom beschreibt ein psychologisches Phänomen, bei dem Betroffene von massi‐ ven Selbstzweifeln in Bezug auf die eigenen Leistungen oder Fähigkeiten gepeinigt werden. Letztlich sind sie hierdurch gehemmt bis unfähig, ihre persönlichen Erfolge als solche wahrzunehmen und anzuerkennen. Trotz objektiver Leistung glauben die Betroffenen, dass sie sich ihre Erfolge ir‐ gendwie ermogelt, nur durch Zufall oder mit Glück erworben, aber jedenfalls nicht wirklich und redlich verdient haben. Menschen mit einem ausgepräg‐ ten Hochstapler-Syndrom befürchten mit dieser Art von überkritischem Selbstbild, beständig überschätzt und überbewertet zu werden. Manchmal sind solche Selbstzweifel derart überzogen, dass die Betroffenen sich quasi selbst als Hochstapler wähnen. Logischerweise befürchten sie dann, von anderen irgendwann als Blender oder Betrügerin entlarvt zu werden. In dieser extremen Ausprägung handelt es sich tatsächlich um eine klas‐ sische psychische Störung. Sie böte damit keinen Anlass für ein Coaching, sondern wäre eine klare Indikation für eine Psychotherapie. Mildere Formen dieses Impostor-Syndroms kommen aber auch im Coa‐ ching immer wieder vor. Das sind dann Menschen mit einer grundsätzlich positiven Eigenschaft oder Tugend, nämlich sich selbst in Frage stellen zu können. Das Problem ist nur, dass eine stark übertriebene Tugend zum Problem und zur Stolperfalle wird. Bei solch milderen Formen sagt dann der Volksmund, dass jemand ‚sein Licht unter den Scheffel stellt‘, sich also beständig kleiner und unbedeuten‐ der macht, als er oder sie tatsächlich ist. Meine subjektive Erfahrung als Coach ist, dass dieses Phänomen bei Frauen mittleren Alters tendenziell häufiger zu beobachten ist als bei Männern und bei jüngeren Frauen. Das ziemlich genaue Gegenteil stellt der Dunning-Kruger-Effekt dar, den die zwei Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger bereits Ende der 1990er-Jahre beschrieben haben - und der auch nach ihnen benannt ist. Zusammengefasst und verkürzt kann man sagen, dass die beiden Entdecker der Meinung waren, dass manche Menschen einfach derartig stringent inkompetent sind, dass sie schlicht nicht in der Lage sind, ihre eigene Inkompetenz zu erkennen.“ 109 Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis <?page no="110"?> Amisha, die zu ihrem Café au Lait gerade ein Croissant genoss, musste vor Lachen derartig losplustern, dass die Blätterteigkrümel ihres Croissants über den Tisch flogen. „Sorry! “, meinte sie entschuldigend, „Aber das klingt ja irgendwie logisch und dennoch einfach zu komisch: Dass man wirklich zu dumm sein kann, um seine Beschränktheit selbst zu erkennen.“ Sie nahm schnell noch einen Schluck Kaffee. „Aber bei näherem Hinsehen und beim Nachdenken etwa über Donald Duck, Donald Trump oder andere tragisch-komische Vertreter der Menschheit scheint einiges dran zu sein an dieser Theorie“. „In der Tat! “, bestätigte Leo. „Man hat später dazu einige interessante sozialpsychologische Experimente gemacht“, ergänzte Leo. „So hat man zu Beispiel Prüflinge vor ihrer anstehenden Prüfung zu ihrer selbst vermuteten Kompetenz in Bezug auf ihr Wissen über den prüfungsrelevanten Lernstoff befragt. Und siehe da, die Prüflinge, die von sich glaubten, sie wären total kompetent und würden bei ihrer Prüfung wohl gut oder sehr gut abschneiden, legten später tendenziell das schlechtere Ergebnis vor. Umgekehrt konnten die Kandidat: innen, welche eher Respekt vor der Fülle des Stoffes hatten und sich selbst zu ihrer Kompetenz vorsichtiger äußerten, am Ende tendenziell mit den besseren Ergebnissen punkten. Mit anderen Worten: Selbstüberschätzung und Inkompetenz scheinen also tatsächlich des Öfteren zu korrelieren. In seiner drastischen Ausprägung zeigt der Dunning-Kruger-Effekt also eine schon pathologische narzisstische Selbstüberschätzung. Bei milderen Formen ist immerhin noch ein durchaus auffälliges Maß an Selbstüberschät‐ zung und -erhöhung zu beobachten. Meine subjektive Erfahrung als Coach ist, dass dieses Phänomen bei Männern häufiger zu beobachten ist und tendenziell eher bei Menschen jüngeren Alters. Des Öfteren höre ich zum Beispiel von erfahrenen und gestanden Wis‐ senschaftler: innen, dass ihre noch jungen Master-Studierenden oder junge Promovierende meinen, ihren Betreuern bereits fachlich, analytisch oder methodisch das Wasser reichen zu können oder ihnen gar überlegen zu sein. Von einigen wenigen Ausnahmen juveniler Genies abgesehen, kann das tatsächlich ein Zeichen sein für einen gewissen Grad einer solchen Selbstüberschätzung. Vielleicht verstehst du nun, mit dem Wissen über die beiden erwähnten Phänomene, meine Metapher mit dem Spiegelkabinett etwas besser.“ 110 Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis <?page no="111"?> „Ja, unbedingt“, meinte Amisha. „Irgendwie scheint es nicht einfach zu sein, den richtigen Mittelweg zu finden zwischen einer angemessenen selbstkritischen Haltung und einem mindestens ebenso notwendigen und gesunden Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Wie begegnen dir denn diese beiden Typen in der Beratung oder im Coaching? “ „Zunächst einmal: Die beiden genannten Extremformen sind selten“, erläuterte Leo. „Einen Klienten mit einem ausgeprägten Impostor-Syndrom würde ich, wie gesagt, an einen Therapeuten verweisen. Aber mildere Formen von überzogenen Selbstzweifeln kommen tatsächlich öfter vor. Dann gilt es, den Fokus zu setzen auf die objektiven und wahrnehmbaren Ressourcen, Kompetenzen und Talente meiner Coachees und deren menta‐ ler Neubewertung im gesunden Selbstbewusstsein. Von den ausgeprägten und chronischen Selbstüberschätzer: innen bleibe ich als Berater in aller Regel verschont. Ein waschechter narzisstischer Selbstüberschätzer ist von Natur aus meist beratungsresistent. Wer selbst nicht merkt oder zumindest ahnt, dass er nicht perfekt ist und rundherum einzigartig, der holt sich von anderen weder Rat noch Unterstützung. Insofern sage ich als Coach das, was auch viele Psychotherapeut: innen von ihren Patient: innen sagen: Viele wirklich Bedürftigen kommen oft nicht, weil sie den Bedarf nicht sehen - zumindest nicht bei sich selbst.“ „Was kann man denn tun, um nicht allzu selbstblind zu werden in Bezug auf eine möglichst realitätsnahe Selbstreflexion? Ich denke, ein Besuch in einem Spiegelkabinett scheidet schon einmal aus“, vermutete Amisha grinsend. „Was helfen kann, ist eine systematische Selbstreflexion und vor allem ein möglichst breit gestreutes, ehrliches und wohlwollendes Feedback durch andere“, meinte Leo. „Ich empfehle dazu eine kleine Übung: Nimm ein Blatt Papier und schreibe einmal auf, welche Fähigkeiten, Skills, Kenntnisse und Verhaltensweisen für deine aktuelle oder angestrebte berufliche Situation notwendig sind. Zeige diese Liste Kolleg: innen, Freund: innen, deiner Führungskraft oder deiner Betreuer: in und kläre ab, ob etwas fehlt oder möglicherweise etwas des Guten zu viel ist. Aus der so gegebenenfalls angepassten Liste erstellst du eine Matrix beziehungsweise eine Tabelle, in der du eine Bewertungsskala einfügst; etwa von eins bis zehn. Jetzt gehst du hin und beurteilst nach deinen eigenen Maßstäben einmal, wie du deine eigenen Ressourcen und Talente einschätzt. 111 Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis <?page no="112"?> So hast du schon einmal einen ersten Eindruck eines systematischen Selbst‐ bildes. Dann zeigst du deine kleine Tabelle - natürlich als Blanko-Version - aus‐ gewählten Menschen deines Vertrauens und aus deiner Umgebung - Leuten also, die dich im Kontext dieser Eigenschaften recht gut kennen sollten. Eben diese fragst du nach ihrer ehrlichen Einschätzung. Und schwuppdiwupp hast du ein differenziertes, aber passgenaues Selbst- und Fremdbild, wenn du beide Ergebnisse einmal nebeneinanderlegst. Feedback bedeutet aber auch, die möglicherweise unterschiedlichen Sichtweisen nicht zu diskutieren oder zu zerreden. Ein Feedback sollte kein Anlass sein zur Diskussion darüber, wer mit seinen Wahrnehmungen recht hat. Subjektive Wahrnehmungen sind einfach - anders als Bewertungen - von sich aus richtig. Nachfragen hingegen ist gut und hilfreich. Frage also, woran andere bestimmte Einschätzungen oder Beobachtungen zu deiner Person festmachen. So lernst du besser, die Sichtweisen anderer zu verstehen, anstatt sie infrage zu stellen oder einfach als lästig und unerwünscht abzuschütteln. Beim Feedback immer gilt die goldene Regel: ‚No feedback to feedback‘. Also: Gut zuhören statt Rückmeldungen zu kommentieren, zu erklären oder zu rechtfertigen. Ich glaube, wenn wir genau das öfter einmal tun würden, hätten wir alle etwas mehr Verständnis von uns selbst und etwas mehr Klarheit darüber, wie wir von anderen gesehen werden.“ „Und wie siehst du mich? “, fragte Amisha. „Glaubst du, dass ich etwas taugen würde, wenn ich mich entschließen würde, in die Wissenschaft zu gehen? “ „Nein, nein, nein! “, wehrte Leo ab. „Jetzt versuchst du eine Abkürzung zu machen und nicht das umzusetzen, was ich eben empfohlen habe. Erstelle einfach einmal eine solche Liste, wie ich sie dir eben beschrieben habe. Tue das mit all den Komponenten, die für die Arbeit in der Wissenschaft wichtig sind. Gerne kannst du dies parallel für die Alternativen machen, etwa für die Arbeit im Wissenschaftsjournalismus oder für die Arbeit eines Coaches. Tue es jetzt oder warte, bis du noch ein paar mehr Fakten und Informationen gewonnen hast. Und wenn du dich dann erst einmal selbst eingeschätzt hast, dann werde ich gerne mein Feedback beisteuern.“ „O.k.! “, brummelte Amisha ein wenig enttäuscht. „Vermutlich hast du Recht, denn diese Übung macht zum Abschluss meiner kleinen Privatstudie vermutlich in der Tat noch etwas mehr Sinn. Ich werde also später gerne auf dein Angebot zurückkommen.“ 112 Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis <?page no="113"?> Die beiden gönnten sich zum krönenden Abschluss ihres Treffens noch zwei köstliche Petit Fours aus der verführerischen Auslage der Boulangerie und machten sich anschließend auf den Heimweg. 113 Exkursion auf den Jahrmarkt der Selbsterkenntnis <?page no="115"?> Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest Amishas nächster Interviewpartner weilte bereits auf der komfortablen oberen Ebene des Olymps einer Wissenschaftskarriere. Seit nun bereits fünf Jahren war er W3-Professor für Psychologie an einer sächsischen Univer‐ sität. Insofern sah er seine, vor nunmehr 15 Jahren gesetzten Berufsziele zunächst durchaus als erfüllt an. Über ihm thronten in Form von Dekan: innen, (Vize-)Präsident: innen, Rektor: innen, Institutsdirektor: innen und anderen Größen noch die Titanen und Giganten der Wissenschaft, aber seine Stelle als ordentlicher Universi‐ tätsprofessor empfand er zurecht durchaus als respektablen Erfolg. Nun hatte er jedenfalls eine feste Stelle als beamteter Hochschullehrer eine befriedigende Grundausstattung an Räumen und Personal, seine eige‐ nen, selbst eingeworbenen Projektmittel für spannende Forschungsvorha‐ ben sowie eine erfüllende Einbindung in die Lehre des Fachbereiches. Er hatte das erreicht, wovon viele noch träumen im Wissenschaftssystem. Leo hatte Amisha mit dessen Einverständnis seine Vita kurz geschildert und ihr seine Kontaktdaten überlassen. Tobias hatte nun, wie sich in ihrem ersten Telefonat herausstellte, in diesem Sommer verschiedene Termine an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Hierbei handelt es sich, um eine, in ihren Ursprüngen bereits seit dem 18. Jahrhun‐ dert bestehenden, wissenschaftliche Vereinigung, deren Bedeutung von nunmehr 80 Nobelpreisträger: innen mitgeprägt wurde. Die Akademie der Wissenschaften war unmittelbar am Berliner Gen‐ darmenmarkt gelegen. Mit dem von Schinkel entworfenen ehemaligen Schauspielhaus sowie dem Deutschen und dem Französischen Dom gilt der Gendarmenmarkt als der schönste Platz des alten Berlins. Diese Einschät‐ zung traf nach Amishas Meinung noch heute zu, obwohl einige klobige Plattenbauten der Randbebauung des historischen Platzes den Gesamtein‐ druck etwas störten. Amisha und Tobias einigten sich bei ihrer Verabredung schnell auf das am Gendarmenmarkt gelegene Lutter & Wegner. Dies war und ist ein be‐ reits Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeter Berliner Gastronomiebetrieb mit Weinstube, Restaurant und Sektkellerei. Diese Lokalität ergänzte sich trefflich mit der Geschichte des Gendarmenmarktes und der Akademie <?page no="116"?> der Wissenschaften und ganz nebenbei mit Amishas gastronomischen Ansprüchen. Das Lutter & Wegner bietet delikate Gerichte aus der gehobeneren Deut‐ schen, der Österreichischen und der speziellen Berliner Küche, gepflegte Biere und eine erlesene Weinkarte. Wer Stoßzeiten zu umgehen versteht, findet hier eine behagliche Atmosphäre ohne Rummel, Gedränge oder die Berliner (Polit-)Prominenz, die diesen ansprechenden Ort ebenfalls zu schätzen weiß. Dieses Mal war Amisha etwas aufgeregter als sonst, war es doch ihr erstes Interview mit einem waschechten Universitätsprofessor. Kontakte mit dieser Spezies waren ihr als Absolventin eines Universitätsstudiums zwar nicht fremd, aber der Kontext dieses Treffens war für sie diesmal anders. Schließlich ging es in ihren Interviews um persönliche Angelegenheiten und biographische Themen, die durchaus recht privat waren. Amisha und Tobias trafen sich vormittags um elf Uhr. Vor den üblichen Business-Lunch-Verabredungen vieler Gäste war es jetzt noch ruhig hier und man konnte ungestört und ungehört persönliche Themen bei einem Kaffee besprechen. Tobias kannte Amishas Intension bereits von einem Gespräch mit Leo und durch ihr telefonisches Vorgespräch hatte Amisha diese Information noch einmal vertieft. So gerüstet konnten die beiden nach einer kurzen Begrüßung am Eingang gleich zu Sache kommen, nachdem sie an einem abseits gelegenen Tisch Platz genommen hatten. „Auf das Gespräch mit Ihnen war ich besonders gespannt“, begann Amisha die Konversation. „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was einen so erfolgreichen Wissenschaftler wie Sie dazu veranlassen mag, ein Coaching in Anspruch zu nehmen.“ „Zunächst einmal vermute ich hinter Ihrer Frage ein Vorurteil, das da lautet: Coaching wird primär genutzt von Menschen mit beruflichen Pro‐ blemen“, entgegnete Tobias. „Tatsächlich gibt es aber durchaus erfolgreiche Menschen in Wissenschaft oder Business, die erfolgreich sind und dennoch einige Themen oder Probleme mit sich herumschleppen, ohne sie einfach locker abschütteln oder dauerhaft lösen zu können.“ „Vermutlich haben Sie recht“, gestand Amisha. „Aber Ihre Vita ist einfach zu beeindruckend. Sie haben in der Regelstudienzeit studiert, bereits mit 28 Jahren Ihren PhD gemacht und das sogar noch an der Yale Universität, die zu den Top-Adressen in den USA gehört. Sie waren als Postdoc in Maastricht in den Niederlanden und an Universität von Padua in Italien. Sie haben 116 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="117"?> zwei nennenswerte Preise erhalten, eine beeindruckende Publikationsliste, Sie haben eine maßgebliche Monographie über Ihr Fachgebiet veröffentlicht und so weiter. Und nun sind Sie nach einer Zwischenstation als W2-Professor in Erlan‐ gen seit einigen Jahren Lehrstuhlinhaber und Leiter eines psychologischen Institutes einer namhaften Universität in Sachsen. Das ist doch genau das, wovon viele Forschende träumen.“ Amisha ließ sich ihren aufrichtigen Respekt durchaus anmerken. „Das ist richtig“, entgegnete Tobias. „Aber man darf nicht vergessen, dass dieser Erfolg seinen Preis hatte. Umzüge, Fernbeziehung über längere Zeiträume - eine Paarbeziehung ist daran zerbrochen. Es folgten später zwei Umzüge mit der Familie, die durch den letzten Umzug entstandene temporäre berufliche Entwurzelung meiner Frau und dazwischen immer wieder Bewerbungen, Berufungsverhandlungen, Schaulaufen und all das, was dazugehört. Das Leben in der Wissenschaft ist mitunter das von Nomaden. Mein Schwager sagt dazu: ‚Ihr seid wie Zimmerleute auf Wanderschaft - oder wie man sagt: ‚auf der Walz‘. Ihr zieht von Ort zu Ort, sammelt Erfolge, Erfahrungen und Anerkennung, um dann selbst einmal Meister oder Meisterin zu werden, um sich dann vielleicht - vielleicht auch nicht - irgendwo niederzulassen.‘ Aber Sie haben Recht. Was den Erfolg aller dieser Mühen betrifft, kann und will ich nicht klagen. Im Gegenteil empfinde ich dahingehend durchaus so etwas wie Demut. Schließlich gehört zum Erfolg immer ein Quantum Glück in Form von robuster Gesundheit, wohlgesonnenen Förderern, guten Kon‐ takten oder etwa temporären Gelegenheiten, die nicht jedem zuteilwerden. Und dennoch: Erfolg ist - zumindest auf Dauer - keine hinreichende und alleinige Grundlage für Glück und Zufriedenheit.“ „Upps! “, entwich es Amisha. „Ich dachte bisher, wenn man gesund ist, keine ernsthaften Probleme hat im Privatleben, in einem einigermaßen geordneten Wohlfahrtsstaat lebt und dann auch noch Spaß und Erfolg findet im Beruf, dann sei dies der Freibrief für Glück oder zumindest für Zufriedenheit auf hohem Niveau“. „So weit richtig“, bestätigte Tobias Amishas Hypothese. „Aber die meisten Kriterien Ihrer Aufzählung gelten für viele Menschen zumindest in Mittel‐ europa. Und gerade dort findet man global betrachtet überdurchschnittlich viele Zeitgenoss: innen, die permanent ihre Unzufriedenheit artikulieren. Lesen Sie bei Gelegenheit doch einmal das kurzweilige Büchlein ‚Hectors 117 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="118"?> Reise oder die Suche nach dem Glück‘ von François Lelord, dann verstehen Sie vielleicht besser, was ich unter Glück verstehe. Oh, sorry! “, unterbrach sich Tobias selbst. „Jetzt habe ich wieder einmal sehr den Lehrer in mir strapaziert. Aber davon abgesehen: Was den beruflichen Erfolg betrifft, stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit des Erlebens von Zufriedenheit oder gar Glück. Wenn Glück zum Normalzustand wird, verliert es irgendwann seinen Zauber. Und schließlich gilt: Nicht jede Glückserwartung wird so erfüllt wie erhofft.“ „Wie meinen Sie das? “, wollte Amisha wissen. „Das klingt für mich gerade etwas kryptisch.“ „Ihr Onkel, Leo Borchert, hatte dazu eine passende Metapher. Er meinte, dass es mit den persönlichen Zielen und deren Erreichung manchmal so ist wie mit der Besteigung des Mount Everest. Im wahren Leben ist das ja für viele tatsächlich ein Wunsch- oder Traumziel, das - wenn man die Medien verfolgt - offensichtlich mehr Menschen teilen, als es diesem Berg und dem Himalaja insgesamt zuträglich ist. Wenn man sich einmal bei YouTube oder anderswo Bilder von der Besteigung dieses höchsten Berges der Welt anschaut, sieht man tatsächlich das Gedränge und die Schlangen all jener, die dieses Ziel anstreben. Bei Zielen oder Visionen hat man meist ein bestimmtes Bild vor Augen. Dafür ist die Mount-Everest-Metapher Ihres Onkels in der Tat ein nettes Beispiel. Denn nach all den Aufstiegen zu den verschiedenen Basislagern, den Anstrengungen und Entbehrungen sieht man sich im Vorfeld der Besteigung gedanklich bereits glücklich und zufrieden auf dem Gipfel. Ergriffen vom zu erwartenden Panorama des imposanten Himalajas, der eigenen Leistung und der Treue der fleißigen Sherpas hält man dann vor seinem geistigen Auge diesen wunderbaren Moment in einem zeitgemäßen Selfie fest und macht sich voller Erfüllung und Stolz frohgemut an den Abstieg. So jedenfalls malen sich viele diese Vision aus. In der Wirklichkeit ist ein solches Erfolgserlebnis ziemlich sicher eine veritable Illusion. Die Realität ist nämlich eine durchaus andere: Beim Aufstieg zum Gipfel ist es dort in der Höhe des Berges meist neblig und der Gipfel hüllt sich in Wolken. Die Luft ist so dünn, dass es eine Sauerstoffmaske braucht. Zudem rücken massenhaft und ungeduldig die nächsten Gipfelstürmer nach. Kein gastlicher Ort also für ein entspanntes Verweilen, erbauliche Erinnerungen oder selbstverliebte Selfies. Was will nun diese Metapher transportieren? 118 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="119"?> Es ist so: Wir lassen uns manchmal leiten von Zielen, Missionen oder Visionen, die uns treiben und motivieren. Wenn wir diese Ziele jedoch erreicht haben, finden wir mitunter eine Wirklichkeit vor, die sich in mehr oder weniger großen Teilen nicht mit unserem ursprünglichen Traum deckt. Letztlich ging es mir in meiner wissenschaftlichen Karriere selbst ein wenig so.“ „Wie das? “, fragte Amisha mit einer Mischung aus Verwunderung und Neugierde. „Natürlich war ich nicht so naiv, wie es die geschilderte Metapher mit der Bergbesteigung nahelegt. Aber in der Tat habe ich mir trotz vorherigem Einblick in das Wissenschaftssystem manches anders vorgestellt, als ich es heute erlebe. Manches habe ich überschätzt, vieles andere dagegen unterschätzt.“ „Und was genau war für Sie anders als angenommen? “, fasste Amisha nach. „Ich habe den bürokratischen, administrativen, wissenschaftspolitischen und organisatorischen Aufwand eines Lehrstuhlinhabers unterschätzt. Viel‐ leicht ist das gerade an meiner derzeitigen Universität ein Charakteristikum, aber ich kenne es letztlich auch von Kolleg: innen aus anderen Hochschulen. Jedenfalls habe ich seit etwa zwei Jahren kaum mehr Zeit für eigene und echte Forschung. Ich sehe mich zunehmend als Wissenschaftsmanager, der organisiert, argumentiert, Gremienarbeit betreibt und von einer Bespre‐ chung zur nächsten eilt. Ich fühle mich mitunter entfremdet als jemanden, der Wissenschafts- und Personalpolitik betreibt für sich und sein Fachgebiet, Räume und Budgets verteidigt, als jemand der Mitarbeiter: innengespräche führt und Einstellungsinterviews oder der als Troubleshooter im Einsatz ist für das eigene Team. Für eigene Forschung bleibt faktisch wenig bis keine Zeit. Genau dafür bin ich aber seinerzeit Wissenschaftler geworden. Und die von mir betreuten Promovierenden und PostDocs müssen mir mittlerweile nachhetzen und völlig zurecht meine Aufmerksamkeit und Zeit einfordern für Korrekturen, Besprechungen, Freigaben für Publikationen oder simple Perspektivgesprä‐ che.“ „War diese Erkenntnis für Sie ausschlaggebend für ein Coaching? “, wollte Amisha wissen. „Ja, letztlich war dies ein Hauptbeweggrund“, entgegnete Tobias. „Ich wollte mich selbst und meine Prioritäten einmal mit jemandem neu sor‐ 119 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="120"?> tieren, der das System, dessen Regeln und Eigenarten kennt, aber nicht unmittelbar darin verwoben ist. In meinem Alter - ich bin jetzt Anfang 50 - droht ja immer das, was man im Volksmund die Midlife-Crisis nennt. Wer weiß, dass das griechische Wort krisis nichts anderes bedeutet als Entscheidung oder Beurteilung, der muss diese Lebensphase nicht als so seltsam, erschreckend oder gar albern ansehen. „Ja, das mit der Bedeutung des griechischen Wortes krisis hat mir mein Onkel neulich auch schon vermittelt“, fiel Amisha ein. „Lassen Sie mich zu dem, was mich im letzten Jahr bewegt hat, als ich das Coaching begann, noch einmal die Berg-Metapher strapazieren. Ich stellte mir selbst zwei Fragen: Frage A: Bin ich überhaupt schon auf dem Mount Everest angekommen? Ich habe zwar jetzt die von mir angestrebte Position eines Hochschullehrers erreicht. Aber schließlich gibt es darüber hinaus ja durchaus noch interes‐ sante und herausfordernde Positionen, etwas als Dekan, als Vizerektor für Forschung oder Lehre, als Rektor der Universität oder etwa als Präsident einer der großen Forschungsverbünde. Es sind dies Positionen, an die ich vor fünf Jahren noch gar nicht gedacht habe. Aber es gibt sie und sie sind durchaus nicht ohne Reiz, weil auf diesen Positionen heraus der Einfluss auf die Ausrichtung von Lehre und Forschung um ein Mehrfaches größer ist als aus der Stellung eines normalen Hochschullehrers. Und so fragte ich mich: Kann ich das? Und will ich das wirklich? Frage B: Wenn ich jetzt tatsächlich bereits auf dem Gipfel angekom‐ men sein sollte - will ich wirklich hier verweilen? Möchte ich diesen permanenten Spagat zwischen Management, Betreuung, Lehre, universitä‐ rer Selbstverwaltung, Gremienarbeit sowie Team- und Personalführung so fortsetzen? Was kann und sollte ich tun, um wieder mehr Priorität auf die eigene Forschung legen zu können? Die Summe beider Fragen legten nahe: Ich muss mich entscheiden. Es gilt zunächst innezuhalten und zu überlegen, was ich will und wie ich es am besten erreiche. Entweder back to the roots und mehr auf die operative Wissenschaft konzentrieren oder looking forward hin zu Strategie und Management im Wissenschaftsbetrieb“. „Hatten Sie denn damals - zumindest gefühlt - eine Tendenz in die eine oder andere Richtung? “, wollte Amisha wissen. „Für beide Alternativen gab und gibt es gute Argumente“, erläuterte Tobias. „Zunächst favorisierte ich das, was die meisten Menschen tun: 120 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="121"?> Festhalten an dem und intensivieren dessen, was man gewohnt ist zu tun und mit dem man bereits gute Erfahrungen gemacht hat. Paul Watzlawick, der Kommunikationswissenschaftler, nannte das einmal das ‚Prinzip des mehr Desselben‘. Aber auch ein Wechsel in den Bereich Wissenschaftsorganisation, -ma‐ nagement und -politik hat seine Reize. Einige meiner Kolleg: innen drängten mich schon seit geraumer Zeit, für die vakant werdende Stelle des Dekans unserer Fakultät zu kandidieren. Und drei Jahre später wäre an unserer Uni die Position des Prorektors für Forschung und internationale Kontakte neu zu besetzen. Die Zeiten für eine Laufbahn innerhalb die Universitätshierar‐ chie an unserer Universität sind also gerade recht günstig.“ Amisha war anzusehen, dass sie gerade ein Verständnisproblem hatte. „Um ehrlich zu sein: Was ein Dekan so macht, weiß ich als Absolventin eines Masterstudiengangs nur in Grundzügen. Aber die Aufgaben eines Prorektors oder einer Prorektorin kenne ich gar nicht“, gab Amisha zu. „Den Begriff habe ich bisher nicht einmal gehört.“ „Das wundert mich nicht“, entgegnete Tobias. „Sie haben in Berlin studiert. Dort gelten - wie in jedem Bundesland - andere Hochschulgesetze. An den Berliner Universitäten nennt man diese Funktion ‚Vizepräsident‘ oder ‚-präsidentin‘. Zunächst aber einmal für Sie in Kürze und etwas vereinfacht ein kleiner Input. Der ist tatsächlich sinnvoll, weil es durch die Vielfalt der Deutschen Bundesländer und darüber hinaus in Österreich oder der Schweiz Ausnah‐ men gibt. In der Regel ist es aber wie folgt: Die Präsident: in beziehungsweise die Rektor: in vertreten die Universität nach außen. Während die Kanzler: in traditionell der Verwaltung vorstehen, sind Rektor: in oder Präsident: in als obere Führungspersonen für Wissenschaft, Forschung, Lehre und die strategische Ausrichtung der Hochschule verantwortlich. Präsident: innen oder Rektor: innen - beide Begriffe bezeichnen nahezu identische Funktionen - werden vom Senat gewählt oder ernannt, ein Aufsichtsgremium, das anderenorts Universitätsrat heißt, Verwaltungsrat, Akademierat oder ähnlich. Vizepräsident: innen, Prorektor: innen oder Vizerektor: innen sind sozusa‐ gen auf zweiter Ebene Mitglieder der Hochschulleitung und zuständig für spezielle Aufgaben zum Beispiel für Lehre und Bildung oder für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs oder etwa für Internationales und Di‐ versität. Die jeweiligen Zuschnitte dieser Aufgaben von Vizepräsident: innen oder Prorektor: innen sind divers. 121 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="122"?> Die Prorektor: innen oder Vizepräsident.innen werden bestimmt oder gewählt. Meist endet ihre Amtszeit mit der der Präsident: in oder der Rek‐ tor: in. Wichtiger Unterschied: Manche dieser Führungskräfte der zweiten Hierarchiestufe werden für bestimmte kürzere Zeiträume gewählt und üben ihre Tätigkeit nur vorübergehend im Nebenamt aus. Sie können nach der Amtsübernahme zwar ihre Lehrverpflichtungen reduzieren, managen ihre Aufgabe aber neben ihrer Tätigkeit als Hochschullehrer: innen. An anderen Universitäten in anderen Ländern oder Bundesländern ist diese Aufgabe dagegen - wie auch in meiner Universität - als hauptamtliche Position ausgelegt, aus der heraus man natürlich ganz anders agieren kann. Eine Dekan: in dagegen leitet den Fachbereich beziehungsweise die Fa‐ kultät, was das Gleiche meint. In einem solchen Dekanat oder Fachbereich werden miteinander verwandte Fächer oder fächerübergreifende Bereiche zusammenfasst. Der jeweilige Fächerzuschnitt ist wiederum an jeder Uni‐ versität individuell gestaltbar. Dekan: innen vertreten ihren Fachbereich und führen dessen Geschäfte. Sie sind verantwortlich dafür, dass die Mitglieder des Fachbereichs ihren Aufgaben nachkommen, insbesondere ihren Lehr- und Prüfungsverpflich‐ tungen. Zu den Aufgaben gehören daneben die laufenden Personal- und Verwaltungsangelegenheiten. Dekan: innen sind sozusagen als dritte Füh‐ rungsebene einer Universität in speziellen Angelegenheiten oft weisungsbe‐ fugt, wenn dies nicht die professorale Freiheit von Lehre und Wissenschaft berührt. In den Fachbereichen wiederum gibt es Vize- oder Prodekanate für bestimmte Aufgabenbereiche etwa als ‚Prodekan: in für Lehre‘ auch ‚Studi‐ endekan: in‘ genannt und andere mehr. Dekan: innen werden in der Regel vom Fakultäts- oder Fachbereichsrat gewählt. Auch hier gibt es Unterschiede in der Dauer der Wahlperiode für dieses Ehren- und Nebenamt. In seltenen Fällen werden in den deutschspra‐ chigen Ländern mitunter hauptamtliche Dekan: innen bestimmt, während dies zum Beispiel in den USA viel häufiger der Fall ist. So viel in Kürze zu den universitären Strukturen. Ein Letztes noch: In den außeruniversitären Forschungszentren ist die organisatorische Gliederung durchaus ähnlich, auch wenn es dort sehr viel weniger Mitbestimmung durch Wahlen, Gremien und Unterfunktionen gibt und professionelle und organisatorische Funktionen viel seltener temporär oder per Rotation vergeben werden.“ 122 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="123"?> Durch Tobias Erläuterungen zu den Strukturen und Funktionen in der Wissenschaft war die Zeit schnell fortgeschritten. Die beiden beschlossen daher, dem aufkommenden Hungergefühl mit einer Berliner Kartoffelsuppe zu begegnen. Nach diesem Imbiss setzte Amisha ihr Interview zielstrebig fort. „Es scheint nach Ihrer Darstellung so, als ob es an den Universitäten viele aufwändige Ehren- und Nebenämter geben würde“, schloss Amisha aus Tobias Vortrag. „In der Tat ist das so“, bestätigte Tobias. „Und das ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits sind sehr viel Mitbestimmung und Gleichberechtigung im Spiel und oft gibt es angenehm flache Hierarchien. Andererseits ist dieses Nebenamts- und Selbstverwaltungsmodell mit beständiger Fluktuation und Rotation verbunden. Kaum hat man sich in eine Position eingearbeitet, folgt schon jemand Neues nach. Ein weiteres Problem: Alle Hochschullehrer: innen sind formal mehr oder wenig gleichgestellt und unterliegen der Freiheit von Lehre und Forschung. Wenn ein Kollege im Fachbereich oder eine Kollegin nicht mitzieht, dann wird es schwierig. Zudem wollen alle möglichen Personen und Gremien mitentscheiden und am besten bei allem mitreden. Mitunter hat man den Eindruck, eine Universität ist mit 30 Prozent ihrer Energie mit sich selbst beschäftigt und nicht mit der Wahrnehmung ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich gute Lehre und Forschung zu betreiben.“ „Um auf Ihr Coaching zurückzukommen“, fuhr Amisha fort, um das Gespräch wieder in die ursprüngliche Richtung zu lenken, „in welche Richtung entwickelte sich denn Ihre Entscheidung? “ „Je mehr ich im Coaching das Für und Wider abgewägt habe, desto mehr dachte ich, dass alles nach einem Dilemma aussieht: Will ich dieses oder will ich jenes. Wissen Sie, Coaching ist schon ein interessanter Prozess. Ein guter Coach ist ja kein Lehrer, Berater oder Besserwisser. Durch seine Fragen und die Ge‐ spräche wirkt er eher wie ein Katalysator bei chemischen Prozessen. Durch seine Teilnahme und Ergänzung entsteht bestenfalls etwas Neues aus dem eigentlich bereits Vorhandenen und den eigenen Impulsen. Im Coaching dann kam ich jedenfalls darauf, aus meinem Dilemma ein Tetralemma zu transformieren.“ „Was bitte ist ein Tetralemma? “, wollte Amisha wissen. 123 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="124"?> „Nun, ein Dilemma ist ein Produkt aus der griechischen Logik und be‐ kanntlich das, was man eine Zwickmühle nennt: links oder rechts, gut oder schlecht, schwarz oder weiß. Aus der südasiatischen Logik entstammt das sogenannte Tetralemma, das nicht aus zwei, sondern aus vier Alternativen besteht und damit das Spektrum der Entscheidungsvarianten verdoppelt.“ Tobias nahm eine Papierserviette und seinen Kugelschreiber und visua‐ lisierte für Amisha seine Erläuterungen: „Während das Dilemma nahelegt, dass es nur zwei Lösungen gäbe, beschert uns das Tetralemma gleich vier Alternativen. Und dahingehend entwickelte sich letztlich meine Entscheidung - nämlich in Richtung ‚sowohl als auch‘.“ „Wie kann ich das verstehen? “, frage Amisha verdutzt. „Nach und nach bildete sich im Coaching ein neuer Ansatz heraus. Es war mir klar, dass ich als Leiter eines wachsenden Instituts nicht mehr so direkt und operativ an und in Forschungsprojekten arbeiten konnte, wie früher als PostDoc oder als W2-Professor, der aus der zweiten Reihe agiert. Aber ich wollte dort, wo ich in Projekten und Studien direkt involviert war, wieder näher dran sein. Deshalb reifte folgender Plan: In meinem Institut wird eine Juniorprofessur geschaffen, die mich entlastet. Ich kann mich so durch eine Teilung der Aufgabe auf weniger Projekte und Promovierende konzentrie‐ ren und die Lehre im Bereich des Bachelorstudiengangs reduzieren. Wenn ich dies in der Fakultät durchsetzen kann, gebe ich dem Lockruf des Fachbereiches nach und erkläre mich bereit, bei der Wahl des Dekans zu kandidieren. Durch die Entlastung, die durch die neue Stelle der Juniorpro‐ 124 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="125"?> fessur entsteht, kann ich den Aufgaben eines Dekans mit hohem Anspruch ernsthaft nachgehen, ohne dass mein Institut in Mitleidenschaft gerät. Und wenn ich dann merke, dass mich die Aufgaben im Universitätsma‐ nagement nachhaltig erfüllen und ich die Akzeptanz des Kollegiums und der Hochschulleitung gewinnen kann, dann kann ich mir in etwa zwei Jahren überlegen, ob mir die dann freiwerdende Stelle des Prorektors für Forschung und Internationales gefallen würde - vorausgesetzt unsere Rektorin kann sich mich in dieser Rolle vorstellen. Diese Position könnte mich deshalb reizen, weil sie an unserer Universität hauptamtlich besetzt ist. Das bedeutet, dass man sich voll und ganz auf die strategisch wichtigen und herausfordernden Aufgaben konzentrieren und mehr bewirken kann als in einem temporären Nebenamt. So ist nun der Stand der Dinge und Sie haben einen tiefen Einblick nehmen können in meine Coaching- und Entscheidungsphase.“ „Dafür danke ich Ihnen herzlich“, entgegnete Amisha aufrichtig dankbar. „Ich hätte niemals erwartet, dass ein Mensch in Ihrer Position so offen und detailreich über seine Coachingerfahrungen und -ergebnisse sprechen würde.“ „Ach, wissen Sie“, entgegnete Tobias. „Ich bin Psychologe. Wenn wir mit den Proband: innen in unseren Studien Interviews führen, geht es um ein Vielfaches privater zu und mitunter werden sogar recht intime Themen angesprochen. Im Übrigen denke ich, dass Sie alle diese Informationen vertraulich behandeln werden.“ Amisha nickte heftig. „Soweit ich Sie und Ihren Onkel verstanden habe, geht es in Ihren Interviews ja vor allem um Erkenntnisgewinnung. Vielleicht keine streng wissenschaftliche, aber es scheint mir schon eine kleine Evaluation zu werden über die Wirkungen und Nützlichkeit von Coaching im wissen‐ schaftlichen Umfeld.“ „Genauso sind meine Interviews gedacht“, bestätigte Amisha. „Und selbst‐ verständlich werden sämtliche in den Interviews gesammelten Informatio‐ nen absolut vertraulich behandelt. Eine Frage noch zum Schluss: Was war für Sie der nützlichste Effekt Ihres Coachings? “ „Wenn Sie ein Coaching starten, dann ist das ja immer ein überschaubarer Zeitraum mit einem definierten und abgestimmten Coachingziel. Diese Kombination hat mir sehr geholfen, meine Fragen, Themen, Ideen und Eindrücke zu bündeln und dem begleiteten, aber letztlich eigenen Erkennt‐ nisprozess eine Struktur zu geben. 125 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="126"?> Möglicherweise wäre ich irgendwann vielleicht von allein zu einem solchen oder einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Aber vielleicht eben auch nicht, wer weiß das schon. Jedenfalls habe ich jetzt ein recht gutes Gefühl mit diesem Resultat. Zumindest kann ich sagen, dass einige der abzuwägenden Aspekte durch meinen Coach ins Spiel gebracht wurden. Ich jedenfalls, der als Psychologe solchen professionellen Methoden wie Coaching oder Beratung ohnehin recht nahesteht, kann solche Angebote nur empfehlen, nicht nur für die Kolleg: innen aus den reinen Naturwissenschaften.“ Der von den beiden genutzte Gastraum füllte sich nun merklich durch Gäste, welche zum Business-Lunch verabredet waren oder die speziellen Mittagsangebote nutzen wollten. Tobias und Amisha nahmen das als Anlass, ihr zum Ende gekommenes Gespräch mit gegenseitigem Dank und guten Wünschen abzuschießen. 126 Tobias: Der Professor auf dem Mount Everest <?page no="127"?> Exkursion zum Weg auf eine Professur Amisha verspürte nach ihrem letzten Interview mit Tobias das dringende Bedürfnis, sich noch einmal mit Leo zu treffen, um vor ihrem nächsten Gespräch noch eine wichtige Frage zu klären. Und so trafen sich beide kurzerhand in Leos Wohnung, um sich über die Entwicklung von Amishas Erkundungsprojekt auszutauschen. Amisha berichtete kurz über ihr aufschlussreiches Gespräch mit Tobias und kam anschließend auf ihre Frage, die sie in Vorbereitung auf ihr nächstes Interview umtrieb. „Jetzt habe ich einiges über die Themen und Karrierefragen eines wasch‐ echten Professors erfahren“, leitete Amisha ihr Anliegen ein. „Meine nächste Kandidatin ist nun eine Juniorprofessorin aus dem Ruhrgebiet. In diesem Kontext ist mir bewusst geworden, dass ich gar nicht wirklich weiß, wie man eigentlich Professor wird oder etwa Juniorprofessorin. Kannst du mir helfen, meine Wissenslücke an dieser Stelle zu schließen? “ „Das mache ich gerne“, meinte Leo, während er frisch aufgebrühten Tee servierte. „In der Tat ist es mit dem Reigen der Hochschullehrer: innen und Profes‐ suren nicht unkompliziert. Und darüber hinaus muss man unterscheiden, wie man zu dem Titel ‚Professorin’ oder ‚Professor‘ kommen kann oder wie man zur Hochschulehrkraft wird, die man ja im eigentlichen Sinne mit diesem Titel in Verbindung bringt. Dazu später mehr. Der klassische Weg zur Professur ist recht einfach zu beschreiben. Nach dem Studium folgt die qualifizierte Promotion und anschließend eine län‐ gere PostDoc-Phase. Diese wird gerne im Ausland gesehen oder zumindest an einer anderen Universität, damit internationale Erfahrungen entstehen und - um es despektierlich zu benennen - akademische Inzucht vermieden wird. In dieser PostDoc-Zeit habilitiert man sich oder erbringt vergleichbare Leistungen wie etwa außergewöhnlich qualifizierte Publikationen oder die Einwerbung bedeutsamer Forschungsmittel. Gleichzeitig erwirbt man Erfahrungen in der Lehre, bei der Betreuung von Studierenden und Promo‐ vierenden, der Gremienarbeit sowie in organisatorischen und Führungsauf‐ gaben. Der mit diesen Merkmalen versehene Lebenslauf bildet dann die <?page no="128"?> sogenannte Venia Legendi, also die Befähigung zur Lehre, denn eine Profes‐ sur bezeichnet ja die Qualifikation und Tätigkeit einer Hochschullehrer: in. So gerüstet bewirbt man sich auf eine ausgeschriebene Professur einer Universität und erhält nach Prüfung und Auswahl durch eine Berufungs‐ kommission dann schließlich den sogenannten Ruf. Vorausgesetzt, man hat sich gegen meist zahlreiche Mitbewerber durchgesetzt. Im Erfolgsfall wird man dann auf die entsprechende Stelle ‚berufen‘ - so heißt die Einstellung der Hochschullehrenden in das Beamt: innenverhältnis. Daneben existieren jedoch verschiedene Arten und Rangordnungen von Professuren. Es gibt einmal die sogenannten ordentlichen oder planmäßigen Professuren. Das sind der Hierarchie nach in Deutschland die nach ihrer Ver‐ gütung benannten W1-, W2- und die W3-Professuren. W1-Professuren steht für die von dir angesprochenen Juniorprofessuren - dazu später mehr. Meist leiten W2-Professor: innen eine eigene Forschungsgruppe, W3-Kolleg: innen dagegen oft einen sogenannten Lehrstuhl, also ein Institut oder einen Forschungsbereich, ein Department oder eine Abteilung. Letzte nannte man früher auch Ordinarien. Daneben gibt es noch die sogenannten außerplanmäßigen Professuren - als Kürzel ‚apl. Prof.‘. Dies ist eine Art Auszeichnung, welche Wissen‐ schaftler: innen einer Hochschule verliehen wird, die sich besonders für Wissenschaft und Lehre verdient gemacht haben. Es sind dies in der Regel nicht eigens fest angestellte oder beamtete Hochschullehrer: innen. Ähnliches gilt für die Titular- oder Honorarprofessuren. Hierbei handelt es sich um Personen außerhalb der Hochschule, die sich mehr oder oft auch weniger an der Lehre beteiligen. Dieser Titel ist jedoch mitunter ein wenig delikat, weil er - zumindest in Deutschland - von den Hochschulen häufig an Prominente aus der Politik oder Wirtschaft und gerne an Sponsoren oder Förderer einer Universität verliehen wird. Wikimedia zumindest merkt dazu diesbezüglich deshalb sinngemäß an, dass solche Honorarprofessuren bei Führungskräften in Wirtschaft und Politik zunehmend an Attraktivität gewinnen. Ich glaube, ich habe neulich schon etwas darüber gesprochen. Eigentlich sollten Honorarprofessuren zumindest mit einem gewissen Pflichtanteil an Lehre verbunden sein, aber dies wird in den Ländern unterschiedlich gehandhabt. Nach der formellen Ernennung darf dann der Titel in der Regel - zumindest in Deutschland - ohne weiteren Zusatz geführt werden. Für Außenstehende und Laien entsteht so der Eindruck, es tatsächlich mit 128 Exkursion zum Weg auf eine Professur <?page no="129"?> wissenschaftlichen Größen zu tun zu haben; eine Wirkung, welche die prominenten Träger des Titels vermutlich zumindest nicht stören dürfte.“ Leo grinste süffisant. „Bei Lichte betrachtet hat dieser Titel also manchmal mehr mit Status, Selbstdarstellung und Titelsammelei zu tun als mit echter Wissenschaft oder Lehre. Zumindest dann, wenn solche Titel tatsächlich mit Gefälligkeiten oder Spenden einhergehen oder im Ausland durch gute Beziehungen oder Gefälligkeiten erworben wurden. In Deutschland hat sich vor einigen Jahren selbst eine Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung mit einem solchem Titel geschmückt. Da sich im Nachhinein ihre Doktorarbeit als Plagiat entpuppte, war sie dann aber zuerst ihren Doktortitel los, dann ihren Professorinnentitel und später verlor sie auch ihr Ministeramt. Du siehst, es gibt überall und immer wieder Menschen, denen für den gebührenden Titel und Status nichts zu peinlich ist. Am Rande bemerkt ist es schon interessant, dass sich die Medien häufig auf erschwindelte Doktortitel und Plagiate von Prominenten stürzen, sich aber wenig mit dieser speziellen Art der Titelvergabe beschäftigen. Um niemanden Unrecht zu tun: Natürlich gibt es genauso ernsthafte Titularprofessor: innen, die einen echten und wichtigen Beitrag für die Lehre leisten. Gerade diesen echten Lehrkräften dürfte es aber alles andere als Recht sein, wenn solche Titel letztlich aus Gefälligkeit oder Prestigegründen vergeben und genutzt werden. Aber nun zurück zum Werdegang in der eigentlichen Professor: innen‐ schaft: Früher war es im europäischen Hochschulsystem üblich, nach der Promotion zu habilitieren. Durch entsprechende Habilitationsschriften und Lehrnachweise wurden von den Universitäten mittels eines Prüfungs- und Anerkennungsverfahren die Lehrbefugnis - ‚Venia Legendi‘ - erteilt. Dies war sozusagen die klassische Voraussetzung, um später die Lehrbefugnis beziehungsweise die dazu passende Professor: innenstelle zu erhalten. Wer dieses Anerkennungsverfahren erfolgreich bestanden hat, aber keine Professor: innenstelle ergattern konnte, kann sich damit immerhin als Pri‐ vatdozent: in bezeichnen, kurz ‚PD‘ oder ‚Priv.-Doz.‘. Heute gibt es neben der Habilitation weitere Möglichkeiten, zu einer Pro‐ fessor: innenstelle zu kommen. So findet sich in vielen Stellenausschreibun‐ gen der Hinweis, dass neben der Habilitation andere - wie es heißt ‚gleich‐ wertige wissenschaftliche Leistungen‘ - anerkannt werden. Dazu zählen etwa die Verleihung renommierter wissenschaftlicher Preise und Auszeich‐ 129 Exkursion zum Weg auf eine Professur <?page no="130"?> nung, besonders bedeutsame Publikationen, maßgebende Forschungsarbei‐ ten oder Entdeckungen sowie andere außergewöhnliche wissenschaftliche Leistungen. In diesem Rahmen haben sich zwei Alternativen zur Habilitation entwi‐ ckelt: Die Juniorprofessur - in vielen anderen Ländern Assistenzprofessur genannt - und der sogenannte Tenure Track - davon später mehr. Beide sind zunächst nicht mit echten Dauerstellen verbunden. In Österreich dagegen kann eine Assistenzprofessur durchaus mit einer Festeinstellung verbunden sein. Entsprechend dem Entgeltsystem nennt man diese Form als Eingangsstufe in Deutschland, wie bereits gesagt, auch ‚W1-Professur ‘. Mit einer Junior- oder Assistenzprofessur wird es Wissenschaftler: in‐ nen nach der Promotion beziehungsweise einer sich anschließenden Post‐ Doc-Phase ermöglicht, eine zunächst zeitlich befristete Stelle als Hochschul‐ lehrer: innen an einer Universität wahrzunehmen. In der Regel erfolgt dann nach rund drei Jahren eine Zwischenevaluation. Fällt diese positiv aus, wird die Stelle verlängert oder entfristet. Daneben existiert der bereits erwähnte Tenure Track, welcher der Juni‐ orprofessur recht ähnlich ist. Frei übersetzt heißt das etwa ‚Verfahren zur Festanstellung‘. Der Weg zur ordentlichen und dauerhaften Professur soll mit dieser Laufbahnvariante planbarer und transparenter werden. Das Verfahren ist - anders als bei der eher deutschen Juniorprofessur - ebenso in anderen europäischen Ländern und vor allem in Nordamerika weit verbreitet. Die entsprechenden Stellen für Nachwuchswissenschaftler: innen richten sich an junge Wissenschaftler: innen in der frühen Karrierephase nach der Promotion oder PostDoc-Zeit. Nach einer erfolgreichen Bewährungsphase als Nachwuchslehrkraft und einer entsprechenden Evaluation ist dann der Übergang in eine Lebenszeitprofessur möglich; in diesem Fall eben ohne eine klassische Habilitation. Ergänzend gibt es noch andere Werdegänge; etwa an Musikhochschu‐ len, Technischen Universitäten oder an den klassischen Fachhochschulen. Letztere bezeichnen sich heute gerne schlicht als ‚Hochschulen‘ oder als ‚University of Applied Sciences‘. „Du sprichst von Hochschulen und Universitäten“, stellte Amisha fest. „Ich dachte, das ist dasselbe.“ „Nicht wirklich“, korrigierte Leo. „Der Begriff Hochschule ist ein Sam‐ melbegriff für unterschiedliche Formen. Eine Universität ist zwar eine Hochschule, aber eine Hochschule ist nicht automatisch eine Universität. 130 Exkursion zum Weg auf eine Professur <?page no="131"?> In der Tat verschwimmen in Europa nach der sogenannte Bologna-Reform die Unterschiede zwischen den ehemaligen Fachhochschulen und den Uni‐ versitäten immer mehr. Schließlich gibt es ja noch die nichtstaatlichen Privatuniversitäten und in manchen Bundesländern auch die Pädagogischen Hochschulen. Traditionsgemäß haben die Universitäten automatisch das Promotions‐ recht und legen bei Lehre und Forschung in der Regel mehr Wert auf die Grundlagenforschung. Es gibt aber durchaus Fachhochschulen, die anerkannte grundlagenwis‐ senschaftliche Forschung und Lehre betreiben. Umgekehrt gibt es dagegen mitunter an einigen Universitäten Fachbereiche, deren ausgewiesenen Lehr- und Forschungsaktivitäten eher bescheiden bleiben. Auch durch diese Tat‐ sache verschieben sich die Grenzen unter den Hochschultypen immer mehr. Im Rahmen von Kooperationsabkommen zwischen Fachhochschulen und Universitäten kann man im Übrigen in der Schweiz, in Österreich und Deutschland auch an Fachhochschulen promovieren. Speziell in Deutsch‐ land dagegen wird - zumindest aktuell in einigen Bundesländern - zuneh‐ mend einzelnen Fachhochschulen das Promotionsrecht verliehen.“ „Und welche Unterschiede gibt es dann auf dem Weg zur Professur? “, wollte Amisha wissen. „Während bei den meisten Fachhochschulen neben mehrjähriger, prak‐ tischer Berufserfahrung zumindest eine Promotion Voraussetzung ist, ist dies bei Kunst-, Musik-, Polizei-, Verwaltungshochschulen oder ähnlichen Einrichtungen nicht zwingend. Schließlich sucht man dort - wie zum Teil auch bei Technischen Hochschulen oder Universitäten - nach qualifizierten, fest angestellten Lehrkräften mit langjähriger Praxiserfahrung aus dem Gewerbe, der Wirtschaft oder Produktion. Dieser Bedarf besteht ja neben aller Grundlagenwissenschaft deshalb, weil diese Lehrkräfte notwendige praktische oder anderweitig relevante Kenntnisse und Fertigkeit vermitteln sollen. Das gilt ja zum Beispiel besonders für Kunst-, Theater- oder Musik‐ hochschulen. Dann gibt es noch - als nicht seltene Sonderform - die Doppelberufung als Hochschullehrer: in. Das sind nachweislich erfolgreiche Wissenschaft‐ ler: innen aus außeruniversitären Forschungsverbünden wie in Deutschland der Max-Planck-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Ge‐ meinschaft oder der Fraunhofer-Gesellschaft. Hier arbeiten oft namhafte exzellente Wissenschaftler: innen. Da jedoch die außeruniversitären For‐ 131 Exkursion zum Weg auf eine Professur <?page no="132"?> schungseinrichtungen kein Promotionsrecht haben und deshalb Promovie‐ rende formal nicht betreuen dürfen, gibt es solche Doppelberufungen. Das heißt, die Wissenschaftler: innen arbeiten als ausgewählte Führungs‐ kräfte an den verschiedenen außeruniversitären Forschungsinstituten und haben gleichzeitig eine Professur an einer meist nahegelegenen Universität inne. Sie werden dazu in gemeinsamen Berufungskommissionen ausge‐ wählt. In ihrer Doppelfunktion können sie dann - quasi als Hybridwissen‐ schaftler: innen - in außeruniversitären Forschungsinstituten ihren spezi‐ ellen Forschungsthemen nachgehen und gleichzeitig als formell bestellte Hochschullehrer: in Dissertationen betreuen und Lehre betreiben. In der Schweiz und Österreich gibt es vergleichbare Modelle. Wie du siehst, gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, es zur Professor: in zu bringen. Dahinter stecken recht unterschiedliche Ansprüche, Aufgaben, Qualifizierungen und Hierarchien. Ein Teil der Professor: innenschaft an den Universitäten versucht sich des‐ halb abzugrenzen und bezeichnet sich als ‚Universitätsprofessor: in‘, um ihre Position von verschiedenen anderen Funktionsvarianten zu unterscheiden.“ „Puh! “, kommentierte Amisha den Vortrag etwas erschöpft. „Da soll noch jemand als Laie durchblicken. Aber ich danke dir herzlich für deine kleine, informative Nachhilfestunde. Jetzt habe ich zumindest die wichtigen Grundlagen kapiert und werde mich in meinem nächsten Interview nicht als allzu unwissend zeigen.“ 132 Exkursion zum Weg auf eine Professur <?page no="133"?> Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen Amisha hatte sich innerlich gut auf das nächste Interview vorbereitet. Im Vorfeld dachte sie bereits über einen geeigneten und gleichzeitig attraktiven Treffpunkt für das nächste Gespräch nach. Lisa, ihre nächste Interviewpartnerin, wollte tatsächlich von Bochum nach Berlin kommen, um hier ihre Schwester zu besuchen, die in Ber‐ lin-Friedrichshain wohnte. So ließe sich dann wieder ein Life-Interview führen. Amisha hatte sich schon nette Locationideen zurechtgelegt: das beschau‐ liche Café des Literaturhauses in Charlottenburg, das Stammhaus des Café Einstein in Tiergarten mit seinem Wiener Kaffeehaus-Charme oder das legendäre Clärchens Ballhaus in Berlin-Mitte waren lockende Möglichkei‐ ten. Es gab ungezählte gastliche, sehenswerte und historisch interessante Treffpunkte in Berlin. Amisha hätte allein deshalb nichts dagegen gehabt, ihre mit den Interviews verbundenen Einladungen weiter auszudehnen. Aber bevor sie sich mit Lisa über einen Treffpunkt abstimmen konnte, musste Lisa ihre Berlinreise verschieben und die beiden vereinbarten, ihr Interview online durchzuführen. Lisa, 37 Jahre alt, war Juniorprofessorin an der einer großen Universität im Ruhrgebiet. Sie hatte an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken Betriebswirtschaftslehre studiert und sich im Masterstudiengang auf den Schwerpunktbereich Verbraucherorientiertes Management und Marketing konzentriert. Anschließend hatte sie - nicht zuletzt wegen ihrer im Saarland traditionell gepflegten Französischkenntnisse - in Genf an der Geneva School of Economics and Management promoviert und dort zwei Jahre als PostDoc gearbeitet. Nach weiteren zwei Jahren als PostDoc an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln hatte sie nun in Bochum ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt gefunden. Nachdem es Lisa und Amisha gelungen war, eine stabile Verbindung mit Bild und Ton aufzubauen, konnte das Gespräch beginnen. Bereits in ihrem telefonischen Vorgespräch hatten sie sich darauf verständigt, zum persönlichen Du zu wechseln. „Du hast dich wissenschaftlich auf das Gebiet Verbraucherorientiertes Management und Marketing spezialisiert“, stelle Amisha fest. „Was kann ich <?page no="134"?> mir als Laie in betriebswirtschaftlichen Angelegenheiten darunter vorstel‐ len? “, wollte Amisha wissen. „Wir wollen wissenschaftlich untersuchen, wie und warum sich Men‐ schen im Markt - zum Beispiel beim Einkauf von Dienstleistungen oder Produkten - auf eine bestimmte Art und Weise verhalten und wie ihre Entscheidungen zustande kommen. Dazu untersuchen wir die komplexe Wahrnehmung und Verhaltensmuster, um herausfinden, auf welche Reize Menschen als Kund: innen und Verbraucher: innen reagieren. Wir wollen daraus unter anderem ableiten, wie werteorientierte, aber auch unbewusste Kund: innenerwartungen und -wünsche erfasst und prognostiziert werden können. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen sind einerseits nützlich für ein kundenorientiertes Marketing und anderseits, um Verbraucher: innen besser aufzuklären und kritischer werden zu lassen in Bezug auf ihr eigenes Kauf- und Entscheidungsverhalten.“ „Das klingt interessant“, folgerte Amisha. „Es scheint dabei ja eher um psychologische Fragestellungen zu gehen als um das, was man gemeinhin unter Betriebswirtschaft versteht“. „Ganz richtig! “, bestätigte Lisa. „Beim genaueren Hinsehen geht es in der Betriebswirtschaft permanent um psychologische Komponenten. Das betrifft Verbraucher: innen und Kund: innen ebenso wie Manger: innen oder Führungskräfte in den Unternehmen. Menschliches Verhalten wird schließ‐ lich immer sehr stark durch psychologische Komponenten mitbestimmt - manchmal mehr als durch nüchterne, objektive Zahlen und Fakten.“ „Apropos Psychologie.“ Amisha wollte das Gespräch auf ihr Hauptthema lenken. „Was war denn dein Anlass, ein Coaching nutzen zu wollen? “ „Ich hatte ursprünglich nur eine Fragestellung, die mich bereits eine ganze Weile beschäftigte, ohne dass es mir gelungen wäre, eine Lösung zu finden. Es ging um das Thema Betreuung von Promovierenden beziehungsweise deren Führung, was für mich letztlich das Gleiche ist. Eine Promotion, die man richtig gut betreut, macht meist sehr viel Arbeit. Das ist einfach so und das ist auch völlig o.k. Schließlich ist es vom Ansatz her eine Win-win-Situation: Die Promovierenden arbeiten oft unter erschwerten Bedingungen. Sie haben eine befristete Stelle und arbeiten immer mit dem Risiko, dass ihr Projekt nicht so glatt über die Bühne geht, wie geplant. Schließlich wird - trotz intensiver Arbeit und Betreuung - aus verschiedenen Gründen nicht jede Promotion ein absoluter Erfolg. 134 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="135"?> Neben der Arbeit an ihrem Promotionsprojekt sollen die Promovierenden in ihrem PhD-Programm noch Kurse belegen und sich engagieren im Rahmen von Gemeinschaftsaufgaben innerhalb der Forschungsgruppe. Sie sollen fachlich und methodisch auf dem aktuellen Stand sein und möglichst in ihrem Fachgebiet noch etwas ‚über den Tellerrand‘ blicken können. Das alles ist in der Tat nicht immer leicht. Dafür erhalten sie am geplanten guten Schluss eine qualifizierte Beurtei‐ lung für ihre Promotion und schließlich noch ein oder zwei nennenswerte Publikationen aus den Ergebnissen ihrer Forschungsarbeit. Genau das sind ja die Grundlagen für ein erfolgreiches Vorwärtskommen innerhalb oder außerhalb der Forschung. So viel zum erklärten Ziel einer erfolgreichen Promotion. Die Betreuer: innen dagegen erhalten durch die von ihnen begleiteten Promotionen nützliche Daten und Fakten, die sie für ihre eigene Forschung nutzen können. Gleichzeitig erweitert sich die eigene Publikationsliste, denn die Betreuer: innen sind ja automatisch Co-Autor: innen der aus der Promotion entstandenen Publikationen. Insofern ist das im Erfolgsfall - wie gesagt - eine echte Win-win-Konstellation. Damit dieses Erfolgsmodell funktioniert, braucht es jedoch Promovie‐ rende, die eine gute Performance mitbringen. Sie müssen in der Lage sein, selbständig zu arbeiten, mit kleineren oder größeren Misserfolgen umge‐ hen können, bei entstehenden Problemen zunächst selbst nach Lösungen suchen, also eigene Ideen entwickeln und nicht zuletzt ihre Aufgaben gut und verlässlich organisieren. Nun stehen Promovierende ja in einem Lernprozess. Kaum jemand wird all diesen Anforderungen gleich von Beginn an gerecht. Das liegt in der Natur einer Promotion als Lernprozess. Was ich aber immer wieder erlebe, sind Promovierende und seltener selbst junge PostDocs, die auffällig passiv sind, abwartend, zögernd und problemfixiert. Man hat dann mitunter den Eindruck, dass die jeweilige Lern- oder Entwicklungskurve irgendwann stagniert. In solchen Fällen ist zu beobachten, dass Termine nicht eigehalten werden, die erhobenen Daten offensichtlich nicht auf deren Plausibilität geprüft wurden oder dass die Kandidat: innen selbst bei kleineren Schwierigkeiten bei mir von der Türe stehen und fragen, was sie tun sollen. Oft entsteht dabei der Eindruck, dass sie sich selbst nicht die Mühe machen, eine Lösung zu finden oder eben überfordert sind, ein vor den Füßen liegendes 135 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="136"?> Problem zunächst einmal selbst analysieren und nach einem Lösungsansatz zu suchen. Ein Master in einer wissenschaftlichen Fachrichtung sollte ja der Beleg dafür sein, dass jemand das Handwerkzeug wissenschaftlichen Arbeitens gelernt und verinnerlicht hat. Die Promotion dagegen sollte der Beweis dafür sein, dass man in der Lage ist, dieses Wissen sowie die notwendi‐ gen wissenschaftlichen Haltungen und Skills im Rahmen anspruchsvoller Aufgabenstellung erfolgreich auszurollen und anzuwenden. Schließlich geht es am Ende darum, die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechend zu publizieren. So weit, so gut. Als Senior Scientist - aber ich kenne dieses Problem gleichermaßen von gestandenen Hochschullehrer: innen - hat man aber immer wieder zu tun mit jungen Menschen in der Wissenschaft, denen offensichtlich vor allem entscheidende Haltungen oder Skills fehlen. Ich habe dann das Gefühl, dass diese Kandidat: innen nicht im eigentlichen Sinne promovieren wollen - oder vielleicht manchmal auch von ihrem Vermögen her können -, sondern dass sie eher promoviert werden wollen.“ „Das verstehe ich nicht ganz“, gestand Amisha. „Es ist so“, führte Viktoria weiter aus, „zum Arbeiten als Forscher: in oder Wissenschaftler: in brauchst du ein paar Gaben, ohne die du kaum erfolgreich werden wirst. Zum einen brauchst du Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen, wenn etwas schiefläuft - und in der Forschung geht immer etwas schief. Natürlich reicht eine solche Frustrationstoleranz allein nicht. Wenn etwas nicht so läuft wie geplant, ist analytisches Denken gefragt, gepaart mit Initiative, Kreativität und Lösungsorientierung. Deine Aufgabe ist es, herauszufinden, was schiefgelaufen ist, was die Ursache war und welche alternativen Lösungen abzuwägen sind. Bei der Sammlung und Interpre‐ tation von Daten, Fakten und Quellen musst du zudem gründlich und präzise arbeiten und transparent dokumentieren, besonders wenn du mit qualitativen oder quantitativen Methoden arbeitest, im Labor oder in der Feldforschung. Und wenn du alle Daten, Fakten, Analysen und Schlussfolgerungen bestritten hast, musst du deine Ergebnisse nachvollziehbar und überzeugend zusammenfassen, deine Schlussfolgerung schlüssig darlegen und möglichst hochwertig publizieren. Viele junge Wissenschaftler: innen neigen dazu, zu vergessen, dass das Schreiben an sich ein essenzieller Forschungsprozess 136 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="137"?> ist - in den Naturwissenschaften ebenso wie in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Kurz gesagt: Du brauchst eine überzeugende Idee, einen guten Plan, Disziplin, Mut, Geduld und Ausdauer, Eigeninitiative und den Willen zum Abschluss. Eine Promotion ist also ein gutes Trainingsfeld für diese Gaben und Herausforderungen und die drei, vier oder mitunter mehr Jahre eines Dissertationsvorhabens sind letztlich dafür da, an diesen Aufgaben zu reifen. Nun treffe ich aber immer wieder auf Promovierende, denen diese Voraussetzungen fehlen. Dann kommt der Verdacht auf, dass es trotz aufwändiger und guter Betreuung zu einer wirklich eigenständigen, guten und vorzeigbaren Promotion nicht kommen wird. Und wenn dem wirklich so ist, hilft jede noch so gute Betreuung alleine nichts, weil sie an den Ursachen des Problems nichts ändern kann. Ich glaube, ich bin eine recht wohlwollende, geduldige und zugewandte Betreuerin. Ich versuche, meinen Promovierenden Mut zu machen, Ver‐ ständnis zu haben für allzu menschliche Unzulänglichkeiten oder wenn es mal einen Durchhänger gibt. Ich versuche, allen Promovierenden bestmög‐ lich gerecht zu werden und ihnen - je nach Bedarf - Freiräume zu lassen oder aber Leitplanken anzubieten, wenn sie dies brauchen. Und dennoch habe ich manchmal das Gefühl, dass - wenn auch einige wenige - irgendwie den Anspruch verinnerlicht haben, dass sie zum Erfolg geführt werden wollen. Aber der Deal ist doch, dass sie selbst und damit im Grunde eigenständig promovieren sollen. Gerne mit meiner Hilfe, aber bitte nicht ausschließlich oder vornehmlich durch mich. Wenn es an echtem Engagement fehlt, an Selbständigkeit und zumindest einer Spur von Begeisterung für das eigene Projekt, dann frage ich mich manchmal, ob die Wissenschaft wirklich das richtige Arbeitsfeld und die richtige Berufsentscheidung für diese Personen ist. Und um ehrlich zu sein macht mir dann die Zusammenarbeit und Betreuung keinen Spaß mehr. Ich bekomme das Gefühl - wie die treffende Redewendung sagt - ich muss ‚den Hund zum Jagen tragen‘. Auch in meinem Team gibt es in solchen Situationen mitunter Span‐ nungen, weil andere es nicht gerecht finden, wenn einige alles serviert bekommen und sie selbst sich ihre Erfolge mit Talent, Fleiß und Ausdauer erarbeiten müssen.“ 137 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="138"?> „Das kann ich gut nachvollziehen“, kommentierte Amisha Lisas Schilde‐ rung. „Aber was kann man in einer solchen Situation machen? “ „Eigentlich nicht viel“, gestand Lisa. „Die meisten Promovierenden wer‐ den bei uns in einem PhD-Programm betreut. Nach einem oder zwei Jahren einzelne Promovierende für ungeeignet zu erklären, ist bei uns an der Uni nahezu ein Tabu; selbst dann, wenn es objektiv die einzig richtige Erkenntnis wäre. Die meisten Forschungseinrichtungen stellen schließlich an sich selbst den an sich richtigen Anspruch, möglichst viele Promovierende zu einem guten Abschluss zu führen. Bei diesem ehrgeizigen Ziel ist ein Scheitern nicht vorgesehen und deshalb gibt es selbst bei schwierigen Fällen keine wirkliche Exit-Strategie.“ „Aber wie geht es denn dann weiter, wenn Anspruch und Leistung derartig krass auseinanderlaufen? “, bohrte Amisha nach. „Einige dieser Fälle werden schlichtweg bis zum bitteren Ende durchge‐ zogen. Das liegt manchmal auch daran, dass einige Promovierende in zeitlich eng getakteten Projekten arbeiten. Da kann man es sich kaum leisten, sozusagen mitten im Lauf das Pferd zu wechseln. Am Ende wird in solchen Fällen nach Möglichkeit die Promotionszeit noch etwas verlängert, weil manche einfach nicht fertig werden. Das macht man im Prinzip ja gerne, wenn ein wissenschaftliches Projekt komplexer ist als gedacht und deshalb länger dauert als geplant. Aber man verlängert die Promotionszeit sicher nicht gerne, wenn der Grund dafür an mangelndem Einsatz liegt, an Nachlässigkeit, Unverbindlichkeit oder Ähnlichem. Anders ist das natürlich bei Promovierenden, die während der Disserta‐ tion erkranken oder - auch das kommt als weitaus besserer Anlass vor - in Elternzeit gehen. Dann können und müssen immer konstruktive Lösungen gefunden werden. Wir hatten bei uns durchaus einige Fälle, wo ohne solche Ereignisse trotz aller Mühe und Unterstützung die Promotion nicht zum Ende kam. Oder wo es schließlich nur zu einem ‚rite‘ reichte, ohne eine wirklich gute, vorzeigbare Publikation.“ „Was bedeutet denn ‚rite‘? Ist das eine Note oder Beurteilung? “, wollte Amish wissen. „In einige Ländern werden Promotionen in lateinischer Sprache bewer‐ tet“, erklärte Lisa. „Das geschieht in dieser Rangliste: 1. summa cum laude: Das meint ‚mit höchstem Lob‘ und entspricht einem sehr gut mit Auszeichnung. 138 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="139"?> 2. magna cum laude: Das meint ‚mit großem Lob‘ und entspricht immer noch einem sehr gut. 3. cum laude: Das meint ‚mit Lob‘ und entspricht einem gut. 4. satis bene: Das meint so viel wie ‚trotz Mängeln genügend‘ und bedeutet ‚befriedigend‘. 5. rite: meint das gleiche wie im Deutschen ein schlichtes ‚ausreichend‘ 6. insufficienter: das bedeutet ungenügend und reicht insofern nicht aus, um den Doktortitel zu erlangen.“ „Na, dann gibt es für ein solches ‚rite‘ ja doch immerhin den erstrebten Doktortitel“, versuchte Amisha zu beschwichtigen. „Das ist korrekt“, bestätigte Lisa zunächst. „Aber du kannst dir außer ei‐ nem netten Eintrag in deinem Personalausweis oder auf deiner Visitenkarte nicht viel davon kaufen. Ich will ja gar nicht über die nicht wirklich erfolgreiche Promovierenden lästern oder mich nur beklagen. Diese wenigen nicht erfolgreichen Kandi‐ dat: innen tun mir vielmehr wirklich leid! Stell dir mal folgende Situation vor: Du hast aus welchen Gründen auch immer eine Promotion begonnen. Du hast dich zwei, drei oder mehr Jahre immer gerade so über Wasser gehalten. Du hast wenig echte Wertschätzung erfahren, was bei deinen eher suboptimalen Leistungen folglich nicht wirklich erwartbar war. Du hast dich also eher mit Hängen und Würgen durchgeschleppt, als dass du einen echten Erfolg vorweisen kannst. Ist das nicht traurig! ? Und das nach immerhin drei oder mehr Jahren! Karriere in der Wissenschaft kannst du damit jedenfalls nicht machen. Und außerhalb der Wissenschaft kannst du mit einem gerade mal ‚ausrei‐ chend‘ bei einer Bewerbung keine gute Figur machen. Meinst du nicht auch, dass du in diesem Fall dieses beachtliche Stück Lebens- und Arbeitszeit weitgehend ungenutzt hast verstreichen lassen? ! Oder vorsichtiger formu‐ liert, dass du diese Zeit nicht wirklich genutzt hast, um deine wahren Talente und Fähigkeiten klarer zu erkennen und dich für deine Zukunft bestmöglich aufzustellen? “ „Ja“, meinte Amisha. „Das klingt in der Tat so, als hätte sich in diesem Fall jemand mit seinen beruflichen Zielen und Möglichkeiten nicht gut eingeschätzt und sich vermutlich auf ein falsches Gleis begeben, anstatt sich so zu entwickeln, dass die eigenen Fähigkeiten und Talente besser erschlossen werden. Ich finde, das ist ein wirklich interessanter Aspekt in 139 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="140"?> Bezug auf eine unglückliche Entwicklung. Aber was hat dies mit deinem Coaching zu tun? “, fragte Amisha leicht irritiert. „Ganz einfach“, meinte Lisa. „Ich wollte mit Hilfe des Coachings heraus‐ finden, was ich tun kann, um eine solche Entwicklung zu verhindern und womöglich frühzeitiger zu erkennen. Schließlich ist das ja in solchen Fällen für beide Seiten alles andere als eine Win-Win-Situation.“ „Und welche Antworten oder Lösungen hast du gefunden? “, fasste Amisha nach. „Ich habe nach und nach eine ganze Reihe von Möglichkeiten ausfindig gemacht, die Wahrscheinlichkeit solcher Fehlentwicklungen zumindest deutlich zu minimieren. Erstens habe ich gemerkt, dass ich des Öfteren bei der Entscheidung, Promovierende anzustellen oder zu betreuen, eher unsystematisch vorge‐ gangen bin und die entsprechende Personalentscheidung oft überwiegend intuitiv getroffen habe. Im Nachhinein hat sich diese intuitive Dominanz in einigen Fällen tatsächlich als unglücklich erwiesen.“ „Und was genau hast du an dieser Stelle anders gemacht? “, wollte Amisha wissen. „Ich habe gelernt, Promovierende und andere Mitstreiter: innen bewusster und systematischer auszuwählen. Durch das Coaching habe ich ganz prak‐ tische Hinweise erhalten, wie ich zunächst die fachlichen, aber vor allem die persönlichen Kriterien festlegen kann, die für eine gute Eignung oder Passung sprechen.“ Amisha wurde neugierig: „Und was sind das für Kriterien? “ „Dazu gehören etwa Eigeninitiative, Engagement, Lösungsorientierung, Frustrationstoleranz, Beharrlichkeit und soziale Komponenten wie Teamfä‐ higkeit, Kommunikationsverhalten oder etwa Verbindlichkeit.“ „Und wie findet man heraus, welche dieser Kriterien von den Kandidat: in‐ nen wirklich erfüllt und gelebt werden? “ „Das klingt zunächst viel schwieriger, als es ist“, antwortete Lisa. „In den Bewerbungsgesprächen beziehungsweise -interviews frage ich etwa gezielt nach speziellen Situationen, in welchen eben diese Kriterien bezie‐ hungsweise ihre diesbezüglichen Fähigkeiten gefragt sind. Dazu habe ich mit Hilfe des Coachings eine eignen Interviewleitfaden entwickelt. Hierfür nur zwei Beispiele: Ich frage zum Beispiel bei einer Person, die bei mir promovieren möchte, wie sie in ihrer Masterarbeit zu ihrem Thema gefunden hat. Wenn die Person etwa sagt: ‚Die Betreuerin meiner Masterarbeit hat mir gesagt, ich 140 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="141"?> solle mich mal mit diesem Thema beschäftigen‘, dann ist das für mich kein Beweis, aber immerhin ein starker Hinweis dafür, dass es an dieser Stelle mit Eigeninitiative und Selbständigkeit nicht so weit her war. Sagt diese Person dagegen, dass sie das Thema und die dazu passende Betreuung gewählt habe, weil sie eine bestimmte Fragestellung schon immer sehr interessiert und motiviert hat, dann habe ich ein überzeugendes Indiz, dass diese Person gut zu meinen Erwartungen passen könnte. Aber neben einer systematischen Auswahl durch ein gutes, vorbereitetes Interview habe ich noch etwas anderes gelernt. Ich habe seitdem vor oder ebenso nach einer Personalentscheidung die an der Stelle interessierte Person einer praktischen Aufgabe unterzogen. Ich habe zuletzt beispielsweise einer Doktorandenanwärterin drei wis‐ senschaftliche Artikel zukommen lassen. Sie hatte dann die Aufgabe, diese drei Paper im Rahmen von drei Fragestellungen zu bearbeiten. Die Fragen lauteten: Was unterscheidet die drei methodischen Ansätze? Was haben sie gemeinsam? Und aus welchen Gründen würdest du dich für welche dieser Ansätze entscheiden? Verbunden war diese Aufgabe damit, das Ergebnis der Analyse auf unserem monatlichen Journal Club zu präsentieren. So hatten auch die anderen im Team einen Nutzen aus dieser kleinen Übung.“ Amisha stutze: „Darf ich fragen, was ein Journal Club ist? “ „Ein Journal Club ist ein Meeting der Gruppe oder Abteilung, in welche neuere oder besonders interessante Fachliteratur aus anderen wissenschaft‐ lichen Institutionen besprochen und diskutiert wird. Es ist also ein Format, um fachlich aktuell zu bleiben, neue Anregungen zu erhalten und um die eigenen Methoden und Forschungsansätze kritisch hinterfragen oder gegebenenfalls anpassen zu können.“ „Und wie ist diese Geschichte ausgegangen? “ „Die Kandidatin hat eine wirklich gute Analyse und Präsentation vorge‐ tragen. So konnte ich exemplarisch beurteilen, dass sie die beschriebenen Methoden richtig verstanden hat, dass sie daraus eigene Fragestellungen begründen und Ziele ableiten kann, dass sie schlüssig argumentieren und dass sie nebenbei klar und verständlich vortragen kann. Damit war ich mir relativ sicher, dass diese Person gut in unser Team und ebenso gut zu mir als Betreuerin passt. Aber noch etwas: Ich habe mir nach dem Coaching zur Regel gemacht, allen, die sich um eine Stelle in meinem Team bewerben klar und unmiss‐ verständlich zu sagen, was ich einerseits erwarte und was ich anderseits 141 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="142"?> gerne bereit bin zu geben. Ich möchte schließlich, dass die Bewerber: innen wissen, was sie bei mir erwartet. Das klingt möglichweise etwas streng. Aber was hilft es, wenn beide Seiten nach und nach mühsam und durch Missverständnisse und Misser‐ folge herausfinden, dass eine Arbeitsbeziehung nicht wirklich passt und dann einer der Beteiligten oder gar beide unzufrieden und enttäuscht zurückbleibt? “ „Das klingt so“, meinte Amisha, „als wäre der Prozess der Personalent‐ scheidung ziemlich aufwändig und mühselig.“ „Ja, in der Tat“, gestand Lisa. „Aber es ist der Mühe wert. Schließlich gehen Betreuende und Betreute ja im besten Falle eine längere Beziehung ein, die sich für beide als nützlich und förderlich erweisen soll. Beide Seiten sollten sich selbst, aber auch ihr Gegenüber kritisch und sorgfältig prüfen. Stell dir vor, du suchst einen Lebenspartner - wenn schon nicht für immer, dann zumindest für deinen nächsten Lebensabschnitt. Würdest du nach einen Speed-Dating mit jemandem zusammenziehen oder gleich zum Standesamt laufen? Wohl kaum! In Arbeits- und Ausbildungsbeziehungen ist es aber oft wie in meinem absurden Beispiel aus dem privaten Beziehungsleben. Nach einem Einstel‐ lungsgespräch von manchmal nur einer Stunde oder weniger lassen sich oft Betreuende und Betreute aufeinander ein. Bei Promotionen immerhin für drei bis vier Jahre. Bei Beschäftigten mit einem unbefristeten Vertrag oft für sehr viel länger. Denke nur an das bekannte Zitat aus Friedrichs Schillers ‚Lied von der Glocke‘. Dort heißt es so treffend: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, - man könnte auch sagen ‚länger bindet‘“, ergänzte Lisa, - „Ob sich das Herz zum Herzen findet. Der Wahn ist kurz, die Reu‘ ist lang. Bei der Zusammenarbeit in der Wissenschaft, geht es ja - anders als bei Schiller - primär nicht ums Herz. Aber es geht auch da um Passung von Charakter, Persönlichkeit, um gegenseitiges Geben und Nehmen und um eine einvernehmliche, zielorientierte Kooperation für einen längeren Zeitraum. Dies war für mich ein wichtiger Erkenntnisprozess im Coaching. Ich habe es nur nicht selbst erkennen können. Ich habe daneben durch das Coaching 142 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="143"?> einige Werkzeuge mitbekommen, wie ich zukünftig verhängnisvolle Fehler bei Personalentscheidungen vermeiden oder zumindest signifikant minieren kann.“ „War dies deine wichtigste Erkenntnis aus deinem persönlichen Coa‐ ching? “ „Ich habe durchaus noch einige andere Erkenntnisse gewonnen, was mein Kommunikationsverhalten als Betreuerin betrifft. Aber ja, ganz konkret war das Thema Entscheidungsfindung bei der Auswahl von Teammitgliedern meiner Arbeitsgruppe das markanteste Ergebnis“, schloss Lisa. „Seitdem ermutige ich umgekehrt die an einer Zusammenarbeit interessierten Pro‐ movierenden, genau zu prüfen, zu reflektieren und sich selbst oder mich zu fragen, auf was, mit wem und unter welchen Bedingungen sie sich auf das Abenteuer Promotion einlassen wollen. Dafür drücke ich ihnen immer eine nette kleine Broschüre in die Hand, die vom QualitätsZirkel Promotion, kurz QZP, herausgegeben wurde. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk aus fünf deutschen Bundesländern, in welchem Fachleute aus diversen Graduiertenschulen und Einrichtungen zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses zusammenarbeiten. Das Booklet trägt den Titel: ‚Gemeinsam die Promotion gestalten - Handlungs‐ empfehlungen für Promovierende‘. Ein entsprechendes Äquivalent gibt es auch für Betreuende. Beide Broschüren sind im Übrigen sogar in englischer Sprache im Internet verfügbar.“ Amisha nutzte die Information gleich selbst und hielt den genannten Titel in ihren Notizen fest. Mit Lisas letzter Aussage hatten sich Amishas Fragen erschöpft. Zudem hatten die beiden ihren verabredeten Gesprächsrahmen bereits deutlich überzogen. Also verabschiedete sich Amisha nach aufrichtigem Dank, und sie beendeten dieses für Amishas Erkenntnissammlung recht ergiebige Videomeeting. 143 Lisa: Konflikte vermeiden durch klare Erwartungen <?page no="145"?> Leos Verständnis von Coaching Um ihre letzten verbliebenen Fragen zu klären, traf sich Amisha noch einmal mit Leo. Anschließend wollte sie die Auswertung ihrer Erkenntnisse angehen und sich dann gut gerüstet ihrer eigenen Entscheidung zuwenden. Diesmal luden Amisha und Sinan Leo in ihre kleine Wohnung nach Kreuzberg ein. Sinan hatte sich bereit erklärt, ein paar türkische Leckereien zuzubereiten. Er wollte dann gerne dabei sein, wenn Amisha ihre Fragen vortrug - schließlich fand Sinan all diese Themen rund um die Arbeit im Wissenschaftsbereich als Physiker im Promotionsstadium auch für sich interessant. Nach einem duftenden Reigen aus knusprigem Fladenbrot, Bulgur, Köfte, Humus und einer exotischen Linsensuppe konnten die drei bei unverzicht‐ barer Baklava und einem Glas Tee gestärkt ans Werk gehen. Amisha schilderte kurz ihr letztes Interview und kam sogleich zu ihrer Frage, die sie in der letzten Zeit mehr und mehr beschäftigt hatte: „Jetzt haben wir in unseren Runden und ebenso ich in meinem Projekt mit meinen Interviewpartner: innen so häufig von Coaching im beruflichen Umfeld gesprochen. Je mehr ich dies tat, desto mehr fragte ich mich, was Coaching eigentlich ist und was dabei der Unterschied zu einer Beratung ist.“ Amisha schaute Leo direkt und fragend an. „Lass mich die Frage einmal mit autobiographischem Kontext angehen“, antwortete Leo und nahm noch einen Schluck des kräftigen Tees. „Als ich mein Studium 1986 abschloss, war der Begriff Coaching außer‐ halb des Sports kaum geläufig - zumindest in den deutschsprachigen Ländern. Es gab damals bereits jenseits der Psychotherapie Formen wie Su‐ pervision, Balint-Gruppen für medizinisches Fachpersonal und exotischere Formate wie Sensitivity-Trainings und Attitude-Awareness-Trainings oder eben Krisen- und Lebensberatung. Bei all diesen Angeboten ging es darum, sich jenseits eigentlicher Psy‐ chotherapieverfahren als denkender, fühlender und handelnder Mensch in beruflichen oder privaten Situationen und Kontexten besser verstehen zu lernen mit seinen persönlichen Haltungen, Werten und Verhaltensweisen oder -mustern. <?page no="146"?> In diesen Settings wurden durchaus einige Techniken aus verschiedenen therapeutischen Richtungen eingesetzt, wie zirkuläre Fragen, Feedback, Werteanalysen und Rekonstruktionen. Die Zielgruppe dieser Formate bestand aber nicht etwa aus Patient: innen mit psychischen Störungen oder Problemen. Es ging den Nutzer: innen dieser Angebote vielmehr darum, für sich selbst im Berufs- oder Privatleben mehr Klarheit und Selbstreflexion zu gewinnen, um in Veränderungs-, Konflikt- oder Entscheidungssituation bewusster, reflektierter und lösungsorientier‐ ter handeln zu können. In dieser Zeit habe ich meine erste Weiterbildung für den Bereich allge‐ meine Beratung, Krisenberatung und Supervision absolviert. Wie gesagt, Coachingausbildungen waren damals noch kaum verbreitet. Supervisionen dagegen waren - zumindest im Gesundheits- oder Sozialbereich - bereits etabliert. Nach und nach entdeckten viele Berater: innen und Therapeut: innen den Business-Markt für sich. Schließlich wollten damals zunehmend mehr Un‐ ternehmen ihre Beschäftigten und Führungskräfte befähigen, konfliktfreier, sensibler und lösungsorientierter miteinander umzugehen. Bei Führungs‐ kräften ging es vor allem darum, motivierender mit ihren Mitarbeiter: innen umzugehen. Hierfür brauchte es qualifizierte Trainer: innen und Berater: in‐ nen. Parallel wurde der Begriff Coaching immer populärer und gebräuchli‐ cher als ein spezielles Verfahren, Menschen im professionellen Kontext zu unterstützen, etwa bei Entscheidungssituationen, Führungs- oder Ma‐ nagementaufgaben, als Team- oder Konfliktcoaching oder als Coaching zur Karriereplanung. Aber erst um die Jahrtausendwende hatte sich der Coachingbegriff in der Breite etabliert und so boomte der Markt, der Aus‐ tausch über Coachingkongresse florierte und die ersten Coachingverbände gingen mit zertifizierten Ausbildungen an den Start. Zu dieser Zeit verfügte ich bereits über 15 Jahre Berufserfahrung als Supervisor und Berater mit den gleichen Methoden und Instrumenten, die dann zunehmend unter dem Begriff Coaching firmierten.“ „Und was ist dann schließlich der Unterschied zwischen Coaching und Beratung? “, wollte Amisha wissen. „Frage drei Coaches und du wirst vier unterschiedliche Antworten erhal‐ ten“, meinte Leo schmunzelnd. „Einen großen Unterschied zu dem, was man früher und heute als Supervision oder Selbsterfahrung versteht, sehe ich persönlich nicht. Aber dies sieht jeder Coach ein wenig anders. Letztlich 146 Leos Verständnis von Coaching <?page no="147"?> gibt es aber tatsächlich einen Unterschied zu einer originären Fachberatung wie etwa bei Steuerberatungen, Anwaltskanzleien, Organisations- oder Verbraucherberatungen. Ein Coaching ist eine Prozess- oder Methodenberatung, aber keine Fach‐ beratung. Dennoch wird ein Coach von vielen seiner Klient: innen praktisch auch als fachlicher Ansprechpartner und Ratgeber bei bestimmten Anliegen wahrgenommen. Viele meiner Klient: innen fragen mich zum Beispiel nach einem konkre‐ ten Rat zu fachlichen oder methodischen Fragen. Oder sie fragen nach meinen persönlichen Erfahrungen oder nach den Erfahrungen, die andere Klient: innen mit bestimmten Verfahren und Methoden gemacht haben. Und das ist, denke ich, durchaus schlüssig und verständlich. Schließlich sollte ein guter Coach über einen soliden und anzapfbaren Erfahrungsschatz verfügen. Das Einzige, wo ich einen klassischen Rat verweigere, ist, wenn mich eine Klient: in fragt, was ich an ihrer Stelle tun würde.“ „Warum bist du den an dieser Stelle so unnachgiebig? “, setzte Amisha nach. „Weil es eine paradoxe Frage ist und es deshalb keine gute Antwort geben kann“, antwortete Leo. „Wenn ich bei dieser Frage einer Klient: in an dessen Stelle wäre, dann müsste ich mir die selbst gestellte Frage ja folglich selbst beantworten. Und schließlich ist es nicht mein Job, meinen Klient: innen zu sagen, was sie zu tun haben. Mein Job ist es vielmehr, meine Klient: innen zu unterstützen, sich ihre eigenen Einsichten, Informationen, Haltungen und manchmal ebenso die eigenen Einsichten und Intuitionen greifbarer zu machen, mit welchen sie diese Fragen und Entscheidungen bestmöglich selbst treffen können. Das ist das, was die meisten Coachees im Coaching suchen: Eine solide Grundlage für eine eigene Entscheidung - oder schlicht Hilfe zur Selbsthilfe. Wer eine Entscheidung trifft, muss selbst die Verantwortung dafür über‐ nehmen. Würde ich jemanden zu einer Entscheidung animieren oder gar drängen, dann müsste ich dafür die Verantwortung zumindest mittragen. Genau das möchte ich aber aus verschiedenen Gründen nicht. Natürlich rate ich dennoch meinen Klient: innen hin und wieder, be‐ stimmte Verfahren einmal auszuprobieren, Methoden zu testen oder gewisse Szenarien durchzudenken. Dies tue ich aber mit dem Ziel, die Anzahl und Varianten der Entscheidungsoptionen meiner Coachees zu erhöhen. Die Entscheidung für das eine oder gegen das andere obliegt dann ausschließlich meinen Klient: innen beziehungsweise Coachees.“ 147 Leos Verständnis von Coaching <?page no="148"?> „O.k.“, meinte Amisha. „Ich habe verstanden, was den Unterschied aus‐ macht zwischen einer Fachberatung und Coaching. Aber wie würdest du denn Coaching als Methode so definieren, dass man eine Vorstellung davon bekommt, was dort passiert? “ „Lass es mich einmal so versuchen“, begann Leo, „ein individuelles Coaching mit Bezug zum Berufsund/ oder Privatleben ist die temporäre Unterstützung und Beratung von Menschen - oder bei Team-Coachings auch von Gruppen - mit unterschiedliche Zielen.“ Leo nahm wieder einmal seine linke Hand zur Hilfe, um mit Hilfe der Abzählung seiner Finger die folgende Aufzählung zu veranschaulichen: „Erstens geht es aus Sicht der Coachees darum, mehr Klarheit von eigenen Werten, Zielen und Strategien zu gewinnen. Zweitens gehört dazu die Schärfung etwa der eigenen Wahrnehmung und die Reflexion von inneren Haltungen und Beziehungen. Genau dies bezeichnet man im Fachjargon als ‚Attitude Awareness‘, also der Bewusst‐ werdung der eigenen Werte und Haltungen. Ein dritter Aspekt ist die Fokussierung auf die eigenen Potenziale, Ressourcen, Bedarfe und Ziele. Das hat etwas zu tun mit dem, was man heute als Achtsamkeit bezeichnet. Es geht darum, achtsam zu sein darauf, ob die eigenen Werte, Ressourcen, Ziele und Herausforderungen mit der beruflichen und privaten Situation in Einklang stehen und ein nachhaltig gesundes, erfülltes Leben ermöglichen. Damit geht es - viertens - um eine Optimierung der Selbstorganisation und der eigenen Life-Balance, damit die eigenen Ressourcen und Potenziale effizienter nutzbar werden, ohne sie über Gebühr zu strapazieren. Wenn man so will, ist dies eine Art ‚Burn-out-Prophylaxe‘. Das fünfte Ziel liegt darin, die autonome Problemlösungs- und Entschei‐ dungskompetenz der Klient: innen zu stärken. Dazu gehört, als sechster Aspekt, ein breiteres Spektrum zu erlangen in Hinblick auf die Qualität und Quantität der persönlichen Entscheidungs- und Verhaltensvarianten. All dies dient damit letztlich dem Ziel, mehr Wirksamkeit, Effizienz, Zufriedenheit und Motivation zu erlangen beziehungsweise mehr Sinnhaf‐ tigkeit und Selbstwirksamkeit vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - im beruflichen Umfeld zu erleben. Zum Schluss noch eine Bemerkung. Eines sollte zur Abgrenzung von anderen Verfahren klar sein: Coaching ist ein anderes Format und bedient sich anderer Methoden, Ziele und Herangehensweisen als etwa eine Psy‐ 148 Leos Verständnis von Coaching <?page no="149"?> chotherapie. Die Anlässe und Ziele, die meisten Methoden und vor allem die fachspezifische Diagnostik sind in einer Psychotherapie bedeutend anders als in einem Coaching.“ „Um ehrlich zu sein, klingt das doch noch sehr abstrakt“, gestand Amisha. „Deine Klient: innen oder Coachees kommen doch nicht allein deshalb zum Coaching, um sich besser kennenzulernen, ihre Wahrnehmung zu erweitern oder Selbsterkenntnis zu betreiben.“ „Vollkommen richtig! “, bestätigte Leo. „Fast alle Coachees entscheiden sich für ein Coaching, weil sie ein mehr oder weniger ausgeprägtes Ge‐ fühl der Unsicherheit oder der Unzufriedenheit wahrnehmen. Positiv und lösungsorientiert ausgedrückt suchen sie danach, durch eine systematische Klärung für sich selbst mehr Sicherheit, Effizienz zu gewinnen und damit letztlich erfolgreicher zu werden in ihrem Denken, Planen und Handeln. Meine Kolleg: innen Margarete Hubrath und Boris Schmidt haben - ich glaube es war 2017 - unter der Überschrift ‚Praxis Coaching‘ einen Artikel in der Deutschen Universitätszeitung veröffentlich. Hintergrund war eine Befragung von weit mehr als tausend Programm- und Personalver‐ antwortlichen an deutschen, österreichischen und Schweizer Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Gefragt wurde in dieser Erhebung unter anderem nach den Anlässen für ein Coaching im Umfeld von Wissenschaft und Forschung. Das Ergebnis deckt sich im Übrigen mit meiner eigenen Erfahrung aus 20 Jahren Coaching im Forschungsumfeld. Der Anlass - oder besser: die Motivation für ein Coaching - entsteht oft aus den folgenden Gründen: Erstens: Die Coachees stehen vor einer Entscheidung bezüglich ihrer beruflichen Ausrichtung und Zukunft. Sie suchen in dieser Situation nach Entscheidungskriterien und -hilfen, um daraus eine nachhaltige und er‐ folgversprechende Entscheidung in Bezug auf die eigene Laufbahn und Entwicklung ableiten zu können. Ein zweiter Aspekt: Manche Coachees kommen in eine neue Funktion oder Rolle, etwa als Führungskraft oder als neu berufene Hochschullehr‐ kraft. Dann suchen sie nach Methoden, Instrumenten und Haltungen, um diese Rolle erfolgreich ausfüllen zu können. Dies liegt vor allem daran, dass diesen Klient: innen solche Grundlagen im Vorfeld meist nicht vermittelt wurden, denn die wenigsten dieser Klient: innen werden auf solche speziel‐ len Rollen und Funktionen systematisch vorbereitet. Drittens: Viele Coachees wollen sich auf Auswahlverfahren vorbereiten, etwa bei Bewerbungen oder Berufungsverfahren. Dann suchen sie nach 149 Leos Verständnis von Coaching <?page no="150"?> Unterstützung in der Frage, wie sie ihre Kompetenzen, Strategien oder das am besten darstellen können, was man in der Wirtschaft den Markenkern nennt. Dazu gehört, sich die eigenen Stärken bewusst zu machen aber zu erkennen, in welchen der eigenen Kompetenzbereiche sozusagen noch Luft nach oben ist. Viertens: Einige Klient: innen stoßen in einer Führungsfunktion wieder‐ holt oder latent auf Hindernisse oder Probleme, ohne sie nachhaltig lösen zu können. Seien dies Aspekte aus der disziplinarischen Führung oder der sogenannten lateralen Führung, also der Führung von gleichgestellten Kolleg: innen - etwa in Projekten oder Gremien. Hier sind nun strategische, operative und kommunikative Instrumente gefragt, um eine Führungsauf‐ gabe erfolgreich und effizienter zu meistern. Manchmal beziehen sich diese Fragestellungen auf den Themenkomplex Führung, auf einzelnen Personen oder spezielle Problem- und Konfliktvarianten. Oder der Anlass bezieht sich auf ein Team und dessen spezieller Konfliktdynamik. Hinzukommen - fünftens - solche Klienten, deren Probleme bereits weiter fortgeschritten und manifest geworden sind. Dies sind Coachees am Rande oder nach einem echten Burn-out. Bestenfalls geht es dabei um Klient: innen, die bemerken, dass die eigene Life-Balance nicht mehr stimmt und die Fülle von Fragen und Problemen im Job spürbare und rückkoppelnde Auswirkungen haben auf die eigene Gesundheit, die Familie oder die Partnerschaft. Sie suchen deshalb nach Strategien und Methoden, um ihre vielfältigen Aufgaben erfolgreich zu bewältigen. Manchmal kommen so auch Menschen ins Coaching, die einen klassischen Burn-out bereits erlebt haben mit Symptomen wie Tinnitus, depressive Episoden, Schlaflosigkeit und so weiter. Es gibt darüber hinaus noch in geringerem Umfang einige weitere Spezi‐ althemen. Aber zusammengefasst sind das die wesentlichen Anlässe, warum jemand ein Coaching in Erwägung zieht und entsprechende Angebote sucht und annimmt.“ „Verstehe“, meinte Amisha. „Diese Aufzählung deckt sich übrigens mit den Aussagen aus den von mir durchgeführten Interviews. Wenn nun ein Coachee aus einem dieser Anlässe ein Coaching aufnimmt, wie geht ihr dann miteinander vor? “ „Zunächst bestimmen wir gemeinsam das Ziel und damit verbunden die Themen und Inhalte des Coachings selbst“, erläuterte Leo. „Dann klären wir, welche persönlichen und beruflichen Ziele die Klient: in oder Coachee auf Grundlage welcher eigenen Werte für sich anstrebt. Dahinter stehen 150 Leos Verständnis von Coaching <?page no="151"?> letztlich zwei Fragen: Was sind deine inneren Werte und Motivationsanker und welche persönlichen Ziele leiten sich daraus ab? “ „Und was sind Motivationsanker? “, wollte Amisha wissen. „Das sind sozusagen die individuellen und letztlich charakterbezogenen Werte und Triebfedern jedes Menschen. Dazu zählen etwa: ● berufliche Autonomie und Unabhängigkeit anstreben ● Sicherheit, Stabilität und Perspektive finden ● persönlichen Freiraum, Innovation und Kreativität beanspruchen ● anderen Menschen zu helfen wollen oder Serviceorientierung als Sinn‐ erfüllung ansehen ● Herausforderung oder Wettbewerb suchen ● Anerkennung oder Status anstreben ● den persönlichen Lebensstil als wichtig erachten ● Gesundheit und Lebensglück anstreben ● Familie und soziale Beziehungen als besonders erfüllend und wertvoll erachten usw. Jeder von uns hat eine recht individuelle Mischung und ein persönliches Ranking dieser inneren Leitmotive, die letztlich unsere konkreteren Ziele beeinflussen und mitbestimmen. Wenn die Werte und die persönlichen Motive der Klienten geklärt sind, wenden wir uns der Frage zu, welche Hindernisse und Aufgaben zu bewäl‐ tigen sind, um diese eigenen Ziele zu erreichen. Manche Coaches nennen dies das ‚Kybernetische Dreieck‘ mit den Elementen: Werte, Ziele und Hindernisse. Da die menschlichen Werte relativ stabil sind, bedeutet dies im Coaching zunächst, die eigenen Ziele in Verbindung zu bringen mit den eigenen Werten. Dies schafft Raum und Gelegenheit, die eigenen Ziele kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern oder zumindest anzupassen.“ „Ah, ich verstehe! “, brach es aus Amisha heraus. „Ich denke gerade an Tobias und diese Metapher mit dem Mount Everest.“ „Ganz genau! “, bestätigte Leo. „Aber letztlich schwingt die Frage nach den eigentlichen und den vermeintlichen Zielen in jedem Coaching mit. Sind dann die Ziele konsistent, gilt es zu analysieren, welche Hindernisse, Probleme und Aufgaben zu bewältigen sind, um die eigenen Ziele zu erreichen. Und dies geschieht dann in der Regel mit einer systematischen Betrachtung - wir nennen dies eine ‚systemische‘ Problemanalyse - mit Fo‐ 151 Leos Verständnis von Coaching <?page no="152"?> kus auf entsprechend geeignete und individuell mögliche Lösungen, die das Gesamtumfeld der Coachees, also deren System oder Umfeld berücksichtigt. Wenn somit die Hindernisse identifiziert sind, machen sich Coachee und Coach gemeinsam daran, mittels neuen und bewährten Wissens, mit effizienten Verhaltensweisen oder mittels neuer innerer Haltungen und Einstellungen diese Hindernisse bestmöglich und nachhaltig zu bewältigen; oder hin und wieder die eigenen Ziele neu zu justieren und zu ändern.“ „Das klingt logisch und scheint eigentlich ganz einfach“, kommentierte Amisha Leos Erklärung. „Ja, in der Tat ist Coaching kein Hexenwerk“, bestätigte Leo. „Es ist vielmehr ein Erkenntnis- oder Entscheidungsprozess der Klient: innen, den der Coach begleitet durch eine gewisse Systematik, durch bewährte Me‐ thoden, durch ein wertschätzendes Feedback und eine vertrauensvolle, ergebnisoffene Prozessbegleitung. Als Metapher dazu nutze ich für mich das Bild vom Geburtshelfer: Ein guter Coach hilft seinen Coachees mittels verschiedener Techniken und Instrumente, die eigenen Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Ideen oder Entscheidungen zu gebären, damit die Coachees mit diesen ureigenen Sprösslingen die eigene Gegenwart und Zukunft erfolgreich gestalten kön‐ nen.“ „Wenn man bedenkt, dass jeder Mensch hin und wieder in Entscheidungs‐ situationen steckt, dann müsste sich ja jeder mehrfach im Leben auf die Suche nach einem Coach begeben“, meinte Amisha etwas spöttisch. „Nein, natürlich braucht es nicht für jedes Problem oder jede Entschei‐ dungssituation einen Coach“, entgegnete Leo ungerührt. „Man geht ja auch nicht wegen eines kleinen Schnupfens gleich zur Ärzt: in oder macht wegen eines Zehn-Euro-Strafzettels für falsches Parken sofort einen Termin bei der Rechtsanwält: in. Insofern braucht es in der Tat nicht für jede Situation einen Profi. Das ist nicht anders in Problem-, Orientierungs- oder Entscheidungs‐ situationen. Selbst hier benötigt man nicht immer einen Coach. Aber wenn man selbst allein nicht mehr recht weiterkommt, das Gefühl hat, sich im Kreis zu drehen oder einmal über den Tellerrand der eigenen Denkmuster und Gewohnheiten blicken will, dann kann ein Coaching eine gute Option sein. Ich selbst habe in meinem Leben bereits mehrfach für einige Stunden ein Coaching in Anspruch genommen und es durchaus als hilfreich empfunden. Zudem coachen wir uns in meinem Coachingverband, in dem ich Mitglied 152 Leos Verständnis von Coaching <?page no="153"?> bin, bei Bedarf gegenseitig. Wir nennen diese Form dann ‚kollegiales Coaching‘ oder ‚Intervision‘. Nach meiner Erfahrung und Einschätzung gibt es aus Sicht schließlich zwei übergeordnete Gründe, ein Coaching mit einem professionellen Coach zu erwägen: Erstens: Wenn eine für mich wichtige und zukunftsweisende Entschei‐ dung ansteht. Wenn dies der Fall ist, hat meine Entscheidung eine besondere Tragweite und die Qualität der Entscheidung ist für mich deshalb von be‐ sonderer Bedeutung. Dann möchte ich Fehler oder blinde Flecken vermeiden beziehungsweise bisher möglicherweise nicht beachtete Nebenwirkungen meiner Entscheidung klären. Ein temporäres Coaching kann mich dann in meiner eigenen Entscheidung erfolgreicher und sicherer werden lassen, weil spätere Stolperfallen vermeidbar werden. Zweitens: Wenn ich mich bereits seit Längerem in einer schwierigen oder unübersichtlichen Situation befinde und das Gefühl habe, dass sich daraus weitere Probleme oder Konflikte entwickelt haben oder ergeben könnten. Oder wenn ich trotz intensivem Nachdenken und Abwägen keine Antwort oder Lösung finde, bei einer für mich wichtigen Fragestellung. Wenn ich dazu den Eindruck habe, dass meine bisherigen Lösungsversuche keine nachhaltigen Wirkungen erzielt haben. Dann könnte mir ein Coaching helfen, neue Hypothesen zu bilden, mein Verhalten und meine Einsichten zu modifizieren und damit andere, neue und erfolgreichere Wege gehen zu können.“ „Und wie finde ich einen guten Coach, wenn ich meine, für mich wäre ein Coaching hilfreich? “, wollte nun Sinan wissen, der das Gespräch aufmerk‐ sam verfolgt hatte. „Einen passenden Coach zu finden ist immer eine gewisse Herausforde‐ rung, weil der Coachingprozess und dessen Ergebnis abhängig ist von gegenseitigem Vertrauen und Verständnis“, gestand Leo. „Insofern kann ich für die Suche nach einem passenden Coach folgendes empfehlen: Wenn du an eine Organisation angebunden bist, etwa eine Universität, ein außeruniversitäres Forschungsinstitut oder ein Doktorand: innenprogramm, dann ist es etwas einfacher. Solche Institutionen oder die Abteilung Perso‐ nalentwicklung haben meist einen eigenen Pool von erfahrenen Coaches. Die dort gelisteten Coaches kennen sich in der Forschungslandschaft aus und haben sich in verschiedenen Coachingprozessen bewährt. Das ist also schon einmal eine gute Basis für die Suche nach einem passenden Coach. 153 Leos Verständnis von Coaching <?page no="154"?> Natürlich findet man im Internet direkt oder über verschiedene Coa‐ chingverbände oder -portale eine Flut von Coaches. Hier sollte man bei Bedarf eine systematische Vorauswahl treffen. Hilfreich sind dabei folgende Fragestellungen: Hat die Person eine solide Coachingsausbildung absolviert, die umfäng‐ licher war als ein paar Wochenendkurse? Verfügt sie über eine hinreichende Berufserfahrung im Wissenschaftsumfeld? Ist sie eingebunden in einen Coachingverband? Kann sie Referenzen vorweisen? Hat sie möglicherweise selbst studiert, promoviert oder - wenn das relevant ist - eigene Führungs‐ erfahrung im Forschungsbereich? Wenn diese Fragen zufriedenstellend beantwortet sind, sollte man ein Erst- oder Vorgespräch vereinbaren - entweder in den Räumen des Coaches oder zumindest als Online-Meeting. In diesem Kennenlerngespräch, das fast alle Coaches kostenlos anbieten, sollte man sich von folgenden Fragen leiten lassen: Stimmt ‚die Chemie‘? Welches Selbstverständnis hat diese Person als Coach? Wirkt sie symphytisch, zugewandt und strukturiert? Kann sie mir ihre Vorgehensweise im Coaching prägnant und schlüssig erklären? Auf welchen zeitlichen Verlauf und welche Kosten muss ich mich einstellen? Wenn diese Fragen beantwortet sind, kann man loslegen. Dann aber gilt das Gleiche wie bei der Wahl jedes Dienstleisters oder zum Beispiel einer Ärzt: in: Wenn man im Laufe des Prozesses merkt, dass es nicht recht weiter- und vorangeht, sollte man dies zunächst thematisieren und im Zweifelsfall den Coach wechseln. Zum guten Schluss noch eine Bemerkung dazu: Die von dir befragen Coachees haben alle ihr Coaching auf Empfehlung oder Eigeninitiative gestartet und abgeschlossen. Aber manchmal melden sich hin und wieder einige Klient: innen nach den ersten Sitzungen nicht wieder. Oder sie been‐ den es ihrerseits, weil sie sich etwas anderes versprochen haben oder weil sich etwa durch geänderte Randbedingungen ihre Fragen oder Probleme erledigt haben. Auch das kommt vor. Schließlich muss immer der oder die Coachee entscheiden, wie der Coachingprozess verläuft und wann er endet.“ „O.k., das habe ich verstanden“, meinte Sinan. „Falls ich einmal für mich ein Coaching in Erwägung ziehe, werde ich mich an deiner Empfehlung orientieren. Oder noch besser: Ich werde dich bitten, mir eine gute Kolleg: in zu empfehlen.“ 154 Leos Verständnis von Coaching <?page no="155"?> Amisha, Sinan und Leo plauderten noch ein wenig über wissenschaftliche und familiäre Themen. Dann machte sich Leo mit seinem Rad auf den Heimweg durch das sommerliche Berlin. 155 Leos Verständnis von Coaching <?page no="157"?> Amishas Erkenntnisse Nach ihrer kleinen Interviewserie fand sich Amisha mit ihren darin gesam‐ melten Erfahrungen gut gerüstet, einen kleinen Fragebogen zu entwickeln, den sie über Leo an dessen aktuelle und vormaligen Coachees versenden wollte. Sie wollte anhand einer noch etwas größeren Stichprobe heraus‐ finden, welche Gründe und Anlässe Leos Klient: innen hatten, aus ihrem beruflichen Wissenschaftsumfeld ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Dabei war sie sich darüber im Klaren, dass dies keine echte wissenschaft‐ liche Erhebung werden würde. Ihr Ziel war schließlich ein anderes: Statt einer perfekt ausgefeilten Studie wollte Amisha für sich die Wissenschaft als Arbeits- und Berufsfeld entdecken. So wie Alexander von Humboldt seinerzeit den südamerikanischen Subkontinent erkundet hatte, lag ihr daran, die Welt der Wissenschaft zu verstehen und kennenzulernen. Bevor sie sich eventuell selbst leibhaftig in dieses reizvolle Abenteurer‐ land begeben würde, wollte sie gründlich und systematisch explorieren, welche möglichen Tücken und Herausforderungen ihr diese Welt abver‐ langen würde. Schließlich hatte sich selbst der gute Humboldt seinerzeit mehrere Jahre intensiv und systematisch vorbereitet, bevor er schließlich zum Orinoco und Chimborazo aufbrach. Amisha freute sich sehr, als schließlich immerhin 27 der 49 verteilten Fragebögen wieder bei ihr eingingen. Ihr Onkel hatte aus seinem Pool Coachees der letzten drei Jahre angeschrieben und darum gebeten, Amishas kleinen Fragebogen ausgefüllt zurückzusenden. Zusammen mit ihren sieben ausführlichen Interviews hatte sie damit doch eine passable kleine Stichprobe für eine gründlichere Analyse. Ihren Fragebogen beantwortet hatten zehn Doktorand: innen, elf Post‐ Docs und sechs Führungskräfte, die an Universitäten oder außeruniversi‐ tären Forschungseinrichtungen tätig waren, von der Gruppen- oder Abtei‐ lungsleitung bis hin zur Leitung eines Instituts, einer Fakultät oder eines Forschungszentrums. Was waren also die Anlässe für die befragten Proband: innen, ein Coa‐ ching in Anspruch zu nehmen? Amisha hatte ja von Leo erfahren, dass die Gründe für ein Coaching meist darin liegen, zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen oder aber akute oder anhaltende Probleme zu lösen. Wenn sie nun herausfinden würde, <?page no="158"?> welche dieser Anlässe typisch waren für das Wissenschaftsumfeld, dann könnte sie mit diesem Wissen - ähnlich wie seinerzeit Humboldt - die Herausforderungen und Konfliktfelder des Forschungsgebiets bestimmen und im übertragenen Sinne kartographieren. Amisha nahm ihre Ergebnisdokumentation ihrer Interviews zur Hand und ergänzte sie durch die Ergebnisse ihrer kleinen Fragebogenaktion. So konnte sie für sich dokumentieren, welche Aspekte aus ihrer Stichprobe von den Befragten als Anreiz oder Chance und welche als Hemmnis oder Risiko für ihre berufliche Entscheidung betrachtet wurden. Amisha öffnete ein neues Dokument und fasste darin zunächst alle Gesichtspunkte zusammen, die von den befragten Wissenschaftler: innen als anregend und motivierend erlebt wurden: ● Ihre Proband: innen empfanden Wissenschaft und Forschung als span‐ nenden und schöpferischen Arbeitsbereich mit potenziell hohem ge‐ sellschaftlichen, ökonomischen oder ökologischen Nutzwert und der damit von ihnen verbundenen Sinnhaftigkeit ihrer Erwerbstätigkeit. Nahezu alle der Befragten äußerten, durch ihre Forschungsarbeiten eine hohe intrinsische Motivation zu erleben. Insbesondere das hohe Maß an kreativer und selbstständiger Arbeit, verbunden mit meist relativ hohen individuellen Freiheitsgraden, wurde dabei hervorgehoben. ● Geschätzt wurde ebenso der intellektuell anregende und internationale Austausch innerhalb der wissenschaftlichen Community mit der Mög‐ lichkeit von Auslandsaufenthalten, forschungsspezifischen Reisen oder spannenden Aufgaben, Exkursionen, Feldversuchen oder Expeditionen. ● Als bereichernd empfunden wurde darüber hinaus die Möglichkeiten der eigenen Entfaltung und Spezialisierung in den von ihren Pro‐ band: innen als besonders spannend, motivierend und herausfordernd erlebten Bereichen oder Nischen der verschiedenen Forschungsgebiete. ● Positiv bewertet wurde außerdem das hohe Niveau einer universitären Ausbildung und der darauf aufbauenden Weiterentwicklungsoptionen Promotion oder Habilitation, sowie die damit verbundene, bei meist auskömmlicher Vergütung. Letzteres setzt jedoch voraus - auch das wurde vermerkt -, dass es sich um eine tarifliche Vollzeitstelle handelt, was besonders bei Promovierenden sowie bei manchen PostDocs nicht immer der Fall ist. ● Alle Befragten gaben an, mit dem Eintritt und Aufenthalt in den Bereich Wissenschaft und Forschung zunächst prinzipiell die für sie 158 Amishas Erkenntnisse <?page no="159"?> richtige berufliche Entscheidung getroffen zu haben. Aber etwas mehr als die Hälfte der befragten Doktorand: innen und PostDocs meinten, sich mittelbis langfristig beruflich außerhalb des Forschungs- und Wissenschaftsbereiches orientieren zu wollen. Nicht zuletzt diese Aussage leitete Amishas Auswertung fast lückenlos zu der Frage über, welche Umstände in diesem Arbeitsbereich als hinderlich empfunden wurden und welche dieser Hindernisse mit dem Entschluss korrelierten, ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Durch die Teilnahme sowohl von Promovierenden und PostDocs in zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen als auch bereits etablierten Wis‐ senschaftler: innen mit unbefristeten Stellen oder gar Verbeamtungen als Hochschullehrkraft ergab sich aus den Rückmeldungen natürlicherweise ein differenziertes Bild. Dieses wollte Amisha jedoch nicht in extenso aufschlüsseln. Ihr Ansinnen war vielmehr herauszufinden, ob und wie bei den Befragten die als negativ empfundenen beruflichen Begleiterscheinun‐ gen im Forschungsumfeld mit den Gründen für ein berufliches Coaching korrelierten. Und in der Tat gab es Überschneidungen. ● Nahezu alle befragten Coachees beschrieben die Arbeit in Wissenschaft und Forschung als ausgesprochen kompetitiv, also sehr wettbewerbs‐ orientiert. Dieser Wettbewerb wurde sowohl in Bezug auf die Bewer‐ tung und Beantragung von Forschungsprojekten beschrieben als auch hinsichtlich der Bewertung individueller beruflicher Entwicklungs- oder Aufstiegschancen. Und diese Einschätzung kam aus sämtlichen wissenschaftlichen Fachbereichen - von den Naturüber die Lebens‐ wissenschaften, die Ingenieurbis hin zu den Sozial- und Kulturwissen‐ schaften. ● Ergänzend dazu wurden die sich über längere berufliche Phasen hin‐ ziehenden prekären Arbeitsverhältnisse angesprochen. Fast die Hälfte der Befragten äußerten sich in den Vorgesprächen, Interviews und/ oder den Fragebögen beiläufig über die aktuelle Hashtag-Aktion #IchBin‐ Hanna, zu der sich Amisha bereits mit ihrem Interviewpartner Ben ausgetauscht hatte. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Berufsfeldern in der Wirtschaft, Industrie und Verwaltung erschien ihren Proband: innen damit eine annähernd solide Lebens- oder Familienplanung jedoch kaum möglich. Den wissenschaftlichen Mitarbeiter: innen würde - so die gängige Meinung - vielmehr über viele Jahre zugemutet, bezüglich 159 Amishas Erkenntnisse <?page no="160"?> ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung in ein veritables Ver‐ sorgungs- und Entwicklungsrisiko zu gehen. ● Wissenschaftliches Arbeiten bedeutet stets das Eingebundensein in Forschungsprojekte, Organisationsstrukturen Kooperationen sowie in Arbeitsgruppen und Teams. Die meisten der Befragten gaben jedoch an, die hierfür notwenigen Skills und Tools vor oder während ihrer Tätigkeit im wissenschaftlichen Umfeld nicht hinreichend vermittelt zu bekommen. Dies reicht von praktischen Tools wie Projekt-, Zeit- und Selbstmanagement bis hin zu Themen wie Konfliktmanagement, Führungsstile, -instrumente und -strukturen oder Teammanagement etwa für (angehende) Führungskräfte. Die Hälfte der Befragten meinte diesbezüglich, sich zu diesen Aspekten primär autodidaktisch, neben‐ beruflich oder per Trail and Error weiterentwickelt zu haben. Aus diesen Begleitumständen leiteten sich letztlich die Motive der Befragten ab, ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Die Motive dafür ergaben sich aus den Fragen, welche die Teilnehmer: innen an Amishas kleiner Studie aus diesen Rahmenbedingungen für sich ableiteten: ● Wie und womit kann ich mich im Wettbewerb des Wissenschaftssys‐ tembesser behaupten und entwickeln? ● Wie kann ich mich bei der Suche nach neuen beruflichen Angeboten innerhalb oder außerhalb des Forschungsbereiches besser aufstellen und meine Chancen erhöhen? ● Welche Optionen bieten sich mir innerhalb und außerhalb des Wissen‐ schaftssystems und wie kann ich meine Entscheidung für einzelne dieser Optionen durch eine strategische Konzeption besser validieren? ● Wie kann ich akute oder latente Konflikte oder Probleme mit meiner Führungskraft, meinen Kolleg: innen oder mit meinen Mitarbeitenden gut und nachhaltig lösen? ● Wie lässt sich die Kommunikation und der Austausch in der Arbeits- oder Prjektgruppe optimieren; etwa in Gesprächen, Meetings oder Workshops? ● Wie kann ich durch ein bessertes Projekt-, Zeit- und Selbstmanagement vermeiden, meine Life-Balance zu verlieren, um in diesem herausfor‐ dernden Arbeitsumfeld nicht in ein Burn-out zu geraten? Letztlich drehten sich die Coachinganlässe der Befragten zuallermeist um diese Fragen; oft in einem Konglomerat dieser Themen. 160 Amishas Erkenntnisse <?page no="161"?> Amisha blickte auf ihre Aufzeichnungen und dachte darüber nach, was diese Essenz ihrer Einsichten nun für sie selbst bedeuten mögen. Welchen Einfluss würde diese Erkenntnisse auf ihre berufliche Entscheidung haben? Je mehr sie darüber grübelte, desto mehr verspürte sie, wie sich parallel zu ihren Erwägungen, Gedanken und Schlussfolgerungen ein intuitives Gefühl zu entwickeln begann oder genauer, wie sich dieses Gefühl verfestigte. Neben all ihren rationalen und kognitiven Gedanken empfand sie ein zunehmend selbst körperlich spürbares Gefühl von Einsicht und Erkenntnis. Irgendetwas ließ sie entspannen, wie bei einer ablegten Last. Und wie bei einem Déjà-vu begriff sie, dass sich diese Tendenz schon seit Längerem zu vollziehen begann; insbesondre durch die Eindrücke aus ihren Interviews. Die Liste der Herausforderungen war durchaus beachtenswert. Aber die sich herauskristallisierenden Möglichkeiten, Chancen und Vorzüge der Arbeit im wissenschaftlichen Umfeld erschienen ihr letztlich zu dominant, um sich ihnen verschließen zu können. Spontan rief sie Leo an, gleichwohl es später Abend geworden war. „Ich glaube, ich hab’s! “, meinte sie, als Leo endlich das Gespräch annahm. „Aber es ist zu spät geworden, um ins Detail zu gehen. Und ich möchte noch einmal darüber schlafen. Ich will dir alles berichten und erzählen, wenn du in den nächsten Tagen etwas Zeit für mich hast.“ Leo versuchte vergeblich, etwas mehr aus Amisha herauslocken. Schließ‐ lich verabredeten sich beide für den nächsten Abend, um Leos Neugierde und Wissensdurst durch ihre präzisen Erläuterungen zu stillen. Nach dieser Verabredung strebte Amisha in die Küche, wo Sinan zu später Stunde noch frisch angebratenes Gemüse für den nächsten Tag in Öl marinierte. Ihn wollte sie als Ersten in ihre Gedanken und Einschätzungen einweihen. 161 Amishas Erkenntnisse <?page no="163"?> Die Entscheidung Wie verabredet trafen sich Leo und Amisha am nächsten Tag in Leos Woh‐ nung und ließen sich in dessen Beratungsraum bei einem frisch gebrühten Tee nieder. Amisha fasste für Leo zunächst ihre Erkenntnisse zusammen, die sie am Vortag zusammengetragen hatte. „Nun, deine kleine Liste deckt sich ja sehr gut mit meinen eigenen Erfahrungen und ebenso mit der Erhebung zu Coachinganlässen aus der Deutschen Universitätszeitung, von der ich dir bereits berichtet hatte. In der Tat sind die von dir als Essenz gebündelten Fragen unverkennbar genau jene, die sowohl jüngere als auch erfahrenere Wissenschaftler: innen zu einem Coaching animieren“, stellte Leo anerkennend fest. „Aber du hast mich gestern Abend ja andeutungsweise wissen lassen, dass dich diese Erkenntnisse bereits zu einer Entscheidungsrichtung haben tendieren lassen. Also spann mich bitte nicht weiter auf die Folter und lass endlich die Katze aus dem Sack.“ „Gemach, gemach, lieber ungeduldiger Onkel! “, bremste ihn Amisha aus. „Vor einiger Zeit hast du selbst gesagt, dass das Arbeits- und Berufsleben nirgendwo das Paradies auf Erden abbildet - weder im Bereich von Wissen‐ schaft und Forschung noch anderswo. Ich konnte dies mit meiner kleinen Erhebung nun objektiv bestätigen, gleichfalls aber daneben die speziellen Hindernisse und Schwierigkeiten sichtbar machen, die im Wissenschafts‐ kontext auftreten können. Mit dieser vertieften Erkenntnis habe ich mich nun entschlossen, das Angebot des betreuenden Professors meiner Masterarbeit anzunehmen und zum Beginn des Wintersemesters die besagte Doktorand: innenstelle anzutreten.“ „Holla! “, entfuhr es Leo. „Das klingt fast schon nach beherzter Entschlos‐ senheit. Was hat dich den letztlich zu dieser Entscheidung bewogen? “ „Zuerst ist mir ein Zitat von Marie Curie eingefallen, was ich sehr treffend fand: ‚Was man verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr‘“, antwortete Amisha. „Und Marie Curie hat es als kluge Wissenschaftlerin immerhin zu zwei Nobelpreisen gebracht, sowohl in der Physik als in der Chemie.“ „Ja, das ist unbestritten richtig“, entgegnete Leo. „Wer die Gefahren wirklich kennt und sich nicht leichtsinnig, gänzlich planlos und blauäugig <?page no="164"?> ins Berufsleben begibt, hat weitaus bessere Chancen, letztlich erfolgreich zu werden. Und darüber hinaus gilt, was der Tiefenpsychologe Alfred Adler einmal gesagt hat: ‚Die größte Gefahr im Leben ist, dass man allzu vorsichtig wird.‘ Es gehört eben schon ein bisschen Mut dazu, in der Wissenschaft neue Pfade und Ideen zu verfolgen und damit gehört ein Stück Mut dazu, sich überhaupt in den Bereich von Wissenschaft und Forschung zu begeben. Aber - wie sagt man im Englischen so unschlagbar prägnant: ‚No risk, no fun! ‘. Letztlich gilt diese Binsenwahrheit ja ebenso für jede andere berufliche Option und Alternative.“ „Ja, eben! “, bestätigte Amisha. „Ich dachte mir folgendes: Ich bin jung, gerade einmal Mitte 20, und ich habe noch nicht das Gefühl, fürs Leben ausgelernt zu haben. Wenn ich später im Wissenschaftsjournalismus bleiben möchte, gibt es für mich noch viel zu lernen über die Wissenschaft. Und am besten lerne ich genau das innerhalb der angewandten Wissenschaft. Die mir angebotene Promotionsstelle ist für mindestens drei Jahre als Dreiviertelstelle zu vergeben, umfasst also etwa 30 Wochenstunden. Auch wenn ich von Sinan weiß, dass es nicht immer bei diesem Zeitlimit bleibt, finde ich dafür die Vergütung nicht uninteressant. Ich habe das einmal ausgerechnet: Nach allen Abzügen für Steuer, Sozialversicherung und so weiter blieben mir etwa 2.000 € im Monat. Das ist doch nicht schlecht! Würde ich als Volontärin in den Medien arbeiten, wäre das Einkommen selbst bei einer Vollzeitstelle nach meinen Informationen spürbar niedriger. Zudem lässt sich mein Promotionsthema in Absprache mit meinem Professor so gestalten, dass es durchaus einen soliden Praxisbezug hat, vielleicht sogar in Richtung Wissenschaftsmanagement. Auch dies wäre für den Lerngewinn und den praktischen Nutzen ein Vorteil. Natürlich habe ich auch in Richtung Beratung und Coaching gedacht, wie du weißt. Schließlich habe ich mit deinen Entscheidungshilfetools alle meine Optionen sorgfältig abgewogen. Aber ich glaube, dass es mir für diese Variante doch noch an Berufs- und Lebenserfahrung fehlt. Ich weiß nicht, wie viele gestandene und reflektierte Menschen sich von einer Mitte-20-Jährigen wirklich beraten lassen wollen. Den Bereich Coaching und Beratung kann ich ja durchaus nebenberuflich und über entsprechende Weiterbildungen weiterverfolgen, ohne mich ihm bereits jetzt schon ganz zu verschreiben. Schließlich hast du dich für diese berufliche Option selbst erst entschieden, als du schon Anfang 40 warst.“ Leo nickte stumm, zustimmend und weiter aufmerksam zuhörend. 164 Die Entscheidung <?page no="165"?> „Um des Promovierens willen zu promovieren - also aus einer Art Selbstzweck heraus - oder nur, weil man mir ein nettes Angebot gemacht hat, würde mich eine Dissertation nicht reizen. Aber diese Kombi von lernen, arbeiten, sich kreativ einbringen zu können, mit der Promotion ein paar Credit Points im Bereich angewandter Wissenschaft zu sammeln und nicht zuletzt für die nächsten drei Jahre meinen Lebensunterhalt verdienen zu können, finde ich schon super. Durch meine Interviews und die kleine Fragebogenaktion habe ich durch‐ aus eine Menge gelernt. Ich glaube, wenn ich reflektiert bleibe, mir durch mein Umfeld ein offenes Feedback einhole und einige der Fehler vermeide, die mir meine Interviewpartner: innen so offen und ehrlich berichtet haben, dann muss die Arbeit in der Wissenschaft kein gefährlicher Dschungel sein, in dem man sich verirrt oder der sich später als Irrtum oder Zeitverschwen‐ dung erweist. Sobald mein zukünftiger Doktorvater wieder aus seinem Forschungsse‐ mester zurück ist, möchte ich mit ihm die Planung der Promotion konkre‐ tisieren. Zu diesem Zweck habe ich von meinen Interviewpartner: innen bereits einige Informationen und Ratschläge in Erfahrung bringen können. Die sollten mir dabei helfen, mich auf ein solches Kick-off-Gespräch sorgfältig vorzubereiten. So bin ich zum Beispiel bei meinen Recherchen auf ein Buch gestoßen, das hilft, die Promotion als Projekt zu planen und zu organisieren mit bewährten Tools aus dem agilen Projektmanagement. Ich denke, dass ein solch gründliches Gespräch zwischen Betreuenden und Betreuten dabei hilft, die gegenseitigen Erwartungen zu klären und im späteren Verlauf Missverständnisse zu vermeiden.“ „Das klingt sehr vernünftig“, kommentierte Leo. „Meine Erfahrung in dieser Hinsicht lautet ohnehin ganz lapidar: ‚Sage mir, wie ein Promotions‐ verfahren startet und ich sage dir, wie es enden wird! ‘“, meine Leo lakonisch. „Das gilt eigentlich für jede Etappe in der beruflichen Entwicklung: Je besser und gründlicher die Abstimmung über gegenseitige Erwartungen, Wünsche und Vorstellungen zu Beginn eines Projektes und einer Zusammenarbeit, desto sicherer wird der Erfolg eintreten.“ „Ich möchte jedenfalls erst einmal einen guten Start hinlegen und dann die Promotion mit allem Drum und Dran erfolgreich abschließen“, fuhr Amisha fort. „In drei Jahren - oder vielleicht etwas mehr - sehen wir dann weiter. Ich muss ja nicht schon jetzt den nächsten Schritt vor dem ersten tun und heute bereits mein Leben bis zur Rente vorplanen und vorbestimmen. 165 Die Entscheidung <?page no="166"?> Ob ich nach der hoffentlich erfolgreichen Promotion in der Wissenschaft verbleiben kann oder will, steht als Entscheidung ja heute nicht an. Ich denke schon, dass ich anschließend wieder ein paar Optionen haben werde, über die dann - aber erst dann - zu entscheiden sein wird. Und nach diesen möglichen Alternativen und Varianten werde ich mich ganz entspannt während der kommenden Jahre hin und wieder umsehen und meine Augen und Ohren offenhalten.“ „Du wirkst tatsächlich fest entschlossen“, kommentierte Leo. „Und des‐ halb möchte ich deine Entscheidung nicht im klassischen Sinne bewerten. Ich empfinde deine Schlussfolgerungen jedenfalls als gut begründet, fun‐ diert, reflektiert und logisch schlüssig. Chapeau! “ „Das finde ich auch“, entgegnete Amisha ein wenig stolz. „Wichtig ist mir dabei vor allem, dass all dies nicht nur rational durchdacht ist, sondern dass ich dabei ein gutes, ein sehr gutes Bauchgefühl habe.“ „Es ist noch zu früh am Tag und wir sind eine zu kleine Runde, um deine Entscheidung gebührend zu feiern“, befand Leo. „Aber für solche Gelegen‐ heiten habe ich immer einen Piccolo mit gutem Prosecco im Kühlschrank. Lass uns damit zumindest symbolisch anstoßen auf deine kleine empirische Studie, deinen Erkenntnisgewinn und deine Entscheidung. Solltest du bei der Umsetzung deines Entschlusses auf unerwartete Hindernisse oder Pro‐ bleme stoßen, die es zu überwinden oder zu lösen gilt, dann weißt du ja, wo du mich findest.“ Und bevor sich Leo in die Küche aufmachte, um seinen Entschluss umzusetzen, drückte er Amisha einen Kuss auf die Stirn und sagte beim Hinausgehen: „Well done, Amisha! Good luck! Ich habe das sichere Gefühl, dass du deinen Weg gehen wirst, egal wohin er dich letztlich auch führen mag! “ 166 Die Entscheidung <?page no="167"?> Danksagung Ich danke zunächst und vor allem meinen zahlreichen Coachees für die vertrauensvolle und von Offenheit geprägte Zusammenarbeit. Durch sie habe ich viel gelernt über die Sorgen, Nöte und Komplikationen von Menschen, die ihrer Arbeit in Wissenschaft und Forschung motiviert und oft leidenschaftlich nachgehen; die gerade deshalb jedoch umso mehr zu‐ weilen mit den dort typischen Rahmenbedingungen hadern. Die erfüllende Arbeit mit diesen aufgeschlossenen und nach Erkenntnissen und Lösungen suchenden Menschen hat mich letztlich inspiriert, dieses Buch zu schreiben. Als Ansporn dienten dabei die von meinen Klient: innen schließlich für sich selbst erkannten und realisierten Lösungen. Sie zeigen, dass es tatsächlich für die meisten Probleme und Dilemmata eine Lösung gibt, wie und in welcher Richtung sie auch immer ausfallen mögen. Des Weiteren bedanke ich mich bei meiner geschätzten Kollegin Frau Prof. Karin Orth, für deren kritische und gerade deshalb konstruktive Revi‐ sion des ersten Manuskriptes dieses Buches. Ihre Anregungen, Ergänzungen und Vorschläge waren für mich äußerst hilfreich und haben in der finalen Version des Manuskriptes ihren gebührenden Niederschlag gefunden. Ebenso danke ich den beiden Probelesern aus der Zielgruppe dieses Ratgeberromans. Die beiden Promotionsstudenten, M. Sc. Marius Hobart und M. Sc. Tjark Schütte vom Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bio‐ ökonomie haben mit ihren hilfreichen Kommentaren und Vorschlägen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, den Fragen und Interessen der Adressat: innen besser gerecht zu werden. Nicht zuletzt gilt mein Dank Frau Nadja Hilbig vom UVK Verlag für die gute Zusammenarbeit bei der Findung eines griffigen Titels sowie für das sorgfältige Lektorat und den damit verbundenen notwendigen Feinschliff der Endfassung. <?page no="169"?> Amishas kleine Toolbox Hier finden sich die in Amishas Interviews beschriebenen Tools, Checklisten und Selbstanalysen. Es handelt sich um Hilfsmittel, die bei der Analyse und der Vorbereitung von Eignungserwägungen und Entscheidungen im beruflichen Kontext nützlich sind. Sie finden diese Tools auch zum Download unter http: / / files.narr.digital/ 97 83825258054. <?page no="170"?> Gesprächsvorbereitung für ziel-/ lösungsorientierte Gespräche 1. Mein Anlass (generell): Aus welchem (konkreten/ aktuellen) Anlass führe ich das Gespräch? 2. Mein Ziel: Woran werde ich nach dem Gespräch erkennen, dass es erfolgreich war? Was genau möchte ich am Ende des Gespräches vereinbart/ erreicht haben? • mein Maximalziel (Best Case) • ggf. mein Minimalziel/ meine Schmerz-Grenze (worst case) • Falls nur ein Ziel angestrebt wird, bitte überspringen! 3. Meine Stimmung • Wie fühle ich mich? Bin ich ärgerlich, verletzt, neugierig, traurig …? • Inwieweit möchte ich meine Gefühle, Wertungen, Einstellungen mitteilen? 4. Inhalte/ Botschaft (meine „Message“) • Was genau möchte ich vermitteln (Wunsch, Erwartung, Forde‐ rung …)? • Welche Themen spreche ich an? • Welche Informationen muss ich im Gespräch einholen (Fragen, die zu stellen sind)? 5. Gesprächseröffnung: Wie beginne ich? Welchen 'Aufhänger' wähle ich? Wie erkläre ich mein Anliegen? 6. Stimmung meines Gesprächspartners: Wie wird er/ sie ggf. reagie‐ ren? Welche Reaktionen erwarte ich? Wie kann ich darauf reagieren? 7. Erwartete Argumente meiner Gesprächspartner: in • Wie sind seine/ ihre Interessen/ Positionen? • Was könnte er/ sie inhaltlich vorbringen? 8. Unsere ggf. mögliche Win-Win-Situation: Durch welche Lösung können wir unserer beiden Interessen / Positionen annähern / verbin‐ den? 9. Gesprächsdauer: Wie lange brauchen wir für das Gespräch? 10. Zeitpunkt: Wann möchte/ sollte ich dieses Gespräch führen? 11. Wie wollen wir das Gesprächsergebnis verbindlich fixieren? Protokoll, Zusammenfassung des Ergebnisses/ der Vereinbarungen nach dem Gespräch per E-Mail etc. 170 Amishas kleine Toolbox <?page no="171"?> Werteorientierte Motivationsanker Hinweise zum Gebrauch Motivationsanker sind individuelle, charakterbezogene Werte des Men‐ schen, die dessen Ziele beeinflussen und mitbestimmen. Jeder Mensch hat dabei eine ganz eigene Mischung und ein persönliches Ranking. In der Mitte der Tabelle finden Sie verschiedene Werte. Geben Sie für diese links an, welche Wichtigkeit diese Werte für Sie haben. Danach bewerten Sie rechts, inwieweit die Werte derzeit für Sie zufriedenstellend umgesetzt sind. Punktwerte: 1 = geringe Priorität/ Zufriedenheit, 5 = hohe Priorität/ Zu‐ friedenheit Wichtigkeit Thema meiner Werteskala Zufrieden‐ heit 1 2 3 4 5 Wertschätzung/ Lob/ Anerkennung 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 selbstbestimmtes Arbeiten/ Freiräume 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Abwechslung/ Vielfältigkeit der Aufgaben 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Beständigkeit der Aufgaben/ Routine 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Weiterbildung/ Entwicklung 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Klarheit über Ziele/ Strategie 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Klima im Team/ Abteilung 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Ausstattung/ Arbeitsbedingungen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Einbindung in Entscheidungen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Gehalt/ Entgelt/ Wohlstand 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Flexibilität der Arbeitszeit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Einfluss haben/ Verantwortung tragen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Perspektive/ Karriere 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Vereinbarkeit von Familie/ Privates und Beruf 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Status/ Position 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Sinnhaftigkeit/ Wertigkeit der Aufgaben 1 2 3 4 5 171 Amishas kleine Toolbox <?page no="172"?> Wichtigkeit Thema meiner Werteskala Zufrieden‐ heit 1 2 3 4 5 Sicherheit/ Kontinuität der Position/ Stelle 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Abwechslung/ neue Herausforderungen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Beständigkeit/ Kontinuität 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Klarheit von Aufgaben, Prozessen, Strukturen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 fachlicher und menschlicher Austausch 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Umgang mit Diversität/ anderen Kulturen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Dinge gestalten/ Entwicklung vorantreiben 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 hilfreich sein/ Dienstleistungsorientierung 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Sonstiges: 1 2 3 4 5 172 Amishas kleine Toolbox <?page no="173"?> Job-Entscheidungsmatrix Hinweise zum Gebrauch Gehen Sie beim Ausfüllen der folgenden Matrix wie folgt vor: ● Sehen Sie sich die einzelnen Themen der Werteskala an und gewichten Sie diese. Geben Sie also jedem Thema einen Gewichtungsfaktor (GF) von 1 bis 3. ● Legen Sie danach fest, welches Ihre beruflichen Möglichkeiten sind. Job 1 könnte z. B. sein „Arbeit in der Wissenschaft“, Job 2 „Freiberuflichkeit“. ● Gehen Sie nun die Matrix durch und entscheiden Sie bei jedem Thema der Werteskala, ob dieses im jeweiligen Job zur Entfaltung kommt. Vergeben Sie hier auch wieder 1 bis 3 Punkte. ● Multiplizieren Sie den zu erwartenden Wert mit dem Gewichtungsfak‐ tor (GF) und tragen Sie den Wert in die Tabelle ein. ● Zum Schluss addieren Sie alle Werte pro Job und erhalten den Gesamt‐ wert in der unteren Zeile. Auswertung Der Gesamtwert zeigt an, in welchem Job die eigenen Werte am besten zur Geltung kommen. Sollten zwei oder mehr Jobs ähnliche Werte aufweisen, schauen Sie sich die einzelnen Werte noch einmal an: Welche sind Ihnen besonders wichtig? Gibt es hier unterschiedliche Bewertungen? Thema meiner Werteskala GF Job 1 Job 2 Job 3 Wertschätzung/ Lob/ Anerkennung selbstbestimmtes Arbeiten/ Freiräume Abwechslung/ Vielfältigkeit der Aufgaben Beständigkeit der Aufgaben/ Routine Weiterbildung/ Entwicklung Klarheit über Ziele/ Strategie Klima im Team/ Abteilung Ausstattung/ Arbeitsbedingungen 173 Amishas kleine Toolbox <?page no="174"?> Thema meiner Werteskala GF Job 1 Job 2 Job 3 Einbindung in Entscheidungen Gehalt/ Entgelt/ Wohlstand Flexibilität der Arbeitszeit Einfluss haben/ Verantwortung tragen Perspektive/ Karriere Vereinbarkeit von Familie/ Privates und Beruf Status/ Position Sinnhaftigkeit/ Wertigkeit der Aufgaben Sicherheit/ Kontinuität der Position/ Stelle Abwechslung/ neue Herausforderungen Beständigkeit/ Kontinuität Klarheit von Aufgaben, Prozessen, Strukturen fachlicher und menschlicher Austausch Umgang mit Diversität/ anderen Kulturen Dinge gestalten/ Entwicklung vorantreiben hilfreich sein/ Dienstleistungsorientierung Sonstiges: Summe - 174 Amishas kleine Toolbox <?page no="175"?> Meine Talente und Fähigkeiten Hinweise zum Gebrauch Schätzen Sie links Ihr eigenes Potenzial ein und beurteilen Sie rechts, wie stark diese Faktoren in einer beruflichen Option gefordert sein werden. Punktwerte: 1 = geringe Ausprägung, 5 = hohe Ausprägung Potenzial Thema meiner Werteskala Erfordernis 1 2 3 4 5 logisches/ analytisches Denken 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Planung/ Organisation 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Eigeninitiative/ Selbstständigkeit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Belastbarkeit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Selbstbehauptung/ -sicherheit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Präsentation/ Auftreten vor Gruppen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Anpassung in Team 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 verbale Kommunikation 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Ziel- und Lösungsorientierung 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Sorgfalt/ Genauigkeit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Auffassungsgabe/ Lernfähigkeit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Effizienz/ zügiges Arbeiten 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Verbindlichkeit/ Verlässlichkeit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Texte verfassen/ Resultate zusammenfassen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Konflikttoleranz/ Umgang mit Misserfolgen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Geduld/ Beharrungsvermögen 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 technisches Verständnis 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Kontakte knüpfen/ Zugehen auf andere 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Verständnis von Empirie und Statistik 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Mut und Entschlossenheit 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Handhabung von IT und Software 1 2 3 4 5 175 Amishas kleine Toolbox <?page no="176"?> Potenzial Thema meiner Werteskala Erfordernis 1 2 3 4 5 Ausdauer 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 sprachliche Kompetenz 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Ehrgeiz und Einsatzbereitschaft 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 Sonstiges: 1 2 3 4 5 176 Amishas kleine Toolbox <?page no="177"?> SWOT-Analyse Hinweise zum Gebrauch Die in den 1960er Jahren aus dem analytischen Denken entstandene SWOT-Analyse ist nützlich bei anstehenden Entscheidungen. Sie hilft, „blinde Flecken“ zu vermeiden. Genutzt werden kann sie überall dort, wo mehrere Entscheidungsalternativen vorliegen, z. B. bei Entscheidungen bzgl. der eigenen beruflichen Entwicklung beziehungsweise Entscheidung. In diesem Fall sollte für jede Variante eine eigene 4-Felder-Analyse durch‐ geführt werden (z. B. alle vier Faktoren für die Variante A: Verbleib im Wissenschaftsbetrieb und alle vier Faktoren für die Variante B: Wechsel in die Privatwirtschaft/ Industrie). Stärken Strengths Schwächen Weakness Chancen Opportunities Risiken Threats 177 Amishas kleine Toolbox <?page no="178"?> Karrierekriterien Wissenschaft Hinweise zum Gebrauch In der folgenden Tabelle sind verschiedene Karriereaspekte aus der Wissen‐ schaft in vier Bereichen aufgelistet. Bewerten Sie jeweils, inwieweit diese Kriterien für Sie relevant sind, wie Ihr Status Quo aussieht und wie hoch Sie den Handlungsbedarf einschätzen. Vergeben Sie jeweils 1 bis 5 Punkte. Punktwerte: 1 = gering, 5 = hoch. Karriereaspekte Wissenschaft Meine Relevanz Mein Status Quo Handlungsrelevanz 1-5 Punkte 1-5 Punkte 1-5 Punkte Wissenschaft Publikationen Quantität Publikationen Qualität Monographie Habilitation Drittmitteleinwerbung (eigene) Einladungen zu Vorträgen Kooperationen Arbeit in renommierter Institution Auslandsaufenthalt Kongressorganisation Gutachtertätigkeit/ en Preise/ Patente andere Formen der Sichtbarkeit Lehre Quantität Evaluation/ Preise 178 Amishas kleine Toolbox <?page no="179"?> Karriereaspekte Wissenschaft Meine Relevanz Mein Status Quo Handlungsrelevanz 1-5 Punkte 1-5 Punkte 1-5 Punkte Betreuung von Studierenden Betreuung von Docs/ Post-Docs Curriculare Planung/ Organisation Prüfungsleistungen/ -erfahrungen Management eigene Fortbildungen Gremienarbeit Führungserfahrung strategische Planungen Übernahme spezieller Funktionen sonstige Managementskills Netzwerke Mentoringprogramme fachlich orientierte Peergroups funktionsorientiert Peergroups politisch orientiert Peergroups sonstige Netzwerke 179 Amishas kleine Toolbox <?page no="181"?> Begriffserklärungen An-Institute | Bezeichnung für rechtlich selbständige Forschungseinrich‐ tungen an (deutschen) Hochschulen. Sie sind zwar mit der jeweiligen Universität organisatorisch, personell und räumlich verbunden, sind in der Regel aber getrennt von der Hochschule privatrechtlich als Verein, GmbH oder als Stiftung organisiert. außeruniversitäre Forschung | Diese wird von Forschungseinrichtungen ausgeübt, die nicht den Hochschulen zugehörig sind, sondern als Einrich‐ tungen des Bundes, der Länder beziehungsweise der Kantone oder als privatrechtliche Organisation oder Unternehmen Forschung betreiben und ggf. den Forschungsverbünden zugehörig sind (siehe Forschungsverbünde). Berufungskommission | In Deutschland, Österreich und der Schweiz übernehmen Berufungskommissionen die Aufgabe, Professuren auszu‐ schreiben sowie geeignete Kanditat: innen zu evaluieren und auszuwählen. Über deren Einstellung entscheiden dann die entsprechenden Universitäts‐ gremien im Einvernehmen mit den Bildungsbeziehungsweise Forschungs‐ behörden der Länder oder Kantone. Betreuer: in/ Betreuung | In der Regel werden Bachelor-, Master- oder Pro‐ motionsarbeiten von Hochschullehrer: innen oder anderweitig berechtigten Personen betreut. Oft sind diese Betreuer: innen identisch mit jenen Perso‐ nen, welche die schriftliche Abschlussarbeit als Erst- oder Zweitgutachter bewerten und benoten. Insbesondere bei Promotionen besteht die Aufgabe der Betreuenden darin, die Promovierenden wissenschaftlich-methodisch und organisatorisch anzuleiten, zu beraten und zielorientiert zu begleiten (siehe auch Doktormutter/ -vater). Bologna-Reform/ -Prozess | Der Begriff steht für die europaweite Ver‐ einheitlichung von Studiengängen und -abschlüssen mit dem Ziel, mehr Austausch und Mobilität zu ermöglichen. Der Name geht zurück auf eine Erklärung, die 1999 von 29 europäischen Bildungs- und Forschungsminis‐ ter: innen unterschrieben wurde. Teilziele sind: Harmonisierung der aka‐ demischen Ausbildung durch ein zweistufiges System von Abschlüssen (Bachelor und Master), bessere Transfermöglichkeiten z. B. bei Anerkennun‐ gen von Abschlüssen und Auslandssemestern, Qualitätssicherung im Hoch‐ <?page no="182"?> schulsystem, Stärkung der am Arbeitsmarkt orientierten Studiengänge. Die Frage, inwieweit diese Ziele erreicht wurden, wird im Forschungs- und Wissenschaftsumfeld kontrovers diskutiert. Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) | Der DAAD ist die weltweit größte Förderorganisation für den internationalen Austausch von Studierenden und Wissenschaftler: innen. Seit seiner Gründung wurden mehr als 2,6 Millionen Wissenschaftler: innen u. a. durch Stipendien im In- und Ausland gefördert (Stand 2019). Daneben unterstützt der DAAD die Internationalisierung der deutschen Hochschulen. Das Angebot reicht vom Auslandssemester für junge Studierende bis zum Promotionsstudium. Dazu gehören auch Praktika, Gastaufenthalte und -dozenturen, Hospitationen und Informationsbesuche. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) | Die DFG ist eine Selbst‐ verwaltungseinrichtung zur finanziellen Förderung der Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Etwa zwei Drittel der Fördermittel trägt der Bund, den Rest tragen die Bundesländer. Mitglieder der DFG sind größ‐ tenteils Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie die deutschen Akademien der Wissenschaften. Das Gesamtbudget lag 2020 bei etwa 3,3 Milliarden Euro. Doktorand: innenprogramm | siehe Graduiertenschule/ Graduate School Doktormutter/ -vater | Antiquierter aber in Deutschland, Österreich und der Schweiz immer noch gebräuchlicher Begriff für die Erstbetreuen‐ den/ -gutachter: innen von Dissertationen. Im englischen Sprachraum sind hierfür eher die Begriffe Promotor oder Supervisor üblich (siehe auch Be‐ treuer: in/ Betreuung). Drittmittel | Der Begriff (Haushalts-)Mittel klärt letztlich, woher u. a. im Forschungsbereich die verwendeten Ressourcen wie Sach-, Personal- oder etwa Investitionsmittel stammen. Erstmittel kommen aus dem Budget beziehungsweise Grundhaushalt der Hochschule oder der jeweiligen For‐ schungseinrichtung. Zweitmittel werden gestellt von externen Geldgebern (etwa SNF, DFG, FWF oder der Europäischen Union). Drittmittel sind streng genommen Forschungsmittel, die etwa von Ministerien, Kommu‐ nen, Stiftungen, Unternehmen, Sponsoren oder Spendern stammen. Um‐ gangssprachlich werden - zur Abgrenzung von Haushaltsmitteln - unter Drittmittel solche Forschungsmittel oder -gelder verstanden, welche durch 182 Begriffserklärungen <?page no="183"?> entsprechende Anträge von den Wissenschaftler: innen selbst eingeworben wurden. Erasmus-Programm | Das Erasmus-Programm ist ein Förderprogramm der Europäischen Union zur Förderung von Auslandsaufenthalten von Studierenden und Lehrenden an Universitäten in Europa und/ oder Übersee. Hierfür werden aus diesem Programm verschiedene Stipendien vergeben. In der Schweiz existiert ein ähnliches Programm als Swiss-European Mobility Programme (SEMP). Forschungsverbünde in Deutschland | Die meisten außeruniversitären Forschungszentren in Deutschland sind in vier Dachorganisationen ge‐ gliedert und werden vom Bund und den jeweiligen Bundesländern geför‐ dert: Max-Planck-Gesellschaft mit dem Schwerpunkt Grundlagenforschung (86 Institute, insgesamt 24.000 Beschäftigte), Helmholtz-Gemeinschaft mit dem ursprünglichen Schwerpunkt Forschung mit Großgeräten, heute stra‐ tegisch-programmatische Forschung (18 Forschungszentren, insgesamt 43.000 Beschäftigte), Fraunhofer-Gesellschaft mit dem Schwerpunkt Anwen‐ dungsforschung (75 Institute, insgesamt 29.000 Beschäftigte), Leibniz-Ge‐ meinschaft: Zusammenschluss von eigenständigen Instituten mit enger Verbindung zu örtlichen Universitäten aus Natur-, Ingenieur- und Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften (96 Forschungseinrichtun‐ gen, insgesamt 20.000 Beschäftigte). Fraunhofer-Gesellschaft | siehe Forschungsverbünde in Deutschland Fundraising | Einwerbung von (siehe) Drittmitteln. Fonds für wissenschaftliche Forschung (FWF) | In Österreich die zen‐ trale Einrichtung zur Förderung der Grundlagenforschung; vergleichbar mit der DFG in Deutschland und dem SNF in der Schweiz. Das Förderungsbudget des FWF lag 2020 bei rund 240 Millionen Euro. gemeinsame Berufung | Dieser Begriff beschreibt eine Kooperation zwi‐ schen einer Hochschule und einer außeruniversitären Forschungseinrich‐ tung bei der Berufung einer Professur. Meist erhält der oder die Berufene dabei eine Leitungsposition an einer außeruniversitären Organisation sowie einen Lehrstuhl oder eine Dozentur an einer benachbarten Hochschule. Für dieses Kombinationsverfahren haben sich in Deutschland verschiedenen Unterformen herausgebildet, etwa das Berliner-, das Jülicher, das Karlsru‐ her- und das Thüringer Modell. 183 Begriffserklärungen <?page no="184"?> Graduiertenschule/ Graduate School | Hierbei handelt es sich um koordi‐ nierende Einrichtungen der Hochschulen oder von außeruniversitären For‐ schungseinrichtungen zur Förderung von Promovierenden und PostDocs. Diese Einrichtungen bieten etwa Weiterbildungen an zu Empirie/ Statistik, wissenschaftlichem Schreiben, Beantragen von Fördermitteln, Projekt-, Selbst- oder Bewerbungsmanagement u. a. m. Daneben wird oft auch Beratung und Coaching angeboten in Krisensituationen oder bei Problemen und Konflikten im Umfeld der Promotion oder Weiterqualifikation. Helmholtz-Gemeinschaft | siehe Forschungsverbünde in Deutschland Humboldt’sches Bildungsideal | Durch Wilhelm von Humboldt gepräg‐ ter Begriff der bürgerlichen Aufklärung. Humboldt proklamierte, dass insbesondere die Universität ein Ort sein sollte, an dem sich autonome Individuen und Weltbürger entwickeln sollten. Ein autonomes Individuum soll sich demnach auszeichnen durch Selbstbestimmung (Autonomie) so‐ wie vernunftbasierte Mündigkeit. Die hierfür notwendige universitäre Bil‐ dung sollte nach Humboldts These keine primär berufsbezogene, sondern eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Bildung sein. Damit verbunden ist die bis heute essenzielle Einheit von Forschung und Lehre an Universitäten und ihnen gleichgestellten Hochschulen. Die geforderte akademische Freiheit bedeutet vor allem die Souveränität der Universität gegenüber staatlichen Einflüssen und damit der Forderung nach freier, selbstbestimmter Lehre und Forschung, wie sie bis heute zumindest den (beamteten) Professor: innen rechtlich und bildungspolitisch zugestanden wird. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Mitarbeitenden (Angestellten) sind Hochschullehrer: innen im Rahmen ihrer Lehre und Forschung frei und nicht weisungsgebunden. kumulative Promotion | Hierbei handelt es sich um eine Sammeldis‐ sertation. Die Promovierenden reichen dabei anstatt einer Monographie verschiedene zusammenhängende Publikationen aus Fachzeitschriften ein. Auch für diese Art der Promotion gelten die üblichen internationalen Gütekriterien. Leibniz-Gemeinschaft | siehe Forschungsverbünde in Deutschland Max-Planck-Gesellschaft | siehe Forschungsverbünde in Deutschland Mittelbau | Der sogenannte akademische Mittelbau bezeichnet fest an‐ gestellte Funktionsträger: innen an den Universitäten, die jedoch keine 184 Begriffserklärungen <?page no="185"?> regulären Professuren beziehungsweise Lehrstühle innehaben. Es sind dies etwa Akademische (Ober-)Rät: innen, Lektor: innen oder Oberärzt: innen an den Universitätskliniken. Als solche sind sie an der Gremienarbeit, der Forschung und Lehre beteiligt und betreuen auch Abschlussarbeiten oder Promotionen. In Österreich gehören auch die Assistenzprofessor: innen (Ass.-Prof.) dem Mittelbau an (siehe auch Senior Scientist). Peer-Review | Ein Peer-Review bei ist wissenschaftlichen Arbeiten und Publikationen ein gebräuchliches Verfahren zur Qualitätssicherung. Ein Projektantrag oder ein zur Veröffentlichung eingereichter Fachartikel wird dabei vor der Bewilligung oder Veröffentlichung durch unabhängige Gutachter: innen aus dem gleichen Fachgebiet beurteilt. Der oder die Au‐ tor: innen müssen dabei Stellung zu Beanstandungen nehmen und/ oder bemängelte Fehler beheben. Studienergebnisse können erst dann als valide eingestuft werden, wenn sie dieses Prüfverfahren durchlaufen haben. PhD-Programm | siehe Graduiertenschule PostDoc | Postdoktorand: innen (kurz: PostDocs) sind Wissenschafler: in‐ nen, die nach ihrer erfolgreichen Promotion im Forschungsbereich verblei‐ ben. Diese PostDoc-Zeit wird von vielen Forschenden genutzt, um sich weiter zu qualifizieren und ggf. durch eine Habilitation oder eine vergleich‐ bare Leistung eine Professur anzustreben. Research School | siehe Graduiertenschule/ Graduate School Swiss-European Mobility Programme (SEMP) | siehe Erasmus-Pro‐ gramm Senior Scientist | Hierbei handelt es sich um promovierte und erfahrene Wissenschaftler: innen in einem ggf. unbefristeten Beschäftigungsverhält‐ nis. Sie haben in der Regel Daueraufgaben, zu denen beispielsweise die Pro‐ jekt-, Fach- und Führungsverantwortung für gehören. Zu ihren Aufgaben gehören neben dem Publizieren die selbstständige Akquise von Drittmitteln sowie Lehr-, Betreuungs- und Gremientätigkeiten. Schweizerischer Nationalfonds (SNF) | Privatrechtliche Stiftung der Schweiz zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung; etwa vergleich‐ bar mit der DFG in Deutschland und dem FWF in Österreich. Das Förde‐ rungsbudget des SNF lag 2020 bei rund 940 Millionen Schweizer Franken (etwa 875 Millionen Euro). 185 Begriffserklärungen <?page no="186"?> Universitätsgesetz | Universitätsgesetze regeln in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Bundes- oder Ländergesetze weite Bereiche der Univer‐ sitäts-(selbst-)Organisation und deren Strukturen, Aufgaben und Gremien. Venia Legendi | Lateinische Bezeichnung für die formale und offizielle Lehrbefugnis an einer Hochschule. Durch die Fachbereiche der Hochschulen wird damit die Berechtigung erteilt, als Hochschullehrer: in selbständig zu unterrichten, wissenschaftliche Arbeiten anzuleiten, Prüfungen abzuneh‐ men und ohne Professur die Bezeichnung Privatdozent zu führen. Wissenschaftsrat | Diese Institution existiert sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der Schweiz. In allen drei Ländern stellt er das wich‐ tigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium dar. Der Wissenschaftsrat berät Bund und Länder beziehungsweise die Kantone zu Fragen der inhalt‐ lichen und strukturellen Weiterentwicklung des Hochschulsystems sowie der staatlichen Förderung von Forschungseinrichtungen. Wissenschaftszeitvertragsgesetz | Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) regelt die Befristung von Arbeitsverträgen speziell für das wissenschaftliche Personal an deutschen Hochschulen. Die Arbeitsverträge von wissenschaftlichem Personal mit akademischer Ausbildung kann hier‐ nach ohne besondere Begründung bis zu sechs Jahre befristet werden. Nach der Promotion ist dann erneut eine Befristung von sechs Jahren zulässig. Insofern spricht man verkürzt von einer 12-Jahres-Regel, wobei verschiedene Ausnahmen, etwa für Ärzt: innnen, Elternzeiten oder Unter‐ brechungen gelten. Ähnliche Restriktionen gibt es mit unterschiedlicher Rechtsgrundlage auch in der Schweiz und Österreich. In Österreich sind solche und ähnlich Befristungen im allgemein gefassten Universitätsgesetz geregelt (siehe auch Universitätsgesetz). Zuwendungsgeber: in | Hierunter sind Mittelgeber: innen zu verstehen (siehe Drittmittel), welche Forschungsaufträge und -förderungen vergeben. 186 Begriffserklärungen <?page no="187"?> Literaturempfehlungen Alle im Buch verwendeten Links waren am 25. Januar 2022 aktiv. Bahr A., Eichhorn K., Kubon S.: #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutsch‐ land. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. Covey, S. R., Merrill, A. R., Merrill, R. R., Altmann, A.: Der Weg zum Wesentlichen. Der Klassiker des Zeitmanagements. Campus Verlag, Frankfurt/ New York 2014. Diesbrock T.: Ihr Pferd ist tot? Steigen Sie ab! Wie Sie sich die innere Freiheit nehmen, beruflich umzusatteln. Campus Verlag, Frankfurt/ M. 2014. Elvidge L., Spencely C., Emma Williams E.: What Every Postdoc Needs To Know. World Scientific Publishing Europe, London 2017. Enke N., Hammerschmidt A. (Hrsg): Forschen - Lehren - Führen: Das ABC für die Hochschulkarriere. UVK Verlag, München 2020. Färber C., Riedler, U.: Black Box Berufung: Strategien auf dem Weg zur Professur. Campus Verlag, Frankfurt/ M. 2016. Frey D. et al.: Mit Erfolg zur Professur oder Dozentur: Ein Karriereratgeber mit über 180 Fragen und Antworten. Springer Verlag, Heidelberg 2020. Glunde J., Mack L., Michael, Mohaupt M., Schüller G.: Projektmanagement für Promovierende: Werkzeuge und Methoden für eine erfolgreiche Doktorarbeit. Springer-Gabler Verlag, Wiesbaden 2021. Gunzenhäuser R., Haas E.: Promovieren mit Plan: Ihr individueller Weg: von der Themensuche zum Doktortitel, Barbara Budrich Verlag (Reihe utb), Opladen 2019. Gulder A.: Finde den Job, der Dich glücklich macht: Von der Berufung zum Beruf, Campus Verlag, Frankfurt/ M. 2020. Kelsky K.: The Professor Is In: The Essential Guide To Turning Your Ph.D. Into a Job, Crown Verlag, New York 2015. Müller M.: Promotion - Postdoc - Professur: Karriereplanung in der Wissen‐ schaft, Campus Verlag, Frankfurt/ M. 2014. Müller M.: Karriere nach der Wissenschaft: Alternative Berufswege für Promo‐ vierte, Campus Verlag, Frankfurt/ M. 2017. Müller M., Grewe O.: Wissenschaftsmanagement als Beruf: Strategien für den Einstieg, Campus Verlag, Frankfurt/ M. 2020. QualitätsZirkel Promotion - QZP (Hrsg.): Gemeinsam die Promotion gestalten - Handlungsempfehlungen für Betreuende. Im Internet verfügbare, kosten‐ lose Publikation (PDF), https: / / www.qz-promotion.de/ home/ downloads/ , 2018. <?page no="188"?> QualitätsZirkel Promotion - QZP (Hrsg.): Gemeinsam die Promotion gestalten - Handlungsempfehlungen für Promovierende. Im Internet verfügbare, kostenlose Publikation (PDF), https: / / www.qz-promotion.de/ home/ downloads/ , 2018. 188 Literaturempfehlungen <?page no="189"?> Hilfreiche Internetseiten Deutschland academics.de | mit Karriereberatung u. a. für Promovierende und für die Zeit danach (PostDoc-Phase: https: / / www.academics.de/ wissenschaftsmanagement-online.de | Informations-, Karriere- und Netzwerk‐ plattform für den Bereich Wissenschaftsmanagement: https: / / www.wissenschaf tsmanagement-online.de/ Coachingnetz Wissenschaft | Netzwerk von speziell für den Hochschul- und Wissenschaftsbereich qualifizierten Coaches: https: / / www.coachingnetz-wissen schaft.de/ Österreich academics.at | weitgehend identisch mit academic.de: www.academics.at StudiVersum.at | mit umfassenden Informationen und auch speziellen Hinweisen zum Doktoratsstudium: studiversum.at/ main-menu/ promovieren/ Schweiz academics.ch | weitgehend identisch mit academic.de: www.academics.ch myscience.ch | mit Informationen und Karriereberatung für Promovierende, Pot‐ Docs und mehr: https: / / www.myscience.ch/ de/ jobs/ phd_in_switzerland <?page no="190"?> Index Adler, Alfred 164 Anforderungen an Nachwuchskräfte 20, 27, 80, 121 An-Institut 181 anwendungsbezogene Wissenschaft 43 Arbeitslosengeld 104 Attitude Awareness 148 Ausdauer 28, 61, 137 Autorenliste (Publikationen) 100 Berufung, gemeinsame 131, 183 Berufungskommission 128, 132, 181 Berufungsverfahren 149 Betreuung von Promovierenden 134 Bewerbungsgespräch 140 Bologna-Reform 77, 131, 181 Burn-out 41, 148, 150, 160 Coach (Auswahl) 153 Coaching (Anlässe) 149 Coaching (Begriff) 145 Coaching (Methode) 148 Dauerstelle 21, 65, 102 Dekan: in 115, 122 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 100, 182 Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) 88, 182 Dilemma vs. Tertralemma 123 Disputation 32 Dissertation 31, 66 Doktorand: innenprogramm 182 Doktorarbeit 31f., 35 Doktormutter 66 Doktortitel (Gehaltsvorteil) 33 Doktorvater 66 Drittmittel 89, 182 Dunning-Kruger-Effekt 109 Durchhaltevermögen 136 Eigeninitiative 28, 61, 137, 140f., 154 Elternzeit 138 Erasmus-Programm 183 ERC-Grant 89 Exit-Strategie 138 Exzellenz 21, 74 Fachhochschule 36, 130f. Fonds für wissenschaftliche Forschung (FWF) 183 Forschung, außeruniversitäre 103, 181 Forschungsinstitut 71, 93 Forschungsmittel 42, 182 Forschungsverbünde 181, 183 Fraunhofer-Gesellschaft 131, 183 Frustrationstoleranz 28, 136, 140 Führung 94, 150 Führung, laterale 90, 150 Führungsfunktionen (Universität) 121 Führungspraxis an Universitäten 25 Fundraising 43, 69, 183 Gesprächsvorbereitung (Checkliste) 61, 170 Gesundheit 150 Graduiertenschule/ Graduate School 54, 143, 184 <?page no="191"?> Grant 89 Habilitation 22, 36, 88 Handlungsempfehlungen (Betreuende) 143 Handlungsempfehlungen (Promovierende) 143 Harnack-Prinzip 74 Helmholtz-Gemeinschaft 131, 183f. Hierarchie 132 Hochschule 130 Hochschullehrer: in (Werdegang) 127 Honorarprofessur 33, 128 Humboldt, Alexander von 157 Humboldt’sches Bildungsideal 103 #IchBinHanna 79, 159 Interviewleitfaden 140 Journal Club 141 Juniorprofessur 102, 124, 130 Karrierewege, alternative 57, 68, 112, 124, 166 Kommunikationsverhalten 140, 143 Konfliktmanagement 24, 93, 160 Kosten-Nutzen-Analyse 82 Krise (Definition) 47 Kybernetisches Dreieck 151 Leibniz-Gemeinschaft 131, 183f. Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis 100 Life-Balance 41, 59, 148, 150, 160 Masterplan 93 Max-Planck-Gesellschaft 73, 131, 183f. Midlife-Crisis 120 Misserfolge 28, 60, 135, 142 Mitarbeiter: innengespräch 58 Mittelbau 184 Motivation (für Arbeit in der Wissenschaft) 158 Motivationsanker 151 Ombudsperson 100 Peer-Review 185 Personalauswahl (Mitarbeitende) 140 persönliches Invest 91 Peter-Prinzip 25 PhD 54 PhD-Programm 54, 135, 185 Plagiat 100 Plan A/ Plan B 58 PostDoc-Phase 127 Postdoctoral Fellowship 88 Prinzip des mehr Desselben 121 Probezeit 45, 71 Professur, außerplanmäßige 128 Professur (Werdegang) 127 Projektmanagement 24, 40, 61, 68, 93 Projektplanung 93 Promotion 31 Promotion, kumulative 64, 184 Promotion (Bewertung) 138 Promotion (Entscheidungscheck) 37 Promotion (Nachteile) 36 Promotion (Vorteile) 36 Promotionsprojekt 57 Publikationszwang 35 Qualifikation, wissenschaftliche 65, 128 QualitätsZirkel Promotion 143 Research School 54, 60, 185 191 Index <?page no="192"?> Retreat 40, 95 Rigorosum 32 Roadmap 93 Selbstmanagement 59 Selbstreflexion 28, 107, 146 Selbstreflexion (Übung) 111 Selbstüberschätzung 110 Selbstzweifel 55, 60, 109 Senior Scientist 67, 89, 136, 185 Sinnhaftigkeit 158 Stipendium 89, 97, 182f. Strategische Laufbahn-/ Karriereplanung 91 Supervision 146 SWOT-Analyse 82, 91 Team-Workshop 95 Technische Universitäten 77 Tenure Track 130 Tetralemma 123f. totes Pferd (Methapher) 57 translationale Forschung 43 Universitätsgesetz (Österreich) 20 Venia Docendi 22 Venia Legendi 22, 128f., 186 Verbindlichkeitskultur 95 Vereinbarkeit von Familie und Beruf 98 Vergütung 36, 45, 128 Verteilungskonflikte 99 Watzlawick, Paul 121 Werte (eigene) 151 Werte und Motivationsanker 82 Wikimedia 128 Wissenschaftsadministration 69 Wissenschaftsfreiheit 103, 122f. Wissenschaftsjournalismus 48, 112 Wissenschaftskommunikation 43 Wissenschaftsmanagement 42-45, 48, 68, 93 Wissenschaftsorganisation 68 Wissenschaftsrat 35 Wissenschaftszeitvertragsgesetz 20, 65, 79, 186 Work-Life-Balance 59, 148, 150, 160 Zeit- und Selbstmanagement 29, 160 192 Index <?page no="193"?> Über den Autor Dr. phil. Reinhold Haller ( Jahrgang 1955) ● Studium der Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin ● zehn Jahre Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Fortbildungs‐ referent) an der medizinischen Fakultät der Freien Universität (später Charité), Berlin ● mehrere Jahre Führungsfunktion u. a. als Abteilungsleiter Personal- und Organisationsentwicklung am Deutschen (Forschungs-)Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) ● zweieinhalb Jahre Erfahrung als Betriebsratsmitglied einer großen Forschungseinrichtung (DLR) ● Lehrbeauftragter und Dozent im Bereich Personalwirtschaft an ver‐ schiedenen Hochschulen in Deutschland ● seit 2000 freiberuflicher Berater, Trainer und Coach mit Schwerpunkt Wissenschaft und Forschung für zahlreiche Universitäten und For‐ schungszentren aus den Forschungsverbünden HGF, MPG, FhG und WGL ● seit 2013 Mitglied und zeitweise Vorstandsmitglied im Coachingnetz Wissenschaft e.V. <?page no="194"?> Weitere Publikationen des Autors Führung in Wissenschaft und Forschung: Grundlagen, Instrumente - Fallbeispiele. Berliner Wissenschaftsverlag 2021 Effektiver arbeiten. (gemeinsam mit weiteren Autoren), Haufe Verlag 2020 Bedürfnis- und lösungsorientierte Gespräche führen - privat und beruflich. Springer Verlag 2018 Checkbuch für Führungskräfte. 3. Auflage, Haufe Verlag 2015 Low-Performance - Aktivierung von Mitarbeitern mit reduziertem Leis‐ tungsprofil. Haufe Verlag 2014 Delegieren. Haufe Verlag 2012 Do it yourself - Toolbox für Management und Mitarbeiterführung. Eigenverlag 2006 (Bezug über www.rh-hr.de) Kontakt haller@rh-hr.de | www.rh-hr.de 194 Über den Autor <?page no="195"?> BUCHTIPP Anette Hammerschmidt, Neela Enke (Hg.) Forschen, Lehren, Führen Das ABC für die Hochschulkarriere 1. Auflage 2020, 264 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5425-4 eISBN 978-3-8385-5425-9 Universitäten und Hochschulen sind weitaus komplexer als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Dies bekommen v.a. Mitarbeiter: innen im Mittelbau, Dozent: innen und Professor: innen zu spüren. Sie sind nicht nur mit Forschung und Lehre betraut, sondern auch mit einem breiten Spektrum recht diverser Aufgaben und Verantwortungen. Welche Schlüsselkompetenzen braucht es, um sich in diesem Feld zurechtzufinden? Wie bereite ich mich auf den Berufungsprozess vor? Wie führt man ein Team oder Institut? Wie gehe ich mit Stress um? Das Buch behandelt solche Schwierigkeiten und Herausforderungen. Es ist ein Handbuch, das man an der passenden Stelle aufschlagen kann, um über einen gegebenen Anlass zu reflektieren und so für sich einen Weg bzw. eine Lösung in einer gegebenen Situation zu finden. Das Buch gibt erste Anregungen, konkret erfahrene Schwierigkeiten aus einer anderen Perspektive zu betrachten, das eine oder andere auszuprobieren. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="196"?> BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Viola Falkenberg Wissenschaftskommunikation: Vom Hörsaal ins Rampenlicht Mit Übungen und Checklisten 1. Auflage 2021, 262 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5670-8 eISBN 978-3-8385-5670-3 Wissenschaftskommunikation ist wichtig. Aber wie erreicht man sein Publikum? Welche Formate und Kanäle können wofür genutzt werden? Dieser Praxisleitfaden bietet Schritt-für-Schritt-Anleitungen vom Social Media-Post bis zum eigenen Podcast, von der Bildrecherche bis zum Videodreh. Er unterstützt verlässlich bei der Konzeption und gibt zahlreiche Umsetzungs-Tipps für die Praxis in den Wissenschaften. Auf der Basis von Forschungsergebnissen und mit zahlreichen Best-Practice-Beispielen vieler Fachdisziplinen hilft der Band, die eigene Arbeit ins Rampenlicht zu rücken. Mit Übungen, Checklisten und Fördermittel-Übersicht. <?page no="197"?> ,! 7ID8C5-cfiafe! ISBN 978-3-8252-5805-4 Nach dem Abschluss eines Hochschulstudiums oder einer Promotion ergibt sich eine Vielzahl reizvoller beruflicher Perspektiven innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Doch mit der Auswahl fällt oftmals die Entscheidung schwer. Hierbei hilft dieser Ratgeberroman. Anhand der Protagonistin Amisha zeigt Reinhold Haller, welche Berufsmöglichkeiten sich nach dem Abschluss bieten. Er vermittelt die jeweiligen Anforderungsprofile sowie deren spezielle Vorzüge und Nachteile. Anhand typischer Fallbeispiele führt er vor, wie sich mit den richtigen Tools und Informationen gute und nachhaltige Entscheidungen treffen lassen. Damit ist dieses Buch unverzichtbar für Studierende, Promovierende, Post-Docs und alle, die genauer wissen wollen, welche Chancen und Risiken mit der Arbeit in Wissenschaft und Forschung verbunden sind. Wissenschaft und Karriere Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel