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Medizin und Gemeinwohl

Medizinwissen für Gesundheitsökonomie und -wissenschaft

0516
2022
978-3-8385-5811-0
978-3-8252-5811-5
UTB 
Thomas Stockhausen
10.36198/9783838558110

Die Medizin in all ihren Facetten verstehen! Auf die Gesundheit der Menschen lässt sich medizinisch, wirtschaftlich, sozial oder gesellschaftlich blicken. Thomas Stockhausen macht das daraus resultierende Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ethik in seinem Buch zum Thema. Anhand der klinischen und fächerübergreifenden Medizin stellt er die unterschiedlichen Aspekte der Patientenversorgung dar und diskutiert sie mithilfe lebensnaher Beispiele - aus gesundheitlicher, unternehmerischer, organisatorischer und schließlich ethischer Sicht. Auf die Gesundheitsversorgung und auf die Ethik der Medizin geht er dabei explizit ein. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheitsökonomie und Gesundheitswissenschaften. Ihnen vermittelt es das notwendige medizinische Grundlagenwissen.

<?page no="0"?> Thomas Stockhausen Medizin und Gemeinwohl Medizinwissen für Gesundheitsökonomie und -wissenschaft <?page no="1"?> utb 5811 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. med. Thomas Stockhausen ist Chirurg, Orthopäde und Unfallchirurg. Er lehrt im Fach‐ bereich „Gesundheitsökonomie“ an der Busi‐ ness School Wiesbaden - Hochschule Rhein Main. Er ist Chefarzt am Klinikzentrum Linden‐ allee in Bad Schwalbach und leitet dort die Abteilung Orthopädie. <?page no="3"?> Thomas Stockhausen Medizin und Gemeinwohl Medizinwissen für Gesundheitsökonomie und -wissenschaft UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838558110 © UVK Verlag 2022 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5811 ISBN 978-3-8252-5811-5 (Print) ISBN 978-3-8385-5811-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5811-5 (ePub) Umschlagabbildung: baona | iStock Autorenfoto: © privat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 1 9 1.1 9 1.2 24 1.3 38 1.4 48 1.5 57 1.6 66 1.7 75 1.8 85 1.9 96 2 107 2.1 107 2.2 116 2.3 124 2.4 138 3 147 3.1 147 3.2 158 3.3 165 4 179 4.1 179 4.2 194 4.3 206 225 Inhalt Was Sie vorher wissen sollten! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akutes Abdomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gallenblasensteinleiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Wunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückenschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alterstraumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelenkerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachübergreifende Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hämotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nosokomiale Infektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur der Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlicher Gesundheitsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Public Health . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allokationsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> Was Sie vorher wissen sollten! Die Gesundheitsökonomie beschäftigt sich als fachübergreifende Wissen‐ schaft mit den Fragen der Gesundheitsversorgung unter Beachtung der ökonomischen Rahmenbedingungen. Während medizinisches Handeln in‐ dividuell ausgerichtet ist, adressiert die Ökonomie gesellschaftlich-wirt‐ schaftliche Aspekte. Die Interessen können teils diametral auseinander liegen: Ist erkrankungsbedingt alles erdenklich Mögliche zur Lösung beizu‐ tragen, kann dies aus ökonomischer Sicht gesellschaftlich belastend sein. An ausgewählten Themen der Medizin werden in diesem Buch die unter‐ schiedlichen Aspekte der Patientenversorgung dargestellt und diskutiert. Aufbau des Buches Der erste Abschnitt thematisiert medizinische Fragestellungen aus Klinik und Alltag. An ausgewählten Beispielen werden Erkrankungen vorgestellt und die Therapiemöglichkeiten erörtert. Der zweite Ab‐ schnitt adressiert fachübergreifende Themen. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den organisatorischen Rahmenbedingungen, in denen medizinisch Fragen gesellschaftlich zu beantworten sind. Der vierte Abschnitt geht auf ethische Fragestellungen ein, die sich in diesem Kontext ergeben. Medizin versteht sich als evidenzbasierte Wissenschaft, die sich der Vor‐ beugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen widmet. Sie kann sich auch als klug ermessende, ratgebende Lehre der Heilkunde verstehen, die sich in die Gemeinschaft einfügt, sich mit ethi‐ schen Fragstellungen beschäftigt, ökonomische Aspekte zu berücksichtigen hat und nicht zuletzt sich der ökologischen Verantwortung bewusst ist. Die Denkweise der Humanmedizin unterscheidet sich womöglich von denen der ökonomischen Wissenschaften und der Rechtswissenschaften. Humanistische und zuweilen auch künstlerische Aspekte treten der Gesamt‐ verantwortung hinzu. Dieses Lehrbuch ist als eine Einführung in die Denkweise medizinischen Handelns im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Als dynamisches Fach unterliegt die Medizin immer wieder neuen Interpretation, wie verantwor‐ <?page no="8"?> tungsvoll mit medizinischer Evidenz umzugehen ist. Sind Kernaspekte be‐ kannt und unverrückbar, ergeben sich bei neuen Erkenntnissen Unschärfen der Betrachtung. Die Coronapandemie stellte die Gesellschaft beispielsweise vor die Herausforderung, wie mit wechselnden Kenntnissen und Interpre‐ tationen medizinischen Handelns umzugehen ist. Lesende und Lernende sollen in den dargestellten Themen ein Gefühl für die in der Medizin angestellten Überlegungen und einen Überblick über lang bewährte und aktuelle Fragen erlangen. Idstein, Februar 2022 Thomas Stockhausen Hinweis | Links im Buch Die im Buch verwendeten Links waren zum Erscheinen des Buches abrufbar. 8 Was Sie vorher wissen sollten! <?page no="9"?> 1 Klinische Medizin 1.1 Diagnostische Methoden Der Begriff der Medizin ist ausgesprochen vielgestaltig. Er umfasst das professionelle Denken und Handeln im jeweiligen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontext ebenso wie das praktische und theo‐ retische Wissen um Gesundheit und Krankheit. Medizinisches Wissen beruht sowohl auf empirische Beobachtung als auch auf philosophische Theorien. Grundwissen Der Therapie ist die Diagnose vorangestellt. In Kenntnis der Diagnose ist die jeweilige, dann diagnoseabhängige Therapie angeschlossen. Insofern bedarf es der eingehenden Betrachtung. Genaues Hinschauen vor dem Hin‐ tergrund der Kenntnis. Krankheiten sind durch Symptome und Befunde erkennbar und auch zu definieren. Das ist eine entscheidende Kompetenz, die der Medizin zuzuschreiben ist. Für die Angehörigen bedeutet Krankheit: Ungewissheit, Sorge und Angst, um das Befinden. Für die Betroffenen kommen körperliche und seelische Schwäche hinzu. Praxis | Achim F., Helga K. und Helmut R. in der Notfallambulanz In die Notfallambulanz kommt Achim F. (43) mit blassem Gesicht Kurzatmigkeit, Schweiß an der Stirn jedoch ohne Fieber. Er beklagt Übelkeit und hält sich die Brust. Helga K. (58) ist absolut erschöpft, hat seit Wochen Husten und kann auch nichts Essen. Sie habe an Gewicht verloren. Heute Morgen war Blut im Taschentuch. Sie hat große Angst und kann nicht mehr. Helmut R. (74) ist mit heftigen Kopfschmerzen erwacht und beklagt ein flimmeriges Sehen. Die Sprache sei verwaschen und der linke Arm sei schwächer geworden. <?page no="10"?> Die Menschheit hat über die vielen Jahrtausende ihrer Existenz Verständnis und Wissen über den Aufbau des gesamten menschlichen Körpers erlangt: u. a. das Wissen um Gestalt und Funktion der Haut, die der Muskulatur, über die Verdauung und das Skelettsystem, über das Gefäßsowie lymphatische System und das zentrale sowie periphere Nervensystem. Dabei wurden auch Irrwege gegangen. Insgesamt hat sich allerdings das Wissen um den menschlichen Körper sowie der Psyche erheblich verbes‐ sert. Das Studium der Medizin befasst sich zu Beginn klassischerweise mit der Lehre von Anatomie und Physiologie des gesunden Menschen. Es wird also das Normale betrachtet. Kenntnisse, die erforderlich sind, um Änderungen vom Gesunden zu erkennen. Damit ist es aber noch nicht entschieden, ob es noch normal ist oder schon krank. Die Abwe‐ senheit des Normalen definiert noch keine Krankheit. Die Grenzlinie dahingehend, ob eine Änderung vom Normalen eine Krankheit darstellt, unterliegt unterschiedlichen Konventionen, die teils wissenschaftlich, teils gesellschaftlich festgelegt werden. In dieser Grauzone ist es schwierig, sich zu bewegen. Es erscheint sinnvoll und hilfreich, die Krankheit als solche zu definie‐ ren. Bei einem Knochenbruch mit deutlicher Fehlstellung, aufgerissener Wunde und sichtbaren Knochenbruchanteilen ist das relativ einfach und überschaubar. Bei einem seltenen Syndrom, was mit Minderwuchs, Sehstö‐ rung und vermehrten Gelenkverschleiß bereits in der Pubertät einhergeht, ist das schon schwieriger. Der Begriff der Krankheit definiert sich grund‐ sätzlich nicht dadurch, dass eine Abweichung vom Normalen besteht. Dia‐ gnosen unterliegen Definitionen, die es zu erfüllen gilt, um als Erkrankung definiert zu werden (→ Abb. 1). 10 1 Klinische Medizin <?page no="11"?> 2 kranker Mensch Diagnostik Klassifikation Therapie Änderung vom Gesunden noch normal schon krank gesunder Mensch Anatomie Physiologie Abb. 1: Anatomische Strukturen und physiologische Abläufe im Organismus sind komplex. Zahlreiche Variationen sind zu beobachten. Eine Änderung vom gesunden Organismus kann einerseits noch normal oder bereits Ausdruck einer Erkrankung sein. Der Krankheits‐ begriff unterliegt einer Definition. Diagnostische Methoden erlauben eine Einordnung und grenzen sich von Differentialdiagnosen ab. Klassifikationssysteme erlauben eine Zuordnung zu Therapieprinzipien. Diagnostik Zur Detektion einer Ursache, also der Diagnose einer Erkrankung, ist eine gezielte Diagnostik durchzuführen. Erst mit Kenntnis der korrekten Diagnose kann die spezifische oder kausale (die ursachenbegründende) Therapie eingeleitet werden (→ Abb. 2). Diagnosen können mitunter auch nicht gestellt werden. Das ist nicht ganz so selten, wie man vermuten könnte. Dennoch bedarf es dennoch einer Therapie. Das kann auch ein aufklären‐ des Gespräch sein, in dem man erklärt, dass nach ärztlichem Ermessen und Kenntnis kein Hinweis auf eine Erkrankung zu finden ist. Zeitweilig kann es aber notwendig sein, schwerwiegende Symptome wie beispielsweise Fieber oder Schmerz zu behandeln, ohne zu wissen, was dieses Leiden begründet. Eine solche Therapie ist dann als eine symptomatische Therapie zu verstehen. Die Erkrankung selbst mag noch nicht verstanden sein und möglicherweise entwickelt sich die Diagnose bei weiterer Beobachtung. 11 1.1 Diagnostische Methoden <?page no="12"?> Möglich ist aber auch, dass es nicht zu klären ist, die Befunde unklar bleiben, zuweilen auch wieder verschwinden. Symptom + Anamnese Diagnostik Diagnose Therapie Abb. 2: Symptom und Anamnese führen auf den Verdacht einer Erkrankung hin. Eine gezielte Diagnostik führt unter Beachtung der zu erwägenden Differentialdiagnosen zur Diagnose, aus der sich die spezifische Therapie ableitet. Die durchzuführende Diagnostik hat einen strukturierten Ablauf. Hierzu zählen: ● Anamnese, ● klinische Untersuchung und ● apparative Diagnostik. Auch bei einem geordneten Ablauf gibt es jeweils eigene Möglichkeiten und Grenzen. Insbesondere bei der apparativen Diagnostik erfolgt die genaue Untersuchung des Organismus in ihren jeweilig zu beurteilenden Organstrukturen. Diese Untersuchungstechniken sind unterschiedlich in ihrer Aussagekraft zu werten. Anamnese und klinische Untersuchung verlaufen interpersonell, haben also einen direkten Bezug von Untersucher und Untersuchtem. Zugleich ergibt sich die Ausgangssituation der ersten Hypothese. Bildlich wird der Bogen gespannt, für den Pfeil, der mit der apparativen Diagnostik zum Ziel führt (→ Abb. 2). Es erscheint sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass wir mit den technischen Untersuchungen konkrete Fragestellungen adressieren. Aus ganz unter‐ schiedlichen Blickwinkeln und unter sich ergänzenden Aspekten wird das Subjekt bewusst zu einem Objekt geführt. Es ist gleich so, wie wenn man sich ein Haus mit unterschiedlichen Kameras anschaut. Die Farbfotografie wirkt anders als eine Schwarzweißaufnahme. Die Wärmebildkamera gibt 12 1 Klinische Medizin <?page no="13"?> andere Informationen als die radiometrische Tiefenmessung von Häusern zur Beurteilung von Feuchtigkeitsproblemen am Gebäude. Alle Untersu‐ chungstechniken beschreiben das gleiche Objekt in unterschiedlicher Weise und beantworten spezifische Fragen. Modulartig werden die ein‐ zelnen Ergebnisse der jeweiligen Untersuchungen zu einem Gesamtbild zusammengefügt, um schlussendlich die Diagnose stellen zu können. Diese objektorientierten, skalierbaren Denkmuster müssen dann aber auch wieder zum Subjekt der Betrachtung, zu den Patientinnen und Patienten zurück‐ geführt werden, um ein menschliches Miteinander zu schaffen, in denen Wertevorstellungen, individuelle Abwägungen aber auch Emotionen wieder Platz haben können. Anamnese In erheblichem Ausmaß ist die Diagnose bereits durch die Anamnese zu stellen. Die Betrachtung der jetzigen Situation, der verspürten Sym‐ ptome und der aktuellen Geschehnisabläufe wird als jetzige Anamnese bezeichnet. Das Vorliegen von Erkrankungen in der bisherigen Historie (Eigenanamnese) als auch möglicherweise die Beobachtungen des nahen Umfeldes sind hilfreich. Bei Kindern und bei Menschen mit eingeschränkten geistigen Möglichkeiten, wie bei Demenz, sind die Fremdanamnese und die damit gemachten Beobachtungen möglicherweise entscheidend. Die Medikamentenanamnese weist auf mögliche Vorerkrankungen hin, die beim Erstgespräch nicht vorgetragen wurden. Sie hat aber auch Einfluss auf die Therapie. Es muss bedacht werden, welche Medikamente ihrerseits Ne‐ benwirkungen haben und wie sie mit anderen Medikamenten interferieren. Die Frage nach Allergien schließt unter Umständen spezielle Therapiever‐ fahren aus. Die Frage nach dem sozialen Kontext (Sozialanamnese) erfüllt unterschiedliche Aufgaben. Das Geschehen ist in das Umfeld einzuordnen und - ganz einfach - ist das Gespräch auch nach Bildungsniveau und Sprachkompetenz unterschiedlich zu gestalten. Einer Personalsachbearbei‐ terin ist anders zu begegnen als einem Straßenwärter. Die Familienanam‐ nese gibt Hinweis auf eine mögliche familiäre Belastung oder genetische Genese einer Erkrankung. 13 1.1 Diagnostische Methoden <?page no="14"?> Klinisch-körperliche Untersuchung Zur anschließenden klinisch-körperlichen Untersuchung empfiehlt sich ein geordneter schematischer Ablauf. Der klassische Ablauf orientiert sich nach einem Schema: Bei der Inspektion wird beispielsweise die Haut betrachtet, um zu sehen, ob sich Farb- oder Formveränderungen ergeben; also alles das, was sich mit bloßem Auge erkennen lässt. Bei der Perkussion werden Organsysteme abgeklopft. Ein typisches Beispiel ist ein Abklopfen der Lunge oder eines geblähten Bauches. Viele Erkrankungen sind mit den Händen auch zu ertasten. Typisches Beispiel der Palpation ist das Betasten des Bauches bei Baucherkrankungen. Mit dem Stethoskop lassen sich unterschiedliche Hörgeräusche bestimmten Erkrankungen zuordnen. Das Abhören des Herzens oder auch der Lunge sind typische Formen der Auskultation. Auch die frühere Untersuchung von Schwangeren mit dem Hörrohr stellt ein solches Verfahren dar. Die Allgemeine Funktionsprü‐ fung zeigt, ob sich das zu betrachtende Organsystem so verhält, wie es sich verhalten soll. Typisch sei hier das Bewegungsausmaß von Gelenken erwähnt oder die Funktionsprüfung von Nervenreflexen. Diese Systematik ist prinzipiell auf alle Organsysteme in unterschiedli‐ cher Weise anwendbar. Sie erlaubt eine vollständige klinische Evaluation, bei der man auch nichts vergisst. Es gibt auch noch andere Systematiken, wie ein klinischer Untersuchungsgang beschritten werden kann. Wesentlich dabei ist, dass man sich einer Systematik bedient, die so umfassend wie möglich viele Informationen liefert. Ergänzend sind die sogenannten Vitalparameter wie Blutdruck, Puls und Atmung sowie andere einfach zu erlangenden Befunde bereits beim Erstkontakt zu erheben. Sind wir an dieser Stelle der Untersuchung, so ist schon Vieles erreicht worden und möglicherweise ist auch die Diagnose bereits zu stellen. Mit der Anamnese und der klinischen Untersuchung ist zu diesem Zeitpunkt die Verdachtsdiagnose häufig zu stellen. Dieser Verdacht kann mit anderen Untersuchungsmethoden erhärtet bzw. bestätigt oder entkräftet bzw. widerlegt werden. Dieser Prozess der Verifikation oder Falsifikation der Arbeitshypothese ist entscheidend für die Sicherheit der Diagnose. Die laborchemischen Analysen erlauben, die funktionellen Aspekte von Organsystemen einzuordnen und zu bewerten. Unterschiedliche Er‐ krankungen führen zu teils recht typischen laborchemischen Veränderun‐ gen. Sie können als Profil oder bei spezifischen Fragestellungen solitär 14 1 Klinische Medizin <?page no="15"?> erhoben werden. Auch hier ist ein einzelner Wert nicht immer maßgebend. Vielmehr kommt es auf die Gesamtkonstellation der Werte an, die ganz unterschiedliche Organsysteme und biochemische Funktionsweisen adres‐ sieren. Bei chronischen Erkrankungen wie dem Diabetes mellitus ist es erweiternd, hier den Verlauf auch mit in die Betrachtung aufzunehmen. Solche Systeme gibt mittlerweile auch app-basiert auf dem Markt und erlauben die Langzeitbeurteilung. Elektrokardiogramm (EKG) Dem Physiker und Neurophysiologie Carlo Matteucci (1811-1868) gelang es, bereits Mitte des 19. Jahrhunderts elektrische Vorgänge an Taubenher‐ zen nachzuweisen. Willem Einthoven (1860-1927) ermöglichte 1903 die Ableitung von Herzströmen am Menschen, wofür er den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 1924 erlangte. Die sog. Extremitätenableitun‐ gen sind auch heute noch nach ihm benannt. Weitere EKG-Ableitungen haben sich entwickelt und sind etabliert. Die Systematik der Messung der Herzströme über die Haut hat sich verfeinert. Sie ist bedeutsam in der Dia‐ gnostik von Herzrhythmusstörungen oder Störung der Erregungsbildung und -leitung. Das Elektrokardiogramm (EKG) stellt ein schmerzloses, nicht inva‐ sives, jederzeit wiederholbares und nahezu überall durchführbares Ver‐ fahren zur Beurteilung der Herzfunktion dar. Spannungsänderungen des Herzens werden an der Körperoberfläche gemessen und zeitlich fortlaufend dokumentiert. Ausgehend vom Sinusknoten im rechten Vorhof folgt die Leitung der elektrischen Aktivität über den Vorhof zum atrioventrikulären Knoten (AV-Knoten am Übergang des Vorhofes zur Herzkammer). Über die Herz‐ scheidewand wird der Strom zunächst in die Herzspitze geführt und regt die Herzkammer zur Kontraktion an. Auf diesem Weg kann das Wechselspiel der Pumpfunktionen von Vorhöfen und Kammer optimal koordiniert wer‐ den. Diese elektrische Aktivität zeigt einen typischen zeitlichen Verlauf, der graphisch auch dargestellt werden kann. Bei einem Herzinfarkt ist eine solche elektrische Folge gestört bzw. typisch verändert. Je nach Lokalisation der Durchblutungsstörung des Herzens zeigt sich ein typisches elektrogra‐ 15 1.1 Diagnostische Methoden <?page no="16"?> phisches Bild. Mit dieser Methode ist ein Herzinfarkt durch eine typische Veränderung der Herzstromkurve zu erkennen. Ultraschalluntersuchung Erstanwendungen von Ultraschall gehen auf die Ortung von Unterseeboo‐ ten zurück. Der Impuls war jedoch so stark, dass die darüber schwimmenden Fische verstarben. Wurden in der weiteren Entwicklung der Technik zu‐ nächst Materialfehler von Werkstoffen detektiert, so widmete sich als erste medizinische Instanz das neurologische Fachgebiet den Untersuchungen von Ventrikeln des menschlichen Gehirns. Der Durchbruch gelangte mit der Untersuchung von Halsweichteilen und des Abdomens. Prinzipiell wird über einen sog. Transducer ein Schallsignal wechselnd gesendet und empfangen. An den Oberflächen von Gewebe unterschiedli‐ cher Dichte kommt es zur Reflexion von Schallanteilen, andere transmit‐ tieren weiter in das dahinter liegende Gewebe. Aus diesen Informationen lässt sich eine Bildfolge errechnen, welches ein zweidimensionales Abbild verschafft. In der Echokardiographie lassen sich Organstrukturen, wie Muskulatur und Klappensegeln des Herzens darstellen. In der dynamischen Untersuchung können hier die Wandbewegungen analysiert werden. Stö‐ rungen der Wandbewegungen weisen etwa auf das Vorliegen eines akuten oder alten Herzinfarktes hin. Bei der akuten Gallenblasenentzündung lassen sich ebenso typische bildmorphologische Zeichen erkennen, wie eine Wandverdickung oder die entzündliche Oedembildung im Gallenblasenlager. Diese Oedembildungen sind mit der Entzündung einhergehende Ansammlungen von Flüssigkeiten in Geweben. Auch freie Flüssigkeiten in der Bauchhöhle lassen sich mit der Ultraschalluntersuchung nachweisen. Bei einem Darmverschlusssyndrom können Erweiterungen der Darmschlingen und ein sog. Strickleiterphäno‐ men diagnostisch verwertet werden. Die dreidimensionale Darstellung erlaubt darüber hinaus die pränatale Beurteilung von Wirbelsäulenerkran‐ kungen und lässt auch das Gesicht des Fötus erkennen. Ultraschalluntersuchungen erlauben eine anatomische Beurteilung der Organstrukturen. Es werden virtuelle Schnitte durch den Körper ge‐ zogen, betrachtet und interpretiert. Aus den Veränderungen zum Norma‐ len lassen sich Rückschlüsse auf mögliche zugrunde liegende krankhafte Veränderungen ziehen. Sie zeigen aber auch eine hohe inter- und intraob‐ server Varianz. Unterschiedliche Untersucher interpretieren die erstellten 16 1 Klinische Medizin <?page no="17"?> Bildfolgen unterschiedlich. Beim Untersuchenden ist das Ergebnis von der Tageszeit, den Untersuchungsbedingungen und vielen anderen Faktoren abhängig. Es ist eine dynamische Untersuchung mit hoher Aussagekraft. Die Ultraschalluntersuchung ist recht angenehm und schmerzlos durchzufüh‐ ren. Das Verfahren ist jederzeit verfügbar sowie schmerzfrei durchzuführen und hat - soweit wir das derzeit beurteilen können - keinen schädlichen Einfluss auf den Organismus. In der alltäglichen Anwendung spielen die möglichen Gefahren praktisch keine Rolle. Beispiel | Unfallchirurgie In der Unfallchirurgie hat sich die Focused Abdominal Sonography of Traumatology noch im Schockraum gut etabliert. Hauptindikation ist die Untersuchung eines stumpfen Bauchtraumas. Ein standardisierter Untersuchungsablauf detektiert freie Flüssigkeit oder Parenchymschä‐ den mit einer hohen Sensitivität bei einer nahezu gesicherten Spezifität. Es ist also mit einer hohen positiven Aussagekraft verbunden. Eine sonographisch nachweisbare Milzruptur ist zu erkennen, eine sichere Ausschlussdiagnostik ist damit nicht möglich. Röntgenuntersuchung Aus den Kenntnissen von Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) können elektromagnetisch erzeugte Gammastrahlen Gewebe durchdringen. Gam‐ mastrahlen werden dabei vom Gewebe teilweise adsorbiert. Hindurchtre‐ tende Strahlen werden mit einem Detektor aufgenommen. So entsteht ein kontrastiertes Bild vom Organismus. Knochensubstanz hat eine hohe Ad‐ sorptionsgröße, Fettgewebe eine geringere. Hiervon lässt sich eine Bildfolge erstellen. Es ist eine Untersuchungsmethode, die sich für das Skelettsystem besonders etabliert hat. Prinzipiell wird ein geradliniges Bündel von Gammastrahlung, ausgehend von der Röntgenröhre, durch den Körper geführt. Es kommt zu Adsorptio‐ nen von Strahlung. Ein hinter dem Objekt liegender Film wird belichtet und es entstehen Bildsequenzen. Bei der Untersuchung des Abdomens spezifische Zeichen eines Darmverschlusssyndroms auf eine andere Weise darstellen können, als wir sie in der Ultraschalluntersuchung sehen. Hier zeigen sich erweiterte Darmschlingen und Spiegelbildungen der Flüssigkeit in den Darmschlingen. 17 1.1 Diagnostische Methoden <?page no="18"?> Typischerweise lassen sich Frakturen des Skelettsystems auf diese Weise sehr gut darstellen. Dies ist auch der häufigste Grund einer konventionellen Röntgenuntersuchung in der Humanmedizin. Erst in den 1960erbzw. 1970er-Jahren konnte die kontinuierliche Röntgendurchleuchtung im Ope‐ rationssaal etabliert werden. Die Positionierung von Osteosynthesematerial kann mittels eines C-Bogens während des Eingriffes beurteilt werden. Auch hier stehen mittlerweile dreidimensionale Darstellungsmöglichkeiten zur Verfügung. Computertomographie Die Computertomographie (CT) zählt - wie auch die Ultraschalluntersu‐ chung - zu den Schnittbildverfahren. Hier wird Röntgenstrahlung ange‐ wendet. Sie stellt eine aufwändige Untersuchungsmethode dar, verfügt aber über eine hohe Informationsdichte. Sie erlaubt auch eine dreidimensionale Darstellung. Als kostenintensives Verfahren ist sie immer noch bei speziel‐ len Fragestellungen vorzusehen. Technisch erfolgt eine kreisrunde Führung der Röntgenröhre, aus der die Röntgenstrahlen ausgesendet werden und auf einen gegenüberliegen‐ den Detektor treffen. Das zu untersuchende Objekt ist im Zentrum der kreisrunden Führung positioniert. Aus den Dichteunterschieden kann dann ein zweidimensionales Bild erstellt werden. Unter kontinuierlichem Trans‐ port kann - je nach Geräteeigenschaft - in kurzer Zeit auch ein ganzer Körper durchleuchtet werden, was bei polytraumatisierten Patienten eine besondere Bedeutung erlangt. In der Skelettradiologie können Unebenheiten von Gelenkflächen nach einem Unfallgeschehen somit differenzierter dargestellt werden, als dies mit der konventionellen Röntgenuntersuchung möglich ist. Bei einem Bruch des körperfernen Speichenendes zeigt sich in der ergänzenden CT-Untersu‐ chung die komplexe Gelenkbeteiligung. Durch die Anwendung von Röntgenstrahlen lassen insbesondere starke adsorbierende Organstrukturen gut darstellen, so dass sie für die Skelettdi‐ agnostik eine hohe Aussagekraft haben. Es lassen sich aber auch Fragen in Weichteilregionen beantworten, wie die Beurteilung eines Schlaganfalles im Gehirn. Die abgestorbene Hirnmasse stellt sich hier mit typischen Veränderungen in der Bildgebung dar. Größe und Ausmaß einer Lungen‐ entzündung oder einer Lungenembolie können beurteilt werden. Auch bei der Differenzierung einer Blinddarmentzündung kann diese Untersuchung 18 1 Klinische Medizin <?page no="19"?> hilfreich sein. Statt einer Appendizitis zeigt sich eine Entzündung des unte‐ ren Anteils des Dünndarmes am Übergang zum Dickdarm (Ileitis terminalis). Diese Erkrankung ist eine Domäne einer konservativen, nicht-operativen Behandlung. Die Computertomographie hat sich zu einer breit angewendeten Unter‐ suchungsmethode etabliert, mit der sich viele Antworten finden lassen. Technische Verbesserungen haben zu einer höheren Auflösung geführt und dreidimensionale Rekonstruktionen sind möglich geworden. Magnet-Resonanz-Tomographie Die Magnet-Resonanz-Tomographie-Untersuchung (MRT) zählt auch zu den Schnittbildverfahren, basiert aber auf einem anderen Prinzip. Elektro‐ nen von Wasserstoffatomen werden - extrem vereinfacht dargestellt - durch ein Magnetfeld mit hoher Feldstärke in eine bestimmte Richtung ausgerichtet. Wird das Magnetfeld ausgeschaltet, fallen diese sog. Elektro‐ nenspins in ihre ursprüngliche Richtung zurück und geben dabei ihrerseits ein elektrisches Signal ab. Diese Signale können aufgefangen und zu einem zweidimensionalen Bild zusammengefügt werden. Da Wasserstoffatome Hauptbestandteil von Wasser sind, lassen sich mit dieser Untersuchung im Unterschied zur CT-Untersuchung vornehmlich wasserreiche Organstruk‐ turen, also Weichteilgewebe recht gut darstellen. Bei einer Veränderung der Bauchspeicheldrüse lässt sich die Lagebeziehung zu den begleitenden Gefäßstrukturen mit dieser Untersuchungsmethode abbilden. Dies hat Ein‐ fluss auf die Therapieplanung. Die MRT-Untersuchung hat einen besonderen Stellenwert in der Be‐ urteilung von Gehirn, Rückenmark, Gelenken, Tumorerkrankungen und Gallengangserkrankungen. Es ist ein aufwändiges, aber sehr risikoarmes und schmerzfreies Verfahren. Probleme sind ein Enge- und Angstgefühl in der engen Magnetröhre sowie Metallimplantate im Körper. Szintigraphie Bei der Szintigraphie wird radioaktives Material eingebracht, das sich in Organen anreichert. Dieses wird durch eine Infusion über die Vene appliziert. Mittels eines Detektors werden die Strahlen aufgenommen und zu einem Bild verarbeitet. Typisches Beispiel ist die funktionelle Untersuchung der Schilddrüse. Hierbei wird strahlenaktives Material in der Schilddrüse 19 1.1 Diagnostische Methoden <?page no="20"?> aufgenommen. Verteilungsunterschiede zeigen eine lokale Anreicherung des radioaktiv markierten Materials bzw. eine Auslöschung. Stellenwert der apparativen Diagnostik Es stehen zur apparativen Diagnostik eine ganze Anzahl von unterschied‐ lichen Techniken zur Verfügung, von denen hier lediglich eine kleine und gängige Auswahl vorgestellt ist. Allen gemeinsam ist, dass sie jeweilige, in sich begrenzte Aspekte adressieren. Mit jeder diagnostischen Methode ist eine spezielle Fragstellung verbunden. Die ermittelte Antwort ist eng mit der verwendeten Methode verknüpft. Diagnostische Methoden sind Hilfsmittel, die einzelne Fragen beantworten. Um die große Frage der Diagnose, also die Frage nach dem Grund der Erkrankung zu beantworten, braucht es zuweilen mehrerer Untersuchungstechniken. Dabei ist aber zu beachten, dass die Quantität an Untersuchungen nicht die Qualität der Betrachtung ersetzt. Es bedarf einer gezielten und effektiven Untersuchung (→ Abb. 3). Anamnese Untersuchung Labor Ultraschall Röntgen CT MRT Endoskopie Laparoskopie Abb. 3: In Ergänzung zu Anamnese und klinischer Untersuchung stehen apparative und invasive Untersuchungsmethoden zur Verfügung. Sie adressieren spezifische Fragstellun‐ gen und sind als sich gegenseitig ergänzend zu interpretieren. 20 1 Klinische Medizin <?page no="21"?> Praxis | Herzinfarkt, Tuberkulose und Schlaganfall Bei Achim F. (43) wurden laborchemische Untersuchungen angefordert. Hierbei zeigte sich eine Erhöhung der Herzenzyme. Das EKG zeigte typische Veränderungen der Minderdurchblutung des Herzmuskels. Ursache seiner Beschwerden ist ein akuter Hinterwandinfarkt des Her‐ zens. Helga K. (58) bekam zügig eine Infusion, um ihren Kreislauf zu stabilisieren. Im Labor zeigten sich die Entzündungszeichen erhöht. In der Röntgenuntersuchung ist eine Verschattung zu sehen. Weitere Un‐ tersuchungen bestätigen den Verdacht einer Tuberkulose. Helmut R. (74) bekam eine CT-Untersuchung, in dem sich eine Minderdurchblutung am Großhirn zeigte. Er hatte einen Schlaganfall erlitten. Lerntheoretischer Ansatz Beginnend mit dem Auftreten von Krankheitssymptomen, Erhebung der Anamnese und klinische Untersuchung, lässt sich unter Anwendung der apparativen Diagnostik und unter Beachtung der Differentialdiagnosen bei Würdigung von Wissenschaft und Erfahrung die abschließende Dia‐ gnose stellen. Unsere vorangestellten Patienten erlitten einen Herzinfarkt, erkrankten an einer Tuberkulose und erlangten einen Schlaganfall. Diese Diagnose muss nach definierten Kriterien erarbeitet und bestimmt werden. Aus einer Diagnose entwickelt sich dann die spezifisch einzuleitende The‐ rapie. Ausgehend von einem Phänomen, das wir beobachten, kommt es zur Analyse, also zur Verknüpfung mit dem bisherigen Wissen. Daraus entwickelt sich eine Hypothese, die einem Beweis zugeführt wird. Nach Jerome Brunner (1915-2016) lernen wir, indem wir aktiv Erfahrungen machen. Wir lernen durch eine aktive Teilhabe am Lernprozess. Das Wissen erwerben wir durch Denkprozesse, indem wir aus den uns zur Verfügung stehenden Informationen Bedeutungen ableiten. Das ist eine Form der Informationsverarbeitung. Wissen ist somit ein Prozess und kein Produkt. Dies ist Grundlage für lebenslanges Lernen. Dies gilt sowohl für ein Individuum in seinem eigenen Lernweg als auch gesellschaftlich. In der 21 1.1 Diagnostische Methoden <?page no="22"?> Humanmedizin ist eine konsequente Überprüfung des bisherigen Wissens der entscheidende Garant für den langfristigen Erfolg. Ein solcher lerntheoretischer Ansatz in der Medizin lässt sich am Beispiel einer handgelenksnahen Verletzung im historischen Kontext nachverfolgen. Praxis | Franz G. Der 25-jährige Waldarbeiter Franz G. ist auf den linken Arm gestürzt und weist als Leitsymptome Schmerz, Fehlstellung und eine eingeschränkte Funktion (Functio laesa) auf. Es besteht der hochgradige Verdacht einer handgelenksnahen Verletzung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also zur Zeit der Entwicklung der Rönt‐ genuntersuchung, ließ sich alleinig aus der zu erkennenden Verformung des Handgelenkes die mögliche Verletzungsfolge ableiten. Die Verände‐ rung der Weichteilkonfiguration war der einzige Hinweis darauf, ob es sich um einen Knochenbruch oder um eine Verrenkung, eine Luxation in diesem Bereich handelte. Es gab Kenntnisse über den anatomischen Aufbau des Handgelenkes. Den Ärzten blieb damals nichts anderes üb‐ rig, als die normale Weichteilkonfiguration durch Zug und Gegenzug wiederherzustellen, um eine normale Funktion im weiteren Verlauf wieder erwarten zu können. Mit Einführung der Röntgenuntersuchung konnte dann eine klare Ab‐ grenzung von Fraktur und Luxation getroffen werden. Die Behandlung konnte also der Verletzung entsprechend genauer durchgeführt werden und war somit mit einer erhöhten Sicherheit der Behandlung verbunden. Aus dem Wissen um die Anatomie des Skelettsystems und das Wis‐ sen um die Interpretation des Röntgenbildes haben wir eine Idee über die Verletzungsfolge: ein handgelenksnaher Bruch der oberen Extremität. Durch Vergleich mit Erfahrung und dem erbrachten Beweis wird die Hypothese geprüft. Sie wird verifiziert oder falsifiziert. In Kenntnis um Fraktur oder Gelenkluxation entwickelt sich die spezifische Therapie. Ein Knochenbruch, eine Fraktur hat andere therapeutische Konsequenzen als die Behandlung einer Verrenkung einer Luxation. Die Behandlung ist damit spezifischer und sicherer geworden. 22 1 Klinische Medizin <?page no="23"?> Evidenzbasierte Medizin Mit der Ideenwelt von Platon, nach der alles Seiende ein „Schatten“ seiner idealen Form im Reich der Ideen sei, erklärte sich Aristoteles nicht einver‐ standen. Ausgehend aus seinen Studien der Natur erlangte er die Erkenntnis, dass wir diverse Beispiel in der Welt um uns sehen. Im medizinischen Aspekt entspricht dies der Lehre von Gesundheit und Krankheit. Ferner erkennen wir gemeinsame Eigenschaften, was der Krankheitslehre und der damit verbundenen Diagnose entspricht. Unter Verwendung der Vernunft lässt sich im Bereich der Medizin die Diagnose ermitteln und die adäquate Therapie bestimmen. Nach seiner Ansicht finden wir die Wahrheiten aus Evidenzen dieser Welt. Die klassische Schulmedizin verortet sich in eine nachweisorientierte Medizin und gliedert sich so in die naturwissenschaft‐ liche Betrachtung ein. Zugleich ist die praktische Medizin von Menschen gemacht und von Menschen gedacht. Neben der rational-naturwissenschaftlichen Be‐ trachtungsweise kommen Individualität, Irrationalität, Intuition und Erfahrung hinzu. Es ist auch zu hinterfragen, ob eine alleinige natur‐ wissenschaftlich-mathematische Betrachtungsweise in der Begleitung von Menschen in Krankheit, Leiden und Tod die alleinig entscheidende Maxime darstellt. Zusammenfassung | diagnostische Methoden Der Krankheitsbegriff unterliegt einer Definition. Symptom und Ana‐ mnese erlauben eine erste Einschätzung über die zu erwartende Dia‐ gnose. Diagnostische Methoden haben einen strukturierten Ablauf, um die Arbeitshypothese zu verifizieren oder zu falsifizieren. Die apparative Diagnostik hat ihre jeweilig spezifische Aussagekraft. Aus der Diagnose entwickelt sich die spezifische Therapie. Zunahme evidenzbasierter Erkenntnis führt zu einer Verbesserung medizinischen Handelns. Verwendete und weiterführende Literatur Drescher, R.; Freesmeyer, M. (2018): Szintigraphie/ Positronenemissionstomogra‐ phie. Notwendige und sinnvolle nuklearmedizinische Diagnostik bei Weichteil‐ 23 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="24"?> tumoren. In: Trauma und Berufskrankheit 20, S. 14-19. Online: doi.org/ 10.1007/ s10039-017-0313-3. Kremers, M. (2020): Teleradiologie und Telemedizin. In: MKG-Chirurg 13, S. 248-259. Online: doi.org/ 10.1007/ s12285-020-00270-6. Mauch, F.; Drews, B. (2016): Magnetresonanz- und Computertomographie. In: Unfallchirurg 119, S. 790-802. DOI 10.1007/ s00113-016-0232-y. Ruiu, A.; Stuppner, S. (2021): Ein Zyklus ohne Ende. In: Radiologe 61, S. 291-295. Online: doi.org/ 10.1007/ s00117-020-00777-0. Schimke, I.; Griesmacher, A. et al. (2006): Patientennahe Sofortdiagnostik (Point-of-Care Testing; POCT) im Krankenhaus - Ja oder Nein. In: Intensivmed 43, S. 143-155. DOI 10.1007/ s00390-006-0666-5. Walz, M.; Wucherer, M.; Loose, R. (2019): Was bringt die neue Strahlenschutzverord‐ nung? In: Radiologe 59, S. 457-466. Online: doi.org/ 10.1007/ s00117-019-0508-7. 1.2 Akutes Abdomen Praxis | Marco L. in der Notfallambulanz Es ist Freitagabend so gegen 21: 00 Uhr. Sommerhitze verteilt sich immer noch in den Fluren. Ein Rettungswagen kommt nach dem anderen. Der Internist stöhnt. Die Röntgenröhre glüht. Die Ambulanz ist zugelaufen. Hier ein Kind, das vom Klettergerüst gefallen, dort eine alte Dame, die im Hof gestürzt ist und mit schmerzender Hüfte eingeliefert wird. Ein junger Mann schreit laut auf bei Oberbauchschmerzen und ruft nach Schmerzmitteln. Ein anderer hat sich in den Finger geschnitten und die Blutung hört nicht auf. Marco L. (28) wird mit dem Rettungswagen in die Notfallambulanz gebracht. Er beklagt seit etwa drei Stunden anhaltende, an Stärke zuneh‐ menden Schmerzen im Unterbauch. Er habe Übelkeit und auch einmal erbrochen. Die Schmerzen hätten so etwa um den Nabel begonnen und seien dann nach rechts unten gewandert. Er fühle sich krank und habe auch Fieber. In solchen Zeiten heißt es cool bleiben, Überblick bewahren und Hier‐ archien aufbauen: Wer muss zuerst drankommen und wenn ja, warum? Um die Situation von Marco L. zu verstehen, bedarf es zweier wesentlicher Kernkompetenzen. 24 1 Klinische Medizin <?page no="25"?> Im ersten Abschnitt widmen wir uns der Anatomie und Physiologie des Verdauungstraktes. Im zweiten Abschnitt werden die Aspekte des akuten Abdomens und die damit verbundenen Differentialdiagnosen betrachtet. Zwischenzeitlich verschlechtert sich der Allgemeinzustand des Patienten. Er entwickelt einen septischen Schock. Anatomie des Verdauungstraktes Der erste Abschnitt des Verdauungstraktes stellt die Mundhöhle dar. Über die Speiseröhre gelangt der Speisebrei in den Magen. In der Speiseröhre werden drei funktionell bedeutsame Engen unterschieden. Diese Engen sind nicht unerheblich, denn hier können sich größere Speisebrocken einklem‐ men. Die erste Enge befindet sich am Übergang des Rachens zur Speiseröhre, was als Schlund bezeichnet wird. In Höhe des Aortenbogens findet sich eine weitere Enge. Der obere Magenpförtner stellt die dritte Enge dar. Diese physiologischen Engen haben in der klinischen Medizin Bedeutung. Ein Speisebrocken, kann hier verhaften und zu einem Verschluss führen. Hier ist eine zeitnahe endoskopische Entfernung des Speisebrockens erforderlich, um eine Druckschädigung der Schleimhaut und eine tiefe Infektion über eine Druckläsion der Schleimhaut der Speiseröhre zu vermeiden. Der Magen hat eine Beutelform und weist eine sichelartige Krümmung auf, die mit kleiner und großer Kurvatur bezeichnet werden. Es findet sich ein oberer Schließmuskel zur Speiseröhre in Höhe des Zwerchfell und ein unterer Schließmuskel zum Zwölffingerdarm (Duodenum). Am Magen werden Fundus, Corpus und Antrum von oben nach unten unter‐ schieden. Das Duodenum macht einen C-förmigen Bogen nach rechts und nimmt die Gallensekrete aus dem Gallengang und die Bauchspei‐ cheldrüsensekrete (Pankreassekrete) aus dessen Hauptgallengang über eine seitliche Öffnung auf. Es folgt sodann der Dünndarm, der im oberen Abschnitt Jejunum und im unteren Abschnitt Ileum benannt wird, ohne dass es dabei eine anatomische Abgrenzung gibt. Dem Dünndarm folgt der Dickdarm (Colon) mit einem aufsteigenden, querverlaufenden und absteigenden Anteil, dem ein S-förmiger Abschnitt (Colon sigmoideum) folgt. Den Abschluss bildet der Mastdarm (Rektum), dem sich der After (Anus) angliedert. Ferner befinden sich die Nieren mit ihren ableitenden Harnwegen im hinteren Teil des Bauchraumes. Anatomisch gesehen, befinden sie sich 25 1.2 Akutes Abdomen <?page no="26"?> außerhalb des Bauchraumes. Die jeweiligen Harnleiter führen den Harn zur Harnblase. Hier wird der Harn gesammelt, der über die Harnröhre ausgeschieden wird. Das weibliche innere Genital wird von der Gebärmut‐ ter, den Eileitern und den Ovarien gebildet. Der Samenleiter des Mannes führt zu den Samenblasen an der Prostata und dann in die Harnröhre. Physiologie des Verdauungstrakts Die Regulation der Nahrungsaufnahme ist zentralnervös gesteuert. Im Zentralen Nervensystem findet sich ein Hunger- und Sattheitszentrum im Hypothalamus. Vereinfacht gesagt, gibt es Feedbackschleifen, die uns das Gefühl von satt und hungrig vermitteln. Die Nahrungsbestandteile sind in die Hauptbestandteile von Fetten, Proteinen und Kohlenhydraten und verschiedener anderer Baustoffe wie Spurenelemente, Mineralien, Vitamine und Ballaststoffe zu unterscheiden. Bereits in der Mundhöhle werden die Nahrungsbestandteile mechanisch zerkleinert. Sekrete der Mundhöhle und später des Magens lassen daraus eine breiig-flüssige Konsistenz entstehen. Die Nahrungspassage ist ein hochorganisierter, sich selbst regulierender Prozess, bei dem die Passagezei‐ ten nach unten zunehmen und in den oberen Abschnitten durch vermehrte Sekretion gekennzeichnet ist. In den unteren Abschnitten erfolgt die Resorption. Die Motorische Steuerung erfolgt durch das autonome Ner‐ vensystem (Sympathikus und Parasympathikus) und durch das enter‐ ische Nervensystem. Im Zusammenspiel mit den Gallesekreten und den Pankreassekreten kommt es zur weiteren Fragmentation und Zerkleinerung der Nahrung in kleinste Bestandteile, welche letztendlich durch die Zellen des Dünndarmes aufgenommen werden können. Im anschließenden Dick‐ darm (Kolon) kommt es zur Rückresorption des Wassers und Eindickung des Stuhles. Durchfallerkrankungen (Diarrhoe) oder Entzündungen können hier zu erheblichen Flüssigkeitsverlusten führen. Der Enddarm (Rektum) dient als Reservoir, um den Stuhl dann geordnet absetzen zu können. Akutes Abdomen: mehr als akute Bauchschmerzen Eine einheitliche Definition des akuten Abdomens (akuter Bauchschmerz) existiert nicht. Einerseits wird es als einen durch Zeitnot diktierten, vor‐ läufigen Begriff für einen diagnostisch ungeklärten, lebensbedrohlichen abdominellen Krankheitszustand verstanden. Ebenso schließt es auch akute, 26 1 Klinische Medizin <?page no="27"?> nichtschmerzhafte abdominelle Erkrankungen ein. Es subsumiert Bagatell‐ erkrankungen und vital bedrohliche Zustände. Akutes Abdomen beschreibt einen Symptomenkomplex mit akut auftretenden Schmerzen im Bauchbe‐ reich, der häufig mit Funktionsstörungen der Abdominalorgane und mit potenzieller Lebensgefahr einhergeht. Zusammenfassend kann ein akutes Abdomen definiert werden als ein Symptomenkomplex, der mit akuten, teils sehr heftigen Abdo‐ minalschmerz (Bauchschmerz) eine vitale Bedrohung für Patienten darstellt. Wichtig ist hierbei, dass es sich um eine lebensgefährliche Erkrankung handelt und eine unmittelbare ärztliche Behandlung, Diagnostik und Therapie erforderlich ist. Andererseits kann auch ein weiches Abdomen mit fehlenden Schmerzen einen vital bedrohlichen Zustand darstellen. Die Beurteilung einer schweren Erkrankung des Bauchraumes kann sehr tückisch sein. Hier gibt es jedoch auch interpretatorische Unterschiede: So ordnet die Notfall- und Rettungsmedizin abdominelle Beschwerden als „akutes Abdo‐ men“ ein, wenn sie plötzlich einsetzen - wie bei Marco L. aus dem Beispiel - oder dies von Patienten so berichtet wird. Die Viszeralchirurgie, also die Lehre der Bauchchirurgie ordnet das „akute Abdomen“ einem akut zu behandelndem Geschehen zu, was einer unmittelbaren Diagnostik und Therapie bei lebensbedrohender Situation bedarf. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Epidemiologische Daten zum akuten Abdomen sind schwierig zu erheben. Bereits in der Initialphase der Behandlung lässt sich die Diagnose bereits einem spezifischen Krankheitsbild zuordnen. Insofern erscheint das akute Abdomen nicht in der Kodierung. Stimmt die Aufnahmediagnose zu weiten Teilen mit der Entlassungsdiagnose überein, so verbleibt jedoch auch ein nicht unerheblicher Teil in der Ursache unklar, die wir als funktionelle Störungen bezeichnen. Das akute Abdomen geht mit einer akuten Lebensgefahr einher. Die Sterblichkeitsrate (Mortalität) ist alters‐ abhängig. Ältere Patientinnen und Patienten haben ein höheres Risiko zu versterben. Aber auch schwere Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) wie Adipositas, Diabetes mellitus, schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 27 1.2 Akutes Abdomen <?page no="28"?> Nierenfunktionsstörungen, Immunschwäche und viele andere mehr haben einen negativen Einfluss auf das Überleben. Das akute Abdomen ist - wie bei Marco L. - ein ernst zu nehmendes Krankheitsbild und muss vom Gesundheitssystem jederzeit adressiert wer‐ den können. Praxis | Marco L. in der Notfallambulanz (Fortsetzung) Mittlerweile hat sich der Zustand des Patienten Marco L. erheblich verschlechtert. Er atmet schneller, zeigt aber eine gute Oxygenierung, d. h. die eingeatmete Luft wird gut verwertet. Seine Herzfrequenz ist deutlich über der Norm und der Blutdruck wird schwächer. Zudem hat er Fieber und schwitzt deutlich. Schock Wenn Menschen im Alltag von einem bedrohlichen Ereignis betroffen sind, dann verfallen diese Menschen oft in einen Schockzustand als Aus‐ druck einer erheblich seelisch-emotionalen Belastung. Dieser psychische Schock wird als starke seelische Erschütterung verstanden, der durch ein plötzlich hereinbrechendes und belastendes Ereignis ausgelöst wird. Doch die Medizin beschreibt einen Schockzustand anders: Zusam‐ menfassend zeigt sich eine komplexe Einschränkung wesentlicher und das Lebenssystem erhaltender Organstrukturen, die eine Gefährdung für den Organismus darstellen. Das betrifft unterschiedliche Organsysteme und es unterliegt unterschiedli‐ chen Erkrankungsgründen. Volumenmangel durch schwere Blutungen füh‐ ren zu einem Schock. Verbrennungen und Durchfallerkrankungen führen zu einem hohen Wasser- und Elektrolytverlust. Eine Unterzuckerung, ein plötzliches Herzversagen, schwere allergische Reaktionen können zu einem plötzlichen Kreislaufzusammenbruch und zu einer Bewusstseinsstörung führen. Der Schock im Rahmen entzündlicher Erkrankungen, die durch Krankheitserreger gekennzeichnet sind, wird hierbei als ein septischer Schock bezeichnet. 28 1 Klinische Medizin <?page no="29"?> Zur Beurteilung des Schweregrades dieses Schockzustandes, bei dem es zu einer Überschwemmung des Körpers mit Bakteriengiften kommt, sowie bei allen anderen Schockzuständen steht ein sog. Sequential Organ Failure Assessement Score (SOFA-Score) zur Verfügung. Dieser Score erlaubt es, den Schweregrad eines Schockgeschehens zu bestimmen. Der sogenannte Quick-SOFA-Score erlaubt die Ersteinschätzung nach rein klinischen Kriterien. Hierzu zählen die Erhöhung der Atemfrequenz, der Wachheitsgrad und der Abfall des systolischen Blutdruckes (→ Abb. 4) Der abschließende Sequential Organ Failure Assessment Score adressiert die wei‐ teren Systeme Atmung, Gerinnung, Leberfunktion, Herz-Kreislauf-System, Zentrales Nervensystem und Nierenfunktion (→ Abb. 5). Die Sensitivität des Quick-SOFA-Scores ist unzweifelhaft gering. Es wäre auch zu vermessen, wenn das komplexe Krankheitsbild sich alleinig auf drei Leitsymptome, nämlich auf die des Wachheitsgrads, des Blutdrucks und der Atemfunktion reduzieren lassen. Er ist eher als eine Art Ampel zu verstehen, als Warnsignal für ein bedrohliches Krankheitsbild, was dazu auffordert, hier nochmals ganz genau hinzuschauen und weitere Diagnostik einzuleiten. In der Praxis macht es also Sinn bei dem Vorliegen eines Punktes des Quick-SOFA-Scores auf eine Sepsis mit weiteren Untersuchungen zu screenen. Hypotension systolischer Blutdruck < 100 mmHg Der Quick-SOFA-Score veränderte Bewusstseinslage GCS < 15 Tachypnoe Atmung > 22 / min Abb. 4: Der Quick-SOFA-Score erlaubt eine Zuordnung der Gefährdung auf einen Schock noch in der Notfallambulanz bzw. beim Erstkontakt nach allein klinischen Kriterien wie Blutdruck, Bewusstseinslage und Atemfrequenz. Sind zwei und mehr Kriterien erfüllt, ist zunächst von einem Schockgeschehen auszugehen (modifiziert nach Singer et al. (2016)). 29 1.2 Akutes Abdomen <?page no="30"?> 0 1 2 3 4 ZNS Glasgow Coma Scale 15 13-14 10-12 6-9 < 6 Herz- Kreislauf MAP (mmHg)/ Katecho‐ lamine (µg/ kg/ min) > 70 < 70 Dopamin oder Du‐ butamin (< 5) Dopamin (5-15) oder Adrena‐ lin (< 0,1) oder Nor‐ adrenalin (< 0,1) Dopamin (> 15) oder Adrena‐ lin (> 0,1) oder Nor‐ adrenalin (> 0,1) Lunge paO 2 / FiO 2 > 400 < 400 < 300 < 200 < 100 Leber Bilirubin (mg/ dl) < 1,2 1,2-1,9 2,0-5,9 6,0-11,9 > 12 Gerin‐ nung Throm‐ bozyten (/ µl) > 150.000 < 150.000 < 100.000 < 50.000 < 20.000 Niere Kreatinin (mg/ dl) < 1,2 1,2-1,9 2,0-3,4 3,5-4,9 > 5 Abb. 5: Der SOFA-Score adressiert die unterschiedlichen Systeme, die im Schockgesche‐ hen besondere Bedeutung haben (modifiziert nach Singer et al. (2016)). Sepsis Die Medizin fragt bei entzündlichen Erkrankungen nach den Sepsiskriterien. Sepsis bedeutet dabei, die Entwicklung eines lebensbedrohlichen Zustandes, wenn die körpereigene Abwehrreaktion die eigenen Ge‐ webe und Organe schädigen. Das ist die schwerste Komplikation von Infektionserkrankungen, die durch Bakterien, Viren, Pilzen oder auch Parasiten ausgelöst werden können. Sepsis kann jeden Menschen treffen. Aber: Bestimmte Personengruppen haben diesbezüglich ein höheres Risiko. Hierzu zählen Kinder unter einem Lebensjahr aber auch Erwachsene über 60 Jahre sowie Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise der Leber, der Lunge oder des Herzens. Ebenso zählen hierzu Menschen mit einem ge‐ 30 1 Klinische Medizin <?page no="31"?> schwächtem Immunsystem und metabolischen Erkrankungen. Eine seltene, jedoch bedeutsame Gruppe stellen Patienten dar, denen im Laufe des Lebens die Milz entfernt werden musste. Infektionen können an unterschiedlichen Orten des Organismus entste‐ hen und sich von diesen ausweiten, was sich dann zum Vollbild einer Sepsis entwickelt. Zu den häufigsten Ursachen zählen die Lungenentzündung so‐ wie die Harnwegsinfektionen. Ursache für Haut- und Weichteilinfektionen sind die phlegmonösen Entzündungen, wie sie nach Verletzungen entste‐ hen können oder durch chronische Geschwüre der Beine und Abszesse. Risikofaktoren hierzu sind ein Diabetes mellitus, Adipositas sowie schwere Allgemeinerkrankungen. Aktuelle Daten weisen darauf hin, dass Sepsis eine der häufigsten Todes‐ ursache neben Schlaganfall und Herzinfarkt ist. Neben der Akutsterblich‐ keit der Sepsis kommt eine relevante Langzeitsterblichkeit hinzu. Hierzu werden eine anhaltende Immunsuppression und eine sich entwickelnde Aterosklerose mit Gefäßverengungen insbesondere am Herzen verantwort‐ lich gemacht. Sepsisinzidenz als auch Sepsissterblichkeit werden durch das Vorliegen chronischer Erkrankungen, durch die Häufigkeit invasiver Maßnahmen, die Gabe immunsupprimierender Medikamente und durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst. Sämtliche Infenen einer Ursache im Bauchraum extrem schwierig sein. Dies isktionen des Bauchraumes können - insbesondere dann, wenn sie unbehandelt sind - in eine schwere Sepsis führen. Zuweilen kann das Erkennen abhängig vom Alter, den Begleiterkrankungen aber auch der Situation sein. Die Unwissenheit um die eigene Zukunft stellt für die Patientinnen und Patienten einen erheblichen, zusätzlichen Stressfaktor dar. Marco L. erlebt erhebliche, teils vernichtende Schmerzen. In diesem Moment ist nicht klar, um welche Erkrankung es sich handelt und wie sie erfolgreich zu behandeln ist. Zeitweilig entwickeln Patienten in diesem Zusammenhang Ängste aber auch Misstrauen gegenüber der Pflege oder dem ärztlichen Personal. Zudem haben sie auch Angst vor der Diagnose. Die größte emotionale Katastrophe ist es, eine unheilbare Krebserkrankung erlitten zu haben. Zu Beginn des Geschehens verbleibt es ungewiss. Praxis | Marco L. in der Notfallambulanz (Fortsetzung) Marco L. zeigt die Zeichen eines möglichen septischen Schocks. In der zentralen Notaufnahme liegt er auf einer Liege. Die Beine sind leicht ge‐ 31 1.2 Akutes Abdomen <?page no="32"?> beugt, was den Schmerz im Bauchraum etwas lindert. Durch eine Rolle unter den Kniekehlen erfährt wer eine weitere Unterstützung. Marco L. erhält eine Infusion zum Flüssigkeitsausgleich. Durch die Infusion lassen sich Schmerzmittel und Antibiotika intravenös verabreichen. Jederzeit steht Marco L. unter Beobachtung der Pflege und der sie betreuenden Ärztin. Ein angeschlossener Monitor überwacht, Puls, Atmung Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Zur Vermeidung eines Sauerstoffdefizites ist eventuell die Gabe von Sauerstoff erforderlich, aber nur dann, wenn sich ein Sauerstoffdefizit auch klinisch zeigt. Bei Neigung zu Erbrechen und dem Bild eines Darmverschlusses kann eine Magensonde erforderlich sein, um die Magenfüllung zu entlasten. Anamnese, Diagnose und Therapie Die Antibiotikatherapie wird sehr frühzeitig und auch großzügig ein‐ gesetzt und gehört beim schweren Sepsisbild zu einer der ersten und unmittelbarsten Therapiemaßnahmen. Insbesondere auch die Flüssigkeits‐ substitution. Eine adäquate Analgesie ist zwingend erforderlich. Zur Diagnostik stehen Methoden zur Verfügung: Erste Maßnahme ist eine soweit als möglich ausführliche Anamnese zu den jetzigen Begeben‐ heiten und dem Befinden. Unter Berücksichtigung der Eigenanamnese zu den Vorerkrankungen lässt sich die Verdachtsdiagnose erarbeiten und weiter fokussieren. Die ärztlich klinische Untersuchung intensiviert die‐ sen Prozess der Krankheitsbestimmung, da sich auch durch spezifische Untersuchungstechniken und deren Ergebnisse Diagnosen erheben lassen. Die Labordiagnostik ist umfassend und spezifisch unter der jeweiligen Fragestellung auszurichten. Die Ultraschalluntersuchung, die konven‐ tionelle Röntgendiagnostik, Computertomographie und Magnet-Re‐ sonanz-Tomographie stellen bildgebende Untersuchungsmethoden dar. Endoskopie und insbesondere die Laparoskopie sind invasiv und unter‐ liegen einer strengen Indikation. 32 1 Klinische Medizin <?page no="33"?> Ursachen für ein akutes Abdomen Grundlegende Ursachen für ein akutes Abdomen lassen sich in mechanische Ursachen, Entzündungen, Durchblutungsstörungen oder als Folge von Tu‐ morveränderungen differenzieren. Neben diesen sehr häufigen Ursachen existieren teils sehr seltene Erkrankungen, die ursächlich für einen akuten Bauchschmerz sein können. Topografisch-anatomisch lassen sich durch Lokalisation des Schmerzes bereits Zuordnungen zu Organsystemen treffen. Zu den häufigsten Erkran‐ kungen zählen die Wurmfortsatzentzündung (Appendizitis acuta), die akute Gallenblasenentzündung (akute Cholezystitis), die Entzündung des Dick‐ darmes in seinem S-förmigen Anteil (Sigmadivertikulitis), der eingeklemmte Leistenbruch, der Darmverschluss (mechanische Ileus), das perforierte Magenulkus und die Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis). Alle Krankheitsbilder können in eine lokalisierte als auch in eine generalisierte Peritonitis und zum Vollbild des septischen Schocks führen. Die Wurmfortsatzentzündung (Appendizitis acuta) zählt zu den poe‐ tisch besonders beachteten Erkrankungen und es existieren viele literarische Erzählungen und auch anekdotenhafte Beschreibungen. Typisch ist der Schmerz im rechten Unterbauch, der gerne um den Bauchnabel beginnt und dann erst in diese Region wandert. Der Beginn des Schmerzes kann recht gut einer Tageszeit zugeordnet werden, wie etwa am frühen Nachmittag oder am späten Abend. Er ist auch wechselnder Intensität. Typisch findet sich auch eine begleitende Übelkeit und ein Erbrechen. Das Fieber kann relativ leicht oder auch deutlich sein. Es zeigt sich oft eine Temperaturdifferenz von einem Grad in der rektalen Messung im Vergleich zur axillären Messung, was im klinischen Alltag jedoch weniger Bedeutung hat. Laborchemisch zeigen sich erhöhte Entzündungszeichen. Die Sonographie zeigt ergänzend ggf. freie Flüssigkeit oder eine pathologische Kokarde, einer Wandveränderung des Darmes in dem betroffenen Abschnitt. Durch die anatomische Nähe zum inneren weiblichen Organ ist die ergänzende fachärztlich gynäkologische Beurteilung ggf. erforderlich. Bei Vorliegen einer Appendizitis acuta ist die laparoskopische Entfernung die Therapie der Wahl. Die akute Gallenblasenentzündung (akute Cholezystitis) ist hingegen typischerweise durch einen Schmerz im rechten Oberbauch gekennzeichnet, aber auch hier mit begleitender Übelkeit und Erbrechen. In der Anamnese wird gerne über eine seit langer Zeit bestehende Neigung zu Völlegefühl berichtet. Hauptkennzeichen ist der Nachweis von Gallensteinen in der 33 1.2 Akutes Abdomen <?page no="34"?> Ultraschalluntersuchung mit Wandverdickung als Zeichen der Entzündung. Auch hier zeigen sich laborchemisch erhöhte Entzündungszeichen. Golden Standard ist die laparoskopische Entfernung der Gallenblase. Bei der Entzündung des Dickdarmes in seinem S-förmigen Anteil (Sigmadivertikulitis) ist der Schmerz im linken Unterbauch gelegen. Sie wird gerne unter den Laien als Ausstülpungskrankheit des Darmes beschrieben. Die pathophysiologischen Ursachen sind komplex und sie zählt im weites‐ ten Sinne als eine degenerative Erkrankung, wenngleich auch genetische Ursachen mit zu beschreiben sind. Finden wir die Divertikulose (als eine Art Vorstufe einer Divertikulitis) im kaukasischen Raum eher im Sigmabereich, so findet sich diese im asiatischen Raum eher am aufsteigenden Schenkel des Dickdarmes. Tückisch ist eine einhergehende Blutung im Darmtrakt mit Entlastung eines blutigen Stuhles, der auch hämodynamisch bedeutsam sein kann. Dennoch ist die akute Divertikulitis in ihrem Frühstadium eine Domäne der konservativen Therapie. Der Leistenbruch zählt ebenso zu den klassischen und auch sehr alten chirurgischen Erkrankungen, um die sich viele Erzählungen und Geschichten ranken. Dabei ist der Leistenkanal recht komplex aufgebaut. Die Leitungsbahnen des Hodens werden insgesamt als Samenstranggebilde benannt und ziehen vom Hoden kommend schräg durch die vordere Bauch‐ wand. Dieses schräge, rohrartige Gebilde stellt eine Prädilektionsstelle für eine Art Ausbeulung der Bauchwand dar. Ist die Vorwölbung groß genug, so können auch ganze Darmschlingen in diesen Bruchsack gelangen und sich verklemmen. Ist dies eingetreten, kommt es zu einem Darmverschluss, einer Aufhebung der Passage des Darminhaltes. Das geht mit lokalisiertem Schmerz und Erbrechen, einer prallelastischen Resistenz in der jeweiligen Leiste und damit dem Bild eines akuten Abdomens einher. Diese Patienten bedürfen in dieser Situation einer unmittelbaren operativen Versorgung zu jeder Tages- und auch Nachtzeit. Sind es beim Mann die Samenstrang‐ gebilde, die als Leitschiene der Vorwölbung dienen, so ist es bei der Frau das jeweilige Mutterband, was zu den großen Schamlippen führt. Es ist deutlich schwächer und schmaler ausgebildet. Die Erkrankung tritt häufiger bei Männern als bei Frauen auf. Der akute Darmverschluss wird als Ileus bezeichnet. Dieser Verschluss kann mechanischer Ursache sein und kann auch im Bauchraum selbst durch Entzündungen, Tumore oder Verwachsungen entstehen. Bei Übelkeit und Erbrechen zeigt sich ein weit aufgeblähter Bauch. Das Labor kann unauffäl‐ lig sein und somit Normalwerte aufzeigen. Es kann aber auch erhebliche, 34 1 Klinische Medizin <?page no="35"?> sog. pathologische, krankhafte Veränderungen aufweisen. Wegweisend ist eine Röntgenuntersuchung des Bauchraumes, in dem sog. Spiegelbildungen zu erkennen sind. Hier zeigen sich die Darmschlingen deutlich erweitert und mit erheblich viel Luft ausgefüllt, während sich die Flüssigkeiten absenken und wie in einem Glas einen Flüssigkeitsspiegel bilden. Mit einer CT-Unter‐ suchung lässt sich die Ursache häufig bestimmen und dementsprechend adressieren. Sie ist die wegweisende Untersuchungsmethode geworden. Hauptursache sind Narbenbildungen durch vorausgegangene Bauchopera‐ tionen oder auch stattgehabte Entzündungen. Eine häufig anzutreffende Ursache ist eine Verwringung des Dünndarmes (Volvolus). Ein Darmver‐ schluss, eine Obturation des Darmes kann aber auch durch eine Koprostase, einer erheblichen Stuhlfüllung und Verstopfung entstehen. Diese ist in der Regel konservativ und damit ohne Operation zu behandeln. Große bösartige Tumoren können ebenso zu einem Verschluss des Darmrohres führen, was jedoch in den vergangenen Jahren immer seltener zu beobachten ist. Das perforierte Magenulcus ist gekennzeichnet durch einen erheb‐ lichen, teils vernichtend wirkenden Oberbauchschmerz und mit einer lokalisierten oder auch generalisierten Peritonitis (Bauchfellentzündung) vergesellschaftet. Dieses Geschwür hat eine Weite von bis zu einem Zenti‐ meter aber auch mehr. Dabei entleert sich der saure Magensaftinhalt in die Bauchhöhle und führt zu einer deutlichen Entzündung des Bauchfelles, der Peritonitis. Der Bauch tastet sich durch die Abwehrspannung der Muskulatur bretthart. Mit dem Nachweis freier Luft ist die Diagnose nahezu gesichert. Die Akuttherapie besteht in einer Darstellung der Eröffnung, welche sodann nach Exzision der Perforationsstelle vernäht und verschlos‐ sen wird. Ebenso ist eine Teilresektion des Magens eine mögliche Option. Eine feingewebliche Untersuchung von Proben ist erforderlich, um die Frage einer bösartigen Erkrankung zu klären. Die Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) zählt zu einem teils gut zu beherrschendem Krankheitsbild, was sich wiederum schlagartig in ein hoch gefährliches Krankheitsbild entwickeln kann. Durch eine Ver‐ legung der Ausführungsgänge der Bauchspeicheldrüse in den Dünndarm kommt es zur Ansammlung der fettlösenden Fermente der Lipase und dann zu einer Selbstandauung der Bauchspeicheldrüse. Neben der Sonographie ist die CT-Untersuchung wegweisend. Es ist eine Domäne der konservativen Therapie geworden. Nur in spezifischen Situationen ist die operative The‐ rapie erforderlich. 35 1.2 Akutes Abdomen <?page no="36"?> Gerne und oft findet sich eine lokale Peritonitis, also eine Entzündung des Bauchfells sowie laborchemisch erhöhte Entzündungszeichen. Der Begriff der lokalen Peritonitis beschreibt eine Schmerzhaftigkeit der Bauchwand in dieser Region, die durch leichtes Klopfen auf die Bauchdecke nochmals erheblich verstärkt werden kann. Dies ist Ausdruck für ein fortgeschrittenes entzündliches Geschehen. Das innere Bauchfell ist angefüllt von Schmerzre‐ zeptoren. Daher ist dies ein Zeichen einer fortgeschrittenen entzündlichen Er‐ krankung im Bauchraum. Es handelt sich um eine generalisierte Peritonitis, wenn dieser Schmerz und die damit verbundene Entzündung den gesamten Bauchraum erfasst. Hier ist eine topgraphische Zuordnung der Ursache in der klinischen Untersuchung nicht mehr möglich. Die CT-Untersuchung ist richtungsweisend und hilft in der Zuordnung der Schwere der Erkrankung und der Einschätzung der damit verbundenen Gefahren. Bedeutung des Krankheitsbildes Beim akuten Abdomen handelt es sich um ein Krankheitsbild, was einer zeitnahen, unmittelbaren Beurteilung bedarf. Die Diagnostik orientiert sich an Algorithmen und erlaubt eine zügige Entscheidungsfindung. Oftmals ist eine sehr schwierige Ausgangssituation zu beobachten, so dass zügiges Handeln in Diagnostik und Therapie gefordert ist. Teils stellt sich aber auch die abschließende Diagnose erst intraoperativ, also erst während einer Operation, heraus. Beim akuten Abdomen handelt es sich um ein Krankheitsbild, was mit einer hohen Morbidität und Mortalität einhergeht. Das Gesundheitssystem hat einer solchen Erkrankungssituation jederzeit zu begegnen. Die personellen, apparativen und strukturellen Möglichkeiten müssen seitens der an der Notfallversorgung beteiligten Klinken jederzeit entsprechend ihrer spezifischen Versorgungsstufe gewährleistet sein, um diesen lebensbedrohlichen Erkrankungen begegnen zu können. Praxis | Marco L. in der Notfallambulanz (Fortsetzung) Marco L. hatte bisher keinerlei Vorerkrankungen. Er nahm keine regel‐ mäßigen Medikamente. Laborchemisch zeigten sich erheblich erhöhte Entzündungszeichen. Der Druckschmerz fand sich im rechten Unter‐ bauch. In der Ultraschalluntersuchung war eine Wandverdickung im ileocoekalen Bereich und reichlich freie Flüssigkeit zu erkennen. 36 1 Klinische Medizin <?page no="37"?> Intraoperativ zeigte sich in der Laparoskopie ein erheblich entzündlich veränderter Wurmfortsatz (Appendizitis) mit Eiteransammlung und einer hochgradigen Bauchfellentzündung. Nach Entfernung des Wurm‐ fortsatzes erfolgte eine dreitägige antibiotische intravenöse Therapie und Marco L. konnte am vierten postoperativen Tag entlassen werden. Zusammenfassung | akutes Abdomen Die Nahrungspassage ist ein anatomisch und funktionell hochorgan‐ sierter, sich selbst regulierender Prozess. Das akute Abdomen kann als ein Symptomenkomplex mit teils sehr heftigem Abdominalschmerz interpretiert werden, der eine vitale Bedrohung für die Patientinnen und Patienten darstellt. Der septische Schock und die Sepsis stellen eine gefährliche Komplikation dar. Es gibt häufige Ursachen für ein akutes Abdomen. Die Erkrankungen haben Bedeutung für die akutme‐ dizinische Versorgung der Bevölkerung. Verwendete und weiterführende Literatur Fleischmann-Struzek, C.; Rose, N., Reinhard, K. (2021): Sepisassoziierte Todesfälle in Deutschland: Charakteristika und regionale Variation. In: Bundesgesundheits‐ blatt. Online: doi.org/ 10.1007/ s00103-021-03427-5. Graeb, C.; Reiser, M.; Jauch, J. W.; Graser, A. (2010): Akutes Abdomen - Klinische Begriffsbestimmung und Anforderungen an die Bildgebung. In: Radiologe 50, S. 209-213. DOI 10.1007/ s00117-009-1900-5. Gschossmann, J. M.; Holtmann, G.; Mayer, E. A. (2002): Epidemiologie und klinische Phänomenologie viszeraler Schmerzen. In: Schmerz 16, S. 447-451. DOI 10.1007/ s00482-002-0188-4. Mössner, J. (2005): Akutes Abdomen. In: Internist 46, S. 974-981. DOI 10.1007/ s00108-005-1455-0. Ochsenkühn, T.; Göke, B. (2002): Pathogenese und Epidemiologie der Sigmadiverti‐ kulose. In: Chirurg 73, S. 665-669. DOI 10.1007/ s00104-002-0495-4. Schildberg, C. W.; Skibbe, J. et. al. (2010): Rationelle Diagnostik des „akuten Abdo‐ mens“. In: Chirurg 81, S. 1013-1019. DOI 10.1007/ s00104-010-1938-y. 37 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="38"?> Singer, M.; Deutschman C. S. et al (2016): The third international consensus definitions for Sepsis and septic shock. In: JAMA (2016); 315 (8): S. 801-810. DOI: 10.1001/ jama.2016.0287. Reng, C. M.; Grüne, S. (2010): Akutes Abdomen. In: Intensivmed. 47, S. 225-234. DOI 10.1007/ s00390-009-0160-y. 1.3 Gallenblasensteinleiden Praxis | Sylke S. in der Notfallambulanz Es ist Sonntag und der Bereitschaftsdienst verläuft ruhig. Die Ambu‐ lanz ist weitgehend leer. Ein Kind hat sich am Klettergerüst verletzt und Schmerzen am rechten Arm. In Kabine 3 liegt eine Patientin mit Schmerzen an ihrem chronischen Beingeschwür. In Zimmer 4 liegt eine ältere Dame, die im Pflegeheim auf die rechte Hüfte gestürzt ist. Sylke S. (39) kommt an einem Sonntagnachmittag mit Schmerzen im rechten Oberbauch in die Ambulanz. Sie beklagt ständiges Erbrechen seit dem Vortag. Seit dieser Zeit sei ihr Stuhl hell. Ferner jucken ihre Handinnenflächen. Der Urin sei dunkel geworden und sähe aus wie Cognac, aber das sei sicher, weil sie eh nicht so viel trinke. Richtig krank sei sie nie gewesen, sie habe sich mal die Außenbänder verletzt, habe drei Kinder und arbeite an der Fischtheke als Verkäuferin. Die hinzugerufene Ärztin untersucht die Patientin und erhebt folgenden Befund: Haut und Schleimhäute sind gut durchblutet, jedoch zeigen sich leicht gelbe Skleren (Augenweiß). Der Herz-Lungen-Befund ist re‐ gelrecht. Das Abdomen ist weich zu tasten, keine tastbaren Resistenzen, jedoch Druckschmerz im rechten Oberbauch. Ansonsten zeigt sich ein unauffälliger Untersuchungsbefund. Im Unterschied zum akuten Abdomen sprechen wir hier eher von einem sog. unklaren Abdomen. Zudem ist die Patientin kreislaufstabil, wach und ansprechbar und hat keine Atemnot. Unabhängig davon bedarf es aber auch hier einer zügigen Diagnostik und Therapie, um den Krankheitsverlauf aufhalten zu können. Klinik und Anamnese sprechen am ehesten für das Vorliegen einer Erkrankung der Gallenblase. Hierzu gilt es, zunächst zu verstehen, welche Funktionen die Leber hat und wie das Gallensystem anatomisch und funktionell aufgebaut ist. 38 1 Klinische Medizin <?page no="39"?> Die Leber und das Gallengangsystem Die Leber ist das zentrale Organ des Stoffwechsels. Ihr werden im Zusam‐ menspiel mit der Bauchspeicheldrüse dem Zwölffingerdarm (Duodenum) und dem Gallengangsystem verschiedene wichtige Funktionen zugeordnet. In der Regel hat sie ein Gewicht ca. 1.800 Gramm und liegt im rechten Oberbauch unterhalb des Zwerchfells. Klassischerweise wird die Leber als ein Ort der Entgiftung des Blutes interpretiert, währenddessen die Niere eine wichtige Filteranlage darstellt. Hinsichtlich des Fettstoffwechsels vermag die Leber Fett in Zucker umzuwandeln, hat zudem eine wichtige Funktion in der Verarbeitung und Speicherung von Fett. Ebenso ist sie an der Bildung von Bluteiweißen beteiligt. Die biochemischen Vorgänge dieses sog. enterohepatischem Kreislaufes sind komplex. Zusammenfassend übt sie dabei eine wichtige Funktion bei der Bildung roter Blutkörperchen aus; eine wichtige Aufgabe im Blutstoffwechsel und in der Blutbildung. Der Cholesterinhaushalt wird wesentlich durch die Leber beeinflusst. Ferner stellt die Leber einen wichtigen Eisen- und Vitaminspeicher dar und sie bildet Gallenflüssigkeit. In der Leber werden Gallesekrete entwickelt, die in einem gesonderten Gangsystem zum Verdauungstrakt abgeleitet werden. Die Gallengänge der Leber vereinigen sich zum Hauptgallengang. Die Gallenblase als Reser‐ voir für Sekrete ist seitlich angeschlossen und führt mit seinem Gallenbla‐ sengang (Ductus cysticus) zum gemeinsamen Hauptgallengang (Ductus choledochus) in das Duodenum. Seitlich tritt der Pankreasgang (Ductus wirsungianus) hinzu. Gallensekrete sind zur Fettverdauung erforderlich (→ Abb. 6). Es wird mit den hinzugefügten Gallensekreten eine Fettsuspension entwickelt. Kleinste Fett-Tröpfchen, sog. Mizellen, können dann von den Dünndarmzellen aufgenommen werden. Wichtige Nahrungsfette gelangen in den Organismus. Das Gallenblassteinleiden Beim Gallenblasensteinleiden (Cholelithiasis) kommt es zu Konkre‐ mentbildungen in Gallenblase oder Gallenwege. Zumeist sind es Cholesterinsteine. Es sind auch Bilirubinsteine oder gemischte Steine zu beschreiben. Übersteigt die Konzentration der nicht wasserlöslichen Gallenbestandteile das Löslichkeitsprodukt, kommt es zur Kristallisation. Eine ähnliche Entstehungsweise entspricht der Kristallisation von Salzen 39 1.3 Gallenblasensteinleiden <?page no="40"?> Gallenblase Grube Körper Hals Leber Gallenblasengang Gallengang Darm Ductus choledochus Abb. 6: Anatomie der Gallenblase (mod. nach © andegro4ka, iStock). in gesättigten Lösungen. Mit der Verdunstung der Flüssigkeit kommt es zur Ausbildung eines Salzkristalles an einem Kristallisationspunkt. Bei der Entwicklung von Gallensteinen kommt es nicht zur Verdunstung der Flüssigkeit. Insbesondere entzündliche Veränderungen der Gallenblasen‐ wand führen zur Änderung des sauren oder basischen Charakters des Gallensekretes und damit zur Änderung des Löslichkeitsproduktes, was zur Kristallisation der Gallensalze führt. Ein relativ hoher Anteil an Cholesterin bzw. der verminderte Anteil an Gallensäuren führen dazu, dass die Galle mit Cholesterin übersättigt ist und es zur Kristallisation kommt. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Etwa 10-30 % der Bevölkerung sind Gallensteinträger. Etwa 30-40 % der Patienten entwickeln symptomatische bzw. komplizierende Verläufe. Pro Jahr kommt es zu 228.000 stationären Behandlungen bei ca. 175.000 40 1 Klinische Medizin <?page no="41"?> Operationen. Risikofaktoren liegen u. a. im weiblichen Geschlecht, in Adipositas, im raschen Gewichtsverlust (mehr als 1,5 kg/ Woche) sowie in einem starken Wechsel des Gewichtes nach oben und nach unten (sogenanntes Weight Cycling) im Rahmen diätetischer Maßnahmen, Diabetes mellitus oder HDL-Cholesterinämie (Wittenburg 2018) Klinisches Erscheinungsbild Typisches Symptom ist die Gallenkolik. Diese Gallenkoliken werden von den Patienten als extrem schmerzhaft, unangenehm und auch als teils vernichtend empfunden. Viele beschreiben es als einen Zustand von Schmerzen, die sie nie wieder in ihrem Leben erleben möchten. Kommt es zur begleitenden Entzündung, können Fieber und laborchemisch erhöhte Entzündungszeichen auftreten. Manchmal zeigen sich begleitende vegeta‐ tive Symptome wie Schweißausbruch, Übelkeit, Kreislaufdysregulation. Die Variation und auch der Schweregrad des Erlebens und des dann intraopera‐ tiv zu beschreibenden Befundes ist enorm und für alle Überraschungen gut. Apparative Diagnostik Laborchemische Analysen weisen auf eine akute Entzündung und auch auf einen möglichen Gallensekretstau hin. Bei einer fortgeschrittenen Ent‐ zündung zeigen sich auch laborchemische Veränderungen im Stoffwechsel der Leber. Hierzu stehen verschiedene laborchemische Parameter zur Ver‐ fügung, die bei der Interpretation helfen. Wichtig sind hier das Bilirubin im Serum, was durch den Sekretstau der Gallenwege verursacht wird. Eine Erhöhung der Lipase weist auf eine Abflussbehinderung der Bauch‐ speicheldrüsensekrete hin. Die Ultraschalluntersuchung (Sonographie des Abdomens) ist rich‐ tungsweisend. Sie ist die empfindlichste und schnellste Methode zum Nach‐ weis von Gallensteinen. Hiermit können Form- und Wandveränderungen als auch Größe der Gallenblase beurteilt werden. Ebenso sind Konkremente möglicherweise auch im Gallengangsystem zu erkennen. Auch die Weite des Gallengangsystems weist auf einen möglichen Gallensekretstau hin. Während zu früherer Zeit zu jeder Gallanblasentfernung die Magenspie‐ gelung zwingend erforderlich war, so ist dies heute nicht mehr üblich. 41 1.3 Gallenblasensteinleiden <?page no="42"?> In den 1980iger- und 1990iger-Jahren zeigte sich, dass die routinemäßige Magenspiegelung keinen entscheidenden Beitrag leistet. Allerdings sind differentialdiagnostisch vornehmlich das Magenulkus oder auch das Ma‐ genkarzinom zu erwägen. Derzeit werden jedoch zur präoperativen Magen‐ spiegelung klinisch relevante Untersuchungsergebnisse und entsprechende Beschwerden eingefordert, die auf eine Magenerkrankung hinweisen, um eine Magenspiegelung zu rechtfertigen. In der Summe übersteigen bei rou‐ tinemäßiger Anwendung einer präoperativen Magenspiegelung die Risiken der Untersuchung deren Nutzen. Ausnahmen gibt es und sie können teils auch erheblich sein. Somit sind die Patienten mit einem Gallensteinleiden gerade in der Akutphase sehr differenziert zu betrachten. Vereinzelt und begründet ist dann eine Magenspiegelung voranzustellen. Für weitere, gezielte Untersuchungen und in besonderen Fragestellungen können die Computertomographie und Magnetresonanztomographie einen wichtigen Beitrag leisten. Akute Gallenblasenentzündung Klassischerweise sind bei der akuten Galleblasenerkrankung mit deutlichem und nachhaltigem Druckschmerz im rechten Oberbauch die laborchemi‐ schen Entzündungszeichen erhöht. Bei einem sogenannten Verschlusssyn‐ drom sind auch die Werte für Bilirubin und - möglicherweise - die der Lipase erhöht. Die Erhöhung der Lipase zeigt, dass auch der Ausführungs‐ gang der Bauchspeicheldrüse verlegt ist, sich hier auch ein Sekretstau bildet. In der Ultraschalluntersuchung lassen sich dann Gallensteine in der Gallenblase (Cholezystolithiasis) oder in den Gallenwegen (Choledocholi‐ thiasis) nachweisen. Die Konkremente können an verschiedenen Stellen des gesamten Gallengangsystems zu liegen kommen und teils auch an all diesen Stellen. Sie liegen in der Gallenblase frei oder an ihrem Ausgang zum Gallenblasengang. Sie können auch in den tief verzweigten Gängen der Leber, im Hauptgallengang und auch kurz vor der Öffnung zum Zwölf‐ fingerdarm (Duodenum) zu liegen kommen. Letzteres hat Bedeutung, weil dies auch zu einem Stau der Bauchspeicheldrüsengänge führen kann. Es kann also eine begleitende Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis) entstehen. 42 1 Klinische Medizin <?page no="43"?> Praxis | Sylke S. in der Notfallambulanz (Fortsetzung) Die Untersuchungsergebnisse zeigen bei Sylke S. eine Erhöhung der laborchemischen Entzündungszeichen. Ebenso sind die Werte für Bili‐ rubin erhöht. Die weiteren Werte für die Leberfunktion sind im Normbe‐ reich. In der Ultraschalluntersuchung zeigen sich mehrere Konkremente in der Gallenblase und eine Erweiterung des Gallenganges. Die Ärztin verordnet ihr Infusionen und Antibiotika, die über die Vene verabreicht werden. Therapeutisch stehen neben einer symptomatischen Therapie, bei einer (bakteriellen) Infektion die Antibiotikatherapie zur Verfügung. Bei der Gallenblasenentzündung ist die operative Therapie frühzeitig anzustreben. Therapie Die therapeutischen Verfahren orientieren sich an den Symptomen, die zu beobachten sind und entsprechen einem Stufenschema (→ Abb. 7). Finden sich im Rahmen anderer Untersuchungen Gallensteine in der Gallenblase, ohne dass diese eine Symptomatik hervorrufen, so wird von stummen Gallensteinen gesprochen. Hier ist eine Behandlung nicht zwingend indiziert, es sei denn es findet sich eine Wucherung in der Gallenblase, ein Gallenblasenpolyp von mehr als 10 mm Größe. Auch beim Vorliegen einer sog. Porzellangallenblase, bei der die Gallenblasenwand verdickt und verhärtet ist, ist eine operative Entfernung anzustreben. Beide Veränderungen stellen eine Präkanzerose, eine Vorstufe einer Krebserkran‐ kung dar. Bei der Gallenkolik, also sich entwickelnden Schmerzen ohne Zeichen ei‐ ner begleitenden Entzündung erfolgt eine spasmolytische (krampflösende) und analgetische (schmerzlindernde) Therapie und die Verabreichung fett‐ armer Kost, denn fettreiche Speisen führen zu einer Gallenblasenkontrak‐ tion und zu einer Verstärkung des Schmerzbildes. Bei der konservativen Behandlung einer akuten Cholecystitis (Gallenbla‐ senentzündung) wird zusätzlich eine antibiotische Begleittherapie durchge‐ führt. 43 1.3 Gallenblasensteinleiden <?page no="44"?> Therapie Gallenkolik akute Cholezystitis (konservativ) akute Cholezystitis (operativ) • Spasmolytika • Analgetika • fettarme Kost • Breitbandantibiotika • Spasmolytika • Analgetika • fettarme Kost • Endoskopisch (ERCP) • Gallengangver‐ schlusssyndrom • laparoskopische Cho‐ lezystektomie Abb. 7: Therapieprinzipien bei der Gallenblasenentzündung. Bei einer Cholestase (Gallensekretstau) durch Steine im Gallenhauptgallen‐ gang (D. choledochus) stehen endoskopische Verfahren zur Behandlung der Gallengangsteine zur Verfügung. Hierbei wird im Rahmen einer Ma‐ genspiegelung (Oesophago-Gastro-Duodenoskopie) der Ausführungsgang des Gallen- und Bauchspeicheldrüsensystems aufgesucht. Mittels eines elektrischen Drahtes kann diese Öffnung erweitert werden und die Sekrete können sich frei in den Zwölffingerdarm ergießen. Golden Standard der operativen Entfernung der Gallenblase ist die Lapa‐ roskopische Cholezystektomie (Gallenblasenentfernung). Klassischer‐ weise werden in Allgemeinnarkose hierzu vier Öffnungen (sog. Portale) geschaffen und Trokare (Hülsen) durch die Bauchwand geführt. Es wird eine Kohlendioxid-Gas in die freie Bauchhöhle insuffliert, so dass man frei in der Bauchhöhle mit Instrumenten, die durch die Trokare geführt werden, arbeiten kann. Das Kohlendioxidgas ist dem Organismus vertraut. Es entwickelt sich physiologisch bei der Atmung. Es ist nicht schädlich. Das Gas wird nach der Operation abgelassen. Verbliebenes Gas wird nach der Operation über die Diffusion von Gasen in Flüssigkeit aufgenommen und ausgeatmet. In der laparoskopischen Methode lassen sich Gallengang und die für die Durchblutung verantwortliche Begleitarterie der Gallenblase identifizieren und nacheinander durchtrennen. Es besteht eine große Nähe zu den Hauptversorgungswegen der Leber hinsichtlich der arteriellen Versorgung als auch des Hauptgallenganges. Es gilt, beides voneinander zu unterscheiden. Dies kann bei einer erheblich entzündlich veränderten Region, bei der es zu massiven Gewebeverdickun‐ gen kommt, zuweilen recht schwierig werden. Kommt es zur Verletzung der Schlagadern der Leber, wird diese nicht mehr durchblutet und kann schlimmstenfalls nur durch eine Leberteilresektion behandelt werden. Bei 44 1 Klinische Medizin <?page no="45"?> der Verletzung des Hauptgallenganges stehen viele Möglichkeiten der Be‐ handlung zur Verfügung. Sie sind sehr differenziert und aufwändig. Die Laparoskopische Cholezystektomie stellt ein etabliertes Verfahren zur Entfernung der Gallenblase (Golden Standard) dar. Majorkomplikationen sind die Gallengangsleckage und die Blutung aus Seitenästen der Haupt‐ schlagader der Leber (A. hepatica). Bei anatomischen Schwierigkeiten steht der Wechsel auf die offene Cholezystektomie zur Verfügung. Hierbei wird über einen sog. Rippenbogenrandschnitt der Bauchraum eröffnet. Der Bauchraum wird durch eine unterhalb des rechten Rippenbogens schräg verlaufende Inzision über 15-20 cm eröffnet. Klassischerweise wird die Gallenblase von oben ausgelöst und nahe des Hauptgallenganges abgesetzt. Die Notwendigkeit des „Umsteigens“ wird mit etwa 1-2 % aller Operationen angegeben. Viele Arbeitsgruppen beschreiben, dass der Umstieg auf das offene Verfahren nur noch ganz selten und in Einzelfällen erforderlich ist. Es gibt Hinweise, dass die laparoskopische Operation auch im Bereich der Tageschirurgie und somit ambulant durchgeführt werden kann. Hier sind die Indikationen streng zu stellen. Komplikationen der Gallenblasenentzündung Chirurgisches Handeln wägt immer die möglichen Gefahren des operativen Eingriffes mit denen der Operation und deren Folgen ab. Zu den Komplika‐ tionen der Gallenblasenentzündung (Cholezystitis) zählen das Gallenblase‐ nempyem, also die Eiteransammlung in der Gallenblase, die Perforation, also die Eröffnung der Gallenblase durch Nekrose, dem entzündlichen Gewebeverfall der Gallenblasenwand, die Bauchwandentzündung (gallige Peritonitis), der Ikterus und auch die Schrumpfgallenblase. Das Adenokar‐ zinom der Gallenblase ist bei weniger als einem Prozent der Patienten mit Gallensteinleiden zu beschreiben. Praxis | Sylke S. in der Notfallambulanz (Fortsetzung) Mittels einer MRT-Untersuchung ist bei Sylke S. ein Konkrement am Ausführungsgang zum Duodenum nachzuweisen. Es erfolgt die endo‐ skopische Entlastung über eine besondere Magenspiegelung (endogene retrograde Pankreatikographie). Über eine Sonde kann mit einem elek‐ trischen Draht der Ausführungsgang zum Zwölffingerdarm eröffnet 45 1.3 Gallenblasensteinleiden <?page no="46"?> werden. Dies führt zur Entleerung des angestauten Gallenganges und der Gallengangssteine. Am Folgetag wird Sylke S. operiert. Die Gallenlase wird laparoskopisch problemlos entfernt. Sylke S. erholt sich recht zügig. Die laborche‐ mischen Kontrollen und auch die Ultraschalluntersuchungen zeigen regelrechte Befunde. Bereits am 2. postoperativen Tag kann Sylke S. entlassen werden. Ergebnis der operativen Therapie Es gilt klar zu erkennen, dass die operative Behandlung von Patienten auch zur einer postoperativen Begleitsymptomatik führen kann. Die operative Behandlung seinerseits kann auch zur schmerzhaften Folgezuständen füh‐ ren. In einer randomisierten, kontrollierten Studie aus den Niederlanden (van Dijk und Mitarbeiter (2019) zeigte sich eine Schmerzfreiheit nach zwölf Monaten bei etwa zwei Drittel der Patienten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass unter einer restriktiven als auch unter Standardtherapie etwa ein Drittel der Patienten auch nach einem Jahr über Schmerzen klagen. Somit bedarf es bei symptomatischen Gallenleiden einer sorgfältigen Be‐ ratung. Die Erwartungen und das Outcome einer Cholezystektomie sind einzuordnen. Patienten sollten an der Entscheidung zur Cholezystektomie partizipieren, was dann auch eine positive Einschätzung des Ergebnisses begünstigt; insbesondere dann, wenn sich die Symptome nicht vollständig zurückbilden. Zusammenfassung | Gallenblasensteinleiden Die Versorgung von Patienten und Patientinnen mit Cholezysto- und Choledocholithiasis stellt hohe Anforderungen an die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Gastroenterologie und Viszeralchirurgie sowie ein ineinandergreifendes Zeitmanagement. Die Ultraschalluntersuchung ist die empfindlichste und schnellste Methode zum Nachweis von Gallensteinen und kann durch weitere Untersuchungstechniken ergänzt werden. Patienten mit einer akuten Cholezystitis sollten innerhalb von 24 h operiert werden. Ist eine vorherige Steinextraktion aus dem Haupt‐ gallengang erforderlich sollte die operative Entfernung der Gallenblase 46 1 Klinische Medizin <?page no="47"?> zeitnah erfolgen. Es erscheint notwendig, Patientinnen und Patienten an der Entscheidung aktiv partizipieren zu lassen, um Erwartungen und Outcome einordnen zu können. Verwendete und weiterführende Literatur Kraas, E.; Frauenschuh, D. (2001): Chirurgie der Gallenblase und Gallenwege durch MIC. In: Chirurg 72, S. 378-388. Lammert, F.; Nitschmann, S. (2019): Strengere Indikation für Cholezystektomie sinnvoll - SECURE-Studie. In: Internist. Online: doi.org/ 10.1007/ s00108-019-006 60-8. Potinari, M.; Scagliarini, M. et al. (2018): Do I Need to Operate on That in the Middle of the Night? Development of Namogram for the Diagnosis of Severe Acute Cholecystitis. In: Journal of Gastrointestinal Surgery. Online: doi.org/ 10.1007/ s1 1605-018-3708-y. Reichert, M. C.; Krawzyk, M.; Lammert, F. (2018): Evidenzbasierte Prävention des Gallensteinleidens. In: Gastroenterologe 13, S. 15-22. Online: doi.org/ 10.1007/ s1 1377-017-0221-x. Singer, M.; Deutschman C. S. et al (2016): The third international consensus definitions for Sepsis and septic cshock. In: JAMA (2016); 315 (8): S. 801-810. DOI: 10.1001/ jama.2016.0287. Tusgul, S; Carron, P.-N. et al. (2017): Low sensitivity of qSOFA, SIRS criteria and sepsis definition to identify infected patients at risk of complication in the prehospital setting and at the emergency department triage. In: Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine (2017) 25: 108. DOI 10.1186/ s13049-017-0449-y. Van Dijk, A. H.; Wennmacker, S. Z.; de Reuver, P. R. et al. for the SECURE Investigators (2019): Restrictive strategy versus usual care for cholecystectomy in patients with gallstones and abdominal pain (SECURE): a multicentre, randomi‐ sed, parallel-arm, non-inferiority trial. In: Lancet 393. Online: doi.org/ 10.1016/ S0 140-6736(19)30941-9. Wittenburg, H. (2018): Pathogenese der Gallensteine. In: Gastroenterologe 13, S. 6- 14. Online: doi.org/ 10.1007/ s11377-017-0222-9. Zylka-Menhorn, V. (2013): Die frühzeitige Operation ist dem konservativen Vorge‐ hen überlegen. In: Deutsches Ärzteblatt 110. A 1683-4. 47 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="48"?> 1.4 Magenerkrankungen Praxis | Tramold P. in der Notfallambulanz Herr Tramold P. (51) wird mit dem Rettungswagen in die Ambulanz gebracht. Er berichtet, mehrmalig schwallartig Blut erbrochen zu haben und klagt über Schmerzen im mittleren Oberbauch. Als Vorerkrankun‐ gen sind ein Bluthochdruck, ein Diabetes mellitus und ein Asthma bronchiale bekannt. Bezüglich der Asthma-Erkrankung erhält er eine Kortisontherapie. Bei Hüftgelenkschmerzen ist er auf die Einnahme von Schmerzmitteln angewiesen. Der Patient ist schläfrig, aber erweckbar, das Hautkolorit ist blass, der Blutdruck beträgt 90/ 50 mmHg, die Herz‐ frequenz beträgt 140 Schläge pro Minute. Die Atemfrequenz beträgt 23 Atemzüge pro Minute. Tramold P. zeigt eine Symptomatik, die auf eine akute Magenerkrankung hinweisen kann und er befindet sich in einer Schocksituation, ist also akut gefährdet. Schnelles und entschlossenes Handeln ist hier erforderlich. Um sich aber um die Situation des Patienten genauer klar zu werden, schauen wir uns die Anatomie und Physiologie des Magens an und lernen die hauptsächlichen Erkrankungen kennen. Zwischenzeitlich wird der Patient versorgt. Anatomie und Physiologie Der Magen (Ventriculum) hat eine Beutelform und weist eine sichelar‐ tige Krümmung auf, die mit kleiner und großer Kurvatur bezeichnet werden. Es findet sich ein oberer Schließmuskel zur Speiseröhre in Höhe des Zwerchfells und ein unterer Schließmuskel zum Zwölffin‐ gerdarm (Duodenum). Es werden Fundus, Corpus und Antrum von oben nach unten unterschieden. Die arterielle Versorgung erfolgt hauptsächlich aus dem Bauchhöhlen‐ stamm (Truncus coeliacus) der Bauchschlagader (Aorta abdominalis). Aus diesem entspringen die Hauptschlagader der Leber, der Milz, der Bauchspei‐ cheldrüse und die des Magens an der sog. kleinen Kurvatur entlang. Große und kleine Kurvatur des Magens werden durch jeweils entgegenlaufende Gefäße versorgt. Somit hat die Oberbauchregion eine sehr umfassende 48 1 Klinische Medizin <?page no="49"?> Blutversorgung zur Verfügung. Dies symbolisiert die Wichtigkeit des Ober‐ bauchsystems zur Erhaltung des Gesamtorganismus. Die einzelnen Lymphknotenstationen haben eine besondere Bedeutung und sind hochkomplex aufgebaut. In der Tumorchirurgie des Magens sind sie gesondert und spezifisch zu adressieren. Die Innervation erfolgt über den Nervus vagus des autonomen (vegetativen) Nervensystems. Funktionell dient der Magen der Sammlung der aufgenommenen Nah‐ rung, die dann portionsweise an das weitere Verdauungssystem weiterge‐ geben wird. Es bildet sich ein sogenannter Chymus, ein unter Einwirkung der Verdauungssekrete angedauter Brei. Hierbei werden bereits erste Be‐ standteile der Nahrung durch Fermente aufgespalten. Durch die Magen‐ wandbewegung wird dieser durchmischt und gelangt portionsweise in den Zwölffingerdarm (Duodenum). In der inneren Magenwand finden sich unterschiedliche Zellarten mit unterschiedlichen Funktionen der Fermentation. Es wird ein homogener, mit Fermenten durchsetzter Brei entwickelt (Chymifikation). Hormonbildende Zellen sezernieren Somatostatin und Serotonin. Das sind wichtige Regula‐ toren zum Hormon- und autonomen Nervensystem. Sie unterstützen den geregelten mechanischen Ablauf der Magen-Darm-Funktion. Die Magenfunktion wird in drei sich ergänzende und aufeinander aufbau‐ ende Phasen unterteilt. In der sog. kephalen Phase wird durch die Vorstellung von Nahrung bzw. dem Geruch und dem Geschmack die Magensekretion eingeleitet. Nach Aufnahme der Nahrung intensiviert sich dies in der sog. gastralen Phase. Hier kommt es zur Sekretion der für die Chymifikation wichtigen Fermente. Die intestinale Phase erlaubt eine Rückkopplung an den Magen und trägt zur Steuerung des geordneten Ablaufes bei. Helicobacter-pylori-Infektion Die Helicobacter-pylori-Infektion gehört zu den häufigsten Infektions‐ krankheiten. Helicobacter gehören biologisch zu der Gruppe der spiralig gekrümmt aufgebauten Bakterien. Es hat einen stäbchenförmigen, eher plump wirkenden Köper, dem sich sog. Geißeln anschließen. Somit hat das Bakterium die Möglichkeit, sich in seinem Milieu fortzubewegen. Es kommt nur beim Menschen vor und wird auf fäkal-oralem Weg übertragen, also eine Schmierinfektion von fäkalen Sekreten zum Mund. Der Erreger kolo‐ nisiert und infiltriert die Magenschleimhaut. Eine Kolonisation beschreibt eine reine Bedeckung der Oberfläche und macht noch kein Krankheitsbild, 49 1.4 Magenerkrankungen <?page no="50"?> währenddessen es mit der Infiltration zu einem Erkrankungsbild kommen kann. Hierbei dringt das Bakterium in das Gewebe ein und sucht seine Ziel‐ zellen. Es heftet sich an die Zellen des Magenepithels an (Adhaerenz). Durch Freisetzung von Urease ist dem Bakterium ein Überleben im stark sauren Milieu des Magens möglich. Urease ist ein Enzym, das Harnstoff spaltet und Ammoniak freisetzt. Durch das freigesetzte Ammoniak überleben die Bakterien im sauren Milieu des Magens. Genau diese Fähigkeit mag auch Grund für diese ökologische Nische sein. Durch die Freisetzung eines sog. vakuolisierenden Zytototoxins (Zellgift) zerstört es die Epithelzellen und dringt dann in diese Zellen ein. Nach Eindringen entwickelt sich eine akute Gastritis (Magenschlemn‐ hautentzündung). Dies kann auch symptomlos verlaufen. Es kann sich auch chronifizieren und somit über Jahre bestehen. Symptome müssen sich dabei nicht immer entwickeln. Komplizierend kann auch ein Geschwür, ein sog. Ulkus entstehen. Dieses findet sich dann häufiger im oberen Anteil des Duodenums als im Magen. Aus einer chronischen Gastritis kann auch ein Karzinom des Magens nach einem langen Verlauf entstehen (→ Abb. 8). Infektion  Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür (Ulkus)  Komplikationen sind Blutungen und Perforation  Entzündung der Magenschleimhaut (Gastritis)  unterer Anteil des Magens (Antrum) und Duodenum Entzündung Ulzeration Abb. 8: Hauptansatzpunkt einer Helicobacter-pylori-Infektion sind der untere Anteil des Magens und der obere Anteil des Duodenums. Eine hieraus sich entwickelnde Entzündung der Magenschleimhaut kann zur Ausbildung eines Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwürs kommen. Komplikationen einer Ulkusbildung sind die Blutung oder die Perforation. Im historischen Kontext galt es über viele Jahrzehnte als unmöglich, dass sich Bakterien im Magen finden lassen. Das saure Milieu erlaube keinem Bakterium, dass es überlebe. Rückschauend hat man bereits 1862 spiralförmige Bakterien in Mägen von Hunden gefunden. Später fanden sich spiralförmige Bakterien in Mägen von Patienten mit einem Magenkarzinom. Mitte des letzten Jahrhunderts galt das Dogma, dass das Magensekret steril sei und somit es zu keiner bakteriellen Erkrankung des Magens kommen 50 1 Klinische Medizin <?page no="51"?> kann. Unterstützt wurde dies durch eine recht umfangreiche Untersuchung Mitte der 1950er-Jahre, bei denen man in etwa 1000 Magenbiopsien keine Bakterien nachweisen konnte. Mit dem Aufkommen der Elektronenmikroskopie fanden sich Mitte der 1970er-Jahre Bakterien und später spezifisch bei Patienten mit chronischer Gastritis (Magenschleimhautentzündung). 1984 gelang der Beweis für den unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer Helicobakter Infektion und dem Krankheitsbild der chronischen Gastritis. Für diese Erkenntnisse er‐ langten Barry Marshall und Robin Warren 2005 der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie. Diese Erkenntnis war bahnbrechend. Zuvor konnte man nur eine sym‐ ptomatische Therapie anbieten. Bei einsetzenden Komplikationen, wie die des Ulkusleidens, gab es nur die Möglichkeit einer Magen- oder Dünndarm‐ resektion. Insbesondere bei wiederkehrenden Ereignissen war die Magen‐ teilresektion die Therapie der Wahl. Die operative Entfernung des Magens oder Anteilen davon geht mit erheblichen Gefahren für die Patientinnen und Patienten einher. Nunmehr ist ein Bakterium identifiziert worden. Somit liegt es nahe, dass man dieser Erkrankung mit einem Antibiotikum begegnen kann, was sich dann auch verwirklichte. Dadurch konnten und können auf‐ wändige operative Maßnahmen und Magenresektionen vermieden werden. Epidemiologie Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Die Hälfte der Bevölkerung ist mit Helicobacter pylori infiziert. Die Prävalenz der Geschwürskrankheit (Ulkuskrankheit) wird mit 0,1- 4,1 % der Weltbevölkerung angegeben. Im Fall der Ulkusblutung steigt die Mortalität auf bis zu 10 % an. Mit einer Helicobacter-pylori-Infektion sind 90 % der Ulkus duodeni und 70 % der Ulkus ventriculi assoziiert. Es gibt verschiedene Kofaktoren, die das Risiko erhöhen. Hierzu zählen interessanterweise auch die Demenz oder die Depression, wenngleich die Zusammenhänge nicht geklärt sind. Es wird in der Pathophysiologie angenommen, dass bei diesen Erkran‐ kungen eine chronische Neuroinflammation entsteht. Das ist eine Entzün‐ dungsreaktion der Nervengeflechte, die wiederum zu einer Aktivierung der sog. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse führt. Vereinfacht 51 1.4 Magenerkrankungen <?page no="52"?> ausgedrückt, kommt es zur Beeinflussung des zentralnervösen-humoralen Systems. Diese Erkenntnisse sind jedoch noch im Frühstadium und es entwickeln sich hier noch keine Therapieprinzipien. Einigkeit besteht demgegenüber, dass sog. Non-Steroidale-Antirheumatika (Substanzen wie Ibuprofen oder Diclofenac) als aus die Acethylsalicylsäure (ASS) einen nega‐ tiven Einfluss auf die Entwicklung einer Ulkuskrankheit haben. Starker Alkoholgenuss sowie Nikotingenuss stellen ein Risiko dar. Die Symptome sind im Oberbauch lokalisiert und können eine unter‐ schiedliche Stärke aufweisen bis hin zu einem lebensbedrohlichen Ereignis. Typisch ist der epigastrische Schmerz, ein Schmerz, der sich im zentralen Oberbauch unterhalb des Brustbeines findet. Völlegefühl, das rasche Sätti‐ gungsgefühl, Übelkeit und auch das Gefühl der Magenüberblähung sind die klinischen Zeichen dafür, dass die Magenfunktion bzw. die Magenmotilität gestört sind. Eine Ulkusblutung kann zu einem Bluterbrechen führen. Dieses als Hämatemesis bezeichnete Symptom ist dramatisch. Die Patien‐ ten erbrechen schwallartig das im Magen gesammelte Blut. Es wirkt für alle Beteiligten bedrohlich. Kommt es zu einer Perforation, also zu einem Durchbrechen der Geschwürsbildung durch die gesamte Magenwand, so entleeren sich Magensekrete und Luft in die freie Bauchhöhle. Das kann zu einem sehr heftigem, gefährlichem, und lebensbedrohlichem akutem Abdomen mit Peritonitis führen. Transportiert sich dieses Krankheitsbild weiter, so ist die Gefahr einer Sepsis gegeben. Therapie Die Magenspiegelung (Gastroskopie) ist der Goldstandard der Diagnostik. Hierbei wird mit einem Endoskop die Magenschleimhaut untersucht. Beach‐ tenswerterweise finden sich - je nach untersuchter Gruppe - bei etwa 0,8-4,3 % der Fälle bösartige Veränderungen, maligne Entartungen. Der Nachweis einer Krebserkrankung hat andere Therapieprinzipien zur Folge. Über einen Helicobacter-Urease-Test kann nahezu unmittelbar die Diagnose gesichert werden. Hierbei macht man sich die Freisetzung der Urease durch die Bakterien zu nutze. Harnstoff wird durch die von den Bakterien freigesetzte Urease zu Ammoniak und Kohlendioxid umgewandelt. Das Ammoniak färbt einen Indikator rot. Das Testergebnis ist nach wenigen Minuten, zumindest innerhalb eines Tages erkennbar. Weitere Nachweismethoden finden sich in der feingeweblichen Untersuchung der Proben (Histologie). 52 1 Klinische Medizin <?page no="53"?> Praxis | Tramold P. in der Notfallambulanz (Fortsetzung) Zwischenzeitlich konnte Tramold P. stabilisiert werden. Er bekam unmit‐ telbar Flüssigkeit über die Vene sowie Schmerzmittel und Antibiotika ver‐ abreicht. Zügig besserte sich dann die Atmung und Tramold P. klarte auch wieder mehr auf. Noch auf der Intensivstation wurde eine Magenspiege‐ lung durchgeführt. Es zeigte sich eine erhebliche Entzündung des Magens an seiner Innenwand, ebenso fand sich ein kraterartiges Geschwür, aus dem es blutete. Die Gastroenterologen haben diese Blutung mit Clips, kleinen Metallklammern verschließen können. Der Urease-Schnelltest zeigte einen positiven Befund auf Helicobacter pylori. Die Behandlung erfolgt mittels Antibiotika nach einem standardisierten Schema. Es handelt sich dabei um eine Kombination verschiedener An‐ tibiotika ergänzt mit einer Säuresekretionshemmung für die Dauer der Therapie. Resistenzentwicklungen des Bakteriums haben dazu geführt, dass es zur Modifikation der Schemata kommt. Vorteil der medikamentösen Therapie ist ein Vermeiden einer operativen Intervention. Und sie ist erfolg‐ versprechend, und zwar auf Dauer. Die Umsetzungsrate ist jedoch zuweilen schwierig. Patientinnen und Patienten haben nach einer recht kurzen Zeit keinerlei Beschwerden mehr und sind dennoch auf die Einnahme einer erheblichen Menge an Medikamenten angewiesen, um eine Eradikation, auch Keimeliminierung genannt, zu erzielen. Daher ist die Abbruchrate nicht unerheblich und die Ausheilungsrate verringert sich dadurch. Der Behandlungserfolg sollte kontrolliert werden. Das können verschiedene Tests sein oder auch eine erneute Magenspiegelung. Obere gastrointestinale Blutung Die Obere gastroduodenale Blutung ist definiert als eine intraluminale, also in‐ nerhalb der Verdauungsstraße entstandene Blutung oberhalb des Überganges des Duodenums zum Jejunum. Sie stellt eine häufige medizinische Notfallsi‐ tuation dar und ist mit einer hohen Letalität einhergehend. Die jährliche Inzidenz beträgt 20-57 pro 100.000 Einwohner. Blut kann erbrochen werden oder über den Stuhl ausgeschieden werden. Blutungsquellen sind dabei Speiseröhre, Magen und Duodenum. Bei einem relevanten Blutverlust kann ein hämorrhagischer Schock (Volumenmangel-Schock) entstehen. Die Ul‐ kusblutung von Magen oder Duodenum stellt die Hauptursache alle oberen 53 1.4 Magenerkrankungen <?page no="54"?> gastrointestinalen Blutungen dar. Gastrointestinale Blutungen aufgrund eines Geschwürs in Magen oder Zwölffingerdarm werden nach der Klassifikation nach Forrest in ihrer Ausprägung eingeteilt. Sie kann zumeist - wie bei Tramold P. - endoskopisch beherrscht werden. Es schließt sich bei Nachweis einer Helicobacter pylori Infektion eine Eradikationstherapie an. Operativ steht u. a. die Ulkusübernähung zur Verfügung. Mögliche Indikationsstellung sind ein Transfusionsbedarf von mehr als 3 Erythro‐ zytenkonzentrate über 24 h oder der persistierende Transfusionsbedarf nach endoskopischer Blutstillung. Hierbei wird über einen Bauchschnitt die Blutungsquelle aufgesucht und mittels Naht ligiert (→ Abb. 9). Blutungsintensität Substitutionsbedarf/ Symptome chronische Blutung 1-2 Blutkonserven pro Monat pos. Hämoccult-Test akute Blutung 1-2 Blutkonserven unmittelbar Hämoglobinabfall, Schockzeichen kritische Blutung > 4 Blutkonserven pro Tag massive Blutung > 6 Blutkonserven pro Tag Abb. 9: Abschätzung der Blutungsintensität einer oberen gastrointestinalen Blutung. Magenkarzinom Beim Magenkarzinom sind die Neuerkrankungsraten und Sterberaten insgesamt rückläufig. Die Neuerkrankung nimmt wohl im Alter zu. Es ist auch zu beobachten, dass Männer häufiger betroffen sind als Frauen. In der Tumorbehandlung wird die 5-Jahres-Überlebensrate beschrieben. Dies erlaubt eine Einordnung der Schwere der Erkrankung unter Ausschöpfung der medizinischen Therapiemöglichkeiten. Diese ist beim Magenkarzinom mit 33 % einzuschätzen und damit eher bedrohlich als moderat zu be‐ schreiben. Zu den Risikofaktoren zählen Helicobacter-pylori-Infektionen. Gepökeltem, gegrilltem oder geräuchertem Fleisch wird ebenso eine kanze‐ rogene, eine krebserzeugende Kompetenz zugeschrieben. Nikotingebrauch, Alkoholgenuss, Übergewicht gelten ebenfalls als Risikofaktoren. Es gibt Hinweise auf eine genetische Disposition. Oft fehlt es an spezifischen Symptomen, was die Einleitung einer Dia‐ gnostik verzögert. Wegweisend ist die Endoskopie mit histologischer Sicherung. Der feingewebliche Befund erlaubt die Zuordnung der Krebser‐ 54 1 Klinische Medizin <?page no="55"?> krankung und ihre Bedeutung. So wie man von außen eine Ultraschall‐ untersuchung durchführen kann, kann diese auch im Rahmen einer Magenspiegelung durchgeführt werden (Endosonographie). Die Compu‐ tertomographie erlaubt eine gute Umfeld-Diagnostik. Gerade die Tiefen‐ ausdehnung des Befundes aber auch der begleitende Befall der Lymphkno‐ ten lassen sich annähernd bestimmen. Die laparoskopische Evaluation stellt eine invasive operative Maßnahme dar. Hierbei wird über eine Bauchspie‐ gelung die Situation ergänzend zu den bisherigen Untersuchungen erfasst. Sie dient zur Beurteilung der Operabilität des Befundes. Sollte diese nicht erfolgen können, so ist prinzipiell die Möglichkeit gegeben, durch eine sog. neoadjuvante Therapie, also eine vorausgehende Therapie ein erstmals inoperables Geschehen in ein dann operables Geschehen umzuwandeln. Mit der sog. Peritoneallavage ergibt sich die Möglichkeit bösartige Zellen in der Flüssigkeit des Bauchraumes zu erkennen. Ein solcher Nachweis ist prognostisch als ungünstig zu werten. Es ist dann davon auszugehen, dass sich bösartige Zellen, ausgehend vom Magenkarzinom, im ganzen Bauchraum verteilt haben. Kleinste Magenveränderungen können endoskopisch erkannt und so‐ dann auch definitiv saniert werden. Insofern hat die Magenspiegelung eine besondere Bedeutung in der Erkennung und der definitiven Behandlung des Magenkarzinoms gewonnen. Im Gegenzug ist der Nachweis von Meta‐ stasen eine palliative Ausrichtung der Therapie zu diskutieren und mit den Erkrankten zu erörtern. Die Behandlung kann endoskopisch oder operativ stadiengerecht erfol‐ gen. Adjuvante und palliativ ausgerichtete Chemotherapie stehen ergän‐ zend zur Verfügung. Operativ-technisch stehen die Magenentfernung (Gastrektomie) oder die subtotale Magenresektion zur Verfügung. Zu den operativen und auch gefürchteten Hauptrisiken zählt die Nahtinsuf‐ fizienz. Diese ist schwer zu erkennen und lebensbedrohlich. Trotz aller Sorgfalt treten diese in unterschiedlichem Ausmaß auf und sind in ihrer Art extrem schwer zu erkennen. Bedarf es einer Korrektur, verschlechtert sich die Überlebensfähigkeit. Postoperativ benötigen die Patienten eine sehr differenzierte Überwa‐ chung und Behandlung. Eine intensivmedizinische Behandlung oder eine Behandlung auf einer sog. Intermediate Care Station kann hierzu erfor‐ derlich sein. Hierzu sind ergänzend apparativ technisch die Herz-Kreis‐ lauf-Funktion, die Atmung, der Sauerstofftransport, die Nierenfunktion mit der Urinausscheidung, die Funktion des Magen-Darm-Traktes als auch 55 1.4 Magenerkrankungen <?page no="56"?> der neurologische Status und der Wachheitsgrad des Patienten oder der Patientin zu adressieren. Die Patienten bedürfen einer engmaschigen labor‐ chemischen Kontrolle. Im pflegerischen Bereich bedürfen die Patientinnen und Patienten ei‐ ner sehr engmaschigen Überwachung der Katheter, der Drainagen, eine Beurteilung der Wundheilung. Der einhergehenden Funktionsstörungen der Verdauung muss begegnet werden. Ebenso sind die Patienten auch gefährdet, Mageninhalt zu aspirieren und dadurch eine Lungenentzündung zu entwickeln. Die natürliche Ernährung ist erklärtes Ziel der Behandlung. Möglicherweise ist jedoch eine zeitweilige künstliche Ernährung erforder‐ lich. Ebenso gilt es, dem Patienten oder der Patientin in dem jeweiligen Angsterleben zu begegnen. Zusammenfassung | Magenerkrankungen Der Magen stellt eine erste große Anlaufstation zur Verarbeitung der Speise und Führung der Nahrung in den resorptiven Vorgang des Dünndarmes dar. Die Helicobacter-Infektion ist Hauptursache für eine Magenschleimhautentzündung und für ein Magengeschwür. Mit einer speziellen Antibiotikabehandlung können Patientinnen und Patienten von der Infektion geheilt werden. Obere gastrointestinale Blutungen können in eine lebensbedrohliche Situation führen und bedürfen der Akutbehandlung. Das Magenkarzinom weist unter moderner Therapie eine insgesamt gute Prognose, insbesondere in der Frühphase der Erkrankung auf. Verwendete und weiterführende Literatur Bornschein, J.; Schlosser, S. (2017): Pathogenese und Prävention des Magenkarzi‐ noms. In: Gastroenterologe 12, S. 365-375. DOI 10.1007/ s11377-017-0189-6. Dovjak, P. (2017): Ulcus duodeni, Ulcus ventriculi und Helicobacter pylori. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 50, S. 159-169. DOI 10.1007/ s00391-017-1190-x. Lingohr, P.; Hippe V. et al. (2015): Diagnostik und Therapie oberer gastrointestinaler Blutungen. In: Allgemein- und Viszeralchirurgie up2date: (2015) S. 55-70; DOI: http: / / dx.doi.org/ 10.1055/ s-0033-1358082. 56 1 Klinische Medizin <?page no="57"?> Malfertheiner, P.; Bellutti, M. (2006): Ulkuskrankheit. In: Internist 47, S. 588-595. DOI 10.1007/ s00108-006-1630-y. Meyer, H. J.; Opitz, G. J.; Wilke, H. (2010): Magenkarzinom. In: Allgemein- und Viszeralchirurgie up2date, S. 363-385. DOI: 10.1055/ s-0030-1250580 ⎢VNR 2760512010047433195. Selgrad, M.; Meyer, F.; Malfertheiner, P. (2014): Helicobacter pylori: Kurzabriss zu ausgewählten historischen Etappen des Erkenntnisprozesses und ihre Bedeutung für die klinische Medizin, insbesondere auch die Chirurgie - was der (Allge‐ mein-/ Viszeral-)Chirurg wissen sollte. In: Zentralbl. Chir. 139, S. 399-405. DOI 10.1055/ s-0034-1368631. 1.5 Chronische Wunde Chronische Wunden nehmen an Zahl, Häufigkeit und unter Zugrundele‐ gung chronischer Erkrankungen und der demographischen Entwicklung zu. Sie erlangen eine besondere Bedeutung im Gesundheitswesen. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Etwa 1-1,5 % der Bevölkerung leiden an einer chronischen Wunde, jenseits des 80. Lebensjahres sind es etwa 4-5 % der Bevölkerung. Somit haben chronische Wunden eine altersmedizinische Bedeutung. Die Ursachen hierzu sind unterschiedlich. Anatomie der Haut Die Haut ist von unten nach oben wie folgt aufgebaut: Aus dem Fettgewebe, der Unterhaut (Subcutis) kommt die arterielle und venöse Versorgung. Hier treten auch die Nervengeflechte in die Haut, die für Schmerz, Druckempfinden und Wärmeempfinden verantwortlich sind. Die Haut (Dermis) selbst bein‐ haltet die Haarwurzel mit ihren Talgdrüsen. Die oberste, sich dann als sichtbare Haut darstellende Schicht wird Epidermis genannt. Hier kommt es zur flachen Ausbildung der Zellen, die dann im Weiteren als Schuppen abfallen. 57 1.5 Chronische Wunde <?page no="58"?> Wundentstehung Aus unterschiedlichen Gründen kommt es zur Läsion der Haut. Diese können durch stumpfe oder scharfe Gewalt (mechanisch) oder durch große Hitze oder Kälte (thermisch) entstehen. Ätzende Laugen oder Säuren führen zu einer chemisch induzierten Hautläsion. Mit Zeitverzug - und daher tückisch - sind die strahleninduzierten Schädigungen, die teils erst nach Jahren auftreten können. Typisch arztbezogene (iatrogene) Wunden sind der operative Zugang bei Operationen. In der zeitlichen Folge können sie akut und plötzlich entstehen oder auch zeitverzögert und einer chronischen Schädigung unterlegen sein. Zugrunde liegende Erkrankungen des arteriellen oder venösen Gefäßsystems im Sinne einer Gefäßerkrankung können Ursache einer Wunde darstellen. Auch die Störung des Lymphsystems kann ursächlich sein. Zudem können Wunden oberflächlich oder auch in tiefere anatomische Strukturen reichend und somit penetrierend, in die Tiefe durchdringend. Schwerwiegende Kompli‐ kation ist die Sepsis. Phasen der Wundheilung Es sind verschiedene Phasen der Wundheilung zu beschreiben. Diese wer‐ den unterschieden in die Exsudations- und Entzündungsphase, der sich die Resorptionsphase zur Reinigung der Wunde anschließt. In der Proliferationsphase kommt es zum Gewebeaufbau der sich dann eine Reparationsphase zur abschließenden Deckung anschließt (→ Abb. 10). Exsudations- oder Entzündungsphase • erster Wundverschluss • Vasokonstriktion und Thrombozytenaktivierung • Bildung einer widerstandfähigen Wundfläche Resorptionsphase • Phagozytose nekrotischen Gewebes • Fibroblastenaktivierung • Neovaskularisation Proliferationsphase • Bildung eines Granulationsgewebes • Ansammlung von Kollagenfasern • mechanische Stabilität Reparationsphase • Bindegewebe und Wundkontraktur • Reepithelisierung und Narbenbildung Abb. 10: Phasen der Wundheilung. 58 1 Klinische Medizin <?page no="59"?> Die Exsudations- oder Entzündungsphase umfasst die ersten 8-12 h einer hier frisch entstandenen Wunde. Diese Wunde kann eingetreten sein durch eine Schnittverletzung etwa durch Glas. Durch eine komplexe Reak‐ tion, vornehmlich der Blutplättchen (Thrombozyten) im Zusammenspiel mit Eiweißstoffen (Thrombin, Fibronektin und Kollagen) kommt es zu einem ersten Wundverschluss, einem Art Propfen, der die Blutung stillt. Bei den größeren arteriellen Gefäßen kommt es zur Eindämmung der Blutung durch ein Zusammenziehen von Muskelfibrillen der Gefäßwandung (Vasokonst‐ riktion). Die Thrombozyten wiederum setzen chemotaktische Faktoren frei und es kommt zu einer Anschoppung von weißen Blutkörperchen. Somit entwickelt sich also ein erster, recht widerstandsfähiger Schutz der Wundfläche. Bis zum etwa 4. Tag der Wundheilung wird untergegangenes, wir nen‐ nen es nekrotisches Gewebe, mehr und mehr durch hinzutretende Zellen aufgelöst. In dieser Resorptionsphase kommt es also zur Reinigung der Wunde. Dieser Prozess ist zellvermittelt. Unterschiedliche Zellen mit unter‐ schiedlichen Aufgaben führen die Säuberung der Wunde herbei. Zugleich kommt es aber bereits zum Einstrom von Bindegewebszellen, die sich in unterschiedliche Zellen differenzieren werden, um einen Gewebeaufbau zu ermöglichen. Neue Gefäßstraßen entwickeln sich (Neovaskularisation), um die Bereitstellung von Glucose und Sauerstoff zu gewährleisten. Nach der Reinigung der Wunde kommt es zum Gewebeaufbau, die Proliferationsphase. Es wird schichtweise und schrittweise das Gewebe von unten nach oben neu aufgebaut (Granulationsgewebe). Die Bindege‐ webszellen differenzieren sich und unter Einbeziehung von Kollagenfasern kommt es zur Narbenbildung mit dem Ziel, die mechanische Stabilität zur erhöhen. In der abschließenden Reparationsphase kommt es zur abschließenden Hautdeckung. Die entwickelte Narbe ist im Vergleich zum umliegenden Gewebe eher arm an Gefäßen und kollagenreich. Insgesamt handelt es sich um eine Deckung eines Defektes mit veränderter Belastbarkeit. Der ablaufende biologische Prozess ist in seinen einzelnen biochemischen Abläufen sehr viel umfangreicher und komplizierter. 59 1.5 Chronische Wunde <?page no="60"?> Störungen der Wundheilung Bei der chronischen Wunde kommt es zur nachhaltigen Störung im Ab‐ lauf dieser Wundheilungsphasen und zu einem Verbleiben der Wunde. Man spricht von chronischen Wunden, die über einen Zeitraum von 4-8 Wochen nicht spontan abheilen und somit keine ausreichende Heilungstendenz aufweisen. Hier zeigt sich ein Nebeneinander der unterschiedlichen Phasen. Es finden sich Regionen mit noch großer Verschmutzung, während sich an anderen Stellen ein Granulationsgewebe zeigt. Die Prozesse der Wundheilung sind völlig in Unordnung geraten und die Wunde heilt nicht. Schwere Grunder‐ krankungen, wie die Störung des venösen oder des arteriellen Gefäßsystems sind ursächlich für eine schlechte Wundheilung. Beim Diabetes mellitus kommt e zu einer verschlechterten Durchblutung des Gewebes im Ka‐ pillargebiet, den kleinsten Gefäßverästelungen im Bindegewebe. Druckge‐ schwüre, wie sie beim alten und bettlägerigen Menschen auftreten können, führen zu teils großen Wundflächen. Die Wundbehandlung zielt dabei auch auf die Behandlung der jeweiligen Grunderkrankung ab, berücksichtigt aber auch die eigentliche Wundbehandlung, beachtet die Ernährungssituation und geht auf die psychischen Belange der Patienten ein. Praxis | Das Ehepaar Elisabeth und Hubert K. Elisabeth K. (86) leidet an ein chronischen Ulcus cruris venosum. Es zeigt sich ein etwa 6 x 8 cm messendes Ulcus der Haut mit Fibrinbelägen und Nekrosearealen. Zudem ist das Bein geschwollen. Ihr 89-jähriger Mann Hubert K. hingegen leidet an einem insulinpflichti‐ gen Diabetes mellitus und an einer hochgradigen arteriellen Hypertonie. Seit seinem 16. Lebensjahr raucht er täglich eine Packung Zigaretten. An seiner Großzehe hat sich ein Geschwür entwickelt, dass nicht richtig abheilt. Beide bewohnen ein kleines Häuschen am Rande der Stadt. Sie haben einen kleinen Nutzgarten und ernähren sich gerne von dem frischen Gemüse, dass sie dort ernten. Der Hund und die beiden Katzen schenken ihnen viel Freude. 60 1 Klinische Medizin <?page no="61"?> Grunderkrankungen und Wundheilungsstörung Das Ulcus cruris venosum basiert auf einer Störung des Blutabflusses, maßgeblich der unteren Extremitäten. Störung der Klappenfunktion der Venen (chronisch venöse Insuffizienz) oder auch Folgen einer Thrombose sind verantwortlich. Bei einer tiefen Beinvenenthrombose sind die tieferlie‐ genden Venen durch Blutgerinselbildung verschlossen und der Rückfluss ist gestört. Insgesamt verbleibt sauerstoffarmes und nährstoffarmes Blut im Gewebe und die Zellen leiden unter Mangelversorgung. Typisch ist ein Hautgeschwür (Ulzeration) am Unterschenkel oberhalb der Knöchelgabel, zumeist innenseitig aber auch außenseitig. Bei ausge‐ dehnten Befunden kann ein solches Geschwür den gesamten Unterschenkel erfassen (Gamaschenulkus). In das Gewebe austretendes Blut kann zu Pig‐ mentierungsstörungen mit Ausbildung brauner Farbe führen. Leicht kommt es zu einer bakteriellen Infektion oder zu einer Pilzinfektion. Entzündungs‐ reaktionen können aber auch abakteriell entstehen (Stauungsdermatitis). Mit der sog. Duplexsonographie kann durch Ultraschall die Fließei‐ genschaft des Blutes beurteilt werden und die Ursache erkannt werden. Durch eine Kompressionsbehandlung wird die Fließeigenschaft des Blu‐ tes verbessert. Unter Anwendung von elastischen Binden oder Kompressi‐ onsstrümpfe, kann der Druck zur Unterstützung erhöht werden und der Rückstrom von außen gebessert werden. Es kann aber auch eine Operation erforderlich sein. Das Ulcus cruris venosum ist ein Paradebeispiel auch für die Entwicklung einer bösartigen Veränderung infolge einer chronischen Wunde. Andere chronische Wunden sind dies aber auch. In einer Studie fanden sich insgesamt etwa 10 % maligne Entartungen. Hierbei wurden an auffälligen Stellen chronischer Wunden Gewebeproben entnommen, die feingeweblich durch den Pathologen untersucht wurden. Diese Konstellation ist gesondert zu adressieren. Praxis | Das Ehepaar Elisabeth und Hubert K. (Fortsetzung) Bei Elisabeth K. ist eine chronisch venöse Insuffizienz nachgewiesen worden. Die Wunde wurde operativ gereinigt und die verordnete Kom‐ pressionsbehandlung unterstützt die Heilung der Wunde. 61 1.5 Chronische Wunde <?page no="62"?> Das diabetische Fußsyndrom beruht hauptsächlich auf eine Störung im Kapillargebiet (Mikroangiopathie) aber auch eine Verengung der großen Gefäßsysteme (Makroangiopathie). Ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus unterstützt das Geschehen. Infolge des Diabetes mellitus kommt es auch zu einer Störung der Nervenfunktion (Polyneuropathie), die mit einer Aufhebung von Schmerz-, Temperatur- und Tiefensensibilität einher‐ gehen kann. Eine Wunde wird hierbei nicht mehr als schmerzhaft gespürt. Kennzeichen sind das typische diabetische Gangrän, insbesondere das Malum perforans am Großzehengrundgelenk an der Fußsohle. Ursächlich hierbei ist der Druck des Mittelfußköpfchens des Gelenkes von innen auf die Fußsohle. Tritt eine Infektion ein, kann es zur bakteriellen Infektion des Knochens kommen (Osteomyelitis). In der Diagnostik sind die Gefäß- und Nervenfunktion zu überprüfen. Diese beiden Störungen können auch Einfluss auf den Knochenstoffwechsel haben und bedarf dann auch der radiologischen Beurteilung. Grundlage der Therapie ist die Einstellung des Diabetes mellitus, um ein Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern bzw. zu verlangsamen. Wund‐ pflege und Druckentlastung sind wesentliche therapeutische Möglichkeiten. Die sog. Hyperbare Oxygenierung ist komplex, aufwändig und hat sich als Therapieoption in der Flächenausdehnung nicht etabliert. Bei ausbleibender Besserungstendenz ist in Einzelfällen auch eine Amputation erforderlich. Bei der arteriellen Verschlusskrankheit kommt es zu einer Störung des Bluteinstromes in den großen Gefäßen. Hierbei kommt es zu Ablage‐ rungen an der Gefäßwand und zur Einengung der Gefäßstrombahn (Ate‐ rosklerose). Bei der Dopplersonographie kann die Pulswelle akustisch abgeleitet und hörbar gemacht werden. Wesentlich sind aber auch die Fließeigenschaften des Blutes in den Gefäßen. Dies lässt sich mit einer spezi‐ ellen Ultraschalluntersuchung, der Duplexsonographie untersuchen. Die Angiografie erlaubt eine bildliche Darstellung von Wandveränderungen in einer Röntgenuntersuchung mit Kontrastmitteln. Hier stehen interventio‐ nell-radiologische und gefäßchirurgische Therapieoptionen zur Verfügung. Hierbei wird eine Engstelle mittels eines Ballons, der über eine feine Sonde eingeführt wird, erweitert. Unter kontinuierlicher Röntgenkontrolle wird der Ballon aufgepumpt und die Kalkplaques werden in die Gefäßwand gedrückt. Der Blutstrom verbessert sich. Die Wunde erhält mehr Sauerstoff und Nährstoffe. 62 1 Klinische Medizin <?page no="63"?> Praxis | Das Ehepaar Elisabeth und Hubert K. (Fortsetzung) Bei Hubert K. ist eine arterielle Verschlusskrankheit nachgewiesen worden. Er wird in der gefäßchirurgischen Abteilung aufgenommen. In einer Angiografie werden mehrere kurzstreckige Engstellen nachge‐ wiesen und können durch eine Ballondilatation erfolgreich behandelt werden. Dekubitalulzerationen entstehen durch Druck auf das Gewebe. Sie sind abhängig vom Auflagedruck und der Druckverweildauer. Zu den prä‐ disponierenden Stellen zählen das Kreuzbein, die Fersen, die Schulterblätter, die Ohrläppchen und auch die Ellenbogen. Es sind vornehmlich Stellen, an denen der Körper im Liegen aufliegt. Das Dekubitalulkus wird in 4 Schweregrade unterteilt. ● Stadium I beschreibt die Rötung der Haut, die auf Druck nicht abblasst. ● Im Stadium II kommt es zum Teilverlust der Epidermis und Anteile der Lederhaut (Cutis). ● Stadium III reicht in das Unterhautfettgewebe hinein. ● Während das Stadium IV die darunter liegenden Schichten wie Mus‐ keln, Faszien oder Knochen erreicht. Die Entwicklung eines Druckgeschwürs ist abhängig vom Auflagedruck, der Druckverweildauer und der individuellen Disposition. Therapieoptionen sind die Druckentlastung. So weit als möglich sollte die Mobilisation erzielt werden. Es ist auch zu prüfen, inwieweit die Ernährungssituation optimiert werden kann. Ein lokales Wundmanagement mit Infektionsma‐ nagement und feuchter Wundbehandlung sind die Kernaspekte der kon‐ servativen Therapie. Das lokale Débridement stellt eine entscheidende Maßnahme dar. Größere Defekte können mitunter plastisch-rekonstruktiv gedeckt werden. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Zusammenfassend sind die Erkrankungen, die zu einer chronischen Wunde führen können, sehr unterschiedlich und in ihrer Art auch komplex zu behandeln. Teils sind aufwändige Versorgungsstrukturen zu initiieren. Am Beispiel der Versorgung von Dekubitalgeschwüren III und IV. Grades zeigen sich bei 25 % der Fälle eine finanzielle Unterdeckung 63 1.5 Chronische Wunde <?page no="64"?> für das Krankenhaus. Grund hierfür sind eine lange Behandlungsdauer, einsetzende Komplikationen und die Anzahl operativer Interventionen. Die Behandlung von meist schwerkranken Patienten mit Dekubitalul‐ zera ist im deutschen DRG-System oft nicht kostendeckend abgebildet. Ein strenger Behandlungsalgorithmus mit Minimierung der operativen Eingriffe und intensive Pflege sind hilfreich Kosten einzudämmen. Kostenintensive Komplikationen sind jedoch nicht zu vermeiden. Begleitfaktoren Im Hinblick auf die Ernährung ist eine Fehl- oder Mangelernährung aus‐ zugleichen. Einer eiweißreichen Kost, Vitamin C und Vitamin A, Zink und Eisen werden positive Einflüsse auf die Wundheilung zugesprochen. Eine ganze Anzahl von Patienten erfahren erstmalig im Rahmen des stationären Aufenthaltes Erlebnisse von Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Die Evaluation des Essverhaltens kann sich sehr aufwändig und ihre Korrektur schwierig gestalten. Ein besonderer Aspekt stellt stellen die psychosozialen Faktoren dar und dürfen in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden. Teils sind die Geruchs‐ entwicklungen erheblich. Sie führen zur Isolation, Ausgrenzung und Vermei‐ dung. Geruchsbindung durch Aktivkohleauflagen kann eine entscheidende Verbesserung darstellen. Teils ist der Schmerz für die Patienten unerträglich und auch mit Medikamenten kaum zu begegnen. Vielfach besteht Angst vor einer Krebserkrankung. Patientinnen und Patienten fühlen sich entstellt und scheuen sich nach Draußen zu gehen. Nicht zu unterschätzen sind Wundmanipulationen, die die Versorgung durch den Pflegedienst unterhält. Vielfach sind diese eine der wenigen Gesprächspartner, die die Patienten überhaupt haben. Tierhaltung kann sehr unterschiedlich betrachtet und auch interpretiert werden. Zugleich stellt das Tier eine wichtige emotionale Komponente dar. Die Frage der Berufstätigkeit kann beispielsweise für einen Bademeister mit diabetischem Fußsyndrom mit Ausbildung einer chronischen Wunde am Fuß bedeutsam sein. 64 1 Klinische Medizin <?page no="65"?> Wundbehandlung Entscheidend für die Wundbehandlung ist, neben der Behandlung des zugrunde liegenden Krankheitsbildes, die lokale Wundtherapie. Es werden hierbei das eigentliche Wundgebiet, die Entzündungsreaktion, das Wund‐ exsudat und die Wundumgebung adressiert. Das moderne Wundmanagement zielt auf eine Wundreinigung unter Schaffung einer ausreichenden Antisepsis ab. Durch die Gewährung eines feuchten Wundmilieus kommt es zur Verbesserung der Wundsituation. Ziel ist, die ‚ungeordnete‘ Wundheilung in eine ‚geordnete‘ Wundheilung zu überführen, die die physiologischen Stadien der Wundheilung berücksich‐ tigt. Mit dem Wunddébridement wird die Wunde angefrischt (i.e. auf Reset gesetzt). Hierzu stehen unterschiedliche Methoden bis hin zur operativen Maßnahme zur Verfügung. Ist die Wundkompresse die häufigste Form der Wundauflage, so gibt es ein ganzes Arsenal von unterschiedlichen Wundauflagen der modernen Wundbehandlung, die die einzelnen Phasen der Wundheilung berücksich‐ tigen. Hierzu zählen beispielsweise die Hydrokolloide, Schaumstoffe und Vliesstoffe. Die Vacuumtherapie erreicht eine sehr gute Wundreinigung und Konsolidierung einer Wunde. Sie hat einen positiven Effekt hinsichtlich Gewebeaufbau und Granulation. Es wäre zu einfach, das komplexe Thema der phasengerechten Wundver‐ sorgung bei chronischen Wunden auf einen Algorithmus zurückzuführen. Um eine Wunde in ihrem Heilverlauf einzuordnen sind Bildtafeln extrem hilfreich, mit dem dann die passende Therapieform ausgesucht werden kann. Die Behandlung chronischer Wunden bedarf einer umfassenden, interdisziplinären ärztlichen Versorgung und einer differenzierten und überlappenden Versorgung durch Medizinische Hilfsangebote. Besondere Beachtung bedarf es der Keimbesiedelung, die auch zur komplexen Infektion bis hin zur Sepsis führen kann. Durch Bakterien verursachte nekrotisierende Haut- und Weichgewebsinfektionen stellen die gefürchtetste Komplikation der Wundinfektion dar und fordern ein radikales Chirurgisches Handeln ein. Zusammenfassung | chronische Wunde Chronische Wunden haben eine gesellschaftliche Relevanz. Insbeson‐ dere ältere und mehrfach erkrankten Patientinnen und Patienten sind 65 1.5 Chronische Wunde <?page no="66"?> betroffen. Zu den hauptsächlichen Begleiterkrankungen zählen die Störungen der Durchblutung wie die chronisch venöse Insuffizienz, die arterielle Hypertonie und der Diabetes mellitus. Druckgeschwüre stellen eine besondere Herausforderung dar. Das Behandlungsregime ist multidisziplinär und komplex ausgerichtet und reicht weit bis in den ambulanten Sektor hinein. Verwendete und weiterführende Literatur Bedürftig, H.; Eder, S. (2015): Lokaltherapie bei der Behandlung chronischer Wun‐ den. In: Gefäßchirurgie 20, S. 395-406. DOI 10.1007/ s0077201500621. Cerny, M.; Hellmich et al. (2018): DRG Erlöse und Kosten multimorbider Patienten im deutschen DRG-System - Analyse der operativen Behandlung chronischer Wunden an einer Universitätsklinik am Beispiel des Dekubitus. In: Handchir. Mikrochir. Plast. Chir. 50, S. 284-290. Busch, K. H.; Vogt, P. M. (2010): Chronisch infizierte Wunde - Grenzen der konser‐ vativen Behandlung/ operativer Wundverschluss. In: Trauma Berufskrankh. 12 [Suppl. 1], S. 19-24. DOI 10.1007/ s10039-009-1583-1. Fischer, T.; Baczako, A.; Konstantinow, A.; Volz, T. (2019): Chronische Wunde richtig behandeln. In: hautnah dermatologie 35(5), S. 44-51. Mutschler, W. (2012): Physiologie und Pathophysiologie der Heilung von Defekt‐ wunden. In: Unfallchirurg 115, S. 767-773. DOI 10.1007/ s00113-012-2208-x. Senet, P. et al. (2012): Malignancy and chronic leg ulcers: the value of systematic wound biopsies: a prospective, multicenter, cross-sectional study. In: Archives of Dermatological Research 148(6), S. 704-708. 1.6 Demenz Das Altsein hat sich fundamental verändert. Lange Zeit wurde mit einem hohen Alter das Austreten aus der Erwerbsfähigkeit verstanden. Wer das Rentenalter erreicht hat, war eindeutig alt. Für manche fängt in dieser Phase das Leben von neuen Entdeckungen, der Erfahrung von Liebe und der Auseinandersetzung mit sich selbst erst an. Das Thema Alter, das Altwerden und Altsein sind - gesellschaftlich und ökonomisch betrachtet - von großer 66 1 Klinische Medizin <?page no="67"?> Bedeutung. Insgesamt zeigen alte Menschen aufgrund eines insgesamt gesünderen Lebensstiles und einer stabileren Gesundheitsversorgung ein höheres Lebensalter. In römischer Zeit wurden alte Menschen als Gelassen und Weise geachtet, frei von jugendhafter Leidenschaft, die Gegebenheiten mit Abstand betrachtend. Senil war jemand, der als undiszipliniert galt. Mit zunehmendem Alter der Menschen gelten sie als gebrechlich, als gesamtge‐ sellschaftliche Aufgabe und als ein ökonomisches Problem. Es wurde üblich, alte Menschen als Greise zu bezeichnen. Wartezone für das Lebensende. Alte Menschen stellen eine große Ressource für die Gesellschaft dar, sind ehrenamtlich tätig, unterstützen die Betreuung der Enkelkinder. Le‐ benslanges Lernen trainiert geistige und kognitive Fähigkeiten. Ein Lebens‐ abschnitt, der gerne langfristig geplant und positiv gestaltet sein will. Das kalendarische Alter definiert nach Jahren des Lebens. Das soziologische Alter ist davon geprägt, die Rolle des alten Menschen in der Gesellschaft zu gestalten. Das biologische Alter steht für die Gesundheit und auch die Krankheiten, die mit dem Alter verbunden sind. Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, und andere Organsysteme, zeigen aufgrund der degenerativen Veränderungen Einschränkungen in ihrem funktionellen Verhalten. Mit höherem Alter treten vermehrt Tu‐ morerkrankungen auf, nachdem Unfälle, Infektionen und degenerative Erkrankungen im Lebenszyklus überstanden waren. Das psychische Alter orientiert sich an der Anpassungsfähigkeit, der geistigen Flexibilität. Pro‐ blemstellung ist die Unterscheidung zwischen physiologischen Alterungs‐ prozessen und krankhaften Störungen. Praxis ï Demenz in der Familie Gesine Grotrian, Autorin, Illustratorin und Familientherapeutin be‐ schreibt die Demenz ihrer Mutter, als den Verlust der Persönlichkeit: „Meine Mutter hat jeden Morgen Schwierigkeiten, ihre Wirklichkeit im Kopf zusammenzusetzen. Manchmal hat mein Vater ihr morgens beim Aufwachen das Gesicht gestreichelt. Seine Finger haben ihre Aufmerksamkeit liebevoll in den Tag gelenkt. Selbst steuern kann sie dies schon lange nicht mehr. Sie hat keine Anhaltspunkte, weil sie ihre Erfahrungen und damit ihre Orientierung verloren hat - oder vergessen. Sie kann sich wohlfühlen oder verloren gehen. Und manchmal kann sie in ihrem Wohlgefühl ein wenig bleiben, ohne orientierungslos zu sein. Sie ist dement.“ 67 1.6 Demenz <?page no="68"?> Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird eine erworbene globale Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensomotorischer und sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler Reak‐ tionen ohne ausgeprägte Bewusstseinstrübung als Demenz beschrie‐ ben. Entsprechend der Diagnosekriterien nach der internationalen Klassifikation (ICD-10) sind die Veränderungen seit mindestens einem halben Jahr bestehend und in einem Maße zu beschreiben, die die Alltagskompetenz beeinträchtigen. Das Bewusstsein ist erhalten, es zeigen sich Verhaltensänderungen hinsichtlich emotionaler Kontrolle, Motivation oder Änderungen des Sozialverhaltens. Erkrankungsbild Etwa 80 % aller Demenzen werden durch Krankheiten des Gehirns hervor‐ gerufen. Nervenzellen gehen allmählich zugrunde, die Verbindungen funktio‐ nieren nicht mehr. Die kognitiven Leistungsfähigkeiten nehmen ab. Die Alz‐ heimer-Krankheit ist mit 60-70 % die häufigste Erkrankung. Daneben gibt es vasculäre, gefäßbedingte Demenzen sowie Mischformen und viele andere Ursachen. Ebenso können Stoffwechselerkrankungen, Infektionen des Ge‐ hirns, Vergiftungserscheinungen durch Medikamentenmissbrauch, Vitamin‐ mangelzustände oder Schädel-Hirn-Verletzungen zu funktionellen Störungen der Hirnleistung führen. Depressionen, Hirntumore oder -geschwulste oder eine Abflussstörung der Hirnrückenmarksflüssigkeit (Normaldruckhydroze‐ phalus) können ebenfalls für demenzielle Symptome verantwortlich sein. Das sogenannte Korsakow-Syndrom ist häufig (aber nicht immer) eine Folge jahrelangen, übermäßigen Alkoholkonsums. Epidemiologie Mehrere Einzelstudien und Metanalysen, zeigen, dass die Prävalenz mit dem Alter zunimmt. Der Anteil nimmt von Jahr zu Jahr des Lebens rapide zu. Sind es zu Beginn des 8. Dezeniums noch eine Person von 10, so sind es im 9. Dezenium bereits 20-30 %. Dennoch zeigt sich, dass die Erkrankungsrate innerhalb der Altersgruppen abnimmt. Als Gründe hierfür werden die höhere Bildung und damit verbesserten kognitiven Reserven angegeben. 68 1 Klinische Medizin <?page no="69"?> Auch zeigt sich eine Verbesserung im Gesundheitsverhalten und in der Ernährung im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Im medizinischen Kontext konnte eine Verbesserung in der Behandlung kardiovaskulärer Erkrankun‐ gen erzielt werden. Dies hat einen positiven Einfluss insbesondere bei vaskulär bedingter Demenz. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist - bei fallenden Erkrankungsraten je Altersgruppe - von einem weiteren Anstieg der Zahl dementiell Erkrankter auszugehen. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen In Deutschland leben nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen rund 1,6 Mio. Menschen mit Demenz. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Durchschnittlich treten Tag für Tag etwa 900 Neuerkrankungen auf. Sie summieren sich im Lauf eines Jahres auf mehr als 300.000. Da die Zahl an Neuerkrankungen die Zahl der Sterbefälle übersteigt, wächst die Zahl pro Jahr um 40.000. Dreiviertel der Kosten entfallen auf die Pflege und ein Viertel auf die medizinische Versorgung. Das Vorliegen einer Demenz ist Haupt‐ ursache für einen Umzug in eine Alten- und Pflegeeinrichtung. Mit zunehmenden kognitiven Einschränkungen stellt eine ambulante Ver‐ sorgungsstruktur eine Herausforderung dar. Im Pflegerecht und in der Pflegebegutachtung sind die Folgen von Demenz in den letzten Jahren stärker berücksichtigt worden. Auch sind die Unterstützungsleistungen für Demenzkranke insgesamt verbessert worden. Morbus Alzheimer Die Alzheimer-Krankheit wurde erstmals 1906 von Alois Alzheimer, einem deutschen Psychiater beschrieben. Er führte eine mikroskopische Unter‐ suchung des Gehirns seiner demenzkranken Patientin Auguste D. durch und entdeckte zwei Arten von Hirnschädigungen: senile Plaques und Neurofibrillenbündel. Daraus schloss er auf eine eigenartige Krankheit der Hirnrinde. Neuronen sind so miteinander verbunden, dass sie ein komplexes Netzwerk bilden. Die Verbindungen (Synapsen) ermöglichen die Vermittlung von Informationen von einer Nervenzelle zur anderen. Bei der Alzheimer-Krankheit kommt es bei den Patienten bereits 10-15 Jahre vor dem Auftreten der ersten Symptome hauptsächlich 69 1.6 Demenz <?page no="70"?> zu zwei Veränderungen: Plaques sind Ablagerungen von Beta-Amy‐ loid-Ablagerungen außerhalb der Nervenzelle. Tau-Fibrillen sind eine veränderte Ansammlung von Tau-Proteinen in der Nervenzelle. Das Amyloid-Precurser-Protein (APP) ist ein natürlich im Körper vor‐ kommendes Protein, das die Zellmembranen der Neuronen durchspannt. Wird das APP durch bestimmte Enzyme zerschnitten, wird das Proteinfrag‐ ment Beta-Amyloid freigesetzt, das vom Körper abgebaut wird. Bei der Alzheimer-Krankheit besteht hier ein Ungleichgewicht. Das Beta-Amyloid wird nicht mehr reguliert und befindet sich in zu großen Mengen außerhalb der Zellen. Die Proteine verplumpen dort und bilden unlösliche Plaques. Wenn eine Nervenzelle mit einer anderen Nervenzelle kommuniziert, werden Signale vom Zellkörper über das Axon zur Synapse weitergeleitet. Das Axon wird durch ein Zytoskelett in seiner Form durch Mikrotubuli aufrechterhalten. Die Tubuli wiederum bleiben durch das Tau-Protein stabil. Bei der Alzheimer-Krankheit ist das Tau-Protein verändert. Die Mikrotu‐ buli fallen auseinander. Das Zytoskelett der Nervenzelle zerfällt. Loses Protein sammelt sich dann in der Nervenzelle und lagert sich fadenförmig zusammen. Ohne Zytoskelett degenerieren die Neuronen. Die Anzahl der Synapsen verringert sich, die Verbindungen zwischen ihnen gehen verloren. Andere Abzweigungen am Zellkörper, die Dendriten bilden sich ebenfalls zurück. Durch die krankhafte Ansammlung von Tau-Proteinen in den Nervenzellen entstehen Fibrillen. Das Neuron stirbt ab. Das Verteilungsmuster beider Veränderungen ist im Gehirn unterschied‐ lich. Auch der zeitliche Verlauf ist unterschiedlich. Tau-Fibrillen entwickeln sich zuerst im Hippocampus, eine Region, die für die Gedächtnisbildung und das Lernen verantwortlich ist. Dann breiten sie sich aus und der fortschreitende Neuronenverlust entwickelt sich zunehmend im gesamten Gehirn. Durch die Schrumpfung des Gehirns kommt es zu umfassen‐ den Funktionsstörungen: es treten Gedächtnisprobleme auf, dann folgen Schwierigkeiten mit Sprache und Erkennen und Probleme mit der Gestik. Die Plaques verbreiten sich auf andere Weise aus. Ablagerungen finden sich zunächst in der Hirnrinde, dem Cortex, später im Hippocampus. Die Veränderungen breiten sich fort und finden sich schließlich im gesamten Gehirn. Auf viele Fragen gibt es jedoch noch keine Antwort. Therapiestudien, die den Abbau von Plaques fördern sollten, zeigten keinen Erfolg. Es wird angenommen, dass kleinere Anteile der Plaques, sog. Oligomere lange 70 1 Klinische Medizin <?page no="71"?> vor der Entwicklung von Plaques vorhanden sind. Diese scheinen sehr zerstörerisch zu sein, wenn sie sich an den Synapsen binden. Der Prozess der Plaquesbildungen könnte durch freiwerdende Gifte (Noxen) zu einer Veränderung und damit zur Zerstörung von Neuronen führen. Trotz aller medizinischen Fortschritte ist der Zusammenhang beider Veränderungen noch nicht geklärt. Andere Formen der Demenz Bei der Parkinson- und der Lewy-Körperchen-Demenz spielt Synuklein (ein Protein, das zur Regulation der Membranstabilität dient) eine Rolle, bei der frontotemporalen Demenz Progranulin (ein multifunktionales Protein der Nervenzelle). Unterschiedliche Hirnregionen reagieren ungleich sensibel auf die Störungen dieser Stoffwechselwege. Das erklärt, warum die Neurodegeneration bei den verschiedenen Demenzformen an unter‐ schiedlichen Lokalisationen im Gehirn beginnt und damit auch, warum die Beeinträchtigungen verschiedener kognitiver, emotionaler, vegetativer und motorischer Funktionen in einer für die jeweilige Ätiologie typischen Reihenfolge und Schwere eintreten. Bei vaskulären Demenzen wird der Zelluntergang durch eine Häufung überwiegend kleiner, für sich allein oft subklinischer ischämischer Infarkte verursacht, die sich dann im Marklager flächenhaft verdichten. Risikofaktoren Eine wachsende Zahl von Beweisen unterstützt die neun potenziell modi‐ fizierbaren Risikofaktoren für Demenz (modelliert durch die 2017 Lancet Commission über Demenzprävention, -intervention und -betreuung): ● weniger Bildung, ● Hypertonie, ● Hörschäden, ● Rauchen, ● Übergewicht, ● Depressionen, ● körperliche Inaktivität, ● Diabetes, ● soziale Isolation. 71 1.6 Demenz <?page no="72"?> Drei weitere Risikofaktoren für Demenz mit neueren, überzeugenden Be‐ weisen treten hinzu. Diese Faktoren sind: ● übermäßiger Alkoholkonsum, ● traumatische Hirnverletzung, ● Luftverschmutzung. Mit all diesen genannten Faktoren sind 40 % der Risiken der Entwicklung einer Demenz zur erklären. 60 % der Ursachen verbleiben verborgen. Frühstadium mittleres Stadium fortgeschrittenes Stadium • Vergesslichkeit • Nachlassen des Kurz‐ zeitgedächtnisses • Wortfindungsstörung • Interessen lassen nach • Deutliche Ausfälle • Namen werden ver‐ gessen und Angehö‐ rige nicht mehr er‐ kannt • Verlust des Zeitge‐ fühls • Persönlichkeitsverän‐ derung • Kontrollverlust • Verlust höherer physi‐ scher Funktionen wie Essen, Laufen, Toilet‐ tennutzung • Gedächtnis kann keine neueren Infor‐ mationen aufnehmen Abb. 11: Der Verlauf der Demenz bei M. Alzheimer lässt sich als ein fortschreitendes Geschehen beschreiben, was in unterschiedliche Stadien eingruppieren lässt, ohne voll‐ ständig zu sein. Stadien der Alzheimer-Demenz Die Alzheimer-Demenz als die häufigste Erkrankungsform eines dementiel‐ len Syndroms, verläuft in drei verschiedenen Stadien (→ Abb. 11). Im Frühstadium ist das Leitsymptom die Vergesslichkeit. Zunächst schwindet das Kurzzeitgedächtnis. Es entwickeln sich Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zu finden. Auch das Interesse an Hobbies und Alltagsaktivitäten lassen nach. Die Veränderungen sind in den Hirnbereichen des Lernens und des Gedächtnisses sowie des Denkens und der Vorplanung zu verorten. Im mittleren Stadium finden sich deutlichere Ausfälle. Namen und auch die Angehörigen selbst werden nicht mehr erkannt. Die Schwierigkeiten bei alttäglichen Verrichtungen nehmen zu. Auch das Zeitgefühl geht verloren. Es kommt zu Persönlichkeitsveränderungen mit Wechsel von unruhigen und auch apathischen Phasen. Topographisch treten die Hirnregionen der Orientierung sowie der Sprache und des Verstehens hinzu. Im fortgeschrit‐ 72 1 Klinische Medizin <?page no="73"?> tenen Stadium kommt der Kontrollverlust hinzu. Höheren Funktionen des Essens, des Laufens und der Toilettenbenutzung gehen mehr und mehr verloren, die Pflegebedürftigkeit nimmt zu. Das Gedächtnis kann keine neuen Informationen mehr speichern. Das gesamte Gehirn schrumpft um bis zu 20 %. Die Diagnostik stützt sich auf die mentalen Tests und die bildgebende Diagnostik. Umfangreiche Laboranalysen grenzen internistische Erkran‐ kungen ab, die ursächlich für kognitive Leistungseinschränkungen sein können. Eine kausale Therapie einer Alzheimer-Demenz gibt es nicht. Durch Antidementiva können Neurotransmitter ausgeglichen werden. Eine klinisch merkliche Besserung von Gedächtnisstörung und in der Alltagskompetenz lassen sich bei etwa einem Drittel der Patienten erzielen. Bei mehr als 20-30 % der Patienten lässt sich der kognitive Abbau nicht verhindern, es verschlechtert sich. In der Behandlung ist es wichtig, andere Medikamente und Substanzen zu vermeiden, die die kognitiven Funktionen beeinträchtigen. Die sozialmedizinische Behandlung adressiert die psychischen Sym‐ ptome und Verhaltensauffälligkeiten. Es erscheint dabei wichtig und not‐ wendig die Patienten im emotionalen Leben zu unterstützen. Das Erinne‐ rungsvermögen an individuelle biographische Ereignisse sind sehr gut erhalten und lassen eine Überleitung in die aktuelle Situation zu. Auch alte Gegenstände und Fotoalben führen die Patientinnen und Patienten in ihre Individualität, die sie oft im Rahmen der Demenz als bedroht fühlen. Es erscheint ebenso wichtig, klare Abläufe und Rituale zu gestalten, die eine Orientierung im Tagesablauf bieten und durch Bewegungs- und Beschäftigungstherapie zu ergänzen wären. Das Ziel ist die Schaffung einer sicheren und stimulierenden Umgebung sowie die Unterstützung in den Alltagskompetenzen. Somatischen, altersbedingten Komplikationen sind frühzeitig zu begegnen und zu intervenieren. Praxis | Rudolf A. Die Krankheit verändert. Betroffen sind ältere, aber auch jüngere Menschen. Nach und nach werden die Fähigkeiten geringer und die Eigenständigkeit verliert sich. Rudolf A. ist 62 Jahre alt, als die Diagnose zu stellen war. Zu jung, um daran zu leiden. Durch die Demenz driftet er immer weiter ab und ist im Alltag auf Unterstüt‐ zung angewiesen. Der Bruder war bereits an Alzheimer-Demenz 73 1.6 Demenz <?page no="74"?> erkrankt. Das Siechtum der Mutter konnte er nicht ertragen. Anfangs verheimlichen viele die Erkrankung. Er hatte mit keinem Menschen darüber gesprochen. Dennoch versuchte er durch das Lösen von Kreuzworträtseln dagegen anzukämpfen. Er sei der erste Mensch, der es schafft, diese Krankheit zu besiegen. Er ist ein Macher und wird es immer bleiben. Demenz ist ein unschlagbarer Gegner. Bestehende Strukturen im Alltagsleben als Manager gab es nicht mehr. Es ist spürbar, dass das Gedächtnis schwindet. Sie merken, dass es nicht mehr so gut funktioniert. Das Leben verändert sich. Häufig steht am Anfang eine Depression. Wenn es in der Gesellschaft auffällig wird, kann es einem Menschen lieber sein, man redet darüber, dass ein Glas Wein zu viel getrunken worden sei. The‐ rapien anderer Erkrankungen werden auch von der Familie als Grund der Ausfälle nach außen getragen. Das Bild soll nicht verrutschen. Die Haltung, die Fassade soll beibehalten werden. Im Innern ist es gewahr, was passiert. Es ist aber nicht einzuordnen. Erscheint zu Beginn die Persönlichkeit erhalten, verändert sich diese. Es kommen möglicherweise auch das Weiche und das Verletzliche an die Oberfläche. Angehörige kümmern sich, nehmen sich auch ihre eigenen Freiräume. Freude bemühen sich, jede Erinnerung wach zu halten. Rudolf A. starb im Alter von 74 Jahren. Zusammenfassung | Demenz Physiologischer Alterungsprozess ist von krankhaften Störungen ei‐ ner Demenz zu unterscheiden. Demenz geht mit einer nachhaltigen Verhaltensänderung und Einschränkung der Alltagskompetenz einher. Die Alzheimer-Krankheit stellt die häufigste Ursache einer Demenz dar und ist in verschiedene Phasen zu beschreiben. Medikamentöse Therapien können eine Besserung herbeiführen. Die sozialmedizinische Behandlung adressiert die psychischen Symptome und Verhaltensauf‐ fälligkeiten unter Erhalt von Würde und Sozialgemeinschaft. 74 1 Klinische Medizin <?page no="75"?> Verwendete und weiterführende Literatur Braak, H.; Feldengut, S.; Del Tredeci, K. (2013): Pathogenese und Prävention des M. Alzheimer. In: Nervenarzt 84, S. 477-482. DOI 10.1007/ s00115-012-3688-1. Drzezga, A.; Sabri, O.; Fellgiebel, A. (2014): Amyloid-Bildgebung: reif für die Rotine? In: Deutsches Ärzteblatt A, S. 1206-1210. Grotian, G. (2019): Meine Mutter schleicht sich aus. Online: www.zeit.de/ kultur/ 20 19-04/ demenz-alzheimer-angehoerige-familie-pflegeheim/ komplettansicht. Kopf, D.; Frölich, L. (2008): Antidementiva: Stellenwert, Wirksamkeit und Gren‐ zen. In: Psychiatrie und Psychotherapie up2date 2, S. 285-300. DOI 10.1055/ s-2008-1067453. Jekel, K.; Wagner, P. (2020): Neuropsychologische Diagnostik bei kognitiven Ein‐ schränkungen. 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Der Rückenschmerz wird in der Medizin als Lumbago bezeichnet, als Folge einer Degeneration oder als funktionelles Schmerzsyndrom. Lumbago beschreibt hier den alleinigen Schmerz im unteren Rücken, lateinisch den lumbalen Bereich. Strahlt der Schmerz entlang der Beinnerven des Nervus ischiadicus (Sitzbeinnerv) in das Bein aus, so werden diese Schmerzen als lumbales Ischiassyndrom oder Ischiassyndrom bezeichnet. 75 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="76"?> Als Ursachen hierzu sind Quetschungen oder Einengungen, vorbeste‐ hende degenerative Erkrankungen, Bandschädigungen oder auch Verände‐ rungen der Bandscheiben oder muskuläre Verspannungen in Betracht. Historischer Kontext Das Krankheitsbild ist schon so alt, wie die Menschheit selbst. Bereits Hippokrates, der 460-370 v. Chr. gelebt hatte, machte eine interessante Beobachtung: Wissen | Krankheitsbild nach Hippokrates „Bei jungen Leuten ist sie von kurzer Dauer, von bis zu 40 Tagen. Es tritt weder Taubheit noch Erkältung der Schenkel und der Lendengegend auf. Bei welchen sich die Krankheit den unteren Partien zuwendet, kann man unbesorgt sein, wendet sie sich den oberen Regionen zu, so hat man Schlimmeres zu befürchten. Bei älteren Leuten ist sie von langer Dauer eines Jahres oder mehr und geht mit Flammen und Lähmung einher. Als Ursache wird ein Fluss an Feuchtigkeiten angenommen, die mit der Nahrung aufgenommen werden und ungenügend ausgeschieden werden.“ Hippokrates (1895-1900), Sämtliche Werke - ins Deutsche übersetzt und ausführlich kommentiert von Robert Fuchs (Lüneberg, München). Es gab also einen Unterschied in der Ausgestaltung und auch Bedeutung der Schmerzen, welcher zeitliche Verlauf sich damit verbindet und welche Bedrohlichkeit sich entwickelt. Bei Apollonius von Kitium, der sich sehr an Hippokrates orientierte und im 1. Jahrhundert. v. Chr. als Chirurg und Medizinschriftsteller wirkte, finden sich Tafeln der möglichen Behandlung von Patienten, die letztendlich Formen der Extensionsbehandlung, also der Dehnung der Wirbelsäule beschreiben. Bildlich kann gesagt werden, dass sich durch Streckung oder Überdehnung die Wirbelkörper wieder ausrichten wie die Kettenglieder einer Kette. Anatomie Die normale Wirbelsäule verfügt über 7 Halswirbelkörper (Halswirbel‐ säule bzw. HWS), die eine leichte Biegung nach vorne ausweisen (Lordose). Die Brustwirbelsäule (BWS) ist aus 12 Brustwirbeln aufgebaut und weist 76 1 Klinische Medizin <?page no="77"?> eine Biegung nach hinten auf (Kyphose). Es folgen die 5 Lendenwirbel (Lendenwirbelsäule bzw. LWS), die eine Lordose aufweisen, dem sich dann das Kreuzbein anschließt, als Teil des Beckenskeletts. Die Wirbelkörper selbst verfügen jeweils über einen Wirbelkörper und Wirbelbogen mit sich anschließenden Quer- und Dornfortsätzen. Im Wirbelloch verläuft das Rückenmark. Die Wirbelkörper sind mit Gelenken und Bandscheiben miteinander beweglich verbunden. Eine Besonderheit sind der Erste Halswirbelkörper (Atlas) und der Zweite Halswirbelkörper (Axis). Während dem Atlas nach oben die Kopfkalotte folgt, verfügt die Axis über einen zackenförmigen Vorsprung (Dens axis), der wie ein Stift nach oben führt und hier mit straffen Bändern eng geführt wird. An dieser Stelle vollzieht sich die seitliche Drehbewegung des Kopfes gegenüber dem Hals. Die Lendenwirbelsäule ist aus relativ großen und kräftigen Wirbelkörpern aufgebaut. Dies ist notwendig, um die zunehmende Traglast des Körpers aufzunehmen und zu verteilen. Sie müssen daher stabil genug sein, während im Halsbereich die Wirbelkörper eher schmal gestaltet sind. Entlang des Kanals des Rückenmarkes finden sich seitlich, fensterartige Öffnungen (Foramen intervertebrale), aus denen die Nerven entspringen, die für die motorische Innervation und die sensiblen Empfindungen verantwortlich sind. Rückenschmerz Gemäß der internationalen Klassifikation ICD-10 „M54 Rücken‐ schmerz“ handelt es sich hier um einen unspezifischen Schmerz im Bereich der ganzen Wirbelsäule mit teils nachzuweisender Aus‐ strahlung in das Bein. Nicht gemeint sind ein Bandscheibenvorfall, eine Fraktur bei manifester Osteoporose, spezifische entzündliche Darmerkrankungen, schwere Gefäßerkrankungen oder auch schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die alle auch als Symptom einen Rü‐ ckenschmerz aufweisen können. Es gibt noch eine ganze Anzahl weiterer Erkrankungen, die mit dem Symptom Rückenschmerz einhergehen. Hier entwickeln sich andere dia‐ gnostischen Wege und therapeutische Ansätze. Die Ausstrahlung des Schmerzes kann auch zu Ausfallserscheinungen der Nerven entsprechend der Nervenaustrittspunkte an der Wirbelsäule (Foramen intervertebrale) sowohl im motorischen Bereich als auch im Bereich der Sensibilität nachgewiesen und je nach Ausprägungsart in ihrer 77 1.7 Rückenschmerz <?page no="78"?> Entstehung unterschieden werden. Bei der ärztlichen Untersuchung kann eine Schädigung allein durch unterschiedliche Tests verortet und die Ursache eingegrenzt werden. Das ist ein wesentlicher Bestandteil der Untersuchung, um Rückenschmerz gegenüber einem Bandscheibenvorfall zu unterscheiden. Epidemiologie Rückenschmerzen (ICD-10 M54) und Knieschmerzen ICD-10 M17) stellen die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit dar. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen In den Jahren 2003-2011 wurden nach Schätzungen etwa 18,6-23,7 Mio. Tage der Arbeitsunfähigkeit attestiert. Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) gehören auch zu den wichtigsten Gründen für eine vorzeitige Erwerbsunfähigkeit. Sozialmedizinisch ist dies von größter Bedeutung. Etwa ein Drittel der Bevölkerung beklagt aktuell Rückenschmerzen (Punktprävalenz). Die Jahresprävalenz wird mit 60 % eingeschätzt und die Lebenszeitprävalenz mit 80-100 % angenommen. Dies macht etwa 50 Mrd. Euro Gesamtkosten pro Jahr aus, die sich nahezu zu gleichen Teilen in medizinische Kosten und soziale Folgekosten aufteilen. Das entspricht etwa 2,2 % des Bruttoinlandproduktes. Beispielhaft aus 2008 sei gezeigt, dass die Arbeitsunfähigkeit mit dem Alter ansteigt. Eine genderabhängige Komponente ist fraglich einzuschätzen, da möglicherweise eher das männliche Geschlecht auf die Erteilung einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung angewiesen ist. Nicht‐ berufstätige Frauen bedürfen keiner Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung. Interessant ist die Arbeit von Liebers und Brendler et al. (2013), die sehr diffe‐ renziert das Morbiditätsrisiko betrachten. Sie kommen zu den Kernaussagen: ● Berufsgruppen der Produktion und des Dienstleistungsbereiches mit geringem und mittlerem Qualifikationsniveau sind besonders gefährdet. ● Generelle Zunahme der Inzidenz und Prävalenz degenerativ bedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen in Kombination mit dem gleichbleiben‐ den berufsbezogenen Risiko in Berufen der Produktion und des Dienst‐ leistungsbereiches. 78 1 Klinische Medizin <?page no="79"?> ● Bei der geplanten Verlängerung der Lebensarbeitszeit über das 65. Lebensjahr hinaus in diesen Berufen ist mit einer weiteren deutlichen Zunahme der absoluten Zahl der Arbeitsunfähigkeitsereignisse allein in diesen beiden Erkrankungen zu rechnen. Die Arbeitsgruppe gibt aber auch zu bedenken, dass psychosoziale As‐ pekte in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt wurden. Es handelt sich um eine Untersuchung um Arbeitsunfähigkeit mit einer in der Regel damit verbundenen Tätigkeit von um die 40 h pro Woche. Die weiteren Tätigkei‐ ten, Erlebnisse und Lebensumstände wurden in dieser Untersuchung nicht betrachtet. Dennoch sind die Kernaussagen zu beachten und interessant. Krankheitsbild Der Rückenschmerz kommt plötzlich beim Anheben einer Getränkekiste und aus völliger Gesundheit heraus. Auch beim Einstecken eines Bettlakens in das Bett schießt dieser Schmerz plötzlich ein. Das ist der berüchtigte „Hexenschuss“, der mit einem heftigen Schmerzereignis einhergeht. Jede und auch jede Bewegung tut weh. Man kann sich kaum und teils auch garnichtmehr bewegen. Bei der Anamnese ist auf Details zu achten. Wie war der Schmerzbeginn? Wie hat es sich entwickelt? Gab es auslösende Faktoren oder einen Unfall? Besteht ein Krankheitsgefühl oder hat sich Fieber entwickelt als Zeichen einer entzündlichen Erkrankung? Wo genau findet sich der Schmerz und wohin strahlt dieser aus? Werden Lähmungserscheinungen empfunden oder finden sich Gefühlsstörungen im Bereich der Beine oder auch im Intimbereich? Wie ist es um die Blasenfunktion oder Mastdarmfunktion bestellt? Wie ist es um die Sexualfunktion bestellt? Gab es vormals Wirbel‐ säulenerkrankungen oder auch bereits Operationen? Zur Graduierung des Schmerzes haben sich verschiedene Verfahren etabliert. Bei der visuellen Analog-Skala (VAS) haben die Patienten den Punkt ihres Schmerzes an einer Linie zu markieren. Die sprachliche Kom‐ ponente stellte die numerisch ausgerichtete Skala (NRS) dar, in der die Patienten dem Schmerz einen Wert von 0 (kein Schmerz) bis 10 (stärkster Schmerz) einzuschätzen haben. Diese Skala hat sich bei bewusstseinsklaren Patienten am besten bewährt. Es ist aber auch zu beachten und zu beobach‐ ten, dass einige Patienten die Fragestellung nicht verstehen. Hier hat sich die verbale Analog-Skala (VRS) bewährt. Dann gibt es noch smiley-assoziierte 79 1.7 Rückenschmerz <?page no="80"?> Skalierungen, die sich für Kinder gut anbieten. Besonderheiten gibt es bei Demenzerkrankten und bei Kleinstkindern. Dort orientiert man sich bei der Schmerzeinschätzung am Verhalten. Schmerzerleben ist jedoch sehr subjektiv. In einer portugiesischen Studie wurden 127 Studierende gebeten. ihr Schmerzerleben zu beschreiben, wenn sie ihre Arme in Wasser unterschiedlicher Temperatur gehalten haben. Es war allesamt kaltes Wasser kurz oberhalb des Gefrierpunktes. Hierzu wurden unterschiedliche Skalierungssysteme verwendet. Es zeigte sich bei einer doch deutlichen Varianz eine lineare Beziehung zwischen niedrigen Temperaturen und höheren Temperaturen. Eine andere Untersuchung frug nach dem Schmerzerleben bei Bewegung im Bett. Ausgehend davon, dass das Schmerzerleben subjektiv erlebt wird, lassen sich Patienten mittels Schmerzempfindlichkeitsbogen in Gruppen einteilen: in jene die ein leichtes Schmerzerleben haben, von denen, die kein so starkes Schmerzerleben haben. Die Patienten waren aufgefordert nach Standardeingriffen der Chirurgie wie Leistenbruch oder Gallenblasen‐ operation sich im Bett zu bewegen. Hierbei zeigte sich, dass alle eine Zunahme im Schmerzerleben aufwiesen. Diejenigen, die initial ein leichtes Schmerzerleben hatten, zeigten eine stärkere Veränderung auf als jene, die Schmerzen nicht so stark empfinden. Es gibt in der Beurteilung auch Ursachen zu beachten, die mit in Betracht zu ziehen sind. Hier ist eine unvollständige Auflistung: ● extreme körperliche Anstrengung, ● plötzlich einsetzendes Schmerzereignis (Aortendissektion, Spontanp‐ neumothorax), ● Tumorerkrankungen (Korrelation mit bei der Untersuchung entdeckten Operationsnarben! und evtl. erfolgte Strahlentherapien), ● genetisch prädisponierende Erkrankungen (Marfan-Syndrom, Gefäß‐ dissektion), ● Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus), Infektionskrank‐ heiten in der aktuellen oder früheren Vergangenheit (Tuberkulose, Bruzellose, Borreliose eitrige Angina, Zahninfekte, Endokarditis), Im‐ munsuppression, ● kardiovaskuläre Erkrankungen/ Medikamentenliste, Antikoagulation (einschließlich Gründe für diese), ● bekannte Osteoporose oder Risikofaktoren für eine solche (z. B. Steroide). 80 1 Klinische Medizin <?page no="81"?> Die klinische Untersuchung orientiert nach den Grundlagen einer jeden ärztlichen Untersuchung mit Inspektion, Palpation, Perkussion und Funkti‐ onsprüfung. Es folgt die neurologisch orientierte Untersuchung. Wissen | Definition Der Kreuzschmerz nach nationaler Versorgungsleitlinie ist definiert als ein Schmerz im Rückenbereich unterhalb des Rippenbogens bzw. oberhalb der Gesäßfalten, mit oder ohne Ausstrahlung in die Beine ohne Hinweis auf eine spezifisch neurologische Ursache. Hierbei wird ein akuter Kreuzschmerz (weniger als 6 Wochen) von subakuten Schmerzen von mehr als 6 Wochen unterschieden. Von chronischen oder chronisch rezidivierenden Kreuzschmerzen sprechen wir, wenn der Schmerz mehr als 12 Wochen besteht, wobei auch zu beachten ist, dass die Schmerzen variieren können. Die nationale Versorgungsleitlinie unterscheidet sog. rote Flaggen von den gelben Flaggen. Rote Flaggen weisen auf eine schwerwiegende Erkran‐ kung und notwendig weiterführende Diagnostik hin. Dies betrifft die großen Themen Unfallfolgen (Trauma), Tumorleiden oder infektiöser Prozess sowie die neurologische Schädigung wie bei Bandscheibenvorfall (→ Abb. 12.). Gelbe Flaggen weisen auf eine komplexe Einordnung im Lebensumfeld hin. Beim Erstkontakt sind diese nicht so leicht zu evaluieren und es bedarf einfach mehr Zeit und auch Erfahrung, um diesem Aspekt wirklich gewissenhaft zu begegnen: ● psychische Faktoren - Depressivität, Distress, schmerzbezogene Kogni‐ tion, Schmerzverhalten, Neigung zur Somatisierung, ● berufliche Risikofaktoren - schwere körperliche Arbeit, monotone Körperhaltung, Vibrationsexposition, geringe berufliche Qualifikation, berufliche Unzufriedenheit, Verlust des Arbeitsplatzes, Kränkung am Arbeitsplatz, chronischer Arbeitskonflikt, ● iatrogene Risikofaktoren - mangelnde Respektierung der multikausa‐ len Genese, Überbewertung radiologischer Befunde, Krankschreibung übertriebener Einsatz diagnostischer Maßnahmen 81 1.7 Rückenschmerz <?page no="82"?> Trauma Tumorleiden fortgeschrittenes Stadium Radikulopathie/ Neuropathie • Unfaller‐ eignis • Bagatelltrauma bei Osteopo‐ rose • Steroidtherapie • Alter • Tumoranamnese • Gewichtsverlust • Leistungsminde‐ rung • Schmerzen in Rückenlage • nächtlicher Schmerz • Fieber • Schüttelfrost • bakterielle In‐ fektion • Infiltrationsbe‐ handlung • nächtlicher Schmerz • konsumierende Grunderkran‐ kung • Immunsuppres‐ sion • Gefühlsstörungen im Schmerzaus‐ breitungsgebiet oder Schwächege‐ fühl in der unteren Extremität • plötzlich einset‐ zende Blasen- und Mastdarmfunk‐ tion • Gefühlsstörungen perianal/ perineal • ausgeprägtes zu‐ nehmendes neu‐ rologisches Defi‐ zit bis hin zur Lähmung Abb. 12: Warnhinweise aus dem somatischen Bereich (red flags), die zu einer weiterfüh‐ renden unmittelbaren bildgebenden Diagnostik eines Kreuzschmerzes Anlass geben (na‐ tionale Versorgungsleitlinie nicht-spezifischer Kreuzschmerz 2017, Bundesärztekammer (BÄK)). Die bildgebenden Verfahren wie die konventionelle Röntgenuntersu‐ chung, Comuputertomographie und Magnet-Resonanz-Tomographie erlau‐ ben eine Eingrenzung der Erkrankung und dienen zur spezifischen Therapie. Neben eines Basislabors ergeben sich weitere laborchemische Untersuchun‐ gen, die zur Klärung der weiteren Differentialdiagnosen dienen. Therapie Die bereits zitierte nationale Versorgungsleitlinie beschreibt insbesondere, dass die Bettruhe nicht erforderlich ist. Das mit dem Schmerz verbundene Immobilitätssyndrom war vielfach Begründung der Notwendigkeit der Ein‐ leitung einer stationären Behandlung mit initialer Bettruhe und spezieller Lagerung bei begleitender schmerzlindernder Therapie. In der Regel wird auf eine frühzeitige Mobilisation der Patientinnen und Patienten geachtet. Eine initiale Bettruhe erscheint jedoch nicht nachteilig. Die analgetische Therapie orientiert sich nach dem WHO-Stufen‐ schema. Das System ist aufeinander aufbauend und beginnt mit sogenann‐ 82 1 Klinische Medizin <?page no="83"?> ten peripheren Schmerzmitteln (Analgetika). Sie entwickeln ihre analge‐ tische Wirkung an der Schmerzentstehung. In der folgenden Stufe werden zusätzlich und additiv schwache Opioide verwendet, die im zentralen Nervensystem ihre Wirkung entfalten und die Schmerzverarbeitung beein‐ flussen. Erst die schwächeren, sodann die stärker wirkenden Medikationen (→ Abb. 13). Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Nicht-Opioidana‐ lagetika schwache Opioi‐ danalgetika Nicht-Opioidanal‐ getika starke Opioidanal‐ getika Nicht-Opioidanal‐ getika invasive Maßnah‐ men Kombination aus den Stufen 1-3 Abb. 13: WHO Stufenschema zur Schmerztherapie (mod. nach Grifka/ Kuster, Orthopädie und Unfallchirurgie (Springer 2012)) Bezüglich der begleitenden nichtmedikamentösen Therapie sind eine ganze Anzahl von Therapieoptionen zu benennen. Zweifelsfrei ist Rücken‐ schmerz in der Summe schwer zu adressieren und beinhaltet Komponenten der Schmerzmitteltherapie und der begleitenden nicht-medikamentösen Therapie. Aus den ganzen Möglichkeiten ist die für die Schmerzklagenden beste Therapieoption auszuwählen und - so muss man es auch formulieren - auszuprobieren. Es ergeben sich aber Hinweise, dies einzusortieren. In einer Publikation erfolgte eine multimodale stationäre Schmerztherapie im biopsychosozialen Ansatz. Es zeigte sich hierunter eine signifikante Besserung hinsichtlich ein‐ hergehender Schmerzen und auch Funktion sowohl bei chronischen Halswir‐ belsäulenschmerzen (HWS-Schmerzen) als auch Lendenwirbelsäulenschmer‐ zen (LWS-Schmerzen). Dieser Effekt war nachhaltig zu beschreiben. Die Ergebnisse eines Cochrane Reviews belegen einen positiven Effekt der progressiven Muskelentspannung auf Schmerzen und verhaltensbezogene Endpunkte (z. B. Verhalten in Bezug auf Schmerz bzw. Pain Behaviour, Angst, Depression) bei Personen mit chronischem nichtspezifischem Kreuz‐ schmerz (Cochrane Reviews sind systematische Übersichtsarbeiten, in de‐ nen die Wirksamkeit und Eignung medizinischer Behandlungsmethoden untersucht werden). Weiterhin konnte eindeutig gezeigt werden, dass die Kombination von progressiver Muskelentspannung und kognitiver Therapie einen kurzen, mittelgroßen positiven Effekt auf den Schmerz hat. 83 1.7 Rückenschmerz <?page no="84"?> In einer weiteren Untersuchung erfolgte in einer multizentrischen Studie die ergänzende Verhaltenstherapie in der einen Hälfte der Gruppe zusätzlich zur Beratung. Zusammenfassend zeigte sich hier, dass kognitive Verhaltens‐ therapie bei Patienten mit subakuten und chronischen Rückenschmerzen wirksam und kosteneffektiv sei. Das sich entwickelnde Konzept der neuen Rückenschule vereinigt Ele‐ mente der Entspannung und Einführung in das Thema, der Edukation und der Verhaltenstherapie sowie der Übungsbehandlung, Funktionstraining und Bewegungstherapie. Es stellt ein ganzheitliches Konzept der Behand‐ lung dar. Es folgt eine Langzeitversorgung mit ausgleichenden Sportarten und Veränderung des Lebensstils. Zusammenfassung | Rückenschmerz Unspezifische Rückenschmerzen sind weit verbreitet, stellen eine häufige Ursache für Arbeitsunfähigkeit dar und sind von gesamtge‐ sellschaftlicher Bedeutung. In der Behandlung sind unspezifische Rü‐ ckenschmerzen von spezifischen Erkrankungen mit zielgerichteten Therapiemaßnahmen zu unterscheiden. In der Therapie des unspezifi‐ schen Rückenschmerzes sind neben einer analgetischen Therapie, Phy‐ siotherapie Funktionstraining und Bewegungstherapie auch edukative und verhaltenstherapeutische Aspekte zu adressieren. Verwendete und weiterführende Literatur Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsge‐ meinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale Versorgungs-Leitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz - Kurzfassung, 2. Auflage. Version 1. 2017. DOI: 10.6101/ AZQ/ 000377. Chenot, J. F.; Greitemann, B; Kladny, B.; Petzke, F.; Pfingsten, M.; Schorr, S. G. (2017): Clinical practice guideline: Non-specific low back pain. In: Deutsches Ärzteblatt International 114, S. 883-890. DOI 10.3238/ arztebl.2017.0883. Duchow, J.; Schlöricke, E.; Hüppe, M. (2013): Selbstbeurteilte Schmerzempfindlich‐ keit und postoperativer Schmerz. In: Schmerz 27, S. 371-379. Götz, J.; Linhardt O.; Grifka J.: Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie. In: Grifka, J.; Kuster, M. (Hrsg.) (2016): Orthopädie und Unfallchirurgie, Sprin‐ ger-Verlag, Berlin ISBN-13: 978-3-642-23110-3, Seite: 70-77. 84 1 Klinische Medizin <?page no="85"?> Kirchhoff, D.; Knopf, S., Ferreira-Valente, M. A.; Pais-Ribeiro, J. L.; Jensen, M. P. (2011): Validity of four pain intensity rating scales. In: PAIN 152, S. 2399-2404. Böckelmann, L. (2016): Krafttrainingstherapie bei männlichen Polizeibeamten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen. In: Zbl. Arbeitsmedizin 66, S. 10-19. Kuntz, B.; Hoebel, J.; Fuch, J.; Neuhauser, H.; Lmpert, T. (2017): Soziale Ungleichheit und chronische Rückenschmerzen bei Erwachsenen in Deutschland. In: Bundes‐ gesundheitsblatt 60, S. 783-791. Liebers, F.; Brendler, C.; Latza, U. (2013): Alters- und berufsgruppenabhängige Unter‐ schiede in der Arbeitsunfähigkeit durch häufige Muskel-Skelett-Erkrankungen; Bundesgesundheitsblatt 56, S. 367-380. Neubauer, E.; Zahlten-Hinguranage, A.; Schiltenwolf, M.; Buchner, M. (2006): Mul‐ timodale Therapie bei chronischem HWS- und LWS- Schmerz. Ergebnisse einer prospektiven Vergleichsstudie, In: Schmerz 20, S. 210-218. Reith, W.; Nabhan, A.; Kelm, J.; Naumann, N.; Ahlheim, F. (2006): Differenzialdiag‐ nose des Rückenschmerzes. In: Radiologe 46, S. 443-453. Tutzschke, R.; Anders, C.; Borys, C.; Nodop, S.; Rößler, O.; Strauß, B.; Scholle, H. C. (2014): Evaluation der Neuen Rückenschule. Muskulär-physiologische Merkmale. In: Schmerz 28, S. 166-174. 1.8 Alterstraumatologie Die Alterstraumatologie beschäftigt sich mit den Verletzungen vorwiegend älterer Patientinnen und Patienten. Vornehmlich sind es die schweren akuten und chronischen Begleiterkrankungen, die in der Behandlung mit‐ berücksichtigt werden müssen. Die Hüftgelenksnahe Fraktur stellt in der Alterstraumatologie eine besondere Herausforderung dar. Sie ist nach der Handgelenksfraktur, der Sprunggelenksfraktur und der Oberarmkopffrak‐ tur die häufigste knöcherne Verletzung des Menschen. Bei älteren Patienten stellt diese Verletzung eine schwerwiegende und nachhaltige Körperschä‐ digung dar - mit weitreichenden Folgen. Praxis | Imerta W. in der Notfallambulanz Frau Imerta W. (91) wird mit dem Rettungswagen in die Ambulanz gebracht. Beim Abräumen des Mittagessens sei sie an einer Türschwelle auf dem Weg vom Esszimmer in die Küche gestolpert und auf die rechte Hüfte gestürzt. Seither habe sie heftige Schmerzen und könne auch 85 1.8 Alterstraumatologie <?page no="86"?> nicht mehr aufstehen. Sie leide an einer chronischen Herzinsuffizienz, einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus und an einer chronischen Nierenfunktionsstörung. Die Arthrose an den Gelenken seien ihr sehr beschwerlich. Seit dem Tod ihres Mannes lebe sie alleine im Haus. Zweimal in der Woche käme eine Haushaltshilfe. Der Kontakt zu ihren Kindern ist gut, sie leben in derselben Stadt. Die Ärztin untersucht Imerta W. und kümmert sich um ihre Schmerzen. Eine Blutuntersuchung wird eingeleitet. Im Röntgenbild des Beckens und der rechten Hüfte ist ein Bruch des Hüftgelenkes schnell zu erkennen. Anatomie des Hüftgelenkes Das Hüftgelenk wird aus dem Oberschenkelkopf und der Hüftgelenks‐ pfanne des Beckens gebildet. Zahlreiche kräftige Bandstrukturen umschlie‐ ßen das Gelenk. Ebenso ist das Hüftgelenk in einen komplexen muskulären Apparat eingeschlossen. Die Form des Hüftgelenkes ist ein klassisches Kugelgelenk. Durch die große Pfanne und die straffe Führung des Gelenkes ist das Bewegungsausmaß begrenzt. Die arterielle Hauptversorgung der hüftgelenksnahen Oberschenkel‐ region erfolgt aus umschließenden Arterien der Beinschlagader. Über die eine eigene Schlagader, die über ein zentrales Band in den Oberschenkelkopf führt, wird der obere Anteil des Hüftkopfes versorgt. Aus dem rücken‐ marksnahen Nervengeflecht des unteren Rückens entwickelt sich der Beinnerv (Nervus femoralis), der durch die Gefäßpforte unterhalb des Leistenbandes geführt wird. Gesellschaftliche Einordnung Die Verletzung des Hüftgelenkes ist vornehmlich eine Erkrankung des ho‐ hen und höheren Alters und nimmt stetig zu. Ursache ist die demographi‐ sche Entwicklung mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Die Anzahl an Versorgungen hüftgelenksnaher Frakturen in Hessen hat in den vergangenen Jahren zugenommen, wobei sich in Hessen 86 1 Klinische Medizin <?page no="87"?> eine Stabilisierung zeigt (→ Abb. 14). Möglicherweise deutet sich ein leichter Rückgang an. Aus prognostischen Kennzahlen aus 2005 lässt sich die Entwicklung ableiten. In der Rückschau sind diese Daten dem Grunde nach zu bestätigen. Demnach zeigt sich insgesamt ein stetiger Anstieg der Fallzahlen. Aufgrund der demographischen Alters‐ entwicklung infolge des Krieges und der Nachkriegszeit zeigen die Häufigkeitsverteilungen je Dezenium einen unterschiedlichen Verlauf. 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 6922 7104 7236 7417 7210 7137 7451 7736 8189 8228 8419 8207 8511 6922 7104 7236 7417 7210 7137 7451 7736 8189 8228 8419 8207 8511 Anzahl hüftgelenksnaher Frakturen Abb. 14: Versorgung hüftgelenksnaher Frakturen in Hessen 2007-2019 (Geschäftsstelle Qualitätssicherung Hessen). Je nach Klinikstandort treten unter Berücksichtigung der Lebensregion auch Unterschiede auf. In einer Sozialraumanalyse mit Prognose für das Jahr 2035 zeigt sich für die Stadt Idstein im Taunus ein überproportionaler Anstieg der Bevölkerung im Vergleich zum Land Hessen. Die Stadt nimmt immer mehr Bürgerinnen und Bürger auf. Die Verkehrsanbindungen an Wiesbaden und Frankfurt am Main aber auch Mainz sind günstig. Es ist eine Mittelstadt mit einer historischen Altstadt und ländlicher, waldreicher Umgebung. Der Zuwachs ist durch junge Familien vornehmlich zu beschreiben, denen die Elterngeneration folgt. Altenpflegeinrichtungen sind etabliert. Aus den Da‐ ten zeigt sich eine deutliche Steigerungsrate der Bürgerinnen und Bürger ab einem Alter von 65 Jahren und mehr. Stadtentwicklung und demographische Entwicklung tragen zu dieser Tendenz bei. 87 1.8 Alterstraumatologie <?page no="88"?> Verletzungsformen Die knöcherne Verletzung des hüftgelenknahen Oberschenkels wird unter‐ schieden in eine Femurkopf-Fraktur, die eher bei Kindern auftreten kann und selten auftritt. Ihr folgt die Schenkelhalsregion, der sich dann die Trochanterregion, die Region der großen und kleinen Rollhügel des Oberschenkelknochens, anschließt. Es folgen dann die subtrochanteren Verletzungen. Also jene Verletzungen unterhalb der Rollhügel. Die arterielle Versorgung des Hüftgelenkes erfolgt einerseits zentral durch eine Arterie, die direkt von oben in den Schenkelhals geführt wird (A. lig. capitis femoris). Diese übernimmt - grob beschrieben - etwa ein Fünftel der Blutversorgung des Oberschenkelkopfes. Von unten kommen die arteriellen Gefäße aus den umfahrenden Arterien (Aa. Circumflexa femoris lateralis et medialis). Infolge der Verletzung dieser Region und der zuführenden Gefäße ist die Blutversorgung insgesamt gefährdet. Das hat Bedeutung für die Therapie. Wissen | AO-Klassifikation Die AO-Klassifikation ist eine einheitliche Klassifikation der Verlet‐ zung, die auf eine Vereinbarung der Arbeitsgemeinschaft für Osteosyn‐ thesefragen (AO) aus den etwa 1960er-Jahren gründet. Die Grundsys‐ tematik ist überschaubar. Bei den gelenkbeteiligenden Verletzungen werden die extraartikulären Verletzungen (A) von den partiell artiku‐ lären Verletzungen (B) und von den reinen Gelenkverletzungen unter‐ schieden (C). Die alleinig auf das Gelenk bezogenen Verletzungen sind extrem selten und werden hier nicht betrachtet. Neben der AO-Klassi‐ fikation werden bei der Schenkelhalsfraktur die Pauwels-Einteilung und die Garden-Klassifikation verwendet. Sie haben Einfluss auf die Therapie. Die Klassifikationen nach Pauwels und Garden beziehen sich auf die Schenkelhalsfraktur. Beim Typ Pauwels I handelt es sich um eine eher horizontal verlaufende Frakturlinie (< 30°). Beim stehenden Patienten kommt es hier zu einer Einstauchung der Fraktur senkrecht auf die Knochenbruchebene. Diese wird als stabil gewertet und zeigt auch eine spontane Ausheilung ohne die Notwendigkeit der Operation. In Einzelfällen ist dies auch zu beobachten und die Patienten profitieren von der nicht erforderlichen Operation. Ihr 88 1 Klinische Medizin <?page no="89"?> Anteil ist sehr klein und dennoch neigen diese Verletzungsformen zu einer Sekundärdislokation. Es lohnt sich jedoch, hier zunächst ein beobachtend konservatives Vorgehen einzuleiten. Eine nicht zwingend durchzuführende Operation einer hüftgelenksnahen Fraktur geht eher mit einer geringeren Morbidität und Mortalität einher. Zeigt sich eine steile Ausbildung der Fraktur mit einem Winkel von über 70 ° wie bei Pauwels III, so kommt es unter Belastung zu einer Verschiebung der Fragmente. Sie gleiten aneinander vorbei und der Trochanter steigt weiter nach oben. Eisschollengleich kommt es zum Versatz. Diese Verschie‐ bung entsteht alleine schon durch die muskulären Zugmechanismen. Eine operative Versorgung ist hier erforderlich. Eine Etage tiefer, in der Region der Rollhügel findet gerne die AO-Klassi‐ fikation Verwendung. Die Verletzungsform nach AO werden im klinischen Alltagsleben mit A1 bis A3 beschrieben. A1 Frakturen beschreiben eine einfache Fraktur (im Sinne einer einzelnen Frakturlinie), während die A3-Fraktur eine komplexe mehrdimensionale Frakturform beschreibt. Begleiterkrankungen Der hüftgelenksnahen Verletzung geht ein Sturz voraus. Die Patientinnen und Patienten sind hingefallen … sie sind aber auch durch verschiedene Erkrankungen und Leiden, die das Leben so mit sich bringen, hinfällig geworden. Das erlittene Trauma aber auch die erforderliche Versorgung mit dem daraus resultierenden operativen Trauma und die Narkose tragen zur Schwere der Erkrankung bei. Es tritt die Zeit der Rekonvaleszenz hinzu. Für die Betroffenen zeigt sich also ein langer und ein teils schwieriger Weg der Genesung. Der Gesamtverlauf einer hüftgelenksnahen Fraktur ist gekennzeichnet durch ● Verletzung, ● die Begleiterkrankungen, ● die erforderliche (operative) Therapie, ● die Rekonvaleszenz. Es liegen vielfach zahlreiche systemische Begleiterkrankungen vor. Diese Gesundheitsprobleme begleiten Patienten in ihren Leiden und müssen adressiert werden. Es sind Erkrankungen des zentralen Nervensystems, des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge. Die metabolischen Erkrankungen, 89 1.8 Alterstraumatologie <?page no="90"?> die verschlechterte Nierenfunktion und bestehende Erkrankungen des Ge‐ fäßsystems treten hinzu. Osteoporose schränkt die Stabilität des Knochens ein, so dass bereits nach einem Stolpersturz die Kräfte ausreichen, um den Knochen zum Zerbersten zu bringen. Es kommen aber auch sehr schwierig beschreibende Elemente der Angst, der Inaktivität, der muskulären Imbalance, des Mobilitätsverlustes, der Störung des Gleichgewichtes, der Tiefensensibilität (Propriozeption) hinzu, die sich komplex in dieses Geschehen einfügen. Die Sturzneigung im Alter stellt ein erhebliches Problem dar, deren Kausalität selten herzuleiten und zu klären ist. Somit ist der Schwindel oft nicht ursächlich zu adressieren. Der Aachener Sturzpass stellt ein einfaches anamnestisches Testverfahren dar, um Schwindelproblematik und die damit einhergehende Stand- und Gangunsicherheit im Selbsttest einzuordnen. Symptome Das klinische Bild der hüftgelenksnahen Fraktur ist typisch. Es zeigt sich ein außenrotiertes verkürztes Bein mit Bewegungsschmerzhaftigkeit. Die Messung der Vitalparameter grenzt die akute bedrohliche Situation ab. Eigen- und Fremdanamnese lassen die Begleiterkrankungen verorten. Die laborchemischen Untersuchungen detektieren wichtige Parameter, und Begleiterkrankungen, die auch aktuell zu adressieren sind. Die Fraktur geht teils mit einem erheblichen Blutverlust auch infolge der erforderlichen Behandlung einher. Diesbezüglich ist die Hämotherapie zu beachten. Eine EKG-Untersuchung weist auf kardiale Ereignisse hin. Eine frühzeitige Inan‐ spruchnahme der Inneren Abteilung oder der Geriatrie stellen wesentliche flankierende Maßnahmen dar. Zur Diagnosesicherung genügt in der Regel die Röntgenübersichtsauf‐ nahme. Hiermit lässt sich auch die definitive operative Therapie planen. In besonderen Situationen ist die Diagnostik durch Computertomographie zu ergänzen. Das ist dann der Fall, wenn in der konventionellen Röntgenauf‐ nahme eine Fraktur nicht sicher zu beurteilen ist. Andere Fragestellungen sind Aufbau und Struktur der Verletzung, die eine operative Strategie beeinflussen können. 90 1 Klinische Medizin <?page no="91"?> Operative Versorgung Zur Versorgung kommt eine ganze Anzahl von Möglichkeiten in Betracht. Bei der intramedullären Nagelosteosynthese (Gamma-Nagel) wird die axiale Belastung entlang der Schenkelhalsschraube umgeleitet. Hierdurch kommt es zur Kompression der plan zueinander liegenden Frakturflächen. Die Kompression stellt einen Reiz zur Osteoinduktion (Mechanotransduk‐ tion) dar. Die Versorgung erlaubt in der Regel eine Vollbelastung. Bei der Schenkelhalsfraktur kommen gelenkersetzende Gefahren zumeist zur Anwendung, seltener die kopferhaltenden oder konservativen Verfahren (→ Abb. 15). Nagelsystem und dessen Prinzip Axiale Belastung wird entlang der Schenkelhalsschraube umgeleitet. Hierdurch kommt es zur Kompression der plan zueinander liegenden Frakturflächen. Die Kompression stellt einen Reiz zur Osteoinduktion (Mechanotransduktion) dar. Die Versorgung erlaubt eine Vollbelastung. Abb. 15: Prinzip der osteosynthetischen Versorgung einer pertrochantären Femurfraktur mittels intramedullärem Nagel. Akutversorgung Bei der hüftgelenksnahen Fraktur handelt es sich um eine lebensge‐ fährliche Verletzung. Sie ist unmittelbar zu adressieren, insbesondere hinsichtlich der Begleiterkrankungen. Zur Therapieentscheidung ste‐ 91 1.8 Alterstraumatologie <?page no="92"?> hen Algorithmen zur Verfügung. Einer frühzeitigen Versorgung wird eine Minderung der Mortalität (Letalität) zugeschrieben. Verschiedene Studien untermauern die Annahme, dass sich die Dringlich‐ keit der adäquaten Behandlung an die Einschätzungen der Myokardin‐ farkt- oder Schlaganfallbehandlung angleicht. Zeitweilig ist jedoch eine präoperative Stabilisierung von Organsystemen des Kreislaufes, der Lunge, der Nieren- oder Leberfunktion erforderlich. Auch dies belegen unterschied‐ liche Studien. Insofern ist zu prüfen, ob denn präoperativ die Situation des Patienten in den Bereichen Herz-Kreislauf, Lunge, Nierenfunktion, metabolisches System kurzfristig innerhalb weniger Stunden und Tage eine Verbesserung erzielen lässt. Der operative Aufwand ist umfangreich. Beispiel | operatives Setting Am Beispiel der Versorgung einer hüftgelenksnahen Fraktur unter Verwendung des sog. Gammanagels zeigt sich ein komplexes operatives Setting. Eine ganze Anzahl von Personen ist erforderlich, um diesen Standardeingriff durchzuführen. Vor Durchführung der eigentlichen operativen Maßnahme ist die korrekte Lagerung des Patienten oder der Patientin auf einen sog. Extensionstisch erforderlich. Hierbei wird die betroffene untere Extremität in eine Zugvorrichtung eingespannt. Durch Drehbewegungen und Zug lässt sich die Fraktur reponieren und anatomisch korrekt einfassen. Der Standardhautschnitt ist vergleichs‐ weise klein. Mit dem Zielbügel versehen, wird nach Vorbereitung des Markraumes der Nagel eingeführt. Zentraler Aspekt der Operation ist die korrekte Positionierung der zentralen Schenkelhalsschraube. Dieser Arbeitsablauf ist technisch anspruchsvoll aber entscheidend für das Gelingen der Operation. Wenngleich der operative Eingriff etwa um die 40 Minuten benötigt, so neh‐ men Vor- und Nacharbeiten einen erheblichen Zeitraum ein. Bei komplexen Verletzungen kann sich die Operationszeit jedoch erheblich verlängern. Die mittleren Kosten bzw. Erlöse (je nach Betrachtungsweise Kostenträ‐ ger oder Leistungserbringer) sind unter Berücksichtigung der Materialkos‐ ten ähnlich gelagert. Das stationäre Setting im Hinblick auf die erforderlich stationäre Behandlung unterscheiden sich nicht von der Implantatwahl. 92 1 Klinische Medizin <?page no="93"?> Alle Patienten benötigen im Mittel dieselben Aufwendungen für Pflege und medizinische Maßnahmen. Zur Verhinderung einer mechanischen Komplikation ist die korrekte Positionierung des Systems erforderlich. Neben chirurgischen Kompli‐ kationen werden nichtchirurgische Komplikationen unterschieden. Besondere Beachtung und Bedeutung haben bakterielle Infektionen. Risi‐ kofaktoren, die mit einer erhöhten Infektionsrate einer endoprothetischen Versorgung einhergehen, sind patientenseitig und auch operationsassoziiert zu beschreiben. Die Bluttransfusion wird gezielt eingesetzt. Praxis | Imerta W. in der Notfallambulanz Mittlerweile ist Frau Immerta W. operiert worden. Sie hat sich zügig von der Operation erholt und die Wunde heilt gut. Der Diabetes mellitus konnte gut eingestellt werden und auch die Herzfunktion hat sich gebessert. Die Schmerzen sind gut erträglich und sie kann sich mit dem Rollator auf der Station bewegen. Gemeinsam mit dem Sozialdienst konnte eine geriatrische Rehabilitation eingeleitet werden. Imerta W. hofft darauf, bald wieder Zuhause sein zu können. Rehabilitation Die Rehabilitation ist umfassend und orientiert sich an den Möglichkeiten. Die Rekonvaleszenz orientiert sich hauptsächlich an der Wiedererlangung der Belastbarkeit und der Eigenkompetenz. Sowohl der endoprothetische Ersatz als auch die osteosynthetische Versorgung sind dem Grunde nach so‐ fort belastungsstabil. Ein unmittelbares Aufstehen ist gewünschtes Prinzip und wird durch Physiotherapie und tägliche Pflegemaßnahmen angestrebt. Flankierende Maßnahmen zielen auf Ernährung und Beherrschung der Begleiterkrankungen ab. Zur Einschätzung der Alltagskompetenz stellt der Barthel-Index ein geeignetes Instrument dar. Einzelne Kriterien werden mit einer definierten Punktzahl bewertet, wobei Zwischenwerte nicht zulässig sind. Gemessen wird das, was der Patient tatsächlich im Alltag vollzieht und nicht das, was er potenziell könnte. Je geringer der Punktwert ist, desto pflegebedürftiger ist der Patient. 93 1.8 Alterstraumatologie <?page no="94"?> In den Studien zeigt sich, dass hüftgelenksnahe Verletzungen mit andau‐ ernder Pflegebedürftigkeit oder Mortalität zeitnah einhergehen. Die Mor‐ talitätsrate ist sehr stark altersabhängig. Rehabilitative Maßnahmen zur Erlangung einer Eigenständigkeit im ehemaligen häuslichen Bereich sind von der postoperativen Fähigkeit abhängig. Zeigt sich in der postoperativen Phase ein Barthel-Index von 35 und mehr, erlangen die Patienten im Rahmen der Rehabilitation einen Barthel-Index von 60-65 und mehr, was eine Wiedereingliederung in den häuslichen Bereich gut erlaubt. Dieser Effekt ist auch noch nach einem Jahr gegeben. Im Umkehrschluss zeigt sich bei Werten des Barthel-Indexes von ca. 20-25 auch bei rehabilitativen Maßnahmen kein nachhaltiger positiver Effekt der Alltagskompetenz. Dennoch kann auch hier eine geriatrische Rehabilitation sinnvoll sein. Die Indikation ist differenziert zu stellen und es bedarf der Einzelfallbeurteilung. Die Mortalitätsrate ist alterskorreliert. Männliche Patienten haben ein höheres Risiko. Der präoperative CRP-Wert (C-reaktives Protein) ist ein laborchemischer Marker, der auf eine bestehende entzündliche Reaktion im Organismus hinweist. Ist dieser erhöht, so steigt bei diesen insgesamt das Mortalitätsrisiko. Auch eine vorbestehende Anämie hat einen prognostisch negativen Einfluss. Die ASA-Klassifikation (Grading of Patientes for Surgical Procedures der American Society of Anesthesiologists) ist ein verbreitetes Scoring-System zur Erfassung des körperlichen Zustandes seitens des anaesthesiologischen Fachgebietes. ASA 3 sind Patienten mit schwerer Allgemeinerkrankung. ASA 4 sind Patienten mit einer schweren Allgemei‐ nerkrankung, die eine ständige Lebensbedrohung darstellt. Es zeigt sich eine hohe Korrelation, dass ASA 3 und ASA 4 Patienten ein höheres Sterberisiko haben. Auch bestehende Demenz hat einen negativen Einfluss auf das Ergebnis. Zusammenfassend zeigt sich eine vermehrte Einschränkung in der Kom‐ petenz, die mit dem Risiko einer Notwendigkeit einer dauerhaften Pflege oder mit dem Tod vergesellschaftet ist. Die Wiedereingliederung in den ehemaligen Lebensbereich ist erschwert. Die Sterblichkeitsrate ist durch vorbestehende Erkrankungen erhöht und altersabhängig erhöht. Zusammenfassung | Alterstraumatologie Bei der hüftgelenksnahen Verletzung handelt es sich um eine lebensge‐ fährliche Körperschädigung. Die Versorgung ist effizient und zeitnah durchzuführen. Das peri- und postoperative Risiko ist hinsichtlich 94 1 Klinische Medizin <?page no="95"?> Morbidität und Mortalität hoch und die Wiedereingliederung in den ehemaligen Lebensbereich ist erschwert. Handelt es sich bei der Versor‐ gung im Gesamtkonzept um eine lebensrettende Maßnahme, so ist auch zu beschreiben, dass die Patientinnen und Patienten über diesen Weg ihres Lebens und damit über das Überleben der Verletzung nicht immer dankbar sind. Verwendete und weiterführende Literatur Kolb, G. F.; Weißbach, L. (2015): Demographischer Wandel - Veränderungen in Ge‐ sellschaft und Medizin und Entwicklungstendenzen in der Geriatrie. In: Urologe 54, S. 1701-1709. DOI 10.1007/ s00120-015-4004-z. Lögters, T.; Hakimi, M. (2008): Die geriatrische Frührehabilitation nach hüftge‐ lenksnahem Oberschenkelbruch. In: Unfallchirurg 111, S. 719-726. DOI 10.1007/ s00113-008-1469-x. Lohmann, R.; Haid, K.; Stöckle, U.; Raschke, M. (2007): Epidemiologie und Perspek‐ tiven der Alterstraumatologie. In: Unfallchirurg 110, S. 553-562. DOI 10.1007/ s00113-007-1286-7. Lucke, M.; Stöckle, U.; Lucke, C. (2009): Zur Geschichte von Diagnostik und Therapie hüftnaher Femurfrakturen bis zum Beginn der operativen Therapie. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 42, S. 311-316. DOI 10.1007/ s00391-008-0016-2. Müller, F.; Galler, M. et al. (2017): Analyse von 2000 operativ versorgten proximalen Humerusfrakturen. In: Unfallchirurg. DOI 10.1007/ s00113-017-0386-2. Muhm, M.; Arend, G.; Ruffing, T.; Winkler, H. (2013): Mortality and quality of life after proximal femur fracture—effect of time until surgery and reasons for delay. In: European Journal of Trauma and Emergency Surgery 39, S. 267-275. DOI 10.1007/ s00068-013-0267-5. Muhm, M.; Hillenbrand, H. et al. (2013): Frühkomplikationsrate bei hüftgelenknahen Frakturen. In: Unfallchirurg 118, S. 336-346. DOI 10.1007/ s00113-013-2502-2. Simanski, C.; Bouillon, B. et al. (2002): Welche Prognosefaktoren korrelieren mit der Alltagsaktivität (Barthel-Index) ein Jahr nach hüftgelenksnaher Fraktur? In: Unfallchirurg, S. 99-107. 95 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="96"?> 1.9 Gelenkerkrankungen Praxis | Ewhart J. Herr Ewhart J. (57) hatte vor zwei Jahren einen Motorradunfall, bei dem er sich eine pertrochantere Femurfraktur zugezogen hatte. Seinerzeit wurde dies mit einem Nagel versorgt. Zwischenzeitlich ist der Bruch geheilt, er hat jedoch immer mehr Schmerzen und wendet sich an einen Orthopäden. Im Gespräch beklagt er wiederkehrende Schmerzen an der rechten Hüfte und sei auf die Einnahme von Schmerzmitteln täglich angewiesen. An Wanderungen des Vereins könne er seit dem Unfall nicht mehr teilnehmen. Beim Tennisverein hat er sich abgemeldet. Er ginge noch ins Sportstudio. Da habe er wenigstens noch ein paar Kontakte außerhalb der Arbeit in seinem Leben. Für den Gartenverein fühlt er sich nicht geeignet und im Kirchenchor sind die Männer zwischen 70 und 90 Jahre alt. Sein Leben sei einsamer geworden. Als Finanzberater müsste er zwar nicht so viel Laufen und dennoch spürt er seine Hüfte im Bürostuhl. Durch die lange Rehabilitation nach dem Unfall wurde die avisierte Abteilungsleitung an einen anderen Bewerber vergeben. Die Ehe sei schwierig. Sie mögen beide das Motorradfahren über die Landstraßen. So ein bisschen Freeclimbing war ihr Ding. Sie hatten viel Spaß, den sie nun nicht mehr so haben. Der Orthopäde untersucht den Patienten und erkennt ein Schonhinken der rechten Hüfte mit einer Beinverkürzung um 15 mm. Die Bewegung der Hüfte ist eingeschränkt und auch in alle Richtungen schmerzhaft. Im Röntgenbild erhärtet sich der Verdacht einer posttraumatischen Arthrose. Infolge des Unfalles und der erforderlichen Behandlung ist zwar der Bruch gut abgeheilt, aber der Hüftkopf und die Hüftpfanne sind deutlich verschlissen. Der Anspruch der Menschen, wieder am sozialen Gefüge teilzunehmen und auch bis ins hohe Alter hinein mobil und sportlich zu sein, steigt. Dies gilt für alle chronischen Erkrankungen, die mit Einschränkung der Lebensqualität einhergehen; insbesondere für Patienten mit künstlichem Gelenkersatz. Es ist nicht mehr nur die Aufhebung von Schmerz. Ansprüche werden gestellt 96 1 Klinische Medizin <?page no="97"?> an die Endoprothese hinsichtlich Funktionalität, Bewegungsmuster und Dauerhaftigkeit. Die Schmerzreduktion ist entscheidend und entlastend. Dennoch geht es nicht nur um die Vermeidung einer körperlichen Behinderung. Vielfach zielt sie ab auf eine freie Mobilität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Implantationstechnik der Verankerung und die Paarung der einzelnen Prothesenkomponenten haben sich in den vergangenen Jahren entschieden verbessert. Hinzu treten die funktionalen Aspekte, die dem natürlichen Bewegungsmuster immer näherkommen und auch bereits dadurch die Standzeit einer Prothese verlängern können. Zu den Hauptlokalisationen einer endoprothetischen Versorgung zählen derzeit das Kniegelenk, das Hüftgelenk und das Schultergelenk. Pro‐ thesen für das Ellenbogengelenk, das Sprunggelenk sowie des Handgelenkes sind etabliert, werden verwendet und auch weiterentwickelt. Die Zielsetzungen sind für die Behandler und auch für die Patientinnen und Patienten anspruchsvoll. Angestrebt ist eine möglichst lange Stand‐ zeit der Prothese. Waren Lockerungen nach 10-15 Jahren üblich, so hat sich dies in den vergangenen Jahren auf Standzeiten von über 20 Jahren erhöht. Die knochensparende Implantation erlaubt zum einen so viel natürlichen Anteil des Organismus zu belassen und zum anderen Reservekapazitäten bei Revisionseingriffen der weiteren Verankerung einer neuen Prothese zu haben. Die Industrie hat entscheidende Beiträge in der Tribologie (Lehre von Reibung und Verschleiß gegeneinander bewegter Körper) geleistet. Der Verschleiß der einzelnen Komponenten konnte vermindert werden und ist weiterhin Gegenstand der Forschung. Für die Körperdynamik und das Erleben eines integrierten Implantates ist eine natürliche Gelenkbi‐ omechanik entscheidend. Dennoch handelt es sich um einen operativen Eingriff, der teils auch mit erheblichen Komplikationen einhergehen kann, Komplikationen, die auch die Lebensqualität verschlechtern können. Es handelt sich auch um ein für das Leben gefährdender Eingriff. Praxis | Erna D. So hatte Frau Erna D. (87) vor zwei Jahren einen Schenkelhalsbruch, der vom Unfallchirurgen mit einer Endoprothese versorgt worden war. Nunmehr kommt sie in die Sprechstunde und möchte auf der anderen 97 1.9 Gelenkerkrankungen <?page no="98"?> Seite eine endoprothetische Versorgung vom gleichen Operateur haben. Er habe dies damals so gut gemacht. Ging es seinerzeit bei der Hüftverletzung vornehmlich um den Erhalt des Lebens, so liegen hier die Dinge anders. Es ist ein elektiver Eingriff, der unter Berücksichtigung des Alters und der Begleiterkrankungen auch dazu führen kann, dass sie Weihnachten nicht mehr erleben kann. Daraufhin bemerkte sie, dass sie bei solchen Schmerzen keinen Wert mehr lege, Weihnachten zu feiern. Das Ergebnis einer endoprothetischen Versorgung ist somit von ganz unterschiedlichen Einflussfaktoren begleitet, die einerseits beim Patienten oder der Patientin liegen und andererseits auch beim Behandelnden. Funktionelle Beeinträchtigung und die Einschränkung der Mobilität als auch der Schmerz sind in den betrachteten Kasuistiken bereits dargestellt. Es ist aber auch die Frage zu stellen, nach erforderlichen Hilfsmitteln, wie Gehstützen oder Rollator. In welchem sozialen Kontext spielt sich das Ganze ab und ob sich der Patient selbst versorgen kann. Möglicherweise besteht bereits ein Pflegegrad oder ein Grad der Behinderung. Auch das Alter und die damit verbundenen Begleiterkrankungen bedürfen der Würdigung. Auf der Seite des Behandelnden ist die Indikationsstellung zur Therapie entscheidend. Eine gute Aufklärung und Information tragen zum Gelingen bei. Auch die Anaesthesie ist mitgestaltend in der Strukturierung und Umsetzung peri- und postoperativer Maßnahmen. Eine schonende Opera‐ tionstechnik, orientiert an den anatomischen Gegebenheiten, hat zu einer Verbesserung des Outcomes beigetragen. Ein eigenes großes Thema ist das sog. Patient Blood Management, das sowohl präoperative, intraoperative und postoperative Maßnahmen beschreibt, die letztendlich dazu führen, dass die Anzahl der anzuwendenden Blutprodukte verringert sind. Dies geht mit einer verminderten Morbidität und Mortalität einher. Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Rehabilitation mit den begleitenden physiothe‐ rapeutischen und physikalischen Maßnahmen. Zielsetzung ist die alsbaldige Reintegration in das ehemalige soziale Gefüge (→ Abb. 16). 98 1 Klinische Medizin <?page no="99"?> Patient Behandlung • funktionelle Beeinträchtigung • Einschränkung der Mobilität • Schmerzerleben • Hilfsmittel • Selbstversorgung • sozialer Kontext • Alter • Komorbidität • Indikationsstellung • Aufklärung und Information • Anaesthesie • peri- und postoperatives Maßnahmen • OP-Technik • endopothetische Versorgung • Patient Blood Management • Rehabilitation und Nachsorge Abb. 16: Einflussfaktoren auf das Behandlungsergebnis. Versorgungsstruktur Zweifelsfrei gehört Deutschland zu den Ländern mit der höchsten Anzahl an endoprothetischen Versorgungen bezogen auf die Einwohnerzahl. Jedoch ist die Erfassung der Endoprothesen-Operationen in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Es ist unklar, inwieweit die Frakturendoprothetik in den einzelnen Ländern berücksichtigt ist. Auch die Demographie in den einzel‐ nen Ländern unterscheiden sich. Im Durchschnitt ist die Bevölkerung in Deutschland oder Japan eher älter als in den USA, Australien oder den nordischen Ländern. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen In Deutschland ist die Endoprothetik gut zugänglich, da sie vom Soli‐ darsystem vollständig finanziert wird. Dies ist in anderen Ländern anders gestaltet. Zugleich ist der Anspruch auf Schmerzfreiheit und Mobilität hoch. Weltweit betrachtet, stehen jedoch nur in 25 % der zu set‐ zenden Indikationen die Endoprothetik zur Verfügung. In Deutschland sind aber auch die Material- und Versorgungskosten deutlich geringer als in den anderen Ländern. Jedoch lassen sich dadurch nicht alle Gründe für die weltweit hohen Therapiekosten beschreiben. Zu den aktuellen Trends zählen die Zentrenbildung unter der Maßgabe, dass eine höhere Fallzahl zu besseren Ergebnissen führt. In der Knieendo‐ prothetik ist dies Realität. Die Begrifflichkeit des Fast Track fand zunächst Einzug in der Bauchchirurgie bei großen resezierenden Eingriffen und beschreibt eine Straffung der Abläufe und Verkürzung der Verweildauer 99 1.9 Gelenkerkrankungen <?page no="100"?> bei besseren klinischen Ergebnissen. Die Rahmenstrukturen sind jedoch komplex und bedürfen einer guten Kommunikation der einzeln ineinan‐ dergreifenden Systeme und Menschen untereinander. Es ist aber auch zu beschreiben, dass mit einer Straffung der Behandlungsabläufe die Kranken‐ hausverweildauer gesenkt werden kann. Dies ist patientenseitig mit einer Verminderung nosokomialer Infektionen vergesellschaftet. Eine zügige Be‐ handlungsstrategie führt sekundär auch zur Verminderung der mittleren Verweildauer bei ähnlichen Entitäten. Bezüglich der Hüftendoprothetik wäre die hüftgelenknahe Fraktur zu erwähnen. Auch hier zeigt sich der Trend zu einer kürzeren stationären Verweildauer. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen In Deutschland sind die Erstattungsbeiträge der Kostenträger im Verlauf gesunken. Zwar ergeben sich Kompensationsmöglichkeiten durch Einkaufsgemeinschaften, jedoch sind höherpreisige Implantate damit nicht gegenfinanziert. Dies birgt die Gefahr, über hohe Fallzahlen dies auszugleichen und die Indikation möglicherweise weiter zu stellen. Als Gegenkompensation wird die Anzahl der Leistungserbringer durch erweiterte Anforderungen möglicherweise begrenzt. Ging man davon aus, dass sich die Anzahl der Knieendoprothesen auf etwa 150.000 Eingriffe pro Jahr eingependelt hat, so ist dies innerhalb kurzer Zeit auf 190.000 Eingriffe angestiegen. Die demographische Entwicklung stellt möglicherweise eine Komponente dar. Praxis | Kael A. (61) Kael A. ist Ingenieur im Vorruhestand und hatte als 20-Jähriger einen Motorradunfall mit Oberschenkelhalsbruch rechts, der in Fehlstellung und Beinverkürzung von 3 cm verheilt ist. Jetzt hat sich links eine Arthrose des Hüftgelenkes mit ausgeprägter schmerzhafter Bewegungs‐ einschränkung entwickelt. Außerdem schwillt das linke Bein immer wieder an. Leitsymptom sind bei Kael A. der Schmerz und die Bewegungseinschrän‐ kung, die zu einer verringerten Mobilität führen. Neben der allgemeinen Anamnese sind der subjektive Leidensdruck und die tatsächliche Funkti‐ onseinschränkung der Hüftgelenkserkrankung zu evaluieren. Auch die 100 1 Klinische Medizin <?page no="101"?> bestehende medikamentöse Therapie und die physiotherapeutische und physikalische Therapie sind zu erfragen. Hinzu kommen hüftgelenksspezifi‐ sche Erkrankungen oder auch Verletzungen, wie wir sie bei dieser Kasuistik vorfinden. Wichtig ist es, die präoperativen Erwartungen insbesondere hinsichtlich beruflicher und sportlicher Belastung zu klären. Die Klinische Untersuchung adressiert hinsichtlich des Hüftgelenkes insbesondere das Gangbild, die Beinlänge, die Beweglichkeit und die Kraft‐ entwicklung. Damit ist es aber nicht getan. Es bedarf der Untersuchung der gesamten Persönlichkeit hinsichtlich seiner medizinischen und sozialmedi‐ zinischen Aspekte. Das konventionelle Röntgenbild stellt die entscheidende Untersuchungs‐ methode zur Evaluation des Grades der Arthrose dar. Der zunehmende Verschleiß, der durch den Knorpelverbrauch des Hüftkopfes mit einer sich einstellenden Entrundung und auch einer Mehrbelastung der Hüftpfanne entsteht, lässt sich anhand des Röntgenbildes klassifizieren. Die Klassifika‐ tion erfolgt nach dem Schema von Kellgren und Lawrence und teilt die Schwere der Erkrankung in 4 Grade ein (→ Abb. 17). Stadium Beschreibung Stadium I weitgehend normales Gelenk, geringe subchondrale Sklerosierung Stadium II unregelmäßige Gelenkfläche, geringe Gelenkspaltverschmälerung und Osteophytenbildung Stadium III deutliche Gelenkspaltverschmälerung und Osteophyten, deutliche Unregelmäßigkeiten der Gelenkfläche Stadium IV ausgeprägte Gelenkspaltverschmälerung, große Osteophyten, De‐ formierung, Geröllzysten oder Nekrose des Hüftkopfes 101 1.9 Gelenkerkrankungen <?page no="102"?> Abb. 17: Stadieneinteilung nach Kellgren an Lawrence (mod. nach Grifka/ Kuster, Orthopä‐ die und Unfallchirurgie (Springer 2012)). Gründe für die Endoprothese sind abhängig von Schmerz, Funktionsein‐ schränkung, ausbleibende Besserung unter konservativer Therapie und hoher Leidensdruck sowie Einschränkung der Lebensqualität. 102 1 Klinische Medizin <?page no="103"?> Die Hüftendoprothese besteht aus mehreren Modulen. Zum einen ist es der Schaftanteil, der im metaphysären Anteil des Oberschenkelknochens, knapp unterhalb der Rollhügel verankert wird. Es ist die Pfanne, die am Becken in der natürlichen Pfanne verankert wird. Und es sind die Module des Kopf-Pfannen-Inlays, welche passgenau eingesetzt werden. Zur Anwen‐ dung kommen Prothesenanteile mit oder ohne Zementierung. Zur Prothesenplanung erfolgt die Röntgenaufnahme mit einer Eich‐ kugel als Referenzgröße für die Berechnung der Prothesengrößen. Am Bildschirm wird die Größe der Prothese ausgewählt und eingeplant, ein‐ schließlich der dazu erforderlichen Knochenresektionsgrenze (Osteotomie). Operationsrisiken werden aus didaktischen Gründen als allgemeine Gefahren bezeichnet und unterscheiden sich von den eingriffsspezifischen Gefahren. Diese werden vor dem Eingriff mit dem Patienten eingehend erläutert. Praeoperative Checklisten erlauben die strukturierte Erfassung und Bewertung der relevanten Daten und sind auf Vollständigkeit vor dem Eingriff zu prüfen. Neben der Lagerung sind die Single-Shot-Antibiose vor dem Eingriff und auch die intraoperative Röntgenkontrolle der Probekomponenten entscheidende Faktoren. Somit lässt sich vor Einset‐ zen des Implantates eine Fehlpositionierung detektieren und intraoperativ adressieren. Der heterotopen Ossifikation, also die Verknöcherung der Kapsel-Bindegewebsanteile lässt sich nach Studienlage durch die Gabe non-steroidaler Antiphlogistika reduzieren. Dies hat zusätzlich einen an‐ algetischen Effekt und ist etabliert. In Einzelfällen ist eine präoperative Strahlentherapie erforderlich. Eine Thromboseembolieprophylaxe ist über den stationären Heilverlauf hinaus und auch unabhängig vom Grad der Mobilisation länger durchzuführen. Hüft- und Kniegelenkendoprothetik gehören zu high-risk-Entitäten für tiefe Beinvenenthrombosen. Eine postoperative Hüftgelenksinfektion nach endoprothetischem Ge‐ lenkersatz zählt zu den gefürchteten Komplikationen. Man unterscheidet die Frühinfektion (innerhalb 90 Tage) von einer Spätinfektion. Die Rate an endoprothesen-assoziierten Infektionen wird in der Literatur mit 1-5 % angegeben. Sie ist abhängig von vorliegenden Begleiterkrankungen und operativem Trauma. 103 1.9 Gelenkerkrankungen <?page no="104"?> Zusammenfassung | Gelenkerkrankungen Nach aktueller Kenntnis können Standzeiten der Hüftendoprothetik von 20 Jahren für ca. 90 % der Patienten angegeben werden. Bei der Knieendoprothetik liegt diese Rate zwischen 80 und 85 %. Die Locke‐ rungsproblematik und somit die verminderte Standzeit ist im Wesent‐ lichen durch Abriebpartikel verursacht. Moderne Gleitpaarungen haben einen kaum messbaren Abrieb. Durch die verbesserte Standfestigkeit hat die Infektion im Management mehr Bedeutung gewonnen. Diese stellen etwa 20 % der Ursache für Wechseloperationen dar (damit ist die Infektionsrate nicht erhöht, durch den Rückgang der mechanischen Komplikation tritt die Infektion in den Vordergrund). Auch bei exakter Positionierung der Prothese ist die Stabilität des künst‐ lichen Hüftgelenkes von der Muskulatur abhängig. Unterschiedliche Gründe führen zu einer zunehmenden Laxizität der Muskulatur und erhöhen das Luxationsrisiko. Das höher werdende Lebensalter führt auch zur Traumaversorgung bei einliegender Endoprothese und stellt eine besondere Herausforderung dar. Das DRG-System unterscheidet nicht, welches Implantat angewendet wurde. Bei 240.000 Implantaten im Jahr 2018 wurden etwa 38.000 bei Patienten implantiert, die jünger als 60 Jahre alt sind. Hier ist die Implantation besonders hochwertiger und langlebiger Gleitpaarungen erforderlich, um eine lange Standfestigkeit zu erzielen. Gleichzeitig wurde die Vergütung für Sachkosten im Rahmen der Pauschalregelung herabgesetzt. Verwendete und weiterführende Literatur Grothe, T.; Postler, A.; Nowotny, J. et al. (2019): Endoprothetik der großen Gelenke. In: Trauma und Berufskrankheit 21, S. 127-143. Online: doi.org/ 10.1007/ s10039-0 19-0423-1. Kirschner, S.; Konstantinidis, L. (2020): Diagnose Arthrose. In: Aktuelle Rheumato‐ logie 45, S. 39-47. Lüring, C.; Tingart M.; Grifka J.: Degenerative Gelenkerkrankungen. In: Grifka, J.; Kuster, M. (Hrsg.) (2016): Orthopädie und Unfallchirurgie, Springer-Verlag, Berlin ISBN-13: 978-3-642-23110-3, Seite: 281-298. 104 1 Klinische Medizin <?page no="105"?> Perka, C.; Janz, V. (2018): Endoprthetik - Ein wahrer Fortschritt? In: klinikarzt 47, S. 308-314. Schneiders, W.; Hartmann, A.; Günther, K. P. (2018): SOP Hüft-Totalendoprothese (Hüft-TEP). In: Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 13, S. 325-329. Schwarz, M. L. R.; Schneider-Wald, B. et al. (2012): Tribologische Messungen am Gelenkknorpel. In: Orthopäde 41, S. 827-836. DOI 10.1007/ s00132-012-1951-6. 105 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="107"?> 2 Fachübergreifende Medizin 2.1 Strahlenschutz Seit über hundert Jahren können wir mit der Anwendung von Röntgenstrah‐ len den Körper nach Krankheiten durchleuchten. Röntgenstrahlen finden in der Materialprüfung von Stahl, in der Geologie, in der Mineralogie, in der Archäologie und auch in der Gemäldeuntersuchung Anwendung. Strahlung ist eine Form von Energie, die sich als elektromagnetische Wellen ausbreitet. Dabei kann diese Energie sowohl als natürliche Strahlung vorhanden sein, als auch ‚künstlich‘ produziert werden, wie durch medizinische Geräte oder industrielle Anlagen. Die Strahlenquellen, die uns als Menschen umge‐ ben sind ganz unterschiedlicher Genese. Von ihrer Art her werden sie in ionisierende, elektromagnetische, korpuskuläre und elektrische Strahlung unterschieden. Somit unterliegen wir unterschiedlichen Strahlenquellen. Historischer Kontext Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich die Physiker viel mit den sog. Entladungsröhren. Prinzipiell handelt es sich um einen Glaskolben in der eine Spannung über eine Anode und eine Kathode aufgebaut wird und in dem ein Lichtbogen entsteht. Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) ummantelte diesen Glaskolben mit einfacher schwarzer Pappe und erkannte auf einer dahinter gelegten Filmplatte Leuchtspuren. Über diese Arbeit an Entladungsröhren erlangte Röntgen Kenntnisse über die Wirkung dieser Strahlen. Er konnte sie nicht wirklich zuordnen, da sie ja keine Lichtstrahlen waren. Die Strahlen waren ihm unbekannt - so nannte er diese X-Strahlen. Mit diesen Strahlen hatte man aber die Möglichkeit den menschlichen Körper zu durchleuchten und Knochen gegenüber dem Gewebe abzugren‐ zen. Und so kamen diese Röntgenröhren auf und es war nunmehr möglich, Untersuchungen durchzuführen. Dies hatte auch einen gesellschaftlichen Charakter gefunden, so dass auch Veranstaltungen durchgeführt wurden, um die Wirkung zu bestaunen. „Man habe den Tod lebendig gesehen“ war ein geflügeltes Wort jener Zeit, angesichts dessen, als dass man menschliche Gerippe bisher nur von Toten kannte. Es wird nachgesagt, dass Röntgen <?page no="108"?> selbst die Sache nicht geheuer war und er gerne mehr Abstand pflegte. Im Jahre 1901 erhielt Röntgen für diese Arbeiten den Nobelpreis für Physik. Beim Zerfall von schweren Atomkernen kommt es zur Freisetzung von Zerfallsenergie in Form von Strahlung. Es kommt zur Bildung von Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung. Diese Erkenntnisse gehen auf die Arbeiten von dem Ehepaar Marie (1867-1934) und Pierre Curie (1859-1906) und Henri Becquerel (1852-1908) zurück, wofür sie den Nobelpreis für Physik 1903 erlangten. Marie Curie erlangte später noch den Nobelpreis für Chemie über die Entdeckung von Radium und Polonium. Der Strahlengefahr waren die Wissenschaftler sich aber nicht bewusst. Es wird nachgesagt, dass Becquerel - so wie es Chemiker gerne pflegen - seine Synthesen in einer Glasamphiole verschlossen und es in der Brusttasche zu tragen pflegte. Er habe davon ein Geschwür an der Haut bekommen, was einem Strahlenschaden entspricht. Wissen | Messgrößen von Strahlung Messgrößen von Strahlung sind Becquerel (Bq), Gray (Gy) und Sievert (Sy). Diese Messgrößen sind gemeinhin schwer vorstellbar, da sie in der sonst normalen Welt nicht so auftauchen. Für die biologische Wirkung hat sich Sievert (Sy) durchgesetzt. Rolf M. Sievert (1896-1966) war ein schwedischer Physiker und Begründer des Strahlenschutzes. Um die Wirkung von Strahlung zu messen entwickelte Sievert ein Ionisationsdosimeter und damit hatte er ein Lebensthema gefunden: die Dosimetrie und den Strahlenschutz. Die biologische Wirksamkeit von ionisierender Strahlung ist abhängig von der Art und der Energie einer Strahlung. Die Einheit Sievert (Sv) dient zur Quantifizierung verschiedener biologischer Effekte von niedrigen Strahlendosen auf den Organismus und hilft damit letztlich, das Risiko für strahlenbedingte gesundheitliche Schäden, insbesondere für die Krebs‐ entstehung, abschätzen zu können. Der Wert für die relative biologische Wirksamkeit wird durch einen zusätzlichen Gewichtungsfaktor für unter‐ schiedliche Strahlungsarten ermittelt. Die Energiebereiche der Röntgenstrahlung und der Gammastrahlung überlappen sich. Beim Auftreffen der Energie auf biologische Zellen kommt es zur Freisetzung der Energie. Direkt oder über die Freisetzung von freien Radikalen kommt es zur Zerstörung der DNA-Matrix. Es existieren zwar auf zellbiologischer Ebene Methoden der Reparatur. Diese können 108 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="109"?> jedoch nicht immer vollständig korrekt durchgeführt werden. Determi‐ nistische Strahlenschäden sind von der Strahlensensitivität der Organe abhängig und unterliegen Schwellenwerten (z. B. Verbrennung, Haarausfall, Keimdrüsen). Stochastische Strahlenwirkungen sind biologische Wir‐ kungen ionisierender Strahlung für DNA-Veränderungen für die es keine Schwellendosis gibt. Sie entsprechen einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Stochastische Strahlenwirkung ist also eine Art Rechengröße um das gene‐ relle Risiko zu beschreiben, während die deterministische Strahlenwirkung organbezogen definiert ist (→ Abb. 18). stochastische Strahlenwirkung deterministische Strahlenwirkung deterministische Strahlenschäden sind von der Strahlensensivität der Organe abhängig und unterliegen Schwellenwerten (z.B. Verbrennung, Haarausfall, Keimdrüsen) stochastische Strahlenwirkungen sind biologische Wirkungen ionisierender Strahlung für DNA-Veränderungen für die es keine Schwellendosis gibt (statistische Wahrscheinlichkeit) Abb. 18: Schematische Darstellung von stochastischen und deterministischen Strahlen‐ wirkungen. Die Kenntnisse über die schädigende Wirkung von Röntgenstrahlen gab es bereits seit 1927 und führten zur Entdeckung von Mutationen, die mit Hilfe von Röntgenstrahlen hervorgerufen werden können. Herrmann Joseph Muller (1890-1967) aus den Vereinigten Staaten erlangte dafür den Nobel‐ preis für Physiologie oder Medizin. In den 1930er-Jahren entwickelte ein Schuhhersteller aus Amerika sogenannte Podoskope, mit denen die Größe der Schuhe an Kindern bestimmt werden konnte. Gemeinsam mit Rutsche und Karussell kamen diese Apparaturen auch nach Deutschland. Hierbei wurden ohne Beachtung des Strahlenschutzes Dauerdurchleuchtungen von bis zu 30 Sekunden durchgeführt und man konnte die Füße in den Schuhen mit Bewegung der Zehen beobachten. Es verlieh der Schuhanpassung an Kindern den Charme einer wissenschaftlichen Überprüfung. Allerdings zeigten sich im Verlauf Strahlenschäden an den Händen der Schuhverkäuferinnen und es kam mehr Wissen über Strahlenschäden 109 2.1 Strahlenschutz <?page no="110"?> infolge der Röntgenstrahlen auf. Es bedurfte jedoch noch bis Ende der 1960er-Jahre, ehe die Podoskope wieder aus den Schuhläden verschwanden. Strahlenexposition Es werden die die natürliche Strahlenexposition von der zivilisatori‐ schen Strahlenexposition unterschieden. Die natürliche Strahlenbelas‐ tung entwickelt sich aus kosmischer oder terrestrischer Strahlung, findet sich in Nahrung oder in der Umwelt. Die zivilisatorische Strahlung ist etwa zur Hälfte durch medizinische Leistungen in Diagnostik und Therapie begründet. Hinzutreten aber auch Strahlung in Haushalte, durch kerntech‐ nische Anlagen und auch durch Unfälle oder kriegerische Anwendung von Kernenergie bzw. Kernwaffen (→ Abb. 19). Beide Strahlenexpositionen entsprechen in den industrialisierten Ländern jeweils etwa 1 Milli-Sievert (mSv). medizinische Strahlung 41% zivilisatorische Strahlung 2% terrestrische Strahlung 14% Radonstrahlung 27% kosmische Strahlung 8% Nahrung 8% Abb. 19: Verteilung der Strahlungsquellen. Die vornehmlich medizinische Strahlenbelastung in Deutschland un‐ terscheidet sich im Vergleich zur Welt durch die diagnostischen und the‐ rapeutischen Verwendungen von Röntgenstrahlung und ionisierender Strahlung. Dies ergeht aber anderen entwickelten Staaten genauso. Die 110 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="111"?> Häufigsten Anforderungen von Röntgenleistung finden sich in der Zahnme‐ dizin und am Skelettsystem (hier vornehmlich Orthopädie und Unfallchir‐ urgie). Höchste Strahlenintensität haben Computertomographie (CT) und die diagnostische und therapeutische Angiographie (radiologische Darstellung des Gefäßsystems mit Kontrastmittel bei den großen Arterien sowie Herzkatheter-Labor und Schlaganfallbehandlung). Technische Ver‐ besserung führten zu einer Senkung der mittleren effektiven Dosis pro Untersuchung. Durch die jedoch zunehmende Anforderung dieser Untersu‐ chung nimmt die mittlere effektive Dosis pro Einwohner und Jahr zu. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Die Häufigkeit von Röntgenuntersuchungen pro Einwohner war in den Jahren 2007-2014 nahezu konstant und verglichen mit anderen europäi‐ schen Ländern relativ hoch. Die mittlere effektive Dosis pro Kopf nahm dagegen zu, was dem kontinuierlichen Anstieg der CT-Untersuchungs‐ häufigkeit geschuldet ist. Die CT-Untersuchung trägt aktuell mehr als 60 % zur Kollektivdosis bei. Somit kommen dem Prinzip der Rechtfer‐ tigung und Optimierung in diesem Bereich besondere Bedeutung zu. Die verfügbaren technischen Möglichkeiten der Dosisoptimierung sind noch nicht im erforderlichen Umfang in der Praxis angekommen bzw. werden noch nicht adäquat eingesetzt. Die über die letzten Jahre erzielte Dosisreduktion pro Röntgenanwendung war insgesamt zu gering, um den kontinuierlichen Dosisanstieg aufgrund der zunehmenden Häufig‐ keit von CT-Untersuchungen und Angiographie zu kompensieren. Strahlenschutz Personen können im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Strahlung aus‐ gesetzt sein, etwa durch Umgang mit Röntgengeräten oder radioaktiven Quellen. Sie können aber auch am Arbeitsplatz Strahlung ausgesetzt sein. Dies können Arbeiten am oder im Kernkraftwerk sein. Bergwerke und Schauhöhlen unterliegen teils dem Strahlenschutz, wie auch bei der Trink‐ wassergewinnung. Hier ist auf die Wirkung des Radons hinzuweisen, was eine hohe Strahlenbelastung in sich trägt. Zudem zeigt sich eine erhöhte kosmisch bedingte Höhenstrahlung etwa beim Fliegen. Um diese Strahlenbelastung einzuordnen ist eine Strahlenmessung erfor‐ derlich und es sind Grenzwerte festgelegt worden: 111 2.1 Strahlenschutz <?page no="112"?> ● Die effektive Strahlendosis für beruflich exponierte Personen beträgt 20 mSv/ a. ● Die Berufslebensdosis beträgt 400 mSv/ a. ● Bei Personen in Ausbildung unter 18 Jahren beträgt die zugelassene Dosis 1mSv/ a. ● Der Grenzwert für die effektive Dosis zum Schutz von Einzelpersonen der Bevölkerung beträgt 1 mSv/ a. ● Medizinische Strahlenanwendungen bei Patienten sind von diesen Begrenzungen ausgeschlossen. ● Für Strahlung aus natürlichen Quellen existiert derzeit kein gesetzlicher Dosisgrenzwert. Es werden unterschiedliche Strahlenschutzbereiche definiert. Der Über‐ wachungsbereich ist definiert, wenn eine potenzielle effektive Dosis von über 1 mSv pro Jahr überschritten werden kann, sie liegt aber unter 6 mSv pro Jahr. Der Überwachungsbereich muss nicht gekennzeichnet werden. Im Kontrollbereich kann eine potenzielle effektive Dosis von über 6 mSv pro Jahr überschritten werden, sie liegt aber unter 3 mSv pro Stunde. Personen, welche im Kontrollbereich arbeiten, werden zu der Kate‐ gorie A der beruflich strahlenexponierten Personen gerechnet. Für den Überwachungsbereich und somit Kategorie B gilt die Überschreitung des Grenzwertes von mindestens 1 mSv pro Jahr. Die Körperdosen müssen durch ein Dosimeter bestimmt werden. Vor dem erstmaligen Zutritt und dann mindestens jährlich muss eine Unterweisung, insbesondere über die an‐ zuwendenden Strahlenschutzmaßnahmen durchgeführt werden. Personen unter 18 Jahre und Schwangere dürfen bis zu einer Dosis vom 1mSv/ a im Kontroll- oder Überwachungsbereich arbeiten. Zum Schutz des ungeborenen Lebens sind die folgenden Aspekte zu be‐ achten: Die Strahlenexposition der Mutter ist arbeitswöchentlich zu ermitteln und mitzuteilen. Das ungeborene Kind darf keine höhere Exposition von 1 mSv vom Zeitpunkt der Mitteilung bis zum Ende der Schwangerschaft erhalten. Als Maß kann das Dosimeter, in Uterushöhe getragen, dienen. Aufnahme von radioaktiven Substanzen können auf das Kind übertragen werden. Streustrahlung Strahlung verläuft geradlinig und radiär. Durch ein Auftreffen kann die Richtung verändert werden. Diese, nicht auf das Strahlungsfeld gerichtete 112 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="113"?> Strahlung wird als Streustrahlung bezeichnet. Besondere Bedeutung hat dies bei der Anwendung einer kontinuierlichen Röntgenuntersuchung wäh‐ rend der Operation. Unfallchirurgen und Orthopäden wenden dieses Ver‐ fahren an. Es hat aber auch Bedeutung bei der Herzkatheteruntersuchung oder bei anderen gefäßmedizinischen Untersuchungen und Behandlungen. Typischerweise wird hierzu ein sog. C-Bogen eingesetzt. Er besteht aus einem fahrbaren Modul mit einem C-förmig gestalteten beweglichen Bogen. An diesem befindet sich in einem kastenartigen Gebilde die Strah‐ lenquelle. Auf der gegenüberliegenden Seite der Strahlenquelle befindet sich der Empfänger, der rundlich gestaltet ist. Das Ergebnis der Untersuchung kann kontinuierlich auf einem gesonderten Monitorwagen gezeigt und die Daten können auch verarbeitet werden, dies erlaubt eine unmittelbare intraoperative Röntgenuntersuchung. Arbeiten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen innerhalb eines Radius von 4 m von der Strahlenquelle entfernt, sind die überwachungspflichtig. Strahlenschutz Allgemeine Maßnahmen des Strahlenschutzes sind zu beschreiben durch Verminderung der Aufenthaltsdauer im Strahlungsfeld, Vergrößerung des Abstandes zur Strahlenquelle sowie durch Verminderung durch Abschir‐ mung zur Strahlenquelle. Die Aufenthaltsdauer bei laufender Strahlung ist zu verringern, wenn die darin beteiligten Personen geschult sind, auf eine kurze Strahlungsdauer geachtet wird und die Durchleuchtung nicht kontinuierlich mit etwa 25 Bildern durchgeführt wird. Hierbei müssen Sie sich an den einfachen Kinofilm erinnern. Eine Bildfolge von 25 Bilder pro Sekunde erfahren wir als ein flüssigen Bildablauf. Sind es weniger Bilder pro Sekunde, so erscheint uns der Bewegungsablauf der Figuren gestückelt. Bei einer Bildfolge von etwa 8 Bildern pro Sekunde ist die Bildfolge im Operationssaal ausreichend ungestört. Auf diese einfache Weise lässt sich die Strahlenintensität auf 8/ 25 und somit auf 32 % reduzieren. Ein solches Verfahren wird als gepulste Durchleuchtung bezeichnet. Einige Geräte verfügen über eine Lasereinrich‐ tung, die ein Zielkreuz auf das untersuchte Objekt abbilden. Mittels Laser lässt sich der zu untersuchende Bereich zunächst bestimmen. Dies vermeidet Fehlbelichtungen. Zuweilen kann das Zielgebiet recht klein sein, so dass eine Strahlenexposition vermindert wird, wenn das Strahlungsfeld verkleinert wird. An der Durchleuchtungseinheit gibt es zwei Monitore. Der zweite 113 2.1 Strahlenschutz <?page no="114"?> Monitor stellt ein Zwischenbild einer bisherigen Untersuchung dar und hilft dem Operateur bei der Untersuchung, sich zu orientieren. Je weiter man als Person selbst von der Strahlenquelle entfernt steht, desto geringer ist die Strahlenbelastung je Strahlungsfeld. Dies bezeich‐ net das Abstandsquadratgesetz. Mit der Verdoppelung des Abstandes senkt sich die Strahlenbelastung um ein Viertel je definiertes Strahlen‐ feld. Wird der Abstand auf das dreifache erweitert, verringert sich die Strahlenbelastung um ein Neuntel. Es stehen verschiedene Mittel zur Abschirmung von Strahlung zur Ver‐ fügung. Es sind Mittel, die die Ausdehnung der Strahlung eindämmen. Dies ist zum einen die konkrete Umbauung der Strahlenquelle. Es wird somit die Strahlung auf ein definiertes Strahlenfeld begrenzt. Die Räume, in denen Röntgenstrahlung angewendet werden, bedürfen einer definierten baulichen Vorschrift einschließlich der dafür zu verwendenden Türen. Zur persönlichen Strahlenschutzausrüstung gehören Strahlen‐ schutzzubehör wie Bleischürzen und Bleikragen. Bleihandschuhe haben nur noch historischen Charakter. Sie wurden zur Kontrastmitteluntersuchung des Bauchraumes verwendet. Heute wird aufgrund der verbesserten Infor‐ mationsdichte in diesen Fragestellungen eine CT-Untersuchung durchge‐ führt. Die Bleiglasbrille findet im klinischen Alltag nur wenig Anwendung. Rechtliche Rahmenbedingungen Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind definiert im Atomgesetz, in der Richtlinie 2013/ 59 Euratom des Europäischen Rates, Strahlenschutzgesetz (StrlSchG) (2019), in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) (2019) sowie in der Verordnung zum Schutz vor schädlichen Wirkungen nichtionisier‐ ender Strahlung bei der Anwendung am Menschen (NiSV) (2021). Dies be‐ trifft Laserbehandlungen (Aufhellen von Tätowierungen/ Haarentfernung), optische Strahlung, Hochfrequenz, Ultraschall (Fettreduktion), Elektrische Muskelstimulation als auch die Ultraschalluntersuchung zu nichtmedizini‐ schen Zwecken (Baby-Kino). Folgende Personalstrukturen repräsentieren die Verantwortlichkeiten. Es werden benannt der Strahlenschutzverantwortliche als Leiter der Einrichtung, oftmals vertreten durch die Geschäftsführung. Jeder Abteilung ist ein Strahlenschutzbeauftragter zugeordnet. Dieser ist in seinem Amt 114 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="115"?> weisungsfrei und ungebunden und unterliegt einem besonderen Kündi‐ gungsschutz. Zur Durchführung und auch zur Anordnung von Anwendung radiologischer Strahlung bedarf es der Fachkunde im Strahlenschutz. Voraussetzung dafür sind Praktische Erfahrung im Strahlenschutz, Unter‐ weisung im Strahlenschutz, sowie die erfolgreiche Teilnahme am Grund- und Spezialkurs im Strahlenschutz. Voraussetzung ist die Erlangung der Approbation als Arzt. Die Überwachung des Strahlenschutzes erfolgt hauptsächlich durch die Personendosimeter. Regelmäßig sind Konstanz-Prüfungen der Geräte erforderlich. Die sogenannte ärztliche Stelle und der jeweilige TÜV sind ergänzende und wichtige Anteile zur Gewährleistung von Strahlenschutz in der medizinischen Anwendung. Zusammenfassung | Strahlenschutz Die Anwendung von Röntgenstrahlen in der medizinischen Diagnostik erlaubt differenzierte Aussagen und ist etabliert. Zur Verringerung der Strahlenmenge und damit verbundener Strahlenschäden ist auf eine strenge Indikationsstellung zu achten. Berufliche exponierte Personen unterliegen dem Strahlenschutz. Verwendete und weiterführende Literatur Bohrer, E.; Schäfer, S. B.; Krombach, G. A. (2020): Die neue Strahlenschutzgesetzge‐ bung - Teil 1. In: Radiologe 60, S. 721-728. Online: doi.org/ 10.1007/ s00117-020-0 0707-0. Bohrer, E.; Schäfer, S. B.; Krombach, G. A. (2020): Die neue Strahlenschutzgesetzge‐ bung - Teil 2. In: Radiologe 60, S. 959-965. Online: doi.org/ 10.1007/ s00117-020-0 0708-z. Busch, U. (2015): Strahlenexposition bei Schuhdurchleuchtungsapparaten. In: Zeit‐ schrift für Medizinische Physik 25, S. 13-18. Online: dx.doi.org/ 10.1016/ j.zemedi .2014.06.007. Fiebich, M. (2017): Praktischer Strahlenschutz am Patienten in der radiologischen Diagnostik. In: Radiologe 57, S. 534-540. DOI 10.1007/ s00117-017-0258-3 Fiebich, M.; Zink, K. (2018): Strahlenbelastung in der Schwangerschaft. In: Onkologe 24, S. 545-551. Online: doi.org/ 10.1007/ s00761-018-0367-2. 115 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="116"?> Gruber, S.; Dörr, W. (2017): Biologische Mechanismen der Strahlenwirkung. In: Radiologe 57, S. 541-547. DOI 10.1007/ s00117-017-0239-6. Kotas, W. (2013): Strahlenschutz in der konventionellen Unfallradiologie. In: Radio‐ praxis 6, S. 213-222. Online: dx.doi.org/ 10.1055/ s-0033-1353606. Nekolla, E. A.; Schegerer, A. A.; Griebel, J.; Brix, G. (2017): Häufigkeit und Dosis diagnostischer und interventioneller Röntgenanwendungen. In: Radiologe 57, S. 555-562. DOI 10.1007/ s00117-017-0242-y. 2.2 Hämotherapie Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen In der Bundesrepublik werden jährlich etwa 3,4-3,8 Mio. Blutkonserven verabreicht. Sie finden Verwendung in der Behandlung der Anaemie, der Blutarmut bei Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, mit den damit einhergehenden gastrointes‐ tinalen Blutungen und in der Unfallchirurgie und Orthopädie. Somit ist die Bluttransfusion Realität in jeder Krankenhauseinrichtung, insbesondere, wenn sie am Versorgungsauftrag der Bevölkerung beteiligt sind. Historischer Kontext Die ersten Erkenntnisse über die Blutgruppen kamen Ende des 19. Jahr‐ hunderts auf. Zu dieser Zeit wurden Erkrankungen generell gerne durch einen Aderlass oder auch durch eine Bluttransfusion behandelt. Hierbei beobachtete man, dass Menschen dabei verstarben, andere wiederum nicht. Eine Erklärung für dieses Phänomen hatte man jedoch nicht. Man erkannte, dass das Blut miteinander verklumpt (Hämagglutination). Weiter beobach‐ tete man, dass dies auch bei Kontakt von Blut, also den korpuskulären Bestandteilen und dem Serum auftritt. Karl Landsteiner (1868-1943) gelang es, Blutgruppenmerkmale zu unter‐ scheiden und er erkannte somit die Ursache für die Hämagglutination nicht homologer Bluttransfusionen. Hierfür erlangte er den Nobelpreis für Medi‐ zin oder Physiologie. Die Zusammensetzung der Oberfläche hinsichtlich ihrer Antigene erlaubt die Einteilung in die verschiedenen Blutgruppen A, B, O und AB (→ Abb. 20). Weitere bedeutsame Systeme sind das Rhesus-System und das Kell-System. Es werden noch weitere Systeme 116 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="117"?> unterschieden. Weltweit gibt es unterschiedliche Verteilungsmuster der jeweiligen Blutgruppenmerkmale (Allele). Spender Empfänger A B AB 0 A ✔ ✘ ✘ ✔ B ✘ ✔ ✘ ✔ AB ✔ ✔ ✔ ✔ 0 ✘ ✘ ✘ ✔ Abb. 20: Blutgruppenverträglichkeit. Insgesamt zeigt sich ein bundesweiter Rückgang im Verbrauch an Blutkonserven. Dies hat seine Ursache darin, als dass man sich des Medikamentes mit seinen Nebenwirkungen bewusst geworden ist. Dies lässt sich einordnen in die Begrifflichkeit des Patient Blood Managements. Engpässe entstehen durch einen Mehrverbrauch an Blutgruppe 0 Rh negativ und durch hohe Verfallsraten an den seltenen Blutgruppen AB und B. Rechtliche Rahmenbedingungen Die rechtlichen Rahmenbedingungen werden durch das Transfusionsgesetz (TFG) gebildet, die Richtlinie zur Gewinnung von Blut und Blutbestandtei‐ len und zur Anwendung von Blutprodukten (2017), Querschnittsleitlinien (BÄK) zur Therapie von Blutkomponenten und Plasmaderivaten, durch ein hausspezifisches Qualitätsmanagementhandbuch Hämotherapie (Dienstan‐ weisung) und hausinterne Handreichungen zur Vorbereitung und Durch‐ führung von Blutkomponententransfusionen (Verfahrensanweisung). Sämtliche Regelungen haben das Ziel, Spender vor Schaden zu be‐ wahren und das Risiko der Anwendung von Blutprodukten für den Empfänger zu mindern. 117 2.2 Hämotherapie <?page no="118"?> Spender möchten einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag mit der Blut‐ spende leisten. Empfänger benötigen die Hilfe und Unterstützung im Krank‐ sein durch den Erhalt der Blutspende. Insofern man beiden Personengrup‐ pen respektvoll und achtsam in jedem Handlungsschritt begegnet, erfüllen sich alle Aspekte der Regelungen, die zur Hämotherapie getroffen sind. Alle Einrichtungen, in denen Blutprodukte angewendet werden, müs‐ sen funktionierende Qualitätssicherungssysteme betreiben. Dazu zählen die Einrichtung einer Transfusionskommission, Benennung eines Trans‐ fusionsverantwortlichen, eines Transfusionsbeauftragten Arztes in jeder transfundierenden Abteilung, einer Leitung des immunhämatologischen La‐ bors oder Blutdepots, eines Qualitätsbeauftragten Hämotherapie, Erstellung eines jährlichen Qualitätsberichtes, regelmäßige Schulungen und Einwei‐ sungen aller an der Anwendung von Blutprodukten Beteiligten. Praktische Umsetzung Bei allen planbaren Eingriffen sollten Erythrozytenkonzentrate (EK) bereit‐ gestellt werden, wenn eine realistische Wahrscheinlichkeit von mehr als 10 % besteht. Es kann auch eine Indikationsliste erstellt werden. In allen anderen Fällen soll eine Blutgruppenbestimmung mit Antikörpersuchtest durchgeführt werden. Bei positivem Antikörpersuchtest ist die Spezifität der Antikörper vor der Transfusion zu klären. Für den bei Eingriffen zu erwartenden Transfusionsbedarf ist rechtzeitig eine entsprechende Anzahl kompatibler Erythrozytenkonzentrate bereitzustellen. Es lassen sich keine absoluten oder allgemein gültigen kritischen Grenz‐ werte für Hämoglobin (Hb) oder Hämatokrit (Hkt) festlegen. Bei einer Entscheidung für eine Transfusion müssen außer Laborwerten stets die Dauer, die Schwere und die Ursache der Anämie sowie die Vorgeschichte, das Alter und der klinische Zustand der Patienten berücksichtigt werden. Eine Transfusion erfolgt bei medizinischer Notwendigkeit und nach ärztlicher Verordnung. Die Verordnung einer Blutkonserve bedarf einer definierten medizinischen Notwendigkeit und nur ein Arzt oder eine Ärztin dürfen diese Verordnung treffen. Zu gewährleisten ist eine frühestmögliche Aufklärung und Dokumenta‐ tion möglichst auf Standardaufklärungsbögen (Unterschriften! ). Ist eine 118 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="119"?> Aufklärung vor der Transfusion nicht möglich (dokumentierter Notfall), sind die Patienten nachträglich aufzuklären. Bei der Probenentnahme ist auf eine eindeutige und einheitliche Kenn‐ zeichnung aller Röhrchen und Anforderungsscheine vor der Blutentnahme möglichst mit Standardpatientenetiketten, zumindest Name, Vorname und Geburtsdatum zu achten. Vor der Blutentnahme ist die Identitätskontrolle zwingend: Abgleich der Patientendaten mit der Beschriftung auf den Un‐ tersuchungsröhrchen und dem Anforderungsschein. Wichtig sind Datum der Blutentnahme und Unterschrift der abnehmenden Person sowie die Unterschrift des Arztes oder der Ärztin, welche für die Anforderung und die Identität der Blutprobe verantwortlich sind. Der Antikörpersuchtest und die Kreuzprobe haben eine Gültigkeit von 3 Tagen (es gilt das Datum der Blutentnahme) und sind spätestens am 4. Tag mit einer frisch entnommenen Blutprobe zu wiederholen. In Ausnahmefällen kann diese Gültigkeit auf bis zu 7 Tagen verlängert werden. Im Labor erfolgt die Erfassung der Proben und die Blutgruppenbestim‐ mung mit dem Antikörpersuchtest. Sind diese bestimmt, werden die entspre‐ chenden Blutkomponenten ausgewählt und bereitgestellt. Nur die konkret angeforderten Präparate werden an die klinische Einheit abgegeben. Der Transport erfolgt unter Vermeidung von Erwärmung oder Unterkühlung. Hierbei ist es wichtig, die Kühlkette nicht zu unter‐ brechen. Nur ausgebildete und geschulte Mitarbeiter und Mitarbeite‐ rinnen dürfen diese Aufgabe übernehmen. Eine Zwischenlagerung in Kühlschränken, die nicht speziell für die Lagerung von Blutbestand‐ teilen zugelassen sind, ist unzulässig. Die Konserven selbst verfügen über einen Indikator, der die Einhaltung der Kühltemperatur über‐ prüft. Das Rhesus-Merkmal Das „Rhesusgen“ hat Einfluss auf den Ammoniak-Haushalt und somit auf den pH-Wert des Organismus. Die Verbreitung erlaubt interessanterweise auch Rückschlüsse auf genetische Distanz von Völkern. Das Rh-Merkmal D sollte immer berücksichtigt werden, um eine Immunisierung zu vermei‐ den. Wegen des Mangels an Rh D negativem Blut ist die Übertragung von Rh D positiven Erythrozytenkonzentraten an Rh D negative, nicht immu‐ nisierte Patientinnen in Einzelfällen notwendig. Eine solche Übertragung 119 2.2 Hämotherapie <?page no="120"?> sollte nur in Betracht kommen, wenn die Transfusion lebenswichtig ist und Rh D negatives Blut nicht zeitgerecht beschafft werden kann. Bei Rh D negativen Mädchen und gebärfähigen Frauen ist die Transfusion von Rh D positiven EK mit Ausnahme von vitalen Indikationen unbedingt zu vermeiden. Die Dringlichkeit der Indikation, für die der transfundierende Arzt die Verantwortung trägt, ist genau zu dokumentieren. Mädchen und gebärfähige Frauen sollten keine EK erhalten, die zu einer Immunisierung gegen Antigene des Rh-Systems oder das Kell-Merkmal K führen können. Bei einer Transfusion von Rh D positiven Präparaten auf Rh D negative Pa‐ tientinnen hat der weiterbehandelnde Arzt eine serologische Untersuchung 2-4 Monate nach Transfusion zur Feststellung evtl. gebildeter Antikörper zu veranlassen. Wissen | Bedside-Test Der Bedside-Test ist zwingend und muss am Patienten oder der Pati‐ entin durch den transfundierenden Arzt oder unter seiner unmittelbaren Aufsicht durchgeführt werden. Er muss unmittelbar am Patientenbett erfolgen. Der Test dient der letztmaligen Überprüfung der Identität und Kompatibilität und vor der definitiven Transfusion. Die Einleitung der Transfusion der ersten Blutkonserve einer Serie erfolgt durch den Arzt persönlich. Es gibt die Empfehlung der biologischen Vor‐ probe nach Oehlecker: 10-15 ml des Blutproduktes zügig einlaufen lassen, dann langsam stellen und Patienten fünf Minuten beobachten. Wichtig ist die Dokumentation der Zeit durch die verantwortliche ärztliche Person. Das Umhängen der am Patienten belassenen und vom Arzt vor Transfusi‐ onsbeginn geprüften Blutkonserven kann durch Pflegekräfte durchgeführt werden. Der Patient sollte in dieser Phase krankheitsspezifisch beobachtet werden. In der Notfallsituation ist ein abweichendes Vorgehen möglich und die Gründe hierfür müssen in der Krankenakte schriftlich dokumentiert werden. Zur Erstversorgung können Erythrozytenkonzentrate der Blut‐ gruppe 0 verwendet werden. Vor Einleitung der ersten Transfusion wird eine Blutprobe abgenommen. Alle normalerweise vorgeschriebenen Unter‐ suchungen werden schnellstmöglich mit Routinemethoden nachgeholt. Nach Beendigung der Transfusion wird der Konservenbeutel 24 h bei +1 bis +10 °C aufgehoben. Die Kontrolle der anwendungsbezogenen Wirkung 120 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="121"?> kann laborchemisch durch die Bestimmung des Hämoglobin-Wertes oder des Hämatokritwertes erfolgen. Es reichen auch die klinische Evaluation der Besserung kardiopulmonaler Symptome oder Besserung der ischämietypi‐ schen Veränderungen im EKG. Die Dokumentation erfolgt produktbezogen durch das Labor und pa‐ tientenbezogen im Krankenblatt und erfüllt somit alle Dokumentations‐ pflichten. Checklisten der Transfusion erlauben eine Dokumentation der Indikationsstellung. Im Konservenbegleitschein werden die Abgabe der Konserve und etwaig eintretende Transfusionsreaktionen dokumentiert. Transfusionsreaktionen Transfusionsreaktionen können unvermittelt auftreten und bedürfen der unmittelbaren medizinisch-ärztlichen Behandlung. Zu unterscheiden sind nicht schwerwiegende von schwerwiegenden Transfusionsreaktionen. Letztere sind definiert bei lebensbedrohlicher oder tödlicher Reaktion, bei Reaktionen, die zu Arbeitsunfähigkeit führen oder eine stationäre Behand‐ lung bedürfen oder eine Verlängerung der stationären Behandlung zur Folge haben. Bei einsetzender Transfusionsreaktion ist die Transfusion unmittelbar abzubrechen, wobei der bestehende venöse Zugang weiterhin offengehalten werden sollte. Ein weiterer Zugang kann erforderlich sein. Der ärztliche Dienst ist unmittelbar zu informieren. Der häufigste Grund einer Fehltransfusion ist die Verwechslung eines Patienten oder einer Patientin. Insofern ist unmittelbar die Identität zu prüfen. Eine Blutprobe sollte abgenommen werden und dem Labor zur immunhämatologischen Untersuchung weitergereicht werden. Infolge ei‐ ner Fehltransfusion kann es zur Hämolyse, also zu einer Auflösung der roten Blutkörperchen kommen. Ebenso kann eine bakterielle oder virale Infektion zu einer Reaktion führen. Auch eine Pilzinfektion kann ursächlich sein. Ergänzend sind noch Stabilisatoren in der Konserve zu erwähnen. Transfusionsreaktionen können unterschiedlichen Ausmaßes sein und auch eine Intensivtherapie einfordern. Sie sind immer ernst zu nehmen. Wichtig ist die Information der übergeordneten Einheiten. Sie können ergänzend Hinweise zur Therapie geben. 121 2.2 Hämotherapie <?page no="122"?> Bluttransfusionen können nachweislich Leben retten und unterstüt‐ zen komplexe Behandlungsformen für eine erfolgreiche Therapie. Fehltransfusionen können entgegengesetzt wirken und ein Leben beenden. Während die Produktqualität stetig verbessert werden konnte, stellt der bedeutendste Fehler, die Fehltransfusion aufgrund falscher Zuordnung dar. Verwechslung, Unachtsamkeit, Dokumentationsfehler, Wissenslücken, Hektik u. v. a. m. können Ursache sein. Nachteilig ist, dass es keine guten oder nur unscheinbare Vorwarnzeichen für eine bereits eingetretene Fehl‐ transfusion gibt. Für die Entwicklung einer Hämolyse bedarf es wohl ein Überschreiten einer „kritischen Dosis“ von etwa 50-80 ml. Mit der Hämolyse laufen Schritte der ausgelösten Komplementkaskade autonom ab, ohne dass wir das beeinflussen können. Hauptursache einer Fehltransfusion ist die Patientenverwechslung. Ursachen können vielfältig sein. Auf der Station kann die Auslegung der Identifikation anders sein als im Labor. Wenn es auf der Station nur einen Patienten mit dem Nachnamen ‚Schlüter‘ gibt, dann spielt es evtl. eine weniger wichtige Rolle, ob die Anforderungen mit Schlüter, Schlueter, Shlüter oder Schluiter geschrieben werden. Im immunhämatologischen Labor können sich jedoch über 50 Altdaten‐ sätze befinden und einige davon unterscheiden sich nicht im Vornamen oder Geburtsdatum. Ein nicht berücksichtigter Antikörper kann zu einer Hämolyse führen. Eine Blutkonserve wird an aufeinanderfolgende Ausgabestellen an wei‐ tere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übergeben. An jeder dieser Stellen ist eine Patientenverwechslung möglich (→ Abb. 21). Auf eine korrekte Identitätsprüfung ist zwingend zu achten. 122 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="123"?> Blutentnahme Laboruntersuchung Konservenausgabe Transport Verabreichen Abb. 21: Punkte, an denen es zu Fehlern der Identifikation kommen kann. An jedem Punkt kann ein Identifikationsfehler entstehen. Es gibt aber auch andere Beispiele, die zu einer Gefährdung führen können: Während des Ausfüllens eines Anforderungsscheines wird ein Arzt kurz abgelenkt. Anstatt den gerade bearbeitete Anforderungsschein nochmals bewusst zu überprüfen, wird der die Bestellung nach der Ablenkung „erin‐ nert“, unterschrieben und abgeschickt. Der schriftliche Hinweis auf etwaige irreguläre Antikörper kann dabei versehentlich unterbleiben. Eine Patientin hatte sich über die Versichertenkarte einer Freundin im Krankenhaus behandeln lassen, inkl. einer Transfusion. Die Blutgruppe war nicht bekannt. Zwei Jahre später wird die tatsächliche Inhaberin der Karte notfallmäßig in dieses Krankenhaus aufgenommen und soll bei niedrigem Hb-Wert ungekreuzte Erythrozyten-Konzentrate erhalten. Der Arzt hatte in der Stress-Situation auf den Bedside-Test verzichtet, da die Patientin offensichtlich bekannt war. Die Transfusion konnte nach kurzer Zeit gestoppt werden, da laborseitig eine Inkonsistenz der Proben erkannt wurde. Da für den späten Abend die Transfusion von zwei Erythrozyten-Kon‐ zentrate angeordnet war, lässt ein Arzt aus praktischen Gründen zwei Konserven gleichzeitig über ein Y-Stück am Katheter einlaufen. Im späteren Verlauf hatte es eine unerwünschte Reaktion beim Patienten gegeben. Es konnte nachträglich nicht festgestellt werden, welches der beiden Präparate verantwortlich war. Aufgrund der heftigen Transfusionsreaktion war die Patientin intensivpflichtig. 123 2.2 Hämotherapie <?page no="124"?> Zusammenfassung | Hämotherapie Die Indikation zur Bluttransfusion sollte zweifelsfrei sein. Der Zeitpunkt und die Umstände einer Transfusion sollten so gewählt werden, als dass unnötige Risiken vermieden werden. Eine ausreichende theore‐ tische und praktische Schulung aller am Prozess Beteiligten sollte gewährleistet sein, ebenso sollten die Ansprechpartner zu Fragen der Transfusion bekannt sein. Im gesamten Behandlungsprozess ist auf eine unmissverständliche Patientenidentifikation zu achten. Alle Angaben sind fortwährend auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Der Bedside-Test ist unmittelbar am Patienten durchzuführen und die letzte Schutzmaß‐ nahme vor Verwechslungen. Verwendete und weiterführende Literatur Kneis, P. R. (2009): Eindeutige Identifikation von Blutprodukten. In: Hämotherapie 12, S. 22-27. Offergeld, R. et al. (2019): Stellungnahme Fehlanwendungen von Blutkomponenten. In: Bundesgesundheitsblatt 62, S. 1140-1143. Online: doi.org/ 10.1007/ s00103-019 -02989-9. Pekrul, I.; Wittmann, G.; Möhnle, P. (2018): Novelle der Hämotherapierichtlinien 2017. In: Anaesthesist 67, S. 56-60. Online: doi.org/ 10.1007/ s00101-017-0388-z. Ritter, S.; Hamouda, O.; Offergeld, R. (2012): Demografie und Spendeaktivität von Blut- und Plasmaspendern in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt 55, S. 914- 922. DOI 10.1007/ s00103-012-1515-2. Strasser, E. (2018): Die neue Richtlinie Hämotherapie. In: Unfallchirurg 121, S. 423- 428. Online: doi.org/ 10.1007/ s00113-018-0489-4. 2.3 Infektionskrankheiten Schwarzer Tod, Spanische Grippe, HIV und Covid-19 sind Pandemien weltweiter Tragweite. War im Mittelalter das bodengebundene Handelsnetz Verbreitungsweg von Infektionen, sind es jetzt die Flugrouten, die ein lokales Problem zu einer weltweiten Katastrophe werden lassen. 124 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="125"?> Bakterien, Viren und Pilze bestimmen unser Leben. Ohne sie können wir nicht sein. Der Geschmack des Rotweines erschließt sich erst durch Fermente, die bereits im Mund wirken und das Bukett entwickeln lassen. Auf der Haut befinden sich Bakterien, die uns vor Angreifern schützen und zugleich für den charakteristischen Schweiß verantwortlich ist. Der gemeinsame Kuss des Paares führt zum Massenaustausch an Keimen. Das Paar ist in seiner Zweisamkeit nie allein. Milliarden von Mikroorganismen besiedeln unsere Körperoberfläche und unseren Darm. Sie sind unsere ständigen Begleiter. Die Zusammensetzung dieser Lebensgemeinschaften variiert zwischen den unterschiedlichen Indi‐ viduen und dennoch ist die Grundgesamtheit die Gleiche. Wissen | Mikrobiota Der Begriff der Mikrobiota beschreibt alle Mikroorganismen, die einen Organismus kolonisieren. Die Gesamtheit der genetischen Information aller kolonisierenden Mikroorganismen wird als Mikrobiom bezeich‐ net. Das Resistom ist definiert als die Gesamtheit der Resistenzgene in einem bestimmten Milieu. Mikroorganismen sind für die Verdauung wesentlich. Hier werden die Nahrungsbestandteile zur Aufnahme der Darmzellen vorbereitet und aufgespalten. Das Milieu hält sich selbst stabil und kann auch eigene Se‐ krete mit antibiotischer Wirkung entwickeln, um das Spektrum und das Verteilungsmuster der Mikroorganismen beizubehalten. Es verändert sich stetig und passt sich den Bedingungen an. Die Zusammensetzung des Mikrobioms wurde mit der unterschiedlichen Empfindlichkeit ge‐ genüber Infektionen in Verbindung gebracht. Es reagiert also auf eine Infektion. Welche Mikroorganismen für den Schutz vor Infektionen ver‐ antwortlich sind, ist jedoch nicht bekannt. Im Tiermodell sind Bakterien identifiziert worden, die den Schutz gegenüber krankheitserregenden Mikroorganismen im Zusammenspiel mit dem Immunsystem des Wirts‐ organismus verbessern. Mikrobiota und Wirt (engl. host also Wirt bzw. Gastgeber) üben eine kommensale Lebensgemeinschaft aus (lat. mensa also Tisch bzw. Ta‐ fel), die sich gegenseitig bedingen und auch gegenseitig unterstützen. Die Zusammensetzung der Nahrung, die genetische Ausgestaltung des Orga‐ nismus und auch antibiotisch wirkende Substanzen üben einen Einfluss 125 2.3 Infektionskrankheiten <?page no="126"?> auf die Zusammensetzung der Mikrobiota. Die metabolischen Abläufe in der Mikrobiota führen zu einer Umgestaltung der immunologischen Kom‐ petenz, mit präventiven Wirkungssystemen hinsichtlich Infektionserregern. So stabil dieses System ist, so fragil kann es aber auch sein. Schwere Begleiterkrankungen des Wirtes durch Unfall, Krankheit oder Gebrechen, schwere metabolische Veränderungen wie sie bei Diabetes mellitus oder auch der Adipositas, konsumptive Erkrankungen wie Sepsis oder Krebser‐ krankungen belasten das System und machen den Organismus anfällig. Der Schutz durch Bakterien beginnt dabei schön früh. Vaginale Milchsäu‐ rebakterien schaffen in der Schwangerschaft ein saures Milieu und machen es für Bakterien schwieriger, sich anzusiedeln und damit den wachsenden Foeten zu gefährden. Durch Lactobacillen können Bakterizide produziert werden. Weitere Effekte sind eine Stabilisierung der zellulären Kompetenz der Schleimhautzellen vor zellschädigenden Substanzen. Bei der natürlichen Geburt wird das Neugeborene mit den Keimen der vaginalen Schleimhaut benetzt. Kaiserschnittkinder haben dies nicht und fallen durch eine verminderte Immunkompetenz auf. Sie haben später häufiger Infektionen und Autoimmunerkrankungen. Vaginal Seeding (engl. seeding also Aussaat) zu der nachfolgenden Benetzung des neugeborenen Kindes durch vaginale Lactobacillen einer gesunden Mutter ohne klinische Vaginose stellt eine mögliche Verbesserung dar. Es gibt aber auch Kritiker, sowohl in der Geburtshilfe und in der Kinderheilkunde. Beim Saugen an der Brust, kommt es ebenfalls zur Transition von Bakterien mit der Muttermilch. Neben der durch die Kindsmutter weitergegebenen Immunglobuline, die eine erste Im‐ munkompetenz aufzeigen, wird in dieser Weise eine bakterielle DNA als Mikrobiom an die nächste Generation weitergereicht. Das Kind entwickelt eine eigene Mikrobiotasignatur in den kommenden zwei bis drei Jahren, die dann der adulten Form des erwachsenen Menschen entspricht. Beim adulten, dem erwachsenen Menschen kommt es zu einer eigenständi‐ gen Standardmikrobiota vornehmlich an Darm und Haut, aber auch im Urogenitaltrakt mit funktionellen Unterschieden. Im Bereich des Gastroin‐ testinaltraktes hat die Mikrobiota einen Einfluss auf ansonsten unverdau‐ liche pflanzliche Polysaccharide, die vorbereitend aufgeschlossen werden. Es wird ein positiver Einfluss auf das Immunsystem und die Regulation 126 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="127"?> von Entzündungsprozessen ausgeübt. Es wehrt auch eigenständig krank‐ machende Erreger ab, bevor sie den Organismus ergreifen. Zwischen den Individuen zeigt sich eine individuelle Textur, bei großer Ähnlichkeit der Mikrobiota zwischen den Individuen. Dabei zeigen Indivi‐ duen desselben Haushaltes Ähnlichkeiten im Darmmikrobiom. Studien zu Folge, zeigen Menschen in industrialisierten Regionen gegen‐ über nicht industrialisierten Regionen eine geringere Diversität und eine andere Mikrobiomstruktur. Hinsichtlich Diabetes mellitus und Adipositas sind Einflussgrößen zu erkennen. Es zeigt sich bei Diabetes mellitus ein verändertes Mikrobiom mit der Folge einer Insulinresistenz, bei Adipositas mit der Folge einer Aufhebung von Sättigungsgefühl. Die Zusammenhänge sind noch nicht abschließend geklärt. Eine Diversität der Mikrobiota ist beim Menschen mit Wohlbefinden und Gesundheit assoziiert. Mikrobiota haben nachweislich eine wichtige regulatorische Funktion im Rahmen der Homöostase. Es werden Interaktionen des Darm-Mik‐ robioms mit dem Gehirn, der Leber, dem Immunsystem und mutmaß‐ lich auch der Lunge beschrieben. Es erscheint, dass eine möglichst diverse Mikrobiota eine Voraussetzung für eine physiologische Regula‐ tion der Zielorgane darstellt. Eine Dysbiose, also eine Veränderung der Mikrobiotasignatur und damit des Mikrobioms erscheint für das Ent‐ stehen von unterschiedlichen Erkrankungen, wie Colitis ulcerosa und Reizdarmsyndrom, Adipositas, Diabetes mellitus oder metabolische Syndrome ursächlich zu sein. Auch ein Zusammenhang mit kardio‐ vasculären Erkrankungen, nichtalkoholischen Fettlebererkrankungen und neurologischen Erkrankungen wird diskutiert. Die Entwicklung von Asthma bronchiale zeigt sich bei konventioneller Landwirtschaft der Amish-People, einer täuferisch-protestantischen Glaubensgemein‐ schaft in Nordamerika, gegenüber der technisierten Landwirtschaft der Hutterer, ebenso eine täuferische Gemeinschaft in Nordamerika, geringer ausgeprägt. Als Grund wird die Biodiversivität unter konven‐ tioneller Landwirtschaft interpretiert. Auch autoimmunologische Er‐ krankungen erscheinen mit einer Dysbiose des Mikrobioms assoziiert. Es ergeben sich hinsichtlich des Mikrobioms folgende Kernaussagen: Populationen ohne vorhergehende Antibiotikaexposition über mehrere Generationen weisen eine deutlich höhere Diversität als industrialisierte Populationen auf. Gleichzeitig besteht eine niedrige Prävalenz von Zivilisa‐ 127 2.3 Infektionskrankheiten <?page no="128"?> tionskrankheiten. Kumulative Dysbalance hat einen negativen Einfluss auf Wohlergehen und Gesundheit. Es sind generationsübergreifende Populati‐ onseffekte auch in der Resistenzforschung beschreiben. Infektionskrankheiten Infektionskrankheiten sind ansteckende Erkrankungen, die durch verschiedene Erregertypen ausgelöst werden können. Dies sind Bak‐ terien, Viren, Pilze und Parasiten, die sich am oder im menschlichen Körper ansiedeln. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich im Wirt vermehren und auch über andere Wirte weiterverbreiten. Es können bestimmte Organe oder auch der gesamte Organismus von einer Infektion betroffen sein. Der Organismus hat die Möglichkeit, fremden Erregern immunologisch zu begegnen und die krankmachenden Erreger zu bekämpfen. Hierbei sind die Abläufe komplex und greifen ineinander. Es wird eine unspezifische Immunantwort von einer spezifischen Immunantwort unterschieden. Zellen der weißen Blutkörperchen wie Granulozyten, Monozyten und Makrophagen vermögen Krankheitserreger zu erkennen und zu phagozy‐ tieren. Die Krankheitserreger können sich dieser ersten Immunantwort entziehen. Aktivierte Lymphozyten können über Oberflächenmarker, den Antigenen, eine erregerspezifische Immunantwort geben. Antigen-Antikör‐ per-Komplexe werden durch Makrophagen aufgenommen und zerstört (Phagozytose). Infizierte Zellen werden direkt zerstört. Übertragunsgwege Bakterien, Viren und Pilze können auf unterschiedliche Weise übertra‐ gen werden. Tröpfchen und vornehmlich Aerosole haben einen brei‐ ten Verteilungsradius. Beispiele hierfür sind die Windpocken aber auch SARS-CoV-2-Viren. Schmierinfektionen oder Austausch von Körperflüs‐ sigkeiten bedingen einen engeren Kontakt. Fliegen oder Mücken können nach Stichverletzung Krankheitserreger übertragen. Auch Lebensmittel und Trinkwasser sind Übertragungswege. Auch andere Wege durch Verletzung oder Inokulation in Körperhöhlen oder durch Blutübertragungen sind mög‐ lich 128 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="129"?> Die Infektion eines Organismus ist von der Kontagiösität (Übertra‐ gungsfähigkeit eines Krankheitserregers), der Pathogenität (Fähigkeit eine krankhafte Veränderung im Organismus hervorzurufen) und von der Virulenz (Ansteckungsfähigkeit) der Mikroorganismen abhängig. Eine HIV-Infektion setzt beispielsweise in der Regel einen intensiven direkten, ungeschützten sexuellen Kontakt oder auch eine Injektion beim gemeinsa‐ men Gebrauch von Nadeln voraus. Pocken können über Aerosole über weite Strecken transportiert werden. Die Verbreitung von Cholera wird durch eine nicht funktionierende Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung unterstützt. Mikroorganismen Viren verfügen über keinen eigenen Stoffwechsel. Daher sind sie keine wirklichen Lebewesen. Sie sind in ihrer Vermehrung immer auf eine Wirts‐ zelle angewiesen. Dabei schleusen sie ihr Erbgut in die Zelle ein. Der genetische Code ist universal und die Zelle repliziert im Zellkörper Virionen. Dieser Prozess wird so lange fortgesetzt, bis die Wirtszelle so viele Viren enthält, dass sie aufplatzt. Die so frei gewordenen Viren infizieren wiederum andere Zellen und so kann sich das Virus weiterverbreiten. In der Zelle werden aus der Erstinformation der DNA spezifische RNA gebildet, die dann im Cytoplasma die Proteinsynthese induziert. Aus Aminosäuren entstehen dreidimensionale Proteine, wie Enzyme, Antikörper oder Hormone. Viren transportieren eine DNA oder eine RNA, die dazu führt, dass im Zytoplasma der Zelle neue virale Proteine entstehen. So werden neue Viren repliziert. Bei den sog. Retroviren wird - wie typischerweise bei der HIV-Erkrankung - die virale Erbsubstanz mittels reverser Transkriptase in das menschliche Genom integriert. Das ist ein besonderes Enzym, was den Einbau der genetischen Information in die DANN ermöglicht. Bei RNA-Viren ist das Erbgut nicht so stabil und unterliegt schnell Veränderungen. Dies ist aber auch Ausdruck einer Anpassungsfähigkeit, die eine flexiblere Reaktion des Virusstammes erlaubt. Virustatika verhindern die Fusion von Viren mit der Wirtszelle oder blockieren die reverse Transkriptase, die die Einfügung der genetischen Information in die DNA verhindern. Bakterien sind in sich abgeschlossene Systeme, die einfach aufgebaut sind. Alle Bestandteile für Reproduktion und Stoffwechsel befinden im flüssigen Anteil, dem Cytosol der Zelle. Sie sind in der Lage, sich selbst zu vermehren. Bakterien sind extrem anpassungsfähig und sind fast überall 129 2.3 Infektionskrankheiten <?page no="130"?> auf der Erde zu finden. Sie sind in der Tiefsee, wo sie Methan als Nahrung verwerten können aber auch in extremer Kälte im Permafrost der Antarktis als auch bei großer Hitze von bis zu 130 °C und auch hohen Drücken von bis zu 4.000 Atmosphären zu finden. Bakterien lassen sich auch in Wüstensand nachweisen. Sie können sich zu Bakterienverbänden zusammenfinden, sich untereinander versorgen und Kommunikationsstrukturen im Verbund aufbauen. Zum eigenen Erhalt und zur Vermehrung sind sie auf Nährstoffe angewiesen, die sie in ihrer unmittelbaren Umgebung finden. Die gesunde Symbiose zwischen Bakterien und menschlichem Organismus kann jedoch auch gestört werden und zu lebensbedrohlichen Veränderungen führen. Eine Blinddarmentzündung (Appendizitis acuta) kann durch körpereigne Bakterien hervorgerufen werden, was schlimmstenfalls zu einer Sepsis führen kann. Auch körperfremde Bakterien können in die Blutstrombahn gelangen und zu einer Infektion bis hin zur Sepsis führen. Einige Erreger sind resistent gegen Antibiotika. Hefen und Pilze besitzen einen Zellkern und Zellorganellen. Hefen sind Einzeller, Pilze sind Mehrzeller. Pilze sind heterotroph und damit auf Nahrung angewiesen. Eine Photosynthese ist ihnen nicht möglich. Das unterscheidet sie von Pflanzen und zugleich sind sie auch keine Tiere. Wenn‐ gleich Pilze einen für uns positiven Effekt haben, wie bei der Herstellung von Brot, Käse, Joghurt und Bier, so können sie sehr unangenehme Krank‐ heiten beim Menschen auslösen. Meist handelt es sich um oberflächliche Infektionen von Schleimhäuten, die langwierig und hartnäckig sein können. Die Behandlung ist aufwändig und schwierig. In Einzelfällen können sich Pilzerkrankungen (Mykosen) bis hin zur Sepsis entwickeln. Pilze werden auch zu den opportunistischen Krankheitserregern gezählt. Während diese beim sonst gesunden Menschen nicht zu einer Erkrankung führen, so ist dies bei einem Immundefekt unter besonderen Bedingungen (wie HIV, Chemotherapie oder nach Organtransplantation mit immunsuppressiver Therapie) möglich. Schutzmaßnahmen Bereits lange vor der Entdeckung von Bakterien kam die erfolgreiche Me‐ thode der Quarantäne im Mittelalter zur Anwendung. Dies gestaltete sich in Isolierungsmaßnahmen über etwa vier Wochen. Mit dieser empirischen Maßnahme konnte ein Krankheitsgeschehen auf einem Schiff begrenzt werden und die Bevölkerung der Hafenstadt vor einer Erkrankungswelle 130 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="131"?> geschützt werden. Ein solches Vorgehen war auf Schiffen der Hafenstädte erfolgversprechend, weniger jedoch entlang der Handelsstraßen. Lange Zeit war die Miasmenlehre (gr. „miasma“, Besudelung, Verunreinigung) im Mittelalter gängige Lehre für die Entwicklung von Krankheiten. Ausduns‐ tungen der Erde oder der Luft waren als ursächlich betrachtet worden für die Entwicklung von Krankheiten der Bevölkerungen. Nach der Lehre von der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Lebe‐ wesen durch Auslese, sind die einzelnen Organismen bestrebt, sich zu vermehren und zu erhalten. Im Umfeld der Infektion entwickelt sich ein Cluster, eine Art Schwarm infizierter Individuen, so dass Quarantänemaß‐ nahmen geeignet sind, um die Verbreitung einzudämmen. Angesichts der Pandemie SARS-CoV 2 haben Quarantänemaßnahmen eine Renaissance erfahren und zunehmend an Bedeutung gewonnen. Weitere bekannte Quarantänemaßnahmen sind bei Noro-Virusinfektion in der Binnenkreuz‐ fahrt bekannt. Auch im Rahmen der Ebola-Pandemie war das Verfahren erfolgversprechend. Insbesondere bei Zoonosen zeigen sich erschwerte Re‐ aktionsmöglichkeiten. Zoonosen beschreiben die Übertragung von Krank‐ heitserregern der Tierwelt auf den Menschen. Sie sind schwer behandelbar und können zum Ausbruch von Pandemien führen. Es wird diskutiert, dass die Ausweitung des Menschen und die damit verbundene Eingrenzung des Lebensraumes für Flora und Fauna zu einer Erhöhung der Rate an Zoonosen geführt haben. Insbesondere werden hierzu Wildtiermärkte diskutiert, bei denen Mensch und Wildtier in einem engen Kontakt stehen. Zusätzlich werden die eingeschränkten hygienischen Bedingungen und der Stress der Tiere in Gefangenschaft und Enge mit verminderter Immunregulation als auch die Schlachtung der Tiere vor Ort als mitursächlich interpretiert. Beispiel | Coronapandemie Bei der Covid-19-Pandemie wurde nicht nur mit Quarantänemaßnah‐ men reagiert. Es erfolgte ein umfassender Maßnahmenkatalog, um die Kontakthäufigkeit zu begrenzen. Abstandsregeln, Händehygiene und Alltagsmasken vermindern eine Transmission. Durch diese Maßnah‐ men zeigte sich eine Reduktion nahezu aller Infektionskrankheiten, die nach dem Infektionsrecht meldepflichtig besonders zu berücksichtigen sind. Bei der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) zeigte sich bei der Covid-19-Pandemie eine Zunahme, die auf eine erhöhte Virulenz und vermehrter Outdoor-Aktivität zurückzuführen waren. 131 2.3 Infektionskrankheiten <?page no="132"?> Eine Erfolgsgeschichte der Impfung ist die Beherrschung der Pocken. Es ist ein Doppelstrang-DNS-Virus, was durch Tröpfchen und Aerosole übertragen wird. Nach einem initialen fieberhaften Effekt kommt es zu Pustel-Bildungen an der Haut, mit übelriechendem Eiter gefüllt und nach ein paar Tagen verkrustend. Es verbleiben Narben. Schwere Hör-, Hirn- oder Lungenschädigungen können entstehen. Die Sterberate beträgt etwa 30-40 %. Es gibt Hinweise, dass Pocken bereits in vorchristlicher Zeit die Menschheit begleiteten. Im Mittelalter wurde Europa von mehreren Epidemien heimgesucht. Die Kreuzzüge trugen zur Verbreitung erheblich bei. Auch durch die Kolonialpolitik wurden Pockenviren verbreitet und sie erreichten Länder wie Amerika und Australien. Das Europa des 18. Jahrhun‐ dert wird auch als das Zeitalter der Pocken bezeichnet. Mit der Einführung der Impfung konnte die Lage deutlich verbessert werden. Es begann - und womöglich auch zuvor in asiatischen und arabischen Ländern - mit der Variolation. Dazu wird der Schorf geheilter Überlebender pulverisiert und gesunden Personen verabreicht. Dieses Verfahren ist nicht ungefährlich. Nach einer überstandenen Erkrankung waren die Viren zwar weniger virulent, es bestand aber immer noch ein beträchtliches Risiko, dass sich eine Erkrankung entwickelte. Das Verfahren war daher auch mit einer Sterblichkeitsrate verbunden. Der englische Arzt und Naturwissenschaftler Edward Jenner (1749-1823) aus Gloucester interessierte sich Ende des 18. Jahrhunderts für Kuhpocken. Er beobachtete, dass Milchmädchen, die an Kuhblattern erkrankt waren, vor Pocken geschützt waren. Ethisch enorm fragwürdig injizierte er im Laufe seiner Untersuchungen einen achtjährigen Jungen mit Kuhblattern. Dieser Junge durchlief dabei ein leichtes Krankheitsbild. Zwei Monate später wurde der Vorgang mit menschlichen Pockenerregern wiederholt und der kleine Junge überlebte die Behandlung ohne nennenswerte Krankheitssymptome. Das Grundprinzip moderner Impfmethoden wurde geschaffen. Das Verfah‐ ren wurde als Vaccination beschrieben und hat sich als Begrifflichkeit im angloamerikanischen Raum etabliert, wenngleich Kühe bei der Impfstoff‐ entwicklung keine Rolle mehr spielen. In Deutschland trat die letzte große Pockenepidemie im Deutsch-Fran‐ zösischen Krieg 1870/ 71 auf und führt zum Reichsimpfgesetz in Preußen 1874. Seither wurde die Impfung als Pflichtimpfung durchgeführt. Mit den 1970er-Jahren wurde die Impfpflicht aufgehoben. Die WHO erklärte 1979 die Welt für pockenfrei. 132 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="133"?> Zur Impfung stehen im Wesentlichen zwei grundsätzliche Verfahren zur Verfügung. Bei der Herstellung von Lebendimpfstoffen werden Krankheitserreger durch spezielle Verfahren abgeschwächt und verlieren dadurch - teilweise oder ganz - ihre krankmachenden Eigenschaften. Sie können jedoch weiterhin eine Abwehrreaktion des Körpers auslösen. Die abgeschwächten Erreger bleiben vermehrungsfähig und können im menschlichen Körper zu ähnlichen Reaktionen wie bei einer Erkrankung führen. Man spricht von einer „Impfkrankheit“. Diese Reaktion fällt - im Gegensatz zu Beschwerden bei einer echten Infektion - aber deutlich schwächer aus. Bei der Herstellung eines Tot- oder Toxoidimpfstoffes werden die Krankheitserreger mithilfe von physikalischen oder chemischen Prozessen abgetötet bzw. inaktiviert. Dadurch können sie sich nicht mehr vermehren und keine Infektion auslösen. Dies kann erreicht werden, indem ein Erreger beispielsweise durch Hitze zerstört oder durch beigefügte Hilfs‐ stoffe abgetötet wird. Da Totimpfstoffe eine schwächere Immunantwort (Reaktion des Immunsystems auf Erreger) auslösen als Lebendimpfstoffe, müssen sie in regelmäßigen Abständen aufgefrischt werden. Neben dieser aktiven Immunisierung, bei der der Organismus eigenstän‐ dig Abwehrmaßnahmen einzuleiten hat, werden bei der passiven Impfung nach einem möglichen Kontakt mit Infektionserregern die entsprechenden Antikörper verabreicht. Der Organismus muss die Antikörper nicht wie bei einer Infektion selbst bilden. Der Erreger kann sofort unschädlich gemacht werden. In der Regel hält eine solche passive Impfung nur wenige Wochen bis Monate an, dann sind die applizierten Antikörper ausgeschieden oder abgebaut und der Organismus durch eine neuerliche Infektion durch denselben Erreger wieder gefährdet, da das Immunsystem durch die schnelle - und notwendige - Behandlung nicht ausreichend stimuliert wurde. Das Prinzip der passiven Immunisierung durch die Verwendung monoklonaler Antikörper hat in der Frühphase einer Infektion eine therapeutische Relevanz erfahren. Eine eingetretene Infektion kann hierdurch eingedämmt oder beherrscht werden. Beispiel | Coronaimpfstrategie Bei der Impfstrategie gegen Covid-19 werden die Strategien der Vek‐ torimpfung und der mRNA-Impfung verfolgt. Bei einem Vektorimpf‐ stoff wird in ein für den Menschen ungefährliches Virus (der Vektor oder auch Trägervirus) die Information für die Herstellung eines Stücks der Hülle des Coronavirus SARS-CoV-2 eingebaut. Der Vektor gibt 133 2.3 Infektionskrankheiten <?page no="134"?> diese Information nach der Impfung an Zellen im menschlichen Kör‐ per weiter. Das Verfahren, nach dem die mRNA-Impfstoffe oder auch messenger-RNA (also übersetzt Boten-RNA) funktionieren, ist bisher schon erfolgreich bei der Therapie von Tumorerkrankungen zum Ein‐ satz gekommen und somit kein völlig neues Prinzip. Beide Verfahren führen dazu, dass spezifische Proteine der Virushülle mittels dieser RNA-Information direkt erstellt werden und die Immunantwort durch die Bildung von Antikörpern eingeleitet wird. Impfstoffentwicklungen benötigen mehrere Jahre (12-15 Jahre). Bei der SARS-Cov-2 Impfstoffentwicklung wurde ein solcher Prozess auf ca. 10- 18 Monate gekürzt. Dies hat mehrere Gründe. Bereits aus der SARS-Vi‐ ruspandemie 2002/ 2003 lagen viele Erkenntnisse über das Virus selbst aber auch um mögliche Impfstrategien vor. Nach zügiger Genehmigung wurden die klinischen Studienphasen teils parallel durchgeführt. Diese beginnen mit einer kleinen Anzahl gesunder Probanden und enden mit einem signifikantem Wirksamkeitsnachweis und Marktzulassung. Nach zügiger Prüfung durch nationale und internationale Behörden erfolgen Produktion und Verteilung. Das Verteilungsmuster und der Verteilungsgrad einer Infektionserkrankung ist von der Kontagiösität, der Pathogenität und der Virulenz abhängig. Bei einer Tröpfcheninfektion oder einer aerosolbedingten Infektionskrankheit sind die Übertragungswege zügiger. Wenige Menschen können viele Men‐ schen auch über weitere Entfernungen infizieren. Mit der Impfung wird die Infektionsrate gemindert. Lassen sich somit viele Menschen impfen, können sich die Erreger begrenzt ausbreiten. Es gibt Individuen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht geimpft werden können. Diese werden durch die Geimpften in ihrer Umgebung geschützt. Dann spricht man von einer Herdenimmunität. Bei der Masernerkrankung ist eine Impfungsrate von über 95 % erfor‐ derlich, um eine Herdenimmunität zu erzielen. Wiederholt kam es in Deutschland zu Masernausbrüchen, was dazu Anlass gab, mit dem 01. März 2020 eine Impfpflicht für einen bestimmten Personenkreis einzuführen. Auch andere Staaten haben die Impfpflicht eingeführt. 134 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="135"?> Zur Behandlung von Infektionskrankheiten stehen erregertypische Behand‐ lungsmethoden zur Verfügung: ● Die medikamentöse Therapie bei Bakterien wird durch Antibiotika durchgeführt. ● Bei Virenerkrankungen stehen Virustatika, bei Pilzen Antimykotika zur Verfügung. ● Die Behandlung von Parasiten ist komplex und wird mit sog. Parasito‐ logika durchgeführt. Wissen | Antibiotika Antibiotika sind gegen Bakterien, jedoch nicht gegen Viren wirksam. Die ersten Antibiotika wurden aus Stoffwechselprodukten von Bakterien oder Pilzen hergestellt. Einzelne Penicilline gehören noch heute zu den natürlich hergestellten Antibiotika. Nicht jedes Antibiotikum wirkt gegen jedes Bak‐ terium. Es wird zwischen Breitspektrumantibiotika und Schmalspekt‐ rumantibiotika unterschieden, letztere werden gezielt eingesetzt, wenn das Keimspektrum in der Analyse der mikrobiologischen Untersuchung bekannt ist. Reserveantibiotika werden bei Erregerresistenzen eingesetzt. Ferner sind bakterizid (abtötend) und bakteriostatisch (die Vermehrung hemmend) wirkende Antibiotika zu unterscheiden. Antibiotika werden in der Humanmedizin dann eingesetzt, wenn der Nachweis oder der hoch‐ gradige Verdacht einer bakteriell bedingten Infektion bestehen. Ferner finden Antibiotika als Einzelgaben (single-shot) bei Implantationen am menschlichen Körper Verwendung. Es gibt eine ganze Anzahl antibiotisch wirkender Substanzen, die die Bakterien an unterschiedlichen Lokalisati‐ onen oder Funktionen angreifen und zerstören. Am Beispiel der Ausrottung der Pocken zeigt sich eine grundsätzliche ge‐ sellschaftliche Überzeugung, dass Infektionen besiegbar seien. Mikroorga‐ nismen zählen zu den ältesten und auch zu den beständigsten Lebensformen, die unter Extrembedingungen überlebensfähig sind. Sie sind Grundlage für die Entwicklung und Erhalt des Lebens. Zahlreiche Symbiosen zeugen von den synergistischen Effekten, die auch zum Erhalt erforderlich sind. Mikrobiota haben eine relevante Funktion im menschlichen Organismus. Zugleich ist aber auch zu beschreiben, dass nach der WHO etwa ein Drittel aller Todesfälle durch oder in Zusammenhang mit Infektionskrankheiten zu beschreiben sind. Infektionskrankheiten bedingen eine erhebliche gesund‐ 135 2.3 Infektionskrankheiten <?page no="136"?> heitsökonomische Belastung und haben einen hohen epidemiologischen Stellenwert. Erarbeitung verantwortungsvoller Strategien sind diesbezüg‐ lich erforderlich. Dabei kommt es zum Zusammenspiel unterschiedlicher Themengebiete, wie die demographische gesellschaftliche Entwicklung, ihre Rahmenbedingungen, die ökonomischen Aspekte aber auch das Indivi‐ dualverhalten. Technische Entwicklungen der Hygiene hinsichtlich Trink‐ wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Raumlufttechnik, Umweltver‐ änderungen und Lebensmittelherstellung und -vertrieb. Die Gestaltung der medizinischen Versorgung hat einen entscheidenden Einfluss im Manage‐ ment von Infektionskrankheiten. Kernaspekte ergeben sich dahingehend, Infektionskrankheiten und ihre begünstigenden Faktoren zu entdecken, zu untersuchen und zu beobachten, Labordiagnostik und Epidemiologie in das öffentliche Gesundheitswesen zu integrieren, eine offene und transparente Kom‐ munikations- und Informationspolitik und die Infrastruktur des öffent‐ lichen Gesundheitswesens zu stärken. Auch aktuell historisch zeigt sich, dass Erreger als Ursache von Erkrankungen als neue Erreger zu entdecken sind oder als neue Mutanten bekannter Erreger zu identifizieren sind. So waren das Ebolavirus und auch das HIV-Virus neue zu entdeckende Krankheiten. Lange bekannt chronische Erkrankungen beru‐ hen als Folge einer Infektion eines Mikroorganismus mit humanpathogener Wirkung. Andererseits wird der eigentliche Erreger erst nach einem langen Zeitraum entdeckt, obgleich die Erkrankung als Infektionskrankheit bereits identifiziert ist. Bekannt maligne (bösartige) oder chronisch degenerative Erkrankungen beruhen auf einen zu identifizierenden Erreger oder sind mit diesem assoziiert. Viele Mikroorganismen sind bisher unerkannt geblieben und es ist erst der Beginn der Erkenntnisgewinnung. Als Präventivmaßnahmen sind die folgenden, beispielhaften Metho‐ den als gesichert zu bezeichnen: Sicherung der Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, Abwasserentsorgungssysteme und Kläranla‐ gen, Lebensmittelhygiene, Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, Transfusionsmedizin und Hämotherapie, Impfaktionen und reisemedizini‐ sche Beratungsstrukturen, Verbesserung der Gesundheitskompetenz durch Aufklärung. Diese Maßnahmen sind nicht weltweit etabliert. 136 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="137"?> Zusammenfassung | Infektionskrankheiten Mikroorganismen besiedeln den menschlichen Körper und gehen mit dem Organismus eine lebenserhaltende Symbiose ein. Infektionskrank‐ heiten sind ansteckende Krankheiten, die durch unterschiedliche Erre‐ gertypen verursacht werden. Quarantäne, Hygieneregeln, Impfung und die Antibiotikatherapie sind effektive Maßnahmen. Kernaspekte erge‐ ben sich dahingehend, Infektionskrankheiten und ihre begünstigenden Faktoren zu entdecken, zu untersuchen und zu beobachten. Verwendete und weiterführende Literatur Fathi, A.; Hennings, A.; Addo, M. M. (2021): Weniger ist mehr … in der Infektiologie. In: Internist 62, S. 373-378. Online: doi.org/ 10.1007/ s00108-021-00967-5. Henneke, L.; Laudes, M. (2021): Mikrobiom - Bedeutung für die Manifestation des Diabetes. In: Diabetologe 17, S. 376-381. Online: doi.org/ 10.1007/ s11428-021-00716-0. Kistemann, T.; Exner, M. (2000): Bedrohung durch Infektionskrankheiten? Risiko‐ einschätzung und Kontrollstrategien. In: Deutsches Ärzteblatt 97(5), A-251-255. Ritonga, R.; Syahputra, I. (2019): Citizen Journalism and Public Participation in the Era of New Media in Indonesia: From Street to Tweet. In: Media and Communication 7(3), S. 79-90. DOI 10.17645/ mac.v7i3.2094. Schranz, M.; Ullrich, A.; Rexroth, U..; Hamouda ,O..; Schaade, L.; Diercke, M.; Boender, S. (2021): Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und assoziierter Public- Health-Maßnahmen auf andere meldepflichtige Infektionskrankheiten in Deutschland (MW 1/ 2016 - 32/ 2020). In: Epidemiologisches Bulletin 7, S. 3-7. DOI 10.25646/ 8011. Shanahan, F.; Ghosh, T. S.; O’Toole, P. (2021): The Healthy Microbiome—What Is the Definition of a Healthy Gut Microbiome? In: Gastroenterology 160, S. 483-494. Steinhagen, P. R.; Baumgart, D. C. (2017): Grundlagen des Mikrobioms. In: Internist 58, S. 429-434. DOI 10.1007/ s00108-017-0224-1. Taddicken, M.; Wolff, L. (2020): ‚Fake News‘ in Science Communication: Emotions and Strategies of Coping with Dissonance Online. In: Media and Communication 8(1), S. 206-217. DOI 10.17645/ mac.v8i1.2495. Wormer, H. (2020): German Media and Coronavirus: Exceptional Communication— Or Just a Catalyst for Existing Tendencies? In: Media and Communication 8 (2), S. 467-470. DOI 10.17645/ mac.v8i2.3242. 137 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="138"?> 2.4 Nosokomiale Infektion Historischer Kontext In den Gassen des Mittelalters wurde Abwasser frei entsorgt und gelangten so in Bäche und Flüsse, aus denen man sich mit Trinkwasser bediente. Teilweise war dies auch durch die große Landflucht begründet, die dazu führten, dass Ballungszentren in Müll und Unrat versanken. Ein Nährboden für Mikroorganismen mit weitreichenden Folgen: Malaria, Pocken, Ruhr und Pest waren an der Tagesordnung. Aus Angst vor Seuchen wurde Badeanstalten geschlossen und es kam zu einer Wasserphobie, die zu Zeiten des Barocks ihren Höhepunkt fand. Es ereigneten sich im frühen 19. Jahrhundert Choleraepidemien in Räu‐ men starker Besiedelung, die zu einer Dezimierung der Bevölkerung führte. Die Cholera wird durch Bakterien verursacht, die meist über Trinkwasser und verdorbene Lebensmittel übertragen werden. Betroffene leiden unter massivem Durchfall, was innerhalb weniger Tage zum Tode führt. Trotz der städtebaulichen Entwicklung waren die Trinkwasserversorgung und die Abwasserentsorgung unzureichend. Die Entwicklung einer Kanalisation und einer adäquaten Trinkwasserversorgung unter Rudolf Virchow, einem deutschen Pathologen und Politiker, trugen im Verlauf des 19. Jahrhunderts entscheidend zu einer Verbesserung bei. Mit Einführung der Kanalisation war und ist ein entscheidender Beitrag zur Hygiene geschaffen worden. Weitere Verbesserungen wurden durch Kläranlagen erzielt, deren Bau bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts andauerte. Eine Versorgungsstruktur, die heute allgegenwärtig ist. Ignaz Semmelweis (1818-1865), Chirurg und Geburtshelfer, erkannte evidenzbasiert den Zusammenhang zwischen Händedesinfektion und Ent‐ wicklung eines Kindbettfiebers, eine andere Form der zu dieser Zeit grassierenden Infektionserkrankungen. Er arbeitete in Wien. Die Geburts‐ stationen des Krankenhauses waren aufgeteilt in jenen Teil, der von den Hebammen betreut wird und in den anderen Teil, der von den Medizinstu‐ denten betreut wird. Die Studierenden unternahmen am Vormittag Stu‐ dien an Leichen und wechselten dann auf die geburtshilfliche Station. Dort führten sie auch vaginale Untersuchungen durch, welches die Hebammen nicht taten. Ein Waschen der Hände war seinerzeit nicht erforderlich, da man ja wusste, dass man sich die Hände wieder schmutzig machte. 138 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="139"?> Semmelweis beobachtete eine erhöhte Sterberate auf der geburtshilflichen Station, auf der die Studierenden arbeiteten und sah einen Zusammenhang mit der Sektion der Leichen. Als er die Händedesinfektion einführte, war die Sterblichkeit in beiden Stationen angeglichen. Ein evidenzbasierter Beweis, dass eine Händedesinfektion einen positiven Einfluss auf die Sterblichkeitsrate hat. Hygiene ist die Lehre von der Verhütung von Krankheiten und der Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit und beschreibt die Gesamtheit aller Bestrebungen und Maßnahmen zur Verhütung von Krankheiten und Gesundheitsschäden. Sie hat zum Ziel Bedingungen und Handlungen zu entwickeln, die dazu dienen, die Gesundheit zu erhalten und die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Krankenhaushygiene befasst sich mit der Vermeidung von Kran‐ kenhaus- (nosokomialen) Infektionen, unabhängig von ihrer Ursache. Dabei ist zu beachten, dass nicht jeder Fehler bei Hygienemaßnahmen zu einer Infektion oder Erregerübertragung führt. Es ist auch nicht jede nosokomiale Infektion die Folge eine Hygienefehlers. Hygiene‐ maßnahmen reduzieren das Risiko für nosokomiale Infektionen. Andererseits hat Biodiversität protektiven Charakter hinsichtlich Krankheitsentwicklung. In der Asthmapräventionsforschung zeigt sich, dass das Leben auf einem traditionellen Bauernhof bzw. in traditioneller Landwirtschaft insbesondere im ersten Lebensjahr das Risiko einer Asth‐ maerkrankung deutlich senkt. Je diverser die meist apathogenen, nicht krankheitserregenden Mikroben sind, desto geringer ist das Asthmarisiko. Es besteht wohl ein Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und Art und Intensität der Mikroorganismen. Der menschliche Organismus lebt mit etwa zwei Kilogramm an Bakterien, Viren und Pilzen gemeinsam, die hauptsächlich an Haut und im Darm angesiedelt sind. Es ist eine symbiotische Gemeinschaft der Mikrobiota mit dem Menschen. Beide sind aufeinander angewiesen und bedingen sich gegenseitig. Wissen | Gesellschaftliche Kennzahlen Die Prävalenz nosokomialer Infektionen beträgt auf Intensivstation zwischen 15 und 20 %, während auf Normalstationen diese etwa 4-5 % 139 2.4 Nosokomiale Infektion <?page no="140"?> beträgt. Die jeweiligen Fachgebiete unterscheiden sich in ihren Präva‐ lenzen. Hauptsächliche Vertreter sind Atemwegsinfektionen, Wundin‐ fektionen, Harnwegsinfektionen und Blutstrominfektion (Sepsis). Clost‐ ridium difficile Infektion spielen einer Sonderrolle als Folge spezifischer Antibiotikaanwendungen (→ Abb. 22). Bei 19,5 Mio. stationären Pati‐ enten ergibt sich eine Gesamtprävalenz nosokomialer Infektionen, die innerhalb des stationären Aufenthaltes erworben werden, von knapp einer Millionen Patienten. untere Atemwegsinfektion 24% postoperative Wundinfektion 22% Harnwegsinfektion 22% Clostridiumdifficile- Infektion 10% primäre Sepsis 5% Sonstige 17% Abb. 22: Deutsche nationale Punkt-Prävalenzstudie zu nosokomialen Infektionen und Antibiotikaanwendung (2016). Die Infektion ist abhängig von der Infektiösität des Erregers, der Immunität der Patienten und von der Pathogenität des Erregers. Neben endogenen, konstitutionellen Faktoren haben exogene, die Integrität der Patienten betreffende Faktoren Einfluss. Somit sind endogene und exogene Ursachen der Keimeintragung zu unterscheiden. Endogene Faktoren wie das Alter, auch das Geburtsgewicht, die begleitenden Grunderkrankungen, der Ernäh‐ rungsstatus und die Immunitätslage sind zum Zeitpunkt der Behandlung ärztlicherseits nicht zu beeinflussen. Auch bestehende Noxen, also die Ein‐ nahme von Substanzen, die eine schädigende Wirkung auf den Organismus haben (Nikotin, Alkohol, Drogen) entziehen sich einer unmittelbaren Ein‐ flussnahme. Endogene Faktoren müssen bei der Behandlung von Patienten 140 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="141"?> als Begleitfaktoren der Behandlung hingenommen werden. Anders sieht das bei den exogenen Faktoren aus. Dort hat die Medizin Einfluss auf die Verwendung von Gefäß- oder Harnwegskathetern, die Durchführung von Operationen, das Setzen von Drainagen, der Verankerung von Implantaten oder auch Durchführung von maschinellen Beatmungen. Zu jeder dieser invasiven Maßnahmen ist die korrekte medizinische Indikation Grundlage für die Entscheidung (→ Abb. 23). endogen • Alter • Geburtsgewicht • Grunderkrankungen • Ernährungsstatus • Immunstatus • Noxen Konstitution exogen • Gefäßkatheter • Harnwegskatheter • Operationen • Drainagen • Implantate • Beatmung Integrität Abb. 23: Risikofaktoren, für die Entwicklung nosokomialer Infektionen (eigene Darstellung). Im klinischen Alltag sind ein endogener Keimeintrag von einem exogenen Keimeintrag zu unterscheiden. Bei Operationen werden bei der Eröffnung des Darmes Mikroorganismen in die freie Bauchhöhle übertragen. Unfall‐ bedingte Hautverletzungen oder auch Operationswunden erlauben Mikro‐ organismen einen Übertritt in die Blutstrombahn oder in das umliegende Gewebe, was zu einer Infektion führen kann. Auch die Kolonisierung des Patienten selbst kann zu einer Infektion an anderen Stellen führen, insbe‐ sondere dann, wenn es sich um krankheitsverursachende Erreger handelt oder eine Schwächung der Immunantwort vorliegt. Beispiele für einen exogenen Keimeintrag sind Operationshandschuhe, Patientenabdeckungen, OP-Bekleidung und Instrumente. Hier wird ein enormer technischer Auf‐ wand betrieben, um sterile Verhältnisse zu schaffen. Definition einer nosokomialen Infektion Eine Infektion wird als nosokomial bezeichnet, wenn der Infekti‐ onstag (= Tag mit dem ersten Symptom) frühestens der Tag 3 des 141 2.4 Nosokomiale Infektion <?page no="142"?> Krankenhausaufenthaltes ist. Der Aufnahmetag gilt als Tag 1 und der Tag mit den ersten Infektionszeichen als Infektionstag. Sofern es sich beim ersten Symptom um ein unspezifisches Symptom handelt und gleichzeitig andere Ursachen für dieses Symptom vorliegen, dann ist der Infektionsdatum der Tag mit dem ersten spezifischen Zeichen/ Sym‐ ptom für die Infektion. Infektionen, bei denen die ersten Infektionszei‐ chen bereits vor der Aufnahme in das Krankenhaus oder an Tag 1 oder Tag 2 des Krankenhausaufenthaltes vorhanden sind, werden nicht als nosokomial, sondern als mitgebrachte Infektion klassifiziert. Fieber kann dabei mehreren Ursachen als unspezifisches Symptom zuge‐ ordnet werden. Fieber dient somit als Joker und kann jeder Neuerkrankung zugeordnet werden. Jede Wundheilungsstörung bei operativen Eingriffen zählt als nosokomiale Infektion. Je nach Operation wird eine Frist von 30 bzw. 90 Tage eingeräumt. Praxis | Patient im Altenheim Ein 79-jähriger Patient aus dem Altenheim zeigt eine eingeklemmte Leistenhernie und wird unmittelbar operiert. Im Aufnahmescreening wird eine MRSA-Besiedelung nachgewiesen. Entzündungsparameter im Normbereich. Am Folgetag der Operation ist der Patient verwirrt und nestelt im Bett. Er entfernt sich wiederholt den Verband und hat die Drainage selbst entfernt. Die Wunde ist zu diesem Zeitpunkt Wunde reizlos. Am darauffolgenden Tag bessern sich die Verwirr‐ theitszustände, die Temperatur ist mit 37.9 °C leicht erhöht. Am 5. Tag sind die Wundränder stark gerötet und gespannt. Am Folgetag wird der Abszess gespalten und es wird eine Tamponade eingelegt. Im Wundabstrich lässt sich ein multiresistenter Stapholococcus aureus (MRSA) nachweisen. In der Gesamtbewertung zeigt sich hier eine nosokomiale Infektion, da sich eine Operationswunde infiziert hatte und es zu einer Eiterentleerung kam. Praxis | Patientin Eine 43-jährige Patientin hat wohl in suizidaler Absicht Alkohol, Drogen und Opiate konsumiert. Im Labor sind die Entzündungszeichen erhöht. 142 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="143"?> Das Fieber beträgt 38,5 °C. es erfolgt die stationäre Aufnahme unter dem Verdacht einer Pneumonie mit Sepsis mit unmittelbarer maschineller Beatmung und Beginn der Antibiotikatherapie. Am Folgetag zeigt sich ein beginnendes Infiltrat rechts basal als Zeichen einer Lungenentzün‐ dung. In den kommenden Tagen bleibt es beim Fieber mit Temperaturen bis 38,4 °C, im Trachealsekret zeigen sich Sprosspilze. Es wird ergänzend ein Antimykotikum verordnet. Nach einer Woche zeigt eine Besserung des klinischen Bildes und die Patientin kann von der künstlichen Beat‐ mung befreit werden. An Tag 12 beklagt die Patientin noch Reizhusten, kann aber auf die Normalstation verlegt werden. Hier zeigt sich die Behandlung einer Patientin, die bereits zu Beginn mit Zeichen einer Infektion zur Behandlung kommt. Das sich später erst zeigende Fieber und der Nachweis der Sprosspilze sind auf die initiale Erkrankung zurückzuführen. Es liegt keine nosokomiale Infektion vor. Hygienemaßnahmen Hygienemaßnahmen sind darauf ausgerichtet, das Risiko für nosoko‐ miale Infektionen, verursacht durch exogene und endogene Erreger zu reduzieren. Die zehn wichtigsten Gründe der Keimübertragung sind die Finger der Hände. Hierzu zählt die ordnungsgemäße Händedesin‐ fektion. Die WHO empfiehlt folgende Indikationen zur Händedesinfektion in der Gesundheitsfürsorge (→ Abb. 24): 1. vor Patientenkontakt, 2. vor einer aseptischen Tätigkeit, 3. nach Kontakt mit potenziell infektiösem Material, 4. nach Patientenkontakt, 5. nach Kontakt mit der unmittelbaren Umgebung. 143 2.4 Nosokomiale Infektion <?page no="144"?> Abb. 24: Die 5 Indikationen zur Händedesinfektion (WHO sowie u.a. in Niknam (2022)). Patientenseitig werden ebenso fünf Momente beschrieben: 1. Händedesinfektion beim Betreten und Verlassen des Patientenzimmers, 2. Händedesinfektion vor der Essenseinnahme, 3. Händedesinfektion vor und nach Kontakt mit der eigenen Wunde oder Schleimhäuten, 4. Händedesinfektion vor dem Betreten von Risikobereichen sowie Hän‐ dewaschen nach dem Toilettengang, 5. Händedesinfektion bei Kontakt mit Oberflächen und Kontakt anderer Patienten im Krankenhaus. Händedesinfektion dient der Reduktion der Erreger, bezüglich der endo‐ genen und exogenen Erreger auf der Haut, der Vermeidung des Eintrags von Erregern und somit Unterscheidung in sterile bzw. nicht besiedelte Bereiche (Blut, Liquor, Gewebe) und Vermeidung von Infektion. 144 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="145"?> Wissen | KISS KISS (Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System) des nationalen Re‐ ferenzzentrums für nosokomiale Infektion basiert auf das US-amerika‐ nische Surveillance-System NHSN (National Healthcare Safety Network) der CDC (Centers for Disease Control and Prevention). Es beschreibt eine epidemiologische Definition, stellt keine Therapieentscheidung dar. Diagnostikmethoden werden dadurch nicht abgeleitet. Die Maßnahmen werden einheitlich beurteilt und es erlaubt eine Vergleichbarkeit mit Referenzdaten. Das Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System (KISS) dient der Überwachung nosokomialer Infektionen und trägt zur Stan‐ dardisierung bei. Antibiotika sind indiziert bei hochgradigem Verdacht oder Nachweis einer bakteriellen Infektion und beginnt mit einer kalkulierten Antibiose. Nach Keimsicherung erfolgt eine Anpassung der Antibiose. Die Dosierung ist anzugleichen unter Berücksichtigung der Pharmakodynamik, der Nieren- und Leberfunktion, dem Alter und anderem mehr. Die Zeitdauer sollte kurzgehalten werden. Postoperative Wundheilungsstörungen gelten immer als nosokomi‐ ale Infektion und stellen eine Realität dar. Die Ursachen sind multikausal. Postoperative Wundinfektionen führen zu einem verlängerten Kranken‐ hausaufenthalt und zu einem verlängerten Krankenlager. Auf nationaler Ebene existieren Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut. Auf internationaler Ebene existieren die WHO Guidelines for the Prevention of SSI (Surgical Site Infection). Die Empfehlungen sind mit wissenschaftlicher Datenbasis hinterlegt. Präventive Maßnahmen wie das Beachten einer bestehenden Infektion, die Korrektur von Begleiterkrankungen, perioperative parenterale Antibio‐ tikaprophylaxe als auch Aspekte des Patient Blood Management reduzieren das Risiko. Diese Maßnahmen haben kosteneffektiven Charakter Zusammenfassung | nosokomiale Infektion Hygiene ist die Lehre von der Verhütung von Krankheiten und der Erhaltung, Förderung und Festigung der Gesundheit und beschreibt die Gesamtheit aller Bestrebungen und Maßnahmen zur Verhütung von 145 2.4 Nosokomiale Infektion <?page no="146"?> Krankheiten und Gesundheitsschäden. Krankenhaushygiene befasst sich mit der Vermeidung von Krankenhausassoziierte, nosokomialen Infektionen, unabhängig von ihrer Ursache. Die Infektion ist abhängig von der Infektiosität des Erregers, der Immunität der Patienten und von der Pathogenität des Erregers. Im klinischen Alltag sind ein endogener Keimeintrag von einem exogenen Keimeintrag zu unterscheiden. Hy‐ gienemaßnahmen sind darauf ausgerichtet, das Risiko für nosokomiale Infektionen, verursacht durch exogene und endogene Erreger zu redu‐ zieren. Verwendete und weiterführende Literatur Just, H. M. (2006): Anforderungen des Infektionsschutzgesetzes an den Chirurgen. In: Chirurg 77, S. 483-489. DOI 10.1007/ s00104-006-1192-5. Marzahn, D.; Pfister, W.; Kwetkat, A. (2018): Auswirkungen nosokomialer Infektio‐ nen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens bei Patienten in einer Akutgeriatrie. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 51, S. 440-445. Online: doi.org/ 10. 1007/ s00391-017-1310-7. Niknam, S.: Konzepte der Händehygiene. In: Heilberufe 3.2022/ 74, Seite 26-27. Oldfafer, K.; Jürs, U. et al. (2007): Prävention postoperativer Infektionen im Opera‐ tionsgebiet. In: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheits‐ schutz 50, S. 377-393. DOI 10.1007/ s00103-007-0167-0. 146 2 Fachübergreifende Medizin <?page no="147"?> 3 Gesundheitsversorgung 3.1 Struktur der Notfallmedizin Täglich rücken die Rettungswagen und deren Besatzungen aus, um anderen Menschen zu helfen. Rettungshubschrauber sind deutschlandweit positio‐ niert. Die Notfallzentren der Krankenhäuser stehen in jedem Moment zur Verfügung. Der hausärztliche Bereitschaftsdienst kann jederzeit besucht werden. Auch ein Hausbesuch ist möglich. Die Notfallversorgung der Pati‐ enten fügt sich in den Versorgungsauftrag im ambulanten Bereich und im stationären Bereich ein. Zur Ausgestaltung des Gesundheitssystems tragen die jeweiligen Bundesminister für Gesundheit eine besondere Verantwor‐ tung und versinnbildlichen damit den Auftrag der Gesundheit auf Bund- und Landesebene sowie der kommunalen Ebene. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Die Ampel ist rot, ein unbedachter Augenblick, eine Unaufmerksamkeit führt zum Zusammenstoß. Ein waghalsiges Überholmanöver auf der Autobahn. Mehrere Autos sind miteinander verkeilt. Menschen sind verletzt, andere laufen aufgeregt umher. Die Feuerwehr befreit eine eingeklemmte Person aus dem Fahrzeug. In Deutschland treten etwa 2,6 Mio. Verkehrsunfälle auf, bei denen sich etwa 400.000 Personen verlet‐ zen. Jährlich ist mit etwa 68.000 schwerverletzten Personen zu rechnen. Hinzu treten Schul-, Sport-, Arbeits- und Freizeitunfälle. Etwa 12 % der Bevölkerung erleiden in einem Jahr einen Unfall und bedürfen einer Notfallbehandlung. Notfallbehandlung definiert sich aber nicht durch einen Unfall allein. Plötzliche Luftnot, der Herzinfarkt, erhebliches Fieber, Vergiftung und andere Ursachen führen zu einer Symptomatik hinsichtlich des Bewusstseins, der Atmung und des Kreislaufes sowie anderer Funktionen des menschlichen Körpers. Aktuell ist die Notfallversorgung auf drei sich ergänzenden Ebenen struk‐ turiert. Die primäre Notfallversorgung ist dem Bereich der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zugordnet. Dies beinhaltet auch die Gewährung eines <?page no="148"?> ärztlichen Bereitschaftsdienstes, der durch die niedergelassenen Ärztin‐ nen und Ärzte besetzt wird. Die Notfallambulanzen oder die Zentralen Notaufnahmen der Krankenhäuser gewähren sowohl eine ambulante Versorgung als auch eine stationäre Versorgung von Notfallpatienten. Der Rettungsdienst stellt das mobile System der Notfallbehandlung dar und verfügt auch über eine notärztliche Behandlungskompetenz. Zu der bodengebundenen Rettung stehen die Wasserrettung und die Bergrettung zur Verfügung. Neben der bodengebundenen Rettung steht ergänzend die Luftrettung zur Verfügung (→ Abb. 25). Ärztlicher Bereitschaftsdienst Zentrale Notaufnahme Rettungsdienst Abb. 25: Teilnehmer an der ärztlichen Notfallversorgung. Zusammenfassend ist beständig zu beobachten, dass die Notfallversorgung im ärztlichen Bereitschaftsdienst sinkt, währenddessen die Notfallversor‐ gung in den Notaufnahmeeinheiten der Krankenhäuser und auch die Inan‐ spruchnahme von Rettungsmitteln steigen. Gemäß der Definition der Bundesärztekammer umfasst die Notfallme‐ dizin die Erkennung und sachgerechte Behandlung drohender oder eingetretener medizinischer Notfälle, die Wiederherstellung und Auf‐ rechterhaltung der vitalen Funktionen sowie die Herstellung und Auf‐ rechterhaltung der Transportfähigkeit der Patienten. Diese medizini‐ schen Notfälle können sowohl präals auch innerklinisch auftreten. In der präklinischen Phase, also in zeitlichen und örtlichen Bereichen außerhalb des Krankenhauses, sind die Rettungsmittel eingefordert, die Notfallbehandlung durchzuführen. Innerhalb des Krankenhauses und somit innerklinisch, sind die dortig tätigen medizinischen Kompetenzen angefragt. 148 3 Gesundheitsversorgung <?page no="149"?> Eine andere Definition beschreibt die Notfallsituation aus der Sicht des betroffenen Menschen: „Als medizinischer Notfall bzw. als Notfallpatient werden alle Personen definiert, die körperliche oder psychische Verände‐ rungen im Gesundheitszustand aufweisen, für welche der Patient selbst oder eine Drittperson unverzügliche medizinische und pflegerische Betreuung als notwendig erachten.“ Die Notfallversorgung gliedert sich in folgende Felder auf: ● ärztlicher Bereitschaftsdienst, ● Zentrale Notaufnahme der Krankenhäuser, ● Rettungsdienst. Aus der Sicht der Planung stellt sich dies insoweit strukturiert dar. Der Patient bzw. die Patientin wendet sich bei einer dringlichen Fragestellung an den niedergelassenen Arzt während der Regeldienstzeiten oder an die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bzw. direkt an den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Nach ärztlicher Untersuchung und Beurteilung kann die weitere ambulante Behandlung weitergeführt oder die stationäre Behand‐ lung eingeleitet werden. In möglicherweise lebensbedrohlichen Situationen stehen die Notaufnahmeeinheiten der Krankenhäuser zur Verfügung. Ist ein Transportmittel erforderlich, so stehen über die Rettungsstelle eine Primär‐ versorgung vor Ort mit Transport in die Notaufnahmen der Krankenhäuser zur Verfügung. Aus der Sicht der Patienten sieht die Situation jedoch ganz anders aus. Unübersichtlich und mit unklaren Zuständigkeiten präsentiert sich das Gesundheitssystem, die Versorgungspfade und die Abläufe sind unklar, eine zentrale Anlaufstelle ist nicht erkennbar. Zugleich bestehen Ängste, Nöte und Sorgen bezüglich der eigenen Erkrankungen oder des nahen Angehörigen mit Einfluss auf die Erwartungshaltung gegenüber dem Ge‐ sundheitssystem. Der ärztliche Bereitschaftsdienst stellt die vertragsärztliche Versor‐ gung durch die kassenärztlichen Vereinigungen auch zu sprechstunden‐ freien Zeiten zur Verfügung. Sie kümmert sich um Fragen der unmittelbaren aber nicht lebenswichtigen Versorgung durch notfalldiensthabende Ärzte. Hierzu sehen die Bereitschaftsdienstpraxen (als solitäre Einrichtungen oder als am Krankenhaus stationierte Einrichtungen) zur Verfügung. Ergänzend können auch Hausbesuche durchgeführt werden. Die Refinanzierung erfolgt 149 3.1 Struktur der Notfallmedizin <?page no="150"?> nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM), der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) oder sonstige Kostenträger. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind im Krankenhausplan der Länder mit ihren jeweiligem Versorgungsauftrag festgelegt. Mittlerweile handelt es sich dabei um Zentrale Notaufnahmeeinheiten, die multidiszip‐ linär ausgerichtet sind und die einzelnen Fachgebiete eng miteinander ko‐ operieren. Ist das Behandlungsziel durch eine teilstationäre oder ambulante Behandlung nicht zu erzielen, kann die stationäre Behandlung eingeleitet werden. Die Refinanzierung erfolgt durch eine Notfallpauschale oder durch andere Kostenträger, bei stationärer Behandlung nach dem DRG-System. Rettungsdienste übernehmen die öffentliche Aufgabe der Gefahrenab‐ wehr, der Rettung und der Akutversorgung. Dies beinhaltet die präklini‐ sche Notfallversorgung einschließlich der erforderlichen Notfallrettung. Ferner dient sie der Verlegung von Notfallpatienten (Sekundärtransport) von einer Klinik in eine andere, in aller Regel spezialisierte Klinik. Der Rettungsdienst übernimmt auch die Beförderung von medizinisch-fachlich betreuungsbedürftigen Personen. Zusätzlich übernimmt sie den Transport von Arzneimitteln, Blutkonserven, Organen oder ähnliche Güter sowie von Spezialisten, soweit sie zur Versorgung lebensbedrohlich Verletzter und Erkrankter dienen sollen. Der Rettungsdienst hat eine bedeutende Aufgabe bei der Erstversorgung bei Großschadensanlagen oder im Katastrophenfall. Im zeitlichen Verlauf ist zu beobachten, dass die Anzahl der Rettungsdienst‐ einsätze im zunimmt, dies beinhaltet auch eine zu beobachtende Zunahme der Notarzteinsätze. Die Anzahl disponibler Transporte verlagert sich zugunsten privater Anbieter im Sinne nicht-medizinisch-qualifizierter Transporte. Dieser Systematik stehen jedoch divergierende Interessen der ein‐ zelnen Akteure entgegen. Patienten sind an einer guten Erreichbar‐ keit mit geringem bzw. überschaubarem zeitlichen Aufwand interes‐ siert. Ferner ist die Erwartungshaltung an Sicherheit und umfassendes medizinisches Angebot auf höchstem Niveau hoch. Zugleich bestehen regelhaft geringe Kenntnisse über die Struktur des Notfallversorgungs‐ systems, auch ist die eigene Gesundheitskompetenz eingeschränkt. In der Notfallversorgung besteht das Problem, dass einerseits umfassenden und komplexen Fällen nur eingeschränkt begegnet werden können, ande‐ rerseits ist die Behandlung von Bagatellfällen zeitraubend. Nachtdienst 150 3 Gesundheitsversorgung <?page no="151"?> sind nicht beliebt und die Vergütung ist nicht zwingend kostendeckend, da Vorhaltekosten in dem System nicht berücksichtigt werden. Ebenso haben die Kliniken das Problem einer kostendeckenden Gestal‐ tung der Zentralen Notaufnahmen. Für Bagatellfälle, die keiner unmittelba‐ ren medizinischen Versorgung bedürfen, existiert eine Kostenpauschale. Da jedoch die Kliniken und der ärztliche Dienst in Konfliktsituationen einer straf- oder zivilrechtlichen Verantwortung gegenüberstehen, wird aus haftungsrechtlicher Sorge eine Behandlung eingeleitet und durchgeführt. Wenngleich sich der Anteil der stationären Behandlungen mehr und mehr aus der Notfallbehandlung rekrutiert, ist eine Überbelastung des Bereit‐ schaftsdienstes aus ökonomischen Gründen nicht von Interesse. Es rechnet sich einfach nicht. Der Rettungsdienst sieht sich in der Verantwortung von Notfällen. Dies ist im Hinblick auf einen schweren Verkehrsunfall mit vielen Verletzten sicher‐ lich nachvollziehbar. Aber auch hierbei handelt es sich um ein Unternehmen, was an einer zumindest kostendeckenden Versorgung interessiert ist. Diese unterschiedlichen Interessenlagen führen zu divergierenden Folgen. Ein extrem strittiger Punkt ist die Umwandlung einer ambu‐ lanten Behandlung in die ungleich teurere stationäre Behandlung. Die erforderlichen Argumentationsketten sind umfangreich und werden nach Aktenlage entschieden. Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Bei zunehmender Fallzahlentwicklung nimmt die Nutzung der ärztli‐ chen Bereitschaftsdienste der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ab und die Inanspruchnahme der Krankenhäuser zu. Hieraus entwickelt sich auch eine erhöhte Rate an stationären Aufnahmen. Deutschland zeigt hierbei eine im Europavergleich überdurchschnittliche Zunahme der Notfallversorgung. Der Aufwand der Notfallversorgung ist deutlich altersabhängig. Kleinstkinder und ältere, multimorbide Patienten gehen mit einem hohen Aufwand an Diagnostik und Therapie einher. Dies zeigt sich auch in der Patientenbefragung an hessischen Notauf‐ nahmen, nach der etwa drei Viertel der Patienten das Krankenhaus unmittelbar aufgesucht haben. Das verbleibende Viertel, der am Kran‐ kenhaus vorstelligen Patienten, wurde von der KV entweder direkt oder indirekt seitens des Bereitschaftsdienstes zugewiesen. 151 3.1 Struktur der Notfallmedizin <?page no="152"?> Gemäß dem Statistischen Bundesamt betrug 2018 die Anzahl ambulan‐ ter Arztkontakte etwa 11,5 pro Jahr pro Bürger und ist somit deutlich überdurchschnittlich im Europavergleich. Hierzu ist anzumerken, dass es sich um Behandlungsfälle handelt. In Deutschland wird die Behandlung von Patienten je Quartal als ein Behandlungsfall eingepflegt, unabhängig davon, wie oft eine Vorstellung innerhalb dieses Quartals erfolgt. Insgesamt nimmt die Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte stetig zu, wobei eine Einbestellpraxis auch die Kundenbindung erhöht und einfache Konsultationen ohne viel Aufwand budgetfördernd sich darstellen. Die zunehmende Inanspruchnahme ist auch begründet im demographischen Wandel mit einer einhergehenden Multimorbidität. Zweifelsfrei ist auch das Anspruchsdenken an eine hohe medizinische Versorgung gewachsen, ebenso ist eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz zu beschreiben. Die Erhebung konkreter Zahlen ist und bleibt schwierig. Viele Notfallbe‐ handlungen werden zu den Regelzeiten in Arztpraxen vorstellig und stellen somit keine Notfallbehandlung dar. Notfälle sind in diesem Bereich nur durch die erforderliche EBM (Einheitlicher Bewertungs-Maßstab) klassifizierbar. In Krankenhäusern wird eine Notfallbehandlung erforderlichenfalls in eine stationäre Behandlung umgewandelt. Einheitliche Datenerhebungen fehlen. Problemstellung In Situationen von Krankheit, Leiden oder Verletzung stehen Patienten verloren zwischen den einzelnen Sektoren und wissen nicht, welche Ver‐ sorgungsform für die individuellen Bedürfnisse geeignet sind. Der Notfall tritt in etwa die Hälfte der Fälle außerhalb der regulären Öffnungszeiten ein. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser aber auch die Rettungsdienste werden in besonderer Weise beansprucht. Es ergeben sich eine ganze Anzahl von Fragen für die Patienten. In akuten Situationen, bei denen Angst, Sorge und Schmerz auftreten, sind diese Fragen nicht zu beantworten. Das Gesundheitssystem zeigt hier keine einfach ausgerichteten Handlungsemp‐ fehlungen, die allgemeinverständlich und jederzeit umsetzbar sind. Eine einheitliche und allseits verständliche Definition eines Notfalles existiert nicht. Vorliegende Definitionen weisen auf die Schwere der Verletzung oder Erkrankung hin, aus der sich eine umgehende Versorgung durch Rettungs‐ dienste und Krankenhaus ableiten ließe. Es fehlt aber an Abgrenzungen 152 3 Gesundheitsversorgung <?page no="153"?> zum Erfordernis der Inanspruchnahme der unterschiedlichen ambulanten Versorgungseinrichtungen. Dringlichkeit der Behandlung In Notfallsituationen ist die Beurteilung der drohenden Gefahr durch Pa‐ tienten und deren Angehörigen extrem schwierig. In der Akutsituation herrscht eine höhere Neigung dazu, sich als Notfall zu empfinden, als es Triage-Systeme ggf. klassifizieren würden. Triage-Systeme sind eine fragenbasierende Erhebung einer Erkrankungsschwere und etablieren sich mehr und mehr. Diese dienen zur standardisierten Klassifizierung einer Erkrankungs- oder Verletzungsschwere anhand genereller und spezieller Indikatoren. Die Behandlungsreihenfolge wird aufgrund standardisierter Kriterien festgelegt und vereinfacht dadurch Entscheidungsprozesse insbe‐ sondere bei knappen personellen oder strukturellen Ressourcen. Zielzeiten bis zum ersten Arztkontakt sind hierbei festgelegt und sind durch das Pflegepersonal wiederkehrend zu überprüfen. Es sind Instrumente der Qualitätssicherung und des Risikomanagements. Es gibt eine ganze Anzahl an solchen Systemen. Sie erlauben eine struk‐ turierte Erhebung und Interpretation. Sie haben das Ziel, die Dringlichkeit einer erforderlichen Behandlung einzuordnen: ● Ziel einer modernen Triage in der Notaufnahme ist es, den Schweregrad der Erkrankung von Notfallpatienten strukturiert festzulegen, eine Pri‐ orisierung der Behandlungsreihenfolge vorzunehmen und die Patienten dem geeigneten Behandlungsort zuzuweisen. ● Fünfstufige Triage-Instrumente gelten in der klinischen Notfallmedizin als Goldstandard. Die Australian Triage Scale, die Canadian Triage und Acuity Scale, das Manchester Triage System und der Emergency Severity Index sind validierte Instrumente und am weitesten verbreitet. ● Das Manchester Triage System und der Emergency Severity Index liegen in einer deutschen Übersetzung vor und werden bereits in einigen deutsch‐ sprachigen Notaufnahmen von geschulten Pflegenden eingesetzt. ● Validierte 5-Stufen-Triage-Systeme sollten auch in deutschsprachigen Notaufnahmen eingeführt werden, um insbesondere bei Kapazitätseng‐ pässen durch strukturiertes Vorgehen eine hohe Patientensicherheit zu gewährleisten. 153 3.1 Struktur der Notfallmedizin <?page no="154"?> Neustrukturierung der Notfallversorgung Die Idee der Neustrukturierung des Gesundheitswesens ist wohl so alt, wie es das Gesundheitswesen gibt. Im Großen und Ganzen zielt es darauf ab, die Krankenhäuser in ihrer Kernkompetenz der Behandlung stationärer Patien‐ ten zu belassen bzw. diese darin zu verfestigen und die Notfallmedizinische Versorgung ein wenig aus der Verantwortung der Kliniken zu entziehen. Das ist zu weiten Teilen auch gut so, denn dann haben die Einrichtung der KV-ärztlichen Bereitschaftsdienstpraxen und der Zentralen Notaufnah‐ meeinheiten eine Art Filterfunktion für die stationäre Behandlung. Zugleich sollte auch eine höhere Qualifikationsmatrix der Beteiligten eingefordert werden, um eben hier eine fachadäquate Versorgung gewährleisten zu können. Dies betrifft die helfenden Berufe, verbunden mit einem Mehr an Eigenverantwortung. Die Zusatzweiterbildung für die Akut- und Not‐ fallmedizin ist für die Einrichtung Zentraler Notaufnahmen eingeführt und wird umgesetzt. In vielen Kliniken ist die Zentrale Notaufnahme eine eigenständige Abteilung, die mit eigenen Chef- und Oberärzten besetzt ist. Wissen | integrierte Notfallzentren Der Begriff der Integrierten Notfallzentren beschreibt die Verpflich‐ tung einer ganztägigen und ganzjährigen Versorgung durch ärztliche Dienste ergänzt durch telemedizinische Module. Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Versorgung und Krankenhaus sind räumlich und wirtschaftlich abgegrenzt. Es gibt eine erste gemeinsame Anlaufstelle, in der unter Triagierung der Versorgungsumfang und die Versorgungsart eingestuft wird (gemeinsamer Tresen). Den Verhandlungspartnern war es aber auch wichtig, hier die Fragen der Vergütung zu regeln. Die Kliniken nehmen in unterschiedlicher Güte und Ausmaß an der Versor‐ gung teil. Dies entspricht eigentlich der groben Einteilung in Grund-, Regel- und Maximalversorgung. Diese Kriterien jedoch zu erfüllen, wird für die einzelnen Kliniken unterschiedlich schwer umsetzbar sein. Mit diesen doch wenigen Kenndaten ist jeweilig eine für sich genommen, umfassende Personal- und Infrastruktur erforderlich, deren Umsetzung für die Kliniken überhaupt nicht einfach ist (→ Abb. 26). 154 3 Gesundheitsversorgung <?page no="155"?> • out of hours service 24/ 7 • doc to go • multiprofessional agency Abb. 26: Offene Fragestellungen in der Notfallversorgung. Weitere Module der Versorgungsmöglichkeiten sind im Beschluss des Ge‐ meinsamen Bundesausschusses (GBA) weiter konkretisiert und adressiert besonderen Personenkreise: ● Schwerverletztenversorgung (überregionales Traumazentrum) ● Notfallversorgung Kinder ● Spezialversorgung ● Schlaganfallversorgung ● Durchblutungsstörungen am Herzen Europäischer Vergleich In Deutschland erfolgt zusammenfassend die Versorgung durch nieder‐ gelassene Ärzte, Rettungsdienst und Notaufnahmen der Krankenhäuser. Untersuchungen zeigen, dass viele der Patienten aus den Notfallambulanzen der Krankenhäuser im kassenärztlichen Bereich hätten behandelt werden können. Auf der Patientenseite herrscht eine unzureichende Kenntnis der unterschiedlichen Sektoren. In Dänemark ist die Versorgung zentral und auf nationaler Ebene organisiert und refinanziert sich über Steuermittel. Die primärärztliche und notfallmedizinische Versorgung ist durch sog. Emergency Departments organisiert. Nach einer telefonischen Kontaktaufnahme wird auf das Emer‐ gency Department oder direkt auf das Krankenhaus verwiesen. Die Ret‐ tungsdienste verfahren in gleicher Weise. Auf diese Weise ist ein direkter Zugang zum Krankenhaus in der notfallmedizinischen Versorgung nicht vorgesehen. 155 3.1 Struktur der Notfallmedizin <?page no="156"?> In Frankreich erfolgen die Planung und Organisation über die Gesund‐ heitsbehörden. Die Refinanzierung erfolgt über ein Sozialversicherungs‐ system mit staatlichen Anteilen. Notfallbehandlung wird in den Praxen gewährt. Eine telefonische Verfügbarkeit von Ärzten erlaubt die Zuordnung der Patienten mit ggf. erforderlicher Zuweisung zu einem Emergency Department. Vorgesehen ist eine Schaffung einer Plattform mit einer ein‐ heitlichen Telefonnummer. Großbritannien bedient sich eines staatlichen Gesundheitssystem. Die Versorgung nicht-lebensbedrohlicher Erkrankungen ist durch General Prac‐ tioners gewährleistet. In Notfallsituationen stehen verschiedene Behand‐ lungszentren zur Verfügung. Auch in diesem System ist eine direkte Vor‐ stellung in Krankenhäusern möglich. Der normale Patient oder die normale Patientin können im Notfall nicht entscheiden, ob der ärztliche Bereitschaftsdienst, der Rettungsdienst oder die Krankenhaus-Ambulanz für ihn oder sie die richtige Adresse ist. Es ist wichtig, einfache und klare Strukturen zu schaffen, die die Patienten lotsen. In dieser Neuausrichtung können sich Patienten in der Notfallsituation entweder direkt beim niedergelassenen ärztlichen Dienst vorstellen oder - in Notfallsituationen - an die Integrierte Leitstelle. An den Kliniken ist ein Integriertes Notfallzentrum eingerichtet, bei dem die Patienten sich an einem „gemeinsamen Tresen“ vorstellen und der Schweregrad der Behandlung eingeschätzt wird. Ärztlicher Bereitschaftsdienst und Zentrale Notaufnahme sind somit der direkten Kliniktätigkeit mit der Versorgung stationärer Patienten vorgeschaltet. Aus Patientensicht erfolgt Beratung und Anleitung durch eine gemeinsame Leitstelle, die dann unter Berück‐ sichtigung der anamnestischen Daten eine Zuweisung an die einzelnen Gesundheitsbereiche erteilt. Zusammenfassung | Struktur der Notfallmedizin Sicherlich ist die Förderung der Bevölkerung in Fragen der Gesund‐ heitskompetenz und die verbesserte Möglichkeit der Selbstinforma‐ tion anzustreben. Bildung ist ein gutes Modul, um Notfallsituationen einzuschätzen, Erkrankungen zu erkennen und um ein gesundes Leben zu führen. Die Implementierung einer integrierten gemeinsamen Leit‐ stelle, die dann in die einzelnen Bereiche der Gesundheitsversorgung zuweist, stellt eine wichtige Funktion als „Lotse im Meer“ des Gesund‐ heitswesens dar und kann - bildlich gesprochen - den „besten Hafen“ 156 3 Gesundheitsversorgung <?page no="157"?> für das Problem ansteuern. Die Erstversorgung in integrierten Notfall‐ zentren hat den Vorteil der Multiprofessionalität einschließlich einer Überwachungsphase und entlastet die Krankenhäuser insbesondere hinsichtlich kurzstationärer Versorgungsnotwendigkeiten. Es gehören die erforderlichen fachlichen und sachlichen Kompetenzen mit Gewäh‐ rung von Personal und Sachmittel im qualitativ hochwertigen Standard dazu. Verwendete und weiterführende Literatur Christ, M.; Grossmann, F.; Winter, D.; Bingisser, R.; Platz, E. (2010): Modern triage in the emergency department. In: Deutsches Ärzteblatt International 107(50), S. 892-898. DOI 10.3238/ arztebl.2010.0892. Felzen M.; Beckers, S. K. et al. (2020): Wie oft sind Notärzte an der Einsatzstelle erforderlich? In: Notfall + Rettungsmedizin 23, S. 441-449. Online: doi.org/ 10.10 07/ s10049-019-00643-0. Graulich, T.; Gerhardy, J. et al. (2020): Patientenaufkommen, Diagnosen und Ver‐ letzungsmechanismen eines überregionalen Traumazentrums mit Beginn der COVID-19- Pandemie im Vergleich zum Mittelwert der 3 Vorjahre. In: Unfallchir‐ urg 123, S. 862-869. Online: doi.org/ 10.1007/ s00113-020-00894-4. Messerle, R.; Appelrath, M. (2018): Die Zukunft der Notfallversorgung in Deutsch‐ land, In: Urologe 57, S. 927-929. Online: doi.org/ 10.1007/ s00120-018-0695-2. Rieder, N.; Mühe, K.; Nauck, F.; Alt-Epping, B. (2021): „Leben retten bis der Arzt kommt? “ In: Notfall + Rettungsmedizin 24, S. 203-21. Online: doi.org/ 10.1007/ s1 0049-020-00713-8. Slagman, A.; Behringer, W. et al. (2020): Medical emergencies during the COVID-19 pandemic — an analysis of emergency department data in Germany. In: Deutsches Ärzteblatt International 117, S. 545-552. DOI 10.3238/ arztebl.2020.0545. Wurmb, T.; Friemert, B. (2018): Die Rolle des Krankenhauses bei Bedrohungslagen. In: Notfall + Rettungsmedizin 21, S. 585-589. Online: doi.org/ 10.1007/ s10049-018 -0456-1. 157 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="158"?> 3.2 Öffentlicher Gesundheitsdienst Im Rahmen der Ebola-Virus-Infektion und auch in der Coronapandemie erfährt der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) eine erhebliche Aufmerk‐ samkeit. Es gibt aber auch die Themengebiete des Impfschutzes wie bei‐ spielsweise der Masern, Feinstaub-Belastung und deren gesundheitliche Beurteilung, Surveillance der Adipositas und Umgang mit Drogenkonsum und den daran beteiligten Personen. Ende Januar 2020 kam es zu ersten Infektionen und in Folge auch zu Erkrankungsfällen durch das Coronavirus SARS-CoV-19. Zeitnah wurden Maßnahmen eingeleitet, die den Öffentli‐ chen Gesundheitsdienst betrafen und von diesem umzusetzen waren. Plötz‐ lich ist der ÖGD wichtig geworden. Es werden drei Säulen des Gesundheitswesens beschrieben. Diese gliedern sich auf, in die individual-medizinische Versorgung im ambulanten und im stationären Bereich. Sie befassen sich mit der Diagnostik und Therapie des einzelnen Menschen. Dahingehend erfüllt der ÖGD den be‐ völkerungsmedizinischen Versorgungsauftrag mit Schwerpunkt auf dem Gebiet der Prävention (→ Abb. 27). Die Aufgaben sind näher beschrieben (ohne vollständig zu sein): Der ÖGD versorgt im Rahmen seiner Ausrichtung vor allem Bevölke‐ rungsgruppen, für die es keinen oder nur einen erschwerten Zugang zur individualmedizinisch ausgerichteten Versorgung gibt: ● Beratungs- und Unterstützungsangebote für Familien mit Kleinkin‐ dern, ● Beratung von Eltern, Kita- und Einschulungsuntersuchungen, ● Untersuchung und Beratung Schwangeren und der Schwangerenkon‐ fliktberatung, ● Kontroll- und Überwachungsfunktion des Infektionsschutzes, ● Krankenhaus- und Umwelthygiene, ● Beratungs- und Hilfsangebote für psychisch kranke Menschen, chro‐ nisch kranke, sowie körperlich behinderte bzw. von Behinderung be‐ drohte Menschen, ● Erstellung amtsärztlicher Gutachten und Zeugnisse. 158 3 Gesundheitsversorgung <?page no="159"?> ambulante Versorgung stationäre Versorgung öffentlicher Gesundheitsdienst • Individualtherapie • kurative Versorgung • Individualtherapie • kurative Versorgung • bevölkerungsmedizi‐ nische Versorgung • Prävention Abb. 27: Drei Säulen des Gesundheitswesens in Deutschland. Im Unterschied zur ärztlichen Tätigkeit in Krankenhäusern oder ambulan‐ ten Arztpraxen, die vorwiegend individualmedizinisch ausgerichtet sind, sind im ÖGD bevölkerungsmedizinische Aspekte mit präventivem An‐ satz von zentraler Bedeutung (z. B. sozialpsychiatrischer Dienst, gesund‐ heitliche und koordinierende Versorgung von Geflüchteten, Kinder- und Jugendgesundheit). Für diese Risikogruppen kommt dem ÖGD auch eine Mittlerfunktion zu, die den Zugang zur Regelversorgung herstellen und erleichtern können. Ein weiterer wichtiger Arbeitsbereich des ÖGD ist die Mitwirkung an der Gesundheitsberichterstattung sowie die unterstützende Beratung bei politischen Maßnahmenplanungen. Hier obliegt es dem ÖGD, politische Entscheidungsträger auf Versorgungsdefizite aufmerksam zu machen und in Versorgungsfragen zu beraten. Zu den grundlegenden Aufgaben des ÖGD in Zeiten einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gehören, die Kontaktpersonennach‐ verfolgung und das Quarantäne-Management von Infizierten und Ver‐ dachtsfällen. Anlässlich der Covid-19-Pandemie hatte der Bundestag 2020 eine epidemische Lage von nationaler Tragweite gemäß § 5 Absatz 1 Satz1 des Infektionsschutzgesetzes festgestellt, was einen direkten Einfluss auf den Tätigkeitsbereich des ÖGD hat. Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) umfasst die Gesundheits‐ fachverwaltung auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen. Seine Aufgaben sind die Beobachtung, Begutachtung und Wahrung der gesundheitlichen Belange der Bevölkerung und die Beratung der Träger öffentlicher Aufgaben in gesundheitlichen Fragen einschließlich Planungs- und Gestaltungsaufgaben, Gesundheitsförderung und der gesundheitlichen Versorgung, der öffentlichen Hygiene, der Gesundheitsaufsicht sowie der Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten. 159 3.2 Öffentlicher Gesundheitsdienst <?page no="160"?> Bundesebene Auf Bundesebene regelt das Bundesgesundheitsministerium die Fragen der Sozialgesetzgebung, Rechtssysteme, die die Gesundheitsversorgung betreffen sowie dem Bund zugeordnete Gesetze. Wissen | Robert-Koch-Institut (RKI) Das Robert-Koch-Institut (RKI) in eine zentrale Einrichtung des Bun‐ des im Bereich der öffentlichen Gesundheit zur Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten. Es schätzt das Risiko für die Bevölkerung in Deutschland ein, gibt Empfehlungen zur die Fachöf‐ fentlichkeit zu Fallzahlen und Epidemiologie, allgemeine Infektions‐ schutzmaßnahmen, Diagnostik, Teststrategie und Prävention in Ge‐ sundheitseinrichtungen und betreut die Gesundheitsberichterstattung auf Bundesebene. Hinzu treten folgende Einrichtungen: ● Paul-Ehrlich Institut (PEI), ● Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), ● Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, ● Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ● Bundesversicherungsamt, ● Gemeinsamer Bundesausschuss, ● Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQ‐ WiG). Landesebene Auf Landesebene sind die jeweiligen Gesundheitsministerien mit den Fragen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes beauftragt. Hierzu be‐ schäftigen sie sich in unterschiedlichem Ausmaß und ohne Anspruch auf Vollständigkeit mit: 160 3 Gesundheitsversorgung <?page no="161"?> ● Gesetzen über den Öffentlichen Gesundheitsdienst, die Einrichtung und bestimmen Aufgaben der Krebsregister, das Friedhofs-, Bestat‐ tungs- und Leichenwesen, über das Krankenhauswesen einschließlich der Krankenhausplanung sowie den Rettungsdienst und Katastrophen‐ schutz, ● Umsetzung der Forderungen aus der UN-Behindertenrechtskommis‐ sion, d. h. landesrechtliche Grundlage für Maßnahmen zur Inklusion behinderter und kranker Menschen schaffen und ihre Umsetzung vor‐ anzutreiben, ● Ausbildungs- und Prüfungswesen für staatlich anerkannte Gesund‐ heitsfachberufe, Weiterbildungsordnung und Berufsordnungen, ● Rechtsaufsicht über die Ärzte-, Zahnärzte-, Psychotherapeuten- und Apothekerkammern, ● Gesundheitshilfe und Prävention, der Kinder- und Jugendgesundheits‐ pflege einschließlich der Zahngesundheitspflege, Maßnahmen des In‐ fektions- und Umweltschutzes, Gesundheitsberichterstattung. Die Gestaltungsmodule auf Landesebene sind also insgesamt sehr vielfältig und variieren je nach Bundesland. Kommunalebene Auf der Kommunalebene konkretisieren sich die Maßnahmen, die dann auch für den Einzelnen zu erfahren sind. Hierzu sind die Gesundheitsäm‐ ter als durchführende Organe beauftragt. Sie befassen sich mit Fragen wie Medizin und Pflege mit Fachrichtung Hygiene, Öffentlicher Gesundheitsdienst, Pädiatrie, Psychiatrie, Sozialarbeit und Rechts- und Verwaltungswissen sind im Gesundheitsamt vertreten. Infektionshygienische Aufsicht über alle Einrichtungen des Gesundheits‐ wesens und alle Gemeinschaftseinrichtungen (Kindergärten, Schulen, Al‐ tenheime, Asylbewerbereinrichtungen, Justizvollzugsanstalten) oder auch Qualität der Badegewässer und die Einhaltung der Trinkwasserqualität, um hier einen groben Überblick zu geben. Insbesondere werden die Themengebiete des Infektionsschutzgesetzes (meldepflichtige Erkrankungen) adressiert. Aber auch Prävention sowie die individuelle Beratung und ggf. Behandlung von sexuell übertragbaren Erkrankungen, Information und eigene Impfaktionen sowie sozialpsychia‐ 161 3.2 Öffentlicher Gesundheitsdienst <?page no="162"?> trische Dienste an den Gesundheitsämtern, Krisenintervention als auch in der Eingliederung psychisch Kranker. Praxis | Stephan K. in der Notfallambulanz Bei Stephan K. (63) handelt es sich um einen renitenten und uneinsich‐ tigen Patienten. Im alkoholisierten Zustand wird er vom Rettungsdienst in die Ambulanz gebracht. Wild gestikulierend und uneinsichtig verhält er sich im Schockraum. Immer wieder erklärt er, das Krankenhaus verlassen zu wollen. Doch er kann sich nicht richtig auf den Beinen halten. Der Alkoholgehalt beträgt 2,5 Promille. Die Versorgung ist schwierig, größere Verletzungen finden sich nicht. Nur mit gutem Zureden ist es möglich, Blut zu entnehmen und ein EKG zu schreiben. Es benötigt einige Zeit, um ihn zu beruhigen. Eine stationäre Überwachung ist erforderlich. Er muss auf die Isolierstation aufgenommen werden, da er ein zusätzliches epidemiologisches bzw. pandemisches Risiko durch einen positiven Covid-19-Abstrich zeigt. Stephan K. zeigt sich einsichtig und willigt schlussendlich in die Verlegung in die Psychiatrie auf freiwilliger Basis auf der dortigen Isolierstation ein. Die theoretische Frage ist zu erörtern, was denn passieren würde, wenn sich der Patient mit den erforderlichen Maßnahmen insbesondere der Aufnahme auf der Isolierstation nicht einverstanden erklärt. Es kommen Aspekte aus dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG), dem Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), des rechtfertigenden Notstandes nach Strafgesetzbuch (StGB) aber auch Ansätze des Infektionsschutzgeset‐ zes (IfSG) hinsichtlich einer zu verordnenden Quarantäne zum Tragen. Hierbei handelt es sich aber um eine sog. „Kann-Bestimmung“, die auch gegen den Willen des Patienten umgesetzt werden kann. Hierzu ist die zu‐ ständige Gesundheitsbehörde ggf. mit richterlicher Anordnung beauftragt (→ Abb. 28). Unzweifelhaft stehen hier individualmedizinisches Handeln und Patientenautonomie in Konkurrenz zum Schutz der Allgemeinheit. Dies gilt es, streng abzuwägen. 162 3 Gesundheitsversorgung <?page no="163"?> PsychK(H)G Betreuungsrecht (BGB) rechtfertigender Notstand (StGB) Quarantäne (IfSG) Abb. 28: Was tun, wenn der Patient nicht einwilligt? Praxis | Seniorenheim Wiesengrund In dem Seniorenheim „Wiesengrund“ ist die Krätze ausgebrochen. Hierbei handelt es sich um eine durch die Scabiesmilbe verursachte, ansteckende Hautkrankheit. Die Milbe gräbt sich unter die Haut ein, die Weibchen legen auch dort ihre Eier ab. Die Reaktionen auf die Milbenausscheidungen verursachen nach einer Zeit Hautreaktionen. Diese sind einerseits in ihrer Ausgestaltung, können aber auch atypisch auftreten. Die erschwert die Diagnostik. Die Übertragung erfolgt haupt‐ sächlich von Mensch zu Mensch, auch über Kleidung und Gegenstände. In Gemeinschafts- oder Pflegeinrichtungen findet sich ein gehäuftes Auftreten. Im Sommer kam die Meldung, dass zwei Bewohner und sechs Mitar‐ beiter und Mitarbeiterinnen an Scabies erkrankt seien. Vom Gesund‐ heitsamt wurde die Therapie eingeleitet und Umgebungsmaßnahmen durchgeführt. Etwa 10 Tage später fand sich eine Infektion einer Bewohnerin der Kurzzeitpflege durch eine gemeinsame Nachtwache. Im späten Herbst kam die Meldung, dass drei Bewohnerinnen und 18 Mitarbeiterinnen an Scabies erkrankt sind. Ebenso hatte sich ein Kind einer Mitarbeiterin angesteckt. Daraufhin wurde die Therapie 163 3.2 Öffentlicher Gesundheitsdienst <?page no="164"?> aller Bewohner und aller Mitarbeiter samt ihrer Angehörigen aus dem betroffenen Wohnbereich angeordnet. Zwei Wochen später erkrankten drei weitere Mitarbeiterinnen durch das Tragen einer gemeinsamen Jacke. Im Folgenden Januar fand sich ein erneuter Nachweis von Scabies bei 9 Bewohnern und 9 Mitarbeitern. Es erfolgten sodann Behandlun‐ gen an festgelegten Stichtagen mit einer begleitenden umfassenden Reinigungsaktion. Neuausstattung mit Matratzen und Bettzeug. Die Kleidung wurde gewaschen und Polstermöbel wurden abgedeckt. Dieser enorme logistische Aufwand wurde nach einer Woche wiederholt. Bis auf Einzelerkrankungen fanden sich keine weiteren Infektionen mehr. Beachtenswert ist die eingeleitete komplette Behandlungs- und Reinigungs‐ strategie, die an zwei aufeinander folgenden Stichtagen durchgeführt worden waren. Letztendlich führten diese umfassenden Maßnahmen zum Erfolg. Es zeigten sich aber auch erhebliche Problemstellungen in der Diagnostik, in der Kommunikation, in der Auswahl der anzuwendenden Präparate und deren Refinanzierung als auch in der praktischen Umsetzung der eigentlichen Hygienemaßnahmen hinsichtlich Logistik und Verweige‐ rung von Maßnahmen. Hier wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten in einem doch recht überschaubaren Bereich eines Seniorenheimes umgegangen werden muss, welcher kommunikativer Aufwand erforderlich ist, um fachlich geeignete Maßnahmen einzuleiten und umzusetzen, damit ein nachhaltiger Effekt der Eindämmung der Infektion zu erlangen. Der hat sich selbst dahingehend den folgenden Aufgaben gewidmet: ● Sensibilisierung des Problems, ● Aufklärung und Information über die erforderlichen Maßnahmen, ● Erfassung der Ausbruchssituation, ● Vermittlerfunktion zwischen den beteiligten Professionen, ● Erhebung der Fallzahlen sowie Planung und Koordination der erforder‐ lichen Maßnahmen, ● Verhinderung einer Übertragung der Erkrankung auf andere Bevölke‐ rungsgruppen. 164 3 Gesundheitsversorgung <?page no="165"?> Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst „Bund und Länder haben während der Pandemie Covid-19 zusammen festgestellt, dass es Defizite gab“ so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. „Wir wollen die Coronakrise nicht nur irgendwie überstehen. Wir wollen daraus lernen, den Öffentlichen Gesundheitsdienst so aufzustellen, dass er für künftige Pandemien gerüstet ist.“ Hieraus hat sich im September 2020 der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst entwickelt. Es ist ein Maßnahmenpaket, das mit einer erheblichen Aufstockung des Personals vornehmlich in den unteren Gesundheitsbehörden und den örtlichen Gesundheitsämtern verbunden ist. Es wird aber auch die Anpassung der Tarifverträge und die Verbesserung des Besoldungsrechtes mit aufgenommen. Ebenso ist die Verbesserung der Fort- und Weiterbildung für die Fachberufe des ÖGD angestrebt als auch Implementierung und Ausbau von Forschung und Lehre. Man hat erkannt, dass das Image des ÖGD gebessert und aufgewertet werden muss. Ebenso muss die Digitalisierung im Melde- und Informationssystem und im Bereich der Kommunikation auf- und ausgebaut werden. Verwendete und weiterführende Literatur Adorjan, K.; Gaudernack, D.; Beer, J. et al. (2021): Zwangsmaßnahmen und die SARS-Cov2-Pandemie. In: Nervenarzt 92, S. 501-506. Online: doi.org/ 10.1007/ s0 0115-020-01002-y. Neuschulte, C.; Michels, R. (2009): Analyse eines Scabies-Ausbruchs in einer Alten‐ pflegeeinrichtung - Konsequenzen für Einrichtung und Öffentlichen Gesund‐ heitsdienst. In: Krankenhaushygiene + Infektionsverhütung 31(4), S. 124-128. Osterloh, F. (2020): Pakt für mehr Amtsärzte. In: Deutsches Ärzteblatt A, S. 1723- 1726. 3.3 Public Health Public Health ist eine wissenschaftliche Disziplin, die alles unter‐ sucht, was einen Einfluss auf unsere Gesundheit haben kann. Die 165 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="166"?> sozialen Bedingungen, die Bildung, die Umwelt, das zugrunde liegende Gesundheitssystem etc. - vieles hat Einfluss auf unseren Organismus. Public Health nimmt quasi das „große Ganze“ in den Blick. Es dient dazu, Gesundheit zu fördern, Krankheiten zu verhindern und das Leben zu verlängern. Jedoch gibt es Uneinigkeit in diesem multidisziplinären Fach. Präventions‐ maßnahmen sind sinnvoll. Sie können aber auch den Einzelnen überfordern. Möglicherweise wird auch Vieles überzogen. Es ist erlaubt, kritisch zu hin‐ terfragen, dass es so viele Herzkatheteruntersuchungen gibt. Andererseits sehen wir viele alte Menschen, die allein leben, unter Einsamkeit leiden und denen es an einem sozialen Kontext fehlt. Historischer Kontext Im historischen Kontext wird Johann Peter Süßmilch (1707-1767) zitiert, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkte. Wie viele dieser Zeit war er geschult in vielen Teilgebieten der Wissenschaften. Man muss allerdings auch berücksichtigen, dass die Wissensgebiete der einzelnen Wissenschaften nicht mit einem solchen Wissen angefüllt waren, wie wir es heute erleben. Die Relativitätstheorie kannte man nicht. Christlich geprägt, entwickelte er seine Schrift „Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung derselben erwiesen“. Süßmlich gilt als Vater der deutschen Statistik und der Demographie. In dieser Zeit schrieb man letztendlich auf, was zu beobachten war. So auch so profane Ereignisse wie Geburten und Beerdigungen, Eheschließungen oder auch die Wetter‐ beobachtungen. Man interessierte sich auch für die Preise für die einzelnen Handelsgüter. In diesem Kontext wird aber auch Johann Peter Frank (1745- 1821) gerne genannt, der als der eigentliche Begründer der öffentlichen Hygiene und eines sozialmedizinisch geprägten Gesundheitsdienstes zi‐ tiert wird. Zeitversetzt ging er aus den Erkenntnissen des Aufschreibens weiter und entwickelte Regularien, wie mit den Erkenntnissen umzugehen sei. Er verfasste das Werk über das „System einer vollständigen medizini‐ schen Polizey“. Man muss das Ganze aber auch einsortieren in die große Weltentwick‐ lung, wie sie dies die Gelehrten jener Zeit zu beobachten wussten. Das 17. Jahrhundert und auch die folgende Zeit war sehr geprägt von der 166 3 Gesundheitsversorgung <?page no="167"?> Autokratie, also der Regentschaft von Monarchen und Fürsten. Besonders sei hier König Ludwig der XIV. genannt, als alleiniger Herrscher über Frankreich. Sein prunkvolles Auftreten wurde zum Vorbild für Höfe in ganz Europa. 1751 kam es zur Veröffentlichung der ersten Enzyklopädie - also zur ersten Wikipedia. Damit gab es erstmals eine Schriftreihe, in der Begriffe und Zusammenhänge schriftlich zusammengefasst wurden. Wissen aus ganz unterschiedlichen Teilgebieten sind zusammengetragen worden und war somit einer breiteren Bevölkerung zugänglich. Amerika machte sich unabhängig und es brauchte gut 30 Jahre um den Sklavenhandel abzuschaffen. Mit der Erstürmung der Bastille (1789) kam es zur französi‐ schen Revolution. Dieser wurde dann letztendlich wieder niedergeschlagen. Dennoch kam mehr und mehr auf, dass sich eine neue gesellschaftliche Ordnung aufzubauen hat, sich loslösend von der Herrschaft von Klerus und Adel. So ist auch die Gründung Großkolumbiens in diesem Kontext zu verstehen. Die Entwicklung der kommerziellen Eisenbahn mit einer Dampfmaschine (1830) ist ein Sinnbild für die sich entwickelnde industrielle Revolution und den damit einhergehenden Veränderungen in Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus. Es ist also eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruches, in der man sich auch Gedanken machte um die Gesundheit der Menschen. In diesem Zusammenhang spricht man vom Ende des vormedizinischen Zeitalters in Europa und auch in Deutschland. Die über lange Zeit wütende Pest beendete sich. Man schrieb dann auch mal auf, was man zu beobachten wusste. Die Taufbücher kamen in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf und es dauerte eine ganze Weile bis die Pfarrer dies in allen Pfarreien umzusetzen wussten. Frankreich begann in dieser Zeit ihre Bevölkerungszahl zu bestimmen und schätzte diese auf 20-22 Mio. Einwohner ein. Man erkannte sodann Schwankungen der Geburten- und Sterberaten infolge der Einflüsse von Hungersnöten, Krankheiten und katastrophalen Ernten. Intellektuelle die‐ ser Zeit erkannten, dass die Nahrungsmittelproduktion dem Wachstum der Bevölkerung nicht standhalten kann. Korrelationen zu Beerdigungen, Eheschließungen, Geburten und damit zu Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelpreisen waren zu beobachten. Es war also eine Zeit, in der man erstmals erkannte, dass gesellschaft‐ liche und auch umweltbedingte Veränderungen Einfluss haben auf die Gesundheit der Menschen: Die Pocken lösten letztendlich die Pest ab 167 3.3 Public Health <?page no="168"?> und es war ähnlich dramatisch für die Bevölkerung. Man wusste nicht, woher die Gefahr kommt. Die Seuche bedrohte die Menschen jener Zeit. Viel hatte man nicht dieser Krankheit entgegenzusetzen. Wissen | Pocken Heute wissen wir, dass der Pockenvirus mit 230 x 350 nm Größe ein Riese unter den Viren ist, aber auch hauptsächlich aerogen übertragen wird. Es werden die Schleimhäute des oberen Respirationstraktes (der oberen Luftwege) besonders betroffen und es kommt zu einem Befall der lymphatischen Organe und der Haut. So bilden sich dann Hauterupti‐ onen, sog. Blattern. Die Letalität ist mit etwa 40 % enorm hoch und das Reservoir ist ausschließlich der Mensch. Die letzte beschriebene Beobachtung gilt Janet Parker, einer Fotografin in Birmingham, die sich durch Lüftungsschächte eines virologischen Labors angesteckt hatte und auch verstarb. Der letzte Fallbericht in Deutschland wird 1970 aus Meschede berichtet. Es ist aber auch zu bemerken, dass es zu dieser Zeit eine sog. Kleine Eiszeit gab, die einen erheblichen Einfluss auf die Landwirtschaft hatte und damit auf die Ernährung und das Leben der Bevölkerung. Es war insgesamt bitterkalt. Besonders ist der Winter 1739/ 40 benannt. Noch im März 1740 waren Rhein und Neckar zugefroren. Das Vieh erfror in den Ställen, Bäume zerbarsten auf den Feldern. Der Kohl war verfroren. Der Roggen wurde immer weniger. Es gab kein Heu, kein Stroh und kein Futter für die Kühe, die dann elendig verhungerten. Die Ernteausfälle waren erheblich und Brot wurde zur Mangelware. Die Not dieser Zeit war messbar: es zeigte sich in eine niedrige Geburtenrate mit einer hohen Säuglingssterblichkeit. Insgesamt fand sich eine hohe Sterberate, die durch Hunger und Seuchen verursacht war. In Europa gab es Kriege, die sich ständig abwechselten. Zei‐ ten der Kriegsruhe gab es nicht. Beispielhaft sei der Polnische Erbfolgekrieg genannt, in der eine Schlacht in Klausen bei Trier besondere Erwähnung findet. Dies verdeutlicht, dass Kriege und die damit verbundenen Folgen von Zerstörungen, Plünderungen, Vergewaltigungen und Not allgegenwärtig waren. 168 3 Gesundheitsversorgung <?page no="169"?> Diese benannten Phänomene wechselten sich nicht ab, sondern bestan‐ den nebeneinander. Und in dieser Zeit konnten erste demographi‐ sche Erkenntnisse und ihre Veränderungen beschrieben werden. Die Ereignisse konnten mit der demographischen Entwicklung in Zusam‐ menhang gebracht werden. Zunächst entwickelten sich allgemeine Ratschläge für ein „gesundes Leben“. Bezeichnenderweise konnten die alten und auch bereits hinterlegten Kenntnisse aus China oder Russland aber auch die aus der Zeit der Ägypter und der Griechen nicht genutzt werden, weil sie einfach nicht bekannt waren. Die Zeit hatte sich neu zu definieren und konnte nicht auf altes Wissen zurückgreifen. Nunmehr haben Sie einen Eindruck der Ausgangssituation von Public Health. Aus der seinerzeitigen Medinzinischen Polizey nach Frank entwi‐ ckelte sich die Soziale Medizin. Durch folgende Erkenntnisse zur Bakterio‐ logie von Koch und Pasteur entwickelte sich die experimentelle Hygiene. Semmelweis ist der Begründer der Hygieneregeln. Aus der Klinischen Arbeit entwickelte sich die Sozialhygiene mit Entwicklung präventiver Maßnahmen, zu denen insbesondere die Kanalisation zu nennen ist. Begriff‐ lichkeiten der Volksgesundheit und der Rassenhygiene aus dem Dritten Reich pervertierten die Betrachtung und führten in einen katastrophalen und verachtenden Weg. Es entstand ein Vakuum im Themengebiet Health Care in Deutschland. Erst mit den Gesundheitsberichterstattungen der Kom‐ munen, der Länder und des Bundes, die in der 1980er- und 1990er-Jahren aufkamen, erlangte das Thema wieder Beachtung. Zum aktuellen Zeitpunkt haben wir uns auch infolge des Klimawandels mit einer Globalisierung der Gesundheitsfragen und auch mit Big Data auseinanderzusetzen. Nach dieser historischen Rückschau haben Sie ein Gefühl dafür er‐ langt, wo die Ursprünge des Public Health liegen. Public Health versteht sich als Wissenschaft und die Praxis der Verhinderung von Krankheiten, Verlängerung des Lebens und Förderung der Gesundheit durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft. Sie versucht, die Ressourcen zu erkennen und ihre Verteilung zu beschreiben. Insgesamt sollen Bedingungen geschaffen werden, damit Menschen gesund leben können. Auf Nachhaltigkeit der Maßnahmen ist zu achten, welches letztendlich politische Entscheidungen sind. Immer wieder deutlich hervorgehoben, ist der Aspekt der Verringerung von gesundheitlicher Ungleichheit. 169 3.3 Public Health <?page no="170"?> Die Handlungsfelder sind groß beschrieben: ● Surveillance von Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung, ● Beobachtung von Gesundheitsgefahren und gesundheitlichen Notlagen und Gegenmaßnahmen, ● Gesundheitsschutzmaßnahmen (u. a. in den Bereichen Umwelt-, Ar‐ beits- und Nahrungsmittelsicherheit, ● Gesundheitsförderung, einschließlich Maßnahmen in Bezug auf soziale Determinanten und gesundheitliche Maßnahmen, ● Krankheitsprävention, einschließlich Früherkennung, ● Gewährleistung von Politikgestaltung und Steuerung (Governance) für mehr Gesundheit und Wohlbefinden, ● Gewährleistung einer ausreichenden Zahl von fachkundigem Personal im Bereich der öffentlichen Gesundheit, ● Gewährleistung von nachhaltigen Organisationsstrukturen und Finan‐ zierung, ● Überzeugungsarbeit, Kommunikation und soziale Mobilisation für die Gesundheit, ● Förderung der Forschung im Bereich der öffentlichen Gesundheit zwecks Anwendung in Politik und Praxis. Das Robert Koch Institut (RKI) versteht sich als ein nationales Pu‐ blic-Health-Institut und beschreibt sein Aufgabenspektrum: a) in Erkennen ● Auftreten von Infektionskrankheiten und nichtübertragbarer Krankhei‐ ten, ● Krisensituation, ● Gesundheitszustand der Bevölkerung, ● Umweltrisiken für die Gesundheit, ● soziodemographische Forschung. b) in Bewerten ● Identifikation gesundheitlicher Gefahrenlagen, ● Entwicklung von Präventionsstrategien, ● Erstellung von Prognosen, ● Abschätzung von Krankheitslast in der Bevölkerung, ● Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen und Präventionsstrategien. 170 3 Gesundheitsversorgung <?page no="171"?> c) in Handeln ● Entwicklung von Handlungsempfehlungen für Bund und Länder, ● Präventions- und Interventionsmaßnahmen, ● Aktions- und Alarmpläne zum Krisenmanagement, ● Gesundheitsberichterstattung, ● Information und Beratung von Politik und Öffentlichkeit. Das RKI konkretisiert dies in die folgenden Themengebiete ● Bekämpfung von Infektionskrankheiten: saisonale Influenza, Zoono‐ sen, HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten, vernachlässigte Krankheitserreger; Antibiotikaresistenzen; Impfungen, ● Bewältigung neuer biologischer Gefahrenlagen: SARS, Influenza-Pan‐ demie, Bioterrorismus, Krisenmanagement; Aufbau des Hochsicher‐ heitslabors, ● Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten: Krebs, Herz-Kreis‐ lauf-Erkrankungen, Diabetes; Gesundheitsmonitoring; zunehmende Lebenserwartung, Umwelt und Gesundheit, Genetik und Public Health, ● Vernetzung der Aufgabenfelder: Stärkung der Forschungsaktivitäten, Qualifizierung von Fachkräften, nationale und internationale Koopera‐ tion, Beratung, Information und Risikokommunikation. Gesundheitsberichterstattungen Auf Landesebene (und auch auf kommunaler Ebene) erfolgen demgegen‐ über regelmäßig Gesundheitsberichterstattungen. Dieser Bericht ist in allen Bundesländern etabliert und unterstreicht den Föderalismus. Die einzelnen gesetzlichen Verankerungen hinsichtlich Zuständigkeit, der zeitlichen Vor‐ gabe, wann diese Berichte zu erstellen sind, wie sie inhaltlich vorgegeben sind und welche gesundheitspolitische Steuerungsfunktion sie haben, sind unterschiedlich geregelt. Zusammenfassend findet sich eine länderspezifi‐ sche Gemengelage an unterschiedlichen Regelungen, so dass eine einheitli‐ che Bewertung der jeweiligen Berichte nicht gegeben ist. Dennoch haben sie Einfluss auf die politischen Entscheidungen auf Landesebene. Sie gewähr‐ leisten ein landestypisches Monitoring der Bevölkerungsgesundheit und Aufdeckung eines Handlungsbedarfes für die politische Ebene über ein kontinuierliches Monitoring. Dabei werden die Daten hauptsächlich aus amtlichen Statistiken generiert. Zusätzlich existiert ein Indikatorsystem, das 171 3.3 Public Health <?page no="172"?> über längere Zeiträume gepflegt wird. Trends sind zu erkennen und strate‐ gischen Ziele zu kontrollieren. Die Umsetzung der Erkenntnisse benötigt einen Zeitraum von 15-20 Jahren. Beispielhaft ist hier die Schlafposition von Neugeborenen und Säuglingen zur Protektion des plötzlichen kindlichen Todes angeführt. Jedoch steht der Bericht der Länder in Konkurrenz zu anderen Anbietern, die eine stärkere Wahrnehmung erfahren, wie etwa Mitteilungen der Krankenkassen. Geographische Analysen Eine andere Darstellungsform bildet die erhobenen Daten geographisch ab. Hier lassen sich auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene Veränderungen darstellen. Beispiel | Covid-19-Dashbord Die modernste Form der geographischen Darstellung mit höchster Aktualität findet sich im Covid-19-Dashbord des Robert-Koch-Instituts für den pandemischen Ausbruch des Virus SARS-CoV-2. Es handelt sich um eine kontinuierliche Darstellung von Erkrankungs-, Todes- und Genesungsfällen auf Datenbasis der gemeldeten Fälle der Landesämter. Aus dieser Darstellung entwickeln sich politische Entscheidungen bzw. haben Einfluss auf politische Entscheidungen. Diese Darstellungsform findet auch auf Landesebene breite Anwendung und verbessert die Anschaulichkeit der Datenlage auf geographischer Ebene. Unter der Fragestellung der Gesamtmortalität bösartiger Tumore zeichnet sich in diesem Beispiel Mainz mit einer unterdurchschnittlichen Bewertung ab, was bedeutet, dass hier die Sterblichkeitsrate bei malignen Tumoren am geringsten ist. Auch Nordrhein-Westfalen bedient sich eines solchen Tools, in dem man verschiedene Fragestellungen adressieren kann. Fragt man nach der Anzahl der im Straßenverkehr verunglückten Personen, so stellt sich die Millionenstadt Köln als die höchstbewertete Region, mit den meisten verunglückten Personen dar. Solche Untersuchungen und Darstellungsformen lassen sich auf die kleineren Ebenen runterbrechen, so dass beispielsweise auch die Fußgängerfreundlichkeit von München dargestellt werden kann. 172 3 Gesundheitsversorgung <?page no="173"?> Zusammenfassend erlaubt die geographische Darstellung eine zielgrup‐ penspezifische Visualisierung, die auf verschiedenen Strukturebenen abbildbar sind. Dies kann von einfachen Kartendarstellungen bis hin zu komplexen raum-zeitlichen Darstellungen variieren. Die unterschiedlichen regionalen Betrachtungsebenen erlauben einen hohen komplementären Erkenntnisgewinn. Datenschutzrichtlinien limitieren das Potenzial einer detaillierten räumlichen Betrachtung. Digital Public Health Eine Weiterführung der Gesundheitsbeobachtung erfolgt datenbasiert über Software-Anwendungen. Bei Digital Public Health kommen unterschiedli‐ che Begriffe zum Einsatz, die nicht eindeutig und klar definiert sind und sich auch in ihrer Bedeutung überlappen. Die Digitalisierung ist Realität geworden und wir erleben einen Hype an datenbasierten Anwendungen und Interpretationen. Digital Public Health nutzt die Daten im Hinblick auf Prävention und Gesundheitsförderung. E-Health stellt eine nutzerorientierte Gesund‐ heitsdienstleistung dar und bedient sich internetbasiert der Informa‐ tions- und Kommunikationstechnologie. M-Health stellt nutzerzent‐ rierte Technologien über Smartphones und Sensoren zur Verfügung. Digital Public Health dient der Optimierung der Prävention und Ge‐ sundheitsförderung auf digitalem Weg. Anwendungsorientiert sind bei den mobilen Einheiten drei Bereiche zu unterscheiden, die sich selbstverständlich auch überlappen. Einen großen Anteil dient der Selbstoptimierung im persönlichen Kontext durch Fitness, Wellness und Kontrolle der eigenen Mobilität und Emotionen. Dem ergän‐ zend ist ein Patientenbereich zu formulieren, bei dem ein direkter medizini‐ scher Zweck adressiert ist, wie bei akuten oder chronischen Erkrankungen. In diesem Bereich ist auf einen hohen Qualitäts- und Sicherheitsstandard zu achten. Ein breit angewendetes Beispiel ist die Surveillance im Rahmen der Diabetesbehandlung oder auch Raucherentwöhnung und Adipositas. Der dritte Bereich ist der Administration zugeordnet und unterstützt Praxis- und Klinikmanagement, dient zur Steuerung und Kontrolle von Patientenpfaden. 173 3.3 Public Health <?page no="174"?> Public Health hat als Kernziel die allgemeine Verbesserung der Gesund‐ heit und die Verringerung von gesundheitlicher Ungleichheit. Große Teile der Bevölkerung können adressiert werden. Die Ergebnisse sind skalierbar und auch zeitnah interpretierbar. Es verbleibt aber, dass privilegierte Grup‐ pen von diesen Angeboten profitieren. Es ist ein Kreis der Bevölkerung ausgeschlossen, der keinen digitalen Zugang hat oder sich dessen verwei‐ gert. So kann sich gesundheitliche Ungleichheit verstärken, Rand- und Außenseitergruppen werden nicht mehr eingebunden, sie können in den politischen Entscheidungen untergehen. Wir erfahren ein unüberschaubares Angebot an digitalen Anwendungen. Zigtausende Apps im Medical-Bereich als auch im Health&Fitness-Bereich sind auf dem Markt und täglich werden es mehr. Da sich Public Health als eine evidenzbasierte Wissenschaft versteht, ist die Auswahl des geeigneten Tools erschwert. Es zeigt sich ein klarer Mangel an gut geplanten und auch durchgeführten Evaluationsstudien. Der Markt ist unüberschaubar geworden, lässt sich aber in groben Pin‐ selstrichen kategorisieren. Es gibt Dienstleistungen, die ohne messbare Ergebnisse zur Verbesserung der Organisation des Gesundheitswesens sind und mehr den Spaßfaktor adressieren. Andere Tools vermitteln Informatio‐ nen durch ein überschaubares persönliches Monitoring. Sie ermöglichen auch die Kommunikation mit medizinischer Kompetenz. Die höher qualifizierten Tools sind auf Eigenmanagement im Rahmen einer eher chronischen Erkrankung ausgerichtet oder befassen sich konkret mit Diagnostik und Therapie. Insbesondere auf diesen Feldern ist ein hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandard einzufordern. Die aktuelle Diskussion um digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) versucht diesem Spannungsfeld zu begegnen. Unter dem Stichwort App auf Rezept erlangen Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen einen Anspruch auf sog. digitale Gesundheitsanwendungen. Das Bundes‐ institut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist zur Prüfung beauftragt und erstellt aktuell ein Verzeichnis digitaler Gesundheitsanwen‐ dungen (DiGA), die anwendungsbezogen sind. Im August 2020 hatten sich 15 Dienstleister um eine Zulassung bemüht. Im Verfahren zur Anerkennung stellt der Hersteller einen Antrag. Das Bundesamt prüft nach eigenen Kriterien die vorläufige Aufnahme in das Verzeichnis und gibt diese Anwendung zur Erprobung frei. Nach einem Jahr wird dann über die endgültige Aufnahme entschieden. Erst dann folgt die Preisverhandlung über die Vergütung. Es sind zahlreiche Kritikpunkte an 174 3 Gesundheitsversorgung <?page no="175"?> dieses Konzept vorzubringen. Dennoch stellt es eine Konstruktion dar, hier ein hochqualifiziertes und geprüftes System zu etablieren (→ Abb. 29). Monitoring • Diabetes, Adipositas, Bewegungsapparat, Verdauung, Blutdruck, Schlaf Psychologie • Gesundheitstraining, Monitoring, Migräne, Therapiebegleitung bei psychia‐ trischen Erkrankungen Symptomanalyse (anamnesebasiert) telemetrisches Anbindungssystem Abb. 29: Themengebiete der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA, Stand August 2020, nach Krüger-Brand/ Haserück 2020). Die Hersteller teilen sich aktuell in etwa vier Gruppierungen auf. Viele beschäftigen sich mit dem Monitoring klassischer Erkrankungen. Eine ganze Anzahl von Produkten widmet sich den psychiatrischen bzw. den psychotherapeutischen Erkrankungen und ist in ihrer Anzahl nicht zu unterschätzen. Ein Tool dient zur anamnesegestützten Diagnosefindung und Zuordnung zu einer entsprechenden Fachdisziplin. Ergänzend findet sich ein telemetrisches Anbindungssystem von Patienten an spezifische Dienstleister im Gesundheitssystem an Kliniken und Praxen. Es bietet als eine Vernetzung der Systeme an. Erstzulassungen erhielten eine Tinni‐ tus-App, sowie ein Produkt zur Behandlung von Angststörungen. Weitere Zulassungen erfolgten. Die patientenseitige Anwendung digitaler Medien und auch im Hinblick auf Public Health stellt im weitesten Sinne die Anwendung eines Produktes an den Menschen dar. Unser Leben wird damit beeinflusst und wir haben uns damit auseinanderzusetzen. Ähnlich wie bei pharmazeutischen Produkten können sich hier unerwünschte Wirkungen entwickeln, die es zunächst einmal zu beschreiben gilt. Auch wieder mit einer groben Einsortierung kann die Anwendung Einfluss auf die individuelle Situation, auf die Bezie‐ hungsebene und auch auf die Versorgungsebene haben. Auf der individuellen Ebene können falsche oder auch fehlerhafte Empfehlungen ausgesprochen werden. Dies ist beispielsweise in der 175 3.3 Public Health <?page no="176"?> Verwendung von Apps in der Melanom-Beurteilung zu beobachten. Auch sind Neigung zu Überdosierungen von Insulin bei der Diabetes‐ behandlung beschrieben. Die ständige Nutzung von mobilen Apps kann zu körperlicher Fehlhaltung oder Überbeanspruchung einzelner Organsysteme führen. Die sog. WhatsAppitis ist nur ein Begriff davon. Schwerwiegender kann die individuelle Frustration und Unsicherheit durch Überforderung bei Interaktion oder Fehlfunktion sein. Das Ding klappt nicht oder der Anwender kommt nicht klar damit, will sich nicht anvertrauen und fällt in Resignation oder Selbstzweifel. Angststörun‐ gen hinsichtlich mittels Apps adressierter Erkrankungen können sich verschärfen. Eine gesellschaftliche und auch individuelle Unsicherheit besteht über den Schutz der individuellen Gesundheitsdaten und deren Folgen. Wenn eine Schwangere ihr Kind in der 26. Woche verliert und zum Zeitpunkt der Geburt Werbung über Babysachen und Babyernäh‐ rung in Social-Media-Tools auftauchen, dann ist das sehr irritierend. Auf der Beziehungsebene sind Offline-Kontakte zu Online-Kontakten zu differenzieren. In der direkten persönlichen Beziehungsebene werden mög‐ licherweise andere Personen erst auf Erkrankungen aufmerksam gemacht. Wenn etwa in Zentralafrika ein Tool an die zeitgerechte Medikation einer HIV-Therapie erinnert und andere Bezugspersonen erfahren dies zufällig durch ein Aufleuchten der Nachricht, kann dies zu unerwünschten Interak‐ tionen führen. Wenn beispielsweise Sport der allgemeinen Ertüchtigung, Freude an der Bewegung und auch an der damit vermittelten Interessenge‐ meinschaft dienen, kann die Verwendung von Wearables oder Tracks zu einem Monitoring führen, das sein Eigenleben führt. Aus der intrinsischen Motivation kann sich dann eine extrinsische Vorgabe entwickeln. Aus Frei‐ zeit und Erholung wird Verpflichtung und Stress. Es werden auch Ängste der Depersonalisierung einer Arzt-Patienten-Beziehung vorgetragen; Stichwort Mensch und Algorithmus. Online Communities und insbesondere jene mit Kommentarfunktion bergen die Gefahren der Stigmatisierung, der Verunglimpfung und des Hasses und können die Anwenderin extreme Ängste führen (Cyber-Mob‐ bing). Durch die ständige Auseinandersetzung kann sich das Individuum seines sozialen Kontextes entziehen, sich von diesem Entfremden und in die Isolation geführt werden. Auf Versorgungsebene werden erhebliche Bedenken vorgetragen. Die Patienten befürchten den Missbrauch persönlicher Gesundheitsdaten. Ab‐ 176 3 Gesundheitsversorgung <?page no="177"?> fragen nach Zugangsdaten auf das Betriebssystem des eigenen Rechners im Onlineformat unterstützt die Skepsis. Die Anwender haben Sorge und den Erhalt der Speicherfunktion, Schutz der Kontaktdaten, Verortung des Nutzers und Verwendung der systemimmanenten Kamera. Ungewiss ist die unerwünschte Weiterleitung von Daten an Drittanbieter. Es besteht die Sorge, dass durch die zugänglichen Daten bei Dienstleistungsunternehmen oder Versicherungen ein Leistungsausschluss zu befürchten ist. Aufgrund der ungleichen Verteilung des Zuganges durch Mangel an Kompetenz, Mangel der technischen Umsetzung oder fehlendem Interesse an Teilhabe besteht die Gefahr einer verzerrten Datengrundlage, die zu fehlerhaften Schlussfolgerungen führen könne. Eine fehlende Barrierefreiheit kann ganze Gruppen im gesellschaftlichen Kontext ausschließen. Es besteht die Gefahr der Unterrepräsentanz von Gruppen aus ethnischen, sexuellen und anderen Minderheiten. Zusammenfassung | Public Health Ausgehend von den ersten Erkenntnissen des Aufschreibens des 17. und 18. Jahrhunderts hat sich der Gedanke entwickelt, die Welt in uns und um uns herum zu beschreiben und gesellschaftliche Rückschlüsse zu ziehen. Unter dem Begriff der Hygiene wurden Erkenntnisse zusam‐ mengetragen und Regeln für ein gesundes Miteinander diskutiert und eingeführt. Public Health adressiert als eigenständige Wissenschaft zentral die allgemeine Verbesserung der Gesundheit und Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit. Mit dem Wechsel einer Gesellschaft, die sich mit Ackerbau und Vieh‐ zucht, mit Handwerk und Handel beschäftigte, über die industrielle Revolution hinweg, entwickelten sich neue Gesellschaftsstrukturen und Regeln für ein gesellschaftliches Miteinander. In der ablaufenden digitalen Revolution wird sich möglicherweise auch ein weiterer gesell‐ schaftlicher Wandel ergeben, den wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht beschreiben können. Gesellschaft und auch Public Health stehen hier besonderen Herausforderungen gegenüber. 177 3.3 Public Health <?page no="178"?> Verwendete und weiterführende Literatur Frake, A. N.; Peter, B. G.; Walker, E. D.; Messina, J. P. (2020): Leveraging big data for public health: Mapping malaria vector suitability in Malawi with Google Earth Engine. In: PLOS ONE 15(8): e0235697. Online: doi.org/ 10.1371/ journal.pone.023 5697. Free, C.; Phillips, G.; Galli, L.; Watson, L.; Felix, L. et al. 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Online: doi.org/ 10.1007/ s00103-020-03196-7. 178 3 Gesundheitsversorgung <?page no="179"?> 4 Ethik der Medizin 4.1 Allokationsethik Den Wunsch nach einem wirksamen Impfstoff gegen Covid-19 haben die Pharmafirmen erfüllt. Noch nie wurde so schnell ein Impfstoff entwickelt. Doch fest steht auch: Es reicht nicht für alle. Deshalb lautet die Frage, die unweigerlich mit den Impfstoffen verbunden ist: Wer soll zuerst geimpft werden? Ein Verteilungsplan ist erforderlich, der die medizinischen, ethischen und rechtlichen Fragen der Priorisierung adressiert und berücksichtigt. Hinzu kommt die Selbstbestimmung der Impfentscheidung. Keine einfach zu lösende Aufgabenstellung. Abstrahiert geht es um die Verteilung von Ressourcen auf die un‐ terschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten. Ziel ist das Erreichen einer optimalen Allokation unter dem Gesichtspunkt der Effizienz. Bei Ressour‐ cenbegrenzung ergibt sich ein Allokationsproblem. Ein vollkommener Marktmechanismus, bei dem alle beteiligten Partner gleichberechtigt sind, vermag dieses Problem aufzulösen. Da es aber keinen vollkommenen Markt gibt, ist dies ein rein theoretisches Modell. Insofern bedarf es Schaffung staatlicher Rahmenbedingungen. Allokationsproblem Der medizinische Alltag ist tagtäglich mit einem Allokationsproblem, also der Zuordnung begrenzter Ressourcen konfrontiert. Beispiele sind zügig durchzuführende Impfprogramme oder die Zuteilung von Intensivkapazi‐ täten bei einem Massenanfall von erkrankten Personen. Trotz aller Bemü‐ hungen besteht eine Mangelsituation in allen erdenklichen Ebenen. Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Ressourcen zu verteilen sind, inwie‐ fern Rationalisierungsmaßnahmen greifen, wie Entscheidungsprozesse zu gestalten sind und ob Rationierung wirklich nicht zu vermeiden ist. Ein freier Markt existiert nicht. Ein wesentliches Merkmal stellt hier‐ bei die fehlende Konsumentensouveränität dar. In der Situation von Krankheit, Leiden und möglicherweise auch dem drohenden Tod ist eine <?page no="180"?> Symmetrie nicht oder nur selten gegeben. Insbesondere in der Not geben sich Patienten hin, in der Erwartung, dass ihnen geholfen wird. Dieses Merkmal findet sich in verschiedenen Bereichen unseres Lebens auch. Hier hat es aber nochmals eine besondere emotionale, eine aber auch mit Ängsten verbundene Komponente. Mit dem Beginn der Diagnostik und Therapie wird den am Gesundheitssystem beteiligten Personen die Autonomie der Patienten übertragen. Insbesondere wird hier vielfach auf das besondere Arzt-Patienten-Verhältnis abgestellt. Die weitreichende und umfassende Schweigepflicht unterstreicht, dieses zu bewahren. Genauso ist es aber auch wichtig, dass mit Abschluss der Behandlung die Autonomie wieder an die Patienten zurückgegeben wird. Trotz aller Ausgaben und allem Engagement der Gesellschaft ist eine Mittelknappheit im Gesundheitsbereich zu beschreiben. Dies ist sowohl in sehr staatlich aufgebauten Gesundheitssystemen wie auch in sehr freien, marktorientierten Systemen zu erkennen. Während einige Autoren darauf hinweisen, dass eine staatliche Regulierung hier zwingend erforderlich ist, kann zumindest über alle Gesundheitssysteme hinweg gesagt werden, dass staatliche Regulierung eine optimale Allokation unterstützt. Ein gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung und eine gerechte Verteilung knapper medizinischer Ressourcen kann als Grundbedin‐ gung für die Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft angesehen werden. Das entspricht sehr stark dem Gleichheitsgrundsatz, der neben der Würde des Menschen einen besonderen Stellenwert in der Verfassung hat und sich auch in vielen anderen Verfassungen findet. Es kann also aus dem Prinzip Würde und Gleichheit gesagt werden: Es ist gerechter, allen Personen einen begrenzten Zugang zu wichtigen Gesundheitsleistungen zu ermöglichen. Jedoch muss sich die Gesellschaft die Frage stellen, ob das der richtige Weg oder die einzige Maxime ist, nach der zu handeln ist. Da eine Mittelknapp‐ heit besteht, müssen Strategien zum Umgang mit Mittelknappheit entwickelt werden, damit sie möglichst von Allen erlangt werden können. Darüberhinausgehende, individuelle Versorgungspräferen‐ zen können ihren Ausdruck in einem Markt für Zusatzleistungen finden. Ein Modul diesbezüglich sind beispielsweise die individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). 180 4 Ethik der Medizin <?page no="181"?> Unter dem postulierten Aspekt, dass Mittelknappheit im Gesundheitswe‐ sen besteht, ergeben sich drei grundsätzliche Möglichkeiten, diesem zu begegnen. Einerseits können mehr Mittel eingesetzt werden. Die Effizienz kann gesteigert werden oder auf der anderen Seite Leistungsbegrenzungen erfolgen (→ Abb. 30). Mittelknappheit im Gesundheitswesen Erhöhung der Mittel im Gesundheitswesen Effizienzsteigerungen (Rationalisierungen) Leistungsbegrenzungen (Rationierungen) Abb. 30: Mittelknappheit im Gesundheitswesen. Bei der Effizienzsteigerung gibt es prinzipiell die Möglichkeit den gleichen Effekt mit weniger Mitteln oder einen größeren Effekt mit den gleichen Mitteln zu erzielen. Wirtschaftlichkeitsreserven bezeichnet Einsparmög‐ lichkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei wird die Diskussion um diesen Begriff recht kontrovers geführt. Dies kann erzielt werden durch eine Begrenzung der Leistungserbringer, eine stärkere Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung, der Vermeidung von Doppel- und Mehrfachuntersuchungen sowie strenge Ausrichtung an die medizinische Notwendigkeit. Rationalisierungsmaßnahmen sind aufwändig und gehen mit struktu‐ rellen Veränderungen einher. Diese Maßnahmen sind in einem besonderen Dienstleistungssektor wie der Gesundheit anders auszurichten, als dies in einem produzierenden Gewerbe, der herstellenden Industrie oder in der Administration zu etablieren wäre. Allenthalben wird hier eine begrenzte Einsparung erörtert, insbesondere dadurch, als dass sich medizinischer Fortschritt und Demographie weiterentwickeln. 181 4.1 Allokationsethik <?page no="182"?> Wissen | gesellschaftliche Kennzahlen Der Anteil von Ausgaben in Gesundheitsfragen ist unter Einschluss der Krankenkassenbeiträge in sozialversicherungspflichtigen Haushalten mit 17-20 % des Bruttoeinkommens zu verorten. Bundesweit beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben etwa 11-12 % des Bruttoinlandpro‐ duktes. Im zeitlichen Verlauf ist dieser Wert stabil gehalten worden, während andere Staaten hier zugelegt haben. Möglicherweise wird in diesen Staaten eine höhere Bedeutung beigemessen, es besteht ein effektiver Mehrbedarf, dem sachlich entsprochen werden muss oder die Gesundheitsleistungen sind schlichtweg durch Marktmechanismen teurer geworden. kritische Infrastruktur Energie Transport und Verkehr Informationstechnik und Telekommunikation Finanz- und Versicherungswesen Gesundheit Staat und Verwaltung Wasser Medien und Kultur Ernährung Gewährleistungsverantwortung Betriebsverantwortung Abb. 31: Kritischer Infrastruktur. Eine Erhöhung der Mittel ist definitiv nur mit Einschränkungen mit anderen sozialstaatlichen Aufgaben möglich. Diese sozialen Rahmenbedingungen, die über die Bereitstellung Kritischer Infrastruktur als Basis hinausgehen, haben auch Einfluss auf Morbidität und Mortalität. Gesundheit ist ein 182 4 Ethik der Medizin <?page no="183"?> Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin‐ dens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Es ist aber auch zu beachten, dass neue Methoden in der Medizin einen begrenzten Nutzen haben. So sind beispielsweise eine ganze Anzahl an operativen Maßnahmen auf ihre medizinische Bedeutsamkeit zu hinterfragen. Teilweise sind diese Maßnahmen auch wieder verschwunden, wenngleich sie über Jahrzehnte durchgeführt wurden. Die Verwendung aller verfügbaren Mittel ist ökono‐ misch und ethisch nicht sinnvoll, weil es schlichtweg nicht umsetzbar ist. Das entspricht auch der gesellschaftlichen Interpretation, wenngleich dies individuell ganz anders interpretiert werden kann. Medizin ist hierbei eine Heilkunde, ein wissenschaftliches Fachgebiet, dass vornehmlich durch Wissen seine Effizienz steigert. Diagnostik und Therapie sind gezielt vor dem Hintergrund des differenzierten, evidenzba‐ sierten Wissens in Verbindung mit Intuition und Erfahrung einzusetzen. Eine Begrenzung der Gesundheitsausgaben oder auch die breitere Be‐ reitstellung der Mittel bedarf der normativen Festlegung. Die staatliche Legislative hat die Möglichkeit dazu, die die Exekutive dann umzusetzen hätte, während die Judikative die Rechtmäßigkeit zu überprüfen hat. Und diese Festsetzung ist abhängig von der sozialen Wertsetzung in Gesundheits‐ fragen. In Situationen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gemäß § 5 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) hat das eine ganz besondere Bedeutung. Rationierung in der Form der Leistungsbegrenzung bedeutet nicht die Vorenthaltung medizinisch notwendiger und lebenswichtiger Maßnah‐ men. Es werden keine Rabattmarken im Gesundheitswesen vergeben und sie sind auch nicht sinnvoll. Leistungsbegrenzung beschreibt auch die gesellschaftlich-normative Festlegung der relativen Wertigkeit me‐ dizinischer Maßnahmen. Eine solche Einschätzung bedarf aber einer Transparenz der Wertentscheidung. Diese ist aber nicht immer zu erkennen. Trotz aller Leistungsbegrenzung ist eine Verbesserung von Lebenserwartung und auch Lebensqualität zu beachten. Leistungsbe‐ grenzung erlaubt auch, medizinisch nicht sinnvolle Maßnahmen eben nicht zur Verfügung zu stellen, insbesondere dann, wenn die benannten Ziele mit diesen Maßnahmen nicht zu erzielen sind. 183 4.1 Allokationsethik <?page no="184"?> In dieser Frage befinden wir uns in einem Konfliktfeld zwischen individu‐ alethischem Nutzen und gerechtigkeitsethischer Fragen der solidarischen Finanzierung. Zuteilen medizinischer Leistungen sind hiervon abhängig. Im Spannungsfeld von Mittel, Effizienz und Leistung steht das so zitierte Arzt-Patient-Verhältnis. Im großen Pinselstrich hat die Behandlung eines Patienten gemäß dem SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung) mit allen notwendigen Mitteln zu erfolgen. Hinsichtlich des SGB VII (Gesetzliche Unfallversicherung) werden hierzu alle erforderlichen Mittel angewen‐ det. In der zivil- und strafrechtlichen Bewertung wird ein sorgfältiges Handeln eingefordert, was von der Klageseite als mit allen möglich erdenklichen Mitteln interpretiert wird. In diesem Spannungsfeld spiegelt sich Medizin ab und ist einer der Hauptgründe, warum es zu einem exorbi‐ tanten Anstieg der Gesundheitskosten kommt. An dieser Stelle sei die Makro- und Mikroallokation nach Tilman Engelhardt, einem amerikanischen Philosophen, eingeführt. Nach seiner Auffassung sind Makroallokation von Mikroallokation zu unterscheiden. Diese sind in jeweils zwei Untergruppen zu unterscheiden. Makroalloka‐ tion I beschreibt vereinfacht die Verteilung der Mittel auf oberster oder politischer Ebene gemäß einer Verteilung der Ressourcen orientiert nach dem Bruttoinlandprodukt. Dies ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung und allem übergeordnet. Die Makroallokation II beschreibt die Verteilung der Mittel innerhalb des Gesundheitswesens. Hier sind sehr stark die jeweiligen Fachgesellschaften in ihren Meinungen und in ihren Gestaltungs‐ möglichkeiten angefragt. Mikroallokation I beschreibt - auch vereinfacht - die Verteilung der Mittel auf bestimmte Krankheiten und Patienten und definiert auch Aus‐ grenzungen von Hilfen nach zu definierenden Kriterien. Hierbei handelt es sich auch um gesellschaftliche Normvorschriften und ist der Mikroal‐ lokation II, dem eigentlichen Arzt-Patienten-Verhältnis übergeordnet. In diesem sehr persönlichen Verhältnis und gerade in Situationen des Erlebens von Krankheit, Leiden und Tod stellen Ärztinnen und Ärzte die Personifi‐ kationen dieses komplexen Systems dar und entscheiden auch über die Zugänglichkeit von Diagnostik und Therapie. Zusammenfassend beschreibt es die Struktur eines gesellschaftlich fest‐ gelegten normativen Regelwerkes gegenüber der individual-therapeuti‐ schen Situation. Klassische Marktmechanismen greifen an dieser Position nicht. 184 4 Ethik der Medizin <?page no="185"?> Leistungsbegrenzungen nehmen einen besonderen Raum ein und sind in ihrer Entstehung und Bedeutung differenziert zu betrachten. Sie können in eine explizite und eine implizite Form unterschieden werden. Das Thema Priorisierung ist gesondert zu betrachten, da es sich hier um eine Form einer gestufte Leistungsbegrenzung handelt. In aller Regel ist sie entlang einer Zeitachse ausgerichtet. Explizite Leistungsbegrenzung entstammen einer vorgebenden Norm und sollten in ihrer Struktur konsistent und transparent sein. In vergleichbaren Situationen sollen gleiche Behandlungsformen zur Anwendung kommen. Es sind also allgemeinverbindliche Vorgaben außerhalb der „Arzt-Patient-Beziehung“. In einem solchen Kontext von Standards oder Richtlinien sind kontrollierbar. Die etablierten Versor‐ gungsstandards entstehen auf Grundlage wissenschaftlicher Evidenz. Eine der Grundregeln der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dass alle Behandlungen wirtschaftlich, also effektiv und kostengünstig, sein müssen. Das bedeutet, dass bestimmte Behandlungen einem Leistungsausschluss bei der GKV unterliegen und nicht bezahlt werden. Besteht man dennoch auf einer Behandlung, muss man einen Teil oder die gesamten Kosten selbst übernehmen. Das trifft vor allem auf Schönheitsoperationen zu. Wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass ein Schönheitsmakel eine schwere Depression hervorgerufen hat, die nur durch die Operation behandelt werden kann, werden die Behandlungskosten nicht übernommen. Sie sind dann aus medizinischer Sicht nicht notwendig, sondern werden als reiner Luxus betrachtet. Implizite Leistungsbegrenzungen berücksichtigen die Besonder‐ heiten des Einzelfalles. Dabei stellt die Budgetierung das einfachste Mittel zur Ausgabenbegrenzung dar. Die Budgetierung beschreibt eine gesetzlich festgelegte Maßnahme, dass pro Kalenderjahr in einem bestimmten Aufgabenbereich für alle Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung nur eine Geldmenge ausgegeben werden darf, die derjenigen des Vorjahres - um einen Anpassungsfaktor ergänzt - entspricht. Es ist zugleich aber auch kritisch zu betrachten. Innerhalb des zur Verfü‐ gung stehenden Budgets sind Leistungen innerhalb der Patientengruppe zu 185 4.1 Allokationsethik <?page no="186"?> priorisieren. Damit ist die Entscheidung nicht transparent und können zu Benachteiligung führen. Häufig kommt es zum Ende des Jahres vor, dass die Ausgaben die festgelegte Begrenzung überschreiten. Gründe hierzu sind die demographische Entwicklung, die Multimorbidität und auch besondere Entwicklungen im Gesundheitswesen, die dem Gesamteinkommen-assozi‐ iertem Faktor nicht entsprechen. Regionale Minderversorgungen führen zu einer lokalen Mehrbelastung und werden vom komplexen Verteilungssys‐ tem nicht berücksichtigt. Leistungserbringer tragen die damit verbundenen Mehrkosten selbst. Zusammenfassend sind explizite Leistungsbegrenzung ethisch zu bevor‐ zugen, da sie auf einer breiteren gesellschaftlichen Normierung beruhen. Sie sind aber in der Praxis nur schwer realisierbar, insbesondere durch die zeitliche Latenz, die mit diesen Entscheidungsprozessen verbunden sind. Zwar sind die impliziten Leistungsbegrenzungen leichter umsetzbar, sie bieten aber auch erhebliche ethische Probleme, da sie sehr individuell ausgerichtet sind. Ethisch am ehesten vertretbar erscheint eine Kombination der drei Verteilungskriterien, die neben der Dringlichkeit und dem Schwere‐ grad der Erkrankung den erwarteten medizinischen Nutzen und die Kosteneffektivität der Maßnahmen berücksichtigt. Die große ethische Herausforderung besteht dabei darin, das relative Ge‐ wicht der 3 Kriterien bei der Mittelverteilung zu bestimmen, da sich dieses nicht aus einer übergeordneten ethischen Theorie ableiten lässt. Priorisierung Priorisierung kann in Anlehnung der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer verstanden werden als die Bestimmung der relativen Vorrangigkeit von medizinischen Maßnahmen, Indikationen, Patientengruppen oder auch ganzen Versorgungsbereichen. Am Beispiel der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie lassen sich die grundsätzlichen Aspekte diskutieren. Medizinische Entscheidungen orientieren sich am Bedarf des einzelnen Patienten. Es besteht ein medizinisches Problem, bei dem die Mittel zu Erkennung und Behandlung zur Verfügung gestellt werden. Bei einer 186 4 Ethik der Medizin <?page no="187"?> Schnittwunde, wie sie beim Schneiden einer Ananas auftreten kann, vermag die Versorgung in der Verwendung eines einfachen Pflasters bestehen. Bei einer nachzuweisenden Strecksehnenverletzung wird die Sache aber komplizierter. Hier bedarf es dann einer möglichen operativen Versorgung. Treten beispielsweise infektiologisch-bakterielle Komplikationen hinzu, kann dies - unter zusätzlichem Bestehen komplexer Begleiterkrankungen - auch zu einem septischen Krankheitsbild mit dann intensivmedizinischer Behandlung führen. Tritt in dieser Phase ein apoplektischer Insult, also ein Schlaganfall ein, kommt es zu einer komplexen neurologischen Rehabi‐ litation. Infolge bestehender Einschränkungen ergeben sich umfangreiche sozialmedizinische Fragestellungen. Es folgt Pflegebedürftigkeit, Verlust des Arbeitsplatzes, fehlende Teilhabe am sozialen Kontext und Isolation. Solange das System funktioniert und genügend Reserven bestehen, sind solche umfangreichen Fragestellungen adressierbar. Anders ist es bei Mit‐ telknappheit. Neben einer individuellen patientenzentrierten Betrachtung tritt eine überindividuelle Perspektive hinzu. Es ist schwierig, hierzu die passenden Kriterien gesellschaftlich festzulegen. Die Fachgesellschaften haben sich bei der Covid-19-Pandemie dahin‐ gehend verständigt das Kriterium der Klinischen Erfolgsaussicht für intensivmedizinische Behandlung anzuwenden und es ist als Leitlinie so auch formuliert worden. Die darin festgelegten Priorisierungsentscheidungen bestimmen, bei wel‐ chen Patienten intensivmedizinische Maßnahmen begonnen werden und auch, bei welchen Patienten bereits eingeleitete intensivmedizinische Maß‐ nahmen beendet werden sollen. Dieser Prozess unterliegt einer Reevalua‐ tion, wenn sich eine relevante Zustandsänderung und/ oder ein verändertes Verhältnis von Bedarf der zur Verfügung stehenden Betten und Anzahl der zu behandelnden Patienten ergibt. Eine Weiterbehandlung ist jedoch sicherzustellen. In einem entsprechenden Protokoll soll dies von möglichst zwei inten‐ sivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einschließlich Primär- und Sekundärbe‐ handler der beteiligten Fachgebiete und möglichst einem Vertreter oder eine Vertreterin der Pflegenden das Ergebnis der Beratungen dokumentiert werden. Zur Evaluation werden klinische Erfolgsaussichten herangezogen. Sie adressieren einerseits sie aktuelle Erkrankungssituation als auch den prämorbiden Gesundheitszustand. Ein Aspekt stellt hierbei die Klinische Frailty-Skala dar. 187 4.1 Allokationsethik <?page no="188"?> Wissen | Frailty-Skala Diese Skala identifiziert Patienten mit einem erhöhten Risiko für einen ausbleibenden Behandlungserfolg, welche nicht von einer intensivme‐ dizinischen Intervention profitieren dürften. Dabei ist das „dürften“ so zu verstehen, als dass nicht die Erwartung besteht, dass sie einen wirk‐ lichen Benefit erlangen und das Ergebnis der intensivmedizinischen Behandlung eher mit einer Mortalität, zumindest einer erheblichen Morbidität einhergeht. Ein Kritikpunkt ist, dass die Clinical Frailty Scale den Grad der Gebrech‐ lichkeit etwa zwei Wochen vor der erforderlichen intensivmedizini‐ schen und invasiven Behandlung berücksichtigt. Bereits das Erfordernis der Hilfe bei allen außerhäuslichen Aktivitäten und bei der Haushalts‐ führung geht hier nachteilig in die Bewertung ein. Unter einer weiteren Evaluation von aktuellem klinischem Zustand, dem bestehenden Patientenwillen, der Komorbiditäten, der Erfassung des All‐ gemeinzustandes, laborchemischer Analysen und prognostisch relevanter Scores und auch der aktuellen Erfahrungen mit der zugrunde liegenden Infektion sind Therapieentscheidungen hinsichtlich einer intensivmedizini‐ schen Behandlung zu führen. Zeitgleich gab es einen Eilantrag am Bundesverfassungsgericht auf eine verbindliche Regelung der Triage im Rahmen der Covid-19-Pandemie. Die Beschwerdeführer trugen vor, dass sie unter verschiedenen Behinderungen und Erkrankungen leiden. Sie befürchten daher, schlechter behandelt oder gar von der Behandlung ausgeschlossen zu werden. Nach den bisherigen Empfehlungen soll eine Triage entscheidend sein. Sie regen an, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, die Triage verbindlich zu regeln. Dieser Einwand ist insoweit korrekt. Die Leitlinie orientiert sich an der Prognose „Überleben“. Es bevorzugt Patienten, die vermutlich am meis‐ ten von der Behandlung profitieren. Zielgröße ist die Minimierung der Todesfallrate. Das Diskriminierungsverbot wird insofern ignoriert, als dass in dieser Betrachtung Alter und Komorbidität mit aufgenommen sind. Diese Marker sind aber mit einer erhöhten Sterberate verbunden. Das Bundesverfassungsgericht führt dahingehend aus: „Zwar ist die Ver‐ fassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich 188 4 Ethik der Medizin <?page no="189"?> unbegründet. Sie wirft vielmehr die schwierige Frage auf, ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist und wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetz‐ gebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht. Dies bedarf einer eingehenden Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist.“ Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner abschließenden Beurteilung (1 BvR 1541/ 20) befunden, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage zu treffen hat. Aus dem Verbot ergebe sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung der Behinderung zu schützen. Es ergebe sich daraus eine unmittelbare Handlungspflicht des Gesetzgebers. Die Heranziehung der Überlebensrate hat einen sehr starken Einfluss erlangt. In der Transplantationsmedizin gibt es das Problem der Indikation und der Warteliste. Im Bereich der Lungentransplantation wird auf die Fragen der Dring‐ lichkeit und Erfolgsaussicht abgestellt. Der Lung Allocation Score (LAS berücksichtigt u. a. Lungenfunktionsdiagnostik, die 6-Minuten-Gehstrecke, sowie metabolische und nephrologische Parameter als auch das Alter. Hieraus wird nach einem definierten Algorithmus eine LAS-Wert ermit‐ telt. Patienten mit einem höheren LAS-Wert haben aufgrund des höheren Überlebensvorteils eine Priorität. Problemstellung ist, dass etwa ein Drittel der Patienten einem Zentrumsangebot unterliegen und sich daher die Empfänger eines eigenen Pools an Empfängern bedienen können. Dies hat vorwiegend logistische Gründe. In einem sog. mini-match-verfahren erfolgt die Zuteilung der avisierten Empfänger dann dennoch durch Eurot‐ ransplant. Bei der Lebertransplantation wird der der Erfolg gesehen in einem Zusammenspiel von Vorsorge, Screening und Nachsorge. Das Model for End-Stage-Liver-Disease (MELD) ist ein Marker für die 3-Monatsletalität basierend auf Leberfunktions- und Nierenwerte. Es hat sich gezeigt, dass dieser Algorithmus Patienten mit erheblichen Gerinnungsproblemen und Nierenfunktionsstörung bevorzugt. Durch sog. Standard Exceptions, also definierte Ausnahmesituationen, konnte die Allokationspriorität präzisiert werden. In beiden zitierten Allokationssystemen wird auf die Prognose des Überlebens abgestellt. Dies ist auch so gesetzlich im Transfusionsgesetz 189 4.1 Allokationsethik <?page no="190"?> konkretisiert. In §12 Abs. 3 S. 1 steht: „Die vermittlungspflichtigen Organe sind von der Vermittlungsstelle nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten zu vermitteln.“ Hierbei ist anzumerken, dass mit steigender Dringlichkeit die Erfolgs‐ aussichten abnehmen. Gemeinhin erfolgt die Gruppierung der Erfolgsaus‐ sicht unter Berücksichtigung von Dringlichkeit und Wartezeit. Der ideale Zeitpunkt für eine erfolgreiche Transplantation liegt dabei regelhaft vor dem derzeitigen durchschnittlichen Zeitpunkt. Es besteht die Gefahr der systematischen Benachteiligung alter, behinderter und chronisch kranker Menschen. Priorisierungsentscheidungen sollten allgemeinen, nachvollziehba‐ ren und bestimmten Regeln folgen. Die angewendeten Verfahren soll‐ ten fest etabliert sein. Die verwendeten Algorithmen sind eindeutig definiert und das zugrunde liegende Wissen ist wirklich von Menschen verstanden. Andere und weitere Verteilungswerturteile sind nicht zu‐ gelassen. Sollte sich im Prozess eine Änderung der Priorität ergeben, so müssen die dafür zugrunde liegenden Normen klar festgelegt werden. Es ergeben sich aber auch die Fragen danach, wer eigentlich die Gewichtun‐ gen und das dazugehörige Regelwerk festlegt und mehr noch stellt sich die Frage, wie bei einem konkreten Fall der Beurteilung mit Konfliktsituationen umgegangen werden soll. Algorithmen und standardisierte Prozeduren vernachlässigen Intuition und Erfahrung. Hinzu tritt die Beobachtung, dass Sozialgemeinschaften, die Situation ganz unterschiedlich interpretieren. Mit der Staatenvielfalt zeigt sich auch eine Vielfalt in der Reaktion in den jeweiligen Ländern. Ein übergeordneter Konsens findet sich nicht. Trotz aller Algorithmen und Künstlicher Intelligenz mit Methoden des Deep Learning kann sich ein Bias, also eine Verschiebung entwickeln, die zu einer Interpretation führt, die nicht unbedingt gewollt ist. Das Beispiel Amazon aus den USA spielt sich zwar auf einer ganz anderen Ebene ab, spiegelt aber das Problem wider. Im Recruiting-Prozess für Mitarbeiter fanden Algorithmen- und Künstliche-Intelligenz-Anwendung. Diese sollten die Personaler bei einer Flut an Bewerbungen entlasten. Bei der 20. Bewerbung wird auch ein Personaler unkonzentriert und so könnten geeignete Bewerber nicht berücksichtigt werden. Ausgangsmaterial und Grundlage für die Lernvorgänge waren erfolgreiche Bewerbungen. Das 190 4 Ethik der Medizin <?page no="191"?> System sollte die Muster erkennen, die dann mit einer erfolgreichen Bewer‐ bung zu verknüpfen waren. Diese Musterkennung gelang auch ganz gut. Es zeigte sich jedoch, dass Bewerbungen von Frauen schlechter bewertet wurden. Hochrangige Position waren traditionell eher an Männer vergeben worden, so hatte es das System gelernt. Auch wurde die Ausbildung auf zwei Universitäten insgesamt schlechter bewertet. Dies zeigt sich jedoch traditionell eher bei den weiblichen Kandidaten. Es war auch zu beobachten, dass harte Skills besser bewertet wurden, obgleich dies in bestimmten Bereichen des Unternehmens überhaupt nicht erwünscht ist. Formen der Festlegung haben ein Konfliktpotenzial. Die Impfung zur Covid-19-Erkrankung unterliegt einer ethisch-mo‐ ralisch zu legitimierenden Strategie. Diesbezüglich wurde ein Positions‐ papier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina erstellt. Hierbei wurden folgende Kernaussagen getroffen: ● Die Priorisierung muss medizinischen, ethischen und rechtlichen Prin‐ zipien folgen. Diese sind der Bevölkerung verständlich darzulegen, damit die Priorisierung als gerechtfertigt wahrgenommen werden kann. ● Die Verteilung der Impfstoffe ist so zu organisieren, dass die Erreichung der Impfziele sichergestellt ist. Hierzu bedarf es geeigneter neuer Struk‐ turen. ● Die selbstbestimmte Impfentscheidung erfordert eine kontinuierliche, transparente Information und Aufklärung der Bevölkerung zur Wirk‐ samkeit der Impfung und möglichen Risiken. ● Um Impfrisiken frühzeitig zu erkennen und zu minimieren, muss ein System zur zeitnahen Erfassung und Bewertung von unerwünschten Ereignissen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung etabliert werden. Die dazugehörigen Impfziele sind beschrieben mit: ● Verhinderung schwerer Covid-19-Verläufe (Hospitalisation) und Todes‐ fälle, ● Schutz von Personen mit besonders hohem arbeitsbedingten SARS-CoV-2-Expositionsrisiko (berufliche Indikation), 191 4.1 Allokationsethik <?page no="192"?> ● Verhinderung von Transmission sowie Schutz in Umgebungen mit hohem Anteil vulnerabler Personen und in solchen mit hohem Aus‐ bruchspotenzial, ● Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens. ● Die Empfehlung weist in ihrer Einleitung ausdrücklich darauf hin, dass den Aspekten Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Nichts‐ chädigung, Integritätsschutz, Rechtsgleichheit, Dringlichkeit, Notwen‐ digkeit, Solidarität, Sicherheit und Transparenz zu begegnen ist. Es ergeben sich drei, in der zeitlichen Rangfolge nacheinander zu berück‐ sichtigenden Gruppen: Vorrangig zu priorisierende Gruppe Personen (Personengruppen), die aufgrund ihres Alters oder vorbelasteten Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben, insbesondere bei erhöhter Kon‐ taktdichte (etwa in Pflegeheimen und anderen Einrichtungen der Langzeit‐ pflege) Zweite Gruppe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von stationären oder ambulanten Ein‐ richtungen der Gesundheitsversorgung und der Altenpflege, die aufgrund berufsspezifischer Kontakte ein signifikant erhöhtes Risiko für eine Infek‐ tion und gegebenenfalls zusätzlich für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben oder die als Multiplikatoren das Virus in die Einrichtungen hinein und in andere Bereiche der Gesellschaft hinaustragen können. Dritte Gruppe Personen (Personengruppen), die in basalen Bereichen der Daseinsvorsorge und für die Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen eine Schlüs‐ selstellung besitzen (z. B. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheits‐ ämter, der Polizei- und Sicherheitsbehörden, der Feuerwehr, Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher), insbesondere, wenn sie direkten, risikoerhöhenden Kontakt mit Patientinnen und Patienten, Ange‐ hörigen von Risikogruppen oder potenziell Infizierten haben. Es wird noch auf die folgenden Aspekte explizit hingewiesen: ● Die Verfügbarkeit von Impfstoffen ersetzt die Vorbeugung durch Hygienemaßnahmen nicht und dies insbesondere, solange die Impfquo‐ 192 4 Ethik der Medizin <?page no="193"?> ten niedrig sein werden und Daten zu Ausmaß und Dauer des Schutzes nach Impfung fehlen. ● Letztlich braucht es einen integrierten Kommunikationsansatz, der eine Vielzahl von Aktionsbereichen einbezieht und die wichtigsten Interessengruppen einbindet. Zusammenfassung | Allokationsproblem Bei begrenzten Ressourcen ergibt sich ein Allokationsproblem. Ein gleicher Zugang zu Gesundheitsversorgung und eine gerechte Vertei‐ lung knapper medizinischer Ressourcen kann als Grundbedingung für die Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft angesehen wer‐ den. Erhöhung der Mittel im Gesundheitswesen, Effizienzsteigerung und Leistungsbegrenzungen stellen Möglichkeiten dar, mit einer Mittel‐ knappheit umzugehen. Priorisierung kann verstanden werden als die Bestimmung der relativen Vorrangigkeit. Verwendete und weiterführende Literatur Benckert, C.; Quante, M.; Jonas, S. (2010): Allokationsprobleme in der Transplan‐ tationsmedizin - Ärztliche Erfahrungen. In: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildun g und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ) 104(5), S. 397-399. DOI 10.1016/ j.zefq.2010.06.015. Fischer, G. (2006): Der Gemeinsame Bundesausschuss als „zentrale korporative Su‐ perorganisation“. In: Medizinrecht 9, S. 509-511. DOI 10.1007/ s00350-006-1745-0. Gottlieb, J.; Gwinner, W., Strassburg, C. P. (2016): Allokationssysteme in der Trans‐ plantationsmedizin. In: Internist 57, S. 15-24. DOI 10.1007/ s00108-015-3805-x. Hoppe, J. D. (2010): Priorisierung in der medizinischen Versorgung - Was bedeutet das? In: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ) 104(5), S. 418-424. DOI 10.1016/ j.zefq.2010.06.022. Janssens, U. (2015): Ökonomie in der Intensivmedizin - ein Widerspruch? In: Med Klin Intensivmed Notfmed 110, S. 264-271. Janssens, U. (2020): Aktuelle ethische Herausforderungen in der Intensivmedizin angesichts der Corona-Pandemie. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 145, S. 1152-1156. 193 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="194"?> Marckmann, G. (2010): Ethische Grundlagen der Priorisierung im Gesundheitswe‐ sen. In: Bundesgesundheitsblatt 53, S. 867-873. Online: doi.org/ 10.1007/ s00103-0 10-1116-x. Prien, T. (2009): Ethik auf der Intensivstation. In: Intensivmedizin up2date, S. 265- 275. DOI 10.1055/ s-0029-1215065 êVNR 2760512009054030464. Rommel, A. (2000): Allokationsethik im deutschen Gesundheitswesen: Zur Diskre‐ panz von Rationierungsrealität und Rationierungsdebatte in Deutschland. In: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaft 8, S. 38-57. 4.2 Medizinische Dilemmata In diesem Kapitel werden an fiktiven Kasuistiken ethische Fragestellun‐ gen differenzierter betrachtet. Sie sind beispielhaft ausgewählt und adressie‐ ren unterschiedliche Themengebiete. Die angeführten Schlussfolgerungen sind selbstverständlich nicht vollständig und allumfassend gültig. Sie lösen die Fragestellungen auch nicht. Vielmehr ist zu erkennen, dass es ganz unterschiedliche Lösungsansätze gibt. Ein sensibler Betrachter sieht in solchen oder ähnlichen Fragestellungen weit viel mehr, als es zunächst den Anschein hat. Streng genommen ist jede Arzt-Patient-Beziehung, vielmehr jede Form zwischenmenschlicher Beziehung mit einer ethisch-moralischen Fragestellung verbunden. Medizin bewegt sich im Spannungsfeld ● deontologischer Ethik, dem Handeln aus Pflicht und ● teleologischer Ethik, dem Handeln im Streben nach größtmöglichem Glück (Utilitarismus). Das ist ein enormes Spannungsfeld, da individuelle und gesellschaftliche Aspekte miteinander konkurrieren. Gerade in der Erfahrung um die Co‐ vid-19-Pandemie macht sich diese Zerrissenheit deutlich bemerkbar. Es gibt aber auch andere Konstellationen, in denen medizinisches Handeln mit einem Dilemma konfrontiert ist. Praxis | Julia S. Die 25-jährige Patientin ist chronisch an Mukosviszidose erkrankt und hatte bereits mehrere Krankenhausaufenthalte. Der Hausarzt hatte eine 194 4 Ethik der Medizin <?page no="195"?> symptomatische Leistenhernie diagnostiziert und zu einer alsbaldigen Operation geraten. Die Patientin lehnt eine Operation aus Angst vor der Narkose ab. Da ein Leistenbruch ja nicht eine zwingende Indikation zu einer Operation darstellt, die Patientin über ihr Krankheitsleiden informiert war und die Zurückhaltung zur jetzigen Operation nach‐ zuvollziehen war hatten Hausarzt und Patientin sich dahingehend verständigt, erst bei einer sich zwingenden Situation einer Operation zu unterziehen. Bei der Körperpflege fällt der Patientin ein Knoten an der Brust auf. Sie hatte sich bei ihrer Frauenärztin vorgestellt. Die weiteren Untersuchungen legen eine operative Entfernung nahe, da ein Malignom, also eine bösartige Geschwulstbildung in der Brust nicht auszuschließen war. Julia S. stellte sich in der gynäkologischen Fachabteilung vor. Nach Sicht der Befunde wurde die Operation als notwendig erachtet. In dem Gespräch mit der Ärztin äußert Julia S. den Wunsch auf eine zeitgleiche Durchführung der erforderlichen Brustoperation und der bekannten Leistenhernie. Die Gynäkologen stimmen einem solchen Vorhaben zu und stellen Julia S. bei den Allgemeinchirurgen vor. Diese erkundigen sich beim Controlling über die Kosten-Erlös-Kalkula‐ tion. In der Klinik sind bei wirtschaftlicher Enge Stellenstreichungen zu erwarten. Es zeigt sich, dass die Fallbewertung die zeitgleiche Versor‐ gung der Leistenhernie mit der Brustoperation nicht abbildet. Die Allgemeinchirurgen lehnen einen simultanen Eingriff ab. Der Pati‐ entin wird erklärt, dass es nicht sinnvoll wäre, beide Operationen in einer Sitzung durchzuführen, weil sie sich in ihrem Infektionsrisiko un‐ terscheiden. Bei der Brustoperation handelt es sich um einen aseptischen Eingriff, bei der Leistenbruchoperation um eine bedingt aseptische Operation. Seit Jahren wird Julia S. von den Lungenfachklinik betreut. Der Fall kommt in einer Besprechung zwischen Pneumologen und Geschäftsfüh‐ rung zufällig zur Sprache. Der Geschäftsführer sagt: „Das können sie doch nicht machen! “ Bei der Beurteilung sind zwei Bewertungsebenen zu unterscheiden. Neben den Rechten und Pflichten der Beteiligten sind dies auch die abrech‐ nungsrelevanten Vorgaben des DRG-Fallpauschalensystems. 195 4.2 Medizinische Dilemmata <?page no="196"?> Einerseits ergibt sich die Fragestellung eines Infektions- und Narkoseri‐ sikos. Bei Nachweis einer malignen Erkrankung kann sich die die weitere Therapieplanung so weit verschieben, als dass die Problematik des Leisten‐ bruches in den Hintergrund tritt. Sollte es sich jedoch um ein ökonomisch motiviertes Fallsplitting handeln, dann ergeben sich neue Pflichten und Rechte der am Behandlungsverhältnis beteiligten Strukturen Gynäkologie, Chirurgie und Management. Es könnte auch ein Vorwurf der Abrechnungsmanipulation erhoben werden. Allgemeiner formuliert, dient ärztliches Handeln dem „Zweck“, die Gesundheit des kranken Menschen zu erzielen. Die jeweiligen Fachge‐ biete, bzw. die hier in diesem Fall gesamte Konstruktion des Unterneh‐ mens „Krankenhaus“ sind ineinandergreifende „Mittel“ zur Realisie‐ rung des benannten „Zwecks“. Nur gebotener „Zweck“ und geeignete „Mittel“ sind erlaubt. Insbesondere das Gesundheitssystem ist gekennzeichnet von knappen Res‐ sourcen Nach Lionel Robbins (1896-1984) ist Ökonomie die Wissenschaft, die menschliches Verhalten als Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln mit alternativen Verwendungen untersucht. In dieser Fragestellung wäre die Kommunikation auf weit mehr Ebenen als die der Gynäkologie und der Allgemeinchirurgie zu verteilen gewesen. Es stellt sich auch die Frage, warum nicht die Anaesthesie und die Lungen‐ fachklinik mit in die Beurteilung einbezogen wurde. Es stellt sich aber auch die Frage, inwieweit das Management im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens im kommunikativen Prozess Einfluss ge‐ nommen hat, was zu Unsicherheiten in der medizinischen Fallbeurteilung führen könnte. Praxis | Bonnie aus dem Film „Gilbert Grape“ Diese Kasuistik nimmt Bezug auf den Film „Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa“, der 1993 in den USA entstanden war. Die Protagonisten sind Gilbert, der älteste Sohn des Hauses, die Mutter Bonnie und der Sohn Arnie. Gilbert lebt mit seiner Mutter Bonnie, zwei Schwestern und seinem geistig behinderten Bruder Arnie in einer Kleinstadt in Iowa. Seit dem Suizid des Ehemannes hat Bonnie kontinu‐ ierlich an Gewicht zugenommen und wiegt 250 kg. Gilbert übernimmt 196 4 Ethik der Medizin <?page no="197"?> die Vaterrolle und kümmert sich um Arnie. Die familiären Aktivitäten bestehen in Planung, Zubereitung und Einnehmen von Mahlzeiten. Die Situation eskaliert, als Arnie öffentlich verhaltensauffällig wird und in Polizeigewahrsam genommen wird. Bonnie verlässt nach 17 Jahren erstmalig das Haus, um Arnie aus dem Gefängnis zu holen. Als Bonnie ihren Sohn Arnie von der Polizeistation holt, geht sie zu dem Auto und wird von den Passanten angegafft. Sie wird besichtigt wie ein Ausstellungsstück. Bonnie erklärt sich ihrem Sohn Gilbert gegenüber: „Ich weiß, was für eine Belastung ich bin … und ich weiß, ihr schämt euch für mich. Ich hab niemals, glaub mir, nie, niemals so sein wollen. Ich wollte nie eine Witzfigur werden.“ Gilbert erklärt sich an anderer Stelle seiner Freundin gegenüber. Er glaubt, zu verstehen, warum seine Mutter so viel an Gewicht zugenommen habe: „Sie war jahrelang wie unter Schock, er war auf einmal weg. Kein Abschied, nichts, er war irgendwann ganz plötzlich … und er war weg. Er hing einfach da. Und dann hat alles angefangen.“ In dem Film geht klar hervor, dass die Familie über keine medizinische oder psychologische Versorgung zur Verfügung steht, was situativ in diesem Kontext einer amerikanischen Kleinstadt nicht ungewöhnlich ist. Ebenso ist die Familie nicht krankenversichert. Gilbert arbeitet in einem Lebensmittel‐ laden und hat die Vaterrolle übernommen. Das Familienleben orientiert sich nach dem Organisieren, der Zubereitung und der Einnahme der Mahlzeiten. Gilbert übernimmt die Pflege seines behinderten Bruders Arnie. Die Familie bleibt in der Betreuung der Behinderung des behinderten Bruders Arnie sich selbst überlassen. Diese Überforderung aller Familienmitglieder führt zu Konflikten. Die Situation endet mit dem Tod der Mutter. Die Kinder brennen das marode Haus nieder, um den erniedrigenden Abtransport der Leiche mittels Lastenkran zu verhindern, damit sie die Würde ihrer Mutter über den Tod hinaus zu bewahren und selbstbestimmt neu anfangen. Aus dieser Konstellation ergeben sich zunächst viele Fragen: ● Wie wäre zu handeln, wenn Bonnie als reale Patientin in die Praxis oder in die Klinik käme? ● Wie sollte ein Arzt eine Person mit morbider Adipositas auf dieses Phänomen ansprechen? 197 4.2 Medizinische Dilemmata <?page no="198"?> ● Wieviel Eigenverantwortung und Compliance darf von ihr erwartet werden? ● Wie sollte mit der aktuellen Situation umgegangen werden, um Diskri‐ minierung zu vermeiden? ● In welchem Maße ist es ethisch vertretbar, in ihren Lebensstil einzu‐ greifen? Die Nachteile von Menschen mit Adipositas gleichen den Menschen mit Behinderungen. Eine hochgradige Adipositas schränkt die Mobilität ein, führt zu Begleiterkrankungen und führt zu Pflegebedürftigkeit. Nachteile von Menschen mit Behinderungen werden nicht dadurch gelindert, in dem die betroffene Person angepasst wird. Vielmehr sollten die benachteiligen‐ den Umstände so weit wie möglich geändert werden. Bonnie kann aktiv an einer Änderung ihrer Lebenssituation teilnehmen, der Wert eines gesünderen Lebens müsste sich in ihren gesamten Lebens‐ zusammenhang zeigen. Das ist auch wesentliche Voraussetzung, um eine nachhaltige Besserung zu erzielen. Am Ende des Films zeigt Bonnie eine intrinsische Motivation und kämpft sich die Treppe hoch in ihr Schlafzim‐ mer, um endlich wieder in ihrem eigenen Bett, nicht auf der Couch im Wohnzimmer, schlafen zu können. Nach dieser Anstrengung stirbt sie. Andere Autoren beschreiben, dass Adipositas häufig kein Problem der Disziplin, sondern der Emotionsregulation darstellt. Übermäßiges Essen stellt „selbstverletzendes Verhalten“ dar. Damit verbunden sind Gefühle von „Scham“ und „Leidensdruck“. Nach bariatrischen Operationen zeigt sich häufig eine Deviation hinsichtlich Suchtverlagerung, zu hohe Erwartung an Operationsergebnissen und fehlende Emotionsregulation. Das derzeitige Gesundheitssystem öffnet derzeit durch fehlende Maßnahmen keine Tür für die Betroffenen. Sie und ihre Angehörigen bleiben in dieser Situation oft allein. Praxis | Richard L. Der 57-jährige Patient Richard L. leidet an einer Amyotrophen Lateral‐ sklerose (ALS) und unterliegt einer maschinellen Beatmung. Er erklärt, dass er den Abbruch der Beatmung zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt wünscht. Sein Bruder ist an einer dialysepflichtigen Nierenin‐ suffizienz erkrankt und geht dreimal in der Woche zur Dialyse. Richard L. äußert den Wunsch der Nierenspende beider Nieren, wobei eine 198 4 Ethik der Medizin <?page no="199"?> Niere seinem Bruder zukommen soll, mit dann endender Beatmung. Entsprechend den Regeln wird der Wunsch der Transplantationskom‐ mission vorgetragen. Diese lehnt diesen Wunsch im Hinblick auf die Begleiterkrankungen und dem Risiko der Übertragung auf den Bruder ab. In einem Seitengespräch erfährt der Hausarzt, dass man als Univer‐ sitätsklinik kritisch ist, hinsichtlich der Beendigung der Beatmung und Tötung auf Verlangen und den damit verbundenen, möglicherweise öf‐ fentlichen Diskussionen. Richard L. ist enttäuscht über die Entscheidung der Kommission. Er verstirbt an einer Lungenentzündung knapp drei Monate später. Sein Bruder verstirbt nach 16 Monaten. In der Betrachtung ergeben sich unterschiedliche Aspekte. Der Patient äußert den Wunsch nach Beendigung der Beatmung nach Abschluss der Operation unter palliativer Sedierung. Eine Beendigung der Beatmung stellt einen Behandlungsabbruch dar, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaß‐ lichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen. Der Wunsch ist als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu respektieren. Jeder Behandlungsabbruch muss durch geeignete Symptomkontrolle begleitet werden, die auch dann zulässig und geboten erscheint, wenn nicht ausge‐ schlossen werden kann, dass durch sie das Sterben ungewollt beschleunigt werden kann. Die Beendigung der künstlichen Beatmung unter palliativer Sedierung dürfte somit ethisch und rechtlich zulässig sein. Der Patient äußert den Wunsch einer Lebendspende beider Nieren. Hierbei handelt es sich um eine freie und informierte Einwilligung zur Lebendspende. Wissen | Lebendspende Der Patient muss volljährig und einwilligungsfähig sein und es bedarf der umfassenden Aufklärung. Sie ist zugelassen gegenüber nahen Ver‐ wandten und Personen, zu denen eine enge persönliche Verbundenheit besteht. Wesentliche Voraussetzung ist, dass das Spenderorgan geeignet ist und andere Spenderorgane nicht zur Verfügung stehen. Eine sol‐ che Fragestellung ist eine Lebendorganspende-Kommission vorzulegen. Dies unterliegt länderrechtlichen Regelungen. 199 4.2 Medizinische Dilemmata <?page no="200"?> Richard L. hat dies gegenüber seinem Hausarzt deutlich erklärt. Es verbleibt unklar, wie der Bruder über dieses Vorhaben denkt. Möglicherweise fühlt er sich mit dem Gedanken nicht wohl oder sieht sich in einer Verpflichtung den weiteren Angehörigen gegenüber, denen er nicht entsprechen kann. Auch ist unbekannt, wie die Ehefrau und die erwachsenen Kinder mit dieser Fragstellung umgehen. In diesem Themenfeld bewegen sich betreuende Ärzte und Psychologen. Kritisch ist die Nebenbemerkung der Kommission zu würdigen: „Man wollte mögliche Diskussionen über das Thema Sterbehilfe in der eigenen Klinik aus dem Weg gehen.“ Es ist anzumerken, dass die Bedenken offen kommuniziert werden müssen und inhaltlich zu begründen sind. Insbeson‐ dere gilt es um die Klärung der Frage der Freiwilligkeit, was hier vorliegt. Es geht auch um die Frage des Handelstreibens, was im vorliegenden Fall zu verneinen ist. Die Kommission hat die Interessen von Spender und Empfänger in ihrer Beurteilung zu berücksichtigen. Unangenehme Diskussionen sind in diesem Kontext nicht als gewichtiger Grund zu werten. Zusammenfassend ergeben sich keine Anhaltspunkte, die die pauschale Ablehnung durch die Transplantationskommission hinreichend begründen. Es wäre angemessen gewesen, weitere Untersuchungen und Gespräche zu führen, die medizinische, ethische und rechtliche Realisierbarkeit unter den besonderen Bedingungen zu prüfen. Eine Unterlassung dieser weiteren Prüfung ist möglicherweise moralisch mitverantwortlich für das spätere Versterben des Empfängers. Ihm konnte wohl kein Spenderorgan zur Ver‐ fügung gestellt werden. Praxis | Heribert B. Der 74-jährige Patient Heribert B. erleidet einen schweren Schlaganfall mit einer schweren links betonten Tetraparese bei einem nachweisbaren Verschluss einer zentralen Schlagader. Er ist intubiert und beatmet. Unbehandelt gilt die Prognose als infaust. Nach katheterunterstützter Lysetherapie erscheint eine weitgehende Erholung des Patienten mög‐ lich, es kann aber auch eine schwere Behinderung verbleiben. Anlässlich eines Herzinfarktes verfasste der Patient vor etwa 10 Jahren eine Patientenverfügung, da ihm klar wurde, dass eine Herz-Kreis‐ lauf-Erkrankung bei seinem Risikoprofil zu einer schweren Pflegebe‐ dürftigkeit führen könnte. Ihm sei bewusst, dass Erkrankungen zu Einschränkungen und Pflegebedürftigkeit führen kann. Er möchte auf 200 4 Ethik der Medizin <?page no="201"?> keinen Fall am Leben erhalten werden, um dauerhaft ans Bett gebunden und hilflos zu sein. So steht in der Patientenverfügung folgender Ver‐ merk: „solle im Falle einer erneuten akuten Gefäßverschlusskrankheit keiner‐ lei kathetergestützte Therapiemaßnahmen eingeleitet werden, sofern z. B. Hirngewebe geschädigt ist und sehr wahrscheinlich mit bleibenden schweren körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen zu rechnen ist.“ Die Patientenverfügung wurde jährlich im Frühjahr unterschrieben, seit gut zwei Jahren jedoch nicht mehr. Er ist verwitwet und alleinlebend. Es entwickelten sich aus der Ehe keine Kinder. Er hat eine Lebensgefährtin (64 J.), mit der er seit knapp zwei Jahren liiert ist. Eine Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsverfügung bestehen nicht. Die Lebensgefährtin ist nicht erreichbar, der Hausarzt hat die Patientenverfügung als Fax an die Klinik weitergeleitet. Das Ärzteteam hat allein nach diesen Kenndaten die weitere Therapie zu entscheiden. Zunächst ein paar medizinische Kennzahlen: ● ca. 250.000 Menschen erleiden pro Jahr einen Schlaganfall, ● 1/ 3 versterben innerhalb des ersten Jahres, ● 1/ 4 erlangen in den ersten drei Monaten eine schwere Pflegebedürftig‐ keit (Barthel < 60), ● 2/ 3 weisen ein bleibendes neurologisches Defizit auf, ● ca. 15 % der Patienten weisen eine vollständige Genesung auf, ● die statistische Rekanilisierungrate liegt bei etwa 60-80 %. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ist der Stellenwert der Patientenverfü‐ gung genau beschrieben: Recht | Patentenverfügung § 1901 a Abs. (1) BGB (Patientenverfügung) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilli‐ gungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeit‐ punkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersu‐ chungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft der 201 4.2 Medizinische Dilemmata <?page no="202"?> Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behand‐ lungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenver‐ fügung kann jederzeit formlos widerrufen werden. § 1901a Abs. (2) BGB (Patientenverfügung) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behand‐ lungssituation zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten. Die Indikationsstellung - hier zur katheterunterstützten Lysetherapie - erfolgt nach ärztlicher Empfehlung. Der Wille des Patienten ist jedoch maßgebend und steht auch über dem Wohl des Patienten. Sollte also ein Pa‐ tient trotz medizinischer Indikation eine Maßnahme nicht wünschen, auch wenn diese Entscheidung zum Nachteil des Patienten gelangt, dann darf diese Maßnahme nicht durchgeführt werden. Bei Einwilligungsunfähigkeit kommt die Patientenverfügung zum Tragen und es gilt der mutmaßliche Wille des Patienten. Sollten Zweifel bestehen, dann ist für das Leben zu entscheiden (in dubio pro vita) und entsprechend den Regeln der ärztlichen Kunst zu handeln (lege artis). Es steht also in dieser Fragestellung ein Stufenschema zur Verfü‐ gung. Es gibt einen erklärten ausdrücklichen Willen des aufgeklärten und einwilligungsfähigen Patienten. Die Patientenverfügung gibt bei Einwilligungsunfähigkeit konkrete und auf die Situation hinweisende Handlungsanweisungen. In der Gesamtbeurteilung muss auf den mut‐ maßlichen Willen eingegangen werden und dies gewürdigt werden. Sollten im gesamten Prozess weiterhin Zweifel bestehen, dann ist für das Leben zu entscheiden. Umfassender und komplizierter gestaltet sich die Fragestellung bei ein‐ willigungsunfähigen oder nicht einwilligungsfähigen Patienten. Bei 202 4 Ethik der Medizin <?page no="203"?> medizinisch indizierter Maßnahme ist zu prüfen, ob eine Patientenverfü‐ gung vorliegt und der Wunsch nach Nichtbehandlung klar hervorgeht. Liegt keine Patientenverfügung vor, dann wäre die Frage zu klären, ob es eine bevollmächtigte Person gibt oder eine gesetzliche Betreuung besteht. In die Erwägungen fließen aber auch die Aspekte der Dringlichkeit und der Prognose sowie das Gespräch mit möglichen Angehörigen mit ein. In den Gesprächen und Betrachtungen ist bei der abschließenden Entscheidung ein Konsens anzustreben. Ergeben sich Zweifel kann ergänzend auch eine ge‐ richtliche Klärung erforderlich werden. Bleiben Zweifel an der Korrektheit der Entscheidung so ist die Behandlung fortzuführen. Die Fragestellung stellt die Patientinnen und Patienten, die betroffenen Angehörige aber auch behandelnde Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und alle am Prozess beteiligte Personen vor Herausforderungen. Es geht hier um Werteentscheidung, die nur im gemeinsamen Gespräch zu ermitteln sind. Ethisch-moralische Einschätzungen leben durch das Gespräch. Gleichzeitig erlebt sich die Diskussion sowohl im gesellschaftlichen Kontext als auch vor dem Hintergrund der kulturellen Historie. Es gibt Grenzen der Betrachtung und auch Grenzen des Wissens. Im Rahmen der Patientenverfügung hat der Patient seine Präferenzen dargelegt und bestimmte medizinische Maßnahmen untersagt. Die Patien‐ tenverfügung wurde regelmäßig unterschrieben und der Patient legte wohl Wert auf die nochmalige Bekundung. Es besteht keine zeitliche Befristung der Erklärung. Die Veränderung der Lebensumstände sind eingetreten und könnten Grund einer Distanzierung sein. Seit etwa zwei Jahren hat der Patient eine neue Beziehung und es ergeben sich neue Lebensperspektiven, so dass er möglicherweise doch an einer weiteren Versorgung interessiert ist, auch wenn dies zu einer bleibenden Behinderung führt. Möglicherweise sah der Patient keine Notwendigkeit, der erneuten Signierung, da die Erklärung so lange gilt, bis sie widerrufen wird. All dies hat möglicherweise Einfluss auf die Interpretation der Patientenverfügung. Das Instrument der Patientenverfügung jedoch schützt vor Mutmaßungen über den Patienten‐ willen. Sie ist zu respektieren. In dieser Fragestellung gibt es zwei Urteile des Bundesgerichtshofes (BGH), die Hilfestellung sein Können, deren Leitsätze hier zitiert sind: 203 4.2 Medizinische Dilemmata <?page no="204"?> Recht | Sterbehilfe BGH-Urteil vom 25.10.2010 (2 StR 454/ 09) 1. Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer be‐ gonnen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist ge‐ rechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Pati‐ entenwillen entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf nehmen zu lassen. 2. Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden. BGH-Beschluss vom 17.09.2017 (XII ZB 202/ 13) a) Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme bedarf dann nicht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB, wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer wirksamen Patientenverfügung (§ 1901 a Abs. 1 BGB) niedergelegt hat und diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. Im Übrigen differenziert § 1901 a Abs. 2 Satz 1 BGB zwischen den Behandlungswünschen einerseits und dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen andererseits. b) Das Vorliegen einer Grunderkrankung mit einem „irreversibel töd‐ lichen Verlauf “ ist nicht Voraussetzung für den zulässigen Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen. Für die Verbindlichkeit des tatsäch‐ lichen oder mutmaßlichen Willens eines aktuell einwilligungsun‐ fähigen Betroffenen kommt es nicht auf die Art und das Stadium der Erkrankung an (§ 1901 a Abs. 3 BGB). c) Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten strenge Beweismaßstäbe, die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben. Dabei ist nicht danach zu differenzieren, ob der Tod des Betroffenen unmittelbar bevorsteht oder nicht (Abgrenzung zu Senatsbeschluss BGHZ 154, 205 = FamRZ 2003, 748). Der Patient lehnt in seiner Verfügung die invasive Therapie nicht generell ab und verknüpft sie mit der einhergehenden Prognose. Eine Abwägung zwi‐ schen der Chance auf folgenlose Ausheilung und Gefahr einer bleibenden 204 4 Ethik der Medizin <?page no="205"?> Beeinträchtigung ist zu treffen. Es wäre zu ermitteln, welche Wahrschein‐ lichkeiten der Patient hier als Bemessungsgrundlage zugrunde legt. Bei einer initialen Maximaltherapie kann die Heilungschance weiter evaluiert werden und je nach Verlauf die Wahrscheinlichkeit evaluiert werden. Bei einer Entwicklung einer sicheren Prognose kann die kurative Therapie in eine palliative Therapie umgewandelt werden, die mit einem Therapieabbruch beendet werden kann. Verwendete und weiterführende Literatur Friedrich, B.; Erbguth, F. (2012): Kommentar I zum Fall: „Auslegung einer Patienten‐ verfügung bei veränderter Lebenssituation“. In: Ethik in der Medizin 24, S. 237- 238. Hansen, S. L. (2020): „Die kommen alle her und gaffen.“ Hohes Körpergewicht als medizinische, ethische und gesellschaftliche Herausforderung. In: Ethik in der Medizin 32, S. 201-203. Heubel, F. 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(2012): Kommentar II zum Fall: „Auslegung einer Patientenverfügung bei veränderter Lebenssituation“. In: Ethik in der Medizin 24, S. 239-240. 205 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="206"?> 4.3 Ethik im Gesundheitswesen Stellen Sie sich vor, Sie haben eine bedeutende Entdeckung gemacht und Sie sind zu einem Meeting eingeladen. Dabei geht es um viel Geld und Ihr Beitrag ist wichtig, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Sie bereiten sich vor, suchen die passende Kleidung aus. Alle Unterlagen und Utensilien haben Sie sorgfältig parat. Auf dem Weg zum Kongresszentrum gehen Sie an einem Teich vorbei. Dort bemerken Sie ein Kind im Wasser, dass um Hilfe schreit. Weit und breit ist niemand zu sehen und Sie entscheiden sich, in das Wasser zu springen und das Kind zu retten. Nass stehen Sie am Rand des Wassers und halten das glücklich gerettete Kind in Ihren Armen. Der Termin ist geplatzt, der Deal ist dahin. Zuhause angekommen, sehen Sie einen Brief in Ihrem Kasten. Im Flyer wird auf eine Spende für Kinder in Malawi hingewiesen und Sie können mit einem monatlichen Beitrag die Schullaufbahn eines Kindes unterstützen, damit es Bildung erlangt und später einen Beruf ausüben kann. Ihre Freundin ruft Sie aus Nepal an. Ihr Kind hat sich schwer verletzt und die Behandlung im Krankenhaus muss im Voraus bezahlt werden. Kreditkarte Ihrer Freundin ging bei dem Unfall verloren und Sie werden gebeten eine Expressüberwei‐ sung mit einem gehörigen Betrag durchzuführen. In einem plötzlichen Moment sind Sie mit wesentlichen Fragen von Ethik und Moral konfrontiert und müssen sich entscheiden. Wenn ein Kind vor unseren Augen ertrinkt, würde jeder und jede von uns die moralische Pflicht haben, das Leben des Kindes zu retten. Gegenüber dem Leben eines Kindes ist der Deal unwichtig. Wenn es ein guter Deal wäre, dann werden die Beteiligten dies anerkennen und einen neuen Termin zur Entscheidung ausmachen, an dem Sie Ihren Beitrag leisten können. Wir müssen uns keine teuren Klamotten kaufen und können das Geld spenden. Zudem ist es ein Beitrag zur Gewährung fairer Arbeitsbedingungen in der Kleidungsbranche. Sie vermeiden Kinderarbeit im unsicheren Arbeitsumfeld mit niedrigen Löh‐ nen. Möglicherweise ist es aber notwendig, dass die Kinder den Beitrag für die Familie leisten, damit die Familie überlebt. Fehlt die Arbeit in den Fabri‐ ken, so verteilt sich dies mutmaßlich auf die Suche nach gewinnbringenden Ressourcen in Müllhalden, die Arbeit in Bergwerksminen oder es folgt die Kinderprostitution. Es ist fraglich, ob das gesellschaftlich gewünscht ist. Auch die Überweisung nach Nepal ist mit der Gefahr verbunden, dass es nicht ankommt oder ein großer Teil der Korruption zukommt. 206 4 Ethik der Medizin <?page no="207"?> Zügig und unvermittelt können ethische Grundsatzfragen auftauchen. Eine Antwort ist schwierig. Vielfach verbleibt Zweifel. Solche Fragen stellen sich in der Familie, insbesondere dann, wenn es um Fragestellungen in schwerer Krankheit und wie man damit umzugehen habe geht. Antworten auf Fragen zu Lebensbeginn oder am Lebensende sind nicht einfach zu finden. Auch Unternehmen sind in einem gesellschaftlichen Kontext einge‐ bunden. Fragen der Ethik beantworten zu können, erscheint als wichtig, wesentlich oder relevant. Andere bezeichnen die Frage danach, was richtig oder falsch, gut oder böse, ethisch oder unethisch ist, als unwichtig, trivial oder bedeutungslos. Zuweilen hat man den Eindruck, dass es auch als Luxus verstanden werden kann, sich hierüber Gedanken zu machen. Im Trubel des Alltagslebens mit all den anstehenden Aufgaben, der terminlichen Enge, dem Druck und dem Berg an Arbeit ist es nachvollziehbar, dass Fragen der Ethik in den Hintergrund treten. Das Leben schickt immer wieder Situationen, in denen sich lohnt, darüber nachzudenken. Es stellt sich die einfache Frage: Wie kann ich als Mensch einen Bei‐ trag zur Ethik leisten? Die Ausgangslage ist dabei einfach zu beschreiben: Bedenken Sie, dass Sie den Rest des Lebens mit Ihnen selbst zu tun haben. Andere Menschen kommen und gehen und ziehen an Ihnen und Ihrem Leben vorbei. Teils länger, teils kürzer. Sie sind jedoch immer mit sich selbst unterwegs, Ihre eigenen Entscheidungen begleiten Sie. Alle haben den Wunsch, ein gelingendes Leben zu führen. Allen voran mit sich selbst. Man ist sich selbst der lebenslange Begleiter. Als soziales Wesen ist uns die Gemeinschaft wichtig, denn wir leben in unterschiedlichen Gemeinschaften wie Familie, Arbeitsplatz, Vereine, Glaubensgemeinschaften, Freundeskreis und vielem mehr. Dort wollen wir eine gute Figur machen, anerkannt und angenommen sein. Es gibt Regeln, die auf Ethik und Moral beruhen. Diese Regeln sind spezifisch für die jeweilige Gesellschaft, in der sich das Ganze bewegt. Die jeweiligen Kulturkreise unterscheiden sich, wenngleich sich auch Schnittmengen aufzeigen. Im gesellschaftlichen Kontext haben sich Werte entwickelt, die Orientierung geben über das, was richtig oder falsch, gut oder böse sowie ethisch oder unethisch ist. Diesen gesellschaft‐ lichen Werten stehen auf der anderen Seite Wirklichkeiten gegenüber, die wir mit dem jetzigen Zustand zu vergleichen, zu würdigen und erforderli‐ chenfalls zu korrigieren haben. 207 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="208"?> Wissen | Prinzipienethik Wie in einer medizin-ethischen Fragestellung eine weiterführende Kommunikation zu gestalten ist, damit man zu einer Antwort in einer konkreten Situation kommt, findet sich in der Prinzipienethik nach Tom Beauchamp und James Childress. Es handelt sich dabei um eine in den 1970er-Jahren entwickelte Vorgehensweise, wie eine medizin‐ ethische Frage angegangen werden kann. Es werden die Aspekte der Autonomie der Patientinnen und Patienten (Respect for Autonomy), der Schadensvermeidung (Nonmalficience), der Führsorge (Beneficience) sowie der Gerechtigkeit (Justice) berücksichtigt. Daraus entsteht ein strukturierter Dialog, in dem alle Aspekte Berücksichtigung finden, um zu einer gemeinsamen Antwort zu kommen. Dies kann in der Diskussion um eine Herzoperation, bei einem schwer herzkranken, neugeborenen Kind oder in der Behandlung einer Krebserkrankung bei einem betagten und von vielen schweren Begleiterkrankungen gezeichneten Menschen entscheidend sein. Ethik und Moral werden bedeutsam. Verallgemeinert treten im gesellschaftlichen Kontext, insbesondere in un‐ ternehmerischen Bereichen, unterschiedliche Akteure in Kontakt. Mit einer wie auch immer gearteten Vereinbarung kooperieren die Parteien mitein‐ ander. Dies setzt voraus, sich einander zu vertrauen und die jeweilig zuge‐ dachte Verantwortung zu übernehmen. Eine Kundin vereinbart mit dem Fachhandel den Einbau einer neuen Küche. Dafür vereinbaren beide einen Termin und einen Preis, der bei Lieferung zu entrichten ist. Beide Partner geben sich ein gegenseitiges Versprechen. Sie erwarten, dass es von beiden Seiten eingehalten wird. Wird dieses Versprechen nicht eingehalten, dann ist das Vertrauen gebrochen. Streng genommen ist es ein Verrat. Im Medizinischen Kontext wird erwartet, dass eine strukturierte Dia‐ gnostik eingeleitet wird. Unter Beachtung der Differentialdiagnosen soll die korrekte Diagnose gestellt werden und die geeignete Therapie eingeleitet werden. Dies hat nach dem aktuellen medizinischen Wissen zu erfolgen. Der Erfolg der Behandlung ist dabei nicht zwingend. Es können und dürfen auch Komplikationen eintreten, denn der Mensch ist ein biologisches Wesen, bei dem eben nicht alle Vorgänge voraus‐ 208 4 Ethik der Medizin <?page no="209"?> sehbar sind. Erwartet wird eine Gewissenhaftigkeit in diesem Prozess und dies zu jedem Zeitpunkt. Dann ist das Versprechen gehalten. Im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte wurden 2006/ 2007 Endopro‐ thesen am Kniegelenk implantiert. Bei einer schweren Arthrose des Kniegelenkes, meist auf dem Boden eines Gelenkverschleißes, werden bei dieser Operation sowohl die Gelenkrolle des Oberschenkels als auch die des Schienbeinkopfes entfernt und durch Metalloberflächen ersetzt. Teils werden diese „einzementiert“ und teils „zementfrei eingesetzt“. Dies hat unterschiedliche medizinische Gründe. Erwünscht ist eine „zementfreie“ Versorgung, da bei einem möglichen Wechsel nach vielen Jahren, der Defekt deutlich geringer ausfällt als bei der „zementierten“ Variante. Ist jedoch der Knochen durch eine bestehende Osteoporose geschwächt, dann kann eine „zementierte“ Implantation für die Patienten von einem größeren Vorteil sein. Es zeigte sich, dass eine ganze Anzahl von Patienten über fortbeste‐ hende oder schlimmere Beschwerden klagte. Bei der Aufarbeitung zeigte sich das zementpflichtige Komponenten zementfrei implantiert worden waren. Es zeigte sich aber auch, dass der Krankenhausplan keine Endopro‐ thetik in diesem Krankenhaus vorsahen. Zudem waren die Operateure keine Orthopäden, sondern Chirurgen und es gab einen Sondervertrag der gesetzlichen Krankenversicherung, obgleich sie diesen Vertrag nicht hätten schließen dürfen. Dieses Beispiel zeigt, dass mehrere Versprechen nicht eingehalten wurden, was - ethisch betrachtet - einen Verrat darstellt. In der in der medizinischen Welt renommierten Zeitschrift The Lancet wurde 2005 ein Artikel veröffentlicht. Hierbei wurde untersucht, welchen positiven Einfluss sog. nonsteroidale Antiphlogistika auf die Entwicklung von Krebserkrankungen im Mundbereich haben. Es handelt sich um Me‐ dikamente mit den generischen Bezeichnungen, Ibuprofen, Paracatemol oder Diclofenac, die zur Schmerzbehandlung auch frei verkäuflich sind. Es wurde das Ergebnis berichtet, dass eine Langzeitanwendung mit diesen Medikamenten mit einer niedrigeren Inzidenz für eine Krebserkrankung im Mundbereich auch bei Rauchern einherginge. Zusätzlich zeigte sich eine verminderte Rate an Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Es zeigte sich in der Analyse, dass es eine hohe Anzahl der untersuchten Patientinnen und Patienten nicht gab und Daten aus Registern verwendet wurden, welches zum Zeitpunkt der Studie nicht existierte. Drei Gutachter wurden zu Beurteilung beauftragt, die die Studie noch vor Veröffentlichung vorgelegt bekamen. Ihnen fielen die Fehler nicht auf. Auch hier wurde das 209 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="210"?> Versprechen, eine korrekte Studie vorzustellen sowohl der Autorengruppe aber auch vom Verlag nicht eingehalten. Nach Kenntnis dieses Betruges wurde die Studie zurückgezogen. Es führte aber zum Verlust des Renommees für alle Beteiligten. Beim Zahnersatz zeigte sich 2002, dass die Firma Globudent aus Mühl‐ heim Zahnersatz aus Ländern zu kostengünstigen Preisen erhalten und auf dem deutschen Markt mit marktentsprechenden Preisen verkauften. Es konnte nicht geklärt werden, ob eine vernünftige Legierung oder ein normaler Haustürschlüssel zur Herstellung verwendet wurde. Kassen und Ärzte waren an dem Deal beteiligt. Es kam zu einem erheblichen Vermö‐ gensschaden einschließlich einer damit verbundenen Steuerhinterziehung. Wissen | Contergan-Skandal Beim „Contergan-Skandal“ (1957-1961) wurde der Wirkstoff Thalido‐ mid als Beruhigungsmittel von der Firma Grünenthal vermarktet und eingesetzt. Das Medikament zeigte sich in den Tierversuchen ungiftig und es wurde keine Nebenwirkungen beobachtet. Infolge der Anwen‐ dung bei Schwangeren entwickelten sich Dysmelien (Fehlbildungen der Extremitäten) oder andere angeborene Fehlbildungen bei 5000 Kindern. Dieses Geschehen muss vor dem Kontext der Historie betrachtet wer‐ den. Das Gesundheitsministerium wurde erst nach diesen Ereignissen gegründet. Eine Zulassung von Medikamenten unterlag nicht den Quali‐ tätskriterien, wie sie heute angewendet werden. Es war auch die Zeit des Kalten Krieges und man vermutete zunächst einen Zusammenhang mit Atombombenversuchen. Aus Geburtsregistern wurden bis 1915 zurück‐ verfolgt und es wurde kein statistischer Zusammenhang entdeckt. Erst die Analyse und die Befragung der Eltern von 20 erkrankten Kindern führte zum Medikament, als Ursache. Der biologische Vorgang, dass durch das Medikament wichtige Steuerungsgene für andere Gene in ihrer Funktion gestört werden, wurde erst 60 Jahre später erkannt. In all diesen Fragen geht es immer wieder darum, ein Versprechen zu halten und Verrat zu vermeiden. Das ist der Kerngedanke jeder authentischen Un‐ ternehmertätigkeit. Und wenn es um die Frage geht, wie kann der Einzelne oder eine Gruppierung ethisch handeln, dann gibt es eine einfache Strategie: Leben Sie so, dass Sie nichts zu bereuen haben. Im christlichen Kontext gibt es die Formel: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ Damit ist ein 210 4 Ethik der Medizin <?page no="211"?> enormer und hoher Anspruch verbunden. Führungsseminare beschreiben diesen Aspekt mit der Terminologie, des sich selbst Führens, um andere führen zu können. Eine solche Sichtweise ist verbunden mit einer hohen Tugendhaftigkeit, um es realisieren zu können. Im interpersonellen Kontext ist es verbunden mit einer Wahrhaftigkeit, einem Einfühlungsvermögen und dem Aufbau und Erhalt von Vertrauen. Im Kategorischen Imperativ nach Immanuel Kant (1724-1804) ist dies schärfer formuliert: „Handle so, dass die Maxime (subjektive Verhaltensregel) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Aber auch hier gibt es Konfliktpotenziale, wenn sich das Pflichtenprin‐ zip im Einzelfall als moralisch fragwürdig erscheint. Möglicherweise gibt es doch Gründe, ein Versprechen zu brechen. Insbesondere in Notfallsituationen kann dies wichtig sein, um moralisch richtig zu handeln. Individuell ausgerichtete Lebensaspekte mit dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz zeichnete Jeremy Bentham (1748-1832) als Maxime für menschliches Handeln aus. Soziale und politische Entscheidun‐ gen orientieren sich an dem größten Glück für die größte Zahl. Je näher gesellschaftliche Normen und Regeln der weitestmöglichen Verbreitung von Zufriedenheit und Glück dienen, erscheint dies als moralisch angestrebt. Ergeben sich Zweifel am Handeln so richtet sich dies nach dem Besten für die Masse. In ähnlicher Weise, jedoch durch die romantischen Einflüsse des Empirismus geprägt, war John Stuart Mill (1806-1873) weniger dogmatisch. Gerechtigkeit kann nur gewährleistet sein, wenn Staat und Gesellschaft sich in ihrem Handeln an dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen orientieren. Die Nützlichkeit einer Handlung zeige sich, wenn sie die Gesamtmenge an Glück der Betroffenen maximiert. Es zeigen sich jedoch soziale Ungleichheiten, die sich auch gerade in der Pandemie aufzeigten. Sozioökonomische Unterschiede und Ungleichheiten bezüglich des Risikos auf einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkran‐ kung waren zuvor bereits in den Vereinigten Staaten nachzuweisen und traten auch in Deutschland auf. Langzeitarbeitslosigkeit und Niedrigver‐ diener sind pandemiebedingt besonders betroffen und die Gefährdung ist teils doppelt so hoch, wie in der Normalbevölkerung. Oft besteht nicht 211 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="212"?> die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten, die Wohnverhältnisse sind beengt. Zusätzlich sind sie vermehrt auf Bus und Bahn angewiesen. Die soziale Mobilität hat sich verschärft, Aufstiegschancen haben sich weiter verschlechtert. Der Reichtum hat sich zugunsten der Reichen verschoben. Die soziale Ungleichheit hat sich in der Pandemie wie unter einem Brennglas verschärft. Wäre die Covid-19-Pandemie als Krise und zugleich als Chance einer multilateralen und multisektoralen Gesundheitspolitik zu verstehen gewesen, zeigte sich im globalen Handeln, dass reiche Länder Exklusivver‐ träge mit Pharmaunternehmen vereinbarten. Während die Europäische Union eher als Käufer an den Tresen gingen, haben sich die Vereinigten Staaten wie Unternehmer benommen und gleich ganze Produktionsstätten aufgekauft. Afrikanische Staaten hatten und haben keine Chance, sich an der Verteilung des Impfstoffes zu beteiligen, waren auf Almosen der Industrienationen angewiesen. Beispiel | Gesellschaftsgründung Stellen Sie sich vor eine Anzahl von Menschen eines Kreuzfahrtschiffes werden auf eine Insel angespült, nachdem das Schiff gesunken war. Die Insel ist reich an Nährstoffen und Materialien vom Schiff sind mehr als genug angespült worden, so dass man mit ein wenig gutem Erfindergeist und Wissen ein gutes Lebensumfeld schaffen kann. Rettung ist nicht in Sicht. Sie geben mit der Zeit die Hoffnung auf, gerettet zu werden und beschließen, eine neue Gesellschaft zu gründen. In dieser neuen Gesellschaft verfolgt jeder und jede die eigenen Interessen. Das führt zu Unruhe und Streitigkeiten. Bald merken alle, dass es dem Wohle am besten gedient ist, wenn sie zusammenarbeiten. Es ergeben sich Fragen danach, welche Prinzipien der Gerechtigkeit gelten sollen und unter welchem Regelwerk dies geschieht. Die kleinen Kinder fragten nicht nach der Herkunft, der Religion, der sozialen Schicht oder nach dem Vermögen der Eltern. Die einzige Frage war, ob du mitspielen willst oder eben nicht. John Rawls (1921-2002) verstand Gerechtigkeit als Ausdruck der Fairness der Mitgliederinnen und Mitglieder einer Gesellschaft. Die Prinzipien der Gerechtigkeit begründen sich in der Unparteilichkeit: der „Schleier des Nichtwissens“ mit dem der Platz in der Gesellschaft unbekannt bleibt. Es ist unklar, ob man dann eine Leitungsfunktion bekommt oder nur für einfache 212 4 Ethik der Medizin <?page no="213"?> Aufgaben eingeteilt wird. Unter diesem Aspekt ist anzunehmen, dass faire Bedingungen geschaffen werden. Unter diesem Aspekt entwickelt sich keine Sklaverei, denn keiner will in einem Sklavenverhältnis leben. Für Rawls ist ein solches Verfahren gerecht und ermöglicht die größtmöglichste Freiheit für alle. In einer solchen Gesellschaft passt es dann wieder, wenn der reiche Unternehmer eine Yacht bekommt, währenddessen der einfache Arbeitneh‐ mer statt eines Drahtesels ein E-Bike erhält. Den Benefit erfahren alle in der Gesellschaft. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind in einer Gesellschaft so zu gestalten, als dass diese zum Vorteil für alle sind. Ein solches Differenzierungsprinzip führt zu einer Verbesserung für jedes Mitglied, wobei die Ärmsten am meisten haben sollten. Beispiel | Gleichnis vom barmherzigen Samariter Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) kann in diesem Kontext verstanden werden, sich den menschlichen Heraus‐ forderungen zu stellen, auch Dogmen zu verlassen und individuelle Lösungen zu suchen, wenn die bestehenden Kataloge des Handelns nicht zu einer befriedenden Lösung führen, Gutes zu tun. Der Mann aus Samarien sieht das, was abseits seiner Sinnrichtung passiert. Er kann situativ reagieren, vielleicht nicht immer, jedoch an diesem Tag macht er das. Dabei ist er verbindlich, baut Vertrauen auf und übernimmt Verantwortung, ohne das eigene Ziel und die eigene Sinngebung zu verlassen. In existentiellen Begegnungen wird sich die Tragfähigkeit und die Brüchigkeit von Idealen, Überzeugungen und Haltungen zeigen. Ethik ist dann kein Luxus, sondern wird zur Bedingung eines gelingen‐ den Miteinanders. Im gesellschaftlichen Kontext hat es sich bewährt, ein Regelwerk aufzu‐ stellen, an der sich die beteiligenden Mitglieder zu orientieren haben. In den westlichen Kulturen sind sie vornehmlich entstanden aus dem vorwie‐ genden vernünftigen und guten Menschenbild, wobei einzelne Personen auch verdorben sein können. Dem Grunde nach sind alle in einem friedli‐ chen Miteinander, wenngleich Auseinandersetzungen oder Ungleichheiten entstehen können. Es gibt Vertreterinnen und Vertreter, die gewählt oder auch bestimmt sind, für die jeweiligen Situationen Regeln festzulegen. Dabei können diese recht rigide und fest und an anderen Stellen des 213 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="214"?> gesellschaftlichen Seins lockerer sein. Auch im medizinischen Bereich hat es sich bewährt, Regeln aufzustellen, insbesondere dann, wenn es eng oder knapp wird; eben dann, wenn es eben nicht für alle reicht. Medizinischer Fortschritt und der demographische Wandel führen zu einer erhöhten Nachfrage. Durch reduzierte Einnahmen begrenzt sich die Finanzierung des Angebotes und ein Ungleichgewicht entsteht, es kommt zur Mittelknappheit im Gesundheitswesen. Eine Erhöhung der Mittel er‐ scheint nicht möglich, da bereits 10-15 % des Bruttoinlandsproduktes für die Fragen der Gesundheit aufgewendet werden. Es verbleiben Ratio‐ nalisierungsmaßnahmen zur Effizienzsteigerung und Rationierungen von Leistungen. Aus der Sicht der Patientinnen und Patienten bedeuten Krankheit persönliches Leid und Angst um die eigene Zukunft. In diesem Kontext erfahren sie Erfahrung von Hilfe und Zuwendung. Sie sind aber auch Gefühlen von Gleichgültigkeit und Ignoranz ausgesetzt. Sie spüren den Konflikt. Es besteht also eine fragile Beziehung der Akteure untereinander. Zum einen ist es die staatliche Gewalt, der eine Fürsorgepflicht für die Bürgerinnen und Bürger zukommt. Dem Staat ist es zugeord‐ net, gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Zugleich unterliegen die Behandlungen von Krankheiten und die Pflege einem Marktmecha‐ nismus, in dem es um Kapital und Rendite geht. Medizin zeigt Mög‐ lichkeiten und Grenzen des Machbaren auf. Politisches Handeln spannt seinen Spannungsbogen zwischen dem Bestreben des größtmöglichen Nutzens für die Gemeinschaft und ihrer Mitglieder, wie es Aristoteles zu verstehen wusste, und einem Machtbestreben nach Macchiavelli, bei der die Summe der Mittel dazu dienen, Macht zu erhalten. Soziale Unterschiede sind in den Ländern größer geworden. Bildung, Einkommen und beruflicher Status haben einen Einfluss auf die Lebens‐ erwartung: je höher der sozioökonomische Status, desto niedriger die Sterblichkeit. Adipositas, das Übergewicht als eine bedeutsame Folge einer Fehlernährung, geht mit einer hohen Inzidenz an Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, koronare Herzerkrankung und Diabetes mellitus einher. Das betrifft auch die dazugehörigen Früh- und Spätkomplikationen. Neben einer deutlich erhöhten Sterblichkeit zeigt sich eine deutliche Reduktion der Lebensqualität. Feinstaubbelastungen bergen ein Sterberisiko. Lärm ist ein wahrnehmbares Umwelt- und Gesundheitsproblem. Es kann nicht nur 214 4 Ethik der Medizin <?page no="215"?> das Wohlbefinden stören. Lärm kann zu Schlafstörungen, Herzinfarkt und hohen Blutdruck führen. Sommerliche Hitze hat ein hohes Schädigungs‐ potenzial für den Menschen und es können gesundheitliche Risiken für bereits erkrankte Personengruppen entwickeln. Im Umgang mit radioakti‐ ven Stoffen sind hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen. Die Folgen der Reaktorunfälle von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) sind heute noch weltweit messbar und haben zu Regionen geführt, die unbewohnbar bleiben. Politik hat Rahmenbedingungen zu schaffen, Gesundheit zu erhal‐ ten und Krankheit zu begegnen. Politik ist verantwortlich für den Bildungsgrad und eine hohe Bildung ist einer der entscheidenden Faktoren, die sich positiv auf ein Gesundheits‐ erleben auswirken. Kontrolle der Nahrungsmittel, Vermeidung von physi‐ kalischen und Chemischen Umweltbelastungen. Sicherheit im Umgang mit Gefahrenstoffen und im sozialen Miteinander sind Beiträge, um dem Aspekt der Gesundheitsversorgung zu begegnen. Wissen | Solidaritätsprinzip Ein wesentliches Kennzeichen der Versorgung zeigt sich im Solidari‐ tätsprinzip. Es hilft denen, die in Not sind, insbesondere in Krankheit. Aber auch Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und altersbedingte Ein‐ schränkungen sind gesetzlich im Umlageverfahren abgesichert. Den‐ noch finden sich Unterschiede im Empfang dieser Leistungen. Es ist staatliche Aufgabe, Vorsorge zu treffen und dies zu regulieren. In einer der reichsten Volkswirtschaften ist dies ein Gemengelage von Umlageverfahren und steuerlichen Regelungen. Die Gewährleistung von Freiheit ist dabei ein hohes Gut. Einerseits darf das Individuum nicht in seiner Entwicklung behindert werden, zusätzlich muss der Staat aber auch die Rahmenbedingungen schaffen, dass Bürgerinnen und Bürger in Freiheit agieren können. Dieses Gut der freien Entscheidung gerade in Gesundheitsfragen wird immer wieder betont. Dennoch finden sich Strukturen, die gerade dies konterkarieren. Die Diskussion um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wenngleich eine Impfung zur Verfügung steht, engt die freiheitliche Ent‐ scheidung ein. 215 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="216"?> Gleichheit beschreibt die Rechtsgleichheit vor dem Gesetz aber auch die Chancengleichheit. Dabei geht es nicht um die formale Chancen‐ gleichheit, sondern um die Gewährleistung fairer Chancen, wie sie John Rawls beschrieben hat. Ungleiche soziale oder natürliche Bedingungen führen zu unterschiedlichen Möglichkeiten. Im Gesundheitswesen be‐ deutet dies, dass Menschen, die bestimmten Risikogruppen angehören, einer besonderen, ja intensiveren Gesundheitsfürsorge bedürfen. Krankheit und Krankheitsfolgen hindern ein gelingendes Leben. Die ent‐ scheidende Herausforderung besteht darin, diese vier Prinzipien - Solida‐ rität, Vorsorge, Freiheit, Gleichheit - auszubalancieren, zu gestalten und auch zu refinanzieren. Bei einer Erhöhung der Freiheit als Prinzip steht es jedem frei, sich zu versichern und dies von den individuellen wirtschaftli‐ chen Rahmenbedingungen abhängig zu machen. Dies kann dazu führen, dass ein Teil der Bürgerinnen und Bürger de facto keine Absicherung gegen Risiken des Lebens in Krankheit, Pflege oder altersbedingte Einschränkung besitzen. Solidarsysteme refinanzieren sich weitgehend durch Abgaben von Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen sowie von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Renten sind Wertschätzung für Lebensleistung und werden solidarisch refinanziert. Nicht nur ausschließlich Bedürftigen kommt staat‐ liche Unterstützung zu. Die Ausgestaltung dieser solidarischen Balance und staatliche Fürsorgepflicht ist Politik, unterliegt dem politischen Diskurs. Gesundheit ist als eine jener Voraussetzungen für die gelingende Teil‐ habe am Leben zu verstehen. Bei begrenzten Ressourcen ergibt sich ein Verteilungsproblem und ein absoluter Anspruch auf gesellschaftliche Gesundheitsfürsorge relativiert sich. Es stellt sich die Frage, wie sich eine gerechte und faire Gesundheitsfürsorge am ehesten verwirklichen lässt. Für die Markttheorie spricht vor allem seine Effizienz. Während Bürgerin‐ nen und Bürger relativ genau einschätzen können, für welches Gut oder welche Dienstleistung sie sich entscheiden möchten, ist dies in Gesundheits‐ fragen schwierig. Nutzen und Kosten medizinischer Leistungen lassen sich für Patientinnen und Patienten nicht abschätzen und den Angehörigen des Gesundheitssystems kommt eine Expertenmacht und damit auch die Steuerungsmacht zu. Nicht die Patientinnen und Patienten, sondern der ärztliche Dienst entscheidet letztendlich, wie die Weichen der Behandlung 216 4 Ethik der Medizin <?page no="217"?> zu stellen sind. Bei rein marktorientierter Betrachtung kommt es durch Ungleichverteilungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu einer un‐ terschiedlichen Verteilung der Gesundheitsleistungen, von denen die Stär‐ keren profitieren. In einer existentiellen Notlage einer Erkrankung ist Hilfe durch die Sozialgemeinschaft erforderlich. Neben den individualethischen Aspekten der Gesundheitsbehandlung der in Not geratenen Personen hat dies einen allgemeinen gesellschaftlichen Nutzen, dass kranke Menschen wieder aktiv in das Sozialgefüge integriert werden können. Es spricht also eine ganze Menge dafür, ein gerechtes Allgemeinprinzip der Solidarität zu etablieren, sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Gesundheit selbst ist aber auch ungleich verteilt. Sie ist zum einen individuell unterschiedlich: Es gibt Erkrankungen, bei denen wir auch heute noch nicht helfen können. Andere Erkrankungen führen bei dem einen Individuum zu einer hohen Gebrechlichkeit und dauerhaftem Leiden, wäh‐ rend es andere gut wegstecken. Es kommen aber auch äußere Einflüsse wie Wohnbedingung, Umweltschäden oder Bildung hinzu, die einen Einfluss auf Gesundheit haben. Die begrenzten finanziellen Ressourcen bedingen eine Rationierung. Eine solche Rationierung ist täglich geübte Praxis. Sie muss sich an dem Machbaren und Umsetzbaren orientieren. Eine solche Vorgehensweise ist nicht nur ethisch zu rechtfertigen, sie ist auch ethisch geboten. Es bedarf also der gesellschaftlichen Einigung darüber, wie die Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen zu gestalten ist, ohne sozial unverträglich zu sein. Eine Gesundheitsfürsorge ist sozialstaatlich zu ge‐ währleisten. Diese konkurriert mit den weiteren Fürsorgepflichten von in Not geratenen Menschen. Und diese geht über die Sozialfürsorge hinaus und beschreibt auch die Aspekte der Sicherheit in Umweltfragen, Energie- und Wasserversorgung, Telekommunikation und Informationstechnologie, Transport und Verkehr, Ernährung sowie Finanzwesen sowie innere und äußere Sicherheit. Konzeptionelle Vorstellungen der Gewährung Kritischer Infrastruktur und deren Verteilungsmechanismen werden politisch und gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Als möglicher Lösungsweg wird eine durch Steuern oder Beiträge refi‐ nanzierte medizinische Basisversorgung diskutiert, bei der darüberhinaus‐ gehende Leistungen durch individuelle Zusatzversicherungen zu vereinba‐ ren sind. Es ergibt sich die Frage der normativen Festlegung und wie dies dann individualmedizinisch zu gestalten ist. Aber auch insbesondere in Großschadensereignisse, wie Katastrophen, Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten, einer Epidemie oder Pandemie kommen Grenzerfahrun‐ 217 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="218"?> gen hinzu. Die Grenzen sind dann gesellschaftlich festzulegen. Besser ist es, diese Grenzen vorher festzulegen. In diesem Spannungsbogen bewegen sich politisches und wirtschaftliches Handeln. Dabei gilt es Oikonomia, dem guten Haushalten, von Chrematistik, der Gier, zu unterscheiden. Wenn im Rahmen der Kommerzialisierung der Gesundheitsbetreuung die Maxime aufgestellt wird, dass Aufwand zu einem gesunden Verhältnis zum Ertrag zu stehen haben, werden gesellschaftliche Risikogebiete nicht oder nicht ausreichend adressiert. Ging man anfangs davon aus, dass in der Covid-19-Pandemie das Vi‐ rus alle Menschen gleichermaßen beträfe, so zeigten sich bereits früh Unterschiede. Niedriges Einkommen birgt generell eine niedrigere Lebens‐ erwartung in sich, bei Männern stärker als bei Frauen. Menschen mit geringer Bildung, niedrigem Einkommen und Berufsstatus unterliegen einem erhöhten Risiko an Diabetes mellitus und an Krebs zu erkranken, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. Sie gehören damit zu jenen Risikogruppen, die ein erhöhtes Risiko haben, an Covid-19 zu erkranken oder zu versterben. Auch Langzeitarbeitslose haben ein deutlich erhöhtes Risiko wie regulär erwerbstätig Versicherte. Zeigten sich zunächst höhere Inzidenzzahlen in den sozioökonomisch besser gestellten Bevölke‐ rungsgruppen verlagerte sich dies dann in die sozioökonomisch deprivierten Gruppen. Homeoffice ist nur bei einer begrenzten Anzahl und eher bei den privilegierten Gruppen umsetzbar. Viele sind auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen oder leben in beengten Wohnverhältnissen. In Armut erforderlicher Präsentismus, dem Arbeiten trotz Erkrankung, als auch prekäre Lebens- und Arbeitssituationen tragen zum Infektionsrisiko bei. Die Auswirkungen der Pandemie machen sich in Familien bemerkbar. Mehr als die Hälfte der Familien erleben die Situation als sehr belastend, aufgrund von existentiellen Ängsten und Überforderung mit der Pandemie. Wissen | Pest und ihre Verbreitungswege Das Pestbakterium (Yersinia pestis), war zunächst eine Erkrankung, der Nagetiere, die sich teilweise auf den Menschen übertrug. Anfangs geschah dies in der Abgeschiedenheit in den Dörfern Himalayas. Dies änderte sich mit der Anbindung an die Seidenstraße. Das Bakterium verbreitete sich sowohl über die Handelswege als auch über die See‐ wege und gelangte dann im Mittelalter nach Europa. Dabei war die Geschwindigkeit dennoch gering, da sich die Menschen insgesamt nicht 218 4 Ethik der Medizin <?page no="219"?> so sehr bewegten: sie betrug etwa 2-10 Kilometer pro Tag und breitete sich eher wellenförmig aus. Über die Handelswege verbreitete es sich in alle Abzweigungen und kaum ein Dorf wurde verschont und nagte sich in der schwachen Bevölkerung fest. Die Folgen waren dramatisch. Für Europa wird eine Sterberate von 25 Mio. Menschen eingeschätzt, etwa 50-60 % der seinerzeitigen Bevölkerung. Dem „Schwarzen Tod“ hatte man nicht viel entgegenzusetzen. Faul riechende Winde aus Asien oder Dämpfe aus dem Erdinnern wurden nach der Miasmenlehre als ursächlich angenommen. Auch wurde eine ungünstige Konstellation von Saturn, Jupiter und Mars postuliert. Aderlass, ätherische und aro‐ matische Substanzen waren die therapeutischen Methoden der Zeit. Gesellschaftlich vollzog sich eine Distanz, selbst die nächsten Angehörigen waren zur Gefahr geworden, wie Giovanni Boccaccio (1313-1375) in seinem Werk Decamerone literarisch beschrieb. Es wurde als Gottesstrafe angesehen und war Nährboden für zahlreiche Verschwörungstheorien. Religiöse und spirituelle Bewegungen entstanden und Prozessionen versuchten die Menschheit von der Geißel zu befreien. Der Pestheilige St. Rochus fand große Verehrung. Da der Tod so nahe war, unterblieb Arbeit im Handwerk und auf dem Feld, was die Verelendung und den Mangel unterstützte. Kirchliche und weltliche Macht verloren an Autorität, der Schuldige war schnell ausgemacht. Judenprogrome wurden ausgeführt; die Brunnen- und Quellenvergifter waren angeklagt, die Katastrophe herbeigeführt zu haben. Adelige wie Klerus griffen je nach eigener Couleur ambivalent ein. Während das Unrecht erkannt wurde, nutzten andere diese Strömungen aus, um die eigenen Interessen von Macht zu verfolgen. Das postpandemische Zeitalter der Pest war gekennzeichnet durch eine veränderte Nutzbarmachung des Landes, der Aufgabe der Leibeigenschaft und der Mechanisierung manueller Arbeiten. Die Erfindung des Buchdru‐ ckes führte zu einer Verbreitung von Wissen und zu einer besseren Bildung. Es folgten später die Aufarbeitung der Antike, der geistigen intellektuellen Befreiung und Neuschaffung eigenen Wissens, was über die Renaissance und den Barock langfristig in die Zeit der Aufklärung führte. Der Handel gewann in der postpandemischen Phase immer mehr an Bedeutung, insbe‐ sondere mit dem fernen und mittleren Orient. Vor allem Italien erlangte einen unendlichen Reichtum. Die Gesellschaft erkennt, dass durch eigenes Handeln und Wirken das Leben verändert werden kann. Die von Gott 219 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="220"?> gegebene Ordnung gibt es nicht mehr, sie erscheint veränderbar. Neue Ideen entwickeln sich aus dem Reichtum des antiken Nachlasses, was wiederentdeckt und neu interpretiert wird. Der Mensch wird zum Maß aller Dinge mit persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. SARS-CoV-2 bewegt sich in komplexen Mobilitätsnetzwerken, da spielt die Geografie keine Rolle mehr. Wer gestern in Hongkong war, ist heute in München und morgen in Los Angeles. Entstammte die sich entwickelnde Pandemie erst aus China, so kam sie über Italien nach Europa und auch zügig nach Nordamerika. Sodann erreichte sie Südamerika und Indien als auch Russland. Afrika und Australien sind vergleichsweise wenig betroffene Weltregionen. Während in industrialisierten Regionen die Sterberaten er‐ heblich anstiegen, bleibt Afrika wohl verschont, wenngleich in den großen Städten des Kontinentes ein großes Gedränge besteht. Armut und einge‐ schränkte Hygienebedingungen liegen unzweifelhaft vor. Gründe werden angegeben in einer frühen Bereitschaft zu Einschränkung der Mobilität, dies aus Erfahrungen mit Ebola-Virus und Lassa-Fieber zurückgreifend. Trotzdem muss es andere Faktoren geben, da die Mobilitätseinschränkun‐ gen nur begrenzt aufrechtzuerhalten sind. Die meisten Menschen leben im informellen Sektor, Märkte sind beengt und grundlegende gesellschaftliche Hygienemaßnahmen wie die Trinkwasserversorgung und die Abwasserent‐ sorgung mittels Kanalisation existieren auch in den Großstädten Afrikas nicht flächendeckend. Der Altersdurchschnitt mit 20 Jahren ist auf dem afrikanischen Kontinent deutlich jünger als in den industrialisierten Zonen der Welt. Bei einer Erkrankung, von der Alte und gebrechliche Menschen das höhere Risiko haben zu sterben, ist dies von Bedeutung. Es wird aber auch die Mikrobiotastruktur auf dem Boden einer erhöhten Biodiversität diskutiert. Das Immunsystem ist nicht nur durch die Genetik bestimmt. Es unterliegt auch Umwelteinflüssen, wie die Exposition gegenüber Mikroor‐ ganismen und Parasiten. Das stärkt die Immunantwort und insbesondere chronische Erkrankungen, wie sie in westlichen Kulturen zu beobachten sind, treten weniger häufig auf. Das könnte den Verlauf der Infektionskrank‐ heit deutlich abmildern. Es sind aber die anderen Folgen zu bedenken, die auf den afrikanischen Kontinent treffen. Die Haupteinnahmequelle von Tourismus und Handeln gehen verloren, was zu niedrigeren Einnahmen und zu niedrigeren Bruttoinlandsprodukten führt. Im Oktober 2020 wurde im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln berichtet, dass man nach Jahrzehnten kontinuierlichen Wachstums seit Menschengedenken die erste ernstzunehmende Rezension 220 4 Ethik der Medizin <?page no="221"?> erfahre. Die wirtschaftlichen Folgen überwiegen die gesundheitlichen bei Weitem. Armut und Hungersnot verschlimmern sich und führen so zu einer erhöhten Sterberate. Die sozioökonomische Ungleichheit verschärft sich und ist Nährboden für Unruhen. Politisch haben insgesamt autoritäre Tendenzen zugenommen. Wo Korruption bereits ein strukturelles Problem waren, hat dies in der Pandemie weiter zugenommen. Es gebe keine genui‐ nen Coronakonflikte, bestehende Konflikte verschärfen sich. Die Covid-19-Pandemie trifft die Gesellschaft der Postmoderne. Aus‐ gehend von der angewandten Logik der Wissenschaften werden soziale und historische Aspekte der Wissenschaftsphilosophie integriert und zur inkongruenten Pluralität geführt. Die kürzeste Formel für die Postmoderne erbrachte Paul Feyerabend (1924-1994) mit anything goes. Erfahrungen und Erkenntnisse, die von der Modernisierung selbst produziert und Einfluss auf die gesellschaft‐ liche Entwicklung haben, werden hinsichtlich Tradition und Institution in Frage gestellt. Es zeigt sich eine gesellschaftliche und eine damit verbundene individuelle Verunsicherung. Leitplanken und Leitfiguren existieren nicht mehr. Es kommt zu einem Abschied von der Eindeu‐ tigkeit in allen gesellschaftlichen und künstlerischen Bereichen. Die Differenz von Arbeit und Privatleben ebnen sich ein und vermischen sich: Arbeiten und Leben greifen ineinander. Es geht nicht um die Beliebigkeit methodischer Regeln, es wird nach dem Sinn der Regel gefragt. Es ist sinnvoll sich an die Regel zu halten, bei einer roten Ampel eines Fußgängerüberweges zu warten. Wenn aber auf der anderen Seite etwas Schlimmes passiert, dann ist diese Beliebigkeit gerechtfertigt auf die andere Straßenseite zu rennen und Hilfe zu geben, wenn von der Seite weit und breit kein Auto kommt. Das ist aber nicht postmodern. Wenn die eingleisig-eindeutige Ausrichtung der Forschung durch die (eine) wissenschaftliche Methode modern ist, dann ist diese Aufforderung zur Beliebigkeit sicher postmodern. Dies betrifft den Zweifel an der Aussage, dessen Ausräumung zu einem Wissenszuwachs führt. Die Wissen‐ schaft erfindet im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr sich widersprechen‐ der Alternativen. Die Welt zeigt sich auf die unterschiedlichsten Weisen, je nach Zugang zu ihr. Die Postmoderne ist kein Buch, sondern eine Collage. Es gibt keine großen Erzählungen mehr, es verbleibt das Kontroverse, die 221 4.3 Ethik im Gesundheitswesen <?page no="222"?> Postmoderne ist in sich selbst kontrovers. Es gibt eine unreduzierbare Vielfalt, die alle wichtig sind. Der Mensch sucht den Platz in der modernen Welt. Diese Welt ist ande‐ rerseits zu komplex, um sie ganz erfassen zu können und somit findet der Mensch keinen Platz in dieser Welt. Unterschiedliche Gesellschaftssysteme konkurrieren miteinander. Alte Traditionen werden thematisiert. Es gibt keine Helden der Zeit, es gibt nur den Menschen, der keinen Platz für sich in der Welt findet. Die Linearität geht verloren, Realität und Fiktion vermischen sich in einer globalisierten Welt. Hinzu tritt die digitale Revolution mit erheblichen Veränderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Nach der neolithischen Revolution und der industriellen Revolution vollzieht sich ein gesamtgesell‐ schaftlicher Wandel innerhalb weniger Jahrzehnte im globalen Kontext. Wie ein Brennglas zeigte die Covid-19-Pandemie Schwachstellen der Entwicklung auf, die es zu korrigieren gilt, um den kommenden Anforde‐ rungen gerecht zu werden. Der Versuch, das komplexe Thema der Verteilung begrenzter medizinischer Ressourcen gerecht und fair zu verteilen und gesundheitsökonomisch verantwortlich zu gliedern, zeigte sich nicht als gescheitert; besondere Herausforderungen für künftige Generationen wur‐ den akzentuiert. Die Covid-19-Pandemie hat nicht dazu geführt, eine globale Antwort zu entwickeln. Es verblieb bei der Kleinstaatlichkeit bis hin zu einzelnen Landkreisen, wie der Pandemie zu begegnen sei. Wenngleich das Virus durch die Globalisierung rasche Verbreitung gefunden hat, konnte die globalisierte Welt diesem Phänomen nicht effektiv begegnen. Pflichten- und Tugendethik verloren zu weiten Teilen ihren Platz. Im utilitaristischen Ansatz wurde das Leben von Menschen verhandelbar. Zusammenfassung | Ethik im Gesundheitswesen Ethik hat in der Gesundheitsökonomie seinen Platz und seine Bedeu‐ tung. Das Prinzip der gerechten Verteilung muss in unterschiedlichen Szenarien überdacht werden und passende Strategien angewendet wer‐ den. Es verbleibt immer ein Aspekt der Ungewohntheit, dafür sind solche Extremsituationen zu speziell. In Fragen einer Inkonsistenz im Handeln gilt es nach den Prinzipien der Medizin, die Symptome und den Kontext zu betrachten, eine geeignete Diagnostik einzuleiten, die Diagnose unter Beachtung der Differentialdiagnosen zu stellen und eine adäquate Therapie einzuleiten. Gesundheit und Ökonomie tragen 222 4 Ethik der Medizin <?page no="223"?> in dieser Wechselwirkung eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Nach Rudolf Virchow (1821-1902) zu zitieren, ist Medizin eine soziale Wissenschaft, und die Politik nichts weiter als Medizin im Großen. Verwendete und weiterführende Literatur Bach, I.; Honert M. (2017): Prothesen-Skandal - Klinik operierte gegen Plan. In: Tagesspiegel Berlin vom 22.08.2007. Dutzmann, J.; Nuding, S. (2021): Umgang mit knappen Ressourcen in der Intensiv- und Notfallmedizin. In: Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedi‐ zin 116, S. 190-197. Goldschmidt, A. (2020): Medizinethik und Wirtschaftsethik sind nicht dasselbe. In: Hessisches Ärzteblatt 11, S. 606-609. Grintrowcz, R.; Pawloy, K.; Richter, J.; Degel, A. (2020): Can we adequately teach ethics and ethical decision making via distant learning? A pandemic pilot. In: GMS Journal for Medical Education 37(7): Doc80. DOI 10.3205/ zma001373. Hoffmann, S.; Schwarz, U. (2012): Angewandtes Gesundheitsmarketing. Wiesbaden: Springer Gabler. DOI 10.1007/ 978-3-8349-4035-3. Hunger, J.; Schumann, H. (2020): How to achieve quality assurance, shared ethics and efficient teambuilding? Lessons learned from interprofessionnal collaboration during the COVID-19 pandemic. 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In: Deutsches Ärzteblatt (41), Seite A 2778-2782. 223 Verwendete und weiterführende Literatur <?page no="225"?> Stichwörter Aachener Sturzpass 90 Abdomen 26, 37 Abwägung 204 Adipositas 198 Administration 173 Aerosole 128 After 25 akutes Abdomen 25f., 33 Algorithmen 190 Allergien 13 allgemeine Funktionsprüfung 14 Allokation 180 Allokationsethik 179 Allokationsproblem 193 alte Menschen 67 Alter 66, 68, 85 Alterstraumatologie 85, 94 Alzheimer-Krankheit 68f., 72 Amyloid-Precurser-Protein (APP) 70 Anaemie 116 Anamnese 12f., 20f., 32 Anatomie 10, 25 anatomische Beurteilung 16 Angiografie 62 Angiographie 111 Antibiotika 53, 135, 145 Antidementiva 73 Antikörpersuchtest 119 Anus 25 AO-Klassifikation 88 apparative Diagnostik 12, 20f. App auf Rezept 174 app-basiert 15 Appendizitis acuta 33 Arbeitsunfähigkeit 78 arterielle Verschlusskrankheit 62 Arthrose 209 ärztliche Bereitschaftsdienst 149 ärztliche Notfallversorgung 148 ärztliche Stelle 115 Arzt-Patienten-Kontakte 152 Arzt-Patienten-Verhältnis 180, 184 ASA-Klassifikation 94 Aterosklerose 62 Atlas 77 Auflagedruck 63 Auskultation 14 Autokratie 167 Autonomie 208 Baby-Kino 114 Bakterien 129, 135 barmherziger Samariter 213 Barthel-Index 93 Bauchfellentzündung 36 Bauchspeicheldrüsenentzündung 35 Bauchspeicheldrüsensekrete 25 Bauchspiegelung 55 Beauchamp, Tom 208 Becquerel, Henri 108 Bedside-Test 120 Befunde 9 Behandlung 27 Beinnerv 86 Beliebigkeit 221 Bentham, Jeremy 211 Beobachtung 11 Beta-Amyloid-Ablagerungen 70 <?page no="226"?> Beutelform 48 Bevölkerungsmedizin 159 Beweis (erbrachter) 22 Bildsequenzen 17 Bildung 215 Biodiversität 139 Blutgruppen 116 Blutstoffwechsel 39 Boccaccio, Giovanni 219 Brunner, Jerome 21 Brustwirbelsäule 76 Childress, James 208 Cholelithiasis 39 Choleraepidemien 138 Cholesterinhaushalt 39 Cholezystitis 33 Colon 25 Computertomographie (CT) 18, 55, 111 Comuputertomographie 82 Contergan-Skandal 210 Coronampfstrategie 133 Coronapandemie 131, 158, 172, 186, 188, 191, 212 Covid-19-Dashbord 172 Curie, Marie 108 Curie, Pierre 108 Cyber-Mobbing 176 Darmverschluss 34 Dekubitalulzerationen 63 Demenz 68f., 72, 74 Demenzformen 71 Demenzrisikofaktoren 71 demographische Entwicklung 86 Dermis 57 diabetische Fußsyndrom 62, 64 diabetische Gangrän 62 Diagnose 9, 11, 21, 32 diagnoseabhängige Therapie 9 Diagnosefindung 175 Diagnostik 11f., 27 diagnostische Methoden 23 Dickdarm 25 Dickdarmentzündung 34 Differentialdiagnose 25 Differenzierungsprinzip 213 Digital Public Health 173 Dilemmata der Medizin 194 Dopplersonographie 62 Dosimeter 112 DRG-Fallpauschalensystem 195 Dringlichkeit 153, 189 Druckverweildauer 63 Dünndarm 25 Duodenum 25 Duplexsonographie 61f. Dysbiose 127 Ebola-Virus 220 Echokardiographie 16 Effizienzsteigerung 181, 214 Eigenanamnese 13 Einthoven, Willem 15 einwilligungsunfähige Patienten 202 Eiszeit (kleine) 168 Elektrokardiogramm (EKG) 15 Emergency Departments 155 Endoskopie 54 Engelhardt, Tilman 184 Entgiftung 39 epidemische Lage von nationaler Tragweite 159 erdenkliche Mittel 184 Erfahrung 22 erforderliche Mittel 184 226 Stichwörter <?page no="227"?> Ernährung 64 Ethik 179, 206f., 222 ethische Grundsatzfragen 207 ethisch-moralische Fragestellung 194 Evaluation 14 evidenzbasierte Medizin 23 Extensionsbehandlung 76 Extremitäten-Ableitung 15 Fairness 212 Falsifikation 14 Familienanamnese 13 Fast Track 99 Fehltransfusion 121 Femurkopf-Fraktur 88 Fettstoffwechsel 39 Feyerabend, Paul 221 Fieber 142 Flaggen 81 Focused Abdominal Sonography of Traumatology 17 Forrest (Klassifikation) 54 Frailty-Skala 187 Frakturen 18 Frank, Johann P. 166 freie Radikale 108 Fremdanamnese 13 frontotemporale Demenz 71 FSME 131 Funktionsprüfung (allgemeine) 14 Gallenblase 40 Gallenblasenentfernung 44 Gallenblasenentzündung 33, 42 Gallenblasenstein 39, 46 Gallenblasensteinleiden 38 Gallenflüssigkeit 39 Gallengangsystem 39 Gallenkolik 41 Gallenstein 43 Gastritis 50f. Gastroskopie 52 Gefäßsystem 10 Gelenkbiomechanik 97 Gelenkerkrankungen 96, 104 General Practioner 156 Gerechtigkeit 208, 211 Geschwür 50 gesellschaftliche Werte 207 Gesellschaftsgründung 212 Gesundheitsberichterstattung 159, 171 Gesundheitsfachverwaltung 159 Gesundheitsversorgung 180 Gesundheitswesen (drei Säulen) 158 Halswirbelkörper 77 Halswirbelsäule 76 Hämatemesis 52 Hämotherapie 116, 124 Händedesinfektion 144 Harnblase 26 Harnleiter 26 Haut 57 Hautgeschwür 61 Hefen 130 Helicobacter pylori 49, 51 Herdenimmunität 134 Herz 15, 21 Hippokrates 76 Hospitalisation 191 Hüftendoprothese 103 Hüftgelenk 86 Hygiene 139, 143, 169 Hypothese 21f. IGeL 180 227 Stichwörter <?page no="228"?> Immunisierung 133 Impfrisiken 191 Impfstoff 179 Impfung 132, 191 Impfung (passiv) 133 Implantation (knochensparende) 97 Indikationsstellung 202 Infektion 145 Infektion (nosokomiale) 138, 141 Infektionskrankheiten 124, 128, 137 Inspektion 14 Integrierte Notfallzentren 154 ionisierende Strahlung 110 Ischiassyndrom 75 Jenner, Edward 132 Kant, Immanuel 211 Karzinom 50 kategorischer Imperativ 211 Kellgren-Lawrence-Schema 101 KISS 145 Klassifikation nach Forrest 54 klinische Untersuchung 12, 21 Konsumentensouveränität 179 Kontagiösität 129 Krankenhaus-Infektions‐ Surveillance-System 145 Krankheit 10 Krankheitsbild 36 Krankheitssymptome 21 Kreuzprobe 119 Kugelgelenk 86 künstliche Intelligenz 190 Kyphose 77 laborchemischen Analysen 14 Labordiagnostik 32 Landsteiner, Karl 116 Lassa-Fieber 220 Lebendspende 199 lebensgefährliche Erkrankung 27 lebenslanges Lernen 21 Leber 39 Lebertransplantation 189 Leistenbruch 34 Leistungsbegrenzung 185 Lendenwirbelsäule 77 Lernprozess 21 lerntheoretischer Ansatz 21 Lewy-Körperchen-Demenz 71 Lordose 76 Ludwig der XIV. 167 Lumbago 75 lumbales Ischiassyndrom 75 Lung Allocation Score 189 Lungentransplantation 189 lymphatischen System 10 Magen 25, 48 Magenerkrankungen 56 Magenkarzinom 54 Magenschlemnhautentzündung 50 Magenspiegelung 41, 52 Magenulcus 35 Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) 19, 82 Makroallokation 184 Makroallokation I 184 Makroallokation II 184 Makroangiopathie 62 Malum perforans 62 Marshall, Barry 51 Mastdarm 25 Matteucci, Carlo 15 Medikamentenanamnese 13 228 Stichwörter <?page no="229"?> Medizin 9f., 23 messenger-RNA 134 M-Health 173 Mikroallokation 184 Mikroallokation I 184 Mikroallokation II 184 Mikroangiopathie 62 Mikrobiota 125 Mikroorganismen 129 Mikrotubuli 70 Mill, John S. 211 Mittelknappheit 180f., 187 Mizellen 39 Mobilität 97 Mobilitätsnetzwerke 220 Model for End-Stage-Liver-Disease 189 Monitoring 171, 175 Moral 206 Morbus Alzheimer 69 mRNA 134 mRNA-Impfung 133 Muller, Herrmann J. 109 Mundhöhle 25 Muskel-Skelett-Erkrankungen 78 Muskulatur 10 Nagelosteosynthese 91 Nahrungsbestandteile 26 Nahtinsuffizienz 55 Nervensystem 10, 26, 49 Nervus vagus 49 Neuronenverlust 70 Nieren 25 Normale (das) 10 nosokomiale Infektion 138, 145 nosokomialen Infektion 141 Notaufnahme 150 Notfallmedizin 148, 156 Notfallversorgung 147, 154 Notfallzentren 154 notwendige Mitteln 184 Oehlecker-Probe 120 Offline-Kontakte 176 Online Communities 176 Online-Kontakte 176 on-Steroidale-Antirheumatika 52 Osteomyelitis 62 Pain Behaviour 83 Palpation 14 Pandemien 124 Pankreas 25, 39 Pankreatitis 35 Parkinson-Demenz 71 Patentenverfügung 201 Pathogenität 129 Patient Blood Management 98, 117, 145 Patientenbefragung 151 Patientensicht 149 Patientenverfügung 202 Patientenverwechslung 122 Pauwels-Garden-Klassifikation 88 Pauwels I 88 Pauwels III 89 Peritoneallavage 55 Peritonitis 36 Perkussion 14 Pest 218 Physiologie 10 Pilze 130 Plaquesbildung 71 Platon 23 Pocken 132, 168 Polyneuropathie 62 Postmoderne 221 229 Stichwörter <?page no="230"?> Prävention 158 Präventivmaßnahmen 136 Prinzipienethik 208 priorisierende Gruppe 192 Priorisierung 185f., 190 progressive Muskelentspannung 83 Prothesenplanung 103 psychosoziale Aspekte 79 psychosoziale Faktoren 64 Public Health 165, 169, 173, 177 Quarantäne 130f. Quarantäne-Management 159 radioaktives Material 19 Rationalisierungsmaßnahmen 181 Rationierung 183, 217 Rationierung von Leistungen 214 Rawls, John 212 Rechtsgleichheit 216 Regelwerk 213 Rekonvaleszenz 93 Rektum 25 Resistom 125 Resorption 26 Retroviren 129 Rettungsdienst 148 Rettungsdienste 150 Rhesusgen 119 Rhesus-Merkmal 119 Rhesus-System 116 Risiko 30 Risikofaktoren 54 Robbins. Lionel 196 Robert Koch Institut (RKI) 170 Robert-Koch-Institut (RKI) 160 Röntgen, Wilhelm C. 17, 107 Röntgenstrahlen 18, 107 Röntgenstrahlung 110 Röntgenuntersuchung 17 Röntgenuntersuchung (intraoperative) 113 Rückenmark 77 Rückenschmerzen 75, 77, 79, 81, 84 Rückenschule (neue) 84 Samariter 213 SARS-CoV 2 131 Schadensvermeidung 208 Schließmuskel 25 Schmierinfektionen 128 Schnittbildverfahren 18 Schock 28, 53, 197 Sekretion 26 Selbstoptimierung 173 Semmelweis, Ignatz 138 senil 67 Sepsis 30 septischer Schock 25 Sequential Organ Failure Assessement Score 29 Sievert, Rolf M. 108 Sievert (Sy) 108 Sigmadivertikulitis 34 Skelett 18 Skelettsystem 10 smiley-assoziierte Skalierung 80 SOFA-Score 29f. Solidaritätsprinzip 215 Solidarsysteme 216 Sonographie 41 Sozialanamnese 13 soziale Ungleichheit 211 soziale Unterschiede 214 Sozialgesetzgebung 160 Sozialhygiene 169 230 Stichwörter <?page no="231"?> sozialmedizinische Behandlung 73 Speiseröhre 25 Standard Exception 189 Standardmikrobiota 126 Sterbehilfe 200, 204 Strahlenbelastung 110 Strahlenexposition 110 Strahlenquellen 107 Strahlenschutz 107, 111, 113, 115 Strahlenschutzausrüstung 114 Strahlenschutzverantwortliche 114 Strahlenwirkungen 109 Strahlungsmessung 108 Streustrahlung 112 Stufenschema 202 Sturz 89 subtrochantere Verletzungen 88 Surveillance 173 Süßmilch, Johann P. 166 symptomatische Therapie 11 Symptome 9 Szinitgraphie 19 Tau-Fibrillen 70 Therapie 9, 11, 21, 27 Totimpfstoff 133 Toxoidimpfstoff 133 Transducer 16 Transfusion 118 Transfusionsreaktionen 121 Triage 188 Triage-Systeme 153 Tribologie 97 Tröpfchen 128 TÜV 115 Übertragunsgwege (Infektionen) 128 Ulcus cruris venosum 61 Ulkus 50 Ulkusblutung 52 Ultraschalluntersuchung 16 Ulzeration 61 Unfallchirurgie 17 Unterhaut 57 Untersuchung 20 Untersuchungstechniken 13, 20 Ursache 31 Utilitarismus 194 Vaccination 132 Vaginal Seeding 126 vaskuläre Demenz 71 Vektorimpfung 133 Verantwortung 208 Verdachtsdiagnose 14 Verdauung 10 Verdauungstrakt 25f. Verifikation 14 Verschwörungstheorien 219 Versorgungsleitlinie 81 Verteilungskriterien 186 Verteilung von Ressourcen 179 Virchow, Rudolf 223 Viren 129 Virulenz 129 Vitalparameter 14 Vitaminspeicher 39 von von Kitium, Apollonius 76 Warren, Robin 51 Weight Cycling 41 WhatsAppitis 176 Wirbelkörper 77 Wirbelsäule 75f. Wunden 57, 61, 65 Wundentstehung 58 231 Stichwörter <?page no="232"?> Wundheilung 58, 60 Wundheilungsstörungen (postoperative) 145 Wundmanagement (moderne) 65 Wurmfortsatzentzündung 33 X-Strahlen 107 Yersinia pestis 218 Zahnersatz 210 Zentrale Notaufnahme der Krankenhäuser 148 Zusatzversicherungen 217 Zwerchfell 25 Zwölffingerdarm 25, 48f. 232 Stichwörter <?page no="233"?> Mit Praxisbeispielen ,! 7ID8C5-cfibbf! ISBN 978-3-8252-5811-5 Die Medizin in all ihren Facetten verstehen! Auf die Gesundheit der Menschen lässt sich medizinisch, wirtschaftlich, sozial oder gesellschaftlich blicken. Thomas Stockhausen macht das daraus resultierende Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ethik in seinem Buch zum Thema. Anhand der klinischen und fächerübergreifenden Medizin stellt er die unterschiedlichen Aspekte der Patientenversorgung dar und diskutiert sie mithilfe lebensnaher Beispiele - aus gesundheitlicher, unternehmerischer, organisatorischer und schließlich ethischer Sicht. Auf die Gesundheitsversorgung und auf die Ethik der Medizin geht er dabei explizit ein. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheitsökonomie und Gesundheitswissenschaften. Ihnen vermittelt es das notwendige medizinische Grundlagenwissen. Gesundheits- und Pflegewissenschaften | Gesundheitsökonomie Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel