Das politische System Deutschlands
0403
2023
978-3-8385-5884-4
978-3-8252-5884-9
UTB
Stefan Marschall
10.36198/9783838558844
- Eine grundlegende Einführung in das politische System der Bundesrepublik Deutschland.
- Stefan Marschall behandelt die zentralen Akteure und Institutionen sowie die Funktionsweise und Funktionsprobleme der bundesdeutschen Demokratie.
- Das Buch richtet sich an Studierende der ersten Semester.
Stefan Marschall ist Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
basics - Lehrbücher mit einem klaren Konzept:
- Definitionen, Dokumentenauszüge und Hintergrundinformationen erleichtern das Lernen
- zahlreiche Tabellen und Abbildungen machen Fakten deutlich
- Lernkontrollfragen fördern das Verständnis
- mit weiterführenden kommentierten Literaturangaben und Weblinks
<?page no="0"?> Stefan Marschall Das politische System Deutschlands 5. Auflage basics <?page no="1"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 1 utb 2923 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 2 basics 49786 Marschall_Titelei.indd 2 02.07.18 09: 42 49786 Marschall_Titelei.indd 3 <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 3 02.07.18 09: 42 Stefan Marschall Das politische System Deutschlands 5., aktualisierte Auflage UVK Verlag · München 49786 Marschall_Titelei.indd 3 02.07.18 09: 42 <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 4 Umschlagmotiv: Digitalstock.de Stefan Marschall ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt »Politisches System Deutschlands« am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https: / / portal.dnb.de/ opac.htm abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838558844 4., aktualisierte Auflage 2018 3., aktualisierte Auflage 2014 2., aktualisierte Auflage 2011 1. Auflage 2007 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung und Grundlayout: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Claudia Wild, Stuttgart Druck: CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 2923 ISBN 978-3-8252-5884-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5884-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5884-9 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 5 5 Inhalt Vorwort zur fünften Auflage 11 Einleitung 13 1 Die zweite deutsche Demokratie-- Baupläne und Grundbausteine 19 1.1 Die erste deutsche Demokratie - Weimarer Erfahrungen 20 1.2 Die Gründung der Bundesrepublik - Druck von außen und von innen 24 1.2.1 Rahmenbedingungen 24 1.2.1.1 Das Besatzungsregime und der Kalte Krieg 25 1.2.1.2 Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges 25 1.2.1.3 Die Entnazifizierung 26 1.2.1.4 Die Entstehung politischer Systeme auf Länderebene 27 1.2.1.5 Die Wieder- oder Neuformierung der Parteien 27 1.2.2 Der Pfad zum Grundgesetz 28 1.3 Die Grundprinzipien der deutschen Demokratie und ihr Schutz 30 1.3.1 Grundprinzipien 30 1.3.2 Wehrhafte Demokratie 32 1.3.2.1 Grundgesetzänderungen und Ewigkeitsklausel 32 1.3.2.2 Keine Freiheit für die Verfassungsfeinde 33 1.4 Die deutsche Teilung als »befristete Konstante« 34 2 Die repräsentative Demokratie - zwischen Mitmachen und Zuschauen 42 2.1 Entscheidung für eine »super-repräsentative Verfassung« 43 2.2 Wahlen und Wählende 46 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 6 6 Inhalt 2.2.1 Verfahren der Bundestagswahl 46 2.2.2 Entwicklung der Wahlbeteiligung 50 2.2.3 Wahlverhalten - Erklärungsversuche 53 2.3 Sonstige Formen der politischen Beteiligung 54 2.4 Politische Kultur in Deutschland: »Pudding« im Wandel 56 3 Die Verbändedemokratie - demokratische Teilhabe und/ oder unverhältnismäßiger Einfluss? 62 3.1 Rechtliche Grundlagen für Interessengruppen in Deutschland 64 3.2 Die Vielfalt organisierter Interessen in Deutschland 66 3.3 Strategien und Adressaten der Interessenvermittlung 68 3.3.1 Wege interner Beeinflussung 68 3.3.2 Wege öffentlicher Beeinflussung 70 3.4 Tarifautonomie und (neo-)korporatistische Strukturen in Deutschland 74 3.5 Assoziative Demokratie und Zivilgesellschaft 77 4 Die Mediendemokratie - »politics goes media« 82 4.1 Das bundesdeutsche Mediensystem - rechtliche Grundlagen 83 4.1.1 Die verfassungsrechtliche Rolle der Medien 83 4.1.2 Mediengesetze und Grundstruktur der bundesdeutschen Medienlandschaft 85 4.2 Der bundesdeutsche Medienmarkt - Angebot und Nachfrage 88 4.2.1 Angebot 88 4.2.2 Nachfrage 92 4.3 Politik in der Mediengesellschaft 94 4.3.1 »Mediatisierung der Politik« 95 4.3.1.1 Politische Mediatisierung der Individuen 96 4.3.1.2 Mediatisierung politischer Organisationen und politischer Eliten 96 4.3.1.3 Mediatisierung des politischen Prozesses 97 4.3.1.4 Mediatisierung im Wahlkampf 99 4.3.2 Medien als »politische Akteure« 100 4.3.3 »Herrschaft der Medien«? 101 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 7 7 Inhalt 5 Die Parteiendemokratie - Von-Schildkröten, Kraken oder-Dinosauriern 106 5.1 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats 107 5.1.1 Die Erwähnung in der Verfassung 108 5.1.2 Das Parteiengesetz von 1967 111 5.1.2.1 Welche Aufgaben haben Parteien? 111 5.1.2.2 Wie lassen sich Parteien von anderen Organisationsformen abgrenzen? 112 5.1.2.3 Wie müssen Parteien aufgebaut sein? 113 5.1.2.4 Wie werden Parteien finanziert? 113 5.2 Parteiensystem und Parteien im Wandel 116 5.2.1 Herausbildung der Parteien 116 5.2.2 Wandel der Parteiorganisation 120 5.3 Parteienkritik und »Parteienverdrossenheit« 121 5.4 Reform und Zukunft der Parteien 125 6 Die parlamentarische Demokratie - Der Bundestag im (nur? ) formalen Zentrum 130 6.1 Organisation und Aufbau des Bundestages 131 6.1.1 Vollversammlung 132 6.1.2 Zusammenschlüsse von Abgeordneten 133 6.1.2.1 Ausschüsse 133 6.1.2.2 Fraktionen 135 6.1.3 Die individuellen Abgeordneten 136 6.1.4 Gruppenparlament oder Individualparlament? 139 6.2 Arbeitsweise des Parlaments 140 6.2.1 Zwischen Rede- und Arbeitsparlament 140 6.2.2 Regierungsmehrheit vs. Opposition 142 6.3 Aufgaben des Bundestages 143 6.3.1 Wahl-/ Abwahlfunktion 143 6.3.2 Gesetzgebungsfunktion 144 6.3.3 Kontrollfunktion 146 6.3.4 Kommunikationsfunktion 148 6.4 Entparlamentarisierung? 149 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 8 8 Inhalt 7 Die Kanzlerdemokratie - Regierungschef, Minister: innen und-Verwaltung 154 7.1 Die »parlamentarische Regierung« 155 7.1.1 Personelle Verflechtungen 155 7.1.2 Koalitionsregierungen 157 7.1.3 Die »Handlungseinheit« und ihre Sollbruchstellen 159 7.1.4 Eine Frage des Vertrauens 161 7.2 Kanzler, Minister: innen, Kabinett 163 7.2.1 Organisationsgewalt des Kanzlers - Theorie und Praxis 163 7.2.2 Kanzler-, Ressort- und Kabinettsprinzip 165 7.3 Deutschland - eine Kanzlerdemokratie? 167 7.4 Die Ministerialbürokratie 170 8 Die unpräsidiale Demokratie - der-schwache, aber nicht ohnmächtige Bundespräsident 175 8.1 Der Weimarer Reichspräsident als Negativbeispiel 176 8.2 Die Wahl der Bundespräsidenten 178 8.2.1 Das Wahlverfahren - die Bundesversammlung 178 8.2.2 Die Wahlergebnisse 180 8.3 Die Rolle der Bundespräsidenten 184 8.3.1 Bundespräsidenten als oberste Repräsentanten und »Staatsnotare« 184 8.3.2 Bundespräsidenten als »Hüter der Verfassung«? 185 8.3.3 Bundespräsidenten und ihre »Reservemacht« 188 8.3.4 Die Macht des Wortes und der symbolischen Tat 190 8.4 »Do persons matter? « - Chancen und Grenzen des Amtes 192 9 Die gehütete Demokratie - die-politische Macht des Bundesverfassungsgerichts 195 9.1 Die Wahl der Bundesverfassungsrichter: innen: Verfahren und Ergebnisse 196 9.2 Organisation und Verfahrensarten 200 9.2.1 Aufbau des Bundesverfassungsgerichts 200 9.2.2 Zuständigkeiten 201 9.3 Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur 204 9.3.1 Parteipolitisch brisante Verfahren 204 9.3.2 Die Drohkulisse »Karlsruhe« 207 <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 9 9 Inhalt 9.4 Das Bundesverfassungsgericht als »Ersatzgesetzgeber«? 208 9.5 Das Bundesverfassungsgericht und seine Integrationsfunktion 211 10 Die föderale Demokratie - Bund,-Länder und Kommunen 215 10.1 Der deutsche Bundesstaat - Pfadentwicklung 217 10.2 Die Länder als politische Systeme 220 10.3 Der Bundesrat als »Ländervertretung«? 225 10.3.1 Das Bundesratsmodell 225 10.3.2 Der Bundesrat und die Gesetzgebung des Bundes 227 10.3.3 Vermittlungsverfahren und Vermittlungsausschuss 228 10.3.4 Der Bundesrat als parteipolitisches Blockadeinstrument? 230 10.4 Politikverflechtung und Politikverflechtungsfallen 231 10.5 Kommunalpolitik 232 11 Die entgrenzte Demokratie - Europäisierung und Globalisierung 238 11.1 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie 239 11.1.1 Europäische Integration als Prozess 240 11.1.1.1 Politikfeldbezogene Vertiefung der europäischen Integration 240 11.1.1.2 Ausweitung der Mitgliedschaft der Europäischen Gemeinschaft/ Union 242 11.1.1.3 Integration: Fortschritt mit Rückschlägen 244 11.1.2 Das politische System der Europäischen Union 245 11.1.3 Europäisierung deutscher Politik - wie verändert sich die deutsche Demokratie? 248 11.1.3.1 Europäisierung der Gesetzgebung und Interessenvermittlung 248 11.1.3.2 Europäisierung der Gesetzesausführung und Rechtsprechung 251 11.1.3.3 Europäisierung der deutschen Bundesstaatlichkeit 253 11.1.4 Das Demokratiedefizit der Europäischen Union 255 <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 10 10 Inhalt 11.2 »Globalisierung« und der Wandel der deutschen Demokratie 257 11.2.1 »Globalisierung« als diffuser Begriff 257 11.2.2 »Globalisierung« deutscher Politik - wie verändert sich die deutsche Demokratie? 259 12 Die zukunftsfähige Demokratie - Deutschland vor inneren und äußeren Herausforderungen 264 12.1 Zwischen Blockade und Konsens - die bundesdeutsche Verhandlungsdemokratie 265 12.1.1 Veto-Spieler und Veto-Punkte in der deutschen Demokratie 266 12.1.2 Konsenspunkte in der deutschen Verhandlungsdemokratie 269 12.1.3 Zwischenfazit: Die deutsche Konsensdemokratie? 271 12.2 Die anpassungsfähige Demokratie! ? 272 12.2.1 Und sie bewegt sich doch - die Verfassung im Wandel 272 12.2.2 Die Zukunft der Reformen - Reformen der Zukunft 275 12.2.2.1 Reformen als Abbau von Veto-Punkten 275 12.2.2.2 Reformen im Sinne des Auf- und Ausbaus von Veto-Punkten 277 12.3 Deutschland - auch eine Schlechtwetterdemokratie? 281 Personenregister 285 Sachregister 287 <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 11 11 Vorwort zur fünften Auflage Für Justus Sei dem Jahr 2018, dem Erscheinungsjahr der vierten Auflage dieses Buches, scheinen sich die Entwicklungen überschlagen zu haben. Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg sind vielleicht nur die größten Marksteine in einer unruhigen Zeit, die am politischen System Deutschlands nicht spurlos vorbeigegangen sind. Zu dem kommt ein Regierungswechsel im Jahr 2021. Anlass genug, dieses Buch ein weiteres Mal zu überarbeiten und zu aktualisieren. Geholfen haben dabei Jonas Bongartz und Marcel Witt sowie Lena Harjes. Vielen Dank dafür! Ein Dankeschön geht ebenfalls an alle Leser: innen, die mir wertvolle Hinweise haben zukommen lassen. Düsseldorf, im November 2022 Stefan Marschall <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 12 <?page no="13"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 13 13 Einleitung Die Beschäftigung mit dem politischen System Deutschlands ist für viele Menschen ein »Muss«: für manche eine Pflicht, für etliche ein Bedürfnis. Das nationale politische System ist diejenige politische Einheit, die üblicherweise am intensivsten wahrgenommen wird. An wen denken wir, wenn wir uns »die Politiker« vor Augen führen? Wohl an erster Stelle an die bundesdeutsche Politikprominenz mit Kanzler, Minister und Ministerinnen oder Parteivorsitzenden. Gefragt, auf welcher politischen Ebene ihrer Meinung nach die wichtigsten Entscheidungen gefällt werden, antwortet eine Mehrheit der Befragten: auf der nationalen Ebene. Diese Wahrnehmung mag mittlerweile nicht mehr der Wirklichkeit entsprechen. Tatsächlich haben die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union sowie das, was man ein wenig unscharf als »Globalisierung« bezeichnet, dazu beigetragen, dass das politische Handeln in den Nationalstaaten an Bedeutung verloren hat. Wenn dem so ist, dann kann freilich die Auseinandersetzung mit dem nationalen politischen System auf solche Wandlungsprozesse aufmerksam machen und bleibt somit ein lohnendes Projekt. Eine Einführung in das deutsche politische System ist deswegen immer auch eine Analyse der generellen Entwicklungen in der Politik. Dieses Buch ist dabei nicht nur eine Einführung in das politische System, sondern auch eine Einführung in die bundesdeutsche »Demokratie«. Es geht folglich um mehr als um die Organisation verbindlicher Entscheidungsprozesse. Im Brennpunkt steht auch die Frage, wie Beschlüsse legitimiert werden - und was daran als »demokratisch« bezeichnet werden kann. Als Demokratie sei ein System verstanden, in dem allgemein verbindliche Entscheidungen im Sinne der Formel von Abraham Lincoln als Ausdruck der Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk getroffen werden. Zu den substanziellen Bestandteilen einer Demokratie gehören der freie Wettbewerb von Parteien, regelmäßige Wahlen, die Rechenschaftspflicht der Regierenden, die Geltung der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Es gibt bekanntlich unterschiedliche Arten und Weisen, Demokratie zu organisieren. Die bundesdeutsche Variante ist nach der Weimarer Republik der zweite Einführung in die deutsche Demokratie <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 14 14 Einleitung Versuch, eine Demokratie in Deutschland zu etablieren - ein Versuch, der sich bislang als geglückt erwiesen hat, wenngleich sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat, dass Demokratie nicht mehr für alle »gesetzt« ist, sondern immer wieder neu begründet werden muss. Mit der deutschen Demokratie setzt sich der Basics-Band auseinander - in zwölf Kapiteln. In jedem Kapitel wird ein Ansatz, die bundesdeutsche Demokratie zu verstehen, vorgestellt und diskutiert. Dies geschieht stets in Abwandlung des Begriffs »Demokratie«: zum Beispiel »Kanzlerdemokratie«, »Verbändedemokratie«, »föderale Demokratie«. Dabei gilt es zum einen, Basiskenntnisse über den Aufbau des Regierungssystems zu vermitteln. Der Basics-Band beschränkt sich aber nicht darauf, das politische System bloß zu beschreiben. In den »Demokratie«-Konzepten steckt zumeist auch eine Problematik oder eine Kontroverse: Herrschen die Verbände über die Politik? Ist der Kanzler (zu) mächtig? Wie zukunftsfähig ist der bundesstaatliche Aufbau Deutschlands? Die bestehenden Strukturen zu problematisieren und zu hinterfragen, soll als Schlüsselkompetenz vermittelt werden. Inhaltliche Gliederung Wie ist das Buch aufgebaut? Im ersten Kapitel »Die zweite deutsche Demokratie« wird der »Pfad« freigelegt, auf dem sich das bundesdeutsche politische System befindet. Die Ausführungen setzen einen Schwerpunkt auf die historischen Entstehungsbedingungen der Bundesrepublik. Die zweite deutsche Demokratie hat viel vom ersten Demokratieversuch in Deutschland, der Weimarer Republik, gelernt - vor allem aus deren Fehlern. In dem Kapitel wird noch eine weitere deutsche, vermeintliche »Demokratie« angesprochen: die Deutsche Demokratische Republik. Die deutsche Teilung und ihre Überwindung haben die bundesdeutsche Demokratie tiefgreifend geprägt und tun dies zum Teil heute noch. Diesem eher historisch angelegten Kapitel schließt sich die Darstellung der entscheidenden Akteure im politischen System an. Sie beginnt aber nicht - wie oft üblich - mit den Staatsorganen (Regierung, Parlament etc.), sondern mit den Bürger: innen" also mit dem eigentlichen Souverän. Im Kapitel über die repräsentative Demokratie wird thematisiert, ob und wie die Bürger: innen »mitregieren« können und inwiefern sie von den Möglichkeiten zur politischen Beteiligung Gebrauch machen. In den nächsten drei Kapiteln stehen politische Akteure im Fokus, denen die Aufgabe der »Intermediation« zugesprochen wird, die also zwischen der Gesellschaft auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite vermitteln sollen. Der Blick fällt zunächst auf die Vereine und Verbände, die die Aufbau des Buches <?page no="15"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 15 15 Inhaltliche Gliederung Gesellschaft organisieren und Interessen in den politischen Entscheidungsprozess einspeisen. Sie leisten damit einen Beitrag für etwas, was gelegentlich als »Verbändedemokratie« bezeichnet (und kritisiert) wird. Danach geht es um die »Mediendemokratie« Deutschland. Die Medien, und das heißt hier die traditionellen Massenmedien Presse, Rundfunk (Fernsehen, Hörfunk) und das Internet (hier insbesondere Social Media), werden auf ihre »Mittlerrolle«, aber auch auf ihre politische Gestaltungsmacht hin betrachtet. Schließlich stehen die mit wohl wichtigsten Akteure der deutschen Politik im Mittelpunkt des Interesses: die Parteien. Zu fragen ist, ob wir in einer »Parteiendemokratie« leben, in der die Parteien solide Brücken zwischen Gesellschaft und Staat bauen. Die Kapitel sechs bis neun wenden sich den Staatsorganen zu. Als erstes wird der Bundestag angesprochen, das Zentrum des deutschen parlamentarischen Systems. Die »Volksvertretung« ist das einzige direkt gewählte Organ auf Bundesebene. Das Grundgesetz macht den Bundestag zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen Demokratie. Allerdings mehren sich die Stimmen, die von einer »Entparlamentarisierung« sprechen: Der Bundestag habe erheblich an Macht verloren. Die Spannung zwischen Verfassungstheorie und politischer Praxis wird in diesem Kapitel erörtert. Auf diese Ausführungen folgt das Kapitel über den Kanzler/ die Kanzlerin und die Bundesregierung insgesamt. Das ist schlüssig, denn die Bundesregierung und der Bundestag (genauer: die parlamentarische Mehrheit) sind eng miteinander verkoppelt. In der klassischen Gewaltenteilungslehre stellt die Bundesregierung die »Exekutive« dar. Ein weiterer Teil der »Exekutive« ist formal gesehen das Staatsoberhaupt, der Bundespräsident. Der Kapiteltitel über den »höchsten Mann« im Staate (eine Frau hat diese Position bislang noch nicht eingenommen) verdeutlicht jedoch, dass dieses Amt mit den eigentlichen Regierungsgeschäften wenig zu tun hat. Das Grundgesetz hat die Reichweite der Präsidentenmacht ganz bewusst beschränkt. Die Bundesrepublik Deutschland ist also tatsächlich eine »unpräsidiale Demokratie«. Nicht zu unterschätzen ist indes die politische Macht der Gerichte im bundesdeutschen System, vor allem die Macht des Bundesverfassungsgerichts, das nicht nur das Grundgesetz hütet, sondern auch aktiv Politik mitgestaltet. Das Kapitel über die »gehütete Demokratie« spricht somit einen der wichtigsten Akteure in der deutschen Politik an. Das zehnte und das elfte Kapitel befassen sich mit dem Phänomen, dass die deutsche Politik nicht allein auf einem »Spielfeld«, also auf dem des Bundes, stattfindet. Unterhalb der Bundesebene wirken die Länder und die Kommunen an der Politik und Demokratie in Deutschland mit. Der föderale Aufbau gewährt den Ländern sogar erhebliche Mitgestaltungsmöglichkeiten auf der Bundesebene. Oberhalb der bundesstaatlichen Ebene vollziehen sich Prozesse der Europäisierung und Globalisierung, die die deutsche Politik veränwww.claudia-wild.de: <?page no="16"?> Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 16 16 Einleitung dern. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Frage nach der Zukunft der Demokratie, die nicht mehr nur national beantwortet werden kann. Das zwölfte Kapitel bildet den Abschluss und bietet einen Ausblick. Wurde zu Beginn des Buches noch ein Blick in die Vergangenheit geworfen, richtet sich am Ende der Blick nach vorne. Wie reformbedürftig und wie anpassungsfähig ist die bundesdeutsche Demokratie? Um dies zu beantworten, muss man herausarbeiten, wo im bundesdeutschen System Reformbremsen eingebaut sind. Können diese Bremsen gelöst werden und, wenn ja, unter welchen Umständen? Oder wäre es nicht sogar sinnvoll, weitere Bremsmechanismen einzubauen? Das Buch schließt mit der Frage, ob Deutschland auch eine »Schlechtwetterdemokratie« ist, also in widrigen Umständen stabil bleiben wird. Die Antwort fällt bedingt optimistisch aus: vorausgesetzt, die deutsche Demokratie wird weiter »wetterfest« gemacht. Wie sind die Kapitel aufgebaut? Nach den inhaltlichen Ausführungen ermöglichen Lernkontrollfragen die Überprüfung des Wissensstandes und sollen - wo sie über den Text hinausweisen - Anstöße zum Nachdenken und zur Debatte bieten. Daran anschließend wird ausgewählte Literatur aufgeführt und kurz kommentiert - bei Verzicht auf ausführliche Fußnoten- oder Literaturarbeit im laufenden Text. Zudem folgen auf die zentrale Literatur einige Internet-Adressen, gleichfalls mit kurzen Erläuterungen. Schlagwörter am Rand sowie ein Stichwort- und ein Personenregister am Ende des Buches unterstützen das gezielte Suchen und machen neben dem Feinaufbau auch die Inhalte der Kapitel transparent. Von Aufbau und Sprache her richtet sich das Buch an Studierende in den ersten Semestern, die eine Veranstaltung zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland besuchen. Aufgrund der Kapitelstruktur eignet sich der Band als Grundlage für eine einsemestrige Veranstaltung zum politischen System Deutschlands, in der Woche für Woche je ein Kapitelthema bearbeitet werden kann. Aber auch jenseits der akademischen Bildung und Ausbildung kann der Basics-Band Verwendung finden: nämlich überall dort, wo im Rahmen der schulischen und außerschulischen politischen Bildung Einblicke in die Funktionsweise und Funktionsprobleme des bundesdeutschen politischen Systems vermittelt werden sollen. »Last but not least« richtet sich das Buch generell an politisch Interessierte, die mehr über Politik in Deutschland erfahren wollen. Die Formatvorgaben auf der einen Seite und die Breite des Themas auf der anderen Seite verlangten dem Autor eine Reihe schmerzlicher Entscheidungen ab. Viele relevante Aspekte können aufgrund der begrenzten Seitenzahl nur angerissen und nicht die gesamte lesenswerte Fachliteratur kann angeführt werden. Das Buch versteht sich als ein Werk für Einsteiger und liefert die »Basi(c)s« für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema. Der Band ergänzt das, was sonst noch an - mitunter ausgezeichneter - Literatur Aufbau der Kapitel <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 17 17 Weitere Informationsquellen zum politischen System vorliegt. In Abgrenzung zu anderen Werken liegt der Schwerpunkt auf einer systematisch-übersichtlichen, eingängigen, lesefreundlichen und mit zahlreichen eingeschobenen Erläuterungen und Illustrationen arbeitenden Vermittlungsweise der Thematik - entlang einer inhaltlichen roten Linie, der »Demokratiefrage«. Ob dieser Ansatz gelungen ist, müssen die Leser: innen entscheiden. Der Autor würde sich jedenfalls über Feedback freuen (E-Mail: stefan.marschall@uni-duesseldorf.de). Noch eine Anmerkung zur Sprache: Es ist versucht worden, möglichst gendersensible Formulierungen zu verwenden - mit einigen Kompromissen, wenn es der Lesefreundlichkeit dient, z. B. bei zusammengesetzten Wörtern (»Kanzlerdemokratie«). Deswegen an dieser Stelle der ausdrückliche Disclaimer, dass selbstverständlich immer alle Geschlechter inkludiert sind. Weitere Informationsquellen An Literatur zum politischen System Deutschlands herrscht kein Mangel. Früher gab es einige wenige Klassiker, die sich als Standardwerke etabliert hatten, z. B. der »Rudzio« oder der »von Beyme«. Mittlerweile kann mit den Büchern zum Thema ein ganzes Regalbrett gefüllt werden. Es ist hier nicht der Raum, jedes einzelne Werk mit seinen Vorzügen und Nachteilen zu diskutieren. Es fällt aber auf, dass in den vergangenen Jahren viele populärwissenschaftliche Bücher auf den Markt drängen, bei denen das »wissenschaftliche« sehr kleingeschrieben wird. Hier ist mitunter Vorsicht angezeigt und zu schauen, ob die Bücher von Personen verfasst worden sind, die dicht am Puls der Forschung zum politischen System stehen. Wenn es um Zuverlässigkeit geht, kann zudem auf die Zeitschriften zurückgegriffen werden, die sich regelmäßig oder häufig mit Fragen rund um das politische System Deutschlands beschäftigen und in den meisten Fällen eine fachwissenschaftliche Qualitätskontrolle durchführen, u. a.: ⚫ Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zum Parlament ⚫ Blätter für deutsche und internationale Politik ⚫ German Politics ⚫ German Politics and Society ⚫ Politische Vierteljahresschrift ⚫ Zeitschrift für Parlamentsfragen ⚫ Zeitschrift für Politikwissenschaft ⚫ Zeitschrift für Politik ⚫ Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft. Aus der eigenen Werkstatt sei noch folgende Publikation empfohlen, die helfen kann, wenn nach Erläuterungen zu bestimmten Begriffen gesucht wird: Uwe Andersen/ Jörg Bogumil/ Stefan Marschall/ Wichard Woyke (Hg.): <?page no="18"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 18 18 Einleitung Handbuch politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2021 . Schließlich siehe zum Verständnis des dieses Buch leitenden Demokratiekonzepts: Stefan Marschall: Demokratie, Stuttgart, UTB 2014 . Ergänzt wird die gedruckte Literatur durch digitale Quellen. Erwähnt sei an dieser Stelle ein Angebot, das gleichfalls in der Düsseldorfer Werkstatt entstanden ist und eng mit diesem Buch verbunden ist: der Podcast »Drittstimme. Der Podcast zum politischen System Deutschlands«. Links www.das-politische-system.de In diesem buchbegleitenden Web-Angebot des Lehrstuhls Politikwissenschaft II der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf finden sich weiterführende Informationen zum Thema »Politisches System Deutschlands«. Hier sind auch die Links zu den einschlägigen Folgen des Podcasts »Drittstimme. Der Podcast zum politischen System Deutschlands«. www.bpb.de Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung kann man sich über Facetten der bundesdeutschen Demokratie informieren sowie zu sehr günstigen Bedingungen Bücher bestellen. Lohnend ist auch ein Blick auf die jeweiligen Seiten der Landeszentralen für politische Bildung. www.destatis.de Die Seite des Statistischen Bundesamtes enthält eine große Sammlung an Daten zu Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 19 19 Die zweite deutsche Demokratie-- Baupläne und Grundbausteine Kein politisches System entsteht in einem luftleeren Raum. Vielmehr ist es eingebettet in historische Verläufe und in eine besondere Gründungssituation. In den Sozialwissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang von der »Pfadabhängigkeit«: Wie ein Regierungssystem aufgebaut ist, lässt sich nur dann verstehen, wenn der historische Weg abgesteckt wird, auf dem es sich bewegt hat. Das erklärt, warum sich gegenwärtig existierende Regierungssysteme trotz vergleichbarer innerer und äußerer Herausforderungen erheblich voneinander unterscheiden. Auf dem Pfad, der zur Bundesrepublik Deutschland führte, lagen unmittelbar die Besatzungszeit, der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Diktatur, die den ersten deutschen Demokratieversuch, die Weimarer Republik, aufgehoben hatte. Im Scheitern der Weimarer Demokratie liegen die Erfahrungswerte, aus denen die Mütter und Väter des Grundgesetzes schöpften. Um das politische System der Bundesrepublik zu begreifen, ist es deshalb unabdingbar, einen Blick auf die erste deutsche Demokratie zu werfen und auf die Lehren, die aus »Weimar« gezogen worden sind. Dies soll im ersten Abschnitt geleistet werden. Neben der Vorgeschichte der bundesdeutschen Staatsgründung ist der unmittelbare historische Zusammenhang relevant, in dem es zur Entscheidung für die zweite deutsche Demokratie kam. Dieser Kontext wird im zweiten Abschnitt angesprochen. Denn die entscheidenden Weichenstellungen fanden in einem komplizierten Kräftesystem statt, in dem äußerer Druck zum Teil in erheblichem Konflikt mit innerem Druck stand. Der »Druckausgleich« führte zu einem Paradox: zu einer bewusst vorläufigen, aber dennoch höchst tragfähigen und robusten bundesdeutschen Demokratie. Der sich anschließende Abschnitt legt die ideellen Fundamente frei, auf denen die zweite deutsche Demokratie gebaut worden ist und die bis heute noch tragen. Dazu gehören Prinzipien wie die Sozial-, Rechts- und Bundesstaatlichkeit wie auch der Grundsatz der »wehrhaften Demokratie« - das heißt, dass sich die bundesdeutsche Demokratie gegen ihre Feinde zur Wehr setzen kann. 1 Inhalt <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 20 20 Die zweite deutsche Demokratie Im letzten Abschnitt geht es um einen Faktor, der die Gründungssituation der Bundesrepublik prägte, aber noch bis in unsere Tage wirkt: die parallele Entstehung eines zweiten deutschen Staates, der »Deutschen Demokratischen Republik« (DDR) - die freilich alles andere als eine Demokratie war. Ihre Gründung und Existenz markieren eine scheinbare »Konstante« der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: die deutsche Teilung. Diese »Konstante« hielt allerdings nur vierzig Jahre. Mit der »Deutschen Einheit« von 1990 hat sich der Geltungsbereich des Grundgesetzes auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgedehnt. Doch noch heute sind die Auswirkungen der deutschen Teilung zu spüren. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich deswegen mit der DDR, der Deutschen Einheit und ihren Folgen - Folgen, die uns in den nächsten Kapiteln immer wieder beschäftigen werden. 1.1 Die erste deutsche Demokratie - Weimarer Erfahrungen 1.2 Die Gründung der Bundesrepublik - Druck von außen und von innen 1.3 Die Grundprinzipien der deutschen Demokratie und ihr Schutz 1.4 Die deutsche Teilung als »befristete Konstante« Die erste deutsche Demokratie-- Weimarer-Erfahrungen Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich in vielerlei Hinsicht von den Erfahrungen aus der Weimarer Republik inspirieren lassen - insbesondere von den schlechten. Die Reichsverfassung, die von der Nationalversammlung 1919 in der Stadt Weimar verabschiedet worden war, wirkte zu großen Teilen wie ein Negativmuster, auf dem das Grundgesetz bewusst anders konstruiert worden ist. Viele von denen, die zu den Beratungen über die neue deutsche Verfassung zusammenkamen, hatten bereits in der Weimarer Republik praktische politische Erfahrungen gesammelt. So war der Präsident des Parlamentarischen Rates und spätere Bundeskanzler, Konrad Adenauer, von 1917 bis 1933 Oberbürgermeister in Köln sowie von 1920 bis 1933 Präsident des preußischen Staatsrates gewesen. Wenn in diesem Zusammenhang von den »Lehren aus Weimar« die Rede ist, dann muss man sich vor Augen halten, dass es nicht die objektiven Erfahrungswerte aus der Weimarer Republik gibt. Entscheidend waren vielmehr 1.1 Lehren aus der Weimarer Republik <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 21 21 Die erste deutsche Demokratie-- Weimarer-Erfahrungen die mitunter sehr subjektiven und zeitabhängigen Wahrnehmungen dessen, was die Weimarer Demokratie und ihr Scheitern ausgemacht hat. Schließlich sind sich auch die Historiker: innen nicht völlig einig darüber, was genau das Ende der ersten deutschen Demokratie verursachte. Die Weimarer Republik war als parlamentarische Demokratie angelegt, in deren Mittelpunkt der Reichstag stand. Das Parlament wählte man direkt, und die Regierung war dem Reichstag gegenüber verantwortlich. Ein zweites Staatsorgan wurde ebenfalls direkt gewählt: der Reichspräsident, und zwar auf sieben Jahre. Seine Aufgabe bestand nicht zuletzt darin, Hüter der Verfassung zu sein. Der Reichspräsident ernannte den Reichskanzler und hatte das Recht, den Reichstag aufzulösen. Im Falle des Notstandes verfügte er über besondere Möglichkeiten (→ Kapitel 8) . Diese Machtfülle des Reichspräsidenten führte dazu, dass er gelegentlich als »Ersatzkaiser« bezeichnet worden ist. Neben den Organen, die vom Volk gewählt oder indirekt legitimiert wurden, also neben der »repräsentativen Demokratie«, sah die Weimarer Republik noch die Möglichkeit »direkter Demokratie« vor. Die Bürger: innen konnten über ausgewählte Fragen eine Entscheidung erzwingen und unter bestimmten Voraussetzungen selbst abstimmen. Von ihrer verfassungsrechtlichen Anlage her handelte es sich bei der Weimarer Republik um eine offene und freiheitliche Demokratie, wenn auch - so der Historiker Horst Möller - um eine »unvollendete«. Zu »offen« sei die Weimarer Demokratie gewesen, so lautete schon die zeitgenös- »Unvollendete« Weimarer Demokratie © Bergmoser + Höller AG Abb. 1 Das politische System der Weimarer Republik <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 22 22 Die zweite deutsche Demokratie sische Kritik. Schon frühzeitig wurde der so genannte Rechtspositivismus der Weimarer Republik problematisiert: Es habe keine geschützte Wertebasis gegeben; das veränderbare gesetzte (»positive«) Recht habe uneingeschränkte Gültigkeit gehabt und konnte damit grundlegende Werte der Verfassung außer Kraft setzen. Die anscheinende Beliebigkeit von Werten zeigte sich auch darin, dass sich die Republik nicht hinreichend gegen ihre inneren Feinde zur Wehr setzen konnte und wollte. Allerdings wird in der Literatur durchaus kontrovers diskutiert, inwieweit die Weimarer Republik nicht doch ein Wertefundament hatte, das nicht zuletzt von denen, die es hätten schützen müssen - insbesondere von den im Kaiserreich sozialisierten Richtern: innen - infrage gestellt wurde. An inneren Feinden, welche die grundlegenden Werte der Demokratie herausforderten, hatte die Weimarer Republik jedenfalls keinen Mangel. Antidemokratische Parteien von rechts und links nahmen die demokratischen Kräfte in die Zange. Die Demokratiefeinde hatten im Reichstag mitunter negative Mehrheiten. Sie konnten die Arbeit der Regierung behindern, ohne eine konstruktive Alternative zu bieten. So setzte die Abwahl eines Regierungschefs nicht voraus, dass sich eine Mehrheit für einen neuen Amtsinhaber finden musste. Robuste demokratische Mehrheiten waren über längere Zeit kaum zu bilden. Die Instabilität der Republik zeigte sich nicht zuletzt an den häufigen Regierungswechseln: 16 Kabinette gab es von 1919 bis 1930, mit einer durchschnittlichen Haltbarkeit von etwas mehr als acht Monaten. Ab 1930 bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 wurde nur noch im Notstand regiert. Die so genannten Präsidialkabinette unter den Reichskanzlern Brüning, von Schleicher und von Papen verfügten nicht mehr über formale Mehrheiten im Reichstag, die ihre Politik trugen. Vielmehr regierten die letzten drei Kanzler vor 1933 hauptsächlich mithilfe der Notverordnungsmacht des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der bis zu seinem Tode 1934 offiziell in dieser Position verblieb (→ Kapitel 8) . Robuste parlamentarische Mehrheiten hätten einiges verhindern können. Aber allein dass die demokratiefeindlichen Parteien so viel Zulauf in den Wahlen erhielten, zeigt, dass die politische Kultur der Weimarer Republik nicht in der Demokratie angekommen war. »Demokratie ohne Demokraten« - dieses für Weimar immer wieder verwendete Schlagwort will sagen, dass der verfassungsmäßige Rahmen nicht zum Inhalt passte oder umgekehrt. Dies galt insbesondere für die Eliten in der staatlichen Verwaltung, in den Medien (also damals in der Presse) und der Justiz, die der demokratischen Verfassung oftmals distanziert bis feindlich gegenüberstanden. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler bedeutete faktisch das Ende der Weimarer Republik, obwohl die Reichsverfassung noch weiter Gültigkeit hatte. Jedenfalls markiert das Jahr 1933 den Beginn von zwölf Jahren Demokratie ohne Demokraten <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 23 23 Die erste deutsche Demokratie-- Weimarer-Erfahrungen NS-Herrschaft und damit von innenpolitischem Terror, dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Millionen Opfern und dem singulären Verbrechen des Holocaust. Als sich einige Jahre nach dem Ende des »Dritten Reiches« deutsche Politikerinnen und Politiker zusammentaten, um einen erneuten Demokratieversuch zu wagen, standen sie unter dem Eindruck des Untergangs der ersten Demokratie. Sie knüpften positiv an die Weimarer Erfahrungen an, versuchten aber zugleich auch bestimmte unterstellte Strukturfehler auszuschließen. Dabei bedienten sie sich mitunter älterer demokratischer Traditionen, z. B. Elementen aus der Paulskirchenverfassung von 1849. Paulskirchenverfassung In Folge der revolutionären Unruhen von 1848 trat in der Paulskirche in Frankfurt am Main eine vom Volk gewählte Nationalversammlung zusammen. Sie legte im März 1849 eine Verfassung vor, die einen deutschen Bundesstaat begründen sollte. Allerdings trat die Frankfurter Reichsverfassung Hintergrund Reichskanzler Partei Dauer der Kanzlerschaft Philipp Scheidemann SPD 127 Tage (13.02.1919-- 20.06.1919) Gustav Bauer SPD 280 Tage (21.06.1919-- 27.03.1920) Hermann Müller SPD 86 Tage (27.03.1920-- 21.06.1920) Konstantin Fehrenbach Zentrum 313 Tage (25.06.1920-- 04.05.1921) Joseph Wirth Zentrum 169 Tage (10.05.1921-- 26.10.1921) Joseph Wirth Zentrum 392 Tage (26.10.1921-- 22.11.1922) Wilhelm Cuno parteilos 263 Tage (22.11.1922-- 12.08.1923) Gustav Stresemann DVP 54 Tage (13.08.1923-- 06.10.1923) Gustav Stresemann DVP 55 Tage (06.10.1923-- 30.11.1923) Wilhelm Marx Zentrum 186 Tage (30.11.1923-- 03.06.1924) Wilhelm Marx Zentrum 226 Tage (03.06.1924-- 15.01.1925) Hans Luther parteilos 370 Tage (15.01.1925-- 20.01.1926) Hans Luther parteilos 117 Tage (20.01.1926-- 17.05.1926) Wilhelm Marx Zentrum 257 Tage (17.05.1926-- 29.01.1927) Wilhelm Marx Zentrum 516 Tage (29.01.1927-- 28.06.1928) Hermann Müller SPD 637 Tage (28.06.1928-- 27.03.1930) Heinrich Brüning Zentrum 558 Tage (30.03.1930-- 09.10.1931) Heinrich Brüning Zentrum 234 Tage (09.10.1931-- 30.05.1932) Franz von Papen parteilos 185 Tage (01.06.1932-- 03.12.1932) Kurt von Schleicher parteilos 58 Tage (03.12.1932-- 30.01.1933) Adolf Hitler NSDAP ab 30. Januar 1933 Tab. 1 Reichskanzler in der Weimarer Republik <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 24 24 Die zweite deutsche Demokratie aufgrund des Widerstands der deutschen Fürsten nie in Kraft. In ihr enthalten war ein Grundrechtekatalog, der als Vorlage für die Erwähnung der Grundrechte im Grundgesetz diente. Auch das »Bundesratsmodell« (→ Kapitel 10) hat seine Wurzeln in der Paulskirchenverfassung. Nach einigen Jahren der Bewährung des Grundgesetzes erschien 1956 ein Buch des Journalisten Fritz René Allemann mit dem Titel »Bonn ist nicht Weimar«. »Bonn«, der Parlaments- und Regierungssitz bis 1999, stand für den gelungenen Versuch, dem Schicksal der ersten Republik zu entgehen. Jedenfalls spricht vieles dafür, dass sowohl die Konstruktion des Grundgesetzes, aber auch die politische Kultur der »Bonner« und nun »Berliner« Republik wesentlich bessere Voraussetzungen für eine stabile Demokratie bieten als seinerzeit »Weimar«. Die Gründung der Bundesrepublik-- Druck von außen und-von-innen In welchem situativen Zusammenhang entstand die bundesrepublikanische Verfassung und inwiefern spiegelt sich der zeitliche Kontext im Ergebnis wider? Das Grundgesetz wurde 1949 unterzeichnet und trat noch im selben Jahr in Kraft. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Bundesrepublik lagen somit vier Jahre - vier Jahre, in denen bereits zahlreiche Vorentscheidungen getroffen wurden. In diesem Zeitraum stellte man die Weichen, die der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland den Weg bereiteten. Rahmenbedingungen Unter anderem folgende Faktoren trugen zur Gründung der zweiten deutschen Demokratie bei oder prägten sie entscheidend: ⚫ das Besatzungsregime und der Kalte Krieg, ⚫ die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges, ⚫ die Entnazifizierung, ⚫ die Entstehung politischer Systeme auf Länderebene, ⚫ die Wieder- oder Neuformierung der Parteien. »Bonn ist nicht Weimar« 1.2 1.2.1 <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 25 25 Die Gründung der Bundesrepublik-- Druck von außen und-von-innen Das Besatzungsregime und der Kalte Krieg Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die Alliierten, die Siegermächte, das Kommando in Deutschland. Die Souveränität Deutschlands wurde aufgehoben. Die »Großen Drei« (Churchill, Roosevelt, Stalin) teilten auf der Konferenz von Jalta (Februar 1945) Deutschland in Besatzungszonen und Berlin in Sektoren ein und planten, die Gebiete östlich von Oder und Neiße unter polnische bzw. sowjetische Administration zu stellen. Zwar hatte man eine einheitliche oder zumindest koordinierte Verwaltung der Besatzungszonen in Erwägung gezogen; in diesem Sinne wurde auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945), an der erstmals auch Frankreich teilnahm, ein »Alliierter Kontrollrat« eingerichtet. Schon bald aber kam es zu Konflikten zwischen den vier ehemaligen Kriegsverbündeten, insbesondere zwischen der Sowjetunion auf der einen Seite und den USA, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite. Im Winter und Frühjahr 1948 stellte sich deutlich heraus, dass es keine gemeinsame Deutschlandpolitik aller vier ehemaligen Kriegspartner mehr geben würde. Die westdeutschen Besatzungszonen wuchsen immer enger zusammen, wurden ökonomisch gestärkt und mit der D-Mark als neuer gemeinsamer Währung ausgestattet. Die Entwicklung der vierten, der sowjetisch besetzten Zone, koppelte sich sowohl wirtschaftlich als auch politisch von dem langsam entstehenden Weststaat ab. Die deutsche Teilung wurde zementiert. Die Besatzungsmächte waren an einer Konsolidierung ihrer Zonen sehr interessiert, da sich herauskristallisierte, dass mitten durch Deutschland eine neue globale Trennlinie verlaufen sollte: die zwischen »Ost« und »West«. Beginnend 1946 hatte sich eine neue bipolare Weltordnung entwickelt, die bis Ende der achtziger Jahre einigermaßen stabil bleiben sollte. Von dem »Eisernen Vorhang« (Winston Churchill) war die Rede, der sich quer durch Europa zog. Die USA und die Sowjetunion steckten ihre Territorien ab und sammelten Verbündete (und Satellitenstaaten) um sich. Deutschland geriet zwischen die Blöcke und wurde dabei geteilt. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges Der Zweite Weltkrieg hatte verheerende Folgen für die beteiligten Staaten. Auch in Deutschland lagen die Infrastruktur sowie die industrielle Produktion am Boden, Millionen Soldaten waren im Kampf gefallen oder befanden sich in Kriegsgefangenschaft. Wohnraum war in erheblichem Umfang insbesondere in den großen Städten zerstört worden. Es kam (vor allem in der sowjetisch besetzten Zone) zur großflächigen Demontage der industriellen Anlagen. Ein Wiederaufbau Deutschlands war ohne ausländische Unterstützung nicht denkbar. Gelder für die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen in Europa wurden im Rahmen des Marshall-Fonds von der 1.2.1.1 Zementierung der deutschen Teilung 1.2.1.2 Wiederaufbau mit ausländischer Unterstützung <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 26 26 Die zweite deutsche Demokratie US-amerikanischen Regierung bereitgestellt. Der sowjetische Einflussbereich lehnte die auch ihm angebotene US-Hilfe ab. Ziel der (west-)deutschen Politiker war es nicht zuletzt, einen stabilen Rahmen zu schaffen, der die Versorgung der Bevölkerung und den Wiederaufbau erleichtern sollte. Die ohnehin schwierige Lage verschärfte sich noch durch die vielen nach Westen strömenden Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Die Entnazifizierung In einer Zielsetzung waren sich die Alliierten frühzeitig einig geworden: Deutschland sollte vom Nationalsozialismus »gesäubert«, die nationalsozialistische Partei aufgelöst werden. Allerdings fiel die konkrete Entnazifizierungspolitik von Besatzungszone zu Besatzungszone unterschiedlich aus. Besonders radikale »Säuberungsmaßnahmen« fanden in der sowjetisch besetzten Zone statt. In den westlichen Zonen setzten sich nach einer Phase unterschiedlicher Vorgehensweisen die US-amerikanischen Standards durch. Dabei wurden verschiedene Grade der Verbundenheit mit dem NS-Regime definiert. Später bemängelte man, dass ein Teil der Funktionseliten aus dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik wieder in Ämter gekommen sei. Die Entnazifizierung sei nicht immer völlig konsequent durchgeführt worden. Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, vom 5. März 1946 - Auszüge Artikel 1 »(1) Zur Befreiung unseres Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus und zur Sicherung dauernder Grundlagen eines deutschen demokratischen Staatslebens im Frieden mit der Welt werden alle, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft aktiv unterstützt oder sich durch Verstöße gegen die Grundsätze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit oder durch eigensüchtige Ausnutzung der dadurch geschaffenen Zustände verantwortlich gemacht haben, von der Einflußnahme auf das öffentliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben ausgeschlossen und zur Wiedergutmachung verpflichtet. [...] Artikel 2 (1) Die Beurteilung des Einzelnen erfolgt in gerechter Abwägung der individuellen Verantwortlichkeit und der tatsächlichen Gesamthaltung; darnach wird in wohlerwogener Abstufung das Maß der Sühneleistung und der Ausschaltung aus der Teilnahme am öffentlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Volkes bestimmt mit dem Ziel, den Einfluß nationalsozialistischer und militaristischer Haltung und Ideen auf die Dauer zu beseitigen. 1.2.1.3 Wortlaut ▼ <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 27 27 Die Gründung der Bundesrepublik-- Druck von außen und-von-innen (2) Äußere Merkmale wie die Zugehörigkeit zur NSDAP, einer ihrer Gliederungen oder einer sonstigen Organisation sind nach diesem Gesetz für sich allein nicht entscheidend für den Grad der Verantwortlichkeit. Sie können zwar wichtige Beweise für die Gesamthaltung sein, können aber durch Gegenbeweise ganz oder teilweise entkräftet werden. Umgekehrt ist die Nichtzugehörigkeit für sich allein nicht entscheidend für den Ausschluß der Verantwortlichkeit.« Quelle: www.verfassungen.de/ bw/ wuerttemberg-baden/ befreiungsgesetz46.htm Die Entstehung politischer Systeme auf Länderebene Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden auf deutschem Boden Verwaltungseinheiten auf regionaler Ebene. In den Besatzungszonen wurden die Länder gegründet. Die ersten Landesverfassungen traten bereits im Dezember 1946 in Kraft. Beim Zuschnitt der Länder schloss man zum Teil an Gebietstraditionen an, zum Teil kam es zu Neubildungen. »Preußen« - darin waren sich die Alliierten einig - sollte als territoriale und politische Größe zerschlagen werden. In den neu gegründeten Ländern entstanden politische Systeme mit demokratisch gewählten Parlamenten und Regierungen, allerdings noch unter der strengen Daueraufsicht der Alliierten und mit wenig Souveränität. Aber es bildete sich politisches Führungspersonal heraus, aus dessen Kreis später die deutschen Politiker: innen kamen, die den Prozess der Staatenbildung mitgestalten sollten. Die Wieder- oder Neuformierung der Parteien Das nationalsozialistische Regime hatte die Parteienvielfalt der Weimarer Republik durch Gleichschaltung aufgehoben. 1945 war für die deutschen Parteien aber dennoch keine »Stunde Null« (außer auf Dauer für die NSDAP, die verboten wurde), denn nun galt es für die deutschen Politiker: innen, an Parteitraditionen anzuknüpfen (SPD, KPD) respektive auf der Grundlage der Weimarer Republik etwas Neues zu schaffen (CDU, FDP). 1946 sind in den westlichen Besatzungszonen die ersten Parteien wieder zugelassen worden. Räume für Parteipolitik boten in erster Linie die politischen Systeme der Länder. In den Landesparlamenten, den Landtagen, saßen Vertreter: innen der Parteien. Die Landesregierungen waren Parteiregierungen und die Ministerpräsidenten zentrale Figuren in ihren jeweiligen Parteien. Mit den Vertretern der Länder waren somit »Parteifunktionäre« an der Entstehung der bundesdeutschen Demokratie beteiligt - also Personen, die ihre jeweilige Perspektive, ihre Weltanschauungen und Strategien mit in die Diskussionen über die Verfassung des neuen deutschen Weststaates einbrachten. ▲ 1.2.1.4 Länderneugründung 1.2.1.5 Prägende Parteipolitiker <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 28 28 Die zweite deutsche Demokratie Der Pfad zum Grundgesetz Der Weg zum Grundgesetz wurde nicht zuletzt durch die Konflikte zwischen den ehemaligen Alliierten geebnet. Die Unmöglichkeit, ein gemeinsames Konzept für alle vier Besatzungszonen zu entwickeln, sowie der Wunsch, den eigenen »Vorposten« im Kalten Krieg zu stärken, führten zur westdeutschen Teilstaatslösung. Im Juni 1948 waren in der britischen Hauptstadt die ersten Weichen gestellt worden: Eine Sechs-Mächte-Konferenz (USA, Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten) verabschiedete die »Londoner Empfehlungen«. Die »Empfehlungen« sahen unter anderem eine internationale Kontrollbehörde für die Ruhr sowie den Aufbau einer politischen und wirtschaftlichen Ordnung in den westlichen Besatzungszonen vor. Die Vorschläge liefen letzten Endes auf die Gründung eines Staates hinaus. Marksteine auf dem Weg zur Bundesrepublik Januar 1947 Gründung der Bizone (Zusammenlegung der britischen und US-amerikanischen Zonen) 23. Februar-2. Juni 1948 Londoner Sechs-Mächte-Konferenz, »Londoner Empfehlungen« 1. Juli 1948 Übergabe der »Frankfurter Dokumente« 8.-10. Juli 1948 »Rittersturz«-Konferenz der westdeutschen Ministerpräsidenten 10.-23. August 1948 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee 1. September 1948-8. Mai 1949 Parlamentarischer Rat in Bonn Die »Londoner Empfehlungen« flossen in die »Frankfurter Dokumente« ein, die den Ministerpräsidenten der elf Länder in den westlichen Besatzungszonen von den Militärgouverneuren im Juli 1948 überreicht wurden. Die Dokumente beinhalteten die Aufforderung an die Regierungschefs der westdeutschen Länder, eine »verfassungsgebende Versammlung« einzuberufen mit dem Ziel, eine staatliche Struktur in den westlichen Zonen zu schaffen. Die Dokumente machten die Vorgabe, dass es sich um eine Regierungsform »des föderalistischen Typs« handeln sollte, die »die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentral-Instanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten« enthalten soll. Die Militärgouverneure behielten sich vor, bei Missfallen den vorgelegten Verfassungsentwurf abzulehnen. Das Notstandsrecht verblieb bei den Besatzungsmächten und be- 1.2.2 »Londoner Empfehlungen« Zeitleiste »Frankfurter Dokumente« <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 29 29 Die Gründung der Bundesrepublik-- Druck von außen und-von-innen stimmte Kompetenzen wurden der zu schaffenden deutschen Regierung nicht zuerkannt, z. B. die Entscheidungsgewalt in auswärtigen Angelegenheiten und in der Außenhandelspolitik. Die westdeutschen Ministerpräsidenten diskutierten die Weisung der Militärgouverneure auf einer Konferenz im Hotel »Rittersturz« bei Koblenz. Rundum glücklich waren die Beteiligten nicht. Man wollte vor allem keine Fakten für die Teilung Deutschlands schaffen und entwickelte entsprechende Änderungsvorschläge: Keine »verfassungsgebende Versammlung«, sondern ein »Parlamentarischer Rat« sollte einberufen werden, keine Verfassung, sondern ein »Grundgesetz« verabschiedet werden; dieses sollte nicht dem Volk zur Abstimmung, sondern den Landtagen zur Ratifizierung vorgelegt werden. Die Ministerpräsidenten konnten sich mit diesen Wünschen gegenüber den Militärgouverneuren durchsetzen. Ein vorbereitender Konvent von Politikern und Verfassungsrechtlern, der im August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee zusammenkam, erarbeitete einen Verfassungsentwurf für einen »Bund deutscher Länder«. Die Ministerpräsidenten beriefen in Folge einen »Parlamentarischen Rat« ein, der von September 1948 bis Mai 1949 auf der Grundlage der Herrenchiemsee-Vorlage beriet. Parlamentarischer Rat Dem Parlamentarischen Rat gehörten 65 stimmberechtigte Abgeordnete der westdeutschen Länder sowie fünf nicht-stimmberechtigte Abgeordnete aus West-Berlin an. Die Mitglieder wurden von ihren jeweiligen Landesparlamenten gemäß den entsprechenden Mandatsverteilungen gewählt. Die stärksten Fraktionen mit jeweils 27 Abgeordneten stellten CDU/ CSU und SPD, gefolgt von der FDP mit fünf Abgeordneten. Mit jeweils zwei Abgeordneten waren die Kommunistische Partei Deutschlands, die Deutsche Partei und das Zentrum vertreten. Unter den 70 Mitgliedern waren vier Frauen. Die erste Sitzung des Parlamentarischen Rates fand am 1. September 1948 in Bonn statt. Zu seinem Präsidenten wurde der 72-jährige Konrad Adenauer (CDU) gewählt. Vorsitzender des Hauptausschusses, des zentralen Arbeitsorgans des Rates, wurde Carlo Schmid (SPD). Die kontroversen Diskussionen im Parlamentarischen Rat drehten sich insbesondere um Fragen der Beziehung zwischen dem Bund und den Ländern, zum Beispiel um die Form der Vertretung der Länder auf Bundesebene oder um die Verteilung der Steuern zwischen Bundes- und Landesebene. Weitere Streitpunkte waren die Rolle des Staatsoberhauptes oder das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Parlamentarischer Rat statt verfassungsgebender Versammlung Verfassungskonvent auf-Herrenchiemsee Hintergrund <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 30 30 Die zweite deutsche Demokratie Die vom Parlamentarischen Rat schließlich verabschiedete Vorlage stieß auf Kritik seitens der Militärgouverneure. Letzten Endes konnten die Vorbehalte aber entkräftet werden. So wurde schließlich am 23. Mai 1949 in Bonn nach der Ratifikation durch die Landesparlamente (lediglich der bayerische Landtag lehnte den Entwurf ab) das Grundgesetz verkündet. Es trat am 24. Mai in Kraft. Die Grundprinzipien der deutschen Demokratie und-ihr-Schutz Jenseits aller Kontroversen in Detailfragen wurde man sich recht schnell über die Grundprinzipien der Verfassung einig. Im Grundgesetz, so wie es verkündet worden ist, sind einige »tragende Wände« eingezogen, die das politische System Deutschlands maßgeblich stützen. Grundprinzipien Die tragenden Verfassungsprinzipien finden sich komprimiert im Artikel 20 des Grundgesetzes (GG). Art. 20 GG (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) [...] Demnach gelten in Deutschland die Prinzipien (1) der Demokratie und Republik, (2) des Sozialstaates, (3) des Bundesstaates und (4) des Rechtsstaates. (1) Demokratie und Republik: Alle staatliche Gewalt legitimiert sich durch das Volk, »geht vom Volke aus«. Das demokratische Prinzip wird durch »Wahlen und Abstimmungen« umgesetzt; Politik soll nicht nur für das Volk gemacht, sondern auch vom Volk aktiv mitgestaltet werden. Das Verkündigung des-Grundgesetzes 1.3 1.3.1 Wortlaut ▼ ▲ Das Volk als-Souverän <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 31 31 Die Grundprinzipien der deutschen Demokratie und-ihr-Schutz Grundgesetz lehnt zudem das Modell einer Monarchie ab, die durchaus auch demokratisch sein kann (wie in Großbritannien oder in den Niederlanden). Als Staatsoberhaupt entschied man sich gegen einen Monarchen und für einen indirekt gewählten Bundespräsidenten oder eine indirekt gewählte Bundespräsidentin. (2) Sozialstaat: Die Bundesrepublik wird ausdrücklich als Sozialstaat, genauer als »sozialer Bundesstaat« bezeichnet. Abstrakt findet sich das sozialstaatliche Prinzip in dem ersten Artikel des Grundgesetzes wieder: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Mit der prominenten Platzierung des Schutzes der Persönlichkeit im ersten Grundgesetzartikel ist auf die Entwürdigungen im Nationalsozialismus reagiert und zugleich die Wertebasis für den Sozialstaat gelegt worden. Zu den Grundpfeilern des sozialen Staates gehören ferner der Schutz von Ehe und Familie sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Grundgesetz erwähnt überdies ausdrücklich die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. (3) Bundesstaat: Das Grundgesetz ist im Vergleich zu anderen Verfassungen deutlich »föderalistisch« geprägt. Es erlaubt den Ländern in einigen Bereichen Autonomie und bindet sie zugleich in Entscheidungen der Bundesebene ein. Die föderale Struktur des Grundgesetzes liegt nicht nur in der deutschen Tradition der »Kleinstaaterei« begründet. Hier spiegeln sich zudem die Interessen der Besatzungsmächte, keine zu starke nationalstaatliche Ebene zu schaffen, sondern diese in ein System »vertikaler« Gewaltenteilung einzubinden. Schließlich waren es Politiker: innen aus den bereits existierenden deutschen Ländern, die zur Schaffung des Grundgesetzes zusammenkamen und dabei die Existenz und Rolle der bestehenden Länder in dem neugeschaffenen Staat schützen wollten (→ Kapitel 10) . (4) Rechtsstaat: In einem Rechtsstaat darf es keine Willkür der Herrschenden geben. Das Recht steht über der Macht. In diesem Sinne legt der Artikel 20 ausdrücklich fest, dass alles staatliche Handeln auf Recht und Gesetz beruhen muss. Zur Rechtsstaatlichkeit gehören ferner noch die Teilung der Gewalten (soweit dies in einem parlamentarischen System überhaupt umgesetzt werden kann ( → Kapitel 6 )), die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gewährleistung der individuellen Freiheiten. Wie diese tragenden Wände konkret ausgestaltet werden, regelt das Grundgesetz in seinen weiteren Artikeln nur zum Teil. Es verbleibt eine Menge an Gestaltungsmöglichkeiten, beispielsweise bei der Frage des konkreten Wahlsystems oder der Wirtschaftsordnung. Dass jenseits der Konkretisierung die tragenden Wände nicht eingerissen werden können, ist im Grundgesetz festgeschrieben und führt zum Prinzip der wehrhaften oder streitbaren Demokratie. Sozialstaat Föderales System Rechtsstaatlichkeit <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 32 32 Die zweite deutsche Demokratie Wehrhafte Demokratie Eine der zentralen Lehren aus Weimar war es, die Demokratie und Freiheit vor ihren inneren Feinden zu schützen. Kein einfaches Projekt, das letztlich auf einen paradoxen Vorgang hinausläuft: Freiheiten müssen eingeschränkt werden, um die Freiheit zu verteidigen. Man spricht in dem Zusammenhang von einer wehrhaften oder streitbaren Demokratie, die ihren Feinden keine Zerstörungsmacht lassen will. Das Grundgesetz wird auf zwei Wegen geschützt: Zum einen wird verhindert, dass die Grundprinzipien ohne Weiteres geändert werden können. Zum anderen kann aktiv gegen diejenigen vorgegangen werden, die versuchen die Verfassungsordnung zu beseitigen. Grundgesetzänderungen und Ewigkeitsklausel Der Artikel 79 GG legt einer substanziellen Änderung des Grundgesetzes Steine in den Weg. Dort wird zum einen festgelegt, wie das Grundgesetz überhaupt geändert werden darf: nur auf dem Gesetzesweg. Ein entsprechendes Gesetz zur Änderung der Verfassung erfordert eine Zwei-Drittel- Mehrheit im Bundestag sowie eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat. Zum anderen macht der Absatz 3 des Artikels 79 klar, dass an der Substanz des Grundgesetzes nicht gerüttelt werden darf. In diesem Zusammenhang spricht man von der »Ewigkeitsklausel«. Art. 79 GG (1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. [...] (2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. (3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig. Die föderale Struktur sowie die »grundsätzliche Mitwirkung« der Länder auf der Bundesebene lassen sich nicht aufheben. Ebenso wenig dürfen die Grundsätze des Artikel 1 (Würde des Menschen) sowie des Artikel 20 (Demokratie, Republik, Sozialstaat, Bundesstaat, Rechtsstaat) angetastet werden. Die Bundesstaatlichkeit wird somit doppelt geschützt. 1.3.2 1.3.2.1 Wortlaut ▼ ▲ Unantastbare Prinzipien des Grundgesetzes <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 33 33 Die Grundprinzipien der deutschen Demokratie und-ihr-Schutz Die Ewigkeitsklausel ist eine deutliche Abkehr von dem (unterstellten) Weimarer Rechtspositivismus. Nicht alle Elemente der Verfassung stehen zur Disposition. Allerdings gibt es doch noch eine Möglichkeit der substanziellen »Änderung« des Grundgesetzes: die Verabschiedung einer neuen Verfassung. So verliert das Grundgesetz gemäß Artikel 146 an dem Tag seine Gültigkeit, »an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist«. Keine Freiheit für die Verfassungsfeinde Das Grundgesetz erlaubt den Kampf gegen die Feinde der Verfassungsprinzipien. In einer Reihe von Grundgesetzbestimmungen ist festgelegt, wie Personen oder Vereinigungen ihre grundgesetzlich verbürgten Rechte verlieren können, falls sie als Ziel die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung der vom Grundgesetz geschaffenen Gesellschafts- und Staatsordnung, der »Freiheitlich-demokratischen Grundordnung« (FDGO), verfolgen. So können Vereine von den Innenministerien oder Parteien vom Bundesverfassungsgericht verboten werden, sofern sie nachweislich verfassungswidrig sind. Auch Einzelpersonen laufen Gefahr, dass sie einige ihrer Grundrechte verwirken, wenn sie aggressiv gegen die FDGO vorgehen. Neben diesen Regelungen gibt es weitere Instrumente der wehrhaften Demokratie. Beispielsweise dienen die Verfassungsschutzdienste der Länder und des Bundes der frühzeitigen Erkennung und kontinuierlichen Beobachtung von Personen und Gruppierungen, die gegen die FDGO kämpfen. Eine umstrittene Regelung stellte der so genannte Radikalenerlass dar. Er hatte die Aufgabe, zu verhindern, dass Verfassungsfeinde den öffentlichen Dienst unterwandern. Der Radikalenerlass ist heftig kritisiert worden, auch weil sich seine konkrete Umsetzung als schwierig erwiesen hat. 1.3.2.2 Verteidigung der Freiheitlichdemokratischen Grundordnung »Freiheitlich-demokratische Grundordnung« FDGO Achtung vor den Menschenrechten Volkssouveränität Gewaltenteilung Verantwortlichkeit der Regierung Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Unabhängigkeit der Gerichte Mehrparteienprinzip Chancengleichheit der Parteien Recht auf Opposition Abb. 2 Elemente der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO) Quelle: BVerfGE 2, 1 (12 f.) <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 34 34 Die zweite deutsche Demokratie Radikalenerlass Der »Radikalenerlass« war ein Beschluss des Bundes und der Regierungschefs der Länder vom 28. Januar 1972. Die offizielle Bezeichnung lautet »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«. Das Dokument hatte folgenden Inhalt: Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er/ sie jederzeit für die Freiheitlichdemokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Verbeamtete Personen seien verpflichtet, sich innerhalb und außerhalb des Dienstes aktiv für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. Gehört ein/ e Beschäftigte/ r des öffentlichen Dienstes einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründe diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob diese Person für die FDGO eintreten wird. In den vergangenen Jahren ist kontrovers über das Thema »Verfassungstreue« bei der Einbürgerung in die Bundesrepublik diskutiert worden. Mittlerweile findet bei Personen, die einen Antrag auf Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft stellen, eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz statt. Umstritten sind andere Formen der Überprüfung der Verfassungstreue bei der Einbürgerung, beispielsweise mithilfe von entsprechenden Fragebögen. Das Staatsangehörigkeitsgesetz sieht jedenfalls vor, dass sich Ausländer: innen vor einer Einbürgerung ausdrücklich zur Freiheitlichdemokratischen Grundordnung bekennen müssen. Die deutsche Teilung als »befristete Konstante« Die westdeutschen Ministerpräsidenten ahnten, dass mit der Gründung eines Weststaates die Teilung zwischen der westlichen und der östlichen Besatzungszone zumindest vorläufig zementiert würde. Deswegen waren die Väter und Mütter der Verfassung darauf bedacht, in der Art und Weise der Gründung eines westdeutschen Staates die Vereinigungsoption nicht aus dem Blick geraten zu lassen. In der Präambel, aber auch in vielen anderen Artikeln wurden ausdrücklich das Ziel und die Möglichkeit der Deutschen Einheit berücksichtigt. Der Artikel 23 GG in seiner ursprünglichen Form hielt eine Tür für die ostdeutschen Gebiete offen, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Der bereits erwähnte abschließende Artikel 146 betonte überdies die Vorläufigkeit des Grundgesetzes: Es könne von einer Verfassung abgelöst werden, die vom (gesamten) deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen wird. Hintergrund Verfassungstreue bei -Einbürgerung 1.4 <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 35 35 Die deutsche Teilung als »befristete Konstante« Art. 23 GG (alt) Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen. (ursprüngliche Fassung, aufgehoben durch das Einigungsvertragsgesetz vom 23.9.1990) All diese Bemühungen konnten das angesichts der Blockkonfrontation womöglich Unvermeidliche nicht verhindern: dass parallel zur Gründung der Bundesrepublik in der sowjetischen Besatzungszone ein ostdeutscher Staat entstand, die Deutsche Demokratische Republik. Als sich in den westlichen Besatzungszonen erste Tendenzen zur Staatsgründung abzeichneten, wurde in der sowjetisch besetzten Zone auf Betreiben der Besatzungsmacht der »Deutsche Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden« ins Leben gerufen, der sich dem äußeren Anschein nach die Aufgabe stellte, eine gesamtdeutsche Lösung zu erarbeiten. Der Zweite Volkskongress vom März 1948 setzte den »Deutschen Volksrat« ein und beauftragte ihn, eine Verfassung zu entwerfen, was dieser bis Ende Oktober 1948 auch bewerkstelligte. Dieser Verfassungsentwurf wurde vom dritten, diesmal über Einheitslisten gewählten Volkskongress bestätigt. Auf Beschluss des Zweiten Deutschen Volksrates, der vom Volkskongress eingesetzt worden war und der sich am 7. Oktober 1949 konstituierte, wurde die Verfassung der DDR in Kraft gesetzt. Wortlaut ▼ ▲ Entstehung der Deutschen Demokratischen Republik Marksteine der DDR-Gründung 6./ 7. Dezember 1947 Erster Deutscher Volkskongress 17./ 18. März 1948 Zweiter Deutscher Volkskongress 22. Oktober 1948 Erster Deutscher Volksrat legt Verfassungsentwurf vor 29. Mai-3. Juni 1949 Dritter Deutscher Volkskongress (über Einheitslisten gewählt) 7. Oktober 1949 Zweiter Deutscher Volksrat konstituiert sich, Proklamation der Deutschen Demokratischen Republik Zeitleiste <?page no="36"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 36 36 Die zweite deutsche Demokratie Nach außen hin erschien die DDR als ein Staat, der demokratischen Grundsätzen entsprach. Ein direkt gewähltes Parlament (die Volkskammer) trug die Regierung (den Ministerrat und den Staatsrat) und wählte das Oberste Gericht. Die Prinzipien der freiheitlichen Demokratie wurden in der Praxis jedoch nicht umgesetzt - statt freier Wahlen bot man den Bürger: innen nur Einheitslisten. Neben anderen Regelungen sicherte das Wahlverfahren die Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) über den gesamten politischen Prozess. Somit waren die SED-Führungsgremien, das Politbüro und das Zentralkomitee, sowie der jeweilige Erste Sekretär/ Generalsekretär (Walter Ulbricht von 1950-1971, Erich Honecker von 1971- 1989) die Machtzentren des DDR-Systems. Parteiführung und Staatsführung waren eng miteinander verzahnt. Ein offener Parteienwettbewerb, freie Wahlen, die Möglichkeit der ungehinderten Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit - all dies gab es in der DDR nicht. Eine besonders unrühmliche Rolle bei der Stabilisierung des Regimes spielte das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit (»Stasi«). Dieses hatte die Aufgabe, die Herrschaft der SED nach innen und außen abzusichern. Es tat das mit einem verzweigten Netz an Spitzeln und Informant: innen und mit Methoden, die weit entfernt von rechtsstaatlichen Standards lagen. Auf deutschem Boden existierten somit zwei antagonistische Staaten, jeweils eingebunden in einen der beiden gegnerischen Weltblöcke. Nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich-kulturell und wirtschaftlich gingen Übermacht der SED Berliner Mauer © Bergmoser + Höller AG Abb. 3 Das politische System der DDR <?page no="37"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 37 37 Die deutsche Teilung als »befristete Konstante« Ost- und Westdeutschland getrennte Wege. Diese Trennung verstärkte sich noch durch den Bau der Mauer 1961 und die weitreichenden Reiseeinschränkungen. Die Isolierung wurde im Laufe der Zeit, insbesondere in Folge der bundesdeutschen Ostpolitik der Großen Koalition (1966-69) und dann der SPD/ FDP- Koalition nach 1969 immer mehr aufgeweicht. Die Möglichkeiten der Begegnung und des Austausches wurden nach und nach geweitet. Diese Politik setzte auch die CDU/ FDP-Regierung unter Helmut Kohl in den 1980er Jahren fort. Überhaupt führten die sozio-ökonomischen und politischen Entwicklungen zu einem Wandel, der in den achtziger Jahren den gesamten Ostblock ergriff. Nach und nach wurden die sozialistischen Herrschaftssysteme Mittel- und Osteuropas demontiert, zum Teil als Folge einer Revolution von unten, zum Teil durch »Revolutionen« von oben. Die DDR gehörte zu den letzten Staaten, die bis in das Jahr 1989 hinein an der sozialistischen Herrschaftsstruktur festhielten - um sie dann umso schneller loszulassen. Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 war der Weg frei für die Wiedervereinigung, wenn auch noch eine Reihe von teils erheblichen innenpolitischen und außenpolitischen Steinen aus dem Weg geräumt werden musste. Der innere Druck nötigte die Führung der DDR, mit den Reformkräften zusammenzuarbeiten: Ab Dezember 1989 kam die DDR-Regierungsspitze auf Einladung der Kirche zu Gesprächen mit der Opposition zusammen (»Runder Tisch«). Parallel ging die bundesdeutsche Regierung Kohl-Genscher mit dem so genannten Zehn-Punkte-Plan kurz nach dem Mauerfall in die Offensive. Dieser Plan, der nicht mit den westlichen Partnern abgesprochen war, sah als letzte Stufe eines Prozesses der Annäherung die Vereinigung der beiden Staaten vor. Eine Zweistaatlichkeit war jedoch am Ende des Jahres 1989 immer noch ein denkbares Zukunftsmodell - insbesondere für die Bürgerrechtsbewegungen, die mit ihren Protesten maßgeblich zum Ende des SED-Regimes beigetragen hatten und für eine Reform des bestehenden Systems eintraten. Bei den ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer im März 1990 siegten aber die Unionsparteien deutlich und in der DDR wuchs der Druck zur Deutschen Einheit erheblich, zumal sich die Konsequenzen der sozialistischen Misswirtschaft immer drastischer zeigten. Der innere Drang hin zur Deutschen Einheit stieß jedoch auf Vorbehalte, insbesondere in Frankreich und Großbritannien sowie zunächst auch in der Sowjetunion. Die sowjetische Zustimmung erfolgte im Juli 1990 während eines legendären Besuchs des Kanzlers Kohl bei dem damaligen sowjetischen Staatschef Michael Gorbatschow im Kaukasus. Das Einverständnis der ehemaligen West-Alliierten konnte mit klaren Bekenntnissen zur europäischen Integration und politisch-ökonomischen Zugeständnissen gewonnen werden. Ostpolitik Fall der Mauer Auf dem Weg zur Deutschen Einheit <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 38 38 Die zweite deutsche Demokratie Rechtlich wurde die Deutsche Einheit mit dem Staatsvertrag zur Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (Mai 1990) sowie mit dem Einigungsvertrag vom August 1990 vollzogen. Für die außenpolitische Absicherung sorgte der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990. Der Weg zum Fall der Mauer 1989 2. Mai die ungarische Regierung beginnt, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen; in der Folgezeit versuchen Hunderte von DDR-Bürger: innen über Ungarn in den Westen zu gelangen 19. August im Rahmen des »Paneuropäischen Picknicks« kommt es zu einer Massenflucht von DDR-Bürger: innen nach Österreich 11. September vollständige Öffnung der ungarischen Grenze ohne vorherige Absprache mit der DDR-Führung; es kommt zu einer Ausreisewelle von ca. 30.000 Personen ab 4. September in Leipzig finden wöchentlich im Anschluss an das Friedensgebet die Montagsdemonstrationen statt 30. September 5.500 DDR-Bürger: innen, die in die Prager Botschaft der BRD geflohen waren, erhalten die Erlaubnis zur Ausreise in den Westen 6./ 7. Oktober den offiziellen Festakt zum 40-jährigen Bestehen der DDR begleiten in Berlin und anderen Städten teils massive Proteste 9. Oktober in Leipzig demonstrieren 70.000 Menschen für eine demokratische Erneuerung der DDR 18. Oktober Erich Honecker wird »auf eigenen Wunsch« von allen politischen Ämtern entbunden, Egon Krenz wird neuer Generalsekretär der SED 4. November ca. eine Million Teilnehmende demonstrieren auf dem Berliner Alexanderplatz für Demokratie in der DDR 9. November Fall der Berliner Mauer; vorausgegangen war eine Pressekonferenz, auf der der SED-Funktionär Günther Schabowski die faktisch freie Ausreisemöglichkeit für DDR-Bürger: innen bekannt gab Zeitleiste <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 39 39 Die deutsche Teilung als »befristete Konstante« Die ostdeutschen Länder traten am 3. Oktober 1990 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 (alte Fassung) bei. Allerdings gab es eine intensive Debatte darüber, ob nicht ein anderer Weg, nämlich der über den Artikel 146, die bessere Option gewesen wäre: die Schaffung einer neuen Verfassung für das ganze deutsche Volk. Die Beitrittsvariante erschien den maßgeblichen Protagonist: innen - nicht zuletzt wegen des sich außenpolitisch schließenden Zeitfensters für eine Vereinigung - als bester, sicherster und unkompliziertester Weg. Allerdings erweckte das Vorgehen, die Rechtsordnung der Bundesrepublik auf die Gebiete der DDR zu übertragen, bei vielen den Eindruck, der Osten sei im Vereinigungsprozess »geschluckt« worden. Die Überwindung der Teilung Deutschlands hatte vier Jahrzehnte auf sich warten lassen. Als sich Ende der achtziger Jahre das Tor zur Vereinigung öffnete, musste man erkennen, dass sich zwei ungleiche Geschwister wiederbegegneten. Vor allem die infrastrukturelle und wirtschaftliche Situation der ostdeutschen Bundesländer erwies sich als große Herausforderung. Die Folgen der deutschen Teilung sind immer noch zu spüren - auch im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Darauf geht bereits das nächste Kapitel ein, das sich mit der politischen Kultur in der Bundesrepublik auseinandersetzt. Dabei sind auch auffällige Unterschiede zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern ein Thema. 1 Welche Rolle spielten die Weimarer Erfahrungen bei der Entwicklung der bundesdeutschen Verfassung? 2 Welche zeitlichen Rahmenbedingen wirkten sich wie auf die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland aus? 3 Worin drückte sich die von westdeutscher Seite gewünschte »Vorläufigkeit« der Staatsgründung aus? 4 Was sind die fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes? Stehen diese im Widerspruch zueinander? 5 In welchen konkreten Bestimmungen schlägt sich das Prinzip der wehrhaften Demokratie nieder? 6 Welche alternative Möglichkeit zur Herbeiführung der Deutschen Einheit hätte es gegeben? Was waren die Vor- und Nachteile der gewählten Option? Beitritt der ostdeutschen Länder Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="40"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 40 40 Die zweite deutsche Demokratie Literatur Standardeinführungen in die Weimarer Republik bieten Eberhard Kolb/ Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 9. Aufl., München, Oldenbourg 2022 , sowie kurz und knapp Gunther Mai: Die Weimarer Republik, 3. Aufl., München, Beck, 2018. In die Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland führen ein: Wolfgang Benz: Wie es zu Deutschlands Teilung kam. Vom Zusammenbruch zur Gründung der beiden deutschen Staaten, München, Dtv 2018 , sowie Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn, UTB 1998. Als komprimierte Lektüre zur bundesdeutschen Verfassung bietet sich an: Christoph Möllers: Das Grundgesetz. Geschichte und Inhalt, 3. Aufl., München, Beck 2019. Zur Arbeit des Parlamentarischen Rates liegt eine umfangreiche Dokumentensammlung von Originalquellen in mehreren Bänden vor: Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hg.): Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, München, Oldenbourg 1996 , sowie die Studie Michael F. Feldkamp: Der Parlamentarische Rat 1948-1949, die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2019 . Bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist ein Kommentar zum Grundgesetz erhältlich: Christof Gramm/ Stefan Pieper: Grundgesetz. Bürgerkommentar, 3. Aufl., Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2015. Einen Überblick über den Aufstieg und Niedergang der Deutschen Demokratischen Republik bietet: Ulrich Mählert: Kleine Geschichte der DDR, 7. Aufl., München, Beck 2010. Ein weiteres Standardwerk zur Geschichte des ostdeutschen Staates stellt dar: Hermann Weber: Die DDR 1945-1990, 5. Aufl., München, Oldenbourg 2012. Die deutsch-deutsche Geschichte von 1945 bis zur Einheit thematisiert: Petra Weber: Getrennt und doch vereint: Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/ 90, 2. Aufl., Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2020. Mit der Geschichte der Deutschen Einheit beschäftigt sich kurz und knapp: Andreas Rödder: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, 4. Aufl., München, Beck 2022 . Als Nachschlagewerk zum Thema deutsche Teilung und Deutsche Einheit empfiehlt sich immer noch: Werner Weidenfeld/ Karl-Rudolf Korte (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit 1949-1989-1999, Frankfurt a. M., Campus 1999. Links www.verfassungen.de Auf dieser Seite finden sich, nach einigem Klicken, neben zahlreichen weiteren Verfassungen auch die Weimarer Reichsverfassung, der »Herrenchiemsee-Entwurf«, das Grundgesetz sowie die Verfassung der DDR in ihren verschiedenen Versionen. <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 41 41 Links www.documentarchiv.de Dieses Web-Archiv stellt zahlreiche zeithistorische Dokumente rund um die im Kapitel dargestellten historischen Ereignisse zur Verfügung. www.bpb.de Auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung sind viele einführende Texte zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus sowie zur Besatzungszeit und zur deutschen Teilung abrufbereit. www.dhm.de/ lemo Das Deutsche Historische Museum und das Haus der Geschichte bieten auf einer gemeinsamen Website in der Rubrik »Lebendiges Virtuelles Museum Online« (LeMO) zahlreiche anschauliche Informationen über die Weimarer Republik, das Dritte Reich sowie die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland an. www.chronikderwende.de Diese vom »Radio Berlin-Brandenburg online« gepflegte Seite präsentiert einen historischen Abriss der Ereignisse rund um die Deutsche Einheit sowie ein großes Archiv mit Ton-, Bild- und Textdokumenten. <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 42 42 Die repräsentative Demokratie - zwischen Mitmachen und Zuschauen »Partizipation« oder »Beteiligung« - dies sind zentrale Begriffe der Demokratie. Das Mitmachen der Bürger: innen wird immer wieder als eine unverzichtbare Facette jeder demokratischen Gesellschaft bezeichnet. Allerdings ist man sich nicht darüber einig, wie weit die Einbindung der Menschen in den politischen Entscheidungsprozess bestenfalls reichen sollte. In diesem Kapitel sollen die Möglichkeiten sowie die Wirklichkeit politischer Partizipation in der Bundesrepublik angesprochen werden - und was dies über die politische und demokratische Kultur in Deutschland aussagt. Zur Vermessung der Beteiligungschancen ist im ersten Abschnitt auf eine grundlegende Weichenstellung einzugehen, nämlich auf den »super-repräsentativen« Charakter der deutschen Verfassung (Ernst Fraenkel), also das weitgehende Fehlen von direktdemokratischen Instrumenten auf Bundesebene. Die zentrale Beteiligungchance in diesem überwiegend repräsentativen System bieten die regelmäßig stattfindenden Wahlen. Wahlen und Wählende stehen deswegen im zweiten Abschnitt im Fokus. Dabei richtet sich der Blick auf das Wahlsystem und das Wahlverhalten. Aber nicht nur bei Wahlen, sondern auch auf vielfältig andere Arten und Weisen können die Menschen am politischen Prozess teilnehmen. Wie die Vielfalt an denkbaren Beteiligungsmöglichkeiten sortiert werden kann, ist Thema des dritten Abschnitts. Form und Ausmaß der politischen Beteiligung sind eine Facette der »politischen Kultur« eines Landes. Des Weiteren gehören die Einstellungen der Bevölkerung zur Demokratie und zu den politischen Institutionen dazu. Mit den Erscheinungsformen und dem Wandel der politischen Kultur in Deutschland setzt sich der abschließende Abschnitt auseinander - auch mit der Frage, wie stabil die zweite deutsche Demokratie zu sein scheint. Jedenfalls malen einige Umfrageergebnisse Zeichen an die Wand, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. 2 Inhalt <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 43 43 Entscheidung für eine »super-repräsentative Verfassung« 2.1 Entscheidung für eine »super-repräsentative Verfassung« 2.2 Wahlen und Wählende 2.3 Sonstige Formen der politischen Beteiligung 2.4 Politische Kultur in Deutschland: »Pudding« im Wandel Entscheidung für eine »super-repräsentative Verfassung« Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Wie die Volkssouveränität in einem politischen System umgesetzt wird, darauf gibt es wiederum unterschiedliche Antworten. Idealtypisch gesehen können zwei grundlegend verschiedene Wege beschritten werden: (1) Die Bürger: innen vertreten sich selbst und nehmen unmittelbar am politischen Gesetzgebungsprozess teil. Diese »identitäre« oder »partizipative« Demokratievariante geht unter anderem auf die Überlegungen des französischen Denkers Jean-Jacques Rousseau zurück, der in seinem Modell jede Form der »Veräußerung« der Souveränität weg von den Menschen abgelehnt hat. (2) Die Bürger: innen werden durch Repräsentanten vertreten, die an ihrer Stelle (und in ihrem Interesse) verbindliche Entscheidungen fällen. Hauptorgane der repräsentativen Demokratien sind Parlamente oder auch direkt gewählte Präsident: innen. Moderne Flächenstaaten können auf repräsentative Körperschaften nicht verzichten. In allen zeitgenössischen Demokratien finden sich direkt gewählte Parlamente. Dies gilt auch für die Schweiz, die gelegentlich als »direkte Demokratie« wahrgenommen wird: Aber auch bei den Eidgenossen wird ein Großteil der Gesetzgebungsarbeit von repräsentativen Körperschaften, nämlich vom Stände- und Nationalrat, geleistet. Der Schweizer Fall macht jedoch auch deutlich, dass sich Systeme durchaus darin unterscheiden, inwieweit die repräsentativen Verfahren durch direktdemokratische ergänzt oder teilweise ersetzt werden. In der Schweiz unterliegen alle Gesetze dem Referendumsvorbehalt: Auf Antrag einer hinreichend großen Unterzeichnergruppe kann über jedes verabschiedete Gesetz ein Volksentscheid abgehalten werden. Auch in einer Reihe anderer Staaten finden sich mehr oder weniger ausgebaute Möglichkeiten der unmittelbaren Demokratie. 2.1 Partizipatives versus repräsentatives Modell <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 44 44 Die repräsentative Demokratie In einer Einstufung europäischer Länder entlang ihrer Offenheit für direktdemokratische Verfahren aus den 2000er Jahren wird Deutschland zur Gruppe der »Ängstlichen« gezählt, weit entfernt von »Avantgardisten« wie der Schweiz. Seitdem hat sich die Situation nicht verändert. So ist die Bundesrepublik immer noch ein Sonderfall mit ihrer - wie der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel es nannte - »super-repräsentativen« Verfassung. Zwar ist im Artikel 20 des Grundgesetzes ausdrücklich von »Wahlen und Abstimmungen« die Rede. »Abstimmungen« über konkrete Sachfragen sieht das Grundgesetz gleichwohl nur in Ausnahmefällen vor. Einen solchen Ausnahmefall stellt zum Beispiel die Zusammenlegung von Bundesländern dar. Artikel 29 regelt, dass im Falle einer Neugliederung des Bundesgebietes die entsprechende Maßnahme einer Bestätigung durch Volksentscheid bedarf. Auf Landes- und kommunaler Ebene sind direktdemokratische Verfahren mittlerweile durchweg etabliert - wenngleich in unterschiedlicher Ausgestaltung (→ Kapitel 10) . Volksentscheid, -begehren, -initiative - Als Volksentscheide werden verbindliche Abstimmungen über Sachfragen (z. B. Gesetze) bezeichnet, an der alle wahlberechtigten Staatsbürger: innen teilnehmen können. Der Begriff Referendum wird üblicherweise synonym benutzt. - Mit Plebisziten sind Volksentscheide gemeint, die von Staatsoberhaupt, Regierung oder Parlament anberaumt werden können. - Ein Volksbegehren ist ein aus der Mitte des Staatsvolkes stammender Antrag auf Durchführung eines Volksentscheids. - Als Volksinitiative wird ein von einer Anzahl von Bürger: innen getragener Gesetzesvorschlag bezeichnet, der in das parlamentarische Verfahren eingebracht wird. Auf der Bundesebene sind die Bürger: innen jedoch weder an der alltäglichen Gesetzgebung, noch an Verfassungsänderungen, noch an Entscheidungen über sonstige grundlegende Fragen unmittelbar beteiligt. Die Zurückhaltung des Parlamentarischen Rates in Sachen »direkter Demokratie« ist eine - durchaus diskutable - Lehre aus Weimar. So hatte die Weimarer Reichsverfassung Volksbegehren und Volksentscheide unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Allerdings ist von diesem Instrument vergleichsweise selten Gebrauch gemacht worden: Es gab insgesamt sieben Volksbegehren, die zu zwei Volksentscheiden führten (1926: »Fürstenenteignung«, 1929: »Young- Direktdemokratische Verfahren sind Ausnahmen Definition ▼ ▲ <?page no="45"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 45 45 Entscheidung für eine »super-repräsentative Verfassung« Plan«). Beide Volksentscheide erzielten nicht das von den Antragsstellenden erwartete Ergebnis. Allerdings wussten sich die anti-demokratischen Kräfte mithilfe der Propaganda rund um die Volksbegehren in die öffentliche Aufmerksamkeit zu katapultieren. Die Zurückhaltung der Väter und Mütter des Grundgesetzes bezüglich direkter Demokratie ist aber auch der Nachkriegssituation geschuldet. Angesichts defizitärer Verwaltungsstrukturen konnte man sich die Durchführung eines Volksbegehrens oder -entscheids nicht wirklich vorstellen. Die Grundentscheidung für ein »super-repräsentatives« System ist immer wieder kontrovers diskutiert worden. Es hat zahlreiche Initiativen gegeben, dies zu verändern und das bundesdeutsche Verfassungssystem um Elemente direkter Demokratie zu erweitern. Das Thema tauchte bei den großen Reformberatungen der siebziger und neunziger Jahre auf. In den vergangenen Legislaturperioden sind immer wieder Vorlagen in die Beratung eingebracht worden, die eine Einführung von Volksentscheid, Volksbegehren und Volksinitiative vorsahen. Die Zwei-Drittel-Mehrheit, die für eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes erforderlich wäre, konnte jedoch bislang nicht organisiert werden. Die Gegner: innen der Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene unterstreichen unter Diskussion um-Erweiterung der-superrepräsentativen Verfassung Tab. 2 Argumente pro und kontra direkte Demokratie Pro mehr direkte Demokratie: Kontra mehr direkte Demokratie: stärkere Möglichkeit der Einflussnahme durch die Bürger: innen setzt einen hohen Partizipationswillen der Bürger: innen voraus, der nicht vorhanden ist Wandel der politischen Kultur Deutschlands hin zu einer Bürgerdemokratie Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie unmittelbare Einbindung der Bevölkerung führt zu besseren Lösungsansätzen einfache, aber falsche Antworten werden den problemangemessenen gegenüber bevorzugt größere Akzeptanz von Entscheidungen Ausgleich von Interessen wird erschwert Verminderung von »Klientelentscheidungen« (kein Übergewicht der-Einzelinteressen) stark am »Mehrheitswillen« ausgerichtet (Problem des Minderheitenschutzes) Abbau der Parteienherrschaft Stärkung populistischer Parteien Bürgereinbindung stabilisiert die-Demokratie Parlament kann sich aus der-Verantwortung stehlen politisches Interesse und Wissen der Bürger: innen werden gesteigert Bürger: innen sind nicht hinreichend fachkompetent öffentliche und private Debatten über politische Fragen werden angeregt Manipulation durch Medienberichterstattung und Social Media Gründlichkeit statt Schnelligkeit direktdemokratische Verfahren sind zeitaufwändig und kostspielig <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 46 46 Die repräsentative Demokratie anderem die Unvereinbarkeit von parlamentarischen Entscheidungen und direktdemokratischen Instrumenten. Außerdem drohten - so die Befürchtung - populistische Gefahren. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf die britische Brexit-Entscheidung von 2016 verwiesen. Befürworter wiederum sehen in direktdemokratischen Verfahren die Chance, der politischen Apathie und Verdrossenheit entgegenzuwirken und dadurch die repräsentative Demokratie zu stärken. Die Argumente bewegen sich größtenteils im Bereich des Spekulativen: Man kann nicht genau kalkulieren, welche Wirkungen eine solch grundlegende Systemveränderung wie die Einführung direktdemokratischer Elemente mit sich bringen würde. Der Blick auf andere Staaten macht zwar auf mögliche Chancen und Probleme aufmerksam. Am Ende bleiben aber die Konsequenzen einer Einführung direktdemokratischer Verfahren unklar, weil diese auch von den spezifischen Kontextbedingungen abhängen. Von den Erfahrungen anderer Systeme kann man nur begrenzt lernen. Wahlen und Wählende Wenn auch die Deutschen auf Bundesebene nicht über konkrete Gesetzgebungsinitiativen entscheiden können, so doch über das Personal, das anstelle ihrer entscheiden darf. Zur Wahl steht regelmäßig, mindestens alle vier Jahre, der Deutsche Bundestag. Das Parlament ist das einzige Organ der Bundesebene, das direkt vom Volk gewählt wird. Vorschläge, den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin durch das Volk wählen zu lassen, haben einen eher exotischen Charakter. Ihre Umsetzung würde das deutsche Regierungssystem fundamental verändern. Eine Volkswahl des/ der Bundespräsidenten/ in, wie sie auch von durchaus seriöserer Seite gelegentlich erwogen worden ist, gelangte bislang nicht in die Nähe einer aussichtsreichen Gesetzesinitiative. Insofern wird es wohl bei der Monopolstellung des Bundestages bleiben, was die direkte Wahl betrifft. Verfahren der Bundestagswahl Die Artikel 38 und 39, die ersten beiden »Bundestagsartikel« des Grundgesetzes, wenden sich der Parlamentswahl und ihren Verfahrensprinzipien zu. Die Abgeordneten des Bundestages werden auf vier Jahre gewählt, wenn es nicht zu einer vorzeitigen Auflösung des Hauses kommt. Die Wahlen zum Bundestag müssen allgemein, gleich, direkt, frei und geheim sein. ⚫ allgemein: Das Wahlrecht steht allen Bürger: innen zu. Niemand mit deutscher Staatsbürgerschaft darf wegen Geschlechts, sexueller Orientierung, 2.2 2.2.1 Allgemeine, gleiche, direkte, freie und geheime Bundestagswahlen <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 47 47 Wahlen und Wählende ethnischer Abstammung, Sprache, Einkommens und Besitzes, Bildung und Berufs, Standes und Konfession von der Wahl ausgeschlossen werden. Das Wahlrecht kann nur durch einen richterlichen Beschluss entzogen werden. Alleine eine systematische Ausgrenzung ist festgelegt: Wer jünger als 18 Jahre alt ist, darf bislang nicht an Bundestagswahlen teilnehmen. ⚫ gleich: Die abgegebenen Stimmen dürfen nicht gewichtet werden. Es gilt »one person - one vote«: Jedes Votum zählt gleich viel (»identischer Zählwert«). Jedoch kann das Wahlsystem dazu führen, dass Stimmen bei der Umrechnung in Mandatsanteile an Wert und Wirkung verlieren, beispielsweise wenn Stimmen für solche Parteien wegfallen, die eine gesetzte Hürde nicht übersprungen haben (»ungleicher Erfolgswert«). ⚫ direkt: Mit ihren Stimmen sollen die Bürger: innen unmittelbar über die Besetzung des Bundestages mitentscheiden können. Keine Zwischenebene darf das Votum der Wählenden relativieren oder gar verfälschen. Eine Einrichtung wie ein Wahlleutegremium (vergleichbar dem »electoral college« in den USA) wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. ⚫ frei: Es muss die Möglichkeit geben, effektiv zwischen unterschiedlichen antretenden Parteien oder Personen wählen zu können. Einheitslisten widersprechen diesem Prinzip. Der Freiheitsgrundsatz setzt voraus, dass die zur Wahl stehenden Optionen tatsächlich unterschiedliche Angebote darstellen. Schließlich darf auf die Wählenden auch kein Druck ausgeübt werden, für die eine oder andere Partei zu votieren oder überhaupt zur Wahl gehen zu müssen. ⚫ geheim: Die Wählenden dürfen bei ihrer Stimmabgabe nicht beobachtet werden können. Sie sollen nicht befürchten müssen, wegen ihres Votums von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dies könnte ihre Entscheidungsfreiheit erheblich einengen. Deswegen sieht die Wahlordnung ausdrücklich das Vorhandensein von Wahlkabinen vor. Im Rahmen der Grundprinzipien verbleibt noch ein großer Spielraum. Ganz unterschiedliche Wahlsysteme würden diesen groben Vorgaben entsprechen. Das Bundeswahlgesetz (BWahlG) konkretisiert die vom Grundgesetz vage gehaltenen Prinzipien. In ihm wird das deutsche Wahlsystem festgelegt: das »personalisierte Verhältniswahlrecht«. Das Bundesgebiet ist in zurzeit 299 Wahlkreise eingeteilt. In der Geschichte der Bundesrepublik hat sich die Anzahl der Wahlkreise mehrfach geändert, z. B. im Rahmen der Deutschen Einheit oder anlässlich der Verkleinerung des Bundestages 2002. 2020 hat der Bundestag beschlossen, die Anzahl der Wahlkreise bis 2024 auf 280 zu verringern. Jeder Wahlberechtigte hat zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme wählt man direkt eine/ n Abgeordnete/ n des jeweiligen Wahlkreises. Derjenige, der die meisten Stimmen auf sich vereint (relative Mehrheit), zieht in den Bun- Wahlrechtsprinzipien Personalisiertes Verhältniswahlrecht <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 48 48 Die repräsentative Demokratie destag ein. Würde der Bundestag nur aus diesen »Direktmandaten« bestehen, dann hätte man in Deutschland ein reines Mehrheitswahlrecht in Einpersonenwahlkreisen. Doch das Verfahren ist komplizierter. Mit ihrer Zweitstimme wählen die wahlberechtigten Bürger: innen eine Parteiliste, die jeweilige Landesliste. Schlussendlich entscheiden die Zweitstimmen über die Verteilung der Mandate im Bundestag; somit ist die Zweitstimme die »wichtigere« Stimme, anders als es der Begriff vermuten lässt. So erklärt sich der Slogan »Zweitstimme ist Kanzlerstimme«, der in Wahlkämpfen zu hören war. Sainte-Laguë/ Schepers Bei der Verteilung der Mandate auf die Länder und die Parteien findet in den verschiedenen Runden ein Divisorverfahren Anwendung, das nach dem französischen Mathematiker André Sainte-Laguë und dem Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung Hans Schepers benannt ist. In einem ersten Schritt wird durch eine Näherungszuteilung, bei der die Gesamtzahl aller zu berücksichtigenden Bürger: innen/ Stimmen durch die Gesamtzahl der Mandate geteilt wird, ein Zuteilungsdivisor ermittelt. Dieser Divisor muss die Eigenschaft haben, dass die Summe der jeweils errechneten Sitzzahlen mit der Gesamtzahl der Mandate übereinstimmt. Dann werden die Bürger-/ Stimmanteile durch diesen Divisor geteilt. Dabei entstehende Bruchwerte werden standardgerundet. Bei der Bundestagswahl 2013 fand erstmalig ein Verfahren Anwendung, das in mehreren Stufen abläuft. In einem ersten Schritt werden die 598 Bundestagssitze auf die Bundesländer verteilt. Dabei wird für jedes Land der jeweilige Anteil an der gesamten deutschen Bevölkerung berücksichtigt. Die Verteilung wird mithilfe des passenden Sainte-Laguë/ Schepers-Divisors vorgenommen. Innerhalb der einzelnen Bundesländer werden die Sitze auf die Parteien verteilt - unter Berücksichtigung ihres Zweitstimmenergebnisses im jeweiligen Bundesland und wieder mit Sainte-Laguë/ Schepers. Nun kann es sein, dass Parteien mehr Direktmandate gewonnen haben, als ihnen Sitze nach dieser Verteilung zustehen. Diese Sitze, die so genannten Überhangmandate, werden hinzugezählt. Dann werden für jede Partei die Mandate über alle Bundesländer hinweg addiert und somit die Mindestsitzzahlen der Parteien auf Bundesebene ermittelt. Um den Umfang des Bundestages zu reduzieren, wurde für die Wahl 2021 das Verfahren verändert: So wurden drei Überhangmandate nicht ausgeglichen. Und bei der Berechnung der Entscheidende Zweitstimme Definition ▼ ▲ Mandatsverteilung <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 49 49 Wahlen und Wählende Mindestsitzzahl kam es zu einem Ausgleich von Überhangmandaten über Landeslisten hinweg. Durch die fast vollständige Berücksichtigung der Überhangmandate spiegeln diese Mindestsitzzahlen nicht mehr das Zweitstimmenergebnis wider. Deswegen wird in der zweiten Runde die Gesamtzahl der Sitze des Bundestages so lange erhöht, bis bei einer proportionalen Berücksichtigung der Zweitstimmenanteile über Sainte-Laguë/ Schepers alle Parteien ihre jeweilige Mindestsitzzahl erhalten. 2021 ist erst bei der Parlamentsgröße von 736 Abgeordneten erreicht worden, dass jede Partei die ihr garantierte Mindestzahl erreicht hat und zugleich das Zweitstimmenverhältnis der Parteien zueinander wiederhergestellt worden ist. Nachdem nun klar ist, wie viele Sitze der Bundestag hat und wie viele davon jede Partei erhält, werden diese Sitze innerhalb der Parteien nach Sainte-Laguë/ Schepers auf die Landeslisten verteilt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jede Landesliste mindestens so viele Sitze erhält, wie sie Wahlkreise direkt gewonnen hat. Diese - zugegeben nicht gerade einfache - Regelung ist das Ergebnis der Wahlrechtsreformen in den Jahren vor 2013. Bereits 2008 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Änderung des Wahlgesetzes verlangt, weil das alte Recht die Entstehung eines »negativen Stimmgewichts« ermöglichte. Aufgrund der Verbindung der Landeslisten im alten Recht und dadurch, dass alle Überhangmandate nicht ausgeglichen wurden, konnte es passieren, dass eine Partei bundesweit ein Mandat verlor, wenn sie in einem Bundesland mehr Stimmen erhielt. Für die Wahl 2009 galt trotzdem noch das alte Recht. 2011 legte die damalige schwarz-gelbe Regierungsmehrheit ein neues Wahlrecht vor, das aber vom Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal kassiert wurde, weil es die monierten Defizite nicht effektiv anging. Rechtzeitig zur Bundestags- Altes vs. neues Wahlrecht Partei Mindestsitzzahl Überhangmandate Zweitstimmen Divisor Sitze Ausgleichsmandate ungerundet gerundet SPD 170 10 11.955.434 : 57.898 206,49 206 36 CDU 122 12 8.775.471 151,57 152 30 Gruene 94 1 6.852.206 118,35 118 24 FDP 76 - 5.319.952 91,88 92 16 AfD 69 -1 4.803.902 82,97 83 14 CSU 45 11 2.402.827 41,5 45 - Die Linke 32 - 2.270.906 39,22 39 7 SSW 1 - 55.578 0,96 1 - Insgesamt 609 34 42.436.276 736 127 Tab. 3 Mandatsberechnung für das Bundestagswahlergebnis 2021 Quelle: www.bundeswahl leiter.de <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 50 50 Die repräsentative Demokratie wahl 2013 wurde dann der oben dargestellte Kompromiss als Konsens von CDU/ CSU, SPD, Grünen und FDP verabschiedet, der vielleicht deswegen so kompliziert ist, weil er versucht die verschiedenen Interessen zu berücksichtigen. Diese Regelung ist dabei weder unumstritten noch problemfrei. Denn sie kann unter nicht unwahrscheinlichen Bedingungen zu einer erheblichen Aufblähung des Parlaments führen. Bereits bei ihrer ersten Anwendung 2013 benötigte man zur Aufhebung der Verzerrung durch vier Überhangmandate 29 Ausgleichsmandate. Mit dem »Reförmchen« im Jahr 2020 wurde versucht das Anwachsen des Parlaments einzudämmen - mit begrenztem Erfolg: Nach der Bundestagswahl 2021 mussten 34 Überhangmandate mit 127 zusätzlichen Mandaten ausgeglichen werden. Noch in der laufenden Wahlperiode soll das Wahlrecht auf neue Füße gestellt werden. Hierzu ist eine Reformkommission eingesetzt worden. Noch zwei weitere, ebenfalls nicht unumstrittene Regelungen nehmen Einfluss auf die Zusammensetzung des deutschen Parlaments: die Fünf-Prozent-Hürde und die Direktmandatsklausel. a) Fünf-Prozent-Hürde: Um bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt zu werden, muss eine Partei bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinigen. b) Direktmandatsklausel: Überspringt eine Partei nicht die Fünf-Prozent- Hürde, gibt es noch eine Möglichkeit, dass ihre Zweitstimmen berücksichtigt werden. Nämlich für den Fall, dass Kandidierende einer Partei drei oder mehr Direktmandate erhalten. Dann werden ihre Zweitstimmen in die Verteilung der Sitze einbezogen. Von dieser Möglichkeit hat beispielsweise bei der Bundestagswahl 2021 die Partei »Die Linke« profitiert. Beide Regelungen haben nicht nur auf die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages erheblichen Einfluss genommen, sondern auch auf die Struktur des bundesdeutschen Parteiensystems insgesamt. Nicht nur das heutige Stimmverrechnungsverfahren, sondern auch andere Elemente haben sich erst im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet. So reichte es bei der ersten Bundestagswahl aus, die Fünf-Prozent-Hürde in nur einem Bundesland zu überspringen. Die Direktmandatsklausel ist von zunächst bloß einem Mandat vor der dritten Bundestagswahl 1957 auf drei erhöht worden. Schließlich: Im ersten Deutschen Bundestag lag das Verhältnis Direktmandate zu Listenmandaten noch bei 60 zu 40, bevor es auf 50 zu 50 umgestellt wurde (ohne Überhang- und Ausgleichsmandate). Entwicklung der Wahlbeteiligung Inwieweit machen die Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch? Gibt es klare Trends über die Jahrzehnte hinweg? Die Entwicklung der Wahlbeteiligung bei den bislang 20 Bundestagswahlen zeigt zweierlei. Die Bereitschaft, Fünf-Prozent-Hürde und Direktmandatsklausel 2.2.2 Hohes Niveau der Wahlbeteiligung <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 51 51 Wahlen und Wählende an Wahlen teilzunehmen, liegt zum einen auf hohem Niveau, wenn man sie mit der Wahlbeteiligung in anderen Staaten vergleicht. Dies wird auf langfristig wirkende »civic orientations« zurückgeführt, also auf eine einigermaßen stabile positive Grundhaltung zur Demokratie in Deutschland. Zum anderen gibt es über die Jahrzehnte betrachtet keinen stringenten Trend. Was man jedoch beobachten kann, ist eine außerordentlich hohe Wahlbeteiligung in den siebziger Jahren. Seit der Deutschen Einheit 1990 bewegt sich die Beteiligung bei rund 70 bis 80 Prozent. Bei der Bundestagswahl im September 2009 hatte sie ihren bislang niedrigsten Wert erreicht. Die durchschnittliche Beteiligung an Landtagswahlen liegt auf einem augenfällig niedrigeren Niveau (rund elf Prozent weniger) und scheint sich deutlicher im Sinkflug zu befinden. Noch niedriger liegt die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen; diese hat 2004 mit 43,0 Prozent in Deutschland ihren bisherigen niedrigsten Ausschlag zu verzeichnen. Allerdings bewegen sich die Werte seitdem deutlich nach oben. Wer sind die Nichtwählenden und was sind ihre Gründe, nicht zur Wahl zu gehen? Darüber wird immer wieder heftig diskutiert, insbesondere wenn die Beteiligung mal wieder historisch niedrig war. Die Wahlforschung hat verschiedene Typen von Nichtwählenden identifiziert. Zunächst sind die unechten Nichtwählenden als Gruppe herauszunehmen. Sie entstehen wegen fehlerhafter Wählerverzeichnisse. Dann gilt es, die grundsätzlichen von den konjunkturellen Nichtwählenden zu unterscheiden: Erstere betreten aus grundlegenden Erwägungen heraus keine Wahllokale, z. B. weil ihre religiöse Überzeugung das verbietet. Hierbei handelt es sich allerdings um verschwindend kleine Minderheiten. Die konjunkturel- Typen von Nichtwählenden 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1946 1948 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 Bundestagswahl Europawahl Abb. 4 Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen und Europawahlen in Deutschland (in Prozent) Quelle: www.bundeswahl leiter.de und www. europarl.europa.eu <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 52 52 Die repräsentative Demokratie len Nichtwählenden hingegen entscheiden sich von Wahl zu Wahl, ob sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen oder nicht. Ob man sein Wahlrecht nutzt oder nicht, lässt sich unterschiedlich erklären. Hierbei spielen die Ansätze eine Rolle, die generell zur Erklärung des Wahlverhaltens diskutiert werden (s. u.). So entscheidet beispielsweise die Gruppenzugehörigkeit über die Wahlbeteiligung: Niedriger ist sie beispielsweise bei jüngeren Menschen. In den vergangenen Jahren ist ein problematischer Trend beobachtet worden: die soziale Schieflage bei der Wahlbeteiligung. So zeigen die Analysen des Politikwissenschaftlers Armin Schäfer und von anderen, dass bildungsferne und einkommensschwache Gruppen bei den Nichtwählenden überrepräsentiert sind. Dies kann dazu führen, dass deren Interessen und Perspektiven in der Politik nicht hinreichend vertreten werden. Dabei wird immer wieder vermutet, dass eine (gestiegene) Wahlabstinenz nicht zwangsläufig Ausdruck von (wachsendem) Protest oder Unzufriedenheit mit dem politischen System ist. Sie könne gleichermaßen als Ausdruck der Zufriedenheit mit den Leistungen der Politik gewertet werden. Jedoch zeigen Untersuchungen, dass eine Zufriedenheit mit Demokratie und Politik die Wahlbeteiligung wahrscheinlicher macht. Vereinfacht gesagt: Wer zufrieden ist, geht wählen. Blickt man schließlich auf die unterschiedlichen Beteiligungsgrade bei Wahlen auf den Ebenen Bund, Land, Kommunen und Europa, kommt noch ein weiterer Faktor ins Spiel: Die Wahlbeteiligung signalisiert, wie wichtig die Menschen das entsprechende Parlament finden. Protest oder Zufriedenheit? nicht wichtig wichtig Gesamt nicht wichtig Nicht wichtig Weniger wichtig Wichtig Sehr wichtig Gesamt wichtig Bundestag 13 2 11 50 36 86 Landtag 18 3 15 61 19 80 Stadtrat/ Gemeinderat 22 5 17 51 26 77 Europäisches Parlament 41 10 31 41 16 57 Fragen: »Wie wichtig sind für Sie Entscheidungen der verschiedenen Parlamente? Sind die Entscheidungen, die im Gemeindebzw. Stadtrat getroffen werden, für Sie persönlich sehr wichtig, wichtig, weniger wichtig oder unwichtig? Und wie ist es mit den Entscheidungen im Landtag? -… im Bundestag? -… im Europaparlament? « Abb. 5 Individuelle Bedeutung von Parlamentsentscheidungen Quelle: Forschungsgruppe Wahlen: Umfrage vor der Europawahl 05/ 2014 <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 53 53 Wahlen und Wählende Wahlverhalten-- Erklärungsversuche Warum Wahlberechtigte nicht zur Wahl gehen, ist eine zentrale Frage der Wahlforschung. Eine weitere ist, warum die Menschen, die wählen gehen, so wählen, wie sie es tun. Generell kann unterschieden werden zwischen kurzfristig und langfristig wirkenden, zwischen rationalen und emotionalen, zwischen individuellen und gruppenbezogenen Einflussfaktoren. Drei große Erklärungsansätze haben sich in der Wahlforschung etabliert: ⚫ soziologische Ansätze: Die Wahlentscheidung hängt dieser Sichtweise zufolge davon ab, welcher sozialen Gruppe man angehört. So wird die jeweilige Konfession oder die sozio-ökonomische Schichtzugehörigkeit als prägender Einflussfaktor ausgemacht. Zur Erklärungskraft dieses Ansatzes trägt bei, dass sich einige Parteien eng an gesellschaftliche Gruppen anlehnen oder angelehnt haben (z. B. die SPD an die Gewerkschaften, die CDU an das katholische Milieu). ⚫ psychologischer Ansatz: Die Wahlentscheidung ist - dieser Perspektive zufolge - das Ergebnis einer individuellen Meinungsbildung, die nur bedingt von sozialen Komponenten beeinflusst wird. Entscheidend ist vielmehr die Parteiidentifikation, so wie sie sich im Rahmen der politischen Sozialisation herausgebildet hat - wobei die Sozialisation wiederum von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe geprägt werden kann. ⚫ Ansatz der rationalen Wahl: Die Theorie der rationalen Wahl geht davon aus, dass Menschen vor jeder Wahlentscheidung eine individuelle Kosten-Nutzen-Kalkulation durchführen. Auf dieser Grundlage votieren sie dann für die Partei, von der sie sich den größten persönlichen Vorteil versprechen. Als »wichtigstes Paradigma der empirischen Wahlforschung« (Oscar Gabriel u. a.) hat sich das Ann-Arbor- oder Michigan-Modell etabliert, eine Variante des (sozial-)psychologischen Ansatzes. Dieses Modell identifiziert drei Faktoren, die auf eine Wahlentscheidung einwirken: erstens die Parteiidentifikation (an welche Partei man sich gebunden fühlt), zweitens die Kandidatenorientierung (die Einschätzung der zur Wahl stehenden Personen), drittens die Sachfragenorientierung (die Bewertung der konkreten 2.2.3 Erklärungsansätze der-Wahlforschung »Michigan-Modell« Parteiidentifikation Wahlentscheidung Sachfragenorientierung Kandidatenorientierung Abb. 6 Michigan-Modell Quelle: eigene Darstellung <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 54 54 Die repräsentative Demokratie sachpolitischen Angebote der Parteien). Wenngleich eine Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland (noch) eine zumindest schwache Parteiidentifikation aufweist, ist der Anteil derjenigen, die eine langfristig stabile Bindung zu einer Partei haben, im Sinken begriffen. Dies manifestiert sich in einer Zunahme der »Volatilität«, also dass sich ein wachsender Teil der Wählerschaft von Wahl zu Wahl auf ein Neues und vergleichsweise kurzfristig entscheidet. Für diese »volatile« Wählerschaft ist zu vermuten, dass die Kandidaten- und Sachfragenorientierung wichtiger werden. Sonstige Formen der politischen Beteiligung Wählen gehen mag in Deutschland eine wichtige Beteiligungsmöglichkeit für die Bürger: innen sein - allerdings ist es nicht die einzige. Auch wenn auf der Ebene des Bundes keine direktdemokratischen Verfahren eingeführt worden sind, gibt es zahlreiche andere Möglichkeiten, sich in den politischen Prozess einzubringen, z. B. durch das Engagement in einer Partei oder in einem Verein, durch die Teilnahme an einer Demonstration oder die Organisation einer Online-Kampagne. Viele Spielarten der politischen Beteiligung sind denkbar. Um diese Vielfalt zu ordnen, sind Typologien entwickelt worden. Eine oft verwendete Unterscheidung ist dabei diejenige zwischen konventionellen und unkonventionellen Formen politischer Partizipation. Zu den konventionellen Spielarten der Beteiligung zählen diejenigen, die »üblich« und legal sind sowie sich auf die traditionellen Verfahren und Institutionen beziehen. Hierunter fallen primär die Beteiligung an Wahlen oder an Volksentscheiden (auf Landesebene) sowie die Mitgliedschaft in Parteien oder Vereinen. Es handelt es sich also um gängige und legitime Formen der Partizipation. Als unkonventionell gelten wiederum Gewalt gegen Personen, Beschädigungen, Boykott-Aktionen, Demonstrationen oder die Teilnahme an Unterschriftenaktionen. Bei den unkonventionellen lassen sich somit nochmals illegale und legale Formen unterscheiden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Spektrum der Beteiligungsformen in Deutschland merklich ausgeweitet. Im Bereich der verfassten Partizipationschancen ist das Wahlrecht zum Europäischen Parlament hinzugekommen. Außerdem sind in den Bundesländern und auf kommunaler Ebene nach und nach direktdemokratische Verfahren etabliert worden, von denen oft Gebrauch gemacht wird. Im unkonventionellen Bereich erweitern neue Kommunikationswege (Stichwort: Social Media) die Palette der Beteiligungsmöglichkeiten. Hier sind innovative Formen der Einbindung der Bürger: innen entwickelt worden, z. B. in Form von Online-Partizipationsprojekten (»Bürgerhaushalte« etc.). »Volatilität« 2.3 Konventionelle vs. unkonventionelle Beteiligung Neue Beteiligungsmöglichkeiten <?page no="55"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 55 55 Sonstige Formen der politischen Beteiligung Immer wieder sind neue Organisationen entstanden, die zusätzliche Möglichkeiten zum Engagement bieten. In den 1970er und 1980er Jahren waren es die so genannten »Neuen Sozialen Bewegungen«, innerhalb derer sich Protest und Beteiligung kanalisierten. Seit den neunziger Jahren bieten sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie »Greenpeace« oder »Attac« als Orte politischen Engagements an. Neue Soziale Bewegungen (NSB) Mit dem Begriff werden Zusammenschlüsse von Menschen bezeichnet, die sich infolge der Studierendenunruhen der 1960er und 1970er Jahre in den USA und Westeuropa formierten. Die politischen Zielsetzungen der NSB drehten sich unter anderem um Fragen der Friedenspolitik, der Gleichberechtigung oder des Umweltschutzes. Der Organisationsgrad reichte von lokal aktiven Gruppen ohne Vereinsstatut bis hin zu großen bundesweiten, von hauptamtlichen Funktionären geführten Organisationen. Aus den Neuen Sozialen Bewegungen ist Ende der 1970er Jahre die Partei Die Grünen entstanden. Wie oft und wie viele Menschen gerade von einer der unkonventionellen Protestmöglichkeiten Gebrauch machen, unterliegt im Zeitverlauf erheblichen Schwankungen. Die »Protestgeschichte« der Bundesrepublik macht jedenfalls deutlich, dass es immer wieder - auch jüngst noch - zu regelrechten »Protestkonjunkturen« kommt. Dabei organisierte sich Protest sowohl auf der linken Seite des ideologischen Spektrums (z. B. »Extinction Rebellion«), aber auch auf der rechten (z. B. »Querdenker«). Ausmaß und Form der politischen Beteiligung sind innerhalb der Bevölkerung nicht gleich verteilt. So wächst generell der Grad der Partizipation parallel zum sozio-ökonomischen Status und dem formalen Bildungsgrad der Bürger an. Auch das Alter spielt eine Rolle: Je älter die Menschen werden, desto weniger beteiligen sie sich auf unkonventionelle Art und Weise, hingegen steigt mit dem Alter die Bereitschaft, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Frauen partizipieren gerade im »konventionellen« Bereich weniger als Männer. Letztlich entscheiden individuelle Merkmale und Gruppenzugehörigkeiten mit darüber, wie sehr und in welcher Form man sich in den politischen Prozess einbringt. Jedenfalls gilt: Auch in der super-repräsentativen deutschen Demokratie gibt es - jenseits der Wahlen - zahlreiche Möglichkeiten, an der Politik teilzunehmen. Diese werden genutzt, aber nicht alle gleichermaßen und nicht von allen. Eine reine »Zuschauerdemokratie« (Rudolf Wassermann) ist die Definition ▼ ▲ Weder Zuschauernoch Beteiligungsdemokratie <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 56 56 Die repräsentative Demokratie Bundesrepublik gewiss nicht. Aber von einer »Beteiligungsdemokratie« ist die deutsche Wirklichkeit ebenfalls noch entfernt. Umso wichtiger ist die Frage danach, wie es um das Vertrauen der zum Teil zuschauenden, zum Teil engagierten Menschen in die Demokratie und ihre Institutionen bestellt ist, die an ihrer Stelle entscheiden. Politische Kultur in Deutschland: »Pudding« im Wandel Ob und wie sich Menschen an der Politik in einem Land beteiligen, sagt einiges über die dort vorherrschende »politische Kultur« aus. Damit sind wir bei einem Schlüsselbegriff gelandet, der helfen soll, die Qualität und Stabilität von Demokratien zu verstehen - allerdings auch bei einem Begriff, der trotz seiner häufigen Verwendung schwammig bleibt. Politische Kultur zu definieren - so der berühmte Satz des Politikwissenschaftlers Max Kaase - ist, als wolle man einen Pudding an die Wand nageln: also schwierig bis unmöglich. Unklarheiten ergeben sich bereits bei der Frage, was überhaupt unter politischer Kultur subsumiert werden sollte. Man setzt den Begriff unterschiedlich breit an. Die politische Kulturforschung dreht sich zu einem großen Teil um die Frage, wie die Bevölkerung zur politischen Gemeinschaft und zur Demokratie steht. Es geht somit um die Haltung der Menschen zum System. Diese Haltung kann sich in der Art der Beteiligung an der Politik oder auch in den politischen Einstellungen zum Ausdruck bringen. Jenseits der Einstellungen und Aktivitäten der Bürger: innen werden gelegentlich auch das Verhalten und Denken von politischen Funktionsträgern mit dem Begriff der politischen Kultur erfasst. Damit weitet man »politische Kultur« über die Bevölkerung auf die politische Elite aus. Vorherrschend ist in der Forschung zur politischen Kultur gleichwohl der bevölkerungszentrierte Ansatz. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Perspektiven eine Vermutung: Jenseits der reinen Verfassungsmechanismen und jenseits der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen muss es noch etwas anderes geben, was die Beschaffenheit einer Demokratie ausmacht, nämlich die »politische« oder »demokratische Kultur«. Unter Umständen ist dieses »etwas« viel entscheidender für die Überlebensfähigkeit von Demokratien als alles andere. Die Erforschung der politischen Kultur in Nachkriegsdeutschland erbrachte zunächst einen pessimistischen Befund: Die beiden Forscher Gabriel Almond und Sidney Verba, die sich mit der politischen Kultur verschiedener Staaten auseinandersetzten, machten im Deutschland der 1950er Jahre das aus, was sie in ihrer Studie als »Untertanenkultur« bezeichneten. Eine emotionale Unterstützung der Demokratie habe sich noch nicht etabliert, ebensowenig eine politische Bürger- und Beteiligungskultur. 2.4 Einstellung der-Bevölkerung zur Demokratie Almond-Verba-Studie <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 57 57 Politische Kultur in Deutschland: »Pudding« im Wandel Dabei ist es jedoch nicht geblieben. Vielmehr hat sich die politische Kultur in Deutschland signifikant gewandelt. Wolfgang Rudzio beispielsweise unterscheidet folgende drei Phasen der politischen Kulturentwicklung in Deutschland: (1) die traditionelle politische Kultur von 1949 bis 1966: In diesem Zeitraum etabliert sich langsam die parlamentarische Demokratie. Partizipation und politisches Engagement sind allerdings noch die Sache einer Minderheit. Im Vordergrund steht vielmehr der Wunsch nach äußerer Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität. Für diesen Zeitraum gilt der Almond/ Verba-Befund von der »Untertanenkultur«. (2) die Phase starker politischer Beteiligung und gleichzeitiger Verunsicherung von 1967 bis 1982: In diesem Zeitkorridor beginnt, vor dem Hintergrund der ersten Großen Koalition, eine »partizipatorische Revolution«, ein Trend zu mehr politischem Engagement. Die Politisierung findet ihren Impuls und Ausdruck in den (stark studentisch geprägten) gesellschaftlichen Unruhen. Es kommt zu einer deutlichen Steigerung des politischen Interesses und der politischen Beteiligung (z. B. Wahlbeteiligung, Mitgliedschaft in Parteien und Verbänden, Zahl der Demonstrationen). Die Neuen Sozialen Bewegungen entstehen. Den Grünen, die sich aus den Bewegungen herausbilden, gelingt sogar der Einzug in den Bundestag. Zugleich zeigt sich eine Kluft zwischen der rasanten Steigerung des politischen Engagements auf der einen Seite und einer gleichzeitigen mehrheitlichen politischen Apathie auf der anderen - eine Kluft, die zur Verunsicherung auf beiden Seiten führt. (3) Phase der »kritischen Distanziertheit« seit 1983: Auf die Periode der Mobilisierung und des politischen Engagements folgt, befördert etwa von Parteispenden- und Korruptionsskandalen (»Flick«, »Neue Heimat«), ein Zeitraum der zunehmenden Entfremdung zwischen politischer Elite und Bevölkerung. Es zeigt sich eine wachsende Parteien- und Politikverdrossenheit. Die Bereitschaft zur politischen Beteiligung ist im Sinken begriffen, was sich an der abnehmenden Wahlbeteiligung und dem Mitgliederschwund in den Parteien festmachen lässt. Die Deutsche Einheit 1990 und die damit verbundenen Probleme verstärken diesen Trend. In der Tat spricht vieles dafür, dass die Deutsche Einheit einen wichtigen Einschnitt in der politischen Kulturentwicklung Deutschlands darstellt. Insbesondere wandelt sich die Geschlossenheit der politischen Kultur. So sind die innerdeutschen Unterschiede in den Einstellungen zur Demokratie und zum politischen System immer noch frappant. Das zeigt sich nicht nur an der niedrigeren Wahlbeteiligung in Ostdeutschland oder an der erheblich geringeren Mitgliedschaftsquote in politischen Parteien (die allerdings auch historisch bedingt ist). Entwicklungsphasen der-politischen Kultur Ost-West-Spaltung der-politischen Kultur <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 58 58 Die repräsentative Demokratie Ablesbar ist dies auch an den Wahlergebnissen in den ostdeutschen Bundesländern, welche beispielsweise der Partei Die Linke, aber auch der AfD eine völlig andere Rolle im Parteiensystem als in den westlichen Bundesländern zuweisen. Die Ost-West-Differenz manifestiert sich zudem in den Einstellungen zum politischen System und zur Demokratie. So bewegen sich die »Zufriedenheitswerte« zwar einigermaßen synchron in Ost und West, aber auf einem ganz unterschiedlichen Niveau. Sie liegen bei der ostdeutschen Bevölkerung stabil rund 25 Prozent unter denen der Westdeutschen. Schließlich weist auch das Vertrauen in die Institutionen der Demokratie ein deutliches Ost-West-Gefälle auf. Für diese doch sehr drastischen Unterschiede mögen zumindest bei älteren Jahrgängen eine spezifische politische Sozialisation und besondere historische Erfahrungen mit verantwortlich sein. Aber für jüngere Generationen reicht diese Begründung nicht aus. In den Zahlen schlagen sich wohl auch die sozio-ökonomische Lage in den ostdeutschen Ländern nieder und die damit verbundene Unzufriedenheit mit den Leistungen der Politik. Es ist Ost-West- Unterschiede 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1991 1995 »Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, alles in allem gesehen sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, ziemlich unzufrieden oder völlig unzufrieden? «; Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlilch zufrieden«. Datenbasis: Eurobarometer 1991-2019 2000 2005 2010 2015 2019 Westdeutschland Ostdeutschland Abb. 7 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie 1991-2019 (Anteil in %) Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 59 59 Politische Kultur in Deutschland: »Pudding« im Wandel davon auszugehen, dass die Ost-West-Differenz die politische Kultur in Deutschland noch auf längere Zeit prägen wird. Diese Ost-West-Spaltung der politischen Kultur droht noch durch weitere wachsende gesellschaftliche Unterschiede und Konfliktlinien ergänzt, zum Teil auch vertieft zu werden. So ist damit zu rechnen, dass sich auch der demografische Wandel nachhaltig auf die politische Kultur in Deutschland auswirken wird (und nicht nur auf die sozialen Sicherungssysteme! ). Zudem bleibt zu beobachten, wie sich die politische Kultur infolge von anhaltender Zuwanderung verändern wird. Die Integration der verschiedenen kulturellen »Gesellschaften« in Deutschland ist zu einer zentralen Herausforderung geworden. Interkulturelle Integrationsprobleme haben auch politische Integrationsprobleme zur Folge und können damit zu einer Belastungsprobe für eine demokratische Kultur werden. Die »Flüchtlingskrise« Mitte der 2010er Jahre stellte eine solche Belastungsprobe dar. Die Art und Weise, wie in dieser Situation agiert und kommuniziert wurde, haben die Einstellungen zum System, zur Demokratie und zu den politischen Eliten in weiten Teilen der Bevölkerung stark beeinflusst und Raum für populistische Bestrebungen geschaffen. Aber auch die Corona-Pandemie und die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung haben Räume für Populismus und Kritik an dem »System« aufgemacht - ebenso wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine mit seinen Folgen für die Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland. Der »gesellschaftliche Zusammenhalt« ist zu einer immer größer werdenden Aufgabe geworden. Alles in allem kann man davon ausgehen, dass die politische Kultur in Deutschland eher noch an Heterogenität zunehmen wird - mit noch nicht klar benennbaren Konsequenzen für die Stabilität der Demokratie in der Bundesrepublik. Jedenfalls wirken jüngere Umfragedaten, die eine deutlich abnehmende Zufriedenheit der Menschen mit der Politik und den Politiker: innen anzeigen, alarmierend. Wenn sich Teile der Bevölkerung nicht mehr durch die Politik vertreten fühlen, dann ist dies für ein »super-repräsentatives« System ein Problem. Auf dieses Problem wird zu achten sein, wenn in den kommenden Kapiteln die Mechanismen der politischen Interessenvertretung im Blickpunkt stehen. 1 Warum hat Ernst Fraenkel das deutsche System als »super-repräsentativ« bezeichnet, und ist diese Beschreibung zutreffend? 2 Welche Argumente gibt es für und gegen direkte Demokratie? Welche Position beziehen Sie persönlich? 3 Warum kann der Erfolgswert von Stimmen im deutschen Wahlsystem erheblich schwanken? Trend zu mehr Heterogenität Lernkontrollfragen ▼ <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 60 60 Die repräsentative Demokratie 4 Warum können auch nach aktuellem Wahlrecht Überhangmandate entstehen und wie werden diese ausgeglichen? 5 Welche Beteiligungstypen lassen sich unterscheiden? Sind die Unterscheidungen trennscharf ? 6 Vor welchen Herausforderungen steht die politische Kultur in Deutschland heute? Literatur Aus politikwissenschaftlicher Perspektive bietet sich als Einstieg in die Theorie und Empirie direkter Demokratie folgendes Nachschlagewerk an: Andreas Kost/ Marcel Solar: Lexikon Direkte Demokratie in Deutschland, Wiesbaden, Springer VS 2019. Zur Wechselwirkung zwischen Wahlrecht und Parteiensystem und als Übersicht über die verschiedenen Dimensionen und Systematiken rund um Wahlsysteme gilt als Standardwerk: Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl., Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2014. Eine umfassende Darstellung der Erkenntnisse der Wahlforschung findet sich bei Jürgen W. Falter/ Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2014, bei Oscar W. Gabriel/ Bettina Westle: Wählerverhalten in der Demokratie. Eine Einführung, Stuttgart, UTB 2012, sowie mit Bezug auf die Bundestagswahl 2017 bei Bernhard Weßels/ Harald Schoen (Hg): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2017, Wiesbaden, Springer VS, 2021. Eine knappe Einführung bietet Dieter Roth: Empirische Wahlforschung. Ursprung, Theorien, Instrumente und Methoden, 2. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag 2008. Zur sozialen Spaltung bei der Wahlbeteiligung siehe: Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a. M., Campus 2015. Anschaulich, komprimiert und stets auf dem neuesten Stand informiert: Karl-Rudolf Korte: Wahlen in Deutschland, 10. Aufl., Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2021. Als Klassiker der politischen Kulturforschung und immer wieder zitiert sowie diskutiert: Gabriel Almond/ Sidney Verba: The Civic Culture, Princeton, Princeton University 1963 . Als Einführung in die Theorie und Empirie politischer Kultur sei empfohlen: Bettina Westle/ Oscar W. Gabriel (Hg.): Politische Kultur. Eine Einführung, Baden-Baden, Nomos 2009 . ▲ <?page no="61"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 61 61 Links Links www.bundeswahlleiter.de Der Bundeswahlleiter informiert über die rechtlichen Grundlagen der Wahlen auf Bundesebene (Bundestag und Europäisches Parlament) und ist überdies die autoritative Quelle für die amtlichen Wahlergebnisse. Für die Landtagswahlen sind die jeweiligen Landeswahlleitungen zuständig, die in der Regel gleichfalls eine Website anbieten. Die entsprechenden Links sind auf der Seite des Bundeswahlleiters zu finden. www.wahlrecht.de Auf dieser aktuell gehaltenen Seite finden sich unter anderem umfassende Informationen zum geltenden Wahlrecht, aktuelle Umfrageergebnisse sowie die Wahlergebnisse der europäischen, Bundes- und Landesebene. www.destatis.de Im Web-Angebot des Statistischen Bundesamtes finden sich neben den allgemeinen statistischen Daten zur Bevölkerungsentwicklung, zur Wirtschaft oder zur Lohn- und Preisentwicklung auch Informationen zum politischen Engagement und zur Einstellung der Bevölkerung zu Politik und Demokratie. www.disud.org Das Deutsche Institut für Sachunmittelbare Demokratie an der Technischen Universität Dresden bietet auf seiner Website Informationen über Recht und Praxis direkter Demokratie in Deutschland. <?page no="62"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 62 62 Die Verbändedemokratie - demokratische Teilhabe und/ oder unverhältnismäßiger Einfluss? Die Bürger: innen können als Individuen am politischen Prozess teilnehmen. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass sie sich mit anderen zusammentun, um für ihre Anliegen einzutreten. So entstehen »organisierte Interessen«. Wie das Wort schon sagt, handelt es sich dabei um Zusammenschlüsse, die dazu dienen, die unterschiedlichen Gruppeninteressen, die es in einer Gesellschaft üblicherweise gibt, in Organisationsstrukturen zu übertragen. Die Voraussetzung für die Entstehung von Interessenorganisationen ist - banalerweise - das Vorhandensein von unterschiedlichen Bedürfnislagen innerhalb moderner Gesellschaften. Genau von dieser Annahme gehen »pluralistische« Demokratievorstellungen aus: Sie sehen die Gesellschaft nicht als eine homogene Einheitsmasse, die auf nur ein gemeinsames Ziel, auf ein »Gemeinwohl«, zusteuert. Gesellschaften sind aber auch nicht lose Verbindungen von »Einzelkämpfern«. Vielmehr zeichnet sich eine pluralistische Gesellschaft dadurch aus, dass es in ihr eine Vielzahl von Zusammenschlüssen gibt, von denen legitimerweise jede für sich eigene Interessen verfolgt. Diese Interessen können miteinander im Konflikt stehen. Widerstreit entsteht dadurch, dass es innerhalb der Gesellschaft knappe Ressourcen sowie unterschiedliche Wertvorstellungen gibt. Daraus erwachsen Konfliktlinien und Verteilungskämpfe: Es gibt auf der einen Seite Arbeitnehmende, auf der anderen Seite Arbeitgebende, auf der dritten Seite Selbstständige. Es gibt Personen mit der einen religiösen Überzeugung auf der einen, und Personen mit keiner oder einer andersläufigen religiösen Überzeugung auf der anderen Seite. Es gibt auf der einen Seite Empfänger sozialer Leistungen, auf der anderen Seite Personen, die diese sozialen Leistungen finanzieren müssen. Und so weiter und so fort. Interessenorganisationen haben die Aufgabe, Menschen mit demselben Anliegen zusammenzubringen und zu vertreten. Sie ermöglichen ihren Mitgliedern die Beteiligung an der gesellschaftlichen Willensbildung und am staatlichen Entscheidungsprozess. Darüber hinaus gewährleisten sie auch »Selbstregulierung«. In ihrer organisierten Form vermögen Interessen Konflikte in Eigenregie zu lösen, ohne dass der Staat in irgendeiner Form eingebunden wird und eingreifen muss. 3 Inhalt <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 63 63 Die Verbändedemokratie Die Existenz und Arbeit von organisierten Interessen haben zum einen etwas mit Demokratie zu tun, weil sie die Beteiligung der Menschen ermöglichen, weil sie Öffentlichkeit herstellen und weil sie Probleme lösen helfen. Zum anderen wird den organisierten Interessen genau das Gegenteil vorgeworfen: Ihr Vorhandensein und ihr Einflussstreben führten zu einer Blockade der Demokratie und konterkarierten die verfassungsmäßig vorgesehene Form demokratischer Willensbildung. Dann ist schnell plakativ von der »Herrschaft der Verbände«, vom »Verbändestaat« oder von einer »Fünften Macht im Staate« die Rede - Schlagwörter, die mehr oder weniger ausdrücklich einen Verlust an Demokratie beklagen, der dem Wirken von Verbänden geschuldet wird. Mit dem Beitrag von organisierten Interessen für (oder gegen) die Demokratie, wird sich das folgende Kapitel beschäftigen. Die Struktur ist wie folgt: Der erste Abschnitt fragt danach, auf welchem rechtlichen Terrain sich Interessenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland bewegen, wo sie einerseits geschützt und wo sie andererseits in ihren Möglichkeiten beschränkt werden. Der sich anschließende Abschnitt wirft einen Blick auf die Landschaft organisierter Interessen in Deutschland: Wie kann man die Unmenge an Vereinen und Verbänden überhaupt sinnvoll sortieren? Der Folgeabschnitt beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, die Interessenorganisationen haben, um Einfluss auf die Politik zu nehmen: Welche Ansatzpunkte und Instrumente gibt es und inwieweit werden sie von den organisierten Interessen genutzt? Auf dieser Grundlage soll die »Verbändedemokratie« thematisiert werden: Inwiefern gibt es in der Bundesrepublik eine Herrschaft (oder zumindest eine Mitherrschaft) von Vereinen und Verbänden - und ist dies einfach nur schlecht oder könnte man dem auch etwas Positives abgewinnen? Dabei sind Demokratiemodelle zu berücksichtigen, die den organisierten Interessen eine wichtige Rolle zubilligen, z. B. das Modell der »assoziativen Demokratie« oder das Modell einer starken und autonomen »Zivilgesellschaft«. 3.1 Rechtliche Grundlagen für Interessengruppen in Deutschland 3.2 Die Vielfalt organisierter Interessen in Deutschland 3.3 Strategien und Adressaten der Interessenvermittlung 3.4 Tarifautonomie und (neo-)korporatistische Strukturen in Deutschland 3.5 Assoziative Demokratie und Zivilgesellschaft <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 64 64 Die Verbändedemokratie Rechtliche Grundlagen für Interessengruppen in Deutschland Wenn über »organisierte Interessen« gesprochen wird, dann fallen in der Regel stets noch weitere, verwandte Begriffe, insbesondere »Verband« oder »Verein«. Mit dem »Vereins«-Begriff befindet man sich unmittelbar in einem rechtlich geregelten Bereich. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) legt fest, von wem und wie ein Verein gegründet und eingetragen werden kann, und regelt die weiteren Details. Als Verein versteht man eine Gruppe von Personen, die sich auf Dauer zusammengeschlossen hat, einen eigenen Namen führt und einem durch eine Satzung bestimmten Zweck dient. Es existiert ein Unterschied zwischen den eingetragenen und den nicht-eingetragenen Vereinen. Dieser Unterschied ist in bestimmten Situationen von Belang. So können in nicht-eingetragenen Vereinen die Mitglieder des Vorstands mit ihrem persönlichen Vermögen zur Haftung für Handlungen des Vereins herangezogen werden. Bei einem eingetragenen Verein ist das nicht möglich. Art. 9 GG - Vereinigungs-, Koalitionsfreiheit (1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. [...] Das Grundgesetz erwähnt Vereine im Artikel 9. Dieser Verfassungsartikel beinhaltet zweierlei: ⚫ Artikel 9 schützt die Vereinigungsfreiheit. Dies ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus, in dem der gesellschaftliche Pluralismus durch die Gleichschaltung der Vereinslandschaft unterdrückt worden war. Generell ist die Freiheit, sich mit anderen zu verbinden, ein substanzielles demokratisches Bürgerrecht. Dieses Freiheitsrecht findet sich in allen modernen rechtsstaatlichen Verfassungen wieder. Vereinigungsfreiheit bedeutet dabei aber auch: Niemand kann gezwungen werden, einem Verein beizutreten. 3.1 Verein Wortlaut ▼ ▲ Vereine im Grundgesetz <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 65 65 Rechtliche Grundlagen für Interessengruppen in Deutschland ⚫ Artikel 9 schützt darüber hinaus die Gesellschaft und Demokratie im Sinne der »wehrhaften Demokratie« (→ Kapitel 1) vor gefährlichen Vereinigungen. Vereine, die sich strafrechtlich etwas zuschulden kommen lassen, die verfassungswidrig sind oder die Völkerverständigung bekämpfen, können von den Innenministerien der Länder und des Bundes verboten werden. Von dieser Möglichkeit ist schon häufig Gebrauch gemacht worden. Allein das Bundesinnenministerium hat seit den 1960er Jahren rund 60 Verbote ausgesprochen. Hinzu kommt eine Vielzahl entsprechender Verfahren auf Länderebene. Der Artikel 9 Absatz 3 hebt die Vereinigungen im Wirtschaftssektor besonders hervor. Das Recht, Zusammenschlüsse im Bereich der Arbeitsbeziehungen zu bilden, z. B. Gewerkschaften oder Arbeitgebervereinigungen, wird mit dem Begriff der »Koalitionsfreiheit« bezeichnet. Neben dem »Verein« spielt auch der Begriff »Verband« eine wichtige Rolle - schließlich ist ja von der »Verbändedemokratie« die Rede: Als Verband wird üblicherweise ein Zusammenschluss von Personen bezeichnet, der Ziele verfolgen will, die über den Kreis seiner Mitglieder hinausreichen. Während ein Verein also in erster Linie Leistungen für seine Mitglieder erbringt, versucht ein Verband auch nach außen zu wirken. Ein »politischer Verband« hat zur Aufgabe, die Interessen seiner Mitglieder in den politischen Prozess einzuspeisen. Zum Beispiel erbringt ein Schachverein zunächst erst einmal Leistungen für seine Mitglieder: Er organisiert die Möglichkeit für schachbegeisterte Personen, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Wenn der Verein darüber hinausreichende Interessen hätte und diese durchzusetzen versuchte (z. B. steuerliche Abzugsfähigkeit von Schachfiguren), würde er zum Verband werden. Verbände haben in der Regel die Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Rechtlich zwingend ist dies gleichwohl nicht. Um die Ziele eines Vereins nach außen zu vertreten, ist eine effektive organisatorische Struktur vonnöten. Der Aufbau von Vereinen und Verbänden folgt einem typischen Muster. Das BGB macht hier einige Vorgaben: Die Basis bildet die Mitgliederversammlung, die den Vorstand wählt. Dem Vorstand steht je nach Größe des Vereins ein unterschiedlich ausdifferenzierter Organisationsstab zur Verfügung, eine Geschäftsführung. Die innerverbandliche Demokratie ist nicht so weitreichend gesetzlich geregelt wie die der Parteien (→ Kapitel 5) . Wie die Beziehung zwischen den Mitgliedern auf der einen Seite und dem Vorstand und der Geschäftsführung (also der Führungsebene) eines Vereins auf der anderen Seite ausgestaltet sein kann und was dies für die Wirksamkeit der organisierten Interessen bedeutet, ist ein wichtiges Thema der Verbändeforschung. Verband Innerverbandliche Demokratie <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 66 66 Die Verbändedemokratie Verband (Max Weber) »Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat.« Quelle: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen (Mohr) 1980, Kap. 1, § 12. Die Vielfalt organisierter Interessen in Deutschland Es ist gar nicht so leicht, die Gesamtzahl der Vereine in Deutschland zu erfassen - zumal wenn man auch diejenigen berücksichtigen möchte, die nicht eingetragen sind. Sehr grobe Schätzungen gehen davon aus, dass es in Deutschland rund 620.000 Vereine gibt. Um die Vereins- und Verbändevielfalt in der Bundesrepublik übersichtlich zu gliedern, gibt es verschiedene Möglichkeiten. So lassen sich die Interessengruppen entlang fünf unterschiedlicher Handlungsfelder sortieren. (1) Organisierte Interessen im Wirtschaftsbereich und in der Arbeitswelt: Hierunter fallen beispielsweise die Tarifpartner, also die Gewerkschaften einerseits und die Unternehmerverbände andererseits, sowie die Vereinigungen der Selbstständigen und die unzähligen Berufsverbände. Auch die Konsumentenorganisationen gehören in diese Gruppe, wie beispielsweise »foodwatch« oder die Verbraucherzentralen. (2) Organisierte Interessen im sozialen und karitativen Bereich: In diese Kategorie fallen unter anderem Vereinigungen, die Personen zusammenbringen, die gegenüber dem Staat einen sozialen Anspruch haben (z. B. Blindenvereine). Zu dieser Gruppe zählt man auch die Wohlfahrtsverbände, also Organisationen, die soziale Leistungen bereitstellen, sowie die Selbsthilfegruppen, z. B. die »Anonymen Alkoholiker«. (3) Organisierte Interessen im Bereich Freizeit, Sport und Erholung: In diese Rubrik fallen die große Gruppe der Sportvereine und -verbände sowie die Geselligkeits- und Hobbyvereine. Dieser - scheinbar - unpolitische Bereich umfasst, so wird vermutet, die relative Mehrheit aller Vereine und hat zusammengefasst die meisten Mitgliedschaften. Allein der Deutsche Fußball-Bund (DFB) kann beispielsweise gut sieben Millionen Mitglieder vorweisen. Definition ▼ ▲ 3.2 Unterschiedliche Handlungsfelder der Interessengruppen <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 67 67 Die Vielfalt organisierter Interessen in Deutschland (4) Organisierte Interessen im Bereich von Religion, Kultur und Wissenschaft: In dieses gleichfalls große Feld gehören zunächst die »Kirchen« und »Sekten«. Dabei ist die Einstufung der Kirchen als »Vereine« nicht ganz unproblematisch, weil diese in der Bundesrepublik einen rechtlichen Sonderstatus genießen. Die wissenschaftlichen Vereinigungen sowie die Bildungswerke und Kunstvereine spielen, was ihren Mitgliedschaftsumfang betrifft, eine nur nachgeordnete Rolle. (5) Organisierte Interessen im gesellschaftlichen und politischen Bereich: Hierunter fallen die »NGOs« (Nichtregierungsorganisationen, »nongovernemental organizations«), also ideelle Vereinigungen wie »Amnesty International« oder gesellschaftspolitische Gruppen, die sich mit Umwelt-, Friedens- oder Globalisierungsfragen auseinandersetzen (»Greenpeace«, »Attac« etc.). Nicht alle Interessenorganisationen sind zugleich auch »Verbände« in dem Sinne, dass sie versuchen, ihre Interessen nach außen zu vertreten. Vielmehr beschränkt sich die Mehrzahl der Vereine darauf, ihren Mitgliedern unmittelbare Leistungen zu bieten. Die Gesamtzahl der nach außen wirkenden Vereine, der Verbände, ist wie die Gesamtmenge der Vereine gleichermaßen schwer zu erfassen. Etwas leichter fällt es, die Anzahl der »politischen Verbände« zu registrieren, zumindest von denjenigen, die sich beim Bundestag »akkreditiert« haben. Seit 2022 müssen Vereine, die Interessen gegenüber dem Bundestag und der Bundesregierung vertreten wollen, im Lobbyregister des Deutschen Bundestags erfasst sein. Über 5.000 Interessenvertretungen sind dort aufgeführt, die meisten von ihnen Verbände (»Juristische Personen«) und der Großteil aus dem Bereich Wirtschaft. Gesamtzahl von Verbänden Natürliche Personen Juristische Personen Personengesellschaften Netzwerke, Plattformen, u. Ä. Sonstige 233 70 179 137 3.541 Abb. 8 Lobbyregister des 20. Deutschen Bundestages (Stand 04/ 2022) Quelle: Zahlen nach Auskunft des Deutschen Bundestages, eigene Darstellung <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 68 68 Die Verbändedemokratie Strategien und Adressaten der Interessenvermittlung Konzentrieren wir uns auf die politischen Verbände. Diese versuchen im Sinne ihrer Mitglieder Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen - auf Entscheidungen, die formal gesehen von anderen getroffen werden, z. B. vom Bundestag oder von der Bundesregierung. Grob kann man zwei Vorgehensweisen verbandlicher Einflussnahme unterscheiden: auf der einen Seite Versuche der internen Beeinflussung, auf der anderen Seite die Einflussnahme mithilfe öffentlichen Drucks. Die beiden Grundstrategien lassen sich im Einzelnen noch weiter ausdifferenzieren. Wege interner Beeinflussung Zu den vielleicht bekanntesten und berüchtigtsten Tätigkeiten eines politischen Verbands gehört das Lobbying. Dabei handelte es sich ursprünglich um das persönliche Beeinflussungsgespräch mit den Abgeordneten im Vorraum des Plenarsaals, der so genannten Lobby. Daher auch der Begriff. Mittlerweile erstreckt sich das Lobbying weit über das Parlament und seine Wandelhalle hinaus auch auf andere politische Einheiten, zum Beispiel auf die Ministerialverwaltung oder auf die politischen Parteien. Verbände treten aber nicht als bloße Bittsteller auf, die etwas wollen, ohne dafür etwas bieten zu können. Zum Teil sind die politischen Institutionen auf die Expertise von Verbänden angewiesen. Deswegen liegt es auch im Eigeninteresse der politischen Akteure, Verbände beratend in Gesetzgebungsprozesse einzubeziehen, zum Beispiel durch deren Mitwirkung in Kommissionen oder durch ihre Einbindung in Anhörungen. Bereits im frühen Stadium eines Gesetzentwurfs, noch lange bevor die Vorlage das Licht der parlamentarischen Beratung erblickt, haben die betroffenen Verbandsvertreter: innen das Recht, angehört zu werden. Die größeren Interessenverbände können - sofern sie im Lobbyregister des Bundestages aufgeführt sind - an Regierungskommissionen und in den Beiräten der Bundesministerien mitwirken. Auch das parlamentarische Verfahren sieht die Einbindung von Vertretern organisierter Interessen im Rahmen von »Hearings« vor: In den laufenden Beratungen der Bundestagsfachausschüsse werden bei vielen Gesetzentwürfen die einschlägigen Verbände aufgefordert, Stellungnahmen zu den Vorlagen einzureichen und vorzustellen. In das Strategiefeld der internen Beeinflussung gehören auch die Versuche der personellen Durchdringung von Parteien, Parlamenten und Regierungen. Durch die Platzierung von eigenen Leuten auf wichtigen Schlüsselpositionen - beispielsweise durch die Entsendung von Verbands- und Unternehmensmitarbeitenden in die Ministerien - kann sich ein Verbandsinteresse unmittelbaren 3.3 3.3.1 Lobbyarbeit der Verbände Personelle Durchdringung <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 69 69 Strategien und Adressaten der Interessenvermittlung Zugang in die Entscheidungsarenen verschaffen und sicher sein, in der Politik Ansprechpartner mit offenen Ohren zu finden. Viele Bundestagsabgeordnete sind in der Tat zugleich Verbandsfunktionäre oder waren dies vor ihrer parlamentarischen Karriere. Wenn diese in den »richtigen« Ausschüssen gegebenenfalls als Berichterstattende fungieren, kann dies für die Angelegenheiten eines organisierten Interesses sehr hilfreich sein. Dabei fällt auf, dass bestimmte gesellschaftliche Organisationen bei bestimmten Parteien überrepräsentiert sind: So sind immer noch die SPD-Fraktion und auch die Fraktion der LINKEN von Gewerkschaftsfunktionär: innen durchdrungen; katholische Verbände sind in der CDU/ CSU-Fraktion am stärksten vertreten und bei den Grünen die Umwelt-/ Naturschutzorganisationen. Zur »Personalpolitik« von organisierten Interessen gehört weiterhin die Vergabe von gut dotierten Posten im Verband oder in einer seiner Mitgliedsorganisationen an sich bereits im Amt befindliche Politiker: innen. Hierbei geht es nicht darum, eigene Funktionär: innen zum politischen Führungspersonal zu machen, sondern politisches Führungspersonal an organisierte Interessen zu binden. Ehemalige und amtierende Politiker: innen werden dabei gleichermaßen berücksichtigt. Einige Fälle der Übernahme von Posten durch vormalige Amts- und Mandatsträger sind allerdings in den Geruch der Vorteilsnahme geraten. 2015 wurde aus diesem Grund eine »Ka- Verbandsfärbung des 19. Deutschen Bundestages (Wahljahr 2017, in % der Mitglieder des Bundstages bzw. der jeweiligen Fraktion) Funktionsträger, auch ehemalige, in Verbänden Bundestag CDU/ CSU SPD B 90/ Grüne Linke FDP AfD DGB-Gewerkschaften 3,5 - 11,1 - 11,6 - - Bauernverband, Landwirteorganisationen 1,3 3,3 - - - 1,3 - Mittelstandsorganisationen 0,4 1,2 - - - - - Unternehmensorganisationen 1,1 1,2 - - - 10 - Soziale Interessen und Hilfe 4,5 5,7 5,9 4,5 4,3 2,5 1,1 Evangelische Organisationen 3,2 4,9 2,6 1,5 - 3,8 4,3 Katholische Organisationen 2,3 4,1 2,6 - - 1,3 1,1 Vertriebenenverbände 0,6 0,8 - - - - 2,2 Umwelt-/ Naturschutzorganisationen 0,3 - - 1,5 - - 1,1 Politische Verbände 3,1 2,4 5,2 6 2,9 1,3 1,1 a) einschließlich freigestellter Betriebsräte b) einschließlich Wohlfahrtsu. Rentnerverbände, Mieterbund, Haus und Grund Quelle: Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2019, S. 65. Tab. 4 <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 70 70 Die Verbändedemokratie renzzeit« für Regierungsmitglieder eingeführt: Wenn sie nach Ausscheiden aus dem Amt einen Posten in der Wirtschaft annehmen wollen, kann es bei Interessenskonflikten zu einer »Wartezeit« von bis zu 18 Monaten kommen, bis sie die Tätigkeit aufnehmen dürfen. Verbände und Unternehmen erhoffen sich durch die Einstellung ehemaliger Berufspolitiker: innen einen Gewinn an politisch-strategischem Know-how und einen besonderen Zugang zu den amtierenden Entscheidungsträgern. Ohnehin finden sich im Bereich der internen Beeinflussung Grauzonen, die in die Dunkelzone krimineller Machenschaften übergehen. Dies gilt auch und insbesondere für das gesamte Spendenwesen. Hier gab es immer wieder Vermutungen und Debatten darüber, welchen Einfluss beispielsweise Parteispenden von Verbänden und Verbandsmitgliedern auf konkrete politische Entscheidungen ausgeübt haben. Mit solchen Fragestellungen haben sich mittlerweile auch schon mehrere Untersuchungsausschüsse und Gerichte beschäftigt: Ab wann wird aus einer Spende eine »Bestechung« oder eine »Vorteilsnahme« im strafrechtlich relevanten Sinne? Kann man einen Zusammenhang zwischen einer finanziellen Zuwendung und einer konkreten Entscheidung überhaupt gerichtsfest nachweisen? In der Dunkelzone interner Beeinflussung bewegen sich schließlich noch konfliktorientierte »Kommunikationsformen« wie Drohungen oder Nötigungen. Dazu gehört beispielsweise die Ankündigung, finanzielle oder materielle Ressourcen im Falle einer verbandsfeindlichen Entscheidung zurückzuhalten. Oder es wird die Drohung ausgesprochen, gegebenenfalls eine öffentlichkeitswirksame Kampagne gegen die politischen Entscheidungsträger zu starten. Wird diese Drohung verwirklicht, dann verlässt der Verband die Dunkelzone und greift auf die zweite Grundstrategie von Interessenvertretung zurück: auf das »going public«, also über die Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen. Wege öffentlicher Beeinflussung Wenn Verbände zur Durchsetzung ihrer Interessen auf »Druck« (»pressure«) zurückgreifen, dann ist dabei öffentlicher Druck gemeint (»public pressure«). Organisierte Interessen bewegen sich wie die anderen politischen Akteure in einer Mediengesellschaft (→ Kapitel 4) . Dies können sie unter bestimmen Bedingungen für ihre Zwecke nutzen. Ziel des »going public« ist es, die eigenen Themen auf die öffentliche Agenda zu setzen oder die »öffentliche Meinung« im Sinne des Verbandsinteresses zu beeinflussen. »Going public« wendet sich somit nicht unmittelbar an die politischen Entscheidungsträger, sondern zielt darauf, über die Öffentlichkeit, d. h. mit und über Medien, auf den Entscheidungsprozess einzuwirken. Spenden Dunkelzonen der Interessenvertretung 3.3.2 Einflussnahme über Massenmedien <?page no="71"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 71 71 Strategien und Adressaten der Interessenvermittlung Hierzu gilt es zunächst, die Berichterstattung und Meinungsbildung in den journalistischen Medien zu beeinflussen. Dabei müssen die Verbände die Funktionslogik des Mediensystems berücksichtigen. Ihr Kommunikationsmanagement hat sich an den Strukturen moderner Mediengesellschaften auszurichten. Angezeigt ist also eine professionalisierte und moderne Öffentlichkeitsarbeit, die sich der journalistischen Medien bedient, aber zugleich auch mit eigenen Medien arbeitet. Bei den »eigenen Medien« nimmt das Internet eine wichtige Rolle ein. Verbände arbeiten intensiv mit Social- Media-Strategien, um ihre Anliegen zu verbreiten, sich zu vernetzen und in den politischen Bereich hineinzuwirken. Dabei gehen Social-Media-PR und klassische Medienarbeit oft Hand in Hand. Öffentlicher Druck kann zudem durch Kundgebungen und Demonstrationen aufgebaut werden. Zu den inszenierten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen gehören ferner politische Streiks oder Boykottaufrufe. Solche Aktivitäten sind eng mit der »going public«-Strategie verbunden, denn sie zielen nicht zuletzt darauf, dass in den Medien über die Aktionen berichtet und auf diese Art und Weise das Verbandsanliegen öffentlich wird. Solche Aktivitäten sind zumeist Teil von Kampagnen, die auf mehreren Wegen gleichzeitig versuchen Druck aufzubauen. Kontakte Informationen Eingaben personelle Durchsetzung personelle Durchsetzung personelle Durchsetzung Stimmenpakete Spenden Eingaben Unterstützung (oder Sabotage) von Maßnahmen Sachverstand Informationen Demonstration eigene Medien Stellungnahme Bundesregierung Ministerialbürokratie politische Parteien öffentliche Meinung Bundestag VERBÄNDE unmittelbare Einflussnahme mittelbarer Einfluss der Verbände Mittel Adressaten Abb. 9 Adressaten und Methoden von Verbandseinfluss Quelle: Wolfgang Rudzio: Die organisierte Demokratie. Parteien und Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl., Stuttgart, Metzler 1982, S. 41. <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 72 72 Die Verbändedemokratie Auch Wahlappelle, also die Aufforderung, bei Wahlen für eine bestimmte Partei zu stimmen, gehen den Weg über die öffentliche Stimmungskulisse. Dies kann sich je nach Mobilisierungskraft eines Verbands durchaus spürbar im Wahlergebnis niederschlagen. Welche der Strategien zum Einsatz kommt und welche Institution zum Adressaten verbandlicher Beeinflussung wird, hängt von mindestens zwei Rahmenbedingungen ab: (1) vom jeweiligen Thema, (2) vom jeweiligen Verband und seinen Merkmalen. (1) Welches Thema zur Entscheidung ansteht, ist maßgeblich dafür, welche politischen Akteure überhaupt an einer Rechtsetzung mitwirken. Welches Ministerium ist beteiligt, welcher Ausschuss federführend, welche Partei und welche einzelnen Politiker: innen und Ministerialbeamt: innen sind besonders engagiert in der jeweiligen Frage? Handelt es sich um einen Gesetzgebungsprozess, an dem das Parlament teilnimmt, oder um eine Regierungsverordnung? Ist bei dem Thema neben oder über der nationalen auch die europäische Ebene mit- oder alleinig zuständig? Die Antworten auf diese Fragen entscheiden über die jeweiligen Adressaten und die jeweilige Strategie der Interessenvertretung. Das Thema ist überdies ausschlaggebend dafür, ob sich der Weg über »public pressure« anbietet. Denn das setzt voraus, dass die Problematik über Medien präsentierbar und dazu geeignet ist, das Publikum und die Netzgemeinde zu interessieren und gegebenenfalls zu mobilisieren. (2) Die zweite Differenzierung betrifft die unterschiedliche »Aufstellung« der Verbände, ihre ungleichen Kapazitäten und Ressourcen. Nicht alle organisierten Interessen können gleichermaßen auf die gesamte Palette der Einflussinstrumente zurückgreifen. Ressourcenaufwändige Wege lassen sich nur dann beschreiten, wenn der Verband über entsprechende Mittel verfügt. Außerdem sind Verbände dann machtvoller als andere, wenn sie über ihre Mitgliedschaft die Möglichkeit haben, der Gesellschaft wichtige Leistungen zu entziehen. Claus Offe hat in diesem Zusammenhang das Konzept der »Konfliktfähigkeit« eingebracht. »Schwache Interessen«, deren Mitglieder keine unmittelbar gesellschaftlich relevanten Leistungen verweigern können, haben von daher eine schlechtere Ausgangsposition. Schließlich mag es nicht jedem Verband möglich sein, Parteien und Parlamente personell zu durchdringen - zum Beispiel mangels einer über Jahrzehnte ausgebauten Verflechtung mit einer Partei. Es gibt noch weitere Gründe für die Heterogenität der Verbändelandschaft: Der Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson hat sich damit beschäftigt, wie unterschiedlich Interessenvereinigungen von ihrer Mitgliederbasis her sein können und welche Auswirkungen dies auf das »kollektive Handeln« haben kann. Dabei konzentriert er sich auf die Frage, unter welchen Umständen es für den Einzelnen gewinnbringend ist, sich in einer Organisation und für Strategie hängt von-Thema und Verband ab Konfliktfähigkeit »Logik des kollektiven Handelns« <?page no="73"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 73 73 Strategien und Adressaten der Interessenvermittlung diese Organisation zu engagieren. Er kam zu folgenden Thesen: Je größer die Gruppe, desto geringer ist die Engagementbereitschaft der einzelnen Person, weil diese mit ihrer Beteiligung keinen merklichen Unterschied zu machen glaubt. Umgekehrt gilt: Je kleiner die Gruppe, desto höher ist der potenzielle Gewinn der Mitglieder und desto größer ist die Bereitschaft, sich zu engagieren. In diesem Sinne können gerade die personenschwachen Interessengruppen eine besonders hohe Konfliktfähigkeit entwickeln. In der konkreten Situation werden selbst die ressourcenstarken und konfliktfähigen Verbände nur einen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden Strategien und Mittel zum Einsatz bringen. Im Sinne der Effektivität wird man sich aber wohl nicht auf eine einzelne Vorgehensweise beschränken, sondern auf eine Kombination verschiedener Instrumente auf verschiedenen Ebenen gegenüber verschiedenen Akteuren setzen. Die Verbändeforschung geht ohnehin davon aus, dass nicht alle Instrumente gleichermaßen wirksam sind. Es findet sich immer wieder die Vermutung, dass die Strategie der internen Beeinflussung effektiver und effizienter ist als die Strategie der öffentlichen Druckerzeugung. »Pressure« ist auf Konfrontation und Konflikt angelegt. Die Strategien der Beeinflussung »von innen« sind hingegen überwiegend kooperativ. Ein konfrontatives Vorgehen kann, ohne es zu wollen, erhebliche Widerstände mobilisieren und ist schlechter kalkulierbar. Ein Manko des »going public« ist zudem, dass man mit unsicheren Faktoren kalkulieren muss, z. B. mit der Berichterstattung durch die journalistischen Medien. Die Verbände können nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass diese »mitmachen« und in ihrem Sinne über ihre Welcher Weg ist der-effektivste? Konfliktfähigkeit und Organisationsfähigkeit nach Claus Offe - »Konfliktfähigkeit beruht auf der Fähigkeit einer Organisation bzw. der ihr entsprechenden Funktionsgruppen, kollektiv die Leistung zu verweigern bzw. eine systemrelevante Leistungsverweigerung glaubhaft anzudrohen.« - »Organisationsfähig sind gesellschaftliche Bedürfnisse und Interessen dann, wenn sie in ausreichendem Umfang diejenigen motivationalen und materiellen Ressourcen mobilisieren können, die zur Etablierung eines Verbandes oder eines ähnlichen Instruments der Interessenvertretung erforderlich sind.« Quelle: Claus Offe: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Herrschaftssysteme, in: Dieter Senghaas/ Gisela Kress (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt a. M., Europäische Verlagsanstalt 1969, S. 155-189. Definition ▼ ▲ <?page no="74"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 74 74 Die Verbändedemokratie Aktionen berichten. Auch wenn dann die Medien das Thema aufgreifen, ist nicht immer zuverlässig einkalkulierbar, in welcher Form sie dies machen und zu welcher Bewertung sie dabei gelangen. Das Gleiche gilt für die Dynamik von Social-Media-Kampagnen. Auch diese sind nicht in alle Verästelungen hinein planbar und vorhersehbar. Tarifautonomie und (neo-)korporatistische Strukturen in-Deutschland Nicht alle Verbände sind auf die Beeinflussung der Entscheidungen anderer angewiesen. Einige von ihnen befinden sich in der privilegierten Position, verbindlich mitwirken zu können und selbst politische oder zumindest gesellschaftlich relevante Entscheidungen treffen zu dürfen. Dieses Privileg haben insbesondere die Tarifparteien im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie. Dieselben Verbände spielen in »neo-korporatistischen« Netzwerken eine wichtige Rolle, wenn sie zusammen mit der Regierung an einem Tisch sitzen und an Entscheidungen mitwirken können. ⚫ Tarifautonomie: Die Vereinigungen der Arbeitnehmerschaft und der Arbeitgeberschaft werden durch Artikel 9 GG ausdrücklich geschützt. Unter Schutz steht auch deren gemeinsames Recht, selbstständig tarifliche Vereinbarungen zu treffen. Der Staat überlässt den Tarifpartnern die Kompetenz, »autonom« Verträge über Einkommen und Arbeitszeiten auszuhandeln. Aus dem konkreten Verhandlungsprozess hält er sich formal heraus außer in den Fällen, in denen er selber Tarifpartner ist, z. B. bei den Verhandlungen für die Angestellten des öffentlichen Dienstes. Eine staatliche Zwangsschlichtung ist ausgeschlossen. Es gibt allerdings Verfahrensregeln, an die sich die Tarifpartner halten müssen, die im so genannten »Tarifvertragsgesetz« niedergeschrieben sind. Das Prozedere bei den Tarifverhandlungen ist standardisiert und die Rechte und Pflichten der beiden Seiten festgelegt - etwa wann die Gewerkschaften das Recht zum Streik haben und die Arbeitgebenden das Recht zur Aussperrung. Auf der »Pflicht«-Seite steht unter anderem das Verbot bestimmter Aktivitäten während der Laufzeit der Verträge (»Friedenspflicht«). Die ausgehandelten Vereinbarungen gelten allerdings nur für die Betriebe, die tarifgebundene Mitglieder des entsprechenden Arbeitgeberverbandes sind. In diesen Betrieben gelten die Tarife wiederum auch für diejenigen Beschäftigten, die nicht in der Gewerkschaft organisiert sind. 3.4 Gesetzlich garantierte Tarifautonomie <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 75 75 Tarifautonomie und (neo-)korporatistische Strukturen in-Deutschland Ablauf einer Tarifverhandlung Nach der fristgerechten Aufkündigung des alten Tarifvertrags kommt es in der ersten Phase der Tarifgespräche zur Festlegung und Darstellung der jeweiligen Forderungen. Wird in den sich daran anschließenden (oft langwierigen) Verhandlungen keine tragfähige Vereinbarung gefunden, sind in der Regel von den Gewerkschaften organisierte Warnstreiks die Folge. Erzielt man danach immer noch keinen Verhandlungskompromiss (erforderlich ist die Zustimmung beider Tarifparteien), ist es möglich, ein Schlichtungsverfahren, meist unter Beteiligung ehemaliger Spitzenpolitiker: innen, anzuberaumen. Scheitert schließlich auch dieses Verfahren, dann kann es zu einem Arbeitskampf mit Streiks und Aussperrungen kommen. Der Arbeitskampf wird begleitet von weiteren Tarifgesprächen. Führen die Verhandlungen zu keinem Ergebnis, gilt vorerst der alte Tarifvertrag weiter. Gelingen die Verhandlungen, dann liegt ein neuer Tarifvertrag vor, der von Vertretern beider Seiten unterzeichnet wird. Während der Laufzeit des neuen Tarifvertrags gilt wiederum die »Friedenspflicht«: Den Tarifpartnern ist es in diesem Zeitraum nicht gestattet, einen Arbeitskampf zu beginnen, um beispielsweise rückwirkend Änderungen im abgeschlossenen Vertrag durchzusetzen. ⚫ »Neo-Korporatismus«: Dieser Begriff findet dann Verwendung, wenn die Sozialpartner geregelt in Entscheidungsprozesse eingebunden werden - ohne jedoch dass ihnen dabei Handlungsautonomie zusteht. Der liberale oder gesellschaftliche »Neo-Korporatismus« unterscheidet sich vom autoritären und staatlichen Korporatismus (z. B. im Nationalsozialismus) mit seiner Zwangseinbindung von Verbänden. Beispiele für neo-korporatistische Vorgehensweisen in der Bundesrepublik waren die »Konzertierte Aktion« während der sozial-liberalen Koalition zur Überwindung der Wirtschaftskrise in den 1960er und 1970er Jahren, das »Bündnis für Arbeit« in der Kanzlerschaft Gerhard Schröders sowie die »Konzertierte Aktion« unter Bundeskanzler Olaf Scholz. Man spricht dabei von »tripartistischen« Runden, da drei »Parteien« beteiligt sind: Arbeitnehmerschaft, Arbeitgeberschaft und die Regierung. Warum könnte »der Staat«, also konkret die jeweilige Regierung, ein Interesse daran haben, ausgewählte Verbände in die Entscheidungsprozesse einzubinden? Weil ein solches Vorgehen für die Umsetzung von staatlichen Beschlüssen hilfreich sein kann. Denn sind die relevanten Verbände an einer Entscheidung mitbeteiligt gewesen, so werden sie deren Realisierung voraussichtlich unterstützen. Letztlich läuft dieses Vorgehen auf eine Art Mitregieren Hintergrund Geregelte Einbindung von Verbänden <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 76 76 Die Verbändedemokratie ausgewählter Verbände hinaus. Es kann aber auch anders gesehen werden - nämlich als das Einmischen der Regierung in die eigentlich von Staatsfreiheit geprägten Beziehungen zwischen den Tarifparteien. Bündnis für Arbeit (1998-2002) Das »Bündnis für Arbeit« wurde nach dem Regierungswechsel 1998 ins Leben gerufen. Die Idee ging auf eine Initiative der Gewerkschaften aus dem Jahr 1996 zurück. Es setzte die »Kanzlerrunden« der Regierung Kohl in anderer Form fort. In dem »Bündnis für Arbeit« waren neben der Bundesregierung Spitzenfunktionäre von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vertreten. Das »Bündnis« hatte zum Ziel, die Beschäftigungsquote in Deutschland zu erhöhen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu fördern. Nach der Bundestagswahl 2002 wurde das »Bündnis für Arbeit« nicht mehr fortgeführt. Idealerweise entsteht durch solche neo-korporatistischen Strukturen ein »Kräfteparallelogramm« (Ernst Fraenkel), das die einseitige Durchsetzung eines Verbandsinteresses (»Partikularinteresse«) auf Kosten der Gesamtgesellschaft (»Gemeinwohl«) unwahrscheinlich macht. Der Neo-Korporatismus wird aber zum demokratischen Problem, wenn zwischen den Beteiligten Verträge zu Lasten Dritter abgeschlossen werden. Das »Mitregieren« von Verbänden ist gelegentlich als »Herrschaft der Verbände« apostrophiert worden - wobei die Probleme des »Bündnisses für Arbeit« deutlich machen, dass die neo-korporatistische Herrschaft ihre Grenzen findet. So ist das Bündnis letzten Endes erfolglos geblieben, weil die »Partner« sich nicht auf gemeinsame Grundlinien einigen konnten. Die Kritik am »Lobbyismus« macht sich indes weniger an solchen geregelten Formen der Zusammenarbeit fest, sondern am intransparenten, unkontrollierbaren und informellen Einfluss von Interessenorganisationen. Da ist dann schon einmal plakativ vom »Lobbyland« Deutschland oder gar von einer »Lobbykratie« die Rede. Der Vorwurf steht im Raum, dass in einigen Politikfeldern aufgrund des starken Einflusses von Interessengruppen relevante Reformen nicht möglich sind (z. B. in der Gesundheitspolitik). Für andere Themengebiete gilt dies allerdings nur bedingt. Ohnehin ist eine Grenzziehung schwierig: Ab wann ist eine Einbindung von Verbänden sinnvoll und hilfreich, ab wann wird sie zu einem Problem? Hintergrund ▼ ▲ Kritik am Verbändeeinfluss <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 77 77 Assoziative Demokratie und Zivilgesellschaft Assoziative Demokratie und Zivilgesellschaft Die »(Mit-)Herrschaft der Verbände« - wenn auch nicht unter diesem Schlagwort - kann auch anders und positiv gesehen werden: als ein alternatives oder zumindest ergänzendes Demokratiemodell. In diesem Zusammenhang sind zwei Debattenstränge interessant: a) die Diskussion um eine »assoziative Demokratie«, b) die Diskussion um die Rolle der »Zivil-« und »Bürgergesellschaft«. a) »assoziative Demokratie«: Die Anhänger dieses Modells plädieren nicht für weniger, sondern für mehr, wenngleich »öffentlich-transparente« Einbindung von Verbänden in den politischen Prozess. Ihnen schweben netzwerkähnliche Entscheidungsstrukturen vor: In den einzelnen Politikfeldern sollen diejenigen gesellschaftlichen Gruppen vernetzt werden, die von den jeweiligen politischen Entscheidungen betroffen sind. Die Einbindung soll verbindlicher und regulierter sein als die bereits bestehende Form der Berücksichtigung von Verbänden im Entscheidungsprozess. Welchen Mehrwert versprechen sich Wissenschaftler wie Joshua Cohen und Joel Rogers von der verstärkten Einbindung der Interessengruppen? Ihrer Meinung nach werde damit die demokratische Qualität der Gesellschaft gefördert, es werde mehr Partizipation ermöglicht, eine neue »Beteiligungskultur« könne entstehen. Ferner gehen die Befürworter: innen der »assoziativen Demokratie« davon aus, dass in solchen Netzwerken getroffene Entscheidungen eine größere Verbindlichkeit entfalten und somit leichter umgesetzt werden könnten. Dadurch, dass die Verbände zu quasi-öffentlichen Akteuren werden, erwartet man, dass sich diese auch dem Gemeinwohl und der Idee der »Verteilungsgerechtigkeit« verpflichtet sehen würden. Ohnehin hoffen die Vertreter des Modells der assoziativen Demokratie, dass das Ergebnis solcher Netzwerkentscheidungen inhaltlich hochwertig sei, weil über die Verbände fachliches Know-how in die Entscheidungsfindung einfließen könne. Schließlich soll aber auch in diesem Ansatz die Letztentscheidung bei staatlichen Instanzen, insbesondere beim Parlament liegen. Kritisiert wird die Idee der assoziativen Demokratie mit den Argumenten, die generell gegen solche pluralistischen Modelle vorgebracht werden: Nicht alle gesellschaftlichen Interessen haben die gleiche Ausgangslage. Bereits angesprochen wurden die Unterschiede bei der Konfliktfähigkeit von Interessen. Claus Offe hat darüber hinaus noch einen zweiten Aspekt auf den Begriff gebracht, der noch vor der Konfliktfähigkeit liegt: die »Organisationsfähigkeit« von Interessen (s. o.). Er weist darauf hin, dass nicht aus jedem Interesse ein »organisiertes« wird oder werden kann. Einige gesellschaftliche Interessen sind schlichtweg nicht in einen organisatorischen Rahmen zu bringen, zum Beispiel die Interessen von Obdachlosen. 3.5 Netzwerkähnliche Entscheidungsstrukturen <?page no="78"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 78 78 Die Verbändedemokratie Diese haben in einem Modell assoziativer Demokratie wenig Artikulationschancen. Ob es hinreichend kompensatorische Wege gibt, solche nicht-organisierbaren Interessen im Kräftefeld der Verbände zu vertreten, ist fraglich. b) »Zivil-« und »Bürgergesellschaft«: Modelle der Zivil- und Bürgergesellschaft sind mit der assoziativen Demokratie verwandt. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie einen Rückzug des Staates durchaus befürworten und der Gesellschaft mehr Kompetenz in der Problemerkennung und -lösung zuweisen wollen. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass die Idee der Zivil- und Bürgergesellschaft stärker auf das Individuum setzt und auf seine Bereitschaft, sich zu engagieren und dabei »soziales Kapital« zu erzeugen. Der »Dritte Sektor«, der öffentliche Raum zwischen Staat und Wirtschaft, erhält in diesem Ansatz eine besondere Bedeutung. Die Bürger: innen können sich als Individuen, aber durchaus auch als soziale Initiativen und Gruppen gesellschaftlich einbringen. Wenn ein Teil der gesellschaftlichen Leistungen auf bürgerschaftlichem/ ehrenamtlichem Engagement beruht, ist es wiederum möglich, die staatlichen Leistungen zu begrenzen. Hier liegt auch die zentrale Kritik an diesem Ansatz: Es dürfe nicht ein bloßes Sparprogramm mit basisdemokratischem Anstrich werden. Bürger: innen bringen-sich-ein Parlamente Regierungen Verwaltungen Justiz Multinationale Konzerne Großunternehmen Kleine und mittlere Unternehmen Initiativgruppen Interessenverbände Vereine Vereinigungen Kirchen Kammern Abb. 10 Die drei gesellschaftlichen Sektoren <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 79 79 Assoziative Demokratie und Zivilgesellschaft Was bleibt festzuhalten? Vereinigungen erlauben die Bündelung (Aggregation) und Vertretung (Artikulation) von Interessen in komplexen pluralistischen Gesellschaften wie der Bundesrepublik. Sie können die Beteiligung von Menschen im politischen Prozess erweitern und einen bedeutsamen demokratischen Beitrag leisten. Mitunter übernehmen Assoziationen auch vormals staatliche Aufgaben. Vereinigungen können jedoch Akteure wie Parteien, Parlamente oder Verwaltungen nicht ersetzen. Eine »Verbändedemokratie« hat stets mit Legitimationsproblemen zu kämpfen, weil sie nicht die Vertretung aller Interessen und aller Individuen gleichermaßen garantieren kann. Dazu bedarf es in der Tat anderer Vermittlungsinstanzen wie beispielsweise der Parlamente. Überdies sind noch zusätzliche Akteure an der Interessenvermittlung beteiligt. Mit einer weiteren Vermittlungsgruppe, den Medien, beschäftigt sich das folgende Kapitel. 1 Worin liegt der Unterschied zwischen einem Verein und einem Verband? 2 In welchen gesellschaftlichen Handlungsfeldern lassen sich organisierte Interessen verorten? 3 Welche Formen und Adressaten der Beeinflussung durch Verbände gibt es und wovon hängt die Entscheidung für die eine oder andere Strategie ab? 4 Inwiefern leisten organisierte Interessen einen Beitrag zu »mehr Demokratie«? Lernkontrollfragen ▼ Soziales Kapital Das soziale Kapital oder Sozialkapital entwickelt sich aufgrund der Beziehungen und Interaktionen der Menschen miteinander. Es basiert auf deren Bereitschaft, einander zu vertrauen, zu kooperieren und sich gegenseitig zu helfen. Soziales Kapital wird in gesellschaftlichen Netzwerkstrukturen produziert. Dabei spielen Assoziationen (Vereine und Verbände) eine wichtige Rolle. Der Begriff ist insbesondere von Robert D. Putnam in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingebracht worden und tauchte bei ihm erstmalig in seiner Studie »Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy« aus dem Jahr 1993 auf. Den Rückgang sozialen Kapitals in den USA hat Putnam in seiner vielzitierten Analyse »Bowling Alone« skizziert (1995). Definition ▼ ▲ <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 80 80 Die Verbändedemokratie 5 Was bedeuten die Begriffe »Organisationsfähigkeit« und »Konfliktfähigkeit«? Inwiefern zeigen sie die Grenzen einer »Verbändedemokratie« auf ? 6 Worin unterscheidet sich das Modell der assoziativen Demokratie von der Idee der Bürgergesellschaft? Literatur In die Thematik führt grundlegend ein: Sigrid Koch-Baumgarten: Verbände zwischen Öffentlichkeit, Medien und Politik, Wiesbaden, Springer VS 2013 , sowie mit Verweis auf die einschlägigen Theoretiker Martin Sebaldt/ Alexander Straßner (Hg.): Klassiker der Verbändeforschung, Wiesbaden, VS Verlag 2006. Einen Einstieg, in der neben der Bundesrepublik auch 26 weitere Fälle und die Europäische Union zur Sprache kommen sowie theoretische Grundlagen gelegt werden, bietet: Werner Reutter (Hg.): Verbände und Interessengruppen in den Ländern der Europäischen Union, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2012 . Mit Trends in der Verbändeforschung beschäftigt sich ein Sonderheft der Zeitschrift für Politikwissenschaft: Detlef Sack/ Christoph Strünck (Hg.): Verbände unter Druck, Wiesbaden, Springer VS 2017 , mit der strategischen Kommunikation von Verbänden: Ulrike Röttger/ Patrick Donges/ Ansger Zerfaß (Hg.): Handbuch Public Affairs. Politische Kommunikation für Unternehmen und Organisationen, Wiesbaden, Springer Gabler 2021. Speziell mit dem Konzept der Zivilgesellschaft und ihren aktuellen Herausforderungen setzt sich auseinander: Brigitte Grande/ Edgar Grande/ Udo Hahn (Hg.): Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Aufbrüche, Umbrüche, Ausblicke, Bielefeld, transcript 2021 . Mit dem Dritten Sektor und den gemeinnützigen Organisationen beschäftigt sich: Annette Zimmer/ Thorsten Hallmann: Non-Profitorganisationen vor neuen Herausforderungen, Wiesbaden, Springer VS 2016. Das Konzept der »assoziativen Demokratie« findet sich komprimiert und grundlegend bei Joshua Cohen/ Joel Rogers: Solidarity, Democracy, Association, in: Wolfgang Streeck (Hg.), Staat und Verbände (PVS- Sonderheft 25), Opladen, Westdeutscher Verlag 1992, S. 136-159 . Das Epochenwerk von Mancur Olson, auf das im Kapitel Bezug genommen wurde, heißt: Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, 5. Aufl., Tübingen, Mohr 2004 (Original: 1965) . ▲ <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 81 81 Links Links www.lobbyregister.bundestag.de Der Deutsche Bundestag führt ein öffentliches Lobbyregister über die beim Bundestag registrierten Verbände und Interessenvertretungen. Der aktuelle Stand kann auf der Lobbyregister-Seite des Deutschen Bundestages eingesehen werden. www.gesetze-im-internet.de/ bgb/ Auf dieser vom Bundesjustizministerium gepflegten Seite findet sich das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen Paragrafen zum Vereinsrecht (§§ 21-79). www.verbaende.com Diese Seite wird betrieben von der businessFORUM GmbH in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Verbandsmanagement e. V. (DGVM). In der dort zu findenden Datenbank sind über 15.000 Verbände systematisch erfasst. Außerdem gibt es eine umfangreiche Linkliste. www.lobbycontrol.de Die Website des gemeinnützigen Vereins »LobbyControl« hat sich zur Aufgabe gemacht, die Einflusskanäle der organisierten Interessen auf den politischen Prozess transparenter zu machen. <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 82 82 Die Mediendemokratie - »politics goes media« Mit den Medien und ihrer Rolle im politischen System Deutschlands steht jetzt eine Vermittlungsinstanz im Blickpunkt, die die »Vermittlung« bereits im Namen trägt: »Medien« kommt von »medium« (lat., »die Mitte«). Unter Medien versteht man allgemein technische Hilfsmittel zur Verbreitung von Information und zur Kommunikation. Wendet man sich den Medien in der Politik zu, dann blickt man in der Regel auf Massenmedien wie Zeitung/ Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen und auf internet-basierte Medien. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Beschäftigung mit der Rolle der Medien in der Politik an Weite und Tiefe zugenommen. Gelegentlich konnte man in den Analysen den Eindruck gewinnen, dass in der Politik nur noch die Medien zählten: Sie entscheiden angeblich darüber, wer Wahlen gewinnt, welche Themen wie diskutiert werden oder wer Chancen hat, seine Interessen durchzusetzen. Ob und inwieweit dieser Befund zutrifft, ob wir also wirklich in einer absoluten »Mediendemokratie« leben - das wird im Weiteren angesprochen. Um die Rolle der Medien für die deutsche Demokratie zu tarieren, bedarf es zunächst eines genauen Blicks auf das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland: Auf welchen rechtlichen Grundlagen fußt dieses System? Welche Struktureigenschaften hat der Mediensektor? Wie sehen die Angebots- und Nachfrageseite aus? Auf der Basis der Bestandsaufnahme gilt es abschließend, eine realistische Einschätzung der Rolle der Medien und der Mediatisierung des politischen Systems vorzunehmen. Das Ergebnis sei jetzt schon vorweggenommen: Medien nehmen Einfluss auf Form und Inhalt der Politik in Deutschland. Allerdings schaffen sie dabei keine neue Regierungsform. 4.1 Das bundesdeutsche Mediensystem - rechtliche Grundlagen 4.2 Der bundesdeutsche Medienmarkt - Angebot und Nachfrage 4.3 Politik in der Mediengesellschaft 4 Inhalt <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 83 83 Das bundesdeutsche Mediensystem-- rechtliche Grundlagen Das bundesdeutsche Mediensystem-- rechtliche Grundlagen Zunächst zum rechtlichen Fundament des deutschen Mediensystems: Anzusetzen ist bei der grundlegenden Erwähnung der Medien im Grundgesetz. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind jedoch sehr knapp gehalten und bedurften einer detaillierten rechtlichen Ausformulierung und Konkretisierung, die in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowie im einschlägigen Medienrecht vorgenommen worden sind. Die verfassungsrechtliche Rolle der Medien Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die Gleichschaltung der Medien im Nationalsozialismus noch vor Augen, als sie die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit als Artikel 5 in den Katalog der Grundrechte aufnahmen. Sie haben damit an den Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung angeschlossen und zementierten eines der fundamentalen Menschenrechte, das in jeder demokratischen Verfassung zu finden ist. Der Artikel 5 GG garantiert das Recht, Meinungen »frei zu äußern und zu verbreiten«. Ausdrücklich wird die Freiheit der Berichterstattung geschützt, eine »Zensur« finde nicht statt. Der zweite Absatz macht gleichwohl klar, dass die Meinungs-, Informations- und insbesondere die Pressefreiheit unter bestimmten Umständen eingeschränkt werden können. Art. 5 GG (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. [...] Die Bedeutung der Medien für die Meinungsbildung in der Demokratie ist auch immer wieder Thema in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewesen. In den Entscheidungen zum Rundfunk und zur Presse hat 4.1 4.1.1 Meinungs- und Pressefreiheit als garantiertes Grundrecht Wortlaut ▼ ▲ <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 84 84 Die Mediendemokratie das höchste Gericht stets betont, dass ein Gemeinwesen ohne freie Medien ein Demokratiedefizit habe. Die entsprechende Argumentation findet sich pointiert im »Spiegel- Urteil« des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1966 wieder. Zum Hintergrund: Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« kam im Oktober 1962 mit der Titelgeschichte »Bedingt abwehrbereit« über die militärische Lage in Deutschland und in der NATO heraus. Daraufhin wurden gegen den Verleger Rudolf Augstein und den verantwortlichen Redakteur wegen des Verdachts auf Landesverrat Haftbefehle erlassen und die Redaktionsräume der Zeitschrift durchsucht. Gegen dieses Vorgehen legte der Spiegel-Verlag Verfassungsbeschwerde ein. Diese wurde zwar zurückgewiesen. Das Gericht nutzte jedoch den Fall, um generell auf die Bedeutung der Medienfreiheit für die Demokratie hinzuweisen: Freie Medien (das Urteil bezog sich konkret auf die Presse, reicht aber darüber hinaus) seien wesentlich für einen freiheitlichen Staat. Nur die Medien garantierten die umfassende Information der Bevölkerung und legten damit das Fundament für eine demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung. Mit dem Blick auf die Wirklichkeit der Medien mögen die Formulierungen in dieser Entscheidung allerdings ein wenig weltfremd klingen, insbesondere die Vorstellung einer offen diskutierenden Gesellschaft. An die Medien werden gewaltige demokratische Erwartungen geknüpft und es ist zu fragen, ob diese den Ansprüchen überhaupt gerecht werden (können). »Spiegel-Urteil« - Auszüge »Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates [...]. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung. In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung.« Quelle: BVerfGE 20, 12 Aber auch wenn dieses Ideal nicht erreicht werden kann: Das Wirken der Medien steht unter einem besonderen Schutz. Insofern ist der Begriff der Mediendemokratie schlüssig, wenn dieser zum Ausdruck bringt, dass eine Spiegel-Affäre 1962 Wortlaut ▼ ▲ <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 85 85 Das bundesdeutsche Mediensystem-- rechtliche Grundlagen Demokratie ohne freie Medien nicht funktioniert. Medien stärken die Demokratie, wenn sie eine demokratische Öffentlichkeit herstellen, Herrschaft kontrollieren, Probleme identifizieren, ihre Lösungen diskutieren und gesellschaftliche Interessen vermitteln. Dort, wo die Medienfreiheit unter Druck steht, wird konsequenterweise auch die Demokratie in Gefahr gesehen. Mediengesetze und Grundstruktur der bundesdeutschen Medienlandschaft Jenseits der allgemeinen verfassungsrechtlichen Würdigung und der Interpretationen des Bundesverfassungsgerichts wird das bundesdeutsche Mediensystem durch einschlägige Gesetze und Staatsverträge detailliert geregelt. Hier kommt der deutsche Föderalismus ins Spiel (→ Kapitel 10) . Denn die Medienpolitik fällt zu größten Teilen in die Regelungskompetenz der Länder. So regulieren die jeweiligen Pressegesetze der Bundesländer die Zeitschriften- und Zeitungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Bis zur Föderalismusreform von 2006 hatte der Bund noch die Kompetenz, in diesem Bereich eine Rahmengesetzgebung zu verabschieden. Von dieser Möglichkeit hatte er jedoch nie Gebrauch gemacht. Die Rahmenkompetenz des Bundes im Bereich des Presserechts ist mit der Föderalismusreform und der Neusortierung der Zuständigkeiten zwischen Ländern und Bund entfallen. Das Rundfunkrecht ist wie das Presserecht gleichermaßen Ländersache. In diesem Feld haben die Länder in Staatsverträgen, also in rechtlich verbindlichen Vereinbarungen untereinander, bundeseinheitliche Richtlinien entwickelt. Zentral ist dabei der »Medienstaatsvertrag«, der die Grundlagen für die Existenz und Arbeit von Fernsehen und Hörfunk legt, aber auch darüber hinaus den gesamten Bereich der digitalen Medienanbieter regelt. Der »Rundfunkbeitragsstaatsvertrag« und der »Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag« ergänzen das bundeseinheitliche Rundfunkrecht; diese regeln die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Aufbau und Funktion einzelner öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten sind ebenfalls in Staatsverträgen fixiert worden. Soweit die Verträge Regelungslücken offenlassen, werden diese von den Landesmediengesetzen gefüllt. Dort finden sich auch detaillierte Bestimmungen zum privaten Rundfunk. Während der Pressebereich nach privatwirtschaftlichen Prinzipien aufgebaut ist, begründet das deutsche Rundfunkrecht eine »duale« Struktur: ein Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern. Dabei waren im Bereich des Fernsehens lange Zeit alleine öffentlich-rechtliche Anstalten zugelassen; als Vorbild diente das britische Modell der BBC. Erst Mitte der 1980er Jahre hat man den Staatsvertrag dahingehend geän- 4.1.2 Medienpolitik und Rundfunkrecht sind-Ländersache »Medienstaatsvertrag« Öffentlich-rechtliche und-private Anbieter <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 86 86 Die Mediendemokratie dert, dass nach und nach Frequenzen an private Anbieter vergeben werden konnten. Mittlerweile existiert ein Nebeneinander beider Anbieterformen, wobei die privaten Anstalten ihre Marktanteile im Laufe der Jahre erheblich ausbauen konnten (s. u.). Öffentlich-rechtlicher Rundfunk Eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt unterscheidet sich sowohl von einem staatlichen als auch von einem privatwirtschaftlich organisierten Anbieter. Die Kennzeichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland sind folgende: ⚫ Die Anstalten sind »binnenpluralistisch« organisiert. In den Aufsichtsgremien (den Rundfunkräten) sitzen Vertreter: innen unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessengruppen. ⚫ Die Anstalten finanzieren sich zum Großteil aus Gebühren und nur zu einem geringen Teil aus Werbeeinnahmen. ⚫ Das Programm soll der Grundversorgung der Bevölkerung dienen. ⚫ Die Programmgestaltung soll ausgewogen und vielfältig sein. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen wird immer wieder die Frage nach der aktuellen Existenzberechtigung der öffentlich-rechtlichen Anbieter gestellt. Das Argument, dass nur einige Frequenzen zur Verfügung stehen und die wenigen Rundfunkangebote deswegen ein breites Spektrum repräsentieren müssen, hatte noch bis in die 1970er Jahre hinein Berechtigung. Heutzutage zieht dieses Argument angesichts der technisch bedingten Kanalvermehrung nur noch eingeschränkt. Die Digitalisierung der Programme ermöglicht es zudem, dass eine einzelne Frequenz mehrere Sender trägt. Insofern haben sich Potenziale für einen wirklichen »Außenpluralismus« entwickelt. Als Bestandsargument für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleibt die Idee der ausgewogenen Grundversorgung im Sinne der Gewährleistung einer breiten Angebots- und Meinungsvielfalt. Es hat jedoch angesichts des Engagements der öffentlich-rechtlichen Sender im Spartenbereich (z. B. der Nachrichtenkanal Phoenix oder der Kinderkanal KIKA) kritische Fragen seitens der privaten Anbieter gegeben, ob dieses noch vom Prinzip der Grundversorgung gedeckt wird. Das öffentlich-rechtliche Angebot bewegt sich zwischen zwei Perspektiven: dem Blick auf hohe Einschaltquoten sowie dem Ziel, auch für Minderheiten Angebote bereitzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat in den Rundfunkentscheidungen seine schützende Hand über öffentlich-rechtliche Definition ▼ ▲ <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 87 87 Das bundesdeutsche Mediensystem-- rechtliche Grundlagen Anstalten gehalten. Neben der Bestandsgarantie gibt es auch eine Entwicklungsgarantie mit Bezug auf die neuen technischen Übertragungsmöglichkeiten und das Online-Engagement der Rundfunkanstalten. Gerade an diesem Engagement hat sich viel Kritik festgemacht. Mit dem Online-Content-Netzwerk »funk«, das auf junge Menschen zielt, sowie mit ihren Mediatheken bespielen die Anstalten mittlerweile auch das digitale Feld intensiv. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk befindet sich seit jeher in einem politischen Druckfeld: Die Parteien versuchen unmittelbar und mittelbar Einfluss auf die Arbeit der Sender auszuüben. Das Einfallstor für den Parteieinfluss bieten die Rundfunkräte der Sendeanstalten, in denen Vertreter der Parteien und der ihnen nahestehenden gesellschaftlichen Gruppen informelle Kreise bilden. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum ZDF-Staatsvertrag aus dem Jahr 2014 hat hier eine Grenze gesetzt: Der Anteil »staatlicher und staatsnaher Personen« im Fernseh- und Verwaltungsrat müsse auf ein Drittel begrenzt werden (BVerfG, 1 BvF 1/ 11). Das seitens des Gerichts kritisierte Bemühen der Parteipolitik, Einfluss zu nehmen, zeigt sich insbesondere bei der Besetzung der wichtigen Positionen der Sendeanstalten. Die Intendantenwie auch die Chefredakteurwahlen sind oft ein »Politikum«. Parteipolitische Einflussnahme Rundfunkrat 55 Mitglieder für 5 Jahre gewählt / entsandt Landtagsabgeordnete, Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen Verwaltungsrat 9 Mitglieder Intendant: in vom Rundfunkrat für 6 Jahre gewählt 7 Mitglieder für 5 Jahre gewählt 2 vom Personalrat entsandt Überwachung der Geschäftsführung Zustimmung zu wichtigen Entscheidungen Kontrolle / Beratung (Ausnahme: Programmgestaltung) Wahl & Abberufung; Beratung in allg. Programmangelegenheiten, vor allem bei Erfüllung des Programmauftrags Leitungsbefugnis Vertretung nach außen Verantwortung für Programmgestaltung und Betrieb Interessenvertretung Kontrolle Haushaltsrecht Programmausschuss Haushalts- und Finanzausschuss ggf. weitere Ausschüsse Der Aufbau der Rundfunkanstalt Beispiel WDR Stand: 10/ 2022 Aufbau einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt am Beispiel des WDR Abb. 11 Quelle: Satzung des Westdeutschen Rundfunks (Stand 10/ 2022), eigene Darstellung <?page no="88"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 88 88 Die Mediendemokratie Wie weit dieser Einfluss letztlich reicht, ist empirisch und einzelfallbezogen zu klären. Eine extreme und populistische Wahrnehmung dieses Einflusses findet sich in Schlagworten wie dem vom »Staatsfunk«. Schließlich sei noch auf die Besonderheiten der Strukturen von Online- Kommunikation hingewiesen. Hier hat sich neben dem Presse- und Rundfunkrecht ein eigenes Regulierungsfeld herausgebildet: die »Netzpolitik«. Diese beschäftigt sich mit verschiedenen Fragen: dem Datenschutz, dem Netzausbau, dem Urheberrecht, der Schleichwerbung etc. Dabei ist nicht immer direkt klar, bei wem die Regelungshoheit liegt: beim Bund, beim Land oder bei der Europäischen Union. In Fragen des Datenschutzes und der Verwendung personenbezogener Daten hat beispielsweise die Europäische Union einen rechtlichen Rahmen gesetzt. In Deutschland regelt der bereits erwähnte »Medienstaatsvertrag« die rechtliche Seite der Online-Kommunikation. Hier zeigt sich der mitunter bemühte Versuch, Online-Akteure wie Plattformen zu erfassen und rechtlich einzuhegen. Dabei taucht das Problem auf, dass sich das globalisierte Netz oft einer (national-)staatlichen Rechtsetzung entzieht. Dies gilt insbesondere für die großen Provider wie Google oder Meta, die sich nicht nur der Regulierung, sondern auch der Besteuerung zu entziehen versuchen. Kurzum: Der wachsende Regulierungsbedarf stößt nicht selten an die Grenzen der generellen Regulierbarkeit der Online-Kommunikation. Der bundesdeutsche Medienmarkt-- Angebot und Nachfrage Das Mediensystem gleicht in vielerlei Hinsicht einem mehr oder weniger freien Markt: Es werden Produkte angeboten und nachgefragt. Das Angebot ist größer als die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten. Niemand ist zum Konsum bestimmter Medien gezwungen. Werfen wir einen Blick auf die beiden Seiten des bundesdeutschen »Medienmarktes«: Was wird bereitgestellt und was genutzt? Wie verhält sich das Angebot zur Nachfrage? Angebot Zunächst zur Presse: Der Print-Bereich in der Bundesrepublik Deutschland ist wie erwähnt privatwirtschaftlich organisiert. Insgesamt findet sich eine Unmenge von regionalen sowie überregionalen Zeitungen. 2022 sind insgesamt über 300 Tageszeitungen sowie 16 Wochenzeitungen und fünf Sonntagszeitungen in Deutschland hergestellt worden. Die »Parteipresse«, die in der Weimarer Republik noch eine wichtige Rolle spielte, hat in der Bundesrepublik kaum noch Bedeutung. Als ein Relikt dieser historischen Tradition 4.2 4.2.1 Vielfältige Presselandschaft <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 89 89 Der bundesdeutsche Medienmarkt-- Angebot und Nachfrage überlebte gleichwohl die Medienholding der SPD mit ihren Anteilen im Presse- und Rundfunkbereich. Medienbeteiligungen der SPD Als einzige politische Partei in Deutschland hat die SPD eine Medienholding, die »Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft« (dd_vg), die sich vollständig im Eigentum der Partei befindet. Die dd_vg hält zumeist Minderheitsbeteiligungen an einer Reihe von Zeitungsverlagen und Druckereien. Außerdem ist sie an Rundfunksendern beteiligt. Die Wurzeln für die Beteiligungen der SPD liegen in der frühen Arbeiterbewegung und dem damaligen Aufbau eines eigenen Verlags- und Drucksegments. Die Medienbeteiligungen der SPD sind Gegenstand von (auch parteipolitisch geführten) Auseinandersetzungen gewesen. Ihre Kritiker sehen hierin eine wettbewerbsverzerrende Einflussmöglichkeit der SPD. Ihre Befürworter bestreiten die Bedeutung der Holding im Vergleich zu anderen Konzernen und sehen die parteipolitische Unabhängigkeit der betroffenen Medien nicht in Gefahr. Zum Rundfunkangebot: Im Hörfunkbereich kamen die ersten privaten Anbieter Ende der siebziger Jahre ins Spiel. Hunderte von Radioprogrammen sind inzwischen auf Sendung - darunter lokale und regionale, landesweite und bundesweite Angebote. Kabelnetze und digitale Übertragungswege machen mittlerweile viele regionale Hörfunksender bundesweit empfangbar. Das tatsächlich zugängliche Angebot hat sich infolge enorm ausgeweitet. Im Fernsehsektor ist seit der Dualisierung Mitte der 1980er Jahre eine Reihe von Lizenzen und Frequenzen an private Anstalten vergeben worden. Das sowie die digitalen Übertragungswege haben zu einer erheblichen Vergrößerung des Angebots geführt. Mittlerweile stehen einige hundert Sender zur Verfügung. Auf der einen Seite finden sich die öffentlich-rechtlichen Angebote, die ARD, das ZDF, die dritten Programme, Gemeinschaftsangebote wie Phoenix, Arte oder 3SAT bzw. Spartenkanäle wie ZDFneo. Auf der Seite der privaten Anbieter sind RTL, Sat.1, Pro7 und VOX zu quotenstarken Konkurrenten der großen öffentlich-rechtlichen Anstalten geworden. Schaut man sich die Angebotslage im Presse- und Rundfunkbereich an, dann tut sich auf den ersten Blick eine bemerkenswert pluralistische Medienlandschaft auf. Es gibt unzählig viele unterschiedliche Quellen, aus denen man sich informieren kann oder die Unterhaltung bieten. Doch auf einer zweiten Ebene relativiert sich die Vielfalt wieder, wenn man auf die Eigentumsstrukturen blickt, die hinter den Medienangeboten stehen. Hintergrund Duales Rundfunksystem <?page no="90"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 90 90 Die Mediendemokratie Unter der oberflächlichen Ausweitung des Medienangebots finden Konzentrationsprozesse statt. Wenige große Konzerne dominieren den Medienmarkt. Und das, obwohl die Konzentration durch kartellrechtliche Auflagen begrenzt ist, die eine Übermacht einzelner Unternehmen einzuhegen versuchen. Im Mediensektor gibt es klare Vorgaben, wie weit die Häufung von Markt- und Medienanteilen reichen darf, sowie spezielle Einrichtungen, die über die Einhaltung dieser Vorgaben wachen, z. B. die »Kommission zur Ermittlung der Konzentration auf dem Medienmarkt« (KEK). Die großen Spieler im Medienbereich sind unter anderem die Bertelsmann AG (zu der auch die RTL-Group gehört), der Axel-Springer-Verlag sowie ProSiebenSat.1. Diese Konzerne beschränken sich nicht auf eine einzelne Mediengattung wie Zeitungen oder Rundfunk. Vielmehr engagieren sie sich gleichzeitig in einer Vielzahl unterschiedlicher Medienformate und Produktionsformen. Zudem bewegen sich die Aktivitäten dieser Unterneh- Dominanz großer Medienkonzerne Konzentrationsgrad bei Tageszeitungen 2022 - Rang und anteilige Auflage in % Verlagsgruppe 2022 2020 2018 2016 2014 Rang % Rang % Rang % Rang % Rang % Verlagsgruppe Stuttgarter Zeitung/ Die Rheinpfalz/ Südwest Presse, Ulm 1 11,8 1 11,5 2 10,7 2 9,9 2 9,5 Axel Springer SE 2 10,6 2 11,1 1 12,7 1 14 1 15,5 Funke Mediengruppe (ehem. Verlagsgruppe WAZ), Essen 3 7,1 3 7,5 3 7,9 3 7,8 3 7,7 Verlagsgruppe Ippen, München 4 5,9 4 5,8 4 5,7 6 4,5 6 4,3 Verlagsgruppe Madsack, Hannover 5 5,6 5 5,4 5 5,6 5 5,3 4 5,2 Marktanteil der fünf größten Verlagsgruppen 1 - 41 - 41,3 - 42,6 - 41,5 - 42,9 Verlagsgruppe Augsburger Allgemeine 6 3,8 6 3,9 7 3,8 7 3,5 7 3,3 Rheinische Post Mediengruppe 7 3,5 7 3,5 9 3,3 9 3,2 8 3,0 ddvg, Hamburg 8 3,5 8 3,4 8 3,4 8 3,4 9 3,0 Verlagsgruppe Neue Osnabrücker Zeitung 9 3,4 9 3,2 10 3,2 10 2,9 - - Mediengruppe Bayern (vormals Verlagsgruppe Passau) 10 2,6 - - - - - - - - Marktanteil der zehn größten Verlagsgruppen1 - 57,8 - 57,5 - 61,6 - 54,5 - 59,3 (Verlagsgruppe DuMont, Köln) - - 10 2,2 6 5,2 4 5,3 5 5,0 1 Wegen der unterschiedlichen Rangfolgen ergeben die Summenbildungen nicht zwingend die ausgewiesenen Werte. Zudem sind Rundungseffekte zu berücksichtigen. Quelle: Horst Röper: Zeitungsmarkt 2022: Weniger Wettbewerb bei steigender Konzentration, in: Media Perspektiven 2022, Heft 6, S. 295-318. Tab. 5 <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 91 91 Der bundesdeutsche Medienmarkt-- Angebot und Nachfrage men nicht nur auf dem nationalen Markt, sondern es handelt sich um »global players«, um international aufgestellte und agierende Konzerne. Allerdings ist es gar nicht mehr so leicht, Eigentumsstrukturen im Medienbereich klar zu erkennen. Denn mittlerweile sind auch die Konzerne untereinander über Beteiligungen verflochten. In diesem Bereich spannt sich ein schwer überschaubares und verwobenes Spinnennetz auf - allerdings nicht von einer, sondern von mehreren »Spinnen« gewoben. Schließlich noch zur Angebotslage im Bereich der Online-Medien: Ob man das Internet überhaupt als »ein« Medium begreifen kann, ist fraglich. Denn die technische Infrastruktur erlaubt eine Menge von in Form und Inhalt sehr unterschiedlichen Angeboten - auch was ihre »politische Reichweite« betrifft. Was auf dem »Netz der Netze« mittlerweile entstanden ist, kann jedenfalls als ein reichhaltiges Angebot eingestuft werden. Die Vielfalt ist in der Struktur des Internets angelegt. Es ist eine der zentralen Eigenschaften von Online-Kommunikation, unzählige »Frequenzen« zu haben. Für den Einzelnen ist es vergleichsweise unaufwendig, als »Sender« im Internet tätig zu werden, also eine Facebook-Seite einzurichten, einen TikTok-Kanal zu starten oder eine Online-Petition zu initiieren. Aber auch die traditionellen Medien sind online vertreten. Es ist kaum möglich, das Angebot im Bereich der Online-Kommunikation abzustecken, zumal das Internet die regionalen und nationalen Grenzen überwindet. Das Anwachsen des Online-Angebots wird vielleicht an zwei Zahlen deutlich: 1995 waren noch unter 100.000 Web-Seiten registriert. 2021, also mehr als 25 Jahre später, bereits circa 1,8 Milliarden. Rund 17 Millionen ».de«-Domains sind registriert, das sind etwa 200 Domains pro 1.000 Einwohner: innen. Darüber hinaus stehen in den App-Stores mehrere Millionen verschiedene Apps zum Download bereit. Durch enorm verbesserte Datenübertragungstechniken ist die Netzkommunikation beschleunigt und ausgeweitet worden, wenngleich die wachsende Datenflut immer wieder an die Grenzen der bestehenden Infrastruktur stößt. Auch die Endgeräte haben an Leistungsfähigkeit hinzugewonnen. Die Multimedialität, das Verschicken und Empfangen von Dateien mit riesigen Datenmengen ist zur Normalität geworden - ebenso wie die Mobilität der Endgeräte. Die klassischen Massenmedien haben angesichts des dramatischen Bedeutungsgewinns der Netz-Kommunikation ihr Vermittlungsmonopol verloren. Das betrifft auch die Rolle des Journalismus: Denn Netz-Kommunikation kennt nicht nur die professionellen Politikvermittler. Faktisch kann online jeder und jede zum Produzierenden von Nachrichten werden. So haben sich in der politischen Kommunikation neue Akteure etabliert, die in den alten massenmedialen Zeiten keine Rolle hätten spielen können. Konzentrationsprozesse Sprunghaft wachsendes Online-Angebot <?page no="92"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 92 92 Die Mediendemokratie Nachfrage Ein Angebot lebt von der Nachfrage: Was wird von den Menschen überhaupt genutzt? Wichtig ist dabei zunächst einmal die Reichweite der jeweiligen Medien. Wie weit streuen die Angebote? Welche Auflage haben die Zeitungen? Wer verfügt über Empfangsgeräte für Rundfunkprogramme oder über mobile Online-Geräte? Welche Medienprodukte werden konsumiert? Welche Apps werden besonders stark genutzt? Zunächst zum Verbreitungsgrad der Zeitungen, verdeutlicht an den Zahlen für das zweite Quartal 2022: Die Gesamtauflage aller Zeitungen in Deutschland liegt bei 14,6 Millionen verkauften Exemplaren pro Tag inklusive der Sonntagsausgaben. Marktführer ist die Bild-Zeitung mit einer Auflage von rund 1,2 Millionen Exemplaren. Bei den so genannten überregionalen Qualitätszeitungen lag die Süddeutsche Zeitung mit rund 305.000 Exemplaren vorne, gefolgt von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer Auflage von 197.000. Die Gesamtauflagenentwicklung ist in den vergangenen Jahren rückläufig. In den Jahren 1992 bis 1995 wurde noch die 30-Millionen-Marke überschritten. Die 2022er Auflage von 14,6 Millionen ist die bislang niedrigste seit der Deutschen Einheit. Deutlich angestiegen ist jedoch der Anteil an E-Paper-Exemplaren der Tageszeitungen. So lag gemäß dem »Informationsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft« der E-Paper-Anteil an verkauften Tages- und Wochenzeitungen 2022 schon bei über 15 Prozent (2016: ca. 5 Prozent). 4.2.2 Zeitungsauflagen rückläufig Gesamt: 560 Min./ Tag 238 100 149 48 44 40 32 3 0 50 100 150 200 250 Fernsehen Hörfunk Internet (inhaltlich) Telefonie E-Mails Musik Messenger SMS Abb. 12 Tägliche Mediennutzungsdauer 2021 (in Minuten) Quelle: Daten der »Media Activity Guide 2021«, SevenOne Media-Studie/ forsa (2021), eigene Darstellung <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 93 93 Der bundesdeutsche Medienmarkt-- Angebot und Nachfrage Zum Verbreitungsgrad des Rundfunks: Im Bereich der elektronischen Rundfunkmedien, also von Fernsehen und Radio, lässt sich mittlerweile eine nahezu hundertprozentige Versorgung der Haushalte in Deutschland ausmachen. Mehr als 90 Prozent aller Rundfunkhaushalte sind entweder mit einer Satellitenschüssel verbunden oder ans Kabelnetz angeschlossen. Wie viel Zeit verbringen die Menschen mit den Medien? Sehr viel! So beschäftigen sich laut der ARD/ ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation (2022) nicht weniger als 88 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren täglich mit Videomedien (z. B. lineares Fernsehen, Streaming-Dienste oder Online-Plattformen), 80 Prozent mit Audiomedien (beispielsweise Radio oder Podcasts) und 63 Prozent mit Textmedien (z. B. gedruckte Zeitungen, E-Paper, Bücher). Das Medienangebot erreicht nicht nur viele, sondern nimmt im Tagesverlauf sehr viel Raum ein. Das Radio begleitet die Menschen fast drei Stunden am Tag, das Fernsehen annäherend vier Stunden. Für die Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften werden zusammen gerade mal 19 Minuten aufgebracht. Die Zeit, die man insgesamt täglich dem Medienkonsum widmet, hat sich jedenfalls in den letzten Jahrzehnten gesteigert und liegt jetzt auf einem stabilen und hohen Niveau: bei rund zehn Stunden. Diese Zahl relativiert sich dadurch, dass in den Studien nicht die verschränkte Nutzung von Medien (z. B. Fernsehen oder Zeitungslektüre über Internet) oder die gleichzeitige Rezeption verschiedener Medien (z. B. »Second Screen«) erfasst wird. Was wird im Fernsehen genutzt? Stark nachgefragt sind die großen Vollprogramme. Diese schöpfen einen Großteil des Publikums ab. Marktführer sind ZDF, die Dritten Programme, ARD, RTL und - ein wenig abgestuft - SAT.1. Während die quotenstärksten Vollprogramme jeweils zwischen fünf und 14 Prozent Marktanteile haben, sieht es bei den - für die politische Kommunikation besonders spannenden - Nachrichtensendern wie Phoenix schon wesentlich magerer aus: Der Marktanteil des öffentlich-rechtlichen Dokumentations- und Nachrichtenkanals liegt bei rund einem Prozent. Wie steht es aber um die immer dominanter werdenden online-basierten Medien? Wie und von wem wird das Internet genutzt? Die Online-Gemeinde hat in den vergangenen Jahren quantitativ deutlich zugenommen. Mittlerweile sind 94 Prozent der über 14-Jährigen zumindest gelegentlich online. Ältere Menschen sind nach wie vor unterrepräsentiert, allerdings hat die Gruppe der Onliner über 60 Jahre (»Silver Surfers«) in den vergangenen Jahren deutlich aufholen können. Die Nutzergemeinde ist - wie das Internet selbst - älter geworden. Bemerkenswert bleibt die intensive Online-Nutzung in den jungen Generationen. Für diese ist der Begriff der »digital natives« gefunden worden: Menschen, die mit dem Internet groß geworden sind, zeigen im Vergleich zu älteren Gruppen ein anderes, durchweg online-geprägtes Mediennutzungsverhalten. Starke Nutzung von Rundfunk und Fernsehen Zehn Stunden Medienkonsum täglich Online-Gemeinde <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 94 94 Die Mediendemokratie Interessanterweise lässt sich eine Verdrängung des Konsums alter Medien durch das Internet nicht nachweisen. So hat die Verbreitung der Online-Kommunikation nicht zur Folge, dass erheblich weniger Fernsehen geschaut wird. Es scheint sich vielmehr das so genannte Riepl’sche Gesetz zu bestätigen: Neu aufkommende Medien verdrängen nicht die alten, sondern ergänzen diese. Die traditionellen Medien haben auf die Neuen mit einer Überarbeitung ihres Angebots und mit dem Ausbau ihrer Online- Präsenz reagiert (z. B. in Form von Mediatheken). So wird es zunehmend schwierig, die Nutzung von traditionellen und von Netzmedien getrennt zu messen. Was aber tut man, wenn man online ist? Welche Anwendungen werden hauptsächlich genutzt? An erster Stelle steht die Nutzung von Suchmaschinen, gefolgt von dem Senden und Empfangen von E-Mails. Aber auch das ziellose Surfen im Netz erfreut sich großer Beliebtheit. Deutlich zugenommen haben die Aktivitäten vor allem im Bereich der sozialen Vernetzung. Mittlerweile nutzen rund 60 Prozent der Menschen in Deutschland Social- Media-Anwendungen, circa ein Drittel der Bevölkerung sogar täglich. Die größte Verbreitung hat dabei Instagram, gefolgt von Facebook und Snapchat. Im politischen Kontext weist Twitter eine große Relevanz auf, wenngleich nur wenige Prozent aller Bundesbürger: innen die Plattform jeden Tag nutzen. Bei jungen Bevölkerungsteilen findet wiederum die Videoplattform TikTok immer stärkere Verbreitung. Qualität und Quantität der Internet-Nutzung haben sich durch die Verbreitung von Breitbandanschlüssen, der zunehmenden Netzabdeckung und von günstigen Tarifmodellen (z.B. Flatrates) fortentwickelt. Der außerhäusliche Medienkonsum gewinnt mehr und mehr an Bedeutung, gerade auch bei den »digital natives«. Die mobilen Endgeräte begleiten die Nutzer auf ihrem Weg zur Arbeit oder in die Schule. Medienkonsum findet somit nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern im Zeitalter von Smartphones und Tablets zunehmend unterwegs statt. Politik in der Mediengesellschaft Alles in allem nimmt der Konsum von Medien einen breiten Raum im Zeithaushalt der Menschen ein. Dieser Umstand und andere Faktoren sprechen in der Tat dafür, Deutschland als eine »Mediengesellschaft« zu bezeichnen. Nebeneinander von alten-und neuen Medien Social Media 4.3 <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 95 95 Politik in der Mediengesellschaft Merkmale einer Mediengesellschaft: ⚫ »Die publizistischen Massenmedien haben sich quantitativ und qualitativ immer mehr ausgebreitet: Anzahl der Medien wie auch Angebotsformen haben sich verändert. [...] ⚫ Es haben sich neben den herkömmlichen Massenmedien neue Medienformen herausgebildet (Zielgruppenzeitschriften, Spartenkanäle, Onlinemedien). ⚫ Die Massenmedien erlangen aufgrund ihrer hohen Beachtungs- und Nutzungswerte gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. [...] ⚫ Medien dienen der Synchronisation, der Taktgebung und dadurch der Ko-Orientierung in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, und sie ermöglichen durch ihre Selektionsleistung gesellschaftliche Kommunikation [...]. ⚫ Die Vermittlungsleistung und -geschwindigkeit von Informationen durch Medien hat zugenommen. So stehen durch Medien mittlerweile rund um die Uhr Nachrichten zur Verfügung. ⚫ Massenmedien sind zu eigenständigen Institutionen der Gesellschaft geworden. Ihre jeweils spezifischen Logiken durchdringen immer stärker und engmaschiger alle gesellschaftlichen Bereiche (Medialisierung).« Quelle: Otfried Jarren/ Patrick Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung. , 5. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2021, S. 10-11. Die Politik, die in einer Mediengesellschaft stattfindet, kann davon nicht unberührt bleiben. Auch und gerade das politische System stellt einen der gesellschaftlichen Bereiche dar, die von den Medien stark verändert werden. Dort findet »Medialisierung« oder »Mediatisierung«, also eine Durchdringung und ein Wandel der Prozesse und Institutionen durch die Medien, statt. »Mediatisierung der Politik« Die »Mediatisierung der Politik« kann sich in verschiedenen Bereichen niederschlagen: a) in der politischen Meinungsbildung der Individuen, b) in der Struktur politischer Organisationen, sowie in der Zusammensetzung der politischen Elite, c) im politischen Prozess, d) im Wahlkampf. Definition ▼ ▲ 4.3.1 <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 96 96 Die Mediendemokratie Politische Mediatisierung der Individuen Die Medien bilden für die Individuen die »Brücken in die Welt der Politik« (Hans-Dieter Klingemann/ Katrin Voltmer). Somit gilt das, was der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch »Die Realität der Massenmedien« gesagt hat (»Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«), auch für die Politik: Was wir über das politische Geschehen in der Bundesrepublik wissen, wissen wir in der Regel aus Presse und Rundfunk sowie zunehmend aus online-basierten Medien. Die Medien wirken maßgeblich an der Konstruktion der politischen Wirklichkeit mit. Sie prägen die Bilder von der Politik, sie setzen über laufende Themen in Kenntnis und zeigen Möglichkeiten und Grenzen auf, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Zwar stellt die politische Kommunikation in den Medien nur ein Teilangebot dar; dominiert wird die Angebotspalette vielmehr von nicht-politischen Inhalten, insbesondere mit unterhaltendem Charakter. Die Nachfrage nach politischer Information und Kommunikation hält sich ebenso in Grenzen. Doch es bleibt dabei: Wenn es zur gesellschaftlichen Kommunikation und Information über Politik kommt, spielen Medien eine wichtige Rolle. Wie sich diese Quasimonopolstellung auf die politischen Einstellungen und das politische Verhalten der Menschen auswirkt, hat in der politischen Kommunikationsforschung viel Aufmerksamkeit erfahren. Dabei beschäftigt sich die Forschung insbesondere mit der Frage, ob und wie die Medien das Wahlverhalten beeinflussen. Wie gewichtig der Beitrag von Presse, Rundfunk und online-basierten Medien hier ausfällt, ist schwer zu tarieren. Die einschlägige Forschung geht so weit zu sagen, dass die Berichterstattung und der entsprechende Medienkonsum Parteipräferenzen verstärken können. Unter gewissen Umständen ist auch eine Änderung der Wahlabsicht auf den Einfluss der Medienberichterstattung und der Mediennutzung zurückzuführen. Medien können jedenfalls durch ihre Themensetzung und die Art und Weise, in welchen Deutungsrahmen sie politische Probleme setzen (»Framing«), die Stimmung und damit die Meinungsbildung beeinflussen. Die Zusammenhänge, die zwischen der Nutzung der Medien und den politischen Einstellungen und Aktivitäten der Menschen bestehen, sind jedenfalls komplexer Natur. Das liegt daran, dass neben dem Medienkonsum viele Faktoren das politische Verhalten mitbestimmen und diese miteinander verkoppelt sind. Mediatisierung politischer Organisationen und politischer Eliten Nicht nur bei den Bürger: innen, sondern auch bei den politischen Funktionseliten lassen sich Mediatisierungsspuren finden. So passen die politischen Akteure und Organisationen Teile ihrer Arbeit der Funktionslogik des Me- 4.3.1.1 Medien als »Brücken-in-die Welt-der Politik« Medien und Wahlverhalten 4.3.1.2 <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 97 97 Politik in der Mediengesellschaft diensystems an. Für die Verbände ist dies bereits angesprochen worden (→ Kapitel 3) . Weitere politische Organisationen, wie Parteien, Parlament, Regierung, richten ihre Arbeitsweise und Binnenstruktur auch daraufhin aus, dass sie in den Medien »gut« dastehen. Das bedeutet zweierlei: Zum einen geht es darum, überhaupt in der Berichterstattung und Netzkommunikation aufzutauchen. Zum anderen möchten politische Akteure in einem ihnen gegenüber günstigen medialen Licht erscheinen. So haben alle politischen Organisationen Einheiten eingerichtet, die die Kommunikation mit journalistischen Medien gestalten. Es gibt kein Ministerium, keine Partei, generell keinen relevanten politischen Akteur, der darauf verzichtet, eine »Pressestelle« oder ein »Pressereferat« zu unterhalten, also eine Einheit, welche die spezielle Funktion hat, die Kontakte zu den Journalist: innen herzustellen und zu pflegen. Die Professionalisierung des Kommunikationsmanagements zeigt sich auch in der zunehmenden Auslagerung von Aufgaben an externe Agenturen. Diese Auslagerung findet auch für die Online- und Social-Media-Aktivitäten statt. Überhaupt hat sich die politische Öffentlichkeitsarbeit auf und mit sozialen Medien in den vergangenen Jahren stark ausgeweitet. Aber nicht nur, wie sich die politische Elite verhält, sondern auch, wer überhaupt Mitglied der politischen Elite wird, kann seine Ursachen in den Medien haben. Gelegentlich wird vermutet, dass die »Telegenität« oder »Netzkompetenz« einer Person der Grund ihres politischen Aufstiegs sei. Beim Blick auf die Biographien bundesdeutscher Spitzenpolitiker: innen wird jedoch deutlich, dass der Weg über die interne Parteikarriere der entscheidende geblieben ist - wobei ein geschickter Umgang mit den Medien bei der Durchsetzung inhaltlicher Punkte oder dem eigenen Reputationsaufbau durchaus behilflich sein kann. Zudem kann man beobachten, dass sich in der politischen Öffentlichkeit Individuen aufgrund ihrer starken Netzpräsenz als einflussreiche Kommunikatoren etabliert haben - auch jenseits der Parteien. So sind beispielsweise »Influencer«, zumindest wenn sie politische Themen ansprechen, zu mitunter relevanten Akteuren in der politischen Meinungsbildung geworden. Mediatisierung des politischen Prozesses Sind der politische Prozess und seine Ergebnisse »mediatisiert«, also von dem Vorhandensein der Medien geprägt? Hier führen pauschale Antworten kaum weiter, vielmehr bedarf es einer differenzierten Analyse und Bewertung. Die erste Differenzierung betrifft die Phase der Entscheidungsfindung. Der Politikprozess läuft in verschiedenen Etappen ab (vgl. Abbildung 13): von der Problemartikulation (eine gesellschaftliche Problemlage wird »angesprochen«) über mehrere Stufen bis hin zur Implementation (die beschlos- Professionalisierung des-Kommunikationsmanagements 4.3.1.3 Öffentliche Aufmerksamkeit bewirkt Handlungsdruck <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 98 98 Die Mediendemokratie sene Problemlösung wird in der Praxis umgesetzt). Mitunter schließt sich an die Umsetzung noch eine Evaluation an, mit der man überprüft, ob und inwiefern es zu einer tatsächlichen Lösung des Problems gekommen ist. Der Einfluss der Medien variiert je nach Phase: Maßgeblich wirkt die Berichterstattung am Anfang eines politischen Prozesses, bei der Problemartikulation, also wenn entschieden wird, welchen Themen öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird, aus der dann in der Regel ein Handlungsdruck entsteht. Dabei kann es eine komplexe Wechselwirkung zwischen der Kommunikation in den Sozialen Medien und der journalistischen Berichterstattung geben. In der Phase der Ausformulierung und der Implementation von Beschlüssen spielen die Medien eine nur nachgeordnete Rolle. Sie werden ggf. wichtig, wenn die Notwendigkeit besteht, die Umsetzung einer Entscheidung anzukündigen. Ist eine Maßnahme umgesetzt worden, treten die Medien für den Fall wieder auf den Plan, dass es zu keiner befriedigenden Problemlösung gekommen ist. Dann kann es sein, dass sie das Thema erneut auf die Agenda setzen und der Politikzyklus von vorne beginnt. Die zweite Differenzierung betrifft die Frage, welche inhaltliche Qualität das angesprochene Problem hat. Es kommt also auf das Politikfeld an. Bestimmte Themen und Ereignisse überschreiten mit Leichtigkeit die »Aufmerksamkeitsschwelle«, weil sie besondere Eigenschaften haben, z. B. eine klare Relevanz aufweisen (s. u. »Nachrichtenwerte«) oder weil bestimmte Interessengruppen durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit die Fragestellung in die Medien bringen. Daneben bleiben in der Mediengesellschaft auch viele Themen unartikuliert oder ungehört. Die Politikwissenschaft spricht hier von den »non-decisions«, also Entscheidungen, die niemals getroffen worden Abb. 13 Phasen des politischen Prozesses und der Einfluss von journalistischen Medien Quelle: Otfried Jarren/ Patrick Donges/ Hartmut Weßler: Medien und politischer Prozeß. Eine Einleitung, in: Otfried Jarren/ Heribert Schatz/ Hartmut Weßler (Hg.), Medien und politischer Prozeß. Politische Öffentlichkeit und massenmediale Politikvermittlung im Wandel, Opladen, Westdeutscher Verlag 1996, S. 9-37, hier: S. 26. <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 99 99 Politik in der Mediengesellschaft sind, weil die Probleme gar nicht erst das Licht des politischen Prozesses erblickt haben. Die Rolle der journalistischen Medien im Politikprozess wird durch Social-Media-Kommunikation drastisch verändert. So können politische Akteure an verschiedenen Punkten des Entscheidungsprozesses gezielt mittels sozialer Medien intervenieren - was wiederum auch Auswirkungen auf die journalistische Berichterstattung haben kann. Mediatisierung im Wahlkampf Eine Hochzeit in der Beziehung zwischen Medien und Politik ist der Wahlkampf. Unstreitig spielen Presse, Rundfunk und Internet hier eine zentrale Rolle. Die Ausgaben der Parteien für die Medienwahlkämpfe sind beachtlich und in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen. Obligatorisch ist mittlerweile auch ein aufwändiger Internet-Wahlkampf geworden. Dieser reicht von der Online-Selbstdarstellung der Parteien und der Kandidierenden bis hin zu aufwändigen Social-Media-Kampagnen inklusive »negative campaigning«. Hierunter versteht man kommunikative Anstrengungen mit dem Ziel, die Inhalte und Personen der konkurrierenden Parteien in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. Im Rahmen der bereits angesprochenen Professionalisierung des Kommunikationsmanagements richten alle großen Parteien Wahlkampfstäbe innerhalb oder in dichter Nähe zu ihren Organisationen ein. Des Weiteren beauftragen zumindest die ressourcenstarken Parteien externe Agenturen, die für sie Wahlkampfmaßnahmen in Rundfunk, Presse und Internet konzipieren. Seit der Bundestagswahl 2002 gehört ein weiteres prominentes Element zum Medienwahlkampf dazu: das TV-Duell. Hier hat ein Format Einzug in die Vorwahlöffentlichkeit gehalten, das seine Vorläufer im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf findet - und dies, obwohl es sich in Deutschland um die Wahl des Parlaments und nicht um die Direktwahl des/ der Bundeskanzler/ in handelt. Nach seiner regelmäßigen Wiederholung ist davon auszugehen, dass das TV-Duell zwischen den beiden »Kanzlerkandidaten« (oder wie 2021 mit den drei Spitzenkandidierenden als TV-Triell) zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Wahlkampföffentlichkeit auf Bundesebene geworden ist - inzwischen obligatorisch ergänzt durch eine Runde der Spitzenkandidierenden der kleineren Parteien. Inwieweit die Bemühungen der Parteien um eine aktive und positive Medienpräsenz überhaupt einen effektiven Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen (und welchen! ), ist letzten Endes schwer zu beantworten. Jedenfalls gehen die Verantwortlichen davon aus, dass eine Präsenz in den Medien Vorteile für ihre jeweilige Partei produziert. Gewinner bei diesen Bemühungen, die aus wissenschaftlicher Perspektive mit vielen Fragezeichen versehen werden müssen, sind die Medien selbst sowie die beauftragten Kommunika- 4.3.1.4 Wahlkampf als zentrales Feld der-Medien »TV-Duell« Positive Wirkung durch Medienpräsenz? <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 100 100 Die Mediendemokratie tionsagenturen. Diese beiden Akteursgruppen werden in ihrer Bedeutung aufgewertet und ziehen hieraus politische und/ oder wirtschaftliche Vorteile. Medien als »politische Akteure« Eine Erkenntnis hat sich jedenfalls in der Forschung durchgesetzt: Medien sind mehr als Kanäle, die lediglich Informationen »eins zu eins« weiterreichen. Die Medien und die, die in ihnen und durch sie wirken, können als politische Akteure begriffen werden. Das bedeutet, dass sie aktiv Einfluss im politischen Prozess nehmen, dass sie politisch »handeln«. In welcher Art und Weise handeln insbesondere die journalistischen Medien? Zunächst durch den Prozess der Nachrichtenauswahl, also des »Agenda-Setting«. Aus einer Vielzahl von Ereignissen sortieren die Medien, genauer die Journalist: innen, diejenigen aus, über die dann berichtet wird - das gilt für publizistische Medien online und offline. Diese Auswahl vollzieht sich nicht zufällig, sondern folgt bestimmten Kriterien. Eine Rolle spielen dabei die Formatbedingungen: Für das Fernsehen eignen sich Nachrichten dann, wenn sie Bildmaterial beinhalten, weil das die Vermittlung in diesem Medium vereinfacht. Ferner kommen noch die Nachrichtenwerte hinzu. Das sind Eigenschaften einer Information, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass aus dieser eine Nachricht wird. Schließlich: Wenn journalistische Medien berichten, kann dies auch das Ergebnis einer erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit eines Verbands oder einer Partei sein. Nachrichtenwerte nach Galtung und Ruge 1. Frequenz: Das Ereignis lässt sich von seinem zeitlichen Ablauf her gut darstellen. 2. Aufmerksamkeitsschwelle: Das Ereignis ist so intensiv, dass es Beachtung findet. 3. Eindeutigkeit: Das Ereignis ist überschaubar und leicht verständlich. 4. Bedeutsamkeit: Das Ereignis ist für das Publikum relevant. 5. Konsonanz: Das Ereignis entspricht den Erwartungen des Publikums. 6. Überraschung: Das Ereignis ist unvorhersehbar gewesen und/ oder vergleichsweise selten. 7. Kontinuität: Über die Ereignisfolge ist bereits berichtet worden. 8. Komposition: Das Ereignis passt ins gesamte Nachrichtenbild. 9. Bezug zu Elite-Nationen: Das Ereignis bezieht sich auf »wichtige« Nationen. 4.3.2 Wann ist ein Ereignis eine Nachricht? Definition ▼ <?page no="101"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 101 101 Politik in der Mediengesellschaft 10. Bezug zu Elite-Personen: Das Ereignis bezieht sich auf »wichtige« Personen. 11. Personalisierung: Das Ereignis lässt sich mit Personen verbinden. 12. Negativität: Das Ereignis hat negative Ursachen/ Folgen. Quelle: Johan Galtung/ Mari Holmboe Ruge: The Structure of Foreign News, in: Journal of Peace Research, 2. Jg. (1965), Heft 1, S. 64-91. Darüber hinaus greifen aber auch redaktionelle Kriterien. Jede Zeitungs-, Rundfunk- oder Online-Redaktion entscheidet aufgrund von expliziten oder impliziten Leitlinien, was sie für relevant und für berichtenswert erachtet. Journalist: innen sind politisch denkende Individuen - nicht selten auch parteipolitisch klar orientiert. Der (partei-)politische Standpunkt kann bei der Auswahl der Themen durch die journalistischen Akteure seinen Niederschlag finden. Neben der Nachrichtenauswahl spielt die Bewertung von Vorgängen eine meinungsbildende und damit politisch relevante Rolle. In einer Reihe von Medienformaten werden politische Ereignisse ausdrücklich bewertet, z. B. in den Kommentarfenstern der Rundfunkmedien. Oft genug aber vermischen sich zum Beispiel durch das »Framing« (s. o.) Information und journalistische Meinung in einer für das Publikum undurchschaubaren Art und Weise. »Herrschaft der Medien«? Wenn nun die Journalisten politische Akteure sind, heißt das auch, dass sie »herrschen«? Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer hat vor geraumer Zeit in diesem Zusammenhang den Begriff der »Mediokratie« in die Debatte eingebracht. Meyer spricht von einer »Kolonisierung der Politik durch die Massenmedien«: Die Politik sei von der Funktionslogik der Medien völlig durchdrungen worden. Die Vermutung einer wahlentscheidenden (Über-) Macht der Medien findet sich auch in der Theorie der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann. Ist aus der bundesdeutschen Demokratie tatsächlich ein System der Medienherrschaft geworden? Sind die journalistischen Medien noch mehr als nur eine »vierte Gewalt«, sind sie gar übermächtig? ▲ Bewertung und/ oder Information 4.3.3 <?page no="102"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 102 102 Die Mediendemokratie Schweigespirale Die Kommunikationswissenschaftlerin und damalige Leiterin des Allensbacher Instituts für Demoskopie Elisabeth Noelle-Neumann hat den Begriff »Schweigespirale« in den 1970er Jahren geprägt. Er beschreibt, wie eine einheitliche Medienberichterstattung die Macht hat, aus einer Minderheitsmeinung eine Mehrheitsmeinung zu machen. Die Anhänger: innen der anfänglichen Mehrheitsmeinung nehmen Abstand davon, ihre Meinung öffentlich zu bekunden, weil sie befürchten, sozial isoliert zu werden. Die in den Medien als Mehrheitsmeinung präsentierte faktische Minderheitsmeinung gewinnt die Oberhand. Noelle-Neumann illustriert die Schweigespirale am Wahlkampf 1976, als die Medien ihrer Wahrnehmung nach die Zustimmung für die SPD/ FDP-Koalition stärker darstellten als sie war, und somit die faktische Mehrheit für CDU/ CSU kippte. Die Theorie der Schweigespirale ist in der Kommunikations- und Medienwissenschaft äußerst umstritten. Die These von der »Mediokratie« und einer Übermacht der Medien ist in mehrfacher Hinsicht brüchig: 1) Wechselseitigkeit statt einseitiger Abhängigkeit: Statt von einer einseitigen Abhängigkeit der Politik von den Medien muss wohl von einer wechselseitigen, sehr komplexen und ausdifferenzierten Beziehung ausgegangen werden. Denn die Medien sind letzten Endes auch von der Politik abhängig, nämlich davon, möglichst exklusive Informationen zu erhalten oder besonders prominente Gesprächspartner zu gewinnen. Und wie dargestellt gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten seitens der politischen Organisationen, Einfluss auf die Medienberichterstattung zu nehmen. Die Beziehung zwischen politischen und journalistischen Akteuren ist deswegen treffender mit dem biologischen Konzept der »Symbiose« charakterisiert worden: als Zusammenleben zum wechselseitigen Nutzen. Beide Seiten sind aufeinander angewiesen und profitieren voneinander. 2) Medien sind nicht gleich Medien: Trotz der angesprochenen Konzentrationsprozesse gibt es in Deutschland eine heterogene Medienlandschaft. Eine »konsonante« Medienberichterstattung (von der auch die Theorie der Schweigespirale ausgeht), also dass in allen Medien dasselbe Thema mit einer gleichgerichteten Bewertung behandelt wird, ist kaum zu finden. Das soll allerdings nicht heißen, dass die stattfindenden Konzentrationsvorgänge nicht weiterhin kritisch auf ihre Wirkung hin betrachtet werden müssen. 3) Politik im Schatten der Medienberichterstattung: Von einer Übermacht der Medien ist immer dann schnell die Rede, wenn man ausschließlich auf Hintergrund Zweifelhafte These von-der Übermacht der-Medien <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 103 103 Politik in der Mediengesellschaft die Themen schaut, über die in den Medien berichtet wird. Aber jenseits dessen, was die Medien darstellen, vollzieht sich eine Vielzahl von relevanten Entscheidungsprozessen. So findet nur ein kleiner Teil der Gesetzgebungsarbeit des Parlaments Widerhall in der Medienberichterstattung. Auch ein Großteil der Verwaltungstätigkeit und der Rechtsprechung bleibt völlig unbeachtet - zum einen, weil die Medien nur beschränkt an Informationen gelangen können, zum anderen, weil diese Vorgänge die Medienfilter aufgrund ihrer Eigenschaften nicht passieren. Die politische Rolle journalistischer Medien und der Journalist: innen von bestimmten Kreisen hat sich ohnehin angesichts des Wachstums von Online- Kommunikation (insbesondere auf Social-Media-Plattformen) rasant verändert. Im Internet sind »alternative« Öffentlichkeiten entstanden, die sich mitunter bewusst von den »alten Medien« abgrenzen, welche ebenso wie die Journalist: innen als Teil des »Systems« wahrgenommen werden. Diese Entwicklung führt insgesamt dazu, dass sich die journalistische Macht verringert. Die Verlagerung von Kommunikation in Social Media mit ihren offenen Strukturen von segmentierten Öffentlichkeiten online und offline hat aber auch fundamentale Probleme zur Folge (Stichwörter: »echo chambers«, »filter bubbles«). So geht ein geteilter gemeinsamer öffentlicher Raum verloren, und der gesellschaftliche Zusammenhalt wird gefährdet. Insofern ist die Segmentierung der Öffentlichkeit eine Herausforderung für die (Medien-)Demokratie in Deutschland. Zudem ist davon die Rede, dass Algorithmen und Künstliche Intelligenz bei der Meinungsbildung eine immer stärkere Rolle spielen. An die Stelle einer vermeintlichen »Mediokratie« trete eine »Algokratie« (engl. »Algocracy«), also die »Herrschaft der Algorithmen«. Auch diese Entwicklungen sind kritisch zu beobachten, ohne dabei demokratisierende Potenziale von KI zu übersehen. Zusammengefasst: Die Bundesrepublik ist keine bloße »Mediendemokratie« und schon gar keine »Mediokratie«. Aber die Medien spielen durchaus für die Demokratie und in der Demokratie eine wichtige Rolle. Es kommt zu einer »Medialisierung« oder »Mediatisierung« der Politik - zumindest in einigen Bereichen. Und auch wenn die journalistische Macht abnimmt, bleibt die Macht der Medien (offline und online) bestehen. Die gelegentlich zu hörende These, die »Mediendemokratie« habe in Deutschland die »Parteiendemokratie« abgelöst, scheint jedoch überzogen. Wie robust Letztere ist, steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Deutschland ist keine-»Mediokratie« <?page no="104"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 104 104 Die Mediendemokratie 1 Welchen Beitrag zur Demokratie sollen Medien - dem »Spiegel-Urteil« zufolge - erbringen? Sind sie dazu überhaupt in der Lage? 2 Was sind die Strukturmerkmale des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? 3 Warum wird über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mittlerweile gestritten? Welche Argumente gibt es für und gegen die Beibehaltung dieses Sektors? 4 Was sind die Merkmale einer »Mediengesellschaft«? 5 Warum kann man Journalist: innen als politische Akteure bezeichnen? 6 Warum ist die These von der »Mediokratie«, der absoluten Herrschaft der Medien über die Politik, fragwürdig? Literatur Seit geraumer Zeit liegen gute Einführungen in die politische Kommunikation vor, insbesondere Otfried Jarren/ Patrick Donges: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung, 5. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2022, Ulrich Sarcinelli: Politische Kommunikation in Deutschland. Medien und Politikvermittlung im demokratischen System, 3. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag 2011, sowie Winfried Schulz: Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung, 3. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag 2011 . Theorien und Befunde der politischen Kommunikationsforschung sind in einem PVS-Sonderheft zusammengestellt worden: Frank Marcinkowski/ Barbara Pfetsch (Hg.): Politik in der Mediendemokratie, PVS-Sonderheft 42, Wiesbaden, VS Verlag 2009 . Einen fundierten Überblick über die bundesdeutsche Landschaft der Massenmedien bieten: Hermann Meyn/ Jan Tonnemacher: Massenmedien in Deutschland. 4. Aufl., Konstanz, UVK 2012 , sowie Heinz Pürer: Medien in Deutschland. Presse - Rundfunk - Online, Stuttgart, UTB 2015. Mit der politischen Kommunikation in der Online-Welt beschäftigt sich u. a.: Wolfgang Schweiger/ Klaus Beck (Hg.): Handbuch Online-Kommunikation, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2019. Als Nachschlagewerk zum Thema politische Kommunikation empfiehlt sich Isabelle Borucki/ Katharina Kleinen-von Königslöw/ Stefan Marschall/ Thomas Zerback (Hg.): Handbuch politische Kommunikation, Wiesbaden, Springer VS 2022 . Die These von der Mediokratie findet sich in: Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt a. M., Suhrkamp 2001 . Die Theorie der Schweigespirale wird in folgendem Buch dargelegt: Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut, München, Langen Müller 1980 . Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 105 105 Links Links www.media-perspektiven.de Auf dieser Seite der ARD finden sich die aktuelle Ausgabe und das Archiv der Zeitschrift Media Perspektiven, die sich im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten mit der Lage und Entwicklung der Massenmedien in Deutschland auseinandersetzt. In den Media Perspektiven werden jährlich Zahlen über die Verbreitung der Internet-Nutzung in Deutschland veröffentlicht. Außerdem finden sich dort regelmäßig Informationen über die Konzentrationsprozesse auf dem deutschen Medienmarkt. www.br.de/ unternehmen/ inhalt/ organisation/ medienforschung Die Online-Redaktion des Bayrischen Rundfunks hält auf dieser Seite aktuelle Informationen über die Medienverbreitung und -nutzung bereit. www.kek-online.de Die Web-Seite der »Kommission zur Ermittlung der Konzentration auf dem Medienmarkt« informiert einerseits über ihre Arbeit, insbesondere über ihre Entscheidungen, bietet aber auch andererseits generelle Informationen über den bundesdeutschen Medienmarkt. www.bdzv.de Der »Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e. V.« hat in seinem Online-Auftritt unter der Rubrik »Markttrends und Daten« Informationen über die Auflagenhöhe der Zeitungen eingestellt. <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 106 106 Die Parteiendemokratie - Von-Schildkröten, Kraken oder-Dinosauriern Parteien gehören zu den Organisationen, die von der Wissenschaft gerne mit Tieren verglichen werden: Da ist von Schildkröten, Kraken und sogar von Dinosauriern die Rede. Mithilfe dieser tierischen Vergleiche versucht man die Existenz und die Rolle der Parteien im politischen System zu beschreiben. Eines fällt dabei auf: Mit Eintagsfliegen oder sonstigen Lebewesen von kurzer Lebensdauer werden Parteien nicht in Verbindung gebracht. Es handelt sich den Vergleichen zufolge um alte und eingesessene politische »Lebewesen«. Nur unterscheiden sich mitunter die Einschätzungen ihrer weiteren Lebenserwartung. Da Parteien zum Stamminventar moderner politischer Systeme gehören, ist ihnen vonseiten der Politikwissenschaft reichlich Aufmerksamkeit zuteil geworden. Viele der Buch- und Aufsatztitel (vor allem die englischsprachigen) gehen dabei spielerisch mit dem Parteienbegriff um: »Party is over«, »The party has just begun«, »Where is the party? « und nicht zuletzt »Party time! «. Wie bereits bei den Tierbildern tauchen hier ebenfalls unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit der Parteien auf. Dieses Kapitel wirft einen Blick auf die bundesdeutschen Parteien und das Parteiensystem - kurzum: auf den deutschen Parteienstaat. Zunächst geht es um die rechtlichen Grundlagen: Was regelt das Grundgesetz, was regeln andere Vorschriften mit Blick auf die Existenz und Rolle der Parteien? Dabei ist in den rechtlichen Vorgaben bereits einiges an Vermutungen darüber zu finden, was den deutschen Parteienstaat ausmacht respektive ausmachen soll. Der sich anschließende Abschnitt befasst sich mit der Wirklichkeit der bundesdeutschen Parteiendemokratie: Wie hat sich das deutsche Parteiensystem entwickelt und welche Charakteristika weist es auf ? Hat sich die Organisationsform der Parteien gewandelt und - wenn ja - in welche Richtung? Anschließend ist der Gegenwind, den die Parteien seit geraumer Zeit verspüren, das Thema. Denn die Parteien gehören zu den Akteuren im politischen System, die vergleichsweise viel Kritik aus Wissenschaft und Medien einstecken müssen. Auch in der Bevölkerung leiden sie unter einem Vertrauens- und Akzeptanzproblem. Das Schlagwort »Parteienverdrossenheit« 5 Inhalt <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 107 107 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats fasst diese Stimmung plakativ zusammen. Auf die Kritik versuchen die Parteien zu reagieren - mit zahlreichen Ansätzen für Parteireformen. Der abschließende Abschnitt beleuchtet die entsprechenden Anstrengungen der Parteien, sich neu aufzustellen. Am Ende des Kapitels gilt es, eine Grundspannung der »Parteiendemokratie« zu problematisieren und, wenn möglich, aufzulösen: die Spannung zwischen der geringen gesellschaftlichen Verankerung der Parteien auf der einen Seite und ihrer zentralen, gleichsam »krakenhaften« Rolle im politischen System auf der anderen Seite. Es bleibt die Frage, ob diese Spannung überhaupt gelöst werden kann. 5.1 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats 5.2 Parteiensystem und Parteien im Wandel 5.3 Parteienkritik und »Parteienverdrossenheit« 5.4 Reform und Zukunft der Parteien Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats Parteien haben sich im Laufe der Zeit insbesondere dort, wo sich gewählte Parlamente verbreitet haben, etabliert. Sie spielen in demokratischen, aber auch in nicht-demokratischen Systemen (siehe die Dominanz der SED in der DDR, → Kapitel 1 ) eine wichtige Rolle. Dabei kommt ihnen trotz ihrer unbestreitbar zentralen Stellung in liberalen Demokratien selten der Rang eines Verfassungsorgans zu, wie den Parlamenten oder den Regierungen. Vielmehr handelt es sich bei Parteien - so eine vorherrschende, wenn auch umstrittene Sichtweise - um gesellschaftliche Organisationen, die in den staatlichen Bereich hineinragen. Ihr Aufkommen und ihre Expansion oder Etablierung im politischen Entscheidungsprozess, haben gleichwohl Regelungsbedarf erzeugt. Diesen greifen in Deutschland insbesondere die Erwähnung der Parteien im Grundgesetz sowie ein eigenes Gesetz über die Parteien auf. 5.1 Parteien als gesellschaftliche Organisationen <?page no="108"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 108 108 Die Parteiendemokratie Die Erwähnung in der Verfassung Die Parteien werden im Grundgesetz ausdrücklich angesprochen. Ihnen ist ein eigener Artikel, der »21er« gewidmet. Dieser Artikel regelt die Aufgaben und Strukturen der Parteien: Da ist von der »Mitwirkung« der Parteien am politischen Prozess die Rede oder dass Parteien demokratisch organisiert und ihre Finanzen transparent sein müssen. Art. 21 GG (1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. (2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. (3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien. (4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht. (5) Das Nähere regeln Bundesgesetze. Das Innovative an der Grundgesetzerwähnung ist vor allem, dass die Parteien überhaupt in der Verfassung ausdrücklich angesprochen werden. Das ist nicht selbstverständlich: Das Grundgesetz ist die erste deutsche Verfassung, in der die Existenz und Aufgabe von Parteien prominent in einem eigenen Artikel direkt nach dem Grundrechtekatalog und dem Artikel 20 (Staatsprinzipien) thematisiert werden. In der Weimarer Reichsverfassung wurden Parteien nur am Rande erwähnt. In den Verfassungen anderer Staaten finden sich Parteienartikel oder -paragrafen vergleichsweise selten. Eine solche Ausnahme ist die Verfassung der Fünften Französischen Republik. 5.1.1 Parteien mit eigenem-Artikel im Grundgesetz Wortlaut ▼ ▲ Erwähnung der Parteien- in Verfassung ungewöhnlich <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 109 109 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats Die Motivation, die hinter dem Artikel 21 steht, ist zum einen die ausdrückliche Würdigung der Aufgabe von Parteien in modernen politischen Systemen sowie ihr Existenzschutz. Immerhin waren die Protragonisten des Parlamentarischen Rates selbst durchweg Mitglieder oder sogar hohe Funktionsträger in Parteien und standen somit dieser Organisationsform positiv gegenüber. Gerade die Erfahrungen rund um die Gleichschaltung des Parteiensystems im Nationalsozialismus haben die Schutzbedürftigkeit von freien Parteien nochmals unterstrichen. Zum anderen schützt der Artikel 21 auch vor den Parteien, zumindest vor Parteien, die nicht demokratisch organisiert sind, aus obskuren Geldquellen finanziert werden oder die gegen die Freiheitlich-demokratische Grundordnung kämpfen. In diesen Fällen kann sich die bundesdeutsche Demokratie wehren. So erlaubt der Artikel 21 das Verbot von verfassungswidrigen Parteien - wenn auch nicht ohne Weiteres. Während alle anderen Vereinigungen, die gegen die Verfassung verstoßen, von dem jeweiligen Innenministerium des Landes oder des Bundes verboten werden können, genießen die Parteien ein »Privileg«: Ein Parteienverbot kann nur das Bundesverfassungsgericht aussprechen. Insofern ist es relevant, ob es sich bei einer entsprechenden Gruppierung um eine Partei im Sinne des Parteiengesetzes (s. u.) handelt oder um eine andere Form der Vereinigung. Parteiverbot: ⚫ Zur Beantragung des Verbotsverfahrens berechtigt sind: Bundestag, Bundesrat sowie die Bundesregierung (§ 43 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes/ BVerfGG). Für den Fall, dass sich die Aktivität der Partei nur auf ein Bundesland beschränkt, ist auch die jeweilige Landesregierung antragsberechtigt (§ 43 Abs. 2 BVerfGG). ⚫ Verbietet das Bundesverfassungsgericht eine Partei wegen ihrer Verfassungswidrigkeit, dann verlieren die gewählten Abgeordneten der Partei ihre Mandate. Das Gericht kann das Parteivermögen einziehen. Die Gründung von Ersatzorganisationen ist unzulässig. ⚫ In der Geschichte der BRD sind bislang sechs Verfahren zum Parteiverbot eröffnet worden. Zwei endeten bislang mit einem Verbot. ⚫ Im Jahr 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP), eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, verboten. Vier Jahre später, 1956, folgte das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). ⚫ Daneben gab es vier Verfahren, die nicht mit einem Verbot endeten. Die Verfahren gegen die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und die Nationale Liste (NL) scheiterten daran, dass das Bundesverfassungsgericht den Gruppierungen die Parteieigenschaft absprach. Die Verbote erfolgten daraufhin 1995 auf Grundlage des Artikel 9 Abs. 2 GG. Ein ers- Umgang mit verfassungswidrigen Parteien Hintergrund <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 110 110 Die Parteiendemokratie tes Verfahren gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) wurde 2003 vom Verfassungsgericht wegen Fehlern in der Beweisführung der Antragstellenden eingestellt. Ein zweites Verfahren gegen die NPD wurde 2017 ohne Verbot abgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Partei sei zwar verfassungsfeindlich, jedoch nicht akut gefährlich. ⚫ 2017 ist neben dem Verbot die Möglichkeit eingeführt worden, verfassungsfeindliche Parteien aus der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Hierüber entscheidet ebenfalls das Bundesverfassungsgericht (Artikel 21 Abs. 3 und 4 GG). Von der Möglichkeit, ein Parteiverbot zu beantragen, ist bislang relativ zurückhaltend Gebrauch gemacht worden. Es gilt das »Opportunitätsprinzip«: Auch wenn die Antragsberechtigten der Überzeugung sind, dass eine Partei jenseits aller Zweifel verfassungswidrig und die Beweislage eindeutig ist, sind diese nicht verpflichtet, ein Verbotsverfahren beim Verfassungsgericht anzustrengen. Sie können diesen Weg beschreiten, wenn sie es als »opportun«, also der Sache dienlich, betrachten. Ihnen steht es frei, auf anderen Wegen zu versuchen, die Partei »politisch« zu bekämpfen, z. B. die Ursachen des Erfolgs einer solchen Partei zu analysieren und anzugehen. Für eine »Abstinenz« in Sachen Verbotsantrag gibt es gute Argumente: Ein Parteiverbot, so gut es auch begründet sein mag, ist ein erheblicher Eingriff in die parlamentarische und freiheitliche Demokratie. Es schränkt die Wahl- und Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger: innen ein. Demokratisch gewählte Abgeordnete verlieren ihr Mandat. Auch die Frage der Effektivität spricht unter Umständen gegen ein Verfahren. Denn ein Verbot kann eine Partei in den Untergrund drängen und damit schwerer kontrollierbar machen. Schließlich: Wenn eine Partei - aus welchen Gründen auch immer - am Ende eines Verfahrens nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten wird, kann dies von der Partei als Nachweis ihrer (vermeintlichen) Grundgesetzestreue ausgeschlachtet werden. Als Konsequenz aus der zweiten NPD-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der Artikel 21 erweitert worden. Nun gibt es neben der Möglichkeit des Parteienverbots auch die Option, einer verfassungsfeindlichen Partei die direkte und indirekte staatliche Finanzierung zu entziehen - selbst dann, wenn diese keine Aussichten auf Realisierung ihrer grundgesetzwidrigen Ziele hat. Die Hürden für ein solches »kleines Parteienverbot« liegen somit deutlich niedriger. »Opportunitätsprinzip« beim Parteiverbot »Kleines Parteienverbot« <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 111 111 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats Das Parteiengesetz von 1967 »Das Nähere regeln Bundesgesetze« - so endet der Artikel 21 GG. Mit diesem so genannten »Gesetzesvorbehalt« werden die Artikel des Grundgesetzes dann versehen, wenn sie nur Grundlegendes ansprechen und die Details im Rahmen eines einfachen Gesetzes festgelegt werden sollen. Der Artikel 21 ruft also nach genaueren Regelungen, die der »Gesetzgeber«, der Bundestag gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat, zu verabschieden hat. Diese detaillierten Regelungen haben jedoch lange auf sich warten lassen. Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, also nachdem das Grundgesetz bereits weit mehr als 15 Jahre in Kraft war, kam ein »Parteiengesetz« (PartG) zustande. Der Druck, ein solches Gesetz zu verabschieden, war durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1958 und 1966 erhöht worden. Das oberste Gericht hatte die damalige Praxis der Parteienfinanzierung kritisiert und den Gesetzgeber aufgefordert, das Parteienwesen gemäß Art. 21 GG zu regeln. Das Parteiengesetz von 1967 greift diesen Auftrag auf und wendet sich dabei folgenden Fragen zu: Welche Aufgaben haben Parteien? Wie lässt sich eine Partei von anderen Organisationen abgrenzen? Wie muss eine Partei aufgebaut sein? Welche Regeln gelten bei der Finanzierung von Parteien? Welche Aufgaben haben Parteien? Während das Grundgesetz etwas unscharf von einer Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung des Volkes spricht, geht das Parteiengesetz einen Schritt weiter. Dort ist nun die Rede von der Mitwirkung der Parteien »auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens«. Weiterhin wird aufgelistet, auf welchen Wegen diese Mitwirkung stattfindet, nämlich indem die Parteien ⚫ auf die Mitgestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, ⚫ die politische Bildung anregen, ⚫ die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Leben fördern, ⚫ zur Übernahme öffentlicher Ämter befähigte Personen heranbilden, ⚫ an Wahlen teilnehmen, ⚫ Einfluss auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung nehmen, ⚫ ihre politischen Ziele in die staatliche Willensbildung einbringen ⚫ und »für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen«. Diese sehr weitreichenden Vorstellungen basieren auf der »Parteienstaatstheorie« von Gerhard Leibholz, der in den Parteien unverzichtbare Bausteine moderner Demokratien sah. Das Bundesverfassungsgericht (Leibholz gehörte ihm von 1951 bis 1971 an) hat Leibholz’ These von den Parteien als »Sprachrohre« der Gesellschaft übernommen. Dieser Ansatz taucht insbe- 5.1.2 Späte Verabschiedung des Parteiengesetzes 5.1.2.1 Umfassende gesellschaftliche Mitwirkung der Parteien Parteien als »Sprachrohre« der Gesellschaft <?page no="112"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 112 112 Die Parteiendemokratie sondere in dem letzten Aufgabenfeld auf, bei dem es um die Verbindung zwischen Gesellschaft und Staat geht. Sie findet ihren Niederschlag auch in der Formulierung des § 1 Abs. 1 PartG: Dort werden Parteien als »ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« bezeichnet. Parteienstaatstheorie von Gerhard Leibholz »Die Gegenüberstellung von Volk und Partei ist irreführend, weil es das Volk in dem zur politischen Wirklichkeit gewordenen massendemokratischen Parteienstaat liberaler Prägung überhaupt nicht gibt. Denn es sind gerade die Parteien, die in dieser Form der Demokratie erst das Volk aktivieren und handlungsfähig machen. Die Parteien sind das Sprachrohr, deren sich das organisierte Volk bedient, um sich artikuliert äußern und Entscheidungen fällen zu können. Ohne die Zwischenschaltung der Parteien würde das Volk nicht in der Lage sein, irgendeinen politischen Einfluß auf das staatliche Geschehen auszuüben und sich so selber zu verwirklichen.« Quelle: Gerhard Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., Karlsruhe, C. F. Müller 1967, S. 76. Wie lassen sich Parteien von anderen Organisationsformen abgrenzen? Die Frage der Abgrenzung der Parteien von anderen politischen und gesellschaftlichen Akteuren ist alles andere als irrelevant. Denn mit dem Parteistatus kommt einer Organisation eine Reihe von Privilegien zu, zum Beispiel dass sie - wie erwähnt - nur vom Bundesverfassungsgericht verboten werden kann oder Nutznießerin staatlicher Teilfinanzierung wird. Wichtig ist es vor allem, einfache Vereine von Parteien zu unterscheiden. Das Parteiengesetz differenziert in einem zentralen Punkt: Um als Partei eingestuft zu werden, muss sich eine Organisation an Wahlen zum Bundestag oder zum Landtag beteiligen. Tut dies eine Vereinigung in einem Zeitraum von sechs Jahren nicht, verliert sie den Parteienstatus. Des Weiteren verlangt das Gesetz die »Ernsthaftigkeit« ihrer Zielsetzungen. Die »Ernsthaftigkeit« bezieht sich dabei nicht auf die programmatischen Inhalte einer Partei, sondern auf die Frage, ob sie tatsächlich politisch mitgestalten will. Dieses Kriterium ist jedoch diffuser und somit schwerer zu messen, als es eine Beteiligung an Wahlen ist. Wortlaut ▼ ▲ 5.1.2.2 Parteien vs. sonstige Vereine <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 113 113 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats Parteiengesetz - § 2 Abs. 1 (Begriff der Partei) »Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Mitglieder einer Partei können nur natürliche Personen sein.« Wie müssen Parteien aufgebaut sein? Das Parteiengesetz schreibt eine Grundstruktur vor, entlang derer sich die Binnenorganisation aller Parteien zu orientieren hat. Es gilt zunächst einmal das Prinzip des regionalen Aufbaus. Die Parteien sind in Gebietseinheiten gegliedert, wobei die unteren Verbände bestimmte Kompetenzen besitzen müssen. Des Weiteren sind Parteien vertikal strukturiert, d. h. ihr Gefüge basiert auf einer Willensbildungskette von unten, von der Mitgliedschaft, nach oben, zur Parteiführung. Dabei sind die regelmäßig zu wählenden Vorstände gegenüber den Mitgliederund/ oder Delegiertenversammlungen (Parteitagen) verantwortlich und von diesen abberufbar. Unter anderem damit wird die Vorgabe des Grundgesetzes umgesetzt, die sagt: »Ihre [der Parteien] innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen«. Die einzelnen Parteimitglieder verfügen über diverse individuelle Rechte: Sie sind rechtlich einander gleichgestellt und geschützt in der Möglichkeit, ihre Meinung frei äußern zu können. Ihre Mitgliedschaft kann ihnen nicht ohne Weiteres entzogen werden. Vielmehr sieht das Parteiengesetz ein mehrstufiges »Ordnungsverfahren« vor. Für solche Fälle verfügen Parteien über eine eigene Schiedsgerichtsbarkeit auf den verschiedenen Organisationsebenen. Wie werden Parteien finanziert? Den Impuls für die Verabschiedung des Parteiengesetzes haben - wie erwähnt - die Schieflagen und Probleme bei der Finanzierung der Parteien gegeben, die das Bundesverfassungsgericht moniert hatte. Die Ausführungen zu den Möglichkeiten für Parteien, finanzielle Mittel zu erhalten (auch seitens des Staates), stellen somit einen wichtigen Bestandteil des Parteiengesetzes dar. Dabei hat sich der Regelungsstand im Laufe der letzten Jahr- Wortlaut ▼ ▲ 5.1.2.3 Regionale und vertikale Struktur 5.1.2.4 <?page no="114"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 114 114 Die Parteiendemokratie zehnte immer wieder gewandelt - nicht zuletzt aufgrund weiterer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die derzeit geltenden Bestimmungen sind 2002 letztmalig grundlegend geändert worden, gefolgt von kleineren Modifikationen 2004, 2009, 2011, 2016, 2018 und 2020. Parteien beziehen ihre finanziellen Mittel auf zwei Wegen: in Form privater Gelder sowie als staatliche Bezuschussung. Zu den privaten Finanzquellen gehören die Beiträge von Mitgliedern und Mandatsträgern, Spenden, die Einkünfte aus Parteivermögen sowie sonstige Einnahmen. Staatliche Mittel gibt es in Form von Zuschüssen zu Wählerstimmen sowie zu den Beitrags- und Spendeneinnahmen. Bei Bundestags-, Europa- und Landtagswahlen erhalten die Parteien für die ersten vier Millionen Stimmen je 1,00 € und für jede weitere 0,83 €. Zudem fließen den Parteien für jeden Euro aus privaten Beiträgen und Spenden (bis zu einem Betrag von 3.300 € pro natürliche Person und Jahr) 0,45 € aus den staatlichen Finanztöpfen zu. In den Genuss der staatlichen Zuschüsse kommen Parteien dann, wenn sie bei der Bundestagswahl mindestens 0,5 Prozent der Zweitstimmen für sich gewinnen konnten, bzw. bei einer Landtagswahl ein Prozent. Ausnahmen gelten für Parteien nationa- Staatliche und private Parteienfinanzierung Organisa onsschema der SPD Vorsitzende 5 stv. Vorsitzende maximal Generalsekretär/ in 34 Mitglieder Schatzmeister/ in EU-Verantwortliche/ r Parteivorstand Kontrollkommission Kontrollkommission Bundesschiedskommission Parteikonvent 200 Mitglieder beratend: div. Amts- und Mandatsträger* Bundesparteitag 600 Delegierte, Vorstandsmitglieder beratend u. a.: Parteirat, 1/ 10 Bundestagsfrak on, 1/ 10 SPD-Gruppe im EU-Parlament 20 Landesverbände/ Bezirke Landesparteitag über 350 Unterbezirke und Kreisverbände Unterbezirksparteitag über 10 000 Ortsvereine Mitgliederversammlung Mitglieder * u.a. Landesvorsitzende und -geschä sführende, Bundesminister/ in, Ministerpräsident/ in, Frak onsvorsitzende Länder/ Bund/ EU, Vorsitzende der AGs und Parteiorganisa onen, Beschä igtenvertretende Abb. 14 Aufbau einer Partei am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de) <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 115 115 Rechtliche Grundlagen des bundesdeutschen Parteienstaats ler Minderheiten. Private Spenden sind bis zu einer bestimmten Höhe steuerlich abzugsfähig. Spenden über 10.000 Euro müssen detailliert in den Rechenschaftsberichten der Parteien ausgewiesen werden. Spenden über 50.000 Euro sind der Bundestagspräsidentin »unverzüglich« anzuzeigen, die diese Information zeitnah veröffentlichen muss. Es gilt die Regel, dass die staatlichen Zuschüsse die Einnahmen aus privaten Quellen nicht übersteigen dürfen. Außerdem wurde eine Obergrenze eingeführt: Die Gesamtausgaben des Staates für die Parteienfinanzierung dürfen eine festgelegte Summe nicht überschreiten. 2012 betrug die Obergrenze 150,8 Mio. Euro, seit 2013 wird sie auf der Grundlage von § 18 Abs. 2 Parteiengesetz dynamisch angepasst. Dabei gab es einen künstlichen Erhöhungssprung im Jahr 2018 von rund 20 Millionen mit der fraglichen Begründung, dass die Ausgaben der Parteien infolge der Digitalisierung sprunghaft gewachsen seien. 2021 lag die Obergrenze bei bei rund 200 Millionen. Die relative Bedeutung der privaten und staatlichen Finanzquellen ist von Partei zu Partei unterschiedlich, abhängig davon, wie viele Mitglieder sie hat (die Beiträge zahlen) und wie gut sie Spenden akquirieren kann. Die staatlichen Mittel machen bei den Parlamentsparteien rund ein Drittel der Einnahmen aus. Aus diesem Topf bestreiten sie einen erheblichen Anteil ihrer Aufwendungen (Organisation, Wahlkampf etc.). Die staatliche Parteienfinanzierung gehört zu den umstrittenen Regelungen des Parteiengesetzes. Die Kritik reicht vom Generalvorwurf der Selbstbedienung seitens der etablierten Parteien bis hin zu detaillierten Fragen, beispielsweise wie die Buchführung gestaltet werden sollte. Strittig ist gleichfalls, Mandatsträgerbeiträge sowie staatliche Gelder für die Parlamentsfraktionen und für die parteinahen Stiftungen nicht als Teil der staatlichen Parteienfinanzierung einzustufen. Schließlich beteiligt sich der Staat Absolute Obergrenze staatlicher Mittel Kritik an Parteienfinanzierung Einnahmestrukturen der großen Parteien 2020 Mitgliedsbeiträge Mandatsträgerbeiträge Spenden Staatl. Finanzierung Sonstige Einnahmen Summe SPD 33 % 16 % 7 % 34 % 10 % 160,8 Mio € CDU 25 % 14 % 18 % 36 % 8 % 151,2 Mio € B 90/ Grüne 29 % 19 % 10 % 39 % 4 % 66,0 Mio € FDP 27 % 8 % 17 % 43 % 5 % 36,9 Mio € AfD 18 % 11 % 19 % 48 % 5 % 24,6 Mio € CSU 25 % 9 % 28 % 33 % 5 % 45,4 Mio € Linke 32 % 16 % 7 % 42 % 3 % 33,7 Mio € Quelle: www.bundestag.de Tab. 6 <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 116 116 Die Parteiendemokratie auch indirekt an den privaten Parteispenden, da diese steuerlich geltend gemacht werden können. Die entsprechenden Steuerverluste sind genau genommen ein weiterer Baustein der staatlichen Parteienfinanzierung. Parteiensystem und Parteien im Wandel Das heutige Parteiensystem hat sich in einem jahrzehntelangen Prozess herausgebildet. Es ist weit von der Konstellation des Jahres 1949 entfernt. Auch die Organisationsform der Parteien hat sich im Laufe der Zeit verändert. Bei all dem Wandel ist das bundesdeutsche Parteiensystem im Vergleich zu dem anderer Staaten jedoch bemerkenswert stabil. Herausbildung der Parteien In den Ruinen der Nachkriegszeit formierten sich vergleichsweise schnell wieder Parteien in Deutschland - lange bevor es zur Staatsgründung auf Bundesebene kam. Die Zeit des parteipolitischen Wiederaufbaus war von Kontinuität auf der einen und dem Neubeginn auf der anderen Seite geprägt. Kurzzeitig unterbrochene Kontinuität galt für Parteien, die in der Zeit des Nationalsozialismus verboten worden waren, wie die Sozialdemokratische oder die Kommunistische Partei Deutschlands. Sie konnten nach 1945 ihre Arbeit wieder aufnehmen. Es gab allerdings auch Neuanfänge, beispielsweise mit der Gründung der Christlich Demokratischen Union, in der sich die katholischen und protestantischen parteipolitischen Strömungen der Weimarer Zeit neu verknüpften und die sich als führende »bürgerliche« Partei etablieren sollte. Die Freie Demokratische Partei, aus verschiedenen Parteigründungen nach 1945 auf regionaler Ebene hervorgegangen und überregional 1948 ins Leben gerufen, verband liberale Parteitraditionen, die in der Weimarer Republik noch getrennt gewesen waren. Die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag ergab eine vergleichsweise heterogene Zusammensetzung des Parlaments. Über zehn Parteien gelangten in das »Hohe Haus«, wobei es bereits einige Schwergewichte gab, nämlich die CDU und CSU, die SPD und die FDP. Diese Parteien konnten zusammen mehr als drei Viertel der Mandate auf sich vereinen. Dies wurde als nachträgliche indirekte Zustimmung der Wahlbevölkerung zum gerade verkündeten Grundgesetz gewertet. In den 1950er Jahren verstärkte sich der bei der ersten Wahl bereits angedeutete Konzentrationsprozess. Hierzu beigetragen hat zum einen die Fünf- Prozent-Hürde, die erstmalig 1953 auf Bundesebene griff. Zum anderen begünstigte die politische Kultur, insbesondere die Suche nach Stabilität, die 5.2 5.2.1 Kontinuität und Neugründungen Konzentration auf ein-Zweieinhalb- Parteiensystem <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 117 117 Parteiensystem und Parteien im Wandel Etablierung von Parteien der Mitte und die Abdrängung extremer Kleinstparteien. Überdies gelang es Parteien wie der CDU, der CSU oder der SPD, Funktionäre und Abgeordnete der ihnen nahe stehenden Splitterparteien zum Übertritt zu bewegen und somit diese Parteien faktisch zu absorbieren. Es bildete sich ein System heraus, das über lange Zeit, bis in die achtziger Jahre hinein, einigermaßen stabil blieb: ein Zweieinhalb-Parteiensystem mit der CDU (sowie der CSU in Bayern) und der SPD als großen Volksparteien sowie der FDP als »Zünglein an der Waage« - als Partei, die im Laufe der Jahre als »Mehrheitsbeschafferin« fungierte und mit beiden großen Parteien Koalitionen einging (Ausnahme: die »Große Koalition« von 1966-1969). In den achtziger Jahren hat sich das Zweieinhalb-Parteiensystem maßgeblich verändert: Erstmalig 1983 gelangten die Grünen in den Bundestag. Diese Partei war Ende der siebziger Jahre aus Teilen der »Neuen Sozialen Bewegungen« (→ Kapitel 2) und kommunistischen Splittergruppen hervorgegangenen. Ihre ersten Erfolge hatte sie bei den Europawahlen 1979 sowie auf Landesebene erzielt, bevor sie sich 1980 in Karlsruhe als Bundespartei gründete. Die neue Partei wurde zunächst von den anderen Parteien - auch von der SPD - isoliert. Die Isolation passte gut ins frühe Selbstverständnis der Grünen: Sie zogen ihre Identität zu großen Teilen aus einer Anti-Establishment- Haltung. Nach und nach entwickelte sich die grüne Partei jedoch zu einer koalitions- und regierungswilligen, professionell geführten parlamentarischen Gruppierung, die ihre anfängliche Fundamentalopposition aufgab. So Grüne verändern das Parteiensystem Wahlergebnis 1949 139 131 52 17 17 15 1210 3 1 5 CDU/ CSU SPD FDP/ DVP DP (Deutsche Partei) BP (Bayernpartei) KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) WAV (Wirtschaftliche Aufbauvereinigung) ZP (Deutsche Zentrumspartei) DKP/ DRP (Deutsche Konservative Partei/ Deutsche Rechtspartei) SSW (Südschleswigscher Wählerverband) Parteilose Abb. 15 Sitzverteilung nach der Bundestagswahl 1949 Quelle: Peter Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949-1999, 3 Bände, Baden-Baden, Nomos 1999, Bd. 1, S. 164. <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 118 118 Die Parteiendemokratie bildete sich Ende der achtziger Jahre ein »Parteienlager«-System heraus. Dieses umfasste zwei Formationen: eine »bürgerliche« mit CDU/ CSU und FDP und eine »linke« mit der SPD und den Grünen. Die Deutsche Einheit sollte nochmals zu einem Wandel des bundesdeutschen Parteiensystems beitragen. Zunächst wurden die bestehenden Westparteien nach Osten hin ausgeweitet, was eine Reihe innerparteilicher Veränderungen mit sich brachte. Dabei stellte sich heraus, dass die Parteistrukturen im Osten Deutschlands nicht »eins zu eins« anschlussfähig waren. Bestimmte Gruppierungen, insbesondere aus dem Bereich der Bürgerrechtsbewegungen, konnten im gesamtdeutschen Parteiensystem keine Heimat finden. Als neue alte Kraft formierte sich die Partei des Demokratischen Sozialismus, die reformierte Sozialistische Einheitspartei der DDR, die sich - hier irrten einige Prognosen - im bundesdeutschen Parteiensystem hat etablieren können. Die Fusion mit der »Westpartei« WASG (»Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit«, gegründet im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Arbeitsmarktpolitik der Regierung Schröder zu Beginn der 2000er Jahre) zur Partei »Die Linke« im Jahr 2007 steht für den vorerst gelungenen Versuch der Linkspartei, ihre marginale Stellung im Westen der Bundesrepublik zu überwinden. Mit ihrer Präsenz nicht nur in den ostdeutschen Parlamenten hat die ehemalige PDS die linke Flanke im deutschen Parteienlagersystem erweitert. Eine Erweiterung der rechten Flanke hat die Etablierung der Alternative für Deutschland (AfD) mit sich gebracht. Gegründet 2013 hat diese Partei schnell Erfolge auf Landesebene erzielen und 2017 als drittstärkste Kraft in den Bundestag einziehen können; bei der Bundestagswahl 2021 konnte sie trotz deutschlandweiter Verlusten in einigen Teilen Ostdeutschlands (wieder) Wandel im Zuge der Deutschen Einheit »Alternative für Deutschland« Liberalität sozialer Ausgleich Marktfreiheit Autorität Abb. 16 Hauptdimensionen des bundesdeutschen Parteiensystems <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 119 119 Parteiensystem und Parteien im Wandel stärkste Kraft werden. Sie wird als »rechtspopulistisch« bis »rechtsextrem« eingestuft, bezeichnet sich selbst aber als eine »bürgerliche« und »konservative« Partei. Wie Parteien und Parteiensysteme sich herausbilden und weiterentwickeln, wird in der Politikwissenschaft unter anderem mit so genannten »cleavage«-Ansätzen beschrieben. Die »cleavage«- Theorie ist von den Politikwissenschaftlern Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan in den 1960er Jahren entwickelt worden. Sie erklärt das durch die Wahlen entstehende Parteiensystem entlang von dominanten Konfliktlinien in der Gesellschaft (»cleavage« = »Spaltung«). Die Etablierung neuer Parteien kann folglich auf einen Wandel der Konfliktstrukturen zurückgeführt werden. War das Parteiensystem (und das Wahlverhalten) in den 1950er und 1960er Jahren noch von der Frage geprägt, wie man es mit der Religion hält, oder von dem Gegensatz »Stadt vs. Land«, haben sich in den 1980er und 1990er Jahren neue Dimensionen herausgebildet, entlang derer sich Parteien und Wähler unterscheiden. So wurde die Unterscheidung von »materialistischen« und »postmaterialistischen« Werten herangezogen, um den Aufstieg der grünen Parteien zu erklären. Für die jüngere Entstehung von (rechts-)populistischen Bewegungen und Parteien in Deutschland und anderen Ländern wird wiederum eine weitere, neue Konfliktlinie verantwortlich gemacht: die Konfrontation von »kosmopolitischen« und »traditionalistischen« Einstellungen. Üblicherweise werden heute zur Sortierung der Parteien zwei Dimensionen aufgespannt, in der die Konfliktlinien aufgehen: (1) der Gegensatz zwischen Liberalität und Autorität (Welche Rolle spielt der Staat gegenüber der Freiheit des Einzelnen? ) und (2) der Gegensatz zwischen sozialem Ausgleich und Marktfreiheit (Inwieweit sollen soziale Unterschiede nivelliert werden? ). Postmaterialismus Der Begriff wurde vom Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart erstmalig verwendet. »Postmaterialismus« steht für eine Einstellung, die nicht mehr nur auf das Materielle fixiert ist, sondern abstrakte Güter anstrebt, zum Beispiel Freiheit, Gesundheit, Schutz der Natur. Postmaterialistische Bewegungen formierten sich in den westlichen Wohlstandsgesellschaften der 1970er und 1980er Jahre, in denen die materiellen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsgruppen bereits befriedigt waren. Umstrukturierung des Parteiensystems durch neue Konfliktstrukturen Wertewandel Definition ▼ ▲ <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 120 120 Die Parteiendemokratie Wandel der Parteiorganisation Nicht nur das Parteiensystem, also die Anzahl der Parteien und ihre Beziehungen zueinander, hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Vielmehr haben sich auch die Parteien selbst in ihrer Organisation und ihrem inneren Aufbau gewandelt. Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme hat drei Entwicklungsstadien herausgearbeitet: (1) Massenparteien, (2) Volksparteien, (3) professionalisierte Wählerparteien. (1) Massenparteien: Das Zeitalter der Massenparteien beginnt - von Beyme zufolge - nach dem Ersten Weltkrieg und reicht bis in die fünfziger Jahre hinein. Die Massenparteien zeichnen sich dadurch aus, dass sie entlang deutlich sichtbarer Klassenkonflikte und ideologischer Gegensätze aufgestellt waren. Ihre Organisations- und Finanzkraft leiteten sich aus der Größe und Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft ab. (2) Volksparteien: »Volksparteien« ist ein Label, das gerne von den Parteien selbst verwendet wird - auch heute noch. Von Beyme datiert das Zeitalter der Volksparteien von Ende der fünfziger Jahre bis Ende der 1970er. In diesem Zeitraum treten die ideologischen Konflikte in den Hintergrund und die großen Parteien haben den Anspruch, die gesamte Bevölkerung zu repräsentieren. Die Parteifinanzen speisen sich zu einem erheblichen Teil aus staatlichen Zuschüssen. (3) Professionalisierte Wählerparteien: Den modernsten Typ stellen die Wählerparteien dar, die nur noch wenig mit den traditionellen Mitgliederorganisationen und noch weniger mit den Klassenkampfformationen zu tun haben. Seit Ende der 1970er Jahre entwickelt sich - so von Beyme - dieser Typus in Folge der Entstehung neuer Milieus und einer »politischen Klasse«. Auch die Mediatisierung der Politik, die Professionalisierung der politischen Kommunikation, hat ihren Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet. Dieser neue Parteitypus zielt insbesondere auf die Maximierung von Stimmen bei Wahlen (englisch: »vote seeking«). Für die jüngste Parteivariante liegen verwandte Begriffe vor: Da ist von »professionellen Medienkommunikationsparteien« (Uwe Jun) oder von »professionellen Rahmenparteien« ( Joachim Raschke) die Rede. Auffällig häufig taucht das Wort »professionell« in diesem Zusammenhang auf. Das hauptberufliche »Management« der Parteien (englisch: »party in central office«) scheint immer wichtiger zu werden, das ehrenamtliche Engagement immer unwesentlicher und die mitgliedschaftliche Basis nur noch marginal. Dass das Zeitalter der Volks- und Mitgliederparteien tatsächlich Vergangenheit ist, wird jedenfalls heftig bestritten. Eine Reihe von Zeitgenossen hält das Konzept der »Volkspartei« weiterhin hoch und proklamiert es als robustes Leitbild für die bundesdeutschen Parteien. Dass die Mitglieder (die »Basis«, englisch: »party on the ground«) in den professionalisierten Par- 5.2.2 Entwicklungsstadien der Parteiorganisation Ende der Volkspartei? <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 121 121 Parteienkritik und »Parteienverdrossenheit« teien keine Funktion mehr haben können und sollten, wird aus gutem Grund infrage gestellt. Als weiteres stabiles Kennzeichen der bundesdeutschen Parteiorganisation gilt die »lose verkoppelte Anarchie« (Peter Lösche). Die politischen Parteien sind mitnichten in sich geschlossene Organisationen, sondern vielmehr Konglomerate von vor allem regionalen Teileinheiten. Parteien können also nicht wie ein Wirtschaftsunternehmen hierarchisch von oben geführt werden. Vielmehr bedeutet Parteimanagement auch immer, die unterschiedlichen innerparteilichen Gruppierungen zusammenzuhalten oder zusammenzuführen. Parteienkritik und »Parteienverdrossenheit« Die Kritik an den Parteien in Deutschland hat Tradition und zieht lange ideengeschichtliche und kulturelle Wurzeln. Schon frühzeitig findet sich in der deutschen Literatur die Wahrnehmung, Politik sei ein »schmutziges« Geschäft und das »politisch Lied« ein »garstig Lied«. Die Abneigung machte sich immer schnell an den Parteien fest, denen vorgeworfen worden ist, gemeinwohlschädliche Agenten von Einzelinteressen zu sein. Im Laufe der Zeit haben sich die kritischen Blickwinkel verschoben, aber die radikale Anfechtung der Parteien und des Parteiensystems ist geblieben. Der zentrale Kern und ein immer wiederkehrender Tenor der bundesdeutschen Mainstream-Parteienkritik problematisiert eine Entwicklung des Parteiensystems, die der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis bereits in den 1980er Jahren pointiert mit zwei Adjektiven markiert hat: »überdehnt und abgekoppelt«. Hennis - wie die Parteienkritik generell - wendet sich vehement gegen die oben erwähnte Idee von Gerhard Leibholz, dass Parteien funktionierende »Sprachrohre« der Gesellschaft seien. Dem halten Hennis und mit ihm viele kritische Geister entgegen, dass die Parteien ihre gesellschaftliche Basis verloren, zugleich aber enorm viel staatliche Entscheidungsmacht angehäuft hätten. a) »überdehnt«: Der Vorwurf der Überdehnung der Parteien bezieht sich auf ihre expansive Rolle im politischen Prozess und in anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Die Parteien hätten im Laufe der Zeit ihren Einfluss auf eine Reihe von Bereichen ausgeweitet, in denen sie nicht zwangsläufig präsent sein müssten, zum Beispiel im Rundfunksektor, im Schulwesen, in der Wirtschaft, in der Verwaltung etc. Aus einer grundgesetzlich vorgeschriebenen »Mitwirkung« der Parteien sei ihre machtvolle Omnipräsenz in einer Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche geworden. b) »abgekoppelt«: Von einer Verkopplung der Parteien mit der Gesellschaft könne mitnichten (mehr) die Rede sein. Die Parteien hätten ihre Veranke- »Lose verkoppelte Anarchie« 5.3 Kritik: mächtige Parteien, abgekoppelt von der Basis <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 122 122 Die Parteiendemokratie rung in der Bevölkerung verloren. Sie seien zu »Staatsparteien« verkommen und hätten den Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit eingebüßt. Es ist gerade die Kombination aus Überdehnung und gleichzeitiger Abkopplung, welche die Kritik so dramatisch macht: Die Parteien hätten ihre gesellschaftliche Erdung verloren; dies habe gleichwohl keinerlei substanzielle Konsequenzen auf ihre mittlerweile dominante Stellung im staatlichen und nicht-staatlichen Bereich. So wächst der Kritik zufolge das Missverhältnis zwischen den Privilegien auf der einen Seite und der fehlenden gesellschaftlichen Legitimation der Parteien auf der anderen Seite. Das Motiv der »überdehnten« Parteien wird von einigen kritischen Stimmen auf den Bereich der Parteienfinanzierung übertragen. Die abgekoppelten Parteien bedienten sich in einer koordinierten Aktion aus der Staatskasse. In einem Absprache-Oligopol gestalteten sie die Regelungen im Parteiengesetz entlang ihrer Wünsche. Apropos »Absprache«: Hierauf bezieht sich auch der Begriff der »Kartellpartei«, der in den 1990er Jahren seine Runden gedreht hat. Diese Charakterisierung moderner Parteien ist von den Wissenschaftlern Richard S. Katz und Peter Mair in die Diskussion eingebracht worden. Eine Partei - so ihre These - sei in erster Linie daran interessiert, ihren Funktionären Ämter und Mandate zu verschaffen (englisch: »office seeking«). Dafür verbündete sie sich mit den übrigen etablierten Parteien, und gemeinsam schotteten diese ihr »System« gegenüber neu aufkommenden Kräften ab. Sie bildeten ein »Kartell«, in dem sie sich durch Vereinbarungen und Garantien gegenseitig Vorteile verschafften. Die Qualifizierung moderner Parteien als »Kartellparteien« beinhaltet den Vorwurf, Parteien würden ihre Stellung und Macht ausschließlich für eigennützige Zwecke missbrauchen. Diese Vermutung ist alles andere als unumstritten. Die Kritik an der »Kartellpartei«-These bringt grundsätzliche Bedenken vor, die an der theoretischen Substanz und konzeptionellen Klarheit des Begriffs ansetzen. Sie fragt zudem nach deutlichen empirischen Beweisen für die unterstellte Entwicklung. Eine These wie die von der »Kartellpartei« zeigt, wie sich analytische und kritische Perspektiven überlagern können. Spätestens an diesem Punkt ist aus der Parteienkritik eine generelle Kritik an der »politischen Klasse«, also an dem Kreis der politischen Funktionsträger geworden, die - so der Vorwurf - lediglich auf ihren eigenen persönlichen Vorteil achten und den »Staat als Beute« (Hans Herbert von Arnim) ausschlachten. Jedoch steht die Vorstellung von einer geschlossenen »politischen Klasse« im Widerspruch zu den realen (Verteilungs-)Konflikten innerhalb dieser vermeintlich monolithischen Gruppe. Schließlich wird den Parteien noch vorgeworfen, dem Verfassungsanspruch innerparteilicher Demokratie nicht gerecht zu werden. Das Führungsmanagement habe sich von der Basis abgekoppelt und leite die Partei »top-down«, also von oben nach unten. Die einzelnen Mitglieder seien »Kartellparteien« Ausweitung der Parteienkritik auf die »politische Klasse« <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 123 123 Parteienkritik und »Parteienverdrossenheit« gegenüber den hauptberuflichen Funktionären chancenlos und einflussfrei geworden. Die Abkopplung der Führungsschicht von der Basis ist bereits 1911 von Robert Michels mit seinem »ehernen Gesetz der Oligarchie« angesprochen worden. Inwieweit Reformen diesen Prozess wieder rückgängig machen oder verhindern können, wird später zu diskutieren sein. Ehernes Gesetz der Oligarchie (Robert Michels) Der Parteienforscher Robert Michels entwickelte entlang seiner Beobachtungen des sozialdemokratischen Parteiwesens das »ewig währende« Gesetz der Oligarchie, d. h. der Herrschaft weniger. Dieses besagt, dass sich innerhalb von komplexen Organisationen wie den Massenparteien die Führungselite von der Mitgliedschaft absetzt und ihre eigenen Interessen verfolgt. Dabei verliert die Organisationsspitze die Anliegen der Gesamtorganisation und der Mitgliederbasis aus den Augen. Ein solcher Vorgang findet, so Michels, unvermeidbar in mitgliederstarken Organisationen wie den Massenparteien statt; deswegen bezeichnet er dieses Phänomen auch als ein »eisernes Gesetz«. Seine Erkenntnisse hat er publiziert in dem Werk: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig, Klinkhardt 1911 . Die wissenschaftliche und publizistische Kritik an den Parteien findet ihre empirische Bestätigung und Entsprechung in der Haltung der Bevölkerung zu den Parteien. Es gibt eine Reihe von schlagkräftigen Hinweisen auf eine allgemeine »Parteienverdrossenheit«: ⚫ die insgesamt rückläufigen Mitgliederzahlen der Parteien (dies hat auch eine Überalterung der Parteien zur Folge, da weniger junge Menschen Parteimitglied werden und somit die bestehende Parteimitgliedschaft durchschnittlich immer älter wird), ⚫ der sinkende Stammwähleranteil (der Prozentsatz der Wechselwählenden nimmt zu, ebenso wie die Zahl derjenigen, die kurz vor den Wahlen noch nicht wissen, für welche Partei sie ihre Stimme abgeben werden), ⚫ der abnehmende Konzentrationsgrad bei Bundestags- und Landtagswahlen (die kleinen und Kleinstparteien können merkliche Stimmengewinne verbuchen), ⚫ der Erfolg von Anti-Establishment-Parteien (also von Gruppierungen, die sich als Alternative zu den bestehenden Parteien inszenieren), ⚫ der generelle Vertrauensverlust in die Parteien (wobei Regierungswie auch Oppositionsparteien gleichermaßen betroffen sind). Definition ▼ ▲ Hinweise auf Parteienverdrossenheit <?page no="124"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 124 124 Die Parteiendemokratie Die Parteien genießen in der Bevölkerung einen schlechten Ruf. Nur rund 24 Prozent sprechen ihnen »sehr großes« und »großes« Vertrauen aus. Damit liegen die Parteien weit unter den Vertrauenswerten für Parlament und Regierung und astronomisch entfernt von den Werten für den Bundespräsidenten. Insgesamt sinkt nicht nur das generelle Vertrauen in die Parteien, sondern auch das Vertrauen in die Fähigkeit der Parteien (aller Parteien! ), die anstehenden Probleme lösen zu können. Zur gesamtgesellschaftlichen Parteienverdrossenheit gesellen sich noch innerparteiliche Entfremdungsprozesse: Untersuchungen haben gezeigt, dass nur die Hälfte der Parteimitglieder aktiv mitwirken möchte. Bezeichnenderweise sinkt der Anteil der zum Engagement Bereiten mit der Dauer der Mitgliedschaft. Effektiv kann nur weniger als ein Viertel der Mitglieder als »engagiert« eingestuft werden, wenn man hierunter die regelmäßige Teilnahme an Parteiveranstaltungen versteht. Als innerparteiliche Kritik wird immer wieder vorgebracht, dass es in den Parteiversammlungen selten zu offenen inhaltlichen Diskussionen kommt, sondern die Entscheidungen im Vorfeld in kleinen geschlossenen Funktionärszirkeln getroffen werden. Robert Michels’ »ehernes Gesetz« scheint sich zu bewahrheiten. Sinkendes Engagement der Parteimitglieder 0 100.000 200.000 300.000 400.000 500.000 600.000 700.000 800.000 900.000 1.000.000 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 CDU SPD CSU FDP B 90/ Grüne Linke AfD Abb. 17 Entwicklung der Parteimitgliedschaften in Deutschland seit 1990 Quelle: Oskar Niedermayer: Parteimitglieder in Deutschland: Version 2020. Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 31 (2020), Freie Universität Berlin. <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 125 125 Reform und Zukunft der Parteien Reform und Zukunft der Parteien Die unüberhörbare und unübersehbare Parteienkritik und -verdrossenheit, insbesondere die Auswirkungen auf die Mitgliederzahlen und das Wahlverhalten, haben die Parteien zu Reformen motiviert. Zentrales Ziel ist es, das Engagement in den und für die Parteien wieder attraktiver zu machen. In den Reformdebatten spielen unter anderem die folgenden drei Maßnahmenbündel eine Rolle: (1) die Öffnung für neue Formen der Mitgliedschaft, (2) der Einsatz neuer Formen der Kommunikation, (3) die Stärkung innerparteilicher Demokratie. (1) Neue Mitgliedschaftsformen: Die traditionelle ordentliche Parteimitgliedschaft ist von einigen Parteien durch unverbindlichere Formen der Beteiligung ergänzt worden. Dies trägt der Tendenz Rechnung, dass der Wunsch nach langfristiger Bindung an politische Organisationen, gerade bei jungen Menschen, abnimmt. Zu diesen lockeren Anbindungen gehören »Schnuppermitgliedschaften«, also die Möglichkeit, für einen begrenzten Zeitraum oder anlass- und eventbezogen an der Parteiarbeit mitzuwirken, ohne eingetragenes Mitglied zu werden. Weiterhin ist in einigen Parteien die Option eines Gaststatus eingeführt worden, also einer Mitgliedschaft »light« mit nur eingeschränkten Rechten und Pflichten. (2) Neue Kommunikationsformen: Die Kommunikationsgewohnheiten in der Bevölkerung haben sich gewandelt und die Parteien versuchen dar- 5.4 Parteien reagieren auf Kritik mit Reformen Vertrauen in öffentliche Einrichtungen und Organisationen zur Jahreswende 2021/ 22 (in %) Abb. 18 (Sehr) großes Vertrauen in - Bundespräsident 75 Bundeskanzler 57 Bundesregierung 56 Bundestag 50 politische Parteien 24 Quelle: Forsa-Umfrage, Dezember 2021 <?page no="126"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 126 126 Die Parteiendemokratie auf zu reagieren - und das nicht nur in Form eines professionalisierten Medienwahlkampfs, der auch das Internet berücksichtigt. Für die innerparteiliche Organisation, aber auch für die Mitgliederwerbung oder die Spendenakquise haben die Parteien Online-Kommunikation erschlossen. Hierbei war die Piratenpartei, die Anfang der 2010er Jahre den Einzug in einige Landtage schaffte und sich die Digitalisierung auf die Flaggen geschrieben hatte, impulsgebend. Parteien bieten ihren Mitgliedern exklusive Kommunikation und Information online an. Über ihre Websites und mit ihren Social-Media-Aktivitäten (z. B. Facebook, Twitter, You- Tube) versuchen sie, ihre Mitglieder zu mobilisieren und junge Zielgruppen anzusprechen. Die Corona-Pandemie hat dabei wie ein Katalysator für die digitale Transformation der innerparteilichen Kommunikation gewirkt. Digitale Formate sollen den innerparteilichen Austausch erleichtern und die Mitarbeit in Parteien leichter, transparenter und damit auch attraktiver machen. (3) Innerparteiliche Demokratisierung: Die Motivation, Mitglied einer Partei zu werden (oder zu bleiben), kann gesteigert werden, wenn die Mitgliedschaft mit besonderen Privilegien verbunden ist. Hierzu zählt vor allem ein unmittelbarer Einfluss auf Personal- und Sachfragen. Eine Reihe von Parteien hat in ihren Satzungen die Möglichkeit der Mitgliederbefragung ergänzt, also Elemente der »direkten« innerparteilichen Demokratie eingeführt. Eine Vielzahl von Abstimmungen sind bereits durchgeführt worden, z. B. in der CDU zur Wahl des Parteivorsitzenden 2021/ 22 oder in der SPD über die Koalitionsverträge zu den Großen Koalitionen (2013, 2017) sowie zur Wahl der Parteivorsitzenden 2019. Solche Befragungen stoßen bei der Mitgliedschaft auf große Resonanz. Zudem sind Parteien dazu übergegangen, ihre Mitglieder über Online-Partizipationsplattformen an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Auch diese Entwicklung hat durch die Pandemie an Fahrt gewonnen. Ob es sich dabei letzten Endes um eine Aufhebung des »ehernen« Gesetzes handelt oder lediglich um eine sporadische und symbolische Einbindung des »Parteivolks«, gesteuert durch die Parteieliten, muss von Fall zu Fall untersucht werden. Inwieweit es den Parteien mit solchen Reformansätzen gelingen kann, ihre gesellschaftliche Abkopplung rückgängig zu machen und attraktiver für die Parteibuchinhaber: innen und potenzielle Neumitglieder zu werden, ist fraglich. Parteien leiden darunter, dass es im Zuge der Aufsprengung traditioneller Milieus und der Individualisierung eine gesamtgesellschaftliche Tendenz gibt, sich nicht langfristig an politische und soziale Gruppierungen zu binden. Betroffen sind davon auch andere Großorganisationen wie die Gewerkschaften oder die Kirchen. Darüber hinaus trägt der Ruf der Parteien nicht Parteien leiden unter-genereller Bindungsunwilligkeit <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 127 127 Reform und Zukunft der Parteien dazu bei, Menschen zu gewinnen, die die Reformen tragen könnten - ein Teufelskreis. Jedenfalls kann eine bloße Reform der internen Parteiorganisation keine hinreichende Maßnahme zur »Demokratisierung« der Parteiendemokratie sein. Vielmehr ist zu fragen, wo die Parteien zugleich Einschränkungen ihres Einflusses hinnehmen und wo Formen politischer Beteiligung jenseits der Parteien (z. B. direkte Demokratie) sinnvoll etabliert werden könnten. Das erfordert seitens der Parteien die Bereitschaft, im Interesse der Stabilität der (Parteien-)Demokratie Macht abzugeben. Das deutsche Parteiensystem ist jedenfalls in Bewegung, es ist volatil geworden. Der schnelle Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei Anfang der 2010er Jahre verweisen auf die neue Dynamik - ebenso wie der zügige Einzug der AfD in die Landtage und in den Bundestag 2017 (nur rund vier Jahre nach ihrer Gründung) und damit ihre vorläufige Etablierung im Parteiensystem. Zukünftig denkbar sind zunehmende Erfolge von Kleinstparteien inklusive der Chance für einzelne Gruppierungen, sich längerfristig zu etablieren. Zu erwarten ist das Aufkommen von Parteien, die sich eng an spezielle gesellschaftliche Milieus binden (z. B. Seniorenparteien, Migrantenparteien). Auch die Gefahr des Aufkommens extremistischer Parteien bleibt bestehen; die Fragmentierung und die Polarisierung des deutschen Parteiensystems könnten noch weiter zunehmen. Das Parteiensystem ist dynamischer und in seiner Entwicklung schwerer vorhersagbar geworden. Parteien - welche auch immer - werden auch zukünftig eine zentrale Rolle im politischen System Deutschlands spielen. Zugleich stehen sie vor der Herausforderung, ihre Bestimmung im Rahmen der europäischen Integration zu finden. Womöglich werden europaweite Parteien irgendwann einmal auch für die bundesdeutsche Politik zentral werden - und nicht nur wie jetzt in umgekehrter Richtung die nationalen Parteien für die europäische Politik (→ Kapitel 11) . Aber das ist in der Tat Zukunftsmusik. Jedenfalls werden Parteien überall dort unverzichtbar bleiben, wo es parlamentarische Körperschaften und Wahlen gibt: auf der europäischen, der kommunalen, der Landes- und auf der Bundesebene. Mit dem Parlament der Bundesebene, dem Deutschen Bundestag, setzt sich das folgende Kapitel auseinander. 1 Welche Argumente sprechen dafür, welche dagegen, beim Bundesverfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen eine Partei zu stellen, die verfassungswidrig ist? 2 Inwiefern belohnt die staatliche Parteienfinanzierung diejenigen Parteien, die gesellschaftlich stark verankert sind? »Demokratisierung« der-Parteiendemokratie Lernkontrollfragen ▼ <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 128 128 Die Parteiendemokratie 3 In welchen Stufen hat sich das derzeitige deutsche Parteiensystem herausgebildet und welche Weiterentwicklung ist in der Zukunft zu erwarten? 4 Was sind die Kennzeichen einer »professionalisierten Wählerpartei«? 5 Woran lässt sich »Parteienverdrossenheit« empirisch festmachen? 6 Mit welchen Strategien versuchen Parteien, sich für Mitglieder attraktiver zu machen, und haben diese Ansätze - Ihrer Einschätzung nach - Erfolgschancen? Literatur Es gibt mindestens zwei etablierte Einführungen in das bundesdeutsche Parteiensystem: Ulrich von Alemann: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag 2018 , sowie Everhard Holtmann: Der Parteienstaat in Deutschland. Erklärungen, Entwicklungen, Erscheinungsbilder, 2. Aufl., Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2017 . Aufsätze zu den deutschen Parlamentsparteien sowie zu Querschnittsthemen bietet ein Sammelband zur bundesdeutschen Parteiendemokratie: Oskar Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienforschung, Wiesbaden, Springer VS 2013. Eine kompetente Einführung in die Parteienforschung stellt dar: Elmar Wiesendahl: Parteienforschung. Ein Überblick, Wiesbaden, Springer VS 2022 . Kurzportraits auch der kleinen und Kleinstparteien finden sich in: Frank Decker/ Viola Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2018 . Weitere Analysen zu den Parteien und dem Parteiensystem Deutschlands bieten: Uwe Jun/ Oskar Niedermayer (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, Wiesbaden, Springer VS 2020. Themen und Befunde der vergleichenden Parteienforschung präsentiert: Klaus Detterbeck: Parteien und Parteiensystem, Konstanz, UTB 2011. Mit dem oben referierten Wandel der Parteiorganisation beschäftigt sich: Klaus von Beyme: Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien, Wiesbaden, Westdeutscher Verlag 2000 . Der Aufsatz von Wilhelm Hennis , der als Aufhänger im Abschnitt über die Parteienkritik gedient hat, lautet: Überdehnt und abgekoppelt. An den Grenzen des Parteienstaates, in: Christian Graf von Krockow (Hg.): Brauchen wir ein neues Parteiensystem? , Frankfurt a. M., Fischer TB 1983, S. 28-46 . Ansonsten folgen hier noch die Angaben für die übrige im Text angesprochene Literatur: ⚫ Seymour Lipset/ Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments, in: Seymour Lipset/ Stein Rokkan (Hg.), Party Systems and ▲ <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 129 129 Links Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York, The Free Press 1967, S. 1-64 , ⚫ Richard S. Katz/ Peter Mair: Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, Party Politics, Jg. 1 (1995), Nr. 1, S. 5-28 , ⚫ Ronald Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Political Style Among Western Publics, Princeton, Princeton University Press 1977 . Schließlich noch der Hinweis auf eine wissenschaftliche Zeitschrift, die für die vergleichende Parteienforschung besonders relevant ist: die im Sage- Verlag erscheinende, englischsprachige Party Politics . Links http: / / bundesrecht.juris.de/ partg/ Auf dieser Website des Bundesjustizministeriums findet sich das Parteiengesetz in seiner jeweils aktuellen Fassung. www.bundestag.de/ parlament/ praesidium/ parteienfinanzierung/ Der Bundestag gibt in diesem Bereich seines Netzangebots Auskunft über die Parteienfinanzierung. Hier finden sich auch Informationen darüber, welche Partei in den vergangenen Jahren in welcher Höhe staatliche Mittel erhalten hat. Zudem wird über Spenden informiert, die zeitnah veröffentlichungspflichtig sind (Spenden an Parteien über 50.000 €). www.bpb.de/ themen/ parteien/ parteien-in-deutschland/ Auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung wird ein Dossier »Parteien in Deutschland« mit weiterführenden Informationen über einzelne deutsche Parteien und zahlreiche Statistiken bereitgestellt. www.pruf.de Die Website des »Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung« an der Universität Düsseldorf präsentiert hier rechts- und politikwissenschaftliche Informationen rund um die Parteien. <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 130 130 Die parlamentarische Demokratie - Der Bundestag im (nur? ) formalen Zentrum Der Bundestag steht laut Grundgesetz im Zentrum des politischen Systems. Deutschland ist eine »parlamentarische Demokratie«. Vergleicht man die Bundesrepublik mit anderen Staaten, lässt sich das deutsche System als Regierungsform mit einem besonders starken Parlament einstufen. Von der Verfassungstheorie her handelt es sich beim Bundestag somit um eine gewichtige Institution. Er wird nicht von ungefähr als erstes der Staatsorgane im Grundgesetz erwähnt. Zugleich gibt es in der wissenschaftlichen Literatur, aber auch in den Medien, immer wieder die Aussage von einer »Entparlamentarisierung« der deutschen Politik, von einem Machtverlust des Parlaments im politischen Entscheidungsprozess. Gelegentlich ist sogar davon die Rede, dass der Bundestag nur noch als »Stempelkissen« für andernorts gefällte Entscheidungen fungiere. In den Analysen baut sich eine Spannung zwischen formaler Rolle und tatsächlicher Bedeutung der Volksvertretung auf. Insofern haben wir mit dem Bundestag eine spannende Institution vor uns, der das folgende Kapitel gewidmet ist. Der erste Abschnitt wirft einen Blick auf die Organisation des deutschen Parlaments und beleuchtet seine verschiedenen Arbeitsebenen: Plenum, Fraktionen, Ausschüsse sowie die einzelnen Abgeordneten. Aufschlussreich ist die Konfliktlinie, die zwischen der Stellung der einzelnen Abgeordneten und der Bedeutung von Fraktionen verläuft. Der zweite Abschnitt wendet sich der Arbeitsweise des Bundestages zu und spricht zum einen - mit Verweis auf die Schlagwörter »Rede-« und »Arbeitsparlament« - die Beziehung zwischen öffentlicher Debatte und Fachberatung an. Zum anderen steht die Grundstruktur von »Regierungsmehrheit vs. Opposition« im Fokus. Der dritte Abschnitt behandelt die Funktionen des Bundestages. Die vier parlamentarischen Aufgaben, Wahl, Gesetzgebung, Kontrolle und Kommunikation, werden am Bundestag durchdekliniert. Am Ende des Kapitels über die parlamentarische Demokratie wird die Frage nach der Entparlamentarisierung nochmals aufgegriffen und diskutiert. 6 Inhalt <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 131 131 Organisation und Aufbau des Bundestages 6.1 Organisation und Aufbau des Bundestages 6.2 Arbeitsweise des Parlaments 6.3 Aufgaben des Bundestages 6.4 Entparlamentarisierung? Organisation und Aufbau des Bundestages Das Grundgesetz beschäftigt sich in seinen Artikeln 38 bis 49 ausführlich mit dem Parlament. Dort wird Grundlegendes zum Wahlverfahren, zur Wahlperiode sowie zur Stellung der Abgeordneten gesagt. Zur Arbeitsweise und Organisation des Bundestages äußert sich die Verfassung gleichwohl kaum, allemal geht sie nicht ins Detail. Ausdrücklich erwähnt werden lediglich das Amt der Bundestagspräsidenten, die Untersuchungsausschüsse, die Ausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung, der EUsowie der Petitionsausschuss. Festgelegt sind ferner die Öffentlichkeit der Verhandlungen und die Entscheidungsfindung per Mehrheitsbeschluss. Dem Parlament wird durch das Grundgesetz eine »Geschäftsordnungsautonomie« zugestanden (Art. 40). Das heißt, der Bundestag kann sich eine organisatorische Satzung geben, ohne dass eine weitere Instanz (z. B. der Bundespräsident oder die Bundesregierung) dieser zustimmen muss. So gibt sich jeder neu konstituierte Bundestag zu Beginn der Wahlperiode eine Geschäftsordnung, wobei man zumeist auf das Regelwerk des Vorgängerbundestages zurückgreift. Neben der Geschäftsordnung findet sich noch eine Reihe von geschriebenen und »ungeschriebenen Gesetzen«, welche die Struktur und Arbeitsweise des Parlaments reglementieren. Sind die Regeln nicht schriftlich fixiert, dann spricht man von »parlamentarischen Gebräuchen« oder »Gewohnheitsrecht«. Diese informellen Regeln können genauso verbindlich wirken wie die niedergeschriebenen. Die Arbeit des Bundestages läuft auf unterschiedlichen Ebenen ab. Drei grundlegende Arbeitsplattformen lassen sich unterscheiden: (1) die Vollversammlung der Abgeordneten, (2) Zusammenschlüsse von Parlamentarier: innen und (3) die individuellen Mitglieder des Bundestages (MdBs). Eine Anmerkung noch zur grundlegenden Struktur des »Hohen Hauses«: Die deutsche Volksvertretung ist ein Parlament mit nur einer »Kammer«, nämlich dem Deutschen Bundestag. Staatsrechtlich ist es nicht korrekt, wenn der Bundesrat als »Zweite Kammer« bezeichnet wird, denn die Vertretung der Länder auf Bundesebene ist ein eigenständiges und unabhängiges Staatsorgan. (→ Kapitel 10) 6.1 Geschäftsordnungsautonomie <?page no="132"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 132 132 Die parlamentarische Demokratie Vollversammlung Ist vom Bundestag die Rede, dann ist damit in der Regel das Plenum, die Vollversammlung der Abgeordneten, gemeint. Als Zusammenkunft aller gewählten MdBs »konstituiert« sich der Deutsche Bundestag. Als Vollversammlung trifft das Parlament seine Entscheidungen. Die Plenararbeit steht oft auch im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. An der Spitze der Vollversammlung steht der Bundestagspräsident oder die Bundestagspräsidentin. Diese/ r wird vom Plenum gewählt. Dabei ist es ein ungeschriebener parlamentarischer Brauch, dass die stärkste Fraktion des Parlaments das Recht hat, den Vorsitz zu stellen. Die Gewählte vertritt das Parlament nach außen und hat das Hausrecht sowie die Befugnis zur Anordnung von Polizeigewalt in den Parlamentsgebäuden. Die Bundestagspräsidentin sitzt den Plenarverhandlungen vor und darf - wenn nicht gerade sitzungsleitend - an der Debatte und an den Abstimmungen teilnehmen. Sie bleibt Mitglied ihrer Partei und ihrer Fraktion. Damit unterscheidet sich das Amt der Bundestagspräsidenten von dem Amt der »Speaker« im britischen Unterhaus. Der »Speaker« gibt seine Fraktionsmitgliedschaft bei Amtsantritt auf und pflegt sich nicht an den Debatten zu beteiligen. Die Rolle des »Speaker« ist deutlich überparteilicher als die der Bundestagspräsidentin. Der Präsidentin zur Seite stehen Stellvertreter: innen, die gleichfalls vom Plenum gewählt werden. Aus den verschiedenen Fraktionen kommend bilden sie zusammen mit der Präsidentin das Präsidium des Bundestages, das geschäftsführende Aufgaben übernimmt. 6.1.1 Bundestagspräsident/ in an der Spitze des Staatsorgans Präsidium Tab. 7 Bundestagspräsident: innen der Bundesrepublik Deutschland Name Partei Amtszeit von-… bis-… 1 Erich Köhler CDU Sep 49 18. Okt 50 2 Hermann Ehlers CDU 19. Okt 50 29. Okt 54 3 Eugen Gerstenmaier CDU 16. Nov 54 31. Jan 69 4 Kai-Uwe von Hassel CDU 05. Feb 69 13. Dez 72 5 Annemarie Renger SPD 13. Dez 72 14. Dez 76 6 Karl Carstens CDU 14. Dez 76 31. Mai 79 7 Richard Stücklen CSU 31. Mai 79 29. Mrz 83 8 Rainer Barzel CDU 29. Mrz 83 25. Okt 84 9 Philipp Jenninger CDU 05. Nov 84 11. Nov 88 10 Rita Süssmuth CDU 25. Nov 88 26. Okt 98 11 Wolfgang Thierse SPD 26. Okt 98 18. Okt 05 12 Norbert Lammert CDU 18. Okt 05 24. Okt 17 13 Wolfgang Schäuble CDU 24. Okt 17 26. Okt 21 14 Bärbel Bas SPD 26. Okt 21 <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 133 133 Organisation und Aufbau des Bundestages Der Bundestag als Vollversammlung der Abgeordneten wird von parlamentarischen Hilfsdiensten, der so genannten Bundestagsverwaltung, unterstützt. An der Spitze dieser rund 3.000-köpfigen Behörde steht der »Direktor beim Deutschen Bundestag«. Die Leistungen der Hilfsdienste reichen von der Gebäudeverwaltung über die Organisation der Diätenauszahlung bis hin zu den wissenschaftlichen Fachdiensten. Zusammenschlüsse von Abgeordneten Geht man eine Ebene tiefer, dann erscheint der Bundestag nicht mehr als ein »Organ«, sondern als vielgestaltige Organisation, in der sich die Abgeordneten zu zahlreichen, zum Teil überlappenden, mehr oder weniger großen Gruppen zusammenschließen. Zu unterscheiden sind einerseits kurzfristige, sporadische Verbindungen von MdBs und andererseits langfristige Assoziationen. Zwei Formen solcher dauerhaften Zusammenschlüsse sind für das Verständnis der Arbeit des Bundestages besonders wichtig: die Ausschüsse und die Fraktionen. Ausschüsse Politik ist in modernen Gesellschaften vielschichtig und komplex geworden. Die Vollversammlung der Abgeordneten könnte die zahlreichen anstehenden Aufgaben nicht alle selbst bewältigen. Deswegen gibt es in modernen Parlamenten, so auch im Deutschen Bundestag, ein Ausschusswesen, das der Vorbereitung der Plenararbeit dient. Hierzu gehören insbesondere die ständigen Fachausschüsse. Der Bundestag hat in der 20. Wahlperiode 25 solcher Gremien eingerichtet, die sich mit verschiedenen Politikfeldern beschäftigen. Die Verteilung der Zuständigkeiten über die Ausschüsse entspricht traditionellerweise der Ressortzuschneidung der Ministerien: Der Auswärtige Ausschuss steht dem Auswärtigen Amt gegenüber, der Verteidigungsausschuss dem Verteidigungsministerium, der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dem gleichlautenden Ressort. Daneben existieren Ausschüsse, die sich mit Politikfeldern ohne dazugehörigem Bundesministerium befassen, wie der Ausschuss für Kultur und Medien oder der EU-Ausschuss. Jenseits der Politikfeld-Ausschüsse übernehmen weitere Ausschüsse wichtige Aufgaben: ⚫ Der bedeutsame Haushaltsausschuss kontrolliert die Ausgaben des Bundes in allen Ressorts. ⚫ Der »Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung« setzt sich mit Fragen des Parlamentsrechts auseinander und ist als Wahlprüfungsausschuss für die Behandlung von Einsprüchen gegen die Bundestagswahl zuständig. Bundestagsverwaltung 6.1.2 6.1.2.1 Ständige Ausschüsse bereiten Plenararbeit vor <?page no="134"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 134 134 Die parlamentarische Demokratie ⚫ Der Petitionsausschuss verarbeitet die Eingaben von Personen nach Art. 17 des Grundgesetzes. ⚫ Erstmalig 2013 und dann wieder 2017 und 2021 setzte der Bundestag nach den Wahlen einen Hauptausschuss ein. Dieser übernahm bis zur Konstituierung der Fachausschüsse deren Aufgaben. Mit der Einsetzung der ständigen Ausschüsse löste sich der Hauptausschuss auf. Name des Ausschusses Anzahl der Mitglieder Arbeit und Soziales 49 Auswärtiges 46 Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 38 Digitales 34 Ernährung und Landwirtschaft 35 Europäische Union 40 + 14 Mitglieder des Europaparlaments Familie, Senioren, Frauen und Jugend 39 Finanzen 45 Gemeinsamer Ausschuss 32 + 16 Mitglieder des Bundesrates Gesundheit 42 Haushalt 45 Inneres und Heimat 46 Klimaschutz und Energie 34 Kultur und Medien 19 Menschenrechte und humanitäre Hilfe 19 Petitionen 31 Recht 39 Sport 19 Tourismus 19 Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz 38 Verkehr 34 Vermittlungsausschuss 16 + 16 Mitglieder des Bundesrats Verteidigung 38 Wahlprüfung 9 Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung 19 Wirtschaft 34 Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 24 Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen 34 Hauptausschuss 31 Tab. 8 Ständige Ausschüsse im 20. Deutschen Bundestag Quelle: www.bundestag.de/ ausschuesse <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 135 135 Organisation und Aufbau des Bundestages In den Ausschüssen sind die Fraktionen entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten. Die Posten der Auschussvorsitzenden werden über die Fraktionen verteilt. Üblicherweise hat ein Abgeordneter der Opposition den Vorsitz im Haushaltsausschuss inne. In einigen Ausschüssen sind Unterausschüsse eingerichtet worden. Der Ältestenrat mit seinen 30 Mitgliedern ist schließlich kein Fachausschuss, sondern ein ständiges Leitungsgremium, das über das Sitzungsprogramm des Plenums berät und beschließt. Er hat die Macht über die Tagesordnung des Bundestages. Als nicht-ständige Gremien kann der Bundestag Untersuchungsausschüsse einsetzen, die im Grundgesetz ausdrücklich angesprochen werden (Art. 44). Über diese wird noch ausführlicher im Zusammenhang mit der Kontrollfunktion des Bundestages zu sprechen sein. Das Parlament hat überdies die Möglichkeit, Enquete-Kommissionen einzurichten. Diese dienen dazu, Themen mit langfristiger Perspektive zu bearbeiten. In solchen Enquete-Kommissionen sind neben den Abgeordneten auch parlamentsexterne Expert: innen vertreten. Schließlich kann der Bundestag noch Sonderausschüsse einsetzen; dies geschah beispielsweise im Rahmen der Deutschen Einheit. Diese Vielfalt der ständigen und nicht-ständigen Ausschüsse wird ergänzt durch eine Menge an Zusammenschlüssen von Abgeordneten, die ein spezielles Interesse teilen, z. B. intensive Beziehungen zu anderen Parlamenten der Welt zu pflegen. Fraktionen Neben den sachpolitischen Zusammenschlüssen von Abgeordneten spielen die parteipolitischen Formationen, die Fraktionen, eine bedeutende Rolle. Mit den Fraktionen sind wir bei den wohl wichtigsten parlamentarischen Einheiten im modernen Parlamentarismus angekommen. Nicht umsonst bezeichnen einige Forschende moderne Volksvertretungen auch als Fraktionen- oder Gruppenparlamente. Die Regelungen zur Bildung von Fraktionen finden sich in der Geschäftsordnung des Bundestages. Eine Gruppe von mindestens fünf Prozent aller Abgeordneten hat das Recht, sich zu einer Fraktion zusammenzuschließen. In der parlamentarischen Wirklichkeit sind nahezu alle MdBs in solchen Zusammenschlüssen organisiert. Die Abgeordneten werden quasi-automatisch Fraktionsmitglieder, sobald ihre Partei über die Fünf-Prozent-Hürde geklettert ist und hinreichend viele MdBs zur Gründung einer Fraktion im Bundestag hat. Direkt gewählte Mitglieder des Bundestages, deren Partei die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringen konnte, gehören zunächst keiner Fraktion an, wenn diese nicht mehr als fünf Prozent aller Abgeordneten stellt. Desglei- Untersuchungsausschüsse, Enquete- Kommissionen und Sonderausschüsse 6.1.2.2 Fraktionen alswichtigste parlamentarische Handlungseinheiten <?page no="136"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 136 136 Die parlamentarische Demokratie chen sind auch MdBs, die freiwillig ihre Fraktionszugehörigkeit aufgegeben haben oder denen die Mitgliedschaft entzogen worden ist, »fraktionslos«. Solche »frei schwebenden« Abgeordneten können sich einer anderen Fraktion anschließen oder sich als »Gruppe« organisieren. Gruppen genießen nur eingeschränkte Rechte und erhalten weniger Finanzmittel als die Fraktionen. Die parteipolitischen Zusammenschlüsse sind zu den zentralen Handlungseinheiten im Bundestag geworden: Fraktionen verfügen über Privilegien und Ressourcen, die sie in den Mittelpunkt der parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse rücken. Zahlreiche parlamentarische Rechte im Gesetzgebungsprozess, bei der Kontrolle der Regierung oder bei parlamentsinternen Abläufen sind in Wirklichkeit zu Fraktionsrechten geworden - oder zu den Rechten von »fraktionsstarken« Zusammenschlüssen von Abgeordneten, die aus unterschiedlichen parteipolitischen Ecken kommen können. Fraktionsrechte - eine Auswahl ⚫ Gesetzesinitiative ⚫ Antrag auf Aktuelle Stunde ⚫ Kleine oder Große Anfragen ⚫ Antrag auf namentliche Abstimmung ⚫ Antrag auf Vertagung einer Sitzung ⚫ Zitierrecht ⚫ Benennung von Mitgliedern für Ausschüsse und Kommissionen ⚫ Anrufung des Vermittlungsausschusses Die Fraktionen sind teilautonome Organisationen: Sie haben eine Leitungsspitze (ein »Management«), sie teilen sich auf in Arbeitsgruppen oder -kreise, sie geben sich Geschäftsordnungen und werden von einem eigenen Mitarbeiterstab unterstützt. Die Vorsitzenden und die Parlamentarischen Geschäftsführer: innen der Fraktionen gehören zu den zentralen Figuren im Bundestag - und mit zu den wichtigsten Akteuren des gesamten Regierungssystems. Die individuellen Abgeordneten Die kleinste Organisationseinheit im Bundestag sind die einzelnen Abgeordneten. Diese sind nicht nur Bestandteile von irgendwelchen Zusammenschlüssen oder gar bloße Rädchen in der großen Parlamentsmaschine, son- Teilautonome Organisationen mit Privilegien und Ressourcen Hintergrund 6.1.3 <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 137 137 Organisation und Aufbau des Bundestages dern als Individuen autonome »Systeme« mit eigenen Mitarbeiterstäben, mit unveräußerlichen Rechten und einem besonders geschützten Status. So werden die Abgeordneten zunächst vor willkürlicher Verfolgung in Schutz genommen. MdBs genießen »Immunität«, d. h. sie dürfen nicht ohne Weiteres wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung rechtlich verfolgt werden. Dieser Schutz kann nur auf Beschluss des Bundestages aufgehoben werden. Allerdings ist der Bundestag mittlerweile dazu übergegangen, die Immunität für alle Abgeordneten zu Beginn der Wahlperiode unter bestimmten Bedingungen vorsorglich aufzuheben. Die MdBs sind zudem Nutznießer des »Indemnitätsrechtes«, d. h. sie können aufgrund ihrer Äußerungen und ihrer Abstimmungen im Parlament auch später nicht mehr strafrechtlich belangt werden (Ausnahme: verleumderische Beleidigungen). Das Grundgesetz legt im Artikel 38 noch einen weiteren Grundstein für die Rechtsstellung der Abgeordneten: das freie Mandat. Parlamentarier: innen sind - so die Formulierung - »Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« (Abs. 1 Satz 2). Diese - nicht unumstrittene (s. u.) - Formulierung betont ausdrücklich die Unabhängigkeit der Bundestagsabgeordneten von Beeinflussungsversuchen, die aus der Mitte des Parlaments oder von außen an sie herangetragen werden. Schließlich werden Abgeordnete nicht nur vor Verfolgung und Beeinflussung geschützt, sondern auch mit Rechten ausgestattet: Sie können als Individuen auf ein Repertoire an parlamentarischen Antrags- und Rederechten zurückgreifen. Verfahrensrechte einzelner Abgeordneter - eine Auswahl ⚫ Stimmrecht ⚫ Rederecht ⚫ Informations- und Fragerecht ⚫ Abgabe von Erklärungen ⚫ Teilnahme an Ausschusssitzungen ⚫ Einbringung von Änderungsanträgen in der 2. Lesung von Gesetzesentwürfen Zur Absicherung ihrer finanziellen Unabhängigkeit erhalten die Abgeordneten für ihre Mandatsausübung eine »Entschädigung« (auch »Diäten« genannt). Allerdings ist aus dem einstmals dürftigen »Tagegeld« ein existenzsicherndes Einkommen geworden, das versteuert werden muss. MdBs sind keine Feierabendpolitiker mehr, sondern sie können von der Politik leben - wenngleich viele von ihnen noch »Nebentätigkeiten« nachgehen, die offengelegt werden müssen. Abgeordnete genießen Immunität und Indemnität Hintergrund <?page no="138"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 138 138 Die parlamentarische Demokratie Die Bundestagsabgeordneten sind nicht repräsentativ für die Bevölkerung, zumindest bezogen auf ihre demografischen Daten: Das trifft unter anderem auf die Altersverteilung und auf den Anteil von Frauen und Männern, auf den Migrationshintergrund, auf die Bildungsgrade und auf die im Bundestag vertretenen Berufsgruppen zu. Plakativ zusammengefasst ist der typische Bundestagsabgeordnete älter sowie formal höher gebildet als der Bevölkerungsdurchschnitt. Männer sind überrepräsentiert; Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert. Angehörige des öffentlichen Dienstes bilden eine verhältnismäßig starke Gruppe. Diese mangelnde Repräsentativität ist typisch für zeitgenössische Parlamente - und durchaus plausibel. Der klassische Weg in den Bundestag führt über eine Parteikarriere. Die hier greifenden Auswahlmechanismen bevorzugen bestimmte Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel solche mit hohem Bildungsgrad. Zudem steigt die Anzahl derer, die bereits vor ihrem Einzug in den Bundestag von der Politik gelebt haben (z. B. als Mitarbeitende von Abgeordneten oder als hauptberufliche Funktionsträger in einer Partei). Bundestagsabgeordnete sind Berufspolitiker: innen - oft vor, während und zunehmend auch im Anschluss an ihre Mandatszeit. Sie kehren immer seltener in ihre nicht-politischen Ausgangsberufe zurück, so sie denn überhaupt solche hatten. MdBs repräsentieren nicht den Bevölkerungsdurchschnitt Abgeordnete sind Berufspolitiker Tab. 9 Berufe der Abgeordneten vor ihrem Eintritt in den Bundestag (20. Wahlperiode) - die häufigsten Berufsklassen Quelle: www.bundestag.de Anzahl in % der Abgeordneten Rechts-, wirtschafts- und steuerberatende Berufe (selbstständig) 101 13,7 % Handwerk, Handel, Gewerbe, Industrie (unselbstständig) 61 8,3 % Bildung, Lehre, Forschung (Beamte) 37 5,0 % Parteien und Fraktionen (unselbstständig) 49 6,7 % Verwaltung (Beamte) 25 3,4 % Handwerk, Handel, Gewerbe, Industrie (selbstständig) 22 3,0 % Kommunale(r) Wahlbeamter/ Wahlbeamtin 26 3,5 % Mitarbeiter bei Abgeordneten 42 5,7 % Medien (unselbstständig) 10 1,4 % Gewerkschaften, Arbeitnehmerorganisationen (unselbstständig) 12 1,6 % Medien (selbstständig) 13 1,8 % Ausbildung (Schüler, Auszubildende, Studierende-u. ä.) 19 2,7 % <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 139 139 Organisation und Aufbau des Bundestages Gruppenparlament oder Individualparlament? Trotz all der formalen Unabhängigkeit der Mitglieder des Bundestages: Die parlamentarische Arbeit wird gelegentlich dafür kritisiert, dass die Gewissensfreiheit der einzelnen Abgeordneten in der Praxis keine Rolle mehr spiele. Die Fraktionsdisziplin - hier und dort wird vom »Fraktionszwang« gesprochen - beherrsche die Arbeit des Bundestages und enge die Freiheit der MdBs erheblich ein. Sie widerspreche der Idee vom autonomen Abgeordneten. In der Tat: Im Prozess der parlamentarischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung dreht sich vieles um die Fraktionen. Dort wird verabredet, wie sich die Mitglieder bei Abstimmungen verhalten sollen. Eine Vielzahl von Rechten ist von der Ebene der einzelnen Abgeordneten auf die Ebene der Fraktionen überführt worden. Der Bundestag wird zu Recht als Fraktionenparlament eingestuft. Auf den ersten Blick mag sich hier ein Widerspruch zu dem im Art. 38 des Grundgesetzes verankerten freien Mandat auftun: Sind die Abgeordneten in der Wirklichkeit also doch an Weisungen gebunden, nämlich an die Weisungen der jeweiligen Fraktionen bzw. deren Spitze? Zunächst einmal gilt: Die Abgeordneten haben stets die Möglichkeit, nach ihrem Gewissen zu entscheiden. Sie können nicht in die Fraktionslinie gezwungen werden - also ist »Fraktionszwang« das falsche Wort. Auch wenn sie abweichend votieren, müssen sie nicht damit rechnen, unmittelbar ihr Mandat zu verlieren. Noch nicht einmal dann, wenn sie aus der Partei austreten, für die sie kandidiert haben oder über deren Landesliste sie gewählt wurden, droht ihnen ein Mandatsverlust. Aber es gibt andere »Disziplinierungsinstrumente«. Diese können von einer Ermahnung seitens der Fraktionsführung über den Entzug einer begehrten Ausschussposition bis hin zum Ausschluss aus der Fraktion reichen. Gegebenenfalls werden Abweichler: innen von ihrer Partei bei der nächsten Wahl nicht mehr oder lediglich auf aussichtslosen Listenplätzen als Kandidierende aufgestellt. Mitglied einer Fraktion zu sein engt die Abgeordneten aber nicht durchweg in ihren Spielräumen ein. Die Zugehörigkeit zu einer Fraktion kann die Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten der Einzelnen sogar erheblich weiten. Wenn sich ein MdB innerhalb der eigenen Fraktion mit einer Position oder einem Thema durchsetzen kann, dann ist diese Angelegenheit plötzlich nicht mehr nur die »Mission« eines einzelnen Abgeordneten. Vielmehr wird sie damit zur Sache einer der großen parlamentarischen Kräfte. Ihre Durchsetzungschance erhöht sich. Ohnehin ist Politik so komplex geworden, dass sich nicht mehr jede/ r einzelne Abgeordnete in jede Fragestellung hinreichend einarbeiten kann. 6.1.4 Kritische Sicht auf die Fraktionsdisziplin »Fraktionszwang« missverständlich Effiziente arbeitsteilige Willensbildung <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 140 140 Die parlamentarische Demokratie Deswegen ist die arbeitsteilige Willensbildung in den Fraktionen effizient. Man verlässt sich bei Abstimmungen auf das, was die jeweiligen sachkundigen Fraktionskolleg: innen als Position erarbeitet haben. Als parlamentarische »Sternstunden« werden zuweilen Debatten bezeichnet, in denen die Abstimmung seitens der Fraktionen »freigegeben« ist. Dies wird zumeist dann praktiziert, wenn es sich um ethische Fragen handelt (z. B. gleichgeschlechtliche Ehe, Sterbehilfe), bei denen die einzelnen Fraktionen keine einheitliche Position entwickeln können oder wollen. Diese ergebnisoffenen Debatten sind die Ausnahme im parlamentarischen Alltag und müssen es sogar sein. Ein reines »Sternstundenparlament« wäre nicht arbeitsfähig. Es stünde im Widerspruch zur Idee der »parlamentarischen Regierung« (→ Kapitel 7) . Arbeitsweise des Parlaments Der Bundestag arbeitet anders als alle anderen politischen Organisationen wie Regierungen, Parteien oder Verwaltungen. Kennzeichnend für die parlamentarische Arbeitsweise sind die öffentliche Debatte sowie der Schutz von Minderheitenrechten bei gleichzeitigem Mehrheitsprinzip. Zwischen Rede- und Arbeitsparlament »Der Bundestag verhandelt öffentlich« - so will es der Artikel 42 des Grundgesetzes. Das Parlament ist ein Ort der öffentlichen Aussprache, der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Diese Aussprache findet primär im Rahmen der Plenarversammlung statt. Wenn die Abgeordneten im Sitzungssaal des Reichstagsgebäudes zusammenkommen, dann können, sollen und wollen sie beobachtet werden: von den Menschen auf den Besuchertribünen, von den Journalist: innen auf der Pressegalerie und vor allem über die Medien, die Ton und Bild der Debatten aufzeichnen oder live streamen. Redevs. Arbeitsparlament (Winfried Steffani) Redeparlament : Der Anspruch eines Redeparlaments ist es, »das wichtigste Forum der öffentlichen Meinung, die offizielle Bühne aller großen, die Nation bewegenden politischen Diskussionen zu sein«. Die entscheidende Arena des parlamentarischen Betriebs ist das Plenum. 6.2 6.2.1 Öffentliche Plenardebatte Definition ▼ <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 141 141 Arbeitsweise des Parlaments Arbeitsparlament : Parlamente dieser Kategorie haben den »Charakter einer betont politisch interessierten Spezialbürokratie«. Der Hauptteil parlamentarischer Arbeit findet in den Fachausschüssen statt. Quelle: Winfried Steffani (Hg.), Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen, Westdeutscher Verlag 1979, S. 96 f. Die Plenardebatte mutet wie ein »öffentliches Ringen« um die beste Lösung an. Rede und Gegenrede prägen den Debattenverlauf. Am Ende steht gegebenenfalls eine Abstimmung. Schaut man allein auf die Plenardebatten, dann erscheint der Bundestag wie ein klassisches »Redeparlament«. Man könnte den Eindruck gewinnen, die parlamentarische Willensbildung liefe überwiegend im Halboval des Plenarsaals ab. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Das, was im Plenarsaal der Öffentlichkeit präsentiert wird, sind die Ergebnisse einer in der Regel bereits abgeschlossenen Meinungsbildung. Die Debatte im Plenum dient der öffentlichen Begründung und Rechtfertigung von vorher gefällten Entscheidungen und nicht dazu, die Gegenseite zu überzeugen. Denn das Plenum entscheidet über »Beschlussvorlagen«: Das heißt, die Vollversammlung der Abgeordneten debattiert über Vorentscheidungen, die in den Ausschüssen getroffen worden sind. Gesetzesentwürfe werden nach der ersten Beratung im Plenum an die zuständigen Ausschüsse weitergeleitet. Dort werden die Vorlagen detailliert diskutiert, Änderungsvorschläge eingebracht und gegebenenfalls umgesetzt. In den Ausschüssen stoßen die Fachleute der Fraktionen aufeinander. Zuvor ist bereits innerhalb der parteipolitischen Arbeitskreise und -gruppen eine Linie erarbeitet worden. Mit dieser Position gehen die Fachvertreter: innen der Fraktionen in die Ausschussberatungen hinein. Die Vorarbeiten in den Fachausschüssen und in den Fraktionsgremien sind ein unverzichtbarer Bestandteil der parlamentarischen Tätigkeit. Damit weist der Bundestag auch deutliche Merkmale eines »Arbeitsparlaments« auf. Die Praxis des Bundestages liegt somit zwischen den beiden Typen »Rede-« und »Arbeitsparlament«. Den Bundestag nur über seine Plenartätigkeit wahrzunehmen wäre jedenfalls falsch. Vielmehr ist es ein generelles Kennzeichen von Parlamenten, dass sie eine Vielzahl von unterschiedlichen Handlungsräumen in ihren Strukturen beherbergen. Dort finden kooperative oder konfliktreiche, öffentliche oder vertrauliche Prozesse statt. ▲ Plenardebatte als Ort öffentlicher Begründung vorher gefällter Entscheidungen Ausschüsse bereiten Plenarentscheidungen vor <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 142 142 Die parlamentarische Demokratie Regierungsmehrheit vs. Opposition Die Arbeit des Bundestages wird geprägt von einer Konfliktlinie, die sich durch nahezu alle Gremien und Entscheidungsprozesse des Parlaments zieht: die Auseinandersetzung zwischen parlamentarischer Regierungsmehrheit und Opposition. Die Mehrheitsfraktionen bilden diejenigen, die den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin gewählt haben und anschließend politisch tragen. Zur Opposition gehören alle anderen Fraktionen oder Mitglieder des Parlaments. Die Mehrheitsfraktionen sitzen am Entscheidungshebel. Denn in der Regel reicht die Mehrzahl der anwesenden Abgeordneten, um eine Entscheidung des Staatsorgans herbeizuführen: »Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich« (Art. 42 GG). Nur in vom Grundgesetz ausdrücklich erwähnten Sonderfällen ist eine Kanzlermehrheit notwendig (d. h. mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages), z. B. bei der Wahl des Regierungschefs, bei Vertrauensfragen oder dem Misstrauensvotum (→ Kapitel 7) . Bei Verfassungsänderungen gilt das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Zustimmung der Abgeordneten (→ Kapitel 1) . Obwohl die Mehrheitsregel gilt: Im Bundestag werden zugleich die Rechte der Minderheiten, insbesondere die der Opposition geschützt. Widerstand und Kritik gelten in vielen Situationen und Organisationen als problematisch und verzichtbar. Im Parlament hingegen kommt der Opposition eine wichtige und unentbehrliche Aufgabe zu. Sie kontrolliert und kritisiert die Regierung, stellt Alternativen vor und übernimmt somit substanzielle demokratische Aufgaben. Kontrolle und Kritik laufen nicht mehr in erster Linie zwischen Gesamtparlament und Regierung ab, wie dies von der klassischen Gewaltenteilungslehre noch angedacht war. Vielmehr stehen sich die Handlungseinheit von Bundestagsmehrheit und Regierung auf der einen Seite und die parlamentarische Opposition auf der anderen Seite gegenüber. Man spricht in parlamentarischen Demokratien wie der Deutschlands von einer »neuen Gewaltenteilung« und von einer partiellen »Gewaltenverschränkung« zwischen Regierung und Parlament. Das Parlamentsrecht umfasst eine Menge an Rechten, die von der Opposition genutzt werden können. Dies trifft insbesondere auf die Instrumente der Regierungskontrolle wie Anfragen oder das Einrichten von Untersuchungsausschüssen zu. Aber auch im Gesetzgebungsprozess hat die Opposition die Möglichkeit, ihre Position einzubringen und den Willensbildungsprozess mitzugestalten - wenngleich bei der (Nicht-)Verabschiedung eines Gesetzes letzten Endes die Mehrheit den Ausschlag gibt. In der besonderen Konstellation einer Großen Koalition stellt sich die Frage nach den demokratischen Minderheitenrechten neu: Inwieweit ist eine »Kleine Opposition« überhaupt in der Lage, die kontrollierenden Auf- 6.2.2 Mehrheitsfraktionen am Entscheidungshebel Neue Gewaltenteilung zwischen Regierung und-Opposition Schwäche der »Kleinen Opposition« <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 143 143 Aufgaben des Bundestages gaben der parlamentarischen Minderheit effektiv zu übernehmen? So kamen beispielsweise im Bundestag von 2013 bis 2017 die zwei oppositionellen Fraktionen (Linkspartei, Bündnis 90/ Grüne) zusammen auf nur rund 20 Prozent der Abgeordneten. Deswegen war ihnen eines der Oppositionsrechte verbaut, für das sich mindestens ein Viertel der Abgeordneten zusammenfinden muss, nämlich die Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht (→ Kapitel 9) . Aufgaben des Bundestages Welche Aufgaben und Kompetenzen der Bundestag in der parlamentarischen Demokratie Deutschlands hat, soll entlang der klassischen vier Parlamentsfunktionen erörtert werden: (1) Wahl-/ Abwahlfunktion, (2) Gesetzgebungsfunktion, (3) Kontrollfunktion und (4) Kommunikationsfunktion. Wahl-/ Abwahlfunktion Der Bundestag wählt eine Reihe von Personen, zum Beispiel interne Funktionsträger wie die Bundestagspräsidentin oder externe wie den Präsidenten des Rechnungshofs oder die Hälfte der Bundesverfassungsrichter: innen. Vor allem aber wählt der Bundestag zu Beginn der Legislaturperiode den Bundeskanzler/ die Bundeskanzlerin. Bislang liefen die Bundeskanzlerwahlen selbst relativ überraschungsfrei und unkompliziert ab, obgleich die Mehrheiten in einigen Situationen reichlich knapp waren. Der jeweils vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat ist stets im ersten Wahlgang von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Bundestages gewählt worden. In gegebenenfalls erforderlichen weiteren Wahlgängen müsste der Vorschlag aus der Mitte des Parlaments kommen. Finden auch diese Vorgeschlagenen keine »Kanzlermehrheit«, dann wird nach Ablauf von 14 Tagen ein abschließender Wahlgang angesetzt. Erhält der/ die Kandidat/ in auch dann nur eine relative, aber keine absolute Stimmenmehrheit der Mitglieder, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen anberaumen. Der Bundespräsident hat aber auch die Option, die mit der relativen Mehrheit gewählte Kandidatin zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung zu ernennen. Zu dieser Situation ist es bislang zwar noch nicht gekommen. Jedoch wurden diese Szenarien anlässlich der schwierigen und langwierigen Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl 2017 intensiv diskutiert. Dass die Kanzlerwahl generell mit einer gewissen Spannung verbunden ist, hängt damit zusammen, dass die Wahl mit »verdeckten Stimmzetteln« erfolgt. 6.3 6.3.1 Bundeskanzlerwahl <?page no="144"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 144 144 Die parlamentarische Demokratie So lässt sich das Stimmverhalten der einzelnen Abgeordneten nicht nachvollziehen. Abweichler: innen bleiben unentdeckt (und damit unbestraft). Der Bundestag bringt also den Bundeskanzler oder die -kanzlerin ins Amt. Aber erst das Recht des Parlaments, den Regierungschef des Amtes zu entheben , macht aus Deutschland eine »parlamentarische« Demokratie, in der die Regierung dem Parlament gegenüber verantwortlich bleibt. Der Bundestag verfügt über eine solche Abwahlkompetenz durch den Artikel 67 des Grundgesetzes (»konstruktives Misstrauensvotum«, → Kapitel 7 ). Das deutsche Parlament kann eine/ n Bundeskanzler/ in abwählen, aber nur dann, wenn zugleich mit der erforderlichen Mehrheit ein neuer Regierungschef gewählt wird. Eine Abwahl durch eine negative Mehrheit, die eine »Regierungslücke« zur Folge hätte, ist von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes ganz bewusst unmöglich gemacht worden. Gesetzgebungsfunktion Der Bundestag wird in der Sprache der Jurist: innen als der »Gesetzgeber« bezeichnet. Das Gesetzgeben ist in der Tat diejenige Aufgabe, die der klassischen Gewaltenteilung zufolge dem Parlament zugewiesen wird. Das Grundgesetz zementiert diese Idee im Artikel 77 Abs. 1: »Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen«. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Festlegung um die »Wesentlichkeitstheorie« ergänzt. Die besagt, dass der Bundestag dasjenige Organ ist, das »grundlegende und wesentliche Entscheidungen« treffen muss. Es darf seine Entscheidungskompetenz in wichtigen Fragen nicht an andere, z. B. die Regierung, abtreten. Konstruktives Misstrauensvotum als-Abwahlkompetenz des Parlaments 6.3.2 Bundestag als Gesetzgeber Bundespräsident schlägt Person vor Kandidatenvorschlag aus der Mitte des Bundestages Kandidatenvorschlag aus der Mitte des Bundestages Wahlgang im Bundestag Bundestag wählt Vorgeschlagenen Wahlgang/ -gänge im Bundestag vorgeschlagene Person erhält keine absolute Mehrheit vorgeschlagene Person erhält absolute Mehrheit vorgeschlagene Person erhält absolute Mehrheit keine absolute Mehrheit für vorgeschlagene Person Bundespräsident muss Gewählten zum/ zur Bundeskanzler/ in ernennen Bundespräsident kann Gewählten zum/ zur Bundeskanzler/ in ernennen Bundespräsident kann den Bundestag auflösen Neuwahlen oder mit relativer Mehrheit Verfahren der Kanzlerwahl Abb. 19 <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 145 145 Aufgaben des Bundestages Die parlamentarische Gesetzgebung läuft in einem mehrstufigen Verfahren ab. Im Plenum finden drei Lesungen statt (bei völkerrechtlichen Verträgen nur zwei). Diese sind allerdings nicht immer mit einer »Aussprache« verbunden. Zwischen den Plenarlesungen befassen sich die Fachausschüsse mit der Gesetzesvorlage. In der zweiten Plenarverhandlung können von einzelnen Abgeordneten Änderungsanträge eingebracht werden, über die die Vollversammlung abstimmt. In der dritten Lesung dürfen Änderungsanträge nur noch von Fraktionen eingespeist werden und auch nur, wenn sie sich auf Änderungen aus der zweiten Lesung beziehen. Am Ende entscheidet der Bundestag mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen über die gegebenenfalls geänderte Vorlage. Das Recht, einen Gesetzentwurf einzubringen (Initiativrecht), teilt sich der Bundestag (mindestens ein fraktionsstarker Zusammenschluss) mit der Bundesregierung und dem Bundesrat. Ein Großteil der verabschiedeten und vom Bundespräsidenten ausgefertigten Gesetze beruht letzten Endes auf Vorlagen, die seitens der Regierung eingebracht worden sind: 79,2 Prozent bis zum Ende der 19. Legislaturperiode. Dies macht darauf aufmerksam, wie weitreichend die Regierung (eigentlich die »Exekutive«) an der Gesetzgebung (der »Legislative«) beteiligt ist. Ein Teil der Bundesgesetze wird mit Zustimmung (fast) aller Fraktionen verabschiedet. Die Konfliktlinie Regierungsmehrheit vs. Opposition schlägt sich in der Gesetzgebungsarbeit nieder - aber nicht immer und nicht überall. Bundesregierung bringt die meisten Gesetze ein Gesetzgebungsstatistik bis 2021 Vom Bundespräsidenten ausgefertigte und verkündigte Gesetzesvorlagen 1.-12. Wahlperiode 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. Summe Prozent 1949- 1994 1994- 1998 1998- 2002 2002- 2005 2005- 2009 2009- 2013 2013- 2017 2017- 2021 der Bundesregierung 3804 418 412 290 505 442 486 440 6797 79,2 aus der Mitte des Bundestages 883 96 114 80 89 84 52 95 1493 17,4 des Bundesrates 163 37 22 16 19 17 9 7 290 3,4 Gesetzesvorlagen insgesamt 4850 551 548 386 613 543 547 542 8580 Quelle: www.bundesrat.de Tab. 10 <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 146 146 Die parlamentarische Demokratie Kontrollfunktion Demokratie bedeutet, dass die Macht verteilt ist und sich die staatlichen Institutionen gegenseitig kontrollieren. Gegenstand der parlamentarischen Kontrolle ist in erster Linie die Bundesregierung, die dem Parlament gegenüber verantwortlich ist. Der Bundestag verfügt über ein großes Arsenal an Instrumenten, die Regierungsarbeit einer kritischen Beobachtung zu unterziehen. Zunächst stehen ihm die so genannten »interpellativen Verfahren« zur Verfügung, mit denen das Parlament die Bundesregierung und den/ die Bundeskanzler/ in öffentlich zur Rede stellen und Informationen gewinnen kann. Je nach Anzahl der Antragstellenden können unterschiedliche Verfahren zum Einsatz kommen. Kontrollieren können die Abgeordneten ferner im Rahmen der Fachausschüsse oder über eine Klage beim Bundesverfassungsgericht, z. B. in Form eines Normenkontroll- oder Organstreitverfahrens (→ Kapitel 9) . Wird das Bundesverfassungsgericht angerufen, überträgt der Bundestag seine Kontrollaufgabe dem obersten Gericht. Mit Unterstützung eines weiteren Bundesorgans - des Bundesrechnungshofs - findet die parlamentarische Kontrolle bei den Haushaltsausgaben statt. Dieser stellt dem Parlament jährlich einen Bericht über die Solidität der Mittelverwendung durch die Bundesbehörden zur Verfügung. Als schärfstes Kontrollinstrument des Bundestages gilt die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Untersuchungsausschüsse dienen der Klärung von Sachverhalten und dem Aufdecken von Missständen. In ihrer Arbeit ähneln sie Gerichten: Sie vernehmen Zeugen und können Beweise erheben lassen. 6.3.3 »Interpellative Verfahren« Untersuchungsausschüsse als schärfstes Kontrollinstrument Tab. 11 Spielarten interpellativer Verfahren im Deutschen Bundestag Große Anfragen können von einer Fraktion oder einem fraktionsstarken Zusammenschluss schriftlich eingebracht werden. Die-Bundesregierung ist-zur Antwort und auf Verlangen der-Fragestellenden zur Diskussion im-Plenum verpflichtet. Kleine Anfragen können von fünf Prozent der Abgeordneten eingereicht werden. Frage und Antwort sind schriftlich. Es-schließt sich keine Plenaraussprache an. Fragerecht des einzelnen Abgeordneten: Einzelne Abgeordnete des Bundestages haben das Recht, kurze Einzelfragen (mündlich oder schriftlich) an die Bundesregierung zu stellen. Einzelanfragen von MdBs können von der Regierung im-Rahmen der Fragestunde beantwortet werden. Aktuelle Stunde: In einer Aktuellen Stunde können einerseits Themen von-allgemeinem aktuellen Interesse diskutiert werden. Andererseits kann sie-zur Klärung noch offener Punkte im Anschluss an die wöchentliche Fragestunde dienen. Das Antragsquorum liegt bei fünf Prozent der Abgeordneten. <?page no="147"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 147 147 Aufgaben des Bundestages In der überwiegenden Mehrzahl sind die Untersuchungsausschüsse bislang von der parlamentarischen Minderheit beantragt worden. In ihrer Arbeit und ihren Ergebnissen spiegelt sich zumeist die Auseinandersetzung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition: Die beteiligten Abgeordneten versuchen Punkte für ihr jeweiliges Lager zu machen respektive Schaden von ihm abzuwenden. Am Ende solcher Untersuchungsausschüsse stehen folglich selten gemeinsam getragene Schlussfolgerungen, sondern oft mehrere Berichte, jeweils aus der Perspektive der Regierungsmehrheit und aus der Perspektive der Oppositionsfraktionen erstellt. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse ⚫ rechtliche Basis: Art. 44 GG und das Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages vom 19. Juni 2001, zuletzt geändert am 21. Dezember 2020, ⚫ Antragsquorum: 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages, ⚫ Beweiserhebung findet öffentlich statt, ⚫ die Vorschriften der Strafprozessordnung finden Anwendung, ⚫ Besetzung erfolgt gemäß der Fraktionsstärken im Bundestag, ⚫ die Minderheitsfraktionen haben geschützte Rechte im Verfahren, ⚫ der Ausschuss legt am Ende einen Bericht oder mehrere Berichte vor, ⚫ bisherige Gesamtzahl: 50 (Stand: Oktober 2022), ⚫ jüngere Beispiele: NSU-Untersuchungsaussschuss (2013), Untersuchungsausschuss »Breitscheidplatz-Anschlag« (2018), Untersuchungsausschuss »Afghanistan« (2022). Ein Großteil der parlamentarischen Kontrollrechte wird zwar von den Oppositionsfraktionen und ihren Abgeordneten in Anspruch genommen. Aber auch die Mehrheitsfraktionen kontrollieren ihre Regierung. Diese kritische Beobachtung dient jedoch weniger dazu, die Arbeit von Kanzler/ in und Kabinett öffentlich zu beanstanden und ihnen damit eventuell Schaden zuzufügen. Vielmehr handelt es sich bei der Kontrolle innerhalb der Handlungseinheit Regierung und Bundestagsmehrheit um etwas, was als konstruktive »Mitsteuerung« bezeichnet wird. Diese Mitsteuerung findet - im Gegensatz zur Kontrolle durch die Opposition - zu einem großen Teil hinter verschlossenen Türen statt. Hintergrund Opposition und Mehrheit kontrollieren <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 148 148 Die parlamentarische Demokratie Kommunikationsfunktion Der Bundestag hat als »Volksvertretung« kommunikative Aufgaben, nämlich zwischen den Politikbetroffenen auf der einen Seite und dem staatlichen Entscheidungsbereich auf der anderen Seite zu »vermitteln«. So ist es eine zentrale Funktion von Parlamenten, die Interessen der Bevölkerung wahrzunehmen und in den politischen Prozess einzubringen. Die Abgeordneten werden unmittelbar von den Bürger: innen gewählt und sollen auch danach in einem engen Kontakt mit ihren Wähler: innen stehen. Hierzu dienen auf der Ebene der einzelnen Abgeordneten beispielsweise Wahlkreissprechstunden und andere Foren der Begegnung in den Heimatwahlkreisen oder am Parlamentssitz. Eine stetig wachsende Rolle in der Abgeordneten-Bürger-Kommunikation spielen online-basierte Medien; diese Tendenz ist durch die Corona-Pandemie verstärkt worden. MdBs greifen intensiv auf die Möglichkeiten des Social Web zurück. Große Teile der Kommunikation online und offline finden im informalen Rahmen statt. Das Petitionsverfahren bietet wiederum eine formale Möglichkeit, Bürgeranliegen in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Laut Grundgesetz (Art. 17) hat »jedermann« das Recht, beim Bundestag eine Petition einzureichen. Die Geschäftsordnung des Bundestages regelt die weitere Verarbeitung: Der Petitionsausschuss berät über die Eingaben und berichtet dem Plenum, der Öffentlichkeit und den Petenten hierüber. Seit Mitte der 2000er besteht auch die Möglichkeit, Petitionen online einzureichen. Der Anteil der online eingereichten Petitionen hat deutlich zugenommen Zudem bietet der Bundestag die Möglichkeit der öffentlichen Online-Petition an. Solche Petitionen werden auf die Bundestags-Website gestellt und können dort diskutiert und gezeichnet werden. Sie ähneln dem Instrument der Volksinitiative ( → Kapitel 2 ), sind allerdings unverbindlich. Art. 17 GG Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Der Bundestag nimmt aber nicht nur Kommunikation auf - im Sinne eines »Hörrohrs«. Vielmehr hat das Parlament auch eine »Sprachrohr«-Funktion. Die von der Volksvertretung gefällten Entscheidungen, die unterschiedlichen Meinungen hierzu, die in Beratung stehenden Themen - all dies gilt es, der Bevölkerung gegenüber darzustellen. Dazu dienen in erster Linie die 6.3.4 Petitionsverfahren bringt-Bürgeranliegen ins-Parlament Wortlaut ▼ ▲ »Sprachrohr«-Funktion des Parlaments <?page no="149"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 149 149 Entparlamentarisierung? Plenardebatte und die Medienberichterstattung hierüber. Ohne Presse, Hörfunk, Fernsehen und Internet könnte das Parlament seine Kommunikationsaufgabe nicht erfüllen. Das Parlament unterstützt die Vermittlungstätigkeiten der Medien durch eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit und hält für Journalist: innen, aber auch für alle anderen frei zugängliche Informationen offline sowie online bereit. Auf seiner Internet-Seite bietet der Bundestag Live-Streaming aus den öffentlichen Sitzungen sowie eine Mediathek und einen YouTube-Kanal mit Videoaufnahmen von Plenar- und öffentlichen Ausschussberatungen an. Der generelle Trend zur visuellen Darstellung durch Fremd- und Eigenmedien birgt allerdings Gefahren in sich: nämlich sich den Gesetzen visueller Kommunikation anpassen zu müssen und dabei das parlamentarische »Gesicht« zu verlieren. Denn ein Großteil nicht-visualisierbarer Alltagsarbeit des Bundestags und seiner Abgeordneten bleibt damit unsichtbar (→ Kapitel 4) . Entparlamentarisierung? Der Bundestag steht - formal betrachtet - im Zentrum des deutschen Regierungssystems. Das ist die Idee des Grundgesetzes; das ist die Verfassungstheorie. Die Verfassungs wirklichkeit , so heißt es immer wieder, habe sich indes weit davon entfernt. »Entparlamentarisierung« oder »Deparlamentarisierung« sind Schlagwörter, die eine Kluft zwischen Theorie und Praxis ansprechen. Hinter den Begriffen steht die These, dass das Parlament nicht mehr die zentrale Instanz im politischen System sei. Dies lasse sich, so die entsprechenden Analysen, vor allem an der Gesetzgebung festmachen. Der eigentliche »Gesetzgeber«, der Bundestag, sei zum »Stempelkissen« andernorts gefällter Entscheidungen geworden. Aber auch die übrigen parlamentarischen Funktionen könnten vom Parlament nur noch bedingt ausgeübt werden. Welche Entwicklungen werden für die Entmachtung des Bundestages verantwortlich gemacht? Wer nimmt dem Parlament die Macht, die ihm zusteht? Der kritische Blick fällt zunächst auf eine Reihe innenpolitischer Akteure, die zum Teil bereits angesprochen worden sind: Verbände seien im Gesetzgebungsprozess übermächtig geworden. Die Medien, nicht mehr das Parlament, stellten die Orte der politischen Auseinandersetzung dar und bestimmten die Themen der öffentlichen Agenda. Vorabsprachen in Koalitionsverträgen und -gremien setzten Fakten, die von den Abgeordneten nur noch zur Kenntnis genommen werden könnten. Auch andere Staatsorgane grenzten die gesetzgeberischen Möglichkeiten des Bundestages weiter ein: die Regierung durch ihre Dominanz bei der Gesetzesinitiative, das Bundes- 6.4 These von der »Entmachtung« des-Bundestages <?page no="150"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 150 150 Die parlamentarische Demokratie verfassungsgericht durch seine Rechtsprechung (→ Kapitel 9) , der Bundesrat durch seine Mitsprachemöglichkeiten. Apropos Bundesrat: Insbesondere der föderal-kooperativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland wird die schwindende Macht des Bundestages (und der Landesparlamente! ) geschuldet (→ Kapitel 10) . Neben den innenpolitischen Faktoren werden auch die Europäisierung und Globalisierung für die Entparlamentarisierung verantwortlich gemacht (→ Kapitel 11) . Die Verlagerung von Entscheidungen auf die Ebene der Europäischen Union führe zu einem Kompetenzverlust des Bundestages. Das Parlament sei - im Gegensatz zur Regierung - an der Rechtsetzung in der Europäischen Union nicht unmittelbar beteiligt. Die Regierung könne über den Umweg der Europäischen Union das nationale Parlament ausspielen. Vergleichsweise engten die Prozesse der Globalisierung, zum Beispiel die Zunahme internationaler Abkommen, die Spielräume des Parlaments ein. Auf viele relevante Entscheidungen könne der Bundestag keinen Einfluss mehr nehmen. Der Befund vom machtlosen Parlament ist in seiner Pauschalität gleichwohl nicht stichhaltig. Zunächst: Der Bundestag ist kein bloßes Stempelkissen. So finden im Parlament üblicherweise eine intensive Beratung und eine Veränderung von Gesetzesvorlagen statt. Es gilt in der Tat das Wort: Kaum ein Gesetz kommt aus dem Bundestag so heraus, wie es als Entwurf hineingekommen ist. Zudem sind Parlamentsakteure an den vor- und außerparlamentarischen Entscheidungsprozessen mitbeteiligt. So sind Regierungsakteuren, die in den parlamentarischen Prozess eingebracht werden, in der Regel bereits im Vorfeld mit den Fraktionsspitzen abgeklärt worden. Die Regierungsfraktionen steuern also frühzeitig mit. Auch in den Koalitionsgremien und informellen Zirkeln, die oftmals als »Beweis« für die Entmachtung der MdBs ins Feld geführt werden, sind neben den Regierungsvertretern und Parteispitzen desgleichen die Fraktionsführungen vertreten; diese repräsentieren unmittelbar die Parlamentsabgeordneten der Regierungsfraktionen in den Entscheidungsprozessen (→ Kapitel 12) . Das heißt nicht, dass es keine Fälle gibt, in denen das Parlament machtpolitisch umgangen worden ist. Aber hier muss differenziert werden: Streng genommen müsste für jedes Politikfeld, ja für jeden einzelnen Entscheidungsfall die Macht des Parlaments tariert werden. Ohnehin betrifft die Entparlamentarisierung weniger die Regierungsfraktionen als die Opposition - allemal in Zeiten »Großer Koalitionen«. Hierauf ist das Augenmerk zu lenken. Auf einige entparlamentarisierende Entwicklungen hat der Bundestag erfolgreich reagieren können (mitunter auf Impulse vom Bundesverfassungsgericht hin), z. B. in Form verstärkter Mitspracherechte anlässlich der Verlagerung von Entscheidungen auf die Ebene der Europäischen Union. Europäisierung und Globalisierung als Faktoren der Entparlamentarisierung Parlamentarier steuern mit <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 151 151 Entparlamentarisierung? Hier sind in den vergangenen Jahren verbindliche Vereinbarungen zwischen der Regierung und dem Bundestag getroffen worden: Das Parlament muss nun frühzeitig über Initiativen auf Europaebene in Kenntnis gesetzt werden. Und gemeinsam mit anderen Parlamenten kann es EU-Rechtsetzung verzögern oder gar blockieren (→ Kapitel 11) . Entparlamentarisierung ist jedenfalls kein Schicksal: Die Abgeordneten können durch Parlamentsreformen entsprechende Entwicklungen, wenn nicht verhindern, so zumindest abbremsen. Der Bundestag hat die Mittel zu seiner Stärkung auch in der eigenen Hand. Es bedarf selbstbewusster Abgeordneter und einer kritisch begleitenden Öffentlichkeit (sowie eines aufmerksamen Verfassungsgerichts), damit die bundesdeutsche Demokratie ihre »parlamentarischen« Facetten bewahren und ausbauen kann. Das entsprechende Selbstbewusstsein muss insbesondere bei den MdBs der Regierungsfraktionen verbreitet sein, denn Parlamentsreformen benötigen Mehrheiten. Eine parlamentarische »Emanzipation« ist aufgrund der »Schicksalsgemeinschaft« von Bundesregierung und Parlamentsmehrheit schwierig, aber nicht unmöglich. Mit dem zweiten Partner dieser »Schicksalsgemeinschaft«, der Regierung, wird sich das folgende Kapitel auseinandersetzen. Es bringt neben den zahlreichen Schnittauch die (Soll-)Bruchstellen zwischen parlamentarischer Mehrheit und Regierung zur Sprache. 1 Welche Organisationseigenschaften unterscheiden den Bundestag von anderen politischen und staatlichen Institutionen? 2 Worin liegt der Konflikt zwischen dem »freien Mandat« nach Art. 38 GG und dem Fraktionenparlament? 3 Was spricht dafür, den Bundestag als »Redeparlament«, was dafür, den Bundestag als »Arbeitsparlament« zu bezeichnen? 4 Warum und wie wird die parlamentarische Opposition geschützt? 5 Warum wird ein Untersuchungsausschuss als das »schärfste Schwert« parlamentarischer Kontrolle bezeichnet? 6 Welche Faktoren werden für die Entparlamentarisierung verantwortlich gemacht? Parlamentsreformen als Gegenmittel Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="152"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 152 152 Die parlamentarische Demokratie Literatur Das Standardwerk zum Deutschen Bundestag aus politikwissenschaftlicher Sicht hat Wolfgang Ismayr vorgelegt: Wolfgang Ismayr: Der deutsche Bundestag, 3. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2012 . Aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet ein Sammelband das deutsche Parlament: Uwe Andersen (Hg.): Der Deutsche Bundestag, 2. Aufl., Schwalbach/ Ts., Wochenschau Verlag 2015 . Aus historischer Perspektive wird das deutsche Parlament betrachtet von: Marie-Luise Recker: Parlamentarismus in der Bewährung: Der Deutsche Bundestag 1949-2020, Düsseldorf, Droste 2021 , sowie - weiter in die Geschichte zurückgreifend von: Andreas/ Biefang/ Dominik Geppert/ Marie-Luise Recker (Hg.): Parlamentarismus in Deutschland von 1815 bis zur Gegenwart. Historische Perspektiven auf die repräsentative Demokratie, Düsseldorf, Droste 2022 . Zum Parlamentsrecht liegt ein großes und umfangreiches Werk vor: Martin Morlok/ Utz Schliesky/ Dieter Wiefelspütz (Hg.): Parlamentsrecht. Handbuch, Baden-Baden, Nomos 2015 , sowie mit Lehrbuchcharakter: Philipp Austermann/ Christian Waldhoff: Parlamentsrecht, Heidelberg, C.F. Müller 2020 . Die Geschäftsordnung sowie bundestagsrelevante Gesetze inklusive einem Kommentar zu den parlamentsrechtlichen Regelungen finden sich in der immer wieder aktualisierten Loseblattsammlung Helmut Winkelmann (Hg.): Handbuch für die Parlamentarische Praxis, mit Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Frankfurt a. M., Luchterhand. Eine unverzichtbare Datenquelle über den Deutschen Bundestag für den Zeitraum bis 1999 bietet: Peter Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949-1999, 3 Bände, Baden-Baden, Nomos 1999 ; diese Datensammlung ist erfreulicherweise fortgeschrieben worden: Michael F. Feldkamp: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010. Ergänzungsband, Baden-Baden, Nomos 2011 . Das gesamte Datenhandbuch ist auch online über die Website des Bundestages zugänglich (s. u.). Aus der eigenen Werkstatt stammt ein einführendes Werk in den Parlamentarismus und seine vergleichende Erforschung: Stefan Marschall: Parlamentarismus. Eine Einführung, 3. Aufl., Baden-Baden, Nomos 2018 . Schließlich sei nochmals an die Zeitschrift für Parlamentsfragen erinnert, die sich regelmäßig um rechts- und politikwissenschaftliche Fragen rund um den Bundestag und den Parlamentarismus kümmert (online: www. zparl.de), sowie an die Zeitschrift Das Parlament , die vom Bundestag herausgegeben wird und in der unter anderem Berichte über die parlamentarischen Tätigkeiten im Plenum und in den Ausschüssen zu finden sind (online: www.das-parlament.de). <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 153 153 Links Links www.bundestag.de Auf der sehr gut gepflegten Homepage des Bundestages finden sich umfassende Informationen rund um das Parlament sowie Datenbanken zu den laufenden Gesetzgebungsverfahren. Einige Klicks weiter stößt man auf die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Auch das Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestags (1990-2010) ist auf der Seite abrufbar. Die wichtigsten Datentabellen werden fortlaufend aktualisiert. www.iparl.de Das Berliner Institut für Parlamentarismusforschung präsentiert auf dieser Seite seine Projekte und Publikationen. www.bundesrechnungshof.de Hier informiert die oberste Bundesbehörde über ihre Kontrollarbeit. Auf der Seite finden sich auch die Jahresberichte und sonstige Analysen aus der Prüfungstätigkeit der Institution, die dem Bundestag unterbreitet werden. www.ipu.org Die Seite der Interparlamentarischen Union bietet Daten, Informationen und Links zu Parlamenten weltweit und damit einen guten Ausgangspunkt für vergleichende Parlamentsanalysen. <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 154 154 Die Kanzlerdemokratie - Regierungschef, Minister: innen und-Verwaltung »Auf den Kanzler kommt es an« - mit diesem Slogan warb in einem früheren Bundestagswahlkampf mal eine der großen Parteien. Dieser lapidare Werbespruch hat es in sich: Im Bundestagswahlkampf verwendet, macht er zum einen auf die enge Verkopplung von Bundestag und Bundesregierung aufmerksam. Bundestagswahlen entscheiden über die Zusammensetzung des Parlaments und damit indirekt über die nächste Regierung, deren Kanzler/ in vom neu konstituierten Bundestag gewählt wird. Zum anderen behauptet der Slogan, dass es einen Unterschied macht, wer an der Spitze der Bundesregierung steht. Wenn es also auf den/ die Kanzler/ in ankommt, ist Deutschland dann eine »Kanzlerdemokratie«? Diese Charakterisierung des bundesdeutschen Regierungssystems taucht immer wieder in Wissenschaft und Medien auf. Das Wort von der »Kanzlerdemokratie« legt nahe, dass das deutsche System vielleicht mehr, als es die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten, zu einer Regierungsform geworden ist, in welcher die Kanzler/ in im Mittelpunkt stehen. Unter diesem Schlagwort setzen sich die folgenden Abschnitte mit Kanzlern, Minister: innen und Ministerialbürokratie auseinander. Zunächst geht es um die parlamentarische Qualität der Regierung: Regierungsmehrheit und Regierung befinden sich in einer funktionalen Handlungseinheit. Diese Einheit ist geprägt von Verflechtungen (z. B. Parlamentarische Staatssekretär: innen), aber auch von (Soll-)Bruchstellen (z. B. konstruktives Misstrauensvotum). Der sich anschließende Abschnitt wendet sich der Regierung und ihren Teilen zu: dem/ der Kanzler/ in und den Minister: innen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Beziehungen zwischen dem Chef oder der Chefin und den sonstigen Mitgliedern der Regierung gestaltet sind. Im Anschluss wird die These von der Kanzlerdemokratie wieder aufgegriffen und durchdekliniert. Abschließend werden noch die Ministerialbürokratie, ihre Arbeitsprinzipien und ihr politischer Einfluss angesprochen. 7 Inhalt <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 155 155 Die »parlamentarische Regierung« 7.1 Die »parlamentarische Regierung« 7.2 Kanzler, Minister: innen, Kabinett 7.3 Deutschland - eine Kanzlerdemokratie? 7.4 Die Ministerialbürokratie Die »parlamentarische Regierung« Die »exekutive« und die »legislative« Gewalt - zwei in der klassischen Gewaltenteilungslehre getrennte Bereiche - sind in der deutschen Demokratie miteinander verschränkt (→ Kapitel 6) . Die Regierung - auch als »Exekutive« im engeren Sinne bezeichnet - geht aus dem Bundestag, aus der so genannten Legislative, hervor und bleibt mit dieser im weiteren Verlauf einer Wahlperiode eng verbunden. Personelle Verflechtungen Der/ die Bundeskanzler/ in wird zeitnah nach der Konstituierung des Bundestages von der absoluten Mehrheit der Volksvertretung gewählt (→ Kapitel 6) . Zwar muss der Kanzler oder die Kanzlerin nicht Mitglied des Bundestages sein; dies ist aber bei fast allen bisherigen Regierungschefs der Fall gewesen (Ausnahme: Kurt Georg Kiesinger). Bundeskanzler kommen üblicherweise aus der »Mitte des Hauses«. Bei den Minister: innen gilt dasselbe wie bei dem/ der Kanzler/ in. Sie müssen nicht Mitglieder des Bundestages sein, sie können es aber, und sind es üblicherweise in der Mehrzahl auch. Man spricht in diesem Zusammenhang von der »Kompatibilität«, der Vereinbarkeit von Regierungsamt und Parlamentsmandat. In der Tat: Im Kabinett Olaf Scholz waren bei Regierungsantritt im Dezember 2021 zwölf der insgesamt 16 Minister: innen zugleich Mitglieder des Deutschen Bundestages. Die Bundeskanzler sind rechtlich unabhängig in der Entscheidung, wen sie für ein Ministeramt vorschlagen; der Bundestag hat kein formales Mitspracherecht. Letzten Endes müssen die Kanzler mit ihrem Personaltableau jedoch auch ihre parlamentarische Basis zufriedenstellen und mit Regierungspositionen versorgen. Hierzu stehen den Kanzlern neben den Ministerämtern auch noch die Posten der »Parlamentarischen Staatssekretär: innen « zur personalpolitischen Verfügung. 7.1 7.1.1 Kompatibilität in der parlamentarischen Demokratie <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 156 156 Die Kanzlerdemokratie Bei den Parlamentarischen Staatsekretär: innen handelt es sich um eine besondere Variante der Verflechtung zwischen Regierung und Parlament. Das Amt ist in dieser Form 1974 eingeführt worden und hat die beamteten Staatssekretär: innen ergänzt, die auf der Leitungsebene der Ministerien arbeiten (s. u.). Die Position sollte eine »Schule«, ein Ausbildungsplatz für spätere Minister: innen werden. Die Parlamentarischen Staatssekretär: innen sind zum einen Mitglieder des Bundestages. Zum anderen sind sie Teil der Ministeriumsspitze, somit Angehörige der Regierung. Nur einer der Parlamentarischen Staatssekretärsposten im Kanzleramt kann auch von einem Nicht-MdB besetzt werden. In der Regierung Scholz gab es zu Beginn der 20. Wahlperiode insgesamt 37 Parlamentarische Staatssekretäre, so viele wie nie zuvor. Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre vom 24. Juli 1974, zuletzt geändert am 17. Juli 2015 »§ 1 (1) Mitgliedern der Bundesregierung können Parlamentarische Staatssekretäre beigegeben werden; sie müssen Mitglieder des Deutschen Bundestages sein, bei der Ernennung eines Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundeskanzler kann von diesem Erfordernis abgesehen werden. (2) Die Parlamentarischen Staatssekretäre unterstützen die Mitglieder der Bundesregierung, denen sie beigegeben sind, bei der Erfüllung ihrer Regierungsaufgaben. [...] § 2 Die Parlamentarischen Staatssekretäre werden vom Bundespräsidenten ernannt. Der Bundeskanzler schlägt dem Bundespräsidenten die Ernennung im Einvernehmen mit dem Bundesminister vor, für den der Parlamentarische Staatssekretär tätig werden soll.« Die »Parlamentarischen« - wie sie im Ministeriums-Jargon genannt werden - haben im Gegensatz zu den beamteten Staatssekretär: innen weniger administrative Lenkungsaufgaben zu erfüllen, sondern fungieren als Mittler zwischen Parlament und Ministerien. Zum Beispiel vertreten sie üblicherweise ihre jeweiligen Minister: innen in den Fragestunden des Bundestages. Parlamentarische Staatssekretär: innen-- Ausdruck der Verflechtung zwischen Regierung und Parlament Wortlaut ▼ ▲ <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 157 157 Die »parlamentarische Regierung« Koalitionsregierungen Der/ die Bundeskanzler/ in muss eine Mehrheit im Deutschen Bundestag finden und zwar eine »Kanzlermehrheit«. Dies ist allerdings unter den Bedingungen des bundesdeutschen Verhältniswahlrechts nicht immer leicht. Bislang hat nur einmal eine Fraktion (nicht eine Partei) die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament gehabt: die gemeinsame Fraktion der CDU und CSU zwischen 1957 und 1961. Ansonsten waren die »Kanzlermehrheiten« bislang stets Koalitionsmehrheiten. Der FDP fiel bis in die 1990er Jahre hinein über weite Strecken die Rolle der parlamentarischen »Mehrheitsbeschafferin« exklusiv zu. Die grüne Partei ist mit ihrem Abschied von der Fundamentalopposition zu einem potenziellen Koalitionspartner geworden. In den Wahlperioden von 1966 bis 1969, 2005 bis 2009 sowie 2013 bis 2021 sind Große Koalitionen gebildet worden. 2021 kam es auf Bundesebene erstmals zu einer Ampel-Koalition bestehend aus SPD, Bündnis 90/ Grünen und FDP. Die Regierung Scholz bildete damit das erste Dreierbündnis seit den 1950er Jahren. Damals war die Deutsche Partei gemeinsam mit der Union und der FDP Teil der Regierungsmehrheit gewesen. Die schwindende Stärke der »Volksparteien« macht für die Zukunft Große oder Mehrparteienkoalitionen wahrscheinlicher. Je nach Koalition konnten die Bundeskanzler auf mehr oder weniger komfortable Mehrheiten im Parlament bauen. Die Spanne reicht von über 90 Prozent bei der ersten Großen Koalition bis zu äußerst knappen Mehrheiten, beispielsweise in der ersten Amtsperiode Adenauers oder in der zweiten von Gerhard Schröder. Gleichwohl ist bei Großen Koalitionen die Gruppe der Abweichler in der Regel umfangreicher, sodass die entsprechenden Regierungschefs (Kiesinger, Merkel) bei ihren Wahlen weit weniger Stimmen erhielten, als die Koalitionspartner an Mandaten aufbrachten. Was bedeutet das Regieren in Koalitionen für die Kanzler? Die parlamentarische Basis, auf die sich die Regierungschefs stützen können, ist zwar breit, aber auch unsicher. Die einzelnen Parteien ziehen nicht mit Koalitionswahlprogrammen in den Bundestag ein, sondern versuchen sich im Wahlkampf auch gegenüber potenziellen Bündnispartnern zu profilieren. Entsprechend schwierig kann es sein, eine gemeinsame Regierungsplattform zu entwickeln. Diese Probleme können sich bei einer »Großen Koalition« und bei einer »lagerübergreifenden« Koalition nochmals verschärfen, wenn zuvor stark miteinander konkurrierende Parteien eine geteilte Arbeitsbasis finden müssen. Für die Bundeskanzler wird folglich auch die Zusammenstellung des Kabinetts komplizierter. Neben den Ansprüchen der verschiedenen Teilgruppen der eigenen Partei müssen ebenso die Personalvorstellungen der Koalitionspartner umgesetzt werden. 7.1.2 Kanzlermehrheiten sind Koalitionsmehrheiten Suche nach gemeinsamer Regierungsplattform <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 158 158 Die Kanzlerdemokratie Kanzler/ in Koalition Mehrheit im Bundestag (zu Beginn der Legislaturperiode) Konrad Adenauer I. Kabinett (1949-1953) CDU/ CSU + FDP + DP 208 von 402 Mandaten II. Kabinett (1953-1957) CDU/ CSU + FDP + DP + GB/ BHE 333 von 487 Mandaten III. Kabinett (1957-1960) CDU/ CSU + DP 287 von 497 Mandaten IV. Kabinett (1960-1961) CDU/ CSU ohne Koalition 279 von 497 Mandaten V. Kabinett (1961-1963) CDU/ CSU + FDP 309 von 499 Mandaten Ludwig Erhard I. Kabinett (1963-1965) CDU/ CSU + FDP 309 von 499 Mandaten II. Kabinett (1965-1966) CDU/ CSU + FDP 294 von 496 Mandaten Kurt Georg Kiesinger I. Kabinett (1966-1969) CDU/ CSU + SPD 447 von 496 Mandaten Willy Brandt I. Kabinett (1969-1972) SPD + FDP 254 von 496 Mandaten II. Kabinett (1972-1974) SPD + FDP 271 von 496 Mandaten Helmut Schmidt I. Kabinett (1974-1976) SPD + FDP 271 von 496 Mandaten II. Kabinett (1976-1980) SPD + FDP 253 von 496 Mandaten III. Kabinett (1980-1982) SPD + FDP 271 von 497 Mandaten Helmut Kohl I. Kabinett (1982-1983) CDU/ CSU + FDP 279 von 497 Mandaten II. Kabinett (1983-1987) CDU/ CSU + FDP 278 von 498 Mandaten III. Kabinett (1987-1991) CDU/ CSU + FDP 269 von 497 Mandaten IV. Kabinett (1991-1994) CDU/ CSU + FDP 398 von 662 Mandaten V. Kabinett (1994-1998) CDU/ CSU + FDP 341 von 672 Mandaten Gerhard Schröder I. Kabinett (1998-2002) SPD + Bündnis 90/ Grüne 345 von 669 Mandaten II. Kabinett (2002-2005) SPD + Bündnis 90/ Grüne 306 von 603 Mandaten Angela Merkel I. Kabinett (2005-2009) CDU/ CSU + SDP 448 von 614 Mandaten II. Kabinett (2009-2013) CDU/ CSU + FDP 332 von 622 Mandaten III. Kabinett (2013-2017/ 18) CDU/ CSU + SPD 504 von 631 Mandaten IV. Kabinett (2018-2021) CDU/ CSU + SPD 399 von 709 Mandaten Olaf Scholz I. Kabinett (seit 2021) SPD + Bündnis 90/ Grüne + FDP 416 von 736 Mandaten Tab. 12 Kanzler/ in, Koalitionen und Bundestagsmehrheiten seit 1949 <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 159 159 Die »parlamentarische Regierung« Die Koalitionsfraktionen schließen üblicherweise zu Beginn der Legislaturperiode eine Vereinbarung ab, einen so genannten »Koalitionsvertrag«. Um einen Vertrag im zivilrechtlichen Sinne handelt es sich dabei allerdings nicht, sondern um juristisch unverbindliche, politisch aber relevante Zielvereinbarungen. Die Abgeordneten sind an die Vorgaben des Koalitionsvertrags formal nicht gebunden. Dennoch sind die mittlerweile sehr umfangreichen und detaillierten Vereinbarungen eine Art Fahrplan für die Regierungen geworden. Das Koalitionsmanagement läuft üblicherweise in offiziell eingesetzten »Koalitionsausschüssen« oder »Koalitionsrunden« ab, in denen die Regierungs-, Fraktions- und Parteispitzen vertreten sind (→ Kapitel 12) . Oft spielen noch kleinere Zirkel (z. B. der Kreis der Parteivorsitzenden oder Fraktionsvorsitzenden) eine entscheidende Rolle bei einer etwaig notwendigen Konfliktbewältigung. Dem Kanzler oder der Kanzlerin kommt dabei in erster Linie die Aufgabe zu, eventuelle Kontroversen zu moderieren und die Perspektive der Regierung einzubringen. Die Koalitionsforen sind letzten Endes auf Konsensfindung und Konfliktbeilegung angelegt. Die »Handlungseinheit« und ihre Sollbruchstellen Nicht nur bei der Wahl zu Beginn der Legislaturperiode, auch im weiteren Verlauf sind die Kanzler auf die zuverlässige Unterstützung durch das Parlament angewiesen. Gemäß der Logik der deutschen parlamentarischen Demokratie benötigt die Regierung eine stabile Mehrheit im Bundestag. Müsste ein/ e Kanzler/ in für jede Initiative eine neue Mehrheit organisieren, könnte dies eine Lähmung der parlamentarischen Regierung zur Folge haben. Eine gewählte Minderheitsregierung auf Bundesebene hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bislang nicht gegeben. Das Grundgesetz lässt jedoch eine solche Konstellation als Ausnahmefall zu. So besteht für die Bundespräsidenten die Möglichkeit, jemanden nach dem dritten Wahlgang zum Kanzler zu ernennen, auch wenn dieser nur die relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte (→ Kapitel 6) . Desgleichen führt eine gescheiterte Vertrauensfrage nicht zwangsläufig zur Entlassung des Regierungschefs. Ein/ e Minderheitskanzler/ in kann sogar mithilfe des Staatsoberhaupts unter Umgehung des Bundestages Gesetze vom Bundesrat verabschieden lassen. Allerdings sind solche »Notstands«-Regelungen in der Tat nur für den äußersten Fall gedacht und zeitlich befristet (→ Kapitel 8) . Nun ist es aber durchaus denkbar, dass die parlamentarische Mehrheit für den/ die Bundeskanzler/ in im Laufe der Legislaturperiode bröckelt oder sich völlig auflöst, beispielsweise weil der Koalitionspartner abspringt. Das Par- Krisenbewältigung in-Koalitionsgremien 7.1.3 Minderheitsregierung möglich <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 160 160 Die Kanzlerdemokratie lament hat in diesem Fall die Möglichkeit, den Regierungschef mitten in der Wahlperiode des Amtes zu entheben. Dazu bietet das Grundgesetz das »konstruktive Misstrauensvotum« an. Bei einem Misstrauensvotum entzieht die Mehrheit der Parlamentarier im Rahmen einer Abstimmung dem Regierungschef das Vertrauen und enthebt ihn damit des Amtes. Über eine solche Abwahlmöglichkeit verfügen Abgeordnete in allen parlamentarischen Regierungssystemen. Die im Grundgesetz verankerte Variante ist aber eine besondere, weil sie »konstruktiv« ist: Der Bundestag kann den/ die amtierende/ n Kanzler/ in nur dann des Amtes entheben, wenn zugleich ein neuer Regierungschef gewählt wird - und zwar mit der Mehrheit der Mitglieder des Hauses. Konstruktives Misstrauensvotum Rechtliche Grundlage: Art. 67 GG »(1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muss dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen.« Anwendungsfälle 25. April 1972: Antrag der Fraktion CDU/ CSU, dem Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) das Misstrauen auszusprechen und den Bundestagsabgeordneten Rainer Barzel als dessen Nachfolger zu wählen; Abstimmung am 27. April, der Antrag verfehlt knapp die notwendige Mehrheit. 28. September 1982: Antrag der Bundestagsfraktionen von CDU/ CSU und FDP, dem Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) das Misstrauen auszusprechen und den Abgeordneten Helmut Kohl zum neuen Bundeskanzler zu wählen; Abstimmung am 1. Oktober, der Antrag erhält die erforderliche Mehrheit. Die Misstrauensvoten von 1972 (gescheitert) und 1982 (geglückt) zeigen die Grenzen und Möglichkeiten des Instruments auf. Genau wie die Kanzlerwahl findet das Misstrauensvotum mit verdeckten Stimmzetteln statt. Somit ist das Ergebnis schwer vorhersehbar und im Nachhinein nicht im Detail nachvollziehbar. Beim 1972er Misstrauensvotum wurden - wie später bekannt geworden ist - Parlamentarierstimmen vom DDR-Geheimdienst »gekauft«. Das Misstrauensvotum verhindert jedenfalls gemäß der Idee der parlamentarischen Regierung, dass der Bundestag eine Minderheitsregierung Konstruktives Misstrauensvotum als-Möglichkeit der Amtsenthebung Hintergrund Misstrauensvotum mit verdeckten Stimmzetteln <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 161 161 Die »parlamentarische Regierung« (er-)tragen muss. »Befreien« davon können sich die Abgeordneten allerdings nur, wenn sie in der Lage sind, eine neue Mehrheit zu organisieren. Eine Frage des Vertrauens Die Kanzler verfügen ebenso über eine »Reißleine«, die gezogen werden kann, wenn die Beziehung zwischen ihnen und der parlamentarischen Mehrheit löchrig wird: die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes. Spricht die Mehrheit des Hauses dem Regierungschef auf dessen Antrag hin nicht das Vertrauen aus, dann kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen - muss es aber nicht. Zwei Formen der Vertrauensfrage lassen sich unterscheiden: Eine Vertrauensfrage in Verbindung mit einer Gesetzesinitiative und eine abstrakte Vertrauensfrage. Die sachbezogene Vertrauensfrage ist bislang nur einmal gestellt worden: 2001. Abstrakte Vertrauensfragen hat es bislang viermal gegeben: 1972, 1982 zweimal und 2005. In drei Fällen kam es dabei zur Auflösung des Bundestages. Vertrauensfrage Rechtliche Grundlage: Art. 68 Abs. 1 GG »Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.« Anwendungsfälle 22. September 1972: Bundeskanzler Willy Brandt stellt die Vertrauensfrage nach den Unsicherheiten infolge des konstruktiven Misstrauensvotums und der drohenden Erosion des Regierungslagers; der Bundestag entzieht dem Kanzler das Vertrauen und wird aufgelöst. 5. Februar 1982: Bundeskanzler Helmut Schmidt stellt die Vertrauensfrage, um sich der Koalitionstreue der FDP zu versichern; die Mehrheit des 9. Deutschen Bundestages spricht ihm das Vertrauen aus. 17. Dezember 1982: Bundeskanzler Helmut Kohl stellt die Vertrauensfrage, um nach der Übernahme des Amtes durch das konstruktive Misstrauensvotum Neuwahlen des Bundestages herbeizuführen; die Vertrauensfrage wird negativ beschieden und der Bundestag infolge aufgelöst. 16. November 2001: Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt die Vertrauensfrage in Verbindung mit einer Gesetzesvorlage zur Entsendung von Bun- 7.1.4 Vertrauensfrage kann Bundestagsauflösung nach sich ziehen Hintergrund <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 162 162 Die Kanzlerdemokratie deswehreinheiten nach Afghanistan; Vorlage und Vertrauensfrage finden eine Mehrheit des Bundestages. 1. Juli 2005: Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt die Vertrauensfrage, um nach der Niederlage bei einer Landtagswahl Neuwahlen herbeizuführen; die Mehrheit des Bundestages versagt ihm das Vertrauen und es kommt zu einer Auflösung des Parlaments. Bislang ist die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG in unterschiedlichen Situationen aus unterschiedlichen Gründen zum Einsatz gekommen. Ihrer ursprünglichen Idee nach am nächsten waren womöglich die Fälle 1982 (Helmut Schmidt) und 2001 (Gerhard Schröder). Hier kann von »echten« Vertrauensfragen gesprochen werden. ⚫ 1982 sah sich der damalige Bundeskanzler Schmidt mit Absetzbewegungen des kleinen Koalitionspartners FDP konfrontiert. Er nutzte die Vertrauensfrage, um die FDP zum Schwur zu nötigen. Die Abgeordneten - auch die der FDP - sprachen dem Bundeskanzler das Vertrauen aus. Der endgültige Bruch der Koalition erfolgte dann einige Monate später. ⚫ 2001 stand Gerhard Schröder vor der Situation, dass eine wichtige Regierungsentscheidung, die Entsendung von Bundeswehreinheiten nach Afghanistan, in seiner eigenen Koalition keine hinreichende Zustimmung zu finden drohte. Die Verbindung mit der Vertrauensfrage zwang eine Gruppe von »Abweichlern« in der Regierungskoalition, den Antrag passieren zu lassen und die Entsendung zu billigen. Die drei übrigen Vertrauensfragen, 1972 (Willy Brandt), 1982 (Helmut Kohl) und 2005 (Gerhard Schröder) dienten in erster Linie dazu, den Bundestag aufzulösen - aus unterschiedlichen Gründen. ⚫ 1972 waren die Mehrheitsverhältnisse im Parlament unklar geworden. Es gab eine Reihe von Fraktionsübertritten zur Opposition und somit keine stabile parlamentarische Basis für den Bundeskanzler mehr. ⚫ 1982 wollte die durch das Misstrauensvotum an die Macht gekommene Regierung Kohl die geplante »geistig-moralische Wende« durch ein Wählervotum legitimieren lassen. ⚫ 2005 wollte Gerhard Schröder nach der für die SPD verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen in einer Bundestagswahl über seine Reformpolitik abstimmen lassen - und wohl zugleich potenzielle innerparteiliche Kritik abwenden. Es handelte sich somit bei diesen, insbesondere bei den letzten beiden Fällen, um »unechte« Vertrauensfragen. Denn es ging den Kanzlern nicht um die Absicherung ihrer parlamentarischen Basis, sondern um die Auflösung Echte Vertrauensfragen Unechte Vertrauensfragen als Machtmittel der Kanzler <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 163 163 Kanzler, Minister: innen, Kabinett des Bundestages. Die Vertrauensfragen von Herbst 1982 und 2005 waren deswegen verfassungsrechtlich höchst umstritten. Der berechtigte Vorwurf wurde geäußert, die Bundeskanzler hätten in diesen beiden Fällen trotz stabiler eigener Mehrheit den Art. 68 GG instrumentalisiert, um Neuwahlen herbeizuführen. In der Tat waren die Abstimmungen im Bundestag »manipuliert«. Regierungsparlamentarier: innen sprachen dem Bundeskanzler - auf dessen Wunsch hin! - nicht das Vertrauen aus, sondern enthielten sich absprachegemäß. Sowohl 1982/ 83 als auch 2005 hat sich das Bundesverfassungsgericht mit diesem Vorgang befassen müssen. In beiden Fällen haben die Richter: innen mehrheitlich das Vorgehen und die Entscheidung des jeweiligen Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, als verfassungsgemäß eingestuft - allerdings mit einigen Ermahnungen, was die zukünftige Verwendung von Art. 68 GG betrifft. Dennoch hat letzten Endes das Bundesverfassungsgericht den Weg der Auflösung des Parlaments durch eine Vertrauensfrage als legal und legitim eingestuft. Damit ist die »unechte« Vertrauensfrage zu einem regulären Machtmittel der Kanzler gegenüber dem Bundestag geworden. Die Instrumentalisierung der Vertrauensfrage hat kurzzeitig Forderungen laut werden lassen, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages in die Verfassung einzubauen. Eine Ergänzung des Grundgesetzes um dieses Recht ist bereits zuvor in den Verfassungsreformdiskussionen angesprochen worden, ohne dass es zu einer entsprechenden Verfassungsänderung gekommen wäre. Auch dieses Mal sind die Forderungen ohne Konsequenz verhallt. Kanzler, Minister: innen, Kabinett »Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern« - so lässt es uns der Artikel 62 des Grundgesetzes wissen. Kanzler/ in und Ressortchefs begegnen sich im »Kabinett«. Eine Analyse der Beziehung zwischen diesen drei Regierungsbausteinen (Kanzler, Minister: innen, Kabinett) hilft bei der Frage weiter, inwiefern Deutschland eine Kanzlerdemokratie ist. Organisationsgewalt des Kanzlers-- Theorie und Praxis Nachdem er oder sie zum/ zur Bundeskanzler/ in gewählt worden ist, schlägt der frisch gewählte Regierungschef dem Bundespräsidenten seine Minister: innen zur Ernennung vor und weist ihnen ihre Zuständigkeitsbereiche zu. Das Grundgesetz lässt ihm oder ihr beim Zuschnitt der Ressorts und, was die Anzahl der Ministerien angeht, weitestgehend freie Hand. In diesem Instrumentalisierung der Vertrauensfrage verfassungsgemäß 7.2 7.2.1 <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 164 164 Die Kanzlerdemokratie Zusammenhang spricht man von der »Organisationsgewalt« des/ der Kanzlers/ in. Das Grundgesetz erwähnt nur noch drei weitere Regierungsmitglieder ausdrücklich: den »Bundesminister für Verteidigung« (Art. 65a), den »Bundesjustizminister« (Art. 96) und den »Bundesminister der Finanzen« (Art. 108, 112, 114). Nur diese Ministerposten sind somit gesetzt. In der Realität sind den Bundeskanzlern bei der Organisation ihrer Regierung die Hände weitgehend gebunden. Natürlich muss ein neuer Regierungschef die bereits vorhandenen Ministeriumsstrukturen zur Kenntnis nehmen und sich fragen, welche Veränderungen (die zeitliche wie finanzielle Ressourcen kosten) durchgesetzt werden können und müssen. Es gibt auch ein Repertoire an Regierungsaufgaben, das sich in der Struktur der Ministerien immer wieder finden muss. Zudem wird der konkrete Zuschnitt der Ressorts üblicherweise in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt. Welche Ministerien es gibt, sagt etwas über die Schwerpunkte der Regierung aus, aber auch über den Wandel gesellschaftlicher Problemlagen. So sind das Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte und das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (vormals für »Gesamtdeutsche Fragen«) als eigenständige Einheiten historisch erledigt worden. Das Postministerium hat sich durch die Privatisierung von Postwesen und Telekommunikation erübrigt. In den 1980er Jahren wiederum wurde mit dem Umweltministerium ein neues Ressort geschaffen. Das Ressort »Digitales« tauchte erstmalig in den 2010ern als eigener Bereich auf. Ressorts im Kabinett Scholz ⚫ Arbeit und Soziales ⚫ Auswärtiges ⚫ Bildung und Forschung ⚫ Ernährung und Landwirtschaft ⚫ Familie, Senioren, Frauen und Jugend ⚫ Finanzen ⚫ Gesundheit ⚫ Inneres und Heimat ⚫ Justiz ⚫ Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz ⚫ Digitales und Verkehr ⚫ Verteidigung ⚫ Wirtschaft und Klimaschutz ⚫ Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ⚫ Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen ⚫ Besondere Aufgaben (Kanzleramtschef) Enge Spielräume in der Organisationsgewalt Hintergrund <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 165 165 Kanzler, Minister: innen, Kabinett Als Schlüsselministerien werden die Ressorts Auswärtiges, Finanzen, Inneres und Wirtschaft, wegen seines hohen Budgetanteils mitunter auch das Ressort Arbeit und Soziales, eingestuft. Diese Ministerien haben sich über die Jahre als Grundstruktur etabliert, wobei es auch hier immer wieder Modifikationen gegeben hat. So wurde in der zweiten Regierung Schröder das Wirtschafts- und Arbeitsministerium miteinander verschmolzen. Seit 2013 hat das Wirtschaftsressort auch die Zuständigkeit für Energiefragen. Nach der Bundestagswahl 2017 wurde dem Innenministerium noch der Bereich Bau und als neues Ressort »Heimat« zugewiesen - um nur einige Beispiele zu nennen. In der Gesamtschau schwankten bislang Umfang und Zuschnitt der Ministerien stark. Die geringste Anzahl an Minister: innen hatte das Kabinett Schröder 2002-2005 mit 13 Ressortchefs. In den 1950er und 1960er Jahren umfasste die Ministerriege oftmals mehr als zwanzig Personen. Kanzler-, Ressort- und Kabinettsprinzip Welche Rolle spielen die Minister: innen? Wie selbstständig sind sie? Auf den ersten Blick scheint es, als ob der Regierungschef seine Minister: innen dominieren müsste. Die Bundeskanzler können als einziges Element der Regierung auf eine Legitimation durch den demokratisch gewählten Bundestag bauen. »Ihre« Minister: innen werden von ihnen zur Ernennung oder Entlassung vorgeschlagen. Sie haben somit rein rechtlich betrachtet die uneingeschränkte Personalhoheit über das Kabinett. Dass die Minister: innen an den jeweiligen Kanzlern »hängen«, zeigt sich auch an folgender Bestimmung: Ihr Amt endet, sobald die Kanzler, auf deren Vorschlag sie ernannt worden sind, ihr Amt verlieren oder aufgeben - unbeschadet davon, ob mit dem Ende der Kanzlerschaft eine Beendigung der Wahlperiode des Bundestages verknüpft ist. Wie bereits erwähnt, werden diese formale Abhängigkeit der Minister: innen und die Personalhoheit der Bundeskanzler durch realpolitische Notwendigkeiten relativiert. Aber auch das Grundgesetz macht klar, dass die Minister: innen im Kabinett durchaus eine »Rolle« spielen. Diese Rolle reicht über die eines »Sekretärs« des Kanzlers oder der Kanzlerin hinaus (als »Secretaries« werden die Ressortchefs in präsidentiellen Regierungssystemen wie den USA betitelt). Schlüsselministerien 7.2.2 Formale Abhängigkeit der Minister: innen <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 166 166 Die Kanzlerdemokratie Art. 65 GG Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung. Der Artikel 65 des Grundgesetzes beschreibt die Aufgaben- und Machtverteilung innerhalb der Bundesregierung. Dort wird mit dem ersten Satz das »Kanzlerprinzip« bekräftigt, wonach die Bundeskanzler »die Richtlinien« der Politik bestimmen und für die Arbeit der Regierung Verantwortung tragen. Das vom Grundgesetz geforderte »Tragen von Verantwortung« drückt sich in der geschilderten unmittelbaren parlamentarischen Abhängigkeit der Kanzler aus. Die ausdrückliche Erwähnung einer »Richtlinienkompetenz« unterstreicht: Die Bundeskanzler sind es, die über die politischen Zielsetzungen der Regierung entscheiden. Die Geschäftsordnung der Bundesregierung ergänzt die Richtlinienkompetenz noch um einen weiteren Punkt, der die Kanzler gegenüber den Minister: innen stärkt: »Neben der Bestimmung der Richtlinien der Politik hat der Bundeskanzler auch auf die Einheitlichkeit der Geschäftsführung in der Bundesregierung hinzuwirken« (§ 2). Der zweite Satz des Art. 65 GG markiert die Spielräume der Minister : innen. Diese führen nämlich ihre Ressorts selbstständig und eigenverantwortlich - allerdings entlang der grundlegenden Vorgaben des/ der Bundeskanzlers/ in. Dieses »Ressortprinzip« besagt, dass ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin nicht ohne Weiteres in die internen Entscheidungsprozesse eines Ministeriums »hineinregieren« kann, z. B. in den Bereich der Personalentwicklung. Für Missstände innerhalb eines Ministeriums zeichnen in erster Linie die jeweiligen Ressortchefs verantwortlich. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es zahlreiche Ministerrücktritte infolge von Skandalen in einzelnen Ressorts gegeben. Drittens spielt aber auch die Regierung als Kollektivorgan eine mitentscheidende Rolle (»Kabinettsprinzip«). Konflikte zwischen Kanzler/ in und Minister: innen werden von der »Bundesregierung« beigelegt, d. h. von der Gesamtheit der Mitglieder des Kabinetts. Das Kabinett als Ganzes beschließt über die Initiativen, die als Regierungsvorlagen in die Gesetzgebung eingebracht werden. In den Willensbildungsprozessen des Kabinetts kommt dem Wortlaut ▼ ▲ Richtlinienkompetenz des Kanzlers Ressortprinzip markiert Spielräume der-Ministerien Kabinettsprinzip: Regierung als Kollektiv <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 167 167 Deutschland-- eine Kanzlerdemokratie? Bundesfinanzministerium (zur Prüfung von Vorlagen auf ihre Auswirkungen auf den Haushalt hin) sowie dem Bundesinnenministerium und dem Bundesjustizministerium (zur Prüfung von Vorlagen auf ihre Rechtsförmigkeit hin) eine privilegierte Stellung zu. Kabinettssitzungen An den in der Regel am Mittwochvormittag stattfindenden Kabinettssitzungen nehmen neben dem Kanzler und den Minister: innen noch die Chefin des Bundespräsidialamtes und der Chef des Bundespresseamtes teil sowie der Persönliche Referent des Bundeskanzlers und Schriftführer. Den Vorsitz hat der Bundeskanzler und im Falle seiner Abwesenheit der Stellvertreter des Bundeskanzlers inne. Das Beschlussverfahren erfolgt in der Regel konsensual, auch wenn Mehrheitsabstimmungen möglich sind. Zur effizienteren Abarbeitung der Tagesordnungspunkte werden diese in interministeriellen Gremien und Kabinettsausschüssen weitreichend vorbereitet. Die Kabinettssitzungen sind vertraulich. All das, was für die Arbeit der Regierung im Detail geklärt werden muss, ist in zwei Geschäftsordnungen niedergeschrieben: in der bereits erwähnten Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) und der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO). Die GOBReg regelt die Zusammenarbeit zwischen Ministerien und Kanzler/ Kanzleramt, den Ablauf von Kabinettssitzungen sowie die Stellvertretung des Regierungschefs. Die GGO klärt die Organisation innerhalb der Ministerien sowie das Vorgehen bei der Kommunikation zwischen den Ministerialverwaltungen. Auch legt die GGO das Verfahren bei der Erarbeitung von Regierungsentwürfen für den Gesetzgebungsprozess fest. Deutschland-- eine Kanzlerdemokratie? Der Verfassungstext stellt den Bundestag in das Zentrum der staatlichen Willensbildung und Entscheidung. In der Verfassungswirklichkeit hingegen - so wird es immer wieder analysiert - ist die ohnehin starke Position des Regierungschefs immer weiter ausgebaut worden. Aus der bundesdeutschen Demokratie sei eine »Kanzlerdemokratie« geworden. Der Politikwissenschaftler Karlheinz Niclauß hat sich eingehend mit diesem Konzept beschäftigt. Er geht davon aus, dass sich bereits in der Regierungspraxis der Kanzlerschaft Konrad Adenauers das Profil einer Kanzlerdemokratie herausgeschält hat. Diese habe folgende fünf Merkmale: Hintergrund 7.3 Verfassungswirklichkeit bestätigt starke Position des Kanzlers <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 168 168 Die Kanzlerdemokratie (1) Das Kanzlerprinzip wird verwirklicht, d. h. die Machtchancen, die in der Verfassung angelegt sind, werden vom Amtsinhaber genutzt. (2) Die Kanzler nehmen in der größten Regierungspartei eine Spitzenposition ein. (3) Zwischen dem parlamentarischen Regierungs- und dem Oppositionslager besteht ein deutlicher Gegensatz (Polarität). (4) Die Kanzler engagieren sich erheblich in der Außenpolitik. (5) Die Rolle der Kanzler wird durch die Tendenz zur Personalisierung von und in den Medien hervorgehoben. Die so umrissene »Kanzlerdemokratie« ist von Kanzler zu Kanzlerin unterschiedlich stark ausgeprägt. Nicht jeder Regierungschef ist gleichermaßen in der Partei verankert und nicht jeder gleichermaßen außenpolitisch aktiv gewesen. Auch haben sich die Machtressourcen im Laufe der Zeit verändert. So wandelten sich beispielsweise die gesellschaftliche Rolle der Medien und die damit zusammenhängenden Personalisierungsmechanismen. Die Merkmalliste einer Kanzlerdemokratie geht jedenfalls davon aus, dass sich die Kanzler in verschiedenen Handlungsräumen bewegen und dort Macht gewinnen können. Karl-Rudolf Korte und Manuel Fröhlich haben drei solcher Arenen ausgemacht; mit den dort gewonnenen Machtressourcen sind zugleich potenzielle Führungsherausforderungen oder gar -probleme markiert, die eine Kanzlerschaft prägen können: (1) die parlamentarische Arena: Die Kanzler können in ihrer parlamentarischen (Koalitions-)Mehrheit eine starke Machtbasis finden - oder einen schwierigen Partner. (2) die parteipolitische Arena: Eine gute Aufstellung innerhalb der eigenen Partei kann den Kanzlern Spielräume eröffnen - oder, wenn die parteipolitische Verankerung fehlt, Gestaltungsräume einengen. (3) die Medienarena: Mit ihren Anliegen an die (Medien-)Öffentlichkeit zu treten, kann den Kanzlern nützen - aber die Regierungschefs könnten auch in eine problematische Abhängigkeit von den Medien geraten. Beim Blick auf die einzelnen Amtsinhaber wird erkennbar, dass sie unterschiedlich erfolgreich aus der einen oder anderen Ressource geschöpft haben. Defizite in dem einen Bereich sind durch die Mobilisierung von Reserven in einem anderen Bereich kompensiert worden. So hat man beispielsweise Bundeskanzler Schröder immer wieder attestiert, er habe seine vergleichsweise schwache Parteiverankerung mit einer starken Medienpräsenz kompensieren müssen und bis zu einem bestimmten Punkt auch können (Stichwort: »Medienkanzler«). Einig sind sich alle »Kanzler-Forschenden« darin, dass es eine wichtige organisatorische Machtquelle der Regierungschefs gibt, nämlich das Bundeskanzleramt. Diese oberste Bundesbehörde findet im Grundgesetz zwar keine ausdrückliche Erwähnung, ist aber unmittelbar mit der ersten Kanz- Unterschiede zwischen-den »Kanzlerdemokratien« Bundeskanzleramt-- wichtige organisatorische Machtquelle der Kanzler <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 169 169 Deutschland-- eine Kanzlerdemokratie? lerschaft Adenauers 1949 eingerichtet und im Laufe der Jahrzehnte ausgebaut worden. Die Einrichtung einer solchen Stabsstelle ist Ausdruck der Organisationsgewalt der Kanzler. Das Kanzleramt hat die Aufgabe, die Regierungspolitik zu koordinieren, und dient als »Sekretariat« der Exekutive. Das Amt verleiht dabei den Regierungschefs Möglichkeiten, ihre Führungsrolle zur Entfaltung zu bringen. Insofern ist es von Belang, wer an der Spitze des Kanzleramtes steht und wie dessen Beziehung zum Regierungschef oder zur Regierungschefin ausgestaltet ist. Von Fall zu Fall unterschiedlich ist die personalrechtliche Stellung des Kanzleramtschefs gehandhabt worden, also ob diese Person einen Ministerrang (mit den entsprechenden Vorrechten, s. o.) oder »nur« den Rang eines Staatssekretärs bekleidet. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren das Ministermodell durchgesetzt. Gelegentlich ist vom Chef des Kanzleramtes als der »grauen Eminenz« der Regierung die Rede. An dieser Bezeichnung wird deutlich, dass dessen Bedeutung nicht von seiner Präsenz in den Medien abhängt, sondern vielmehr von einer stillen und effektiven Arbeit im Hintergrund. Zeitraum Kanzler Kanzleramtschef Rang 1949-1950 Adenauer Franz-Josef Wuermeling (CDU) Staatssekretär 1951-1953 Adenauer Otto Lenz (CDU) Staatssekretär 1953-1963 Adenauer Hans Globke (CDU) Staatssekretär 1963-1966 Erhard Ludger Westrick (CDU) Staatssekretär, ab 1964 Bundesminister 1966-1967 Kiesinger Werner Knieper Staatssekretär 1968-1969 Kiesinger Karl Carstens (CDU) Staatssekretär 1969-1972 Brandt Horst Ehmke (SPD) Bundesminister 1972-1974 Brandt Horst Grabert (SPD) Staatssekretär 1974-1980 Schmidt Manfred Schüler (SPD) Staatssekretär 1980-1982 Schmidt Manfred Lahnstein (SPD) Staatssekretär 1982 Schmidt Gerhard Konow Staatssekretär 1982-1984 Kohl Waldemar Schreckenberger Staatssekretär 1984-1989 Kohl Wolfgang Schäuble (CDU) Bundesminister 1989-1991 Kohl Rudolf Seiters (CDU) Bundesminister 1991-1998 Kohl Friedrich Bohl (CDU) Bundesminister 1998-1999 Schröder Bodo Hombach (SPD) Bundesminister 1999-2005 Schröder Frank-Walter Steinmeier (SPD) Staatssekretär 2005-2009 Merkel Thomas de Maiziére (CDU) Bundesminister 2009-2013 Merkel Ronald Pofalla (CDU) Bundesminister 2013-2018 Merkel Peter Altmaier (CDU) Bundesminister 2018-2021 Merkel Helge Braun (CDU) Bundesminister seit 2021 Scholz Wolfgang Schmidt (SPD) Bundesminister Tab. 13 Kanzleramtschefs seit 1949 <?page no="170"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 170 170 Die Kanzlerdemokratie Kurzum: Die Kanzler verfügen durchaus über beachtliche Ressourcen, die sie zu zentralen Spielern im politischen System werden lassen können. Ob die Amtsinhaber in der Lage sind, überhaupt und tief aus den Machtquellen zu schöpfen, hängt von mitunter nicht-beeinflussbaren äußeren Umständen ab - etwa ob historische Schlüsselereignisse in den Zeitraum der Kanzlerschaft fallen oder welcher Regierungskoalition die Kanzler vorstehen. Nicht unerheblich für die konkrete Amtsausübung sind zudem das persönliche Führungsverhalten und die jeweilige Führungsphilosophie des Regierungschefs. Die bisherigen Kanzler haben unterschiedliche politische Erfahrungen und Persönlichkeiten mit ins Amt gebracht und verschiedene »Stile« entwickelt. Die Frage nach der deutschen »Kanzlerdemokratie« muss also für jeden Amtsinhaber und jede Amtsinhaberin immer wieder aufs Neue beantwortet werden. Aber auch innerhalb der Kanzlerschaft ein und derselben Person kann es unterschiedliche Phasen geben. Insofern ist ein genauer Blick erforderlich. Die Ministerialbürokratie Die Bundesregierung besteht aus Kanzler und Minister: innen. Aber die »Exekutive«, also der Teil staatlicher Gewalt, der die Gesetze ausführt, umfasst einen erheblich größeren Apparat. Auf der Bundesebene ist das die so genannte »Bundesverwaltung«. Diese Verwaltung stellt sich als eine vielschichtige Struktur mit obersten und oberen Bundesbehörden sowie Mittel- und Unterbehörden dar. Unmittelbar an die Mitglieder des Kabinetts angedockt sind als oberste Bundesbehörden die Ministerien. Jede/ r Minister/ in steht einer Verwaltungseinheit von unterschiedlicher Personalstärke vor. Die Spanne reicht laut Bundeshaushalt von mehreren tausend Beschäftigten in den großen Ministerialbürokratien (Auswärtiges Amt oder Inneres & Heimat) bis zu wenigen hunderten Planstellen in den kleinen Ministerien (Familie, Senioren, Frauen & Jugend oder Wohnen, Stadtentwicklung & Bauwesen). Insgesamt arbeiten über 25.000 Beschäftigte in der Ministerialverwaltung des Bundes, davon drei Viertel als verbeamtete Personen. Nimmt man die nachgeordneten Bereiche (Bundesämter, Bundespolizei etc.) hinzu, fällt die Gesamtzahl deutlich höher aus. Der Aufbau der Ministerien ist in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (s. o.) geregelt und folgt somit einer einheitlichen Grundstruktur. An der Spitze stehen der Minister oder die Ministerin sowie die Staatssekretär: innen (die beamteten und die Parlamentarischen). Den Minister: innen unmittelbar zugeordnet sind Stabsstellen, z. B. das Ministerbüro, das Kabinettsreferat und die Pressestelle. Die nächst-tieferliegende Personen machen einen Unterschied 7.4 Vielschichtig gegliederte Bundesverwaltung <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 171 171 Die Ministerialbürokratie Ebene unter der Spitze bilden die Abteilungen, die von Ministerialdirektor: innen geleitet werden. Eine der Abteilungen hat in der Regel organisationsinterne Aufgaben (Personalfragen, Infrastruktur etc.) zu erledigen (die »Zentralabteilung«). Bei den anderen handelt es sich um Fachabteilungen. Die Abteilungen können wiederum noch in Unterabteilungen gegliedert sein, denen Ministerialdirigent: innen vorstehen. Die kleinste Organisationseinheit sind die Referate. Diese - so sagt die GGO - bilden die »tragenden Einheiten« der Ministerialverwaltung. Hier findet die inhaltliche Hauptarbeit statt. Die übergeordneten Ebenen (Unter-/ Abteilungen) haben einen vorwiegend koordinierenden Auftrag. Insofern sind die Leitungen der Fachreferate, aber auch die mit einzelnen Themen beschäftigten Referentinnen und Referenten, wichtige Akteure im Berliner Regierungsbetrieb. Eines der Leitprinzipien für die Arbeit innerhalb der Ministerien ist der Dienstweg: Die Vorlagen aus den Referaten haben die verschiedenen Ebenen zu passieren, bevor sie in den Leitungsbereich des Ministeriums gelangen Vom Referentenentwurf zur Kabinettsvorlage Bundesminister: in Leitung (beamtet.) Staatssekretär: in (beamtet.) Staatssekretär: in Parlamentarisch. Staatssekretär: in Ministerbüro Kabinettsangelegenheiten Pressereferat Parlamentarisch. Staatssekretär: in Zentralabteilung Referat Z 1 Organisation Referat Z 2 Personal Referat Z 3 Haushalt Referat Z 4 Justiziariat Referat Z 5 Innerer Dienst Referat Z 6 luK Referat Z 7 Vorprüfungsstelle Fachabteilung I Referat 10 Referat 11 Referat 12 Referat 13 Referat 14 Referat 15 Fachabteilung II Referat II A 1 Referat II A 2 Referat II A 3 Referat II A 4 Referat II A 5 Unterabteilung A Referat II B 1 Referat II B 2 Referat II B 3 Referat II B 4 Referat II B 5 Unterabteilung B Referat II B 6 Referat 30 Referat 31 Referat 32 Fachabteilung III Grundstruktur eines Bundesministeriums Abb. 20 <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 172 172 Die Kanzlerdemokratie und dann eventuell das Ministerium verlassen, z. B. um zu einer Kabinettsvorlage zu werden. Eine Vielzahl von Gesetzesvorlagen, die im Bundestag beraten und verabschiedet werden, ist als so genannter »Referentenentwurf« gestartet - also als ein Dokument, das in einer der »tragenden Einheiten« der Ministerialverwaltung entwickelt worden ist und, eventuell modifiziert, über den weiten Weg ins Parlament gelangt ist. Die Gestaltungsmacht der Referate (und die dort versammelte Expertise) ist demnach nicht zu unterschätzen, auch dann, wenn die Referent: innen auf Weisung von oben reagieren müssen. Spätestens hier wird deutlich, dass die Verwaltung nicht nur exekutive Aufgaben hat, sondern auch an der Gesetzgebung beteiligt ist. Das Personal der Ministerien besteht aus verschiedenen Beschäftigungstypen: aus Beamten, Angestellten und Arbeiter: innen. Insbesondere das Prinzip des Beamtentums prägt die Arbeit der Ministerialverwaltung. Beamte sind Amtsträger, die in einem speziellen rechtlichen Dienst-, Treue- und Fürsorgeverhältnis mit dem Staat stehen. Sie sind mit der unparteiischen Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betraut; sie dürfen nicht streiken und unterliegen einer besonderen Pflicht zu Gesetzestreue und Gehorsam gegenüber ihrem »Dienstherrn«. Dieselben Aufgaben, die von Beamten ausgeübt werden, werden mitunter auch von den Angestellten im Öffentlichen Dienst verrichtet. Die Angestellten haben ebenfalls besondere Verpflichtungen - insbesondere die Treue zur Verfassung. Eine spezielle Personalgruppe bilden die »politischen Beamten«. Von der beamteten Staatsekretärin bis zum Abteilungsleiter (Ministerialdirektor) haben diese Amtsinhaber Leitungsfunktionen, die sie dicht mit der (partei-) politischen Spitze des Ministeriums verknüpfen. Deswegen können sie ohne Angabe von Gründen entlassen werden - bei weitgehender Fortzahlung ihrer Bezüge. Ein partieller Austausch der »politischen« Spitzenbeamt: innen vollzieht sich insbesondere bei Regierungsneubildungen. Alles in allem ist die bundesdeutsche Exekutive also vielschichtig und komplex. Zur Exekutive wird üblicherweise auch das Staatsoberhaupt, der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin, gezählt. In der Tat hat dieses Amt auch »ausführende« Funktionen. Dabei ist es jedoch nicht Teil der Bundesregierung, sondern ein eigenständiges Verfassungsorgan. Mit diesem Amt, seinen Aufgaben und den Personen, die es bislang bekleidet haben, beschäftigt sich das folgende Kapitel. 1 Inwiefern widerspricht das Amt der Parlamentarischen Staatssekretär: innen der klassischen Gewaltenteilung? 2 Inwieweit engen Koalitionsregierungen die Spielräume des Kanzlers oder der Kanzlerin ein? Beamtentum prägt die Verwaltungsarbeit »Politische Beamte« Lernkontrollfragen ▼ <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 173 173 Literatur 3 Welche der bislang durchgeführten Vertrauensfragen wurden als »unecht« bezeichnet und warum? 4 Welche drei Prinzipien (Art. 65 GG) gestalten die Beziehung zwischen Kanzler und Minister: innen - mit welchem Ergebnis? 5 Was sind die Merkmale einer »Kanzlerdemokratie« und wovon hängt es ab, wie ausgeprägt diese Merkmale in einer Kanzlerschaft sind? 6 Inwiefern spielen die Basiseinheiten der Ministerialverwaltung, die Referate, eine wichtige Rolle in der Gesetzgebung? Literatur Als Einführung in das politische System Deutschlands, die stärker auf die Frage von (exekutiver) Führung ausgerichtet ist, bietet sich an: Karl-Rudolf Korte/ Manuel Fröhlich: Politik und Regieren in Deutschland. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen, 3. Aufl., Stuttgart, UTB 2009 . Beiträge aus den verschiedenen Blickwinkeln der Regierungsforschung sind in einem Sammelband zusammengeführt: Karl-Rudolf Korte/ Timo Grunden (Hg.): Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden, Springer VS 2013 . Aus der Insider-Sicht führt folgende Publikation in die Arbeitsweise der Bundesregierung ein: Volker Busse/ Hans Hoffmann: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, 7. Aufl., Baden-Baden, Nomos 2019. Das Konzept der Kanzlerdemokratie sowie Porträts der bisherigen Kanzlerschaften bietet Karlheinz Niclauß: Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, 3. Aufl., Paderborn, UTB 2015 . Einen zeithistorischen Blick auf die bisherigen Regierungskoalitionen liefern die Beiträge in: Philipp Gassert/ Hans Jörg Hennecke: Koalitionen in der Bundesrepublik. Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel, Paderborn, Verlag Ferdinand Schönigh 2017. Ergebnisse der Koalitionsforschung präsentiert: Sabine Kropp/ Roland Sturm: Koalitionen und Koalitionsvereinbarungen. Theorie, Analyse und Dokumentation, Opladen, Leske+Budrich 1998 . Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verwaltung ist zu einem eigenständigen Lehr- und Forschungszweig geworden. Über diese Disziplin, ihre Forschungsfragen und Befunde informieren: Jörg Bogumil/ Werner Jann: Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland. Einführung in die Verwaltungswissenschaft, 2. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag 2008 , sowie aktueller und mit einem stärkeren Praxisblick: Katrin Möltgen-Sicking/ Thorben Winter: Verwaltung und Verwaltungswissenschaft: Eine praxisorientierte Einführung, Wiesbaden, Springer VS 2018. ▲ <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 174 174 Die Kanzlerdemokratie Links www.bundeskanzler.de Dieser Link führt unmittelbar zu der personenbezogenen Website des amtierenden Bundeskanzlers. www.bundesregierung.de Die offizielle Seite der Regierung informiert über die Aufgaben des Staatsorgans. Von dort aus gelangt man zu den Web-Angeboten der einzelnen Ministerien. www.verwaltung.bund.de Gibt man diese Webadresse ein, kommt man zur zentralen Homepage der Bundesverwaltung. Diese bündelt Informationen und Online-Leistungen der einzelnen Verwaltungseinheiten auf Bundesebene. www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de Auf dieser Seite findet sich die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) in ihrer aktuellen Version. www.gesetze-im-internet.de/ parlstg_1974/ Diese vom Bundesjustizministerium betriebene Seite hält das vergleichsweise kurze »Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre« in seiner aktuellen Fassung zum Download bereit. <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 175 175 Die unpräsidiale Demokratie - der-schwache, aber nicht ohnmächtige Bundespräsident An der Spitze der Bundesrepublik Deutschland steht - formal betrachtet - der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin. Aber wer das Oberhaupt eines Staates ist, muss deswegen noch lange nicht der mächtigste Akteur sein. So sind auch die Königinnen und Könige in den zahlreichen europäischen Monarchien keine »Herrscher« mehr, wenngleich sie unterschiedlich starken Einfluss auf die Politik ausüben können. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich bewusst und ausdrücklich für ein schwaches Staatsoberhaupt, für vergleichsweise machtlose Präsidenten einerseits, sowie für ein starkes Parlament und eine machtvolle parlamentarische Regierung andererseits entschieden. Andere Demokratien wie die USA gehen einen alternativen Weg - den »präsidentiellen«: Das direkt gewählte Staatsoberhaupt ist zugleich Regierungschef und damit neben dem Parlament die zentrale Figur im politischen Spiel. Eine dritte Gruppe von Demokratien hat zwar ähnlich wie Deutschland eine doppelköpfige Exekutive mit Präsidenten und Regierungschef, wobei der/ die jeweilige Ministerpräsident/ in oder Premierminister/ in ebenfalls vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist. Aber Präsidenten in Systemen wie dem französischen werden - im Gegensatz zum deutschen Staatsoberhaupt - direkt vom Volk gewählt und verfügen über weitreichende Kompetenzen. In der Politikwissenschaft werden solche Systeme als »semipräsidentiell« bezeichnet. Die formale Schwäche der deutschen Bundespräsidenten schlägt sich in der politikwissenschaftlichen Literatur nieder. Während Regierung und Parlament intensiv erforscht und beschrieben worden sind, fristet dieses Amt in der wissenschaftlichen Beachtung eher ein Schattendasein. In Einführungen ins politische System der Bundesrepublik werden dem Staatsoberhaupt üblicherweise nur wenige Seiten gewidmet. Auch die folgende Darstellung geht von der relativen Machtlosigkeit der Präsidenten aus. Allerdings verdient das Staatsoberhaupt allein deswegen ein eigenes Kapitel, weil sich an seinem Amt Verschiedenes verdeutlichen lässt: wie sich die Weimarer Erfahrungen konkret im politischen System der 8 Inhalt <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 176 176 Die unpräsidiale Demokratie Bundesrepublik niedergeschlagen haben, welchen personalpolitischen Einfluss die Parteien auf der Bundesebene ausüben und welche unterschiedlichen Ausprägungen die konkrete Amtsausübung - je nach Lage der Dinge - haben kann. Schließlich lässt sich an einer solchen politischen Funktion die generelle Frage »Do persons matter? « (»Machen Personen einen Unterschied? «) erörtern. 8.1 Der Weimarer Reichspräsident als Negativbeispiel 8.2 Die Wahl der Bundespräsidenten 8.3 Die Rolle der Bundespräsidenten 8.4 »Do persons matter«? - Chancen und Grenzen des Amtes Der Weimarer Reichspräsident als Negativbeispiel Wenn über die Defizite der Weimarer Reichsverfassung gesprochen wird, dann ist schnell von der - so die Wahrnehmung - verheerenden Rolle des Reichspräsidenten die Rede. Bei der ersten deutschen Demokratie handelte es sich zwar nicht um eine präsidentielle Regierungsform, sondern vom Verfassungstext her um ein System mit starken parlamentarischen Zügen (→ Kapitel 1) . Immerhin legte die Verfassung der Weimarer Republik erstma- 8.1 Semi-präsidentielle Systeme (Maurice Duverger) (1) die Regierung ist doppelköpfig, d. h. sie besteht aus Präsident und Regierungschef (Premierminister/ in, Kanzler/ in, Ministerpräsident/ in o. ä.), (2) der/ die Präsident/ in wird direkt vom Volk gewählt, (3) der/ die Präsident/ in verfügt über beachtliche Kompetenzen, (4) der Regierungschef ist auf das Vertrauen des Parlaments angewiesen. Beispiele für solche Systeme: Frankreich, Russland. Die vergleichende Politikwissenschaft unterscheidet noch weitere Unterformen, z. B. parlamentarisch-präsidentielle oder präsidentiell-parlamentarische Varianten. Definition ▼ ▲ <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 177 177 Der Weimarer Reichspräsident als Negativbeispiel lig in der deutschen Geschichte die Parlamentsverantwortlichkeit der Regierung fest, nachdem bereits 1918 der Kaiser - die militärische Niederlage vor Augen - per Erlass die Parlamentarisierung der Reichsregierung angeordnet hatte. Und dennoch konnte sich das Prinzip der parlamentarischen Regierung in der Praxis nicht durchsetzen. Stattdessen etablierte sich in der Verfassungswirklichkeit - allemal in den letzten Jahren der Weimarer Republik - ein »präsidiales« Regime. Was waren die Fundamente für diesen von der Verfassungsidee nicht vorgesehenen Machtaufstieg des Staatsoberhauptes? Zunächst verschaffte die Volkswahl dem Präsidenten eine günstige Ausgangsposition. Das Parlament war somit nicht das einzige demokratisch direkt legitimierte Organ auf Reichsebene. Zudem wurde das Staatsoberhaupt der Weimarer Republik für immerhin sieben Jahre gewählt, also für einen längeren Zeitraum als der Reichstag, dessen Wahlperiode vier Jahre betrug. Parlament und Präsident hätten auf dieser Grundlage wenigstens ebenbürtig sein können. Aber darüber hinaus waren die Machtpotenziale noch zugunsten des Staatsoberhauptes verteilt: So verfügte der Reichspräsident über das Recht, den Reichstag aufzulösen. Auch waren die Ernennung und die Entlassung der Reichskanzler Aufgabe des Staatsoberhauptes. Das Weimarer Parlament war hieran zwar beteiligt, konnte aber vom Präsidenten übergangen werden. Im Falle der Eskalation drohte dem Reichstag die Auflösung. Schließlich war der Präsident noch oberster Befehlsherr der Streitkräfte. Besondere Brisanz kam jedoch einer Bestimmung zu, die legendär geworden ist: dem Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. Dort war geregelt, welche Maßnahmen im Falle eines nationalen Notstands zu treffen seien. Mithilfe dieses Artikels waren ab 1930 durchweg Minderheitsregierungen im Amt, deren Gesetzesvorlagen als »Notverordnungen« unter Umgehung des Reichstags erlassen werden konnten. Die Reichskanzler waren letztlich nur noch von des Reichspräsidenten Gnaden abhängig, der durch die Ausrufung des permanenten Notstands das System weitestgehend entparlamentarisierte. Weimarer Reichspräsidenten Friedrich Ebert (1871-1925) Als erster Reichspräsident wurde 1919 der Sozialdemokrat Friedrich Ebert von der in Weimar tagenden Nationalversammlung gewählt - als Übergangslösung bis zu einer ersten Volkswahl. Ebert war zuvor lange Zeit ein führendes Mitglied der SPD gewesen. Friedrich Ebert verstarb 1925 im Amt an den Folgen einer verschleppten Erkrankung. Machtaufstieg des Reichspräsidenten Entparlamentarisierung durch Ausrufung des permanenten Notstands Hintergrund ▼ <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 178 178 Die unpräsidiale Demokratie Paul von Hindenburg (1847-1934) Nach dem Tode Eberts wurde von Hindenburg im Rahmen einer Volkswahl 1925 zum Reichspräsidenten gewählt. Der ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg war der Kandidat demokratieskeptischer, rechter Parteien. Er wurde 1932 wiedergewählt. Nach dessen Tod 1934 übernahm Adolf Hitler auch das Amt des Staatsoberhauptes. Was das Reichspräsidentenamt letzten Endes zum Untergang der Weimarer Republik beitrug, welche spezifische Rolle die beiden Amtsinhaber spielten (Friedrich Ebert, aber vor allem Paul von Hindenburg) - das lässt sich nicht schnell und einfach beantworten. Nur so viel: Hätte es eine konstruktive demokratische Parteienkultur gegeben, wäre die Macht des Präsidenten nicht derart zur Entfaltung gekommen. Für die Ausgestaltung der Bundespräsidentenrolle im Grundgesetz waren die Weimarer Erfahrungen jedenfalls prägend. So wirkt das Staatsoberhaupt der zweiten deutschen Demokratie in vielerlei Hinsicht wie ein bewusstes Gegenbild zum Weimarer Präsidenten. Die Wahl der Bundespräsidenten Der erste Unterschied findet sich im Wahlverfahren. Das bundesdeutsche Staatoberhaupt wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von einem hierzu eigens einberufenen Bundesorgan, der Bundesversammlung. Die Modalitäten der Wahl sind im Grundgesetz (Art. 54) und im »Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung« festgelegt. Das Wahlverfahren-- die Bundesversammlung Die Bundesversammlung ist ein ungewöhnliches Staatsorgan. Sie tritt ausschließlich zur Wahl der Bundespräsidenten zusammen und danach erst wieder, wenn ein Nachfolger gewählt werden muss (oder der Amtsinhaber wiedergewählt wird). Sie ist keine ständige Einrichtung. Die Mitglieder der Bundesversammlung haben somit nur die eine Rolle: die von Wahlleuten, so wie sie uns etwa aus dem System der USA bekannt sind. Läuft alles »nach Plan«, konstituiert sich die Bundesversammlung alle fünf Jahre. Die reguläre Amtszeit der Bundespräsidenten ist somit um zwei Jahre kürzer als es die der Reichspräsidenten war und ein Jahr länger als es die des Bundestages ist. Bundespräsidenten können nur einmal unmittelbar wiedergewählt werden. ▲ Reichspräsidenten und Untergang der Weimarer Republik 8.2 8.2.1 Bundesversammlungsmitglieder sind Wahlleute <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 179 179 Die Wahl der Bundespräsidenten Die Bundesversammlung setzt sich unter Leitung des/ der Bundestagspräsidenten/ in wie folgt zusammen: (1) aus den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, (2) aus einer gleich großen Anzahl von Personen, die von den Landtagen gewählt worden sind. Somit hängt die Größe der Bundesversammlung vom aktuellen Umfang des Bundestages ab, auch von der jeweiligen Anzahl an Überhang- und Ausgleichsmandaten. Entsprechend schwankt die tatsächliche Größe des Staatsorgans von Wahl zu Wahl. Die »Gesandten« der Landtage kommen nicht zwangsläufig aus der Gruppe der Mandatsträger. Mitunter werden prominente Schauspielerinnen, Sportler oder Künstlerinnen nominiert. Die Fraktionen der Landesparlamente entscheiden autonom darüber, wer die ihnen nach einem Proportionalverfahren zugewiesenen Plätze in der Versammlung erhält. In der Bundesversammlung bilden ihre Mitglieder »Fraktionen«, in denen die Abgeordneten und Delegierten der jeweiligen Parteien zusammenkommen. Diese Fraktionen treffen sich kurz vor den Wahlen, um Meinungsbilder zu erstellen (ggf. durch Probeabstimmungen) und das weitere Vorgehen zu koordinieren. Sind mehrere Wahlgänge vonnöten, ziehen sich die Fraktionen zwischen den Abstimmungen zu Besprechungen zurück. Es können maximal drei Wahlgänge erforderlich sein. Muss ein/ e Kandidat/ in in den ersten beiden Wahlgängen noch die absolute Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung für sich gewinnen, reicht in der dritten Abstimmung eine relative Mehrheit. Wie im Bundestag gibt es auch in der Bundesversammlung nicht nur »Fraktionen«, sondern auch »Koalitionen«. Da in der Regel keine Partei über eine absolute Mehrheit in der Bundesversammlung verfügt, ist es erforderlich, Mehrheiten mit Hilfe anderer Parteien zu organisieren. Zumeist entsprechen die Koalitionen in der Bundesversammlung den Parteienlagern im Bundestag. Kandidaten und Kandidatinnen für das Amt des Bundespräsidenten (Mindestalter: 40 Jahre, deutsche Staatsbürgerschaft) können von Mitgliedern der Bundesversammlung benannt werden. Üblicherweise haben sich im Vorfeld der Wahl einzelne Parteien oder Parteikoalitionen auf Personen geeinigt. Die Fraktionen der Landtage entsenden ihre Delegierten in der Regel mit einem deutlichen Auftrag, für den jeweiligen Parteivorschlag zu votieren. Insofern müsste es angesichts der vorher bekannten Mehrheits- Zusammensetzung der Bundesversammlung Fraktionenbildung in-der Bundesversammlung Koalitionen in der Bundesversammlung Mitgliederstärke der bisherigen Bundesversammlungen Jahr 1949 1954 1959 1964 1969 1974 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 2010 2012 2017 2022 Umfang 804 1018 1038 1042 1036 1036 1036 1042 1038 1324 1338 1205 1224 1244 1240 1260 1472 Quelle: www.bundestag.de Tab. 14 <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 180 180 Die unpräsidiale Demokratie verhältnisse in der Bundesversammlung eigentlich vorhersagbar sein, wer erfolgreich aus der Präsidentenwahl hervorgeht. Doch es gibt eine verfahrensbedingte Unsicherheit: Die Abstimmung findet mit verdeckten Stimmzetteln statt. Es bleibt geheim, wer wie abgestimmt hat. Somit sind die Mitglieder der Bundesversammlung letzten Endes doch frei in ihrer Entscheidung - zumindest können sie nicht sanktioniert werden, wenn sie von ihrem »Auftrag« abweichen. Trotz des formal »freien Mandats« ihrer Mitglieder gilt: Die parteipolitische Zusammensetzung der Bundesversammlung prägt das Erscheinungsbild und die Arbeitsweise des Staatsorgans. Einerseits ermöglicht sie klare Wahlergebnisse, denn Mehrheiten sind leichter entlang parteipolitischer Gruppierungen zu organisieren. Sie bringt andererseits die oft kritisierte Dominanz machtpolitischer und parteitaktischer Kalküle bei der Auswahl der Kandidierenden mit sich. Die Wahlergebnisse Ein Blick auf die Daten zu den bisherigen Bundespräsidentenwahlen verrät einiges über die Prinzipien, die bei dieser Wahl eine Rolle spielen. Zunächst zur Frage, wer bislang als Kandidat/ in aufgestellt worden ist und letzten Endes erfolgreich war. Fast alle bisherigen Bundespräsidenten (durchweg Männer) gehörten einer der etablierten, im Bundestag vertretenen Parteien als Mitglied an. Fast alle Amtsinhaber hatten eine zum Teil jahrelange politische Spitzenkarriere absolviert, die sie nicht zuletzt ihrem Engagement in einer der parlamentarischen Parteien zu verdanken hatten. Dies gilt auch für den Fall Horst Köhler, dem bei seiner Nominierung der Nimbus des »Quereinsteigers« angehängt wurde. Tatsächlich war Köhler vor seinen internationalen Tätigkeiten (u. a. als Direktor des Internationalen Währungsfonds von 2000 bis 2004) auch einmal Staatssekretär im Finanzministerium der CDU/ FDP-Regierung gewesen und schon lange Zeit Mitglied der CDU. Richard von Weizsäcker, der als Bundespräsident heftig gegen den Einfluss der Parteien polemisierte, hatte seinen Aufstieg ebenfalls der Stärke einer dieser Parteien zu verdanken. Allein Joachim Gauck stellt eine Ausnahme dar. Er kam als parteiloser Kandidat ins Amt - als Ergebnis einer Krisensituation rund um das Präsidentenamt (s. u.). Bislang gehörten sechs Bundespräsidenten der CDU, drei der SPD sowie zwei der FDP an. Welcher Parteikandidat letzten Endes erfolgreich war, darüber entschieden die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung. Diese stimmten gleichwohl nicht immer mit den Kräfteverhältnissen im Bundestag überein. So sind die Bundespräsidenten Carstens und Köhler in einer Zeit gewählt worden, in der »ihre« Partei auf den Oppositi- Geheime Abstimmung 8.2.2 Bundespräsidenten mit parteipolitischem Hintergrund <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 181 181 Die Wahl der Bundespräsidenten onsbänken im Bundestag saß. Allerdings hatte die CDU/ CSU damals in den Landtagen eine derart deutliche Mandatsmehrheit, dass es in der Bundesversammlung für eine Wahl reichte. Die Konstellation, dass die parlamentarische Opposition das Staatsoberhaupt »stellen« kann, ist durchaus pikant. Denn ein Vertreter des Bundespräsidenten, ein/ e Staatssekretär/ in aus dem Mitarbeiterstab des Staatsoberhauptes, nimmt an allen Kabinettssitzungen beobachtend teil und erfährt somit ansonsten Vertrauliches aus den Zirkeln der Regierungspolitik (→ Kapitel 7) . Auch in den seltenen, aber durchaus weichenstellenden Situationen, in denen das Staatsoberhaupt substanzielle Entscheidungen treffen kann (s. u.), hat diese Konstellation einige Brisanz. Allerdings sind die Bundespräsidenten angehalten, ihr Amt überparteilich wahrzunehmen. Ihre Parteimitgliedschaft lassen sie deswegen während ihrer Amtszeit ruhen. Opposition kann Bundespräsidenten stellen Wahlgang 1 Wahlgang 2 Wahlgang 3 Gewählt Gegenkandidat/ in 1949 46,9 % 51,7 % - Theodor Heuss K. Schumacher, R. Amelunxen u. a. 1954 85,6 % - - Theodor Heuss A. Weber 1959 49,8 % 50,7 % - Heinrich Lübke C. Schmid, M. Becker 1964 68,1 % - - Heinrich Lübke E. Bucher 1969 49,6 % 49,3 % 49,4 % Gustav Heinemann G. Schröder 1974 51,2 % - - Walter Scheel R. v. Weizsäcker 1979 51,0 % - - Karl Carstens A. Renger 1984 80,0 % - - Richard v. Weizsäcker L. Rinser 1989 84,9 % - - Richard v. Weizsäcker - 1994 45,9 % 47,2 % 52,8 % Roman Herzog J. Rau, H. Hamm- Brücher, J. Reich, H. Hirzel 1999 49,1 % 51,6 % - Johannes Rau D. Schipanski, U. Ranke-Heimann 2004 50,1 % - - Horst Köhler G. Schwan 2009 50,1 % - - Horst Köhler G. Schwan, P. Sodann, F. Rennicke 2010 48,2 % 49,4 % 50,2 % Christian Wulff J. Gauck, L. Jochimsen, F. Rennicke 2012 79,9 % - - Joachim Gauck B. Klarsfeld, O. Rose 2017 74,3 % - - Frank-Walter Steinmeier C. Butterwegge, A. Glaser, A. Hold, E. Sonneborn 2022 72,7 % - - Frank-Walter Steinmeier S. Gebauer, M. Otte, G. Trabert Tab. 15 Ergebnisse der Wahlen in den Bundesversammlungen seit 1949 <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 182 182 Die unpräsidiale Demokratie Bundespräsident Parteizugehörigkeit Letztes Amt vor Kandidatur Weitere politische Spitzenposition u. a. Theodor Heuss 1949-1959 FDP Mitglied des Parlamentarischen Rats und des Landtags Württemberg-Baden 1948-1949: Vorsitzender der FDP in Westdeutschland und Berlin Heinrich Lübke 1959-1969 CDU Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1947-1952: Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Nordrhein-Westfalen Gustav W. Heinemann 1969-1974 SPD Bundesminister der Justiz in der Regierung Kiesinger/ Brandt 1949-1950: Innenminister der ersten Regierung Adenauer, 1958: Mitglied des Parteivorstands der-SPD Walter Scheel 1974-1979 FDP Bundesminister des Auswärtigen 1968-1974: Bundesvorsitzender der FDP Karl Carstens 1979-1984 CDU Präsident des Deutschen Bundestages 1973-1976: Vorsitzender der CDU/ CSU- Fraktion im Deutschen Bundestag Richard von Weizsäcker 1984-1994 CDU Regierender Bürgermeister von Berlin 1973-1979: Stellvertr. Vorsitzender der CDU/ CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Roman Herzog 1994-1999 CDU Präsident des Bundesverfassungsgerichts 1980-1983: Mitglied des-Landtages und Innenminister von Baden-Württemberg- Johannes Rau 1999-2004 SPD Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 1982-1999: Stellvertr. Vorsitzender der SPD Horst Köhler 2004-2010 CDU Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds 1990-1993: Staatssekretär im Bundesfinanzministerium (Kabinett Kohl) Christian Wulff 2010-2012 CDU Ministerpräsident des Landes Niedersachsen 1998-2010: Stellvertr. Bundesvorsitzender der-CDU Joachim Gauck 2012-2017 parteilos Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (1990 bis 2000) - Frank-Walter Steinmeier seit 2017 SPD Bundesminister des-Auswärtigen 2009: SPD-Kanzlerkandidat, 2009-2013: Vorsitzender der SPD- Fraktion im Deutschen Bundestag Tab. 16 Die Bundespräsidenten und ihre parteipolitische Herkunft <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 183 183 Die Wahl der Bundespräsidenten Bei bislang nur drei Bundespräsidentenwahlen mussten drei Wahlgänge durchgeführt werden (Heinemann, Herzog, Wulff). Nur ein einziger Aspirant, nämlich Gustav Heinemann, ist mit einer bloß relativen Mehrheit gewählt worden. Bundespräsidenten wiederum, die für eine zweite Amtszeit kandidierten, wurden mit einer großen Mehrheit wiedergewählt (Heuss, Lübke, von Weizsäcker, Steinmeier). Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich die Präsidenten üblicherweise in ihrer Amtsausübung so bewähren, dass ihre Wiederwahl zur reinen Formsache wird. Der Verzicht von Johannes Rau und Gustav Heinemann auf eine zweite Amtszeit legt jedoch noch eine weitere Logik nahe: Präsidenten kandidieren nur dann ein zweites Mal, wenn sie sich einer hinreichenden Unterstützung in der Bundesversammlung sicher sein können. So muss die Beobachtung präzise genommen lauten: Bis heute ist es noch nie zu einer »Abwahl« (genauer: Kandidatur und Nicht-Wiederwahl) des amtierenden Bundespräsidenten gekommen. Was lässt sich zu den unterlegenen Personen sagen? Da die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung vor den Präsidentenwahlen in der Regel klar sind, haben die Gegenkandidierenden zumeist nur eine symbolische Aufgabe: Sie sollen eine Alternative deutlich machen und die Schwächen des Mehrheitskandidaten pointieren. Während die Bundespräsidenten in der Regel parteipolitisch geprägt sind und politische Ämter innehatten, finden sich bei den Gegenkandidierenden auch Persönlichkeiten von außerhalb der Politik, etwa Wissenschaftlerinnen oder Künstler. Seit 1979 hat man auch immer wieder Frauen nominiert - aber bislang stets ohne klare Gewinnaussichten. Einmal gewählt, sind die Bundespräsidenten nicht ohne Weiteres des Amtes zu entheben. Für einen äußersten und unwahrscheinlichen Fall ist gleichwohl vorgesorgt: Sollte ein/ e Bundespräsident/ in gegen geltendes Recht verstoßen, gewährt das Grundgesetz die Möglichkeit, das Staatsoberhaupt seines Amtes zu entheben: gemäß Art. 61 GG in Form der Präsidentenanklage. Klageberechtigt sind Bundestag und Bundesrat, die Entscheidung fällt das Bundesverfassungsgericht. Schließlich haben Bundespräsidenten selbst die Möglichkeit, ihre Amtszeit vorzeitig zu beenden: durch einen Rücktritt. Auf diese Weise endeten die Präsidentschaften von Heinrich Lübke, Horst Köhler und Christian Wulff. Art. 61 GG (1) Der Bundestag oder der Bundesrat können den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bei Wiederwahl große Zustimmung Gegenkandidierende mit-Symbolwirkung Wortlaut ▼ <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 184 184 Die unpräsidiale Demokratie Bundestages oder einem Viertel der Stimmen des Bundesrates gestellt werden. Der Beschluss auf Erhebung der Anklage bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages oder von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Die Anklage wird von einem Beauftragten der anklagenden Körperschaft vertreten. (2) Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Bundespräsident einer vorsätzlichen Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes schuldig ist, so kann es ihn des Amtes für verlustig erklären. Durch einstweilige Anordnung kann es nach der Erhebung der Anklage bestimmen, dass er an der Ausübung seines Amtes verhindert ist. Die Rolle der Bundespräsidenten Von der einen Rolle des Bundespräsidenten kann man nicht sprechen. Das Amt zeichnet sich durch eine Vielfalt von unterschiedlichen Aufgaben und Kompetenzen aus. Dabei ist das Staatsoberhaupt auf Unterstützung angewiesen: Bei der Ausübung seines Amtes hilft den Bundespräsidenten eine oberste Bundesbehörde, das Bundespräsidialamt mit seinen rund 180 Mitarbeiterstellen, die in einem Gebäude neben dem Berliner Amtssitz des Staatsoberhauptes, dem Schloss Bellevue, untergebracht ist. Bundespräsidenten als oberste Repräsentanten und-»Staatsnotare« Zunächst erfüllt der/ die Bundespräsident/ in die »üblichen« Aufgaben eines Staatsoberhauptes: die Repräsentation nach außen und innen. Die Präsidenten vertreten die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich. Sie sind es, die Verträge mit anderen Staaten unterzeichnen, die von der Regierung politisch ausgehandelt worden sind. Sie nehmen die Akkreditierung der Botschafter vor und empfangen Staatsgäste mit militärischen Ehren. Nach innen haben sie das Begnadigungsrecht, verleihen Orden und Ehrenzeichen, z. B. das Bundesverdienstkreuz in mehreren Stufen. Das Staatsoberhaupt kann die Verwendung der Staatssymbole (Nationalhymne, Flagge, Wappen etc.) sowie Staatsakte und Staatsbegräbnisse anordnen - allerdings muss in diesen Fällen ein Mitglied der Bundesregierung gegenzeichnen. Einen Großteil der Aufgaben der Bundespräsidenten kann man als »notariell« bezeichnen. Das heißt, den Bundespräsidenten obliegt es, bestimmte Vorgänge zu »beglaubigen« oder zu »unterzeichnen«, ohne dass sie auf die ▲ 8.3 8.3.1 Völkerrechtliche Vertretung der Bundesrepublik Bundespräsidenten als-»Staatsnotare« <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 185 185 Die Rolle der Bundespräsidenten dahinter stehenden Entscheidungen Einfluss nehmen können. Dies trifft beispielsweise auf folgende Personalfragen zu: ⚫ Ernennung von Richter: innen an Bundesgerichten, ⚫ Ernennung von Bundesbeamt: innen und Soldat: innen höherer Ränge, ⚫ Ernennung des/ der Bundeskanzlers/ in nach dessen/ deren Wahl durch den Bundestag, ⚫ Ernennung und Entlassung der Minister: innen auf Vorschlag des Regierungschefs. Bei diesen Personalfragen kann der/ die Bundespräsident/ in die Unterschrift nur dann verweigern, wenn es maßgebliche Gründe dafür gibt. Neben den Personalentscheidungen muss das Staatsoberhaupt auch die Gesetze per Unterschrift »besiegeln«. Dieser Vorgang, der unter dem Begriff »Ausfertigung von Gesetzen« läuft, stellt den vorletzten und einen unverzichtbaren Schritt im Gesetzgebungsprozess dar, bevor das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet werden und damit in Kraft treten kann. Inwieweit den Bundespräsidenten bei der Gesetzesausfertigung oder in anderen Situationen die Rolle eines Verfassungshüters zukommt, ist umstritten. Bundespräsidenten als »Hüter der Verfassung«? Der Reichspräsident der Weimarer Republik fungierte als »Hüter der Verfassung« - im Sinne der Lehre des in der Weimarer Republik einflussreichen Staatsrechtlers Carl Schmitt. Der Reichspräsident sollte den Geist der Wei- Ausfertigung von Gesetzen 8.3.2 völkerrechtliche Vertretung des Bundes Repräsentation nach innen und außen, Ehrenhoheit Ernennung und Entlassung der Bundesrichter: innen, Bundesbeamt: innen und Offiziere Bundespräsident/ in Vorschlag, Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers/ der Bundeskanzlerin Ernennung und Entlassung der Bundesminister: innen Prüfung und Unterzeichnung der Bundesgesetze Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes Begnadigungsrecht Abb. 21 Aufgaben der Bundespräsidenten <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 186 186 Die unpräsidiale Demokratie marer Reichsverfassung vor Angriffen von innen und außen schützen. Hierzu waren ihm die entsprechenden Instrumente an die Hand gegeben worden. Dass sich der eigentliche Hüter als Problem der Verfassung herausstellte, ist eine der Paradoxien der Weimarer Republik. Können die Bundespräsidenten analog als »Hüter des Grundgesetzes« bezeichnet werden? Das deutsche Staatsoberhaupt ist als Bundesorgan - wie die anderen Staatsorgane auch - Teil eines Systems von »checks and balances«, eines Geflechts von gegenseitiger Kontrolle und Machtverteilung. Jedes Staatsorgan hat die Verpflichtung, auf die Einhaltung der Verfassung seitens der anderen Institutionen zu achten. Dies zeigt sich unter anderem in der Möglichkeit der »Organklage« vor dem Bundesverfassungsgericht (→ Kapitel 9) . Im Rahmen einer Organklage hat ein Staatsorgan das Recht, ein anderes vor dem Karlsruher Gericht wegen verfassungswidrigen Verhaltens anzuklagen. Durch die Beteiligung am Gesetzgebungsprozess verfügen die Bundespräsidenten über einen zusätzlichen Hebel, die Beachtung der Verfassung nachzuhalten. Zwei Formen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen lassen sich dabei unterscheiden: die formelle und die materielle Kontrolle. Eine sachbezogene Überprüfung (also ob es sich um ein erforderliches, ein effektives und/ oder effizientes, kurzum: um ein gutes Gesetz handelt) darf das Staatsoberhaupt nicht vornehmen. Formelle und materielle Überprüfung Bei einer formellen Prüfung wird das verfahrensrechtlich verfassungsgemäße Zustandekommen eines Gesetzes begutachtet: Hat es den vom Grundgesetz vorgesehenen »formellen« Prozess ordentlich durchlaufen? Bei einer materiellen Überprüfung wird kontrolliert, ob ein Gesetz mit Inhalten des Grundgesetzes (mit seiner »Materie«) in Konflikt steht. Der/ die Bundespräsident/ in, genauer das Bundespräsidialamt, nimmt vor jeder Gesetzesausfertigung eine Begutachtung vor, die mehr als nur eine Formsache ist. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik einige Fälle gegeben, in denen der amtierende Bundespräsident nach Prüfung die Unterschrift unter ein Gesetz verweigert hat. Bei zwei Gesetzgebungsverfahren in den 1960er Jahren (Ingenieurgesetz und Architektengesetz) stellte Bundespräsident Heinemann infrage, dass der Bund hier überhaupt eine Regelungskompetenz habe. In zwei weiteren Fällen wurde vom Staatsoberhaupt moniert, dass der Bundesrat hätte zustimmen müssen: 1952 beim Gesetz zur Durch- Einbindung in das System von »checks and balances« Definition ▼ ▲ Unterzeichnung von Gesetzen abgelehnt <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 187 187 Die Rolle der Bundespräsidenten führung des Art. 108 GG (Bundespräsident: Theodor Heuss) und 1976 beim Gesetz zur Wehrdienstverweigerung (Bundespräsident: Walter Scheel). In all diesen Fällen bezogen sich die Einwände auf Verfahrensaspekte. Aber es kam auch zu materiell begründeten Einsprüchen: So lehnte Heinrich Lübke 1962 ein Gesetz über den Belegschaftshandel ab, da es seiner Wahrnehmung nach gegen das Grundrecht auf freie Berufswahl verstoßen hätte. Richard von Weizsäcker blockierte 1991 ein Gesetz, das die Flugsicherung privatisieren sollte. Diese Aufgabe gehörte - so seine Einschätzung - laut Grundgesetz zu den hoheitsrechtlichen Angelegenheiten und könnte von daher nicht in private Hände gegeben werden. Mit genau der gleichen Begründung versagte Horst Köhler einem Gesetz zur Flugsicherung im Jahre 2006 seine Unterschrift. Im selben Jahr fertigte Bundespräsident Köhler ein Gesetz zur Verbraucherinformation nicht aus, weil es seines Erachtens nach dem durch die Föderalismusreform geänderten Grundgesetz materiell nicht entsprochen hätte. Frank-Walter Steinmeier setzte 2020 die Ausfertigung eines Gesetzes zur Bekämpfung von Hasskriminalität aus, weil ihm dieses materiell verfassungswidrig erschien. Nach einer Nachbesserung unterschrieb er es schließlich doch. Angesichts der Zahl von Gesetzen, die vom Bundesverfassungsgericht kassiert worden sind (→ Kapitel 9) , scheint die Prüftätigkeit der Präsidenten von Zurückhaltung geprägt zu sein. Insofern war das Vorgehen des Bundespräsidenten Johannes Rau beim Zuwanderungsgesetz aus dem Jahre 2002 exemplarisch. Es hatte erhebliche Zweifel an dem verfassungsmäßigen Zustandekommen des Gesetzes gegeben. Der Bundespräsident fertigte die Vorlage dennoch aus. Zugleich forderte er aber die Antragsberechtigten ausdrücklich auf, von der Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht Gebrauch zu machen. Ähnlich ging Frank- Walter Steinmeier bei einer umstrittenen Änderung der Strafprozessordnung im Jahr 2021 vor: Er unterzeichnete das Gesetz, rief aber zu einer erneuten Prüfung desselben auf. Trotz all der gebotenen Zurückhaltung darf dann über eine stärkere Kontrolltätigkeit der Bundespräsidenten nachgedacht werden, wenn die Opposition in Zeiten einer »Großen Koalition« nicht das Quorum für eine Klage beim Bundesverfassungsgericht erreicht und somit eine wichtige Kontrollinstanz wegfällt. Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes am 20. Juni 2002 - Auszüge »Das Recht und die Pflicht des Bundespräsidenten, ein Gesetz vor der Ausfertigung verfassungsrechtlich zu überprüfen, steht in Konkurrenz und bedarf Zurückhaltende Prüftätigkeit Wortlaut ▼ <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 188 188 Die unpräsidiale Demokratie der sinnvollen Abgrenzung zur Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. [...] Nach unserer Verfassungsordnung ist es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, über solche verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen. Die verbindliche Entscheidung über die Auslegung des Grundgesetzes ist dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.« Quelle: www.bundespraesident.de Kurzum: Bundespräsidenten sind bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Gesetzgebungsvorgängen und -ergebnissen alles in allem zurückhaltend, wenngleich es tendenzielle Unterschiede zwischen den Amtsinhabern gegeben hat. Die Aufgabe, die Verfassung vor Verletzungen zu schützen, wird in der Praxis der bundesdeutschen Demokratie in erster Linie dem Bundesverfassungsgericht zugesprochen. Dem Gericht sind im Falle einer Klage auch diejenigen Entscheidungen unterworfen, die die Bundespräsident/ in im Rahmen der »Reservemacht« treffen darf. Bundespräsidenten und ihre »Reservemacht« Jenseits des staatsnotariellen Alltags können die Bundespräsidenten in eine Lage geraten, in der ihre Entscheidungen durchaus einen Unterschied machen und zwar einen gewichtigen. Man spricht dann von der »Reservemacht« des Staatsoberhauptes. Die Bedingungen hierfür sind bereits angesprochen worden: Unmittelbar nach einer Bundestagswahl formiert sich keine Kanzlermehrheit oder ein Regierungschef genießt nicht mehr das Vertrauen einer parlamentarischen Mehrheit (→ Kapitel 6 und 7) . (1) Bundeskanzlerwahl: Findet bei der Wahl des/ der Bundeskanzlers/ in ein Vorschlag aus der Mitte des Parlaments im dritten Wahlgang nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, sondern nur eine relative Mehrheit, kann das Staatsoberhaupt frei zwischen zwei Optionen entscheiden: Entweder löst er/ sie den Bundestag auf und beraumt Neuwahlen an oder ernennt den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidierenden zum/ r Minderheitskanzler/ in. (2) Gescheiterte Vertrauensfrage: Findet der/ die Bundeskanzler/ in bei einer Vertrauensfrage nach Artikel 68 GG keine parlamentarische Zustimmung und schlägt infolge die Auflösung des Bundestages vor, hat das Staatsoberhaupt zwei Möglichkeiten: entweder den Bundestag aufzulösen oder den Vorschlag des Regierungschefs nicht umzusetzen. Wenn das Staatsoberhaupt von einer Parlamentsauflösung Abstand nimmt und den Regierungschef im Amt belässt, kann diese Person als Minderheitskanz- ▲ BVerfG als Hüterin der-Verfassung 8.3.3 <?page no="189"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 189 189 Die Rolle der Bundespräsidenten ler/ in am Bundestag vorbei Gesetze auf den Weg bringen - auf der Grundlage des Art. 81 (»Gesetzgebungsnotstand«). Die »Reservemacht« wird somit nur im Falle einer Systemkrise aktiviert, falls ein zentrales Prinzip des Grundgesetzes nicht (mehr) funktioniert: das Prinzip der parlamentarischen Regierung, also einer Regierung, die im Bundestag eine stabile Basis findet. Zu einer präsidialen Herrschaft in einer Weimar-ähnlichen Form kann es jedoch auch in solch krisenhaften Gemengelagen nicht kommen: So ist die Dauer des Gesetzgebungsnotstands auf höchstens ein halbes Jahr beschränkt. In dieser Phase können die Regelungen des Grundgesetzes weder geändert noch außer Kraft und Anwendung gesetzt werden. Derartige Systemkrisen hat es in der politischen Geschichte der Bundesrepublik bislang nicht gegeben: Bei der Kanzlerwahl ist es nie zu einem dritten Wahlgang gekommen. Noch nicht einmal ein zweiter ist bis dato erforderlich gewesen. Dass der Bundespräsident allerdings schon Einfluss nehmen Reservemacht im Falle einer Systemkrise Bislang keine wirklichen Systemkrisen Stufe 1: Der/ die Kanzler/ in stellt die Vertrauensfrage nach Art. 68 und findet keine Mehrheit. Er schlägt die Auflösung des Parlaments vor. Stufe 2: Der/ die Bundespräsident/ in löst den Deutschen Bundestag nicht auf. Der Regierungschef bleibt als Minderheitskanzler im Amt. Stufe 3: Der/ die Kanzler/ in scheitert mit einer Gesetzesvorlage im Bundestag. Der Regierungschef stellt den Antrag, den Gesetzgebungsnotstand zu erklären. Stufe 4: Der/ die Bundespräsident/ in erklärt den Gesetzgebungsnotstand. Für die Verabschiedung dieser und weiterer Gesetzesvorlagen ist die Mehrheit des Bundesrates hinreichend. Abb. 22 Phasen des Gesetzgebungsnotstands (Art. 68 und 81 GG) <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 190 190 Die unpräsidiale Demokratie kann, bevor es zu weiteren Wahlgängen kommt, ist während der schwierigen Regierungsbildung 2017/ 18 deutlich geworden. Frank-Walter Steinmeier hatte die Parteien eindringlich ermahnt, eine Koalition zu bilden. Neuwahlen lehnte er ausdrücklich ab - und zeigte damit frühzeitig und effektiv seine »Instrumente«. Es kam zur Bildung einer weiteren Großen Koalition. Gescheiterte Vertrauensfragen gab es zwar schon dreimal. Bei den drei Fällen handelte es sich jedoch nicht durchweg um Krisensituationen im Sinne des Grundgesetzes. Wie dargestellt, hatten die Bundeskanzler mitunter durchaus stabile Mehrheiten im Bundestag (→ Kapitel 7) . Bei allen gescheiterten Vertrauensfragen hat der jeweils amtierende Bundespräsident dem Vorschlag des Bundeskanzlers, den Bundestag aufzulösen, entsprochen. In zwei Fällen ist sein Handeln zum Gegenstand einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht geworden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidungen der Präsidenten beide Male als verfassungsgemäß eingestuft. Daran zeigt sich Folgendes: In den wenigen Situationen, in denen dem Bundespräsidenten eine Entscheidungsmacht zugekommen ist, haben sich die Amtsinhaber »erwartungsgemäß« im Sinne des Prinzips der parlamentarischen Regierung verhalten und sich dem Willen der Bundestagsmehrheit respektive des Regierungschefs nicht entgegengestellt. Damit eröffneten sie zugleich den Weg für eine verfassungsrechtliche Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Die abschließende Begutachtung und Billigung der Vorgänge fand in »Karlsruhe« statt. Die Macht des Wortes und der symbolischen Tat Ein Amt wie das eines Staatoberhauptes lässt sich nicht auf seine formalen Kompetenzen und Funktionen reduzieren. Der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg hat hier die Unterscheidung zwischen »potestas« und »auctoritas« eingebracht: Jenseits der institutionalisierten Herrschaftsgewalt (»potestas«) habe der Bundespräsident vor allem eine nicht in der Verfassung niedergeschriebene Macht (»auctoritas«). Diese Autorität speist sich insbesondere aus dem öffentlichen Wirken der Präsidenten. Gelegenheit zu Auftritt und Rede hat das Staatoberhaupt zur Genüge. Der Amtsinhaber ist gefragt als Redner bei öffentlichen Anlässen, obligatorisch bei Staatsakten. Er tritt regelmäßig in den Medien auf, zum Beispiel mit der jährlich zur besten Sendezeit ausgestrahlten Weihnachtsansprache. Das, was der Bundespräsident vorträgt, wird in der politischen Öffentlichkeit wahrgenommen, mitunter aufgegriffen und weiterdiskutiert. Wellen schlagend war die Rede von Bundespräsident von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes 1985. Diese Wortmeldung des Staatsoberhauptes stellte einen wichtigen Beitrag in der kontroversen Auseinanderset- 8.3.4 Viel beachtete öffentliche-Auftritte Macht des Wortes <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 191 191 Die Rolle der Bundespräsidenten zung um die historische Einordnung dieses Tages dar. Große Aufmerksamkeit hat auch die so genannte »Ruck«-Rede von Bundespräsident Herzog aus dem Jahr 1997 erhalten, in der er eine gesellschaftliche und politische Reformanstrengung anmahnte. Johannes Rau hat mit seiner Rede zur Integration im Jahre 2000 Schlagzeilen gemacht, ebenso wie Christian Wulff 2010 mit seiner Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland. Bundespräsident Joachim Gauck regte 2014 mit einer Rede zur deutschen Außenpolitik eine Debatte über die Rolle Deutschlands in der Welt an. Frank-Walter Steinmeier hat mit seinem Appell an die Staatsverantwortung der Parteien nach der Bundestagswahl 2017 Geschichte geschrieben. Inwieweit von diesen öffentlichen Auftritten ein nachhaltiger Einfluss ausgeht, ist schwer zu ermitteln. Aber die Präsidenten haben die Möglichkeit, Themen zu setzen und zu pointieren. Ihr Wort wird wahrgenommen - und dies umso mehr, je (partei-)politischer sie argumentieren. Insbesondere wenn sie sich zu kontroversen tagesaktuellen Fragen äußern, kommt ihren Worten große Aufmerksamkeit zu. Denn dann bedienen sie eine Nachfrage in der »Mediengesellschaft«. Wie bereits thematisiert, kommt der Presse, dem Rundfunk und dem Internet eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Politik zu (→ Kapitel 4) . Darauf haben auch die Bundespräsidenten reagiert: Ihre Öffentlichkeits- und Pressearbeit hat sich den Vermittlungsbedingungen einer massenmedial und online-geprägten Öffentlichkeit angepasst. Im Bundespräsidialamt sind mehrere Verwaltungseinheiten zuständig für die »Public Relations« der Präsidenten. Diese halten den Kontakt zu Journalist: innen und sorgen für die Verbreitung der Worte des Staatsoberhauptes. Die Digitalisierung und Modernisierung der Öffentlichkeitsarbeit findet ihren Niederschlag in der Website des Bundespräsidenten sowie in den Facebook-, Instagram- und Twitter-Aktivitäten, die das Bundespräsidialamt betreibt. Teil des »going public« der Präsidenten sind nicht nur ihre Worte, sondern auch ihre Taten, das »symbolische Handeln«. Indem sie Preise ausschreiben und vergeben, indem sie ausgesuchte Länder bereisen, indem sie bestimmte Einrichtungen besuchen, Gäste empfangen oder Schirmherrschaften übernehmen, können die Bundespräsidenten symbolisch Schwerpunkte setzen und die öffentliche Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen lenken. Wie in solchen Positionen üblich, nimmt auch der Ehe- oder Lebenspartner des Amtsinhabers eine repräsentative Funktion wahr. Die »Präsidentenpartnerinnen« setzen ihre eigenen Marken, indem sie ausgewählte Patenschaften - in der Regel für karitative Initiativen - übernehmen und zu ausgesuchten Anlässen Reden halten. Auf der Website des Bundespräsidenten werden die Aktivitäten der »First Lady« ausführlich dokumentiert. Modernisierung der Präsidial-PR »First Ladies« <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 192 192 Die unpräsidiale Demokratie »Do persons matter? «-- Chancen und Grenzen des-Amtes Ein »Amt« ist ein Rahmen, der von unterschiedlichen Personen unterschiedlich ausgefüllt werden kann. Die konkrete Amtsausübung hängt somit auch davon ab, wer die Position bekleidet. Daraus leiten sich die jeweilige Autorität und damit die Möglichkeit zu gestalten und zu beeinflussen ab. Was spielt dabei eine Rolle? Zum einen die Frage, welche Funktionen der Amtsinhaber vorher hatte, welche Reputation er mit ins »Schloss« bringt, in welcher Beziehung er zur parlamentarischen Mehrheit, zur Regierung und ihrem Chef oder ihrer Chefin steht. Schließlich wirken Persönlichkeitsfaktoren maßgeblich auf die Amtsausübung. Die Amtsinhaber können sich innerhalb des gesetzten Rahmens bewegen und dabei einen eigenen Stil entwickeln. Sie können aber auch den Rahmen sprengen oder sich auf Grenzlinien bewegen. Einige Bundespräsidenten haben die Grenzen mehr als ausgetestet. Beispielsweise ist die Amtsausübung des Bundespräsidenten Horst Köhler in die Diskussion gekommen, als er vor der Bundestagswahl 2005 sehr deutlich Position für eine wirtschaftsorientierte Reformpolitik bezog oder sich 2006 zu Fragen des Sozialversicherungssystems äußerte und sich dabei den Standpunkt seiner (früheren) Partei zu eigen machte. Es ist umstritten, ob sich der Bundespräsident derart in das politische Tagesgeschäft oder in den Parteienstreit einmischen darf. Einerseits ist es das Recht des Staatsoberhauptes, sich zu gesellschaftlichen Themen frei zu äußern. Andererseits muss der Amtsinhaber berücksichtigen, was dies für die Reputation des Amtes bedeuten kann. Der Eindruck der Überparteilichkeit trägt zu dessen »auctoritas« bei. Die Integrationskraft nimmt Schaden, wenn sich der Amtsinhaber zum Spielball in der parteipolitischen Auseinandersetzung machen lässt. Dann droht auch die parteipolitische Herkunft des Amtsträgers wieder in den Blickpunkt zu rücken. Da fast alle Bundespräsidenten eine klare Parteizuordnung hatten und haben, wird gerade die politische Gegenseite das Handeln der Präsidenten genau auf seine Überparteilichkeit hin überprüfen. In ihrer Amtsführung bewegen sich die Präsidenten deswegen stets unter Beobachtung, gelegentlich wird auch Kritik geäußert. Solche Kritik hat Horst Köhler 2010 zum Rücktritt veranlasst, wobei diese Reaktion selbst wiederum als überzogen kritisiert worden ist. Den bisherigen Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung mit einem Bundespräsidenten stellte die Affäre rund um Christian Wulff dar, die zu dessen Rücktritt 2012 führte. Als der Präsident seine Autorität (auch selbstverschuldet) verloren hatte, wurde er Zielscheibe mitunter heftigster Kritik seitens der Medien und der Parteien. Sogar das Amt selbst drohte Schaden zu nehmen. Generell ist es jedoch verbreiteter Konsens in der Bundesrepublik, die Person und das Amt des Bundespräsidenten aus 8.4 Parteilichkeit beschädigt Reputation des Amtes Kritik an Bundespräsidenten <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 193 193 Literatur dem parteipolitischen Streit herauszuhalten. Dieser Konsens sollte allerdings nicht von den Amtsinhabern selbst herausgefordert werden. In der Gesamtschau haben nahezu alle Bundespräsidenten zu dem generell guten Ruf dieses Verfassungsorgans beigetragen. Durch ihre Amtsführung ist es ihnen weitestgehend gelungen, breite Akzeptanz in den Eliten, aber vor allem in der Bevölkerung zu finden. Dem Amt des Staatsoberhauptes gegenüber wird zumeist ein hohes Vertrauen ausgesprochen. Die Institution Bundespräsident/ in gehört zu den vergleichsweise unkontroversen Komponenten der bundesdeutschen Demokratie. Damit trägt sie zur Stabilität der Bundesrepublik bei. Ähnliches kann man über die Einrichtung sagen, die im folgenden Kapitel im Mittelpunkt steht: das Bundesverfassungsgericht. 1 Was sind die zentralen Unterschiede zwischen der Stellung der Reichspräsidenten in der Weimarer Reichsverfassung und der Stellung der Bundespräsidenten im Grundgesetz? 2 Was haben die bislang erfolgreichen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten gemeinsam? 3 Welche Prüfungskompetenzen hat der/ die Bundespräsident/ in bei der Ausfertigung von Gesetzen? 4 In welchen Situationen können Bundespräsidenten auf ihre »Reservemacht« zurückgreifen? 5 Ist in Deutschland eine präsidiale Herrschaft unter Umgehung des Parlaments denkbar? 6 Was meint Theodor Eschenburg, wenn er von der »auctoritas« der Präsidenten spricht? Literatur Mehrere Standardwerke behandeln die Rolle von Präsidenten im Vergleich der Systeme. Die Zwischenform des »semi-präsidentiellen« Systems sowie die Realität präsidentieller Herrschaft werden in zwei Werken von Maurice Duverger thematisiert: Maurice Duverger: A New Political System Model: Semi- Presidential Government, in: European Journal of Political Research, 8. Jg. (1980), S. 165-187; Maurice Duverger: Le système politique français, Paris, Presses Universitaires de France 1985 . Ein weiteres Standardwerk, das sich systemvergleichend und grundlegend mit der Beziehung zwischen Präsidenten und Versammlungen (Parlamenten) auseinandersetzt, ist: Matthew S. Shugart/ John M. Carey: Presidents and Assemblies. Constitutional Design and Electoral Hohe Vertrauenswerte für die Bundespräsidenten Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 194 194 Die unpräsidiale Demokratie Dynamics, Cambridge, Cambridge University Press 1992 . Ebenfalls vergleichend (allerdings mit weniger Fällen) geht die Publikation Jürgen Hartmann/ Udo Kempf: Staatsoberhäupter in der Demokratie, Wiesbaden, VS Verlag 2011 , vor. Zur Rolle des Bundespräsidenten und den »Missverständnissen« rund um dieses Amt siehe: Robert Chr. van Ooyen: Das Amt des Bundespräsidenten. Fehldeutungen im parlamentarischen Regierungssystem, Wiesbaden, Springer VS 2015 . In einem »Essay« beschäftigt sich Karl-Rudolf Korte systematisch und kompetent mit dem bundesdeutschen Staatsoberhaupt: Karl-Rudolf Korte: Gesichter der Macht. Über die Gestaltungspotenziale der Bundespräsidenten. Ein Essay, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2019. Die Amtszeiten und Amtsführung verschiedener Präsidenten werden in zwei Büchern illustriert: Eberhard Jäckel/ Horst Möller/ Hermann Rudolph (Hg.): Von Heuss bis Herzog - die Bundespräsidenten im politischen System der Bundesrepublik, Stuttgart, DVA 2002; Günther Scholz/ Martin E. Süskind: Die Bundespräsidenten. Von Theodor Heuss bis Horst Köhler, Stuttgart, DVA 2004. Ein wenig aktueller ist ein Sammelband, der neben generellen Beiträgen zur Rolle des Bundespräsidenten die Amtsträger bis 2010 in den Blick nimmt: Robert Chr. van Ooyen/ Martin H. W. Möllers (Hg.): Der Bundespräsident im politischen System, Wiesbaden, Springer VS 2012. Lesenswert ist schließlich der Grundgesetzkommentar des ehemaligen Bundespräsidenten Herzog zur verfassungsrechtlichen und -politischen Rolle des Staatsoberhauptes: Roman Herzog: Kommentar zu Art. 54-61, in: Dürig/ Herzog/ Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, München, Beck, Loseblattsammlung . Links www.bundespraesident.de Die Homepage des Bundespräsidenten und des Bundespräsidialamtes bietet Informationen über den amtierenden Präsidenten einschließlich einer Dokumentation seiner öffentlichen Reden. Zudem wird generell über das Amt und seine bisherigen Inhaber informiert. www.bundestag.de/ bundesversammlung Auf dieser Unterseite des Bundestagswebangebots finden sich umfassende Dokumentationen aller bisherigen Bundesversammlungen. www.gesetze-im-internet.de/ bpr_swahlg/ Unter dieser Adresse findet man den Wortlaut des »Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung«, das die Zusammensetzung und das Verfahren der Bundesversammlung im Detail regelt. <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 195 195 Die gehütete Demokratie - die-politische Macht des Bundesverfassungsgerichts Die Judikative, die rechtsprechende Gewalt, gehört zu den Elementarteilen eines politischen Systems. Und dennoch werden Gerichte und Richter: innen gelegentlich ausgeblendet oder zumindest unterbelichtet, wenn Regierungssysteme dargestellt werden. Womöglich hängt dies damit zusammen, dass das eigentliche »Politische« ohne die Beteiligung von Richter: innen stattzufinden scheint. Schaut man nur auf die Produktion von Gesetzen oder Verordnungen und zieht als Grenze das Inkrafttreten einer Entscheidung, dann sind die Gerichte - oberflächlich betrachtet - keine Mitspieler. Aber mit der Verabschiedung eines Gesetzes oder dem Erlass einer Verordnung sowie deren Inkrafttreten ist der politische Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Vielmehr kann eine bereits verabschiedete Norm noch vor Gericht zu Fall gebracht werden. Richter: innen urteilen, und damit »entscheiden« sie. Letztlich ist jede Form von Rechtsprechung stets auch kreatives Mitgestalten innerhalb von Spielräumen. Die Rechtsprechung setzt Recht, indem sie Unkonkretes konkretisiert oder Rechtsgüter miteinander abwägt. Zudem können Gerichte - auch ohne formal eingebunden zu sein - bereits in den frühen Phasen der Entscheidungsfindung faktisch beteiligt sein. Kurzum: Richter: innen sind politische Akteure; sie können erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Das bundesdeutsche Gerichtswesen ist in verschiedene Fachgerichtsbarkeiten ausdifferenziert. Auf der Bundesebene sind die Obersten Gerichtshöfe angesiedelt, deren Mitglieder von dem jeweils zuständigen Bundesministerium gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss bestellt werden (Art. 95 GG). Dieser Richterwahlausschuss besteht zu gleichen Teilen aus den jeweils ressortkompetenten Landesminister: innen und Mitgliedern des Bundestages. Eine besondere Stellung nimmt das Bundesverfassungsgericht ein, auf das im Weiteren vertieft eingegangen wird. Im vorigen Kapitel ist bereits angesprochen worden, dass die Rolle eines »Hüters der Verfassung« weniger den Bundespräsidenten als dem Bundesverfassungsgericht zukommt. Dies ist von der Anlage des Grundgesetzes her durchaus gewollt. Das Bundesverfassungsgericht wird ausdrücklich und ausführlich in der Verfassung 9 Inhalt <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 196 196 Die gehütete Demokratie erwähnt. Es ist eines der fünf Staatsorgane. Seine Gründung erfolgte 1951, also kurz nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes. Im internationalen Vergleich hat das Bundesverfassungsgericht weitreichende Möglichkeiten, die Grundsätze der Verfassung zu schützen und dadurch den politischen Prozess letzten Endes mitzugestalten. Wenn man, wie in diesem Kapitel, einen Blick auf das Bundesverfassungsgericht wirft, dann muss es also um dessen »politische« Bedeutung gehen, auch um die parteipolitische. Denn sein Einfluss lässt das Gericht zum »Player« in einem Machtspiel werden, an dem insbesondere die Parteien beteiligt sind. Die politischen Facetten des Gerichts gilt es zunächst entlang der Frage auszuloten, wie die Richter: innen gewählt werden. Welches Verfahren kommt zur Anwendung und mit welchem Ergebnis? Im Anschluss stehen die Organisation und die Zuständigkeiten des Verfassungsorgans im Mittelpunkt. Der dritte und vierte Abschnitt diskutieren die politische Rolle des Gerichts: Wann und wie können die Richter: innen den politischen Prozess mitgestalten? Es schließt sich die Frage an, ob das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungswirklichkeit zu einem »Ersatzgesetzgeber« geworden ist. Nach dieser kritischen Diskussion geht es am Ende nochmals um einen nicht zu unterschätzenden Beitrag des Gerichts: dass es durch seine Existenz und Reputation zur Stabilität der deutschen Demokratie beiträgt. 9.1 Die Wahl der Bundesverfassungsrichter: innen: Verfahren und Ergebnisse 9.2 Organisation und Verfahrensarten 9.3 Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur 9.4 Das Bundesverfassungsgericht als »Ersatzgesetzgeber«? 9.5 Das Bundesverfassungsgericht und seine Integrationsfunktion Die Wahl der Bundesverfassungsrichter: innen: Verfahren-und-Ergebnisse Die Mitglieder des höchsten Gerichts fallen nicht vom Himmel. Wer als Richter/ in in das Bundesverfassungsgericht gelangt, darüber entscheiden (partei-)politische Akteure. Das Grundgesetz regelt: »Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt« (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG). 9.1 <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 197 197 Die Wahl der Bundesverfassungsrichter: innen: Verfahren-und-Ergebnisse Der Bundesrat wählt »seine« Richter: innen in unmittelbarer Wahl. Das Plenum stimmt über einen entsprechenden Vorschlag ab. Im Bundestag entwickelt der so genannte Wahlausschuss, dem zwölf Abgeordnete angehören, einen Vorschlag. Über diesen stimmt die Plenarversammlung aller Abgeordneten in geheimer Wahl ab. Der Vorschlag ist angenommen, wenn ihm mindestens zwei Drittel der abgegebenen Stimmen und mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages zustimmen. Das so konkretisierte Wahlverfahren bedeutet zunächst einmal, dass zwei Staatsorgane (Bundestag und Bundesrat) über die Zusammensetzung eines weiteren (Bundesverfassungsgericht) entscheiden können. Sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat sitzen Personen mit machtpolitischen und mitunter konträren Interessen. Die Arbeit in beiden Körperschaften, insbesondere im Bundestag, wird geprägt von parteipolitischer Auseinandersetzung und Mehrheitsfindung (→ Kapitel 6) . Kann somit eine einfache Partei(en)mehrheit über die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts bestimmen? Wird die Wahl zwangsläufig zum Spielball der Parteipolitik? So ist es nicht: Zum einen wird durch die Beteiligung der Ländervertretung die Abhängigkeit von der konkreten parlamentarischen Mehrheit relativiert. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Bundesrat die Parteien dominieren, die im Bundestag in der Opposition sind. Zum anderen reicht eine einfache Mehrheit der Stimmen nicht aus. Wer Verfassungsrichter/ in werden will, benötigt zwei Drittel der Stimmen im Bundestag oder im Bundesrat. Dieses Zwei-Drittel-Erfordernis führt indes nicht dazu, dass nur überparteiliche Konsenskandidat: innen eine Chance hätten. Die Konsequenz der Zwei-Drittel-Hürde ist vielmehr, dass die etablierten Parteien das Nominierungsvorrecht unter sich aufgeteilt hatten. Jeder Richterstuhl ist einer Partei zugeordnet worden. Wenn also ein »CDU-Platz« vakant geworden ist, haben die Vertreter der CDU im Bundestag oder im Bundesrat das Privileg, einen Wahl der Verfassungsrichter: innen durch Bundesrat und Bundestag Wahl zum BVerfG und-Parteipolitik Parteien »verteilen« Verfassungsrichterposten unter sich Erster Senat Zweiter Senat Vizepräsident/ in Vorsitzende/ r eines Senats Präsident/ in Vorsitzende/ r eines Senats Bundestag Bundesrat wählt die Hälfte der Richter: innen beider Senate wählt die Hälfte der Richter: innen beider Senate Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts Abb. 23 <?page no="198"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 198 198 Die gehütete Demokratie Kandidaten oder eine Kandidatin zu nominieren. Entsprechend sieht das Verfahren für die »SPD-Richter: innen« aus. Über lange Zeit hatten die beiden großen Parteien die Verfassungsgerichtsposten hälftig unter sich aufgeteilt. Aufgrund von Koalitionsvereinbarungen ist später auch der FDP und Bündnis 90/ Grüne das Nominierungsrecht für einzelne Sitze zugestanden worden. Andere Parteien sind bislang (noch) nicht am Verteilungssystem beteiligt gewesen. Angesichts der schwindenden Stimmenanteile der großen Parteien im Bundestag und der vielen bunten Koalitionen auf Landesebene ist der Ruf der »kleinen Parteien« nach Berücksichtigung lauter geworden. Da das Bundesverfassungsgericht für den politischen Prozess so wichtig werden kann, sind die Parteien daran interessiert, Richter: innen zu ernennen, deren Rechtsprechung, soweit dies absehbar ist, den Grundsätzen der nominierenden Partei entsprechen wird. Das führt zunächst dazu, dass die Richterkandidaten in der Regel eine deutliche parteipolitische Zuordnung haben, zum Beispiel Mitglied in der nominierenden Partei sind oder sich in wichtigen Fragen im Sinne der ausschlaggebenden Partei aufgestellt haben. Es gibt allerdings Einschränkungen, was die Nominierungsfreiheit der Parteien betrifft. Die erste ist rein formal: Die Vorgeschlagenen müssen über die Befähigung zum Richteramt verfügen oder eine Professur für Rechtswissenschaft an einer deutschen Universität inne haben. Zudem dürfen sie nicht jünger als 40 Jahre alt sein und nach ihrer Ernennung weder dem Bundestag noch dem Bundesrat angehören. Eine andere Einschränkung besteht darin, dass in jedem Senat drei ehemalige Richter: innen von Obersten Bundesgerichten vertreten sein sollen. Auf Grund der Zwei-Drittel-Erfordernis können andere Parteien blockieren, wenn es sich aus ihrer Sicht um eine fragwürdige Nominierung handelt. So sind bereits mehrmals Vorschläge zurückgewiesen worden. Beispielsweise wollte in den 1990er Jahren die SPD-Bundestagsfraktion Herta Däubler-Gmelin, die spätere Bundesjustizministerin, in das Bundesverfassungsgericht berufen. Die CDU-Fraktion legte jedoch ihr Veto ein, da die Kandidatin ihrer Wahrnehmung nach zu »parteipolitisch« war. Ebenso scheiterte 2008 der Versuch, den Rechtsprofessor Horst Dreier auf dem SPD-Ticket in das Gericht zu wählen. Angesichts inhaltlicher Einwände von CDU/ CSU wurde seine Nominierung zurückgezogen. Schließlich werden in dem Verfahren auch die amtierenden Bundesverfassungsrichter: innen gehört: Sie können eine Stellungnahme zur Kandidatenliste abgeben. Wenngleich die Stellungnahme der potenziellen Kollegenschaft nicht verbindlich ist, kann sie den anderen Parteien argumentative Munition liefern, um eine Nominierung zu blockieren oder zumindest öffentlich zu kritisieren. Einmal im Amt, sorgen zwei Regelungen dafür, dass die Verfassungsrichter unabhängig von den Wahlorganen und unabhängig von der Partei, die Grenzen des Parteieinflusses Unabhängigkeit der Richter: innen <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 199 199 Die Wahl der Bundesverfassungsrichter: innen: Verfahren-und-Ergebnisse sie vorgeschlagen hat, entscheiden können: Eine Wiederwahl von amtierenden Senatsmitgliedern ist seit 1971 ausgeschlossen. Das heißt, die Richter: innen müssen sich nicht mit ihren Entscheidungen bei einer Partei »beliebt machen«, um wieder aufgestellt zu werden. Außerdem dauert die Amtszeit beachtliche zwölf Jahre. Die definitive Altershöchstgrenze liegt bei 68 Jahren. In der Regel schließt sich an die Amtszeit als Bundesverfassungsrichter/ in keine weitere parteipolitisch geprägte Laufbahn mehr an. Es mag Ausnahmen geben - wie zum Beispiel Roman Herzog, der später Kandidat der CDU/ CSU-Fraktion für das Bundespräsidentenamt wurde und dieses auch für eine Amtszeit übernahm. Üblicherweise ist aber die Position am Bundesverfassungsgericht der Endpunkt einer Karriere. Vor diesem Hintergrund bringt ein Andienen an die eine oder andere Partei während der Amtszeit keine persönlichen Vorteile, sondern wirkt sich eher schädlich auf die eigene fachliche Reputation aus. Die Unabhängigkeit der Richter: innen zeigt sich am deutlichsten in ihren Entscheidungen. Es ist immer wieder beobachtet worden, dass die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts auch im Widerspruch zu ihrer parteipolitischen Herkunft votiert haben. Die Möglichkeit der Parteien, über das Richterwahlverfahren auf die Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts Einfluss zu nehmen, ist somit vorhanden, aber schwer berechenbar. Begrenzte Einflussmöglichkeiten der Parteien Präsident/ in des Bundesverfassungsgerichts Amtszeit Parteimitgliedschaft, politische Tätigkeit (u.a.) Hermann Höpker-Aschoff 1951-1954 FDP-Mitglied, 1949-1951 MdB Josef Wintrich 1954-1958 CSU-Mitglied Gebhard Müller 1958-1971 CDU-Mitglied, 1953 MdB, 1953-1958 Ministerpräsident in Baden-Württemberg Ernst Benda 1971-1983 CDU-Mitglied, 1957-1971 MdB, 1968-1969 Bundesinnenminister Wolfgang Zeidler 1983-1987 SPD-Mitglied Roman Herzog 1987-1994 CDU-Mitglied, 1978-1980 Minister für Kultur und-Sport in Baden-Württemberg, 1980-1983 Innenminister in Baden- Württemberg Jutta Limbach 1994-2002 SPD-Mitglied, 1989-1994 Justizsenatorin in-Berlin Hans-Jürgen Papier 2002-2010 CSU-Mitglied Andreas Voßkuhle 2010-2020 parteilos Stephan Harbarth seit 2020 CDU-Mitglied, 2009-2018 MdB, 2016-2018 stellv. Vorsitzender der CDU/ CSU-Fraktion Tab. 17 Präsident: innen des Verfassungsgerichts seit 1951 <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 200 200 Die gehütete Demokratie Organisation und Verfahrensarten Um die Organisation und die Verfahren beim Bundesverfassungsgericht zu regeln, ist 1951 ein eigenes Gesetz verabschiedet worden, das »Bundesverfassungsgerichtsgesetz« (BVerfGG). Es konkretisiert die Punkte, die vom Grundgesetz offen gelassen worden sind. Im BVerfGG findet sich beispielsweise die rechtliche Grundlage für die Arbeit des Wahlausschusses des Bundestages. Zudem legt es die genauen Arbeitsweisen und die Struktur des Gerichts fest. Aufbau des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richter: innen (bis 1963: 12 Mitglieder pro Senat). Der/ die Vorsitzende eines Senats ist zugleich Präsident/ in des Bundesverfassungsgerichts, der/ die Vorsitzende des anderen fungiert als Vizepräsident/ in des Gerichts. Die Senate gehen arbeitsteilig vor und teilen die Verfahren nach inhaltlichen Kriterien auf. Der erste Senat konnte früher als »Grundrechtssenat« bezeichnet werden. Er hat sich insbesondere mit der Auslegung der Artikel 1 bis 17 GG beschäftigt. Der zweite Senat wurde als »Staatsrechtssenat« eingestuft, der u. a. bei Streitigkeiten zwischen den Verfassungsorganen und in den Parteiverbotsverfahren zu entscheiden hatte. Diese rigide Einteilung ist in den vergangenen Jahren einem flexibleren Vorgehen gewichen, das die Expertiseschwerpunkte der einzelnen Richter: innen quer zur Senatsstruktur berücksichtigt. Üblicherweise liegt die Bearbeitung einer Klage in den Händen eines einzelnen Senatsmitglied, das den anderen Bericht erstattet. Die endgültige Entscheidung wird von allen Mitgliedern eines Senats mit Mehrheitsbeschluss gefällt. Stimmen Richter: innen nicht mit der Beurteilung der Mehrheit überein, können sie ihre Argumente in den »abweichenden Meinungen« darlegen, die den Entscheidungen seit 1971 angehängt werden. In den Senaten sind zur Arbeitsentlastung »Kammern« eingerichtet worden, die aus je drei Richter: innen bestehen. Diese Untereinheiten haben die Aufgabe, anstelle der Senate Entscheidungen bei Verfassungsbeschwerden oder konkreten Normenkontrollverfahren zu fällen. Schließlich stehen den Bundesverfassungsrichter: innen eine Verwaltung und Mitarbeiterstäbe zur Seite, die wie die beiden Senate ihren Sitz im Gerichtsgebäude am Schloss in Karlsruhe haben. Den wissenschaftlichen Mitarbeitenden der Richter: innen kommt bei der Entscheidungsvorbereitung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. 9.2 9.2.1 Zwei Senate Entscheidungsfindung per Mehrheitsbeschluss <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 201 201 Organisation und Verfahrensarten Zuständigkeiten Die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts sind beschränkt auf die Aufgaben, die ihm vom Grundgesetz oder im Detail vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz zugewiesen worden sind. Die Zuständigkeiten schlagen sich in verschiedenen Verfahrensarten nieder. Diese unterscheiden sich zum einen in der Natur des Gegenstands, über den eine Entscheidung herbeigeführt werden soll, zum anderen darin, wer berechtigt ist, das Verfahren anzustrengen. Die Verfahren variieren überdies noch in der Anzahl, in der sie beim Bundesverfassungsgericht einlaufen. Die Statistik des Gerichts verdeutlicht: Die häufigste Verfahrensart stellt die Verfassungsbeschwerde dar. Jede Person, die sich durch das staatliche Handeln in ihren vom Grundgesetz geschützten Rechten verletzt sieht, kann eine Verfassungsbeschwerde einreichen. Voraussetzung für die Zulässigkeit ist, dass der Rechtsweg bereits vollständig 9.2.2 Verfassungsbeschwerde als häufigste Verfahrensart Verfahrensart Antragsberechtigte Gegenstand des Verfahrens Verfassungsbeschwerde »jedermann« Verletzung von Grundrechten durch die-öffentliche Gewalt Konkrete Normenkontrolle jedes Gericht Vereinbarkeit förmlicher Gesetze mit dem Grundgesetz Abstrakte Normenkontrolle ● Bundesregierung ● Landesregierung ● Bundestag (1/ 4 der Mitglieder) Vereinbarkeit von Bundesrecht und Landesrecht mit dem ● Grundgesetz ● sonstigem Bundesrecht Organstreitigkeit ● Bundespräsident ● Bundestag ● Bundesrat ● Bundesregierung ● Teile dieser Organe ● Parteien Kompetenzverletzung oder Gefährdung durch ● Maßnahmen ● Unterlassung Bund-Länder- Streitigkeit ● Bundesregierung ● Landesregierung Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder (insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht) Parteiverbot ● Bundestag ● Bundesrat ● Bundesregierung ● ggf. Landesregierung Verfassungswidrigkeit einer Partei Verwirkung von Grundrechten ● Bundestag ● Bundesregierung ● Landesregierung Individuen, die Freiheitsrechte zum Kampf gegen die Freiheitlich-demokratische Grundordnung missbrauchen Tab. 18 Zentrale Verfahrensarten beim Bundesverfassungsgericht <?page no="202"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 202 202 Die gehütete Demokratie ausgeschöpft wurde, also die ordentliche oder Fachgerichtsbarkeit dem Klageführer nicht recht gegeben hat. Ein Großteil der eingereichten Verfassungsbeschwerden wird als nicht-zulässig abgewiesen und ein nur sehr geringer Teil ist erfolgreich - bis Ende 2020 bloße 2,3 Prozent. Die zweithäufigste Verfahrensart ist die Normenkontrolle: Hierbei wird ein bereits verabschiedetes Gesetz oder sonstiger Rechtsakt auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft, also eine geltende »Norm« kontrolliert. Zu unterscheiden ist zwischen der konkreten und der abstrakten Normenkontrolle; die Spezifizierung hängt davon ab, wer aus welcher Situation heraus den Antrag auf verfassungsrechtliche Überprüfung stellt: (1) Bei der »konkreten« Variante leitet ein ordentliches oder ein Fachgericht die Normenkontrolle ein, wenn es in einem bei ihm anhängigen Verfahren auf die Unvereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung meint gestoßen zu sein. (2) Bei der »abstrakten« Variante kann das Verfahren entweder auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder auf Antrag von mindestens einem Viertel der Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein- Konkrete und abstrakte Normenkontrolle Anhängig insgesamt: 249.023 davon: 240.251 96,48 % Verfassungsbeschwerden, 3.919 1,57 % abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren, 10 0,01 % Parteiverbotsverfahren, 4.818 1,93 % andere Verfahren, z. B. Bund-, Länder- Streitigkeiten, Organ- und andere Verfassungsstreitigkeiten in Bund und Ländern, 25 0,01 % frühere Verfahren, die bis 1960 geführt wurden Erledigt insgesamt: 245.809 237.223 96,51 % Verfassungsbeschwerden; davon 5.372 erfolgreich = 2,3 % 3.812 1,55 % abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren, 9 0,01 % Parteiverbotsverfahren, 4.740 1,92 % andere Verfahren, 25 0,01 % frühere Verfahren, die bis 1960 geführt wurden Noch anhängig: 3.214 davon: 3.028 94,21 % Verfassungsbeschwerden, 107 3,33 % abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren, 1 0,03 % Parteiverbotsverfahren/ Ausschluss staatlicher Finanzierungen 78 2,43 % andere Verfahren Tab. 19 Verfahrensstatistik des Bundesverfassungsgerichts (7. September 1951 bis 31. Dezember 2020) Quelle: www. bundesver fassungsgericht.de <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 203 203 Organisation und Verfahrensarten geleitet werden - also auch von der Opposition, vorausgesetzt sie umfasst so viele MdBs. Bei einem Organstreit, einer weiteren Verfahrensart, geht es - wie der Name schon sagt - um die Beilegung eines Konflikts zwischen zwei Staatsorganen respektive Teilen von ihnen. Auch den Parteien wird die Eigenschaft eines »Organs« zugesprochen. Somit sind diese gleichermaßen klageberechtigt. Bei den Streitigkeiten handelt es sich in der Regel um die unterstellte Beschneidung von Kompetenzen des klagenden Organs durch ein weiteres. Sollte es zu einer Anklage gegen den/ die Bundespräsidenten/ in kommen - was bislang nie der Fall war -, müsste ebenfalls das Bundesverfassungsgericht entscheiden (→ Kapitel 8) . In einem Bundesstaat wie Deutschland sind zudem Konflikte zwischen den Interessen der Bundes- und der Länderebene denkbar, vertreten durch die jeweiligen Regierungen. Dabei kann es sich beispielsweise um Streitfälle handeln, die bei der Anwendung von Bundesrecht durch die Länder entstehen. Auch in diesem Fall übernimmt das Verfassungsgericht die Schiedsrichterrolle. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei Parteiverbotsverfahren ist im Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes festgelegt. Diese Antragsart spielt mengenmäßig keine bedeutsame Rolle, weist aber eine besondere Brisanz auf (→ Kapitel 5) . Wie das Parteiverbotsverfahren ist auch das Verfahren nach Artikel 18 GG (Verwirkung von Grundrechten) ein Instrument der wehrhaften Demokratie. Antragsberechtigt sind hierbei Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Bisher hat es lediglich vier Anträge nach Artikel 18 GG gegeben, die alle abgewiesen wurden. Art. 18 GG Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Schließlich fungiert das Bundesverfassungsgericht noch als zweite Instanz bei Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl. Die erste Instanz bildet der Bundestag selbst mit seinem Wahlprüfungsausschuss. Einsprüche Organstreit und Bund-Länder- Streitigkeiten Wortlaut ▼ ▲ <?page no="204"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 204 204 Die gehütete Demokratie gegen die Wahl, die das Parlament zurückgewiesen hat, können dem Verfassungsgericht zur abschließenden Entscheidung vorgelegt werden. Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur Das Zuständigkeitsprofil veranschaulicht: Das Bundesverfassungsgericht kann tief in den politischen Prozess, in die Auseinandersetzung zwischen parteipolitischen Akteuren eingreifen und zugunsten der einen oder anderen Seite entscheiden. In solchen Fällen wird das Gericht unvermeidlich selbst zu einem »Akteur« - allerdings immer mit der gewichtigen Einschränkung, dass es nie auf eigene Initiative hin aktiv werden kann, sondern darauf warten muss, von einem Antragsberechtigten angerufen zu werden. Das Bundesverfassungsgericht kann also nicht aus sich selbst heraus politische Streitfragen thematisieren oder Entscheidungen blockieren, sondern es gilt: »Wo kein Kläger, da kein Richter«. Bei all seinen Entscheidungen ist das Bundesverfassungsgericht die »letzte Instanz«. Seine Beschlüsse können keiner weiteren Überprüfung unterzogen werden. Dennoch nimmt das Gericht keine absolute Machtstellung ein, denn sein Einfluss beruht auf Gesetzen, die wiederum von anderen Akteuren gestaltet werden können. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist ein solches veränderbares Fundament. Auch die Regelungen im Grundgesetz, die die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts betreffen, könnten mit einer entsprechenden Mehrheit verändert werden. Zudem stehen dem Bundesverfassungsgericht mit dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einigen Hinsichten übergeordnete Instanzen gegenüber (→ Kapitel 11) . Parteipolitisch brisante Verfahren Das Entscheidungshandeln des Bundesverfassungsgerichts kann sich nachhaltig in drei Dimensionen des Politischen niederschlagen: im Verfassungsrahmen, im politischen Prozess und in den Inhalten: (1) Als Hüterin der Verfassung hat das Gericht die Substanz des Grundgesetzes zu bewahren und wo erforderlich weiterzuentwickeln (s. u.). (2) Das Bundesverfassungsgericht kann mitentscheiden, wer mit welcher Macht wann im politischen Prozess mitwirkt und nach welchen Spielregeln die Entscheidungsfindung abläuft. Im Fall des Konflikts zwischen politischen Akteuren hat es die Kompetenz, für die eine oder die andere Position zu entscheiden. 9.3 BVerfG kann nicht auf-eigene Initiative hin tätig werden Letzte Instanz ohne absolute Machtstellung 9.3.1 <?page no="205"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 205 205 Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur (3) In einigen Politikfeldern vermag das Bundesverfassungsgericht das materielle Recht weitgehend mitzugestalten, wenn es auf Grundlage einer Verfassungsinterpretation gesetzliche Regelungen verwirft und den Gesetzgeber auffordert, Recht nach Vorgaben des Gerichts zu schaffen. Welche der oben dargestellten Verfahren haben eine besondere machtpolitische Relevanz - vor allem mit Blick auf die Parteienkonkurrenz? Hier sticht zunächst einmal das Parteiverbotsverfahren ins Auge: Das Gericht hat die Möglichkeit, durch ein Verbot oder einen Ausschluss von der staatlichen Finanzierung das vorhandene Parteienspektrum der Bundesrepublik zu verändern. Dies setzt allerdings zunächst voraus, dass die Berechtigten von ihrem Antragsrecht Gebrauch machen. Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass das Gericht nur selten vor diese Entscheidungsfrage gestellt worden ist (→ Kapitel 5) . Von der Idee her gibt es noch ein weiteres Verfahren, dessen parteipolitische Bedeutsamkeit offensichtlich ist: das abstrakte Normenkontrollverfahren. Wie bei der konkreten Normenkontrolle geht es darum, ein Gesetz auf seine Verfassungswidrigkeit hin zu überprüfen. Das Besondere liegt in dem Kreis der Antragsberechtigten: Hierzu gehört neben der Bundes- und einer Landesregierung auch ein Viertel der Abgeordneten des Bundestages. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Opposition (so sie mehr als 25 Prozent der Bundestagsmandate aufbringt) die Chance hat, jedes von der Parlamentsmehrheit verabschiedete Gesetz nach Karlsruhe zu bringen. Gegebenenfalls kann sich die Bundestagsopposition auch einer ihr nahestehenden Landesregierung als Antragstellerin bedienen. Tatsächlich wird einem solchen Normenkontrollverfahren nur ein Bruchteil aller verkündeten Gesetze und Verordnungen unterzogen: So hat es bis Ende 2020 insgesamt nur 185 Normenkontrollen auf Antrag von Verfassungsorganen gegeben, während die konkrete Variante wesentlich häufiger beantragt worden ist. Klaus von Beyme hat - allerdings schon vor geraumer Parteiverbotsverfahren Opposition kann Gesetze-vom BVerfG prüfen lassen BVerfG kassiert nur einen-Bruchteil der beanstandeten Normen Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht bis Ende 2020 Normenkontrolle bis 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 gesamt auf Antrag von Verfassungsorganen 152 1 8 1 1 - 2 - 7 3 3 - 2 - - 3 1 1 185 auf Vorlage von Gerichten 3225 25 26 74 27 33 47 19 35 28 18 41 12 17 29 22 20 36 3.734 Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de Tab. 20 <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 206 206 Die gehütete Demokratie Zeit - in einer Analyse festgestellt, dass es sich bei einem Großteil der von der Opposition nach Karlsruhe getragenen Gesetze um »Schlüsselentscheidungen« handelt. »Kassiert« (d. h. rückgängig gemacht) wurde wiederum nur eine geringe Anzahl der beanstandeten Normen, wie die Gesamtstatistik des Gerichts zeigt. Zeitraum Gesetz/ Verordnung, ganz teilweise Einzelnorm, ganz teilweise insgesamt 1951 bis 1991 Bund 23 15 89 164 291 Länder 12 1 52 63 128 1992 bis 2007 Bund 6 2 65 67 140 Länder 6 1 26 7 40 2008 Bund - - - 8 8 Länder - - 1 6 7 2009 Bund - 2 3 1 6 Länder - - 3 - 3 2010 Bund - - 1 10 11 Länder - - - 2 2 2011 Bund - - 1 4 5 Länder - - - 3 3 2012 Bund - - 7 4 11 Länder - - 1 3 4 2013 Bund - - 1 3 4 Länder - - 4 1 5 2014 Bund - - 5 3 8 Länder - 16 2 3 21 2015 Bund - - 2 - 2 Länder - - 4 3 7 2016 Bund - 1 3 2 6 Länder - - 2 - 2 2017 Bund 1 - - 4 5 Länder - - 2 27 29 2018 Bund - - 2 3 5 Länder - 16 5 1 22 2019 Bund - - 2 2 4 Länder - - 2 3 5 2020 Bund 1 1 3 9 14 Länder - - - 5 5 Ingesamt Bund 31 21 184 284 520 Länder 18 34 104 127 283 Tab. 21 Normen auf Bundes- und Landesebene, die vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurden (Stand: Ende 2020) Quelle: www. bundesver fassungsgericht.de <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 207 207 Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur So ist das Normenkontrollverfahren zwar ein Schwert in den Händen der Opposition, aber eines, mit dem effektiv nur wenig geschlagen wird und das nicht immer so scharf ist, wie es die Antragsteller gerne hätten. Wie das Gericht letzten Endes entscheidet, bleibt schwer abzuschätzen. Damit sind einer Instrumentalisierung des Bundesverfassungsgerichts durch die Opposition Grenzen gezogen. Nichtsdestoweniger kann diese mit dem Gang nach Karlsruhe wirksam drohen (s. u.). Schließlich bieten Verfahren zu individuellen Verfassungsbeschwerden den Richter: innen Gelegenheit, politische Fußspuren zu hinterlassen - insbesondere dann, wenn sich das Gericht aus der Unzahl der Beschwerden die Fälle herausnimmt, in denen es (aus welchen Gründen auch immer) einen besonderen Entscheidungsbedarf erkennt. Die Drohkulisse »Karlsruhe« Lange, bevor es zur Eröffnung eines Verfahrens in Karlsruhe kommt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits seine Wirkungen entfaltet - als Drohkulisse im politischen Prozess. Denn bei der Ausarbeitung einer Verordnung oder bei der Formulierung einer Gesetzesvorlage, bei ihrer Diskussion im Kabinett und im Parlament wird stets ein Thema sein, dass diese Norm nach ihrer Verabschiedung dem Karlsruher Gericht vorgelegt werden könnte. In streitigen Fragen arbeitet gerade die Opposition im frühen Stadium des Gesetzgebungsprozesses gerne mit der Drohung, den Rechtsakt nach seiner Verabschiedung zum Bundesverfassungsgericht zu tragen, um ihn dort prüfen und - das heißt im Sinne der Opposition - kassieren zu lassen. Wie wirkt sich diese Drohkulisse konkret auf den Gang der Gesetzgebung aus? Zunächst wird bei der Formulierung von Gesetzesentwürfen konsequent auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschaut, die sich mit dem Thema befasst hat. Man wird also eine genaue Analyse der vorliegenden Gerichtsentscheidungen vornehmen. Diese Analyse stößt freilich an Grenzen, wenn sich die Zusammensetzung des Gerichts seit der letzten Entscheidung grundlegend geändert hat. Dann ist nicht auszuschließen, dass die Verfassungsrichter: innen eine neue Linie einschlagen werden. Es gibt weitere Wege, Vorlagen »gerichtsfest« zu machen: Dazu dienen mitunter Anhörungen ehemaliger Senatsmitglieder im Parlament (formal und informal). Auch wird auf Signale aus Karlsruhe geachtet; so nimmt man öffentliche Äußerungen von Mitgliedern des Gerichts genauestens zur Kenntnis. Im Zweifelsfalle wird frühzeitig ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das die Verfassungsmäßigkeit einer Initiative bestätigt. Bis 1956 konnten Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident sogar ein Gutachten 9.3.2 Drohung mit »Karlsruhe« Abklärung von Gesetzesvorlagen auf Verfassungsmäßigkeit <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 208 208 Die gehütete Demokratie beim Bundesverfassungsgericht offiziell beantragen - eine Regelung, die schnell wieder abgeschafft wurde, weil unklar war, welche Bindekraft ein solches Gutachten für eine spätere Entscheidung des Gerichts in der Sache haben würde. Schließlich durchlaufen alle Gesetzgebungsvorhaben der Regierung eine Prüfung auf Rechtsförmigkeit im Bundesjustiz- und Bundesinnenministerium, bei der auch die Entscheidungspraxis des Gerichts berücksichtigt wird. Die durchaus verständliche frühzeitige Berücksichtigung eines etwaigen späteren Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ist nicht durchweg unproblematisch. So ist die Fixierung auf eine »gerichtsfeste« Vorlage möglicherweise innovationshemmend; der »vorauseilende Gehorsam« gibt den juristischen Expert: innen eine mächtige Position bei der Politikgestaltung in einer ohnehin schon stark »legalistisch« geprägten politischen Kultur. Anstehende Entscheidungen könnten verzögert werden, weil man auf Urteile in anhängigen Verfahren wartet. Eine drohende Normenkontrolle motiviert wiederum dazu, dass man bei der Suche nach einer adäquaten Problemlösung frühzeitig auch die Opposition einbindet, um zu verhindern, dass diese später den Gang nach Karlsruhe wählt. Dies verstärkt den Konsenscharakter der Politikherstellung in Deutschland (→ Kapitel 12) . Das Bundesverfassungsgericht als »Ersatzgesetzgeber«? Alles in allem kann das Bundesverfassungsgericht erheblichen Einfluss auf die allgemein verbindlichen Entscheidungen und auf den Prozess ihrer Herstellung ausüben. Die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Richter: innen sind beträchtlich, auch wenn das Gericht erst dann seine Tätigkeit aufnimmt, wenn die Normen bereits einen (vorläufig) allgemein verbindlichen Charakter gewonnen haben. Tatsächlich übt das Bundesverfassungsgericht jedoch schon früher Einfluss aus, da - wie angesprochen - die Drohung, Karlsruhe anzurufen, im Prozess der Normensetzung von Anfang an präsent ist. Ob das Bundesverfassungsgericht diese beträchtliche politische Macht verantwortungsvoll gebraucht oder aber missbraucht, darum dreht sich eine kontroverse Diskussion: die Debatte um den »Ersatzgesetzgeber« Bundesverfassungsgericht. »Ersatzgesetzgeber« zu sein klingt nicht unbedingt wie ein Vorwurf, ist aber einer. Andere Formulierungen wie »Richter machen Politik« (so ein Buchtitel aus den siebziger Jahren) oder »Regieren durch Richter« (Manfred G. Schmidt) machen den Punkt vielleicht klarer. Hinter diesen Schlagwörtern steht der Vorwurf, das Verfassungsgericht würde seine genuine Zuständigkeit für die Normen kontrolle in den Bereich der Normen setzung hinein ausweiten und dabei seine Kompetenz überschrei- 9.4 Normensetzung statt Normenkontrolle? <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 209 209 Das Bundesverfassungsgericht als »Ersatzgesetzgeber«? ten. Denn die Normensetzung sei in modernen Demokratien die Aufgabe des direkt gewählten Parlaments, des »Gesetzgebers«. Wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit sich über die Maßen in den Bereich der Normensetzung hinein bewege, grenze sie die Spielräume der demokratisch legitimierten Volksvertretung ein. So trage sie zur »Entparlamentarisierung« der deutschen Demokratie bei (→ Kapitel 6) . Diese Kritik wirft eine grundsätzliche Frage auf. Lässt sich Normenkontrolle klar von der Normensetzung unterscheiden? Selbst in der klassischen Gewaltenteilungslehre von Montesquieu wird die Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative nicht streng durchgehalten. Es gibt gute Argumente, die Trennschärfe in Frage zu stellen. Analytisch prägnant hat dies die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, dargelegt - unter anderem in einer Rede an der Berliner Humboldt-Universität im Jahre 1996. Ihre zentrale These: Rechtsprechung ist immer zugleich Rechtsetzung - und dies sei unvermeidlich. Denn die Natur gerade des Verfassungsrechts (lückenhaft, widersprüchlich, sprachlich uneindeutig, zeitgebunden) mache aus einer Verfassungsentscheidung schnell den Akt einer Rechtsschöpfung, die immer auch eine »politische Dimension« hat. Jutta Limbach zum Thema »Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor« (Berlin 1996, Auszüge) [Weder] ist die Rechtsordnung lückenlos, widerspruchsfrei, sprachlich eindeutig noch gegenüber dem sozialen Wandel erhaben. Das gilt in besonderem Maße für das Verfassungsrecht, das sich durch eine geringe Regelungsdichte auszeichnet und nicht den Anspruch auf Lückenlosigkeit erhebt. Allerdings delegieren nicht nur Generalklauseln, sondern eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen die eigentliche Normsetzung auf den Richter. Sie eröffnen semantische Spielräume, die nicht nur die eine richtige Entscheidung zulassen. Richterliches Entscheiden ist nicht nur Erkenntnis, sondern immer auch Rechtsgewinnung. Der Richter schafft in dem Prozess der Entscheidungsfindung Recht. Rechtsprechung hat insoweit auch eine politische Dimension. Quelle: www.rewi.hu-berlin.de/ de/ lf/ oe/ hfr/ deutsch/ 1996-12.pdf In diesem Sinne hat das Verfassungsgericht bereits in einer seiner ersten Entscheidungen von einem unvermeidlichen »Hinübergreifen der richterlichen Gewalt in die gesetzgeberische Sphäre« gesprochen (BVerfGE 1, 396 (409)) - ohne hierin ein substanzielles Problem zu sehen. Rechtsprechung ist-immer auch Rechtsetzung Wortlaut ▼ ▲ <?page no="210"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 210 210 Die gehütete Demokratie Aber jenseits dieser vielleicht unvermeidlichen normensetzenden Tätigkeit eines Verfassungsgerichts stellt sich die Frage, ob die Richter: innen gelegentlich nicht zu weit in die »gesetzgeberische Sphäre« hinübergreifen. Dann ist kritisch von einem »richterlichen Aktivismus« die Rede, den Klaus von Beyme in seinem Buch »Der Gesetzgeber« an drei Tendenzen deutlich macht: (1) Das Bundesverfassungsgericht habe Verfahren zu Detailfragen zum Anlass genommen, Rechtsgebiete umfassend neu zu regeln. (2) Das Bundesverfassungsgericht habe nicht nur die Verfassungsmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit zum Entscheidungsmaßstab erhoben. Es werde mitunter nicht nur gefragt, ob es sich um ein verfassungsgemäßes, sondern auch ob es sich um ein »gutes« und von der Sache her sinnvolles Gesetz handele. (3) Das Bundesverfassungsgericht habe in so genannten »Appellentscheidungen« den Gesetzgeber in seinen Spielräumen übermäßig eingeengt. Appellentscheidung Bei Appellentscheidungen handelt es sich um Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die das Parlament zu gesetzgeberischem Handeln auffordern. Dem Bundestag wird in der Regel eine Frist gesetzt, innerhalb derer das Parlament die monierten Missstände im Recht beseitigen soll. Das Gericht macht dabei inhaltliche Vorgaben, entlang derer der Gesetzgeber tätig werden soll. Von einem gesetzgeberischen Aktivismus des Bundesverfassungsgerichts kann aber nicht bei jeder Entscheidung und nicht jederzeit gesprochen werden. Vielmehr hängt die Reichweite des »Hinübergreifens« in die gesetzgeberische Sphäre unter anderem davon ab, welche inhaltliche Problematik berührt wird. So ist der Aktivismus des Gerichts in außenpolitischen Fragen tendenziell gering; dies kann man hingegen von familien- und medienpolitischen Verfahren nur bedingt sagen. Es gibt noch eine weitere Facette des richterlichen »Aktivismus«, die kritisch zu sehen ist: nämlich die Bereitschaft der Richter: innen, sich außerhalb der Gerichtsverhandlungen zu politischen Entwicklungen öffentlich zu äußern. Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts beziehen gerne und oft in Medien oder auf Tagungen Positionen zu aktuellen Themen, die zu dem Zeitpunkt nicht unbedingt zur Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht anstehen. Für die politischen Akteure kann dies hilfreich sein. Denn »Richterlicher Aktivismus«? Definition ▼ ▲ Unterschiedlicher Aktivismus des BVerfG Richter: innen in den Medien <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 211 211 Das Bundesverfassungsgericht und seine Integrationsfunktion diese Meinungsäußerungen bieten eine Grundlage, auf der sich abschätzen lässt, wie das Gericht in dem Fall einer Normenkontrolle entscheiden würde. Mit der Rolle des Gerichts in einer parlamentarischen Demokratie ist ein solches Verhalten gleichwohl nur schwer in Einklang zu bringen. Öffentliche Meinungsäußerungen von Verfassungsrichter: innen geraten schnell zu einem inadäquaten Eingreifen in die gesetzgeberische Freiheit des Parlaments zu einem Zeitpunkt, wenn Normen weder verabschiedet noch dem Gericht vorgelegt worden sind. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in der oben erwähnten Entscheidung (BVerfGE 1, 396) gesagt, dass ein Hineinwirken des Gerichts in den Gesetzgebungsprozess noch vor dessen parlamentarischem Ende unziemlich sei. Hier ist also richterliche Zurückhaltung angezeigt, auch um die Autorität des Verfassungsgerichts nicht zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht und seine Integrationsfunktion Das Bundesverfassungsgericht gehört zu den Einrichtungen der Bundesrepublik, die in der Bevölkerung ein vergleichsweise hohes Ansehen genießen. In einer Umfrage von forsa aus dem Dezember 2021 rangierte es bei der Frage, welche Institutionen vertrauenswürdig seien, weit vorne: Rund 73 Prozent der Befragten sprachen dem Verfassungsgericht ein »großes Vertrauen« aus (im Vergleich: Bundesregierung: 56 Prozent, Bundestag: 50 Prozent). Warum »lieben« die Deutschen ihr Verfassungsgericht, warum jedoch nicht ihr Parlament? Zu dieser Frage sind bereits diverse Untersuchungen durchgeführt worden, die zu folgenden Ergebnissen kamen: Das Bundesverfassungsgericht profitiert von der Art seiner Arbeit, die sich nicht in den »Niederungen des Politischen« bewegt. Die allgemeine Zufriedenheit mit dem Rechtsstaat und dem Grundgesetz strahlt auf die Hüterin der Verfassung aus. Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation richtet sich wiederum gegen das Parlament. Es bestehe zudem eine vergleichsweise hohe Unkenntnis über die Arbeit des Gerichts, was dem Ansehen dieses Staatsorgans offensichtlich nicht schadet. In dem Zusammenhang ist zu fragen, inwieweit das medienvermittelte Erscheinungsbild einer Institution auf ihr Image wirkt. So fällt die Berichterstattung über das Parlament konfliktorientierter aus als die über das Bundesverfassungsgericht. Der Bundestag erscheint als Ort des (parteipolitischen) Streits, während das Bundesverfassungsgericht in der Art seiner Arbeitsweise Konflikte verdeckt. Alleine die Bilder, die vom Gericht produziert und verteilt werden, sorgen für ein entsprechendes Image. Die Richter: innen in den roten Roben, im Karlsruher Gerichtssaal, die Entscheidung verlesend - das ist das Bild, das 9.5 Institution mit Vertrauensbonus Das BVerfG-Image-- Richter: innen in den roten-Roben <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 212 212 Die gehütete Demokratie über visuelle Medien vom Bundesverfassungsgericht transportiert wird, welches Autorität, Überparteilichkeit und Geschlossenheit vermittelt. Und das, obwohl das Gericht durchaus von parteipolitischen Facetten geprägt wird (beispielsweise in seiner Zusammensetzung)! Und das, obwohl es vor den Entscheidungsfindungen durchaus Kontroversen gibt, die sich in den abweichenden Meinungen niederschlagen können! Aber dieser Streit findet in der Regel hinter verschlossenen Türen und die Diskussion über die Entscheidungen oft nur in der Fachöffentlichkeit statt. Nur wenn Entscheidungen auf allgemeine Kritik und auf Unverständnis stoßen (z. B. »Kruzifix- Urteil«, »Soldaten sind Mörder«-Entscheidung), dann droht dem Gericht ein (kurzfristiger) Ansehensverlust. Gerade wegen seiner hohen Anerkennung in der Bevölkerung ist das Bundesverfassungsgericht eine zentrale Einrichtung der deutschen Verfassung. Als ihre Hüterin stärkt es das (diffuse) Vertrauen der Bevölkerung in das politische System. Das Verfassungsgericht erscheint als die Instanz, die notfalls für Gerechtigkeit sorgt, die Einzelnen schützt und der (Partei-)Politik Grenzen aufzeigt. Insofern tragen seine Existenz und Arbeit zur Stabilisierung der deutschen Demokratie bei. Und damit ist es ein wichtiges Staatsorgan. Von diesen sind nun vier vorgestellt worden (Bundestag, Bundesregierung, Bundespräsident, Bundesverfassungsgericht). Um das fünfte, den Bundesrat, geht es unter anderem im nächsten Kapitel, wenn der deutsche Föderalismus im Fokus steht. 1 Wo liegen die Grenzen des Parteieneinflusses auf die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts? 2 Welches sind die wichtigen Verfahrensarten beim Bundesverfassungsgericht und wie unterscheiden sie sich hinsichtlich der Antragsberechtigten und des Verfahrensgegenstandes? 3 Warum ist das »abstrakte Normenkontrollverfahren« ein Verfahren, das (partei-)politisch besonders brisant sein kann? 4 Inwiefern wirkt ein denkbares späteres Verfahren beim Bundesverfassungsgericht als Drohkulisse im Gang der Gesetzgebung? 5 Woran macht sich die Kritik am »richterlichen Aktivismus« fest? 6 Was sind denkbare Gründe für das große Vertrauen, das dem Bundesverfassungsgericht seitens der Bevölkerung entgegengebracht wird? BVerfG schafft Systemvertrauen Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 213 213 Literatur Literatur Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden in einer Reihe veröffentlicht, die in gut sortierten Bibliotheken zu finden ist: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen, Mohr Siebeck 1953 ff . Wichtige Einzelentscheidungen des BVerfG (auch die im Text exemplarisch angeführten) werden in einem Sammelband skizziert und eingeordnet: Jörg Menzel/ Ralf Müller-Terpitz: Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl., Tübingen, Mohr Siebeck 2017 . Eine bewährte Einführung in das Bundesverfassungsgericht bietet in Form eines juristischen Kurzlehrbuchs: Klaus Schlaich/ Stefan Korioth: Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen. Ein Studienbuch, 12. Aufl., München, Beck 2021. Kurz und prägnant stellt die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts in der Reihe »Wissen« diese Institution vor: Jutta Limbach: Das Bundesverfassungsgericht, 2. Aufl., München, Beck 2010 . Auf der Grundlage von Interviews mit Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts gibt folgende Studie Einblicke in die Entscheidungsprozesse am Gericht: Uwe Krahnenpohl: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, Wiesbaden, VS Verlag 2010 . Ein Sammelband führt knapp 50 Beiträge zur Rolle des Gerichts im politischen System aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen: Robert Chr. van Ooyen/ Martin H. W. Möllers (Hg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2015 . In diesem Band findet sich auch ein Beitrag von Werner J. Patzelt mit Ergebnissen einer vergleichenden Untersuchung der Wahrnehmung von BVerfG und Bundestag durch die Bevölkerung. Mit den Kontroversen rund um das Gericht beschäftigt sich: Robert Chr. van Ooyen: Bundesverfassungsgericht und politische Theorie. Ein Forschungsansatz zur Politologie der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden, Springer VS 2015 . Einen kritischen Blick auf das Gericht warf - anlässlich eines »runden Geburtstags« - folgende Publikation: Andreas Kulick/ Johann Justus Vasel: Das konservative Gericht. Ein Essay zum 70. Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen, Mohr Siebeck 2021 . Die These vom »Ersatzgesetzgeber« findet sich grundlegend in: Christine Landfried: Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, Baden-Baden, Nomos 1984 . Klaus von Beyme diskutierte das Konzept vom richterlichen Aktivismus in seinem Buch über den Bundestag: Klaus von Beyme: Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen, Westdeutscher Verlag 1997 . Der Debatte um den richterlichen Aktivismus hat sich auch ein von Staatsrechtlern verfasstes Buch Anfang der 2010er gewidmet: Matthias Jestaedt/ Oliver Lepsius/ Christoph Möllers: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Frankfurt a. M., Suhrkamp 2011. <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 214 214 Die gehütete Demokratie Links www.bundesverfassungsgericht.de Das Bundesverfassungsgericht ist im Internet mit einer eigenen Seite präsent und bietet Informationen über seine Mitglieder und Arbeitsweise an. Eine ausführliche Verfahrensstatistik wird dort gepflegt. Zudem können dort die Volltexte der Entscheidungen seit 1998 abgerufen werden. Über aktuelle Entscheidungstätigkeiten wird überdies in Form von Online-Pressemitteilungen (auch über Twitter) informiert. www.fallrecht.de Die Universität Bern bietet auf dieser Seite die Volltexte der für Forschung und Lehre wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seit 1951 an. www.gesetze-im-internet.de/ bverfgg Auf dieser vom Bundesjustizministerium gepflegten Seite findet sich das Bundesverfassungsgerichtsgesetz in seiner aktuellen Version. <?page no="215"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 215 215 Die föderale Demokratie - Bund,-Länder und Kommunen In den bisherigen Kapiteln hat sich das politische System Deutschlands überwiegend als »einschichtig« dargestellt. Der Blick richtete sich größtenteils auf die Horizontale des Bundes mit ihren Institutionen und Prozessen. In diesem und dem folgenden Kapitel geht es darum, diese Perspektive zu erweitern. Dass es noch eine wichtige vertikale Dimension gibt, ist zwar bereits an mehreren Stellen angesprochen worden, zum Beispiel als vom föderalen Aufbau der Parteien oder von der Rolle der Länder bei der Gründung der Bundesrepublik die Rede war. Nun soll das Thema ausführlicher behandelt werden. Politik in Deutschland findet in einer »Mehrebenenkonstellation« statt. Bevor das Kapitel 11 auf Politik und Demokratie jenseits des Nationalstaats eingeht, schaut dieses Kapitel auf politische Akteure und Prozesse unterhalb der Bundesebene. Dabei thematisiert es nicht nur die Rolle der deutschen Länder, sondern darüber hinaus auch die kommunale Politik, die eine besondere Stellung im politischen System Deutschlands einnimmt. Beim Blick auf die »subnationalen« Ebenen gilt es zu verstehen, wie das, was dort gemacht wird, auf die Bundespolitik zurückwirkt. Dass die verschiedenen Politikebenen miteinander verflochten sind, ist eine der zentralen Eigenschaften des deutschen politischen Systems. Wie ist das Kapitel aufgebaut? Im ersten Abschnitt steht die Tradition des deutschen Bundesstaates im Mittelpunkt. Die föderale Struktur Deutschlands wurzelt tief in der Geschichte und ist Ergebnis von historischen Weichenstellungen. Der zweite Abschnitt spricht das Thema an, dass es nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den sechzehn deutschen Ländern eigene politische Systeme gibt. Das Grundgesetz legt nur einen groben Rahmen für deren Ausgestaltung fest. Mit dem Bundesrat wird im darauffolgenden Abschnitt eine der umstrittensten Institutionen der deutschen Verfassung behandelt. Der Bundesrat ist ein Baustein der »Politikverflechtung« in Deutschland. Weitere Komponenten dieser Verflechtung werden im anschließenden Abschnitt diskutiert, dabei auch die »Fallensituation«, in die sich ein politikverflochtenes System hineinmanövrieren kann. Im letzten Abschnitt stehen mit der Kommunalpolitik die politischen Graswurzeln im 10 Inhalt <?page no="216"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 216 216 Die föderale Demokratie Fokus. Hier geht es um die Frage, ob es sich bei dieser Ebene überhaupt um eine originär »politische« oder vielleicht doch eher um eine bloße Verwaltungsebene handelt und welche Rolle Kommunalpolitik für »Bund und Land« spielt. Mit diesem Kapitel rückt der Begriff des »Bundesstaates«, der uns schon an mehreren Stellen begegnet ist, ins Visier - und mit ihm die Theorie des Föderalismus. Die Konzepte »Bundesstaatlichkeit« oder »Föderalismus« kennzeichnen Systeme, in denen sich der Staat aus einer Anzahl von Gliedstaaten zusammensetzt. Diese Gebietskörperschaften - das ist eine weitere Voraussetzung, um von einem Bundesstaat zu sprechen - müssen über eigene Zuständigkeiten und über einen eigenen Haushalt verfügen. Weder die Bundesnoch die Landesebene darf die alleinige Kompetenz haben, die Rechte der jeweils anderen Ebene einzuschränken. Zudem müssen die Gliedstaaten die Chance haben, sich an Entscheidungen auf der Bundesebene zu beteiligen. Typische Fälle von Bundesstaaten sind die USA, Deutschland, Belgien, Österreich und die Schweiz. Allerdings unterscheiden sich die gerade genannten föderalen Systeme darin, wie stark »unitarisiert« sie sind, also wie dominant der Bund gegenüber der Gruppe der einzelstaatlichen Gebietskörperschaften ist, d. h. ob der jeweilige Zusammenschluss von Gliedstaaten mehr in Richtung »Einheitsstaat« oder mehr in Richtung »Allianz/ Staatenbund« tendiert. Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen einem Trennföderalismus auf der einen und einem kooperativen oder Verbundföderalismus auf der anderen Seite. In trennföderalen Systemen (wie den USA) handeln die beiden Ebenen in vielerlei Hinsicht unabhängig voneinander. Im kooperativen oder Verbundföderalismus (wie dem der Bundesrepublik) gibt es eine Reihe von Verflechtungen zwischen der Bundesebene und den Gliedstaaten, auf die bei der Darstellung des deutschen Falls einzugehen sein wird. 10.1 Der deutsche Bundesstaat - Pfadentwicklung 10.2 Die Länder als politische Systeme 10.3 Der Bundesrat als »Ländervertretung«? 10.4 Politikverflechtung und Politikverflechtungsfallen 10.5 Kommunalpolitik <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 217 217 Der deutsche Bundesstaat-- Pfadentwicklung Der deutsche Bundesstaat-- Pfadentwicklung Dass Deutschland ein ausgeprägter Bundesstaat ist, lässt sich nur mit Verweis auf die besondere deutsche Geschichte verstehen - also mit Blick auf den »Pfad«, auf den das heutige politische System zurückblickt. Die deutsche Geschichte ist über die Jahrhunderte geprägt von der bedeutsamen Rolle der Fürstentümer und Kleinstaaten, gefördert durch die konfessionelle Spaltung nach der Reformation und den Konflikt zwischen dem Kaiser und den Reichsständen. Im Vergleich zu anderen europäischen Nationen hat die Bildung eines deutschen »Nationalstaates« verzögert stattgefunden, was zu dem Schlagwort von der »verspäteten Nation« (Helmuth Plessner) geführt hat. Als der deutsche Nationalstaat unter der Führung Preußens 1871 gegründet worden ist, so war dies nicht Ergebnis einer revolutionären Erhebung des »deutschen Volkes«. Vielmehr erfolgte die Gründung von »oben« in Form einer Einigung der Territorialfürsten, die auf mitunter kriegerische Weise vorbereitet worden war. Frühere - von »unten« ansetzende - Versuche der Schaffung eines nationalen Einheitsstaates (z. B. im Rahmen der Paulskirchenversammlung 1848) waren erfolglos geblieben. Folglich spielten in der staatlichen Konstruktion des deutschen Kaiserreiches die Landesfürsten eine wichtige Rolle. Die Weimarer Republik behielt die föderale Grundstruktur samt der strukturellen Hegemonie Preußens bei, bis der Nationalsozialismus die Länder gleichzuschalten versuchte. Auch im Dritten Reich blieben diese formal als staatliche Gebietskörperschaften erhalten, wurden aber von der Gau- Einteilung der NS-Organisationen überlagert und faktisch entmachtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten mehrere Entwicklungen dazu, dass in der zweiten deutschen Demokratie ein starker föderaler Zug enthalten ist: unter anderem (a) dass die Länder bereits existierten, als die Bundesrepublik ins Leben gerufen wurde, und Ländervertreter an der Staatsgründung maß- 10.1 Späte Gründung des Nationalstaats von oben Starker föderaler Charakter der Bundesrepublik Föderalismus Zentripetaler Zentrifugaler Eigenständigkeit und Vielfalt als oberste Ziele Integration und Gleichheit der Lebensbedingungen als oberste Ziele Staatenbund konföderaler Bundesstaat unitaristischer Bundesstaat dezentraler Einheitsstaat Allianz Einheitsstaat Föderalismus im Spannungsverhältnis (nach Rainer-Olaf Schultze) Abb. 24 <?page no="218"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 218 218 Die föderale Demokratie geblich beteiligt waren sowie (b) dass die Vorgaben der Alliierten für die Schaffung eines westdeutschen Staates ausdrücklich eine föderale Struktur vorsahen. a) Ländergründung vor Bundesgründung: Die Verwaltungsstruktur Deutschlands lag nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden. Zur Administration der besetzten Gebiete begannen die Alliierten in ihren Zonen mit der Schaffung von Verwaltungseinrichtungen und dem Aufbau von sehr begrenzt souveränen Regierungssystemen auf Landesebene. Die ersten Ländergründungen erfolgten 1946 mit der Bildung der Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig- Holstein, Niedersachsen und Hamburg in der britischen Besatzungszone. In dieser (Wieder-)Geburtsstunde der deutschen Länder kam es zu einigen Innovationen. Traditionelle Zusammenhänge wurden aufgespalten und vormals Getrenntes fusioniert. Das Zusammenlegen ehedem unverbundener Territorien zeigt sich nicht zuletzt an den Doppelnamen, die einige Länder tragen. So setzte sich beispielsweise »Nordrhein-Westfalen« zunächst aus den nördlichen Gebieten der ehemaligen preußischen Rheinprovinz, der Provinz Westfalen und ab 1947 noch aus dem Land Lippe-Detmold zusammen. Bedingt durch die Präsenz zweier Alliierter entstand das heutige Baden-Württemberg erst 1952 aus einer Fusion der zwischenzeitlichen Gebietskörperschaften Württemberg-Baden (amerikanische Zone) sowie Württemberg-Hohenzollern und Baden (beide französische Zone). Es waren dann die Vertreter der bereits existierenden (westdeutschen) Länder, die den Auftrag erhielten, im Bereich der westlichen Besatzungszonen einen neuen Staat zu gründen (→ Kapitel 1) . Diese brachten ihre Perspektive und Interessen nicht nur als deutsche Delegierte, sondern auch als Vertreter der Länder ein. So wurde das politische System Deutschlands von den Repräsentant: innen der Gliedstaaten geformt. Auf den ersten Blick erinnert dieser Vorgang an die klassische Gründung von Bundesstaaten, in denen Vertreter von Einzelstaaten sich auf die Schaffung eines Bundes einigen, wie dies beispielsweise in den USA oder der Schweiz der Fall war. Allerdings war das »Unklassische« an der deutschen Situation, dass man dabei auf einen starken »Impuls« von außen, nämlich auf die Vorgaben der Besatzungsmächte reagierte. b) Föderalismus als Vorgabe der Alliierten: Auf der Londoner Konferenz und in den Frankfurter Dokumenten von 1948 wurden die Richtlinien festgelegt, denen der neue Staat zu folgen hatte (→ Kapitel 1) . Es wurde gefordert, dass der deutsche Weststaat eine föderale Struktur aufweisen solle. Die Dokumente folgten damit zum einen der Verfassungstradition der Vereinigten Staaten, die diesen Punkt eingebracht hatten. Mit der föderalen Struktur hoffte man zum anderen, den neuen Staat zähmen zu können. So war vor allem die britische Regierung für die »Zerschlagung« Ländervor Bundesgründung Ländervertreter formten das System der Bundesrepublik Föderales System als Vorgabe der Alliierten <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 219 219 Der deutsche Bundesstaat-- Pfadentwicklung Preußens und den Aufbau einer neuen Gliedstaatenarchitektur zu begeistern. Die Alliierten schrieben in diesem Sinne eine vertikale Gewaltenteilung in Form der Verteilung der Macht auf Bund und Länder sowie die gegenseitige Machtbeschränkung beider Ebenen vor. Frankfurter Dokumente - Regelungen zur föderalen Struktur des neuen Staates Dokument Nr. I »Die Verfassungsgebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentral-Instanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.« Quelle: www.hdg.de/ lemo/ bestand/ objekt/ dokument-frankfurter-dokumente-nr-1.html Insofern kam der Antrieb für eine bundesstaatliche Demokratie von »außen« und von »innen«. Es entstand ein im europäischen Vergleich stark föderales System, welches freilich immer wieder reformiert worden ist - besonders weitreichend im Rahmen der Föderalismusreformen nach der Deutschen Einheit. Föderalismusreform In den 2000er Jahren wurde der deutsche Föderalismus in zwei Schritten reformiert. Die Föderalismusreform I, die 2006 in Kraft trat, änderte die Mitwirkungsrechte des Bundesrates bei der Gesetzgebung und die Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern. Zudem wurde die Finanzverantwortung neu organisiert. Die Föderalismusreform II, die 2009 wirksam wurde, zielte in erster Linie auf die Begrenzung der Kreditaufnahme von Bund und Ländern. Hierzu wurde eine Schuldenregel im Grundgesetz (Art. 109 Abs. 3) eingeführt, die seit 2016 für den Bund und ab 2020 für die Bundesländer unter normalen Bedingungen die Aufnahme neuer Kredite verbietet (»Neuverschuldungsverbot«). In den 2010er Jahren ist der Föderalismus ein weiteres Mal grundlegend angepackt worden. Im Rahmen dieser »Föderalismusreform III« wurden 2017/ 18 die bundesstaatlichen Finanzbeziehungen neu sortiert. Zudem hat der Bund gegenüber Ländern und Kommunen neue Kontroll- und Steuerungskompetenzen erhalten. Wortlaut ▼ ▲ Hintergrund <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 220 220 Die föderale Demokratie Die Länder als politische Systeme Bevor es auf Bundesebene zu einer Staatengründung kam, gab es bereits politische Systeme auf Landesebene. Das später in Kraft getretene Grundgesetz legte im Artikel 28 nachträglich den Rahmen fest, innerhalb dessen sich die Länderverfassungen bewegen dürfen. Art. 28 Abs. 1 GG Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Gemeinsam ist allen Landessystemen eine demokratische, sozial- und rechtsstaatliche Grundordnung. Über die Einhaltung der Verfassungsvorschriften wachen die Verfassungsgerichte der Länder. Das Demokratieprinzip setzt voraus, dass das »Volk« in den Gliedstaaten durch eine gewählte Vertretung repräsentiert wird. In der Verfassungspraxis der Länder läuft dies auf eine parlamentarische Regierungsform hinaus: Die Bürger: innen wählen in demokratischen Wahlen ihre Landesparlamente (Landtage, Bürgerschaft, Abgeordnetenhaus). Dabei ist in einer Reihe von Ländern das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt worden (z. B. Brandenburg, Schleswig-Holstein). Die Landesparlamente wiederum wählen die jeweiligen Regierungschefs der Länder (Ministerpräsident/ in, Bürgermeister/ in, Erste/ r Bürgermeister/ in, Regierende/ r Bürgermeister/ in). Die Spitzen der Landesregierungen sind ihrem Parlament gegenüber verantwortlich. Kein Bundesland kennt die Direktwahl des Regierungchefs. Unterschiedlich geregelt ist wiederum, ob die Landesparlamente auch über die Zusammensetzung der Regierung abstimmen dürfen, wie dies beispielsweise in Bremen der Fall ist oder bis 2006 in Berlin der Fall war. Ein Sturz der Regierung setzt in den meisten Ländern - vergleichbar den Regelungen auf der Bundesebene - eine konstruktive Mehrheit voraus, in anderen reicht eine negative Mehrheit. Weiterhin gibt es Unterschiede hinsichtlich der Stellung des Regierungschefs im jeweiligen Kabinett. In vielerlei Hinsicht ähneln die politischen Systeme der Länder dem System des Bundes - nur dass auf Bundesebene für die Vertretung nach außen das Amt des/ der Bundespräsidenten/ in eingerichtet worden ist. Auf Landes- 10.2 Wortlaut ▼ ▲ Demokratisch, sozialund-rechtsstaatlich verfasste Länder Beziehung Landesparlamente und Landesregierung <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 221 221 Die Länder als politische Systeme © Bergmoser + Höller AG Abb. 25 Beispiel für politische Systeme der Länder (Berlin) © Bergmoser + Höller AG Abb. 26 Beispiel für politische Systeme der Länder (NRW) <?page no="222"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 222 222 Die föderale Demokratie ebene übernehmen in der Regel die Ministerpräsident: innen die Aufgabe des »Landesoberhauptes«. Was des Weiteren die Landesvon der Bundesebene unterscheidet, ist, dass in allen Ländern Verfahren direkter Demokratie eingeführt worden sind. Bei der konkreten Ausgestaltung, z. B. bei der Frage, wann und worüber mit welchen Mehrheiten abgestimmt werden darf, gibt es allerdings erhebliche Unterschiede zwischen den Landesverfassungen. Die Länder verfügen über eigene Haushalte. Diese Budgets speisen sich aus unterschiedlichen Quellen. Zunächst fließen den Ländern Einnahmen aus eigenen Steuern zu. Hierzu gehören die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Biersteuer sowie die Rennwett-, Lotterie- und Sportwettsteuer. Darüber hinaus erhalten die Länder Anteile aus den Gemeinschaftssteuern, die zwischen Bund, Ländern und zum Teil auch den Gemeinden aufgeteilt werden. Eine weitere Finanzierungsquelle der Länder (wenn auch nicht für alle) war bis 2020 der »Länderfinanzausgleich«. Hinter dem Mechanismus stand die Idee, dass die Lebensverhältnisse in Deutschland nicht zu weit auseinandergehen sollten; es ging um die Bewahrung »gleichwertiger Lebensverhältnisse«, wie es der Art. 72 Abs. 2 GG vorgibt. Der Finanzausgleich hatte zwei Formen: (1) der horizontale Ausgleich zwischen den Ländern: Hierbei handelte es sich um Ausgleichszahlungen von reicheren Ländern an ärmere Bundesländer. Die Berechnung erfolgte mithilfe einer komplizierten Formel, in der die durchschnittlichen Einnahmen der Einwohner eines Landes sowie die Gesamteinnahmen des Landes in die Kalkulation einflossen. (2) der vertikale Ausgleich zwischen Bund und Ländern. Finanzschwache Länder erhielten von der Bundesebene »Bundesergänzungszuweisungen«, wenn die Finanzkraft eines Landes trotz sonstiger Ausgleichsverfahren unter einer bestimmten Schwelle blieb. Der Finanzausgleich war heftig kritisiert worden und auch Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung gewesen. Insbesondere die horizontale Variante bestrafe - so die damalige Kritik der Geberländer - den wirtschaftlichen Erfolg einiger Länder und nehme anderen die Motivation, strukturelle Probleme anzugehen. Dies widerspreche der Idee eines produktiven Wettbewerbs zwischen den Bundesländern. Haushaltsautonomie der-Länder Länderfinanzausgleich zur Bewahrung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« Bund Länder Gemeinden Lohn-/ Einkommensteuer 42,5 % 42,5 % 15,0 % Abgeltungsteuer 44,0 % 44,0 % 12,0 % Körperschaftsteuer 50,0 % 50,0 % 0,0 % Umsatzsteuer rund 53,3 % rund 44,5 % rund 2,2 % Quelle: www.bundesfinanzministerium.de, eigene Darstellung Tab. 22 Aufteilung der Gemeinschaftssteuern nach Artikel 106 Grundgesetz <?page no="223"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 223 223 Die Länder als politische Systeme Nicht nur wegen dieser Kritik ist das bundesstaatliche Finanzsystem 2020 komplett umgebaut worden. Der Länderfinanzausgleich in seiner alten Form ist weggefallen und die Bund-Länder-Finanzen sind auf neue Füße gestellt worden. Der Ausgleich zwischen den Bundesländern wird nun im Rahmen der Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer vorgenommen. Leistungsschwache Länder werden noch stärker als zuvor durch Zuweisungen des Bundes unterstützt. Insgesamt geht die Neuregelung finanziell zu Lasten des Bundes. Dieser erhält - quasi als Gegenleistung - neue Gestaltungs- und Kontrollkompetenzen. Was können die Länder mit den ihnen zufließenden Mitteln (und darüber hinaus) gestalten? Wo liegen ihre Kompetenzbereiche in Abgrenzung zum Bund? Die Frage der Zuständigkeiten wird ausdrücklich vom Grundgesetz angesprochen. Es erwähnt, welche Kompetenzen welcher Ebene zustehen. Im Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung liegen u. a. die Polizeiangelegenheiten, die Schul- und Hochschulpolitik, Kultur- und Medienfragen sowie das Recht zur Festlegung der Gemeindeordnung. Reform des Systems 2020 Grundgesetz regelt Kompetenzverteilung Länderanteile an der Umsatzsteuer Zu- und Abschläge im Finanzkraftausgleich Bundesergänzungszuweisungen Sonder- Bundesergänzungszuweisungen in Mio. € Baden-Württemberg 13,4 % -4015 - - Bayern 15,8 % -9044 - - Brandenburg 3,0 % 1370 651 132 Hessen 7,6 % -3556 - - Meck.-Vorpommern 1,9 % 1326 759 106 Niedersachsen 9,6 % 1911 879 - Nordr.-Westfalen 21,5 % 200 - - Rheinland-Pfalz 4,9 % -287 - 48 Saarland 1,2 % 514 257 66 Sachsen 4,9 % 3225 1990 132 Sachsen-Anhalt 2,6 % 1978 1180 121 Schleswig-Holstein 3,5 % 317 134 66 Thüringen 2,5 % 1856 1143 118 Berlin 4,4 % 3602 1643 59 Bremen 0,8 % 832 382 60 Hamburg 2,2 % -230 - - Abweichung von 100 % durch Rundungen Tab. 23 Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern im Jahr 2021 Quelle: www. bundesfinanz ministerium.de <?page no="224"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 224 224 Die föderale Demokratie Die Föderalismusreform der 2000er hatte den Ländern eine Reihe von Zuständigkeiten neu zugewiesen: zum Beispiel das Besoldungs- und Versorgungsrecht für Landes- und Kommunalbeamte, den Strafvollzug, das Gaststätten- und das Versammlungsrecht. Der Bund ist unter anderem für die auswärtigen Angelegenheiten, das Währungswesen, den Luftverkehr sowie für die Terrorismusabwehr und das Waffenrecht alleine zuständig. Neben den getrennten Zuständigkeitsbereichen gibt es noch die konkurrierende Gesetzgebung, beispielsweise beim Arbeits- oder Vereinsrecht oder beim Seuchenschutz. Hier klingt es zunächst so, als ob die Länder im Vorteil seien. Denn der Artikel 72 sagt ausdrücklich, dass die Länder die Gesetzgebungskompetenz haben, solange der Bund die seinige nicht nutzt. Das hat der Bund jedoch durchweg und intensiv getan, sodass den Ländern hier nur Konkurrierende Gesetzgebung Bund (ausschließlich) GG Art. 71, 73 Länder (ausschließlich) GG Art. 70 Beispiele: • auswärtige Angelegenheiten • Verteidigung • Währungs-, Geld-/ Münzwesen, Maße, Gewichte, Zeit • Zollwesen, internat. Waren- und Zahlungsverkehr, Grenzschutz • Staatsangehörigkeit • Luftverkehr • länderübergreifender Terrorismus und Verfassungsschutz • Waffen-/ Sprengstoffrecht • Pass-/ Melde-/ Ausweiswesen • Kernenergierecht • Schutz von Kulturgut gegen Abwanderung ins Ausland Beispiele: • Bildung • Kultur • Gemeinde-/ Kreisrecht • Polizeiwesen • Ordnungsrecht • Denkmalschutz • Rundfunk- und Medienwesen • außerschulische Jugendbildung • Hochschulwesen • Hochschulbau • Versammlungsrecht • sozialer Wohnungsbau • Ladenschluss • Gaststättenrecht • Strafvollzug • Messewesen/ Ausstellungen • Flurbereinigung • Presserecht Bund/ Länder Abweichung der Länder möglich GG Art. 72 (3) Bund/ Länder (konkurrierend) Bund hat Vorrang GG Art. 72 (1,2,4), 74 Beispiele: • Jagdwesen • Umweltgesetzgebung • Naturschutz/ Landschaftspflege • Hochwasserschutz • Bodenverteilung • Raumordnung • Wasserhaushalt • Hochschulzulassung/ Hochschulabschluss Beispiele: • Wohnungswesen • Schifffahrt • Straßenverkehr • Abfallwirtschaft • Luftreinhaltung, Lärmschutz • Vereinsrecht • Arbeitsrecht • Ausbildungs- und Forschungsförderung • Seuchenschutz • Zulassungen im mediz. Bereich • Lebensmittel, Futter, Pflanzenschutz, Tierschutz Abb. 27 Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 225 225 Der Bundesrat als »Ländervertretung«? wenig Gestaltungsspielraum geblieben ist. Ein Beispiel hierfür ist die Pandemiebekämpfung. Hier hatte der Bund mit dem Bundesinfektionsschutzgesetz schon zwanzig Jahre vor der Corona-Krise die Gestaltungskompetenzen an sich gezogen. Die Föderalismusreform 2006 führte noch eine neue Variante der konkurrierenden Gesetzgebung ein (Art. 72 Abs. 3). In einigen Politikfeldern (z. B. bei der Umweltgesetzgebung) können die Länder von einem seitens des Bundes gesetzten Rahmen abweichen. Der Bund kann allerdings mit einer eigenen Regelung die Abweichungen der Bundesländer einkassieren (so genannte »Ping-Pong-Gesetzgebung«). Der Bundesrat als »Ländervertretung«? Die Länder haben also einen autonomen Entscheidungsbereich. Darüber hinaus eröffnet ihnen das Grundgesetz noch eine weitere Möglichkeit der Mitgestaltung: Die Länder können an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken. Hierzu dient ihnen ein Verfassungsorgan, der Bundesrat - von Anfang an einer der umstrittensten Bausteine des politischen Systems Deutschlands. Das Bundesratsmodell Zu den kontroversen Punkten in den Beratungen des Parlamentarischen Rates gehörte die Frage nach Zusammensetzung und Funktion der »Zweiten Kammer« - also welche Institution neben dem Bundestag in welcher Art und Weise in die Gesetzgebung des Bundes einbezogen werden sollte. Zwei Modelle standen sich gegenüber: das Senatsmodell und das Bundesratsmodell. (1) Senatsmodell: Dieses orientierte sich an der Rolle und Struktur des USamerikanischen Senats, in dem jeder Bundesstaat unabhängig von seiner Größe jeweils die gleiche Anzahl Senatoren stellt. Der deutsche Senat sollte - wie sein US-Vorbild - von den Bevölkerungen der Länder direkt gewählt werden sowie über weitreichende Kompetenzen verfügen. Dieser Vorschlag wurde insbesondere von den SPD-Mitgliedern im Parlamentarischen Rat getragen. (2) Bundesratsmodell: Im Gegensatz zum Senatstyp sah das Bundesratsmodell nicht die Wahl der Mitglieder vor. Das neue Staatsorgan sollte sich aus den Vertretungen der Landesregierungen zusammensetzen und eine nur eingeschränkte Rolle in der Gesetzgebung spielen. Diese Variante favorisierten die CDU/ CSU- und FDP-Mitglieder des Parlamentarischen Rates. 10.3 10.3.1 Senatsmodell versus Bundesratsmodell <?page no="226"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 226 226 Die föderale Demokratie Letzten Endes setzte sich das zweite Modell durch. Das Grundgesetz schuf mit dem Bundesrat ein autonomes Staatsorgan, keine dem Bundestag beigeordnete Zweite Kammer. Die Verfassung erwähnt die Ländervertretung auf Bundesebene gleich nach dem Bundestag in den Artikeln 50 bis 53. Der Bundesrat besteht aus Vertretern der sechzehn Landesregierungen. Dabei leitet sich die Größe der Länderdelegationen von dem jeweiligen Bevölkerungsanteil des Landes ab - jedoch nicht streng proportional. Vielmehr werden verschiedene »Gewichtsklassen« gebildet. Die bevölkerungsstärksten Länder mit über sieben Millionen Einwohnern können beispielsweise sechs Delegierte entsenden, die bevölkerungsschwächsten jeweils drei. Somit setzt sich der Bundesrat aus insgesamt 69 Mitgliedern zusammen. Die Delegationen können ihre Stimmen nur einheitlich abgeben. Ansonsten wird ihr Votum als ungültig eingestuft. In der Regel gibt die jeweilige Delegationsleitung als »Stimmführer« das Votum ihres Landes bekannt. In der Geschichte des Bundesrates ist es zweimal vorgekommen, dass eine Landesdelegation keine klare Stimmabgabe geleistet hat. Es handelt sich also dabei um einen äußerst seltenen Vorgang, der in einem Fall sogar vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt worden ist: als 2002 das Land Brandenburg bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz uneinheitlich votierte. Bundesrat ist autonomes Staatsorgan Bundesland Mitglieder im Bundesrat Nordrhein-Westfalen 6 Bayern 6 Baden-Württemberg 6 Niedersachsen 6 Hessen 5 Sachsen 4 Rheinland-Pfalz 4 Berlin 4 Schleswig-Holstein 4 Brandenburg 4 Sachsen-Anhalt 4 Thüringen 4 Hamburg 3 Mecklenburg-Vorpommern 3 Saarland 3 Bremen 3 Tab. 24 Delegationsgröße der Länder im Deutschen Bundesrat <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 227 227 Der Bundesrat als »Ländervertretung«? Der Bundesrat und die Gesetzgebung des Bundes Der Bundesrat ist an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt. Er hat gemeinsam mit Bundestag und Bundesregierung das legislative Initiativrecht, das heißt, der Bundesrat kann Gesetzesentwürfe einbringen. Alle Bundesgesetze müssen vor ihrer Ausfertigung auch die Ländervertretung passiert haben. Inwieweit der Bundesrat einen Gesetzgebungsvorgang bremsen oder gar blockieren kann, hängt von einer wichtigen Unterscheidung ab: ob es sich um ein zustimmungsbedürftiges oder ein nicht-zustimmungsbedürftiges Gesetz handelt. a) Zustimmungsbedürftige Gesetze: Bei solcher Art von Gesetzen ist auf jeden Fall die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Nach der Abstimmung über den Entwurf im Bundestag kommt es zu einer Beratung der Vorlage im Bundesrat. Erhält der Entwurf bei der Abstimmung nicht die absolute Mehrheit der Stimmen des Bundesrates (Enthaltungen werden faktisch als Nein-Stimmen gewertet), kann das Gesetz nicht verabschiedet werden. Es besteht allerdings die Möglichkeit, ein Vermittlungsverfahren einzuleiten (s. u.). b) Nicht-zustimmungsbedürftige Gesetze: Bei diesen Gesetzen hat der Bundesrat nur eine eingeschränkte Blockademöglichkeit. Nach der Verabschiedung des Entwurfs im Bundestag verhandelt und votiert der Bundesrat darüber. Im Falle, dass die Vorlage keine Mehrheit im Bundesrat erhält, kann der Bundestag das ablehnende Votum der Ländervertretung mit gleich starker Mehrheit überstimmen. Das heißt: Stimmt der Bundes- 10.3.2 Bundesrat kann Gesetzesentwürfe einbringen »Zustimmungsgesetze« »Einspruchsgesetze« 0 % 50 % 100 % 1949-53 53-57 57-61 61-65 65-69 69-72 72-76 76-80 80-83 83-87 87-90 90-94 94-98 98-2002 2002-05 05-09 09-13 13-17 17-21 Verhältnis von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen in der Gesamtgesetzgebung des Bundes von 1949 bis 2021 Einspruchsgesetze Zustimmungsgesetze Abb. 28 Verhältnis zwischen zustimmungs- und nicht-zustimmungsbedürftigen Gesetzen 1949-2021 Quelle: Deutscher Bundestag (www.bundestag.de) und Deutscher Bundesrat (www. bundesrat.de), eigene Darstellung <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 228 228 Die föderale Demokratie rat mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder gegen den Entwurf, reicht die absolute Mehrheit des Bundestages, um den Einspruch aufzuheben. Stimmt der Bundesrat mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen ein Gesetz, dann ist zur Aufhebung der Bundesratsblockade eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag erforderlich. Auch in einer solchen Auseinandersetzung kann ein Vermittlungsverfahren anberaumt werden (s. u.). In der Literatur wird dieser Typ nicht ganz treffgenau als »Einspruchsgesetz« bezeichnet. Der »Einspruch« der Ländervertretung hat jedoch nur einen (zeitlich) aufschiebenden Charakter und eben keinen blockierenden - es sei denn, der Bundestag vermag das Votum des Bundesrates nicht aufzuheben. Wie entscheidet sich, ob ein Gesetz zustimmungsbedürftig ist oder nicht? Das Grundgesetz legt für einige Fälle ausdrücklich diese Eigenschaft fest. Ansonsten galt bis 2006 als Kriterium, dass durch das jeweilige Bundesgesetz die Verwaltung der Länder betroffen zu sein hatte. Dann war die Zustimmung der Länder obligatorisch. Die Föderalismusreform I brachte eine Veränderung mit sich. Seitdem ist ausschlaggebend, ob das Gesetz den Ländern Kosten verursacht oder ob für deren Umsetzung in die Organisations- und Verwaltungshoheit der Länder eingegriffen wird. Mit der Veränderung des Kriteriums war die Hoffnung verbunden, dass in Folge ein geringerer Anteil der Gesetzgebung des Bundes einer Zustimmung des Bundesrates bedürfe. In der Tat ist der Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze an der Gesamtgesetzgebung seit 2005 um rund 15 Prozentpunkte gesunken. Die Qualifizierung einer Gesetzesvorlage als zustimmungsbedürftig oder nicht kann streitig sein. Für die Erfolgschancen eines Entwurfs ist die Einstufung durchaus von Belang - vor allem in Phasen, in denen im Bundesrat eine der parlamentarischen Mehrheit im Bundestag gegenläufige parteipolitische Konstellation vorherrscht. Bei Uneinigkeit über die Einstufung kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Gelegentlich ist auch versucht worden, inhaltliche Aspekte eines Gesetzes von den verfahrenstechnischen Aspekten zu trennen - und somit die zustimmungsbedürftigen Teile von denen, die einer Zustimmung des Bundesrates nicht bedürfen. So konnten eigentlich zustimmungsbedürftige Gesetzesvorhaben am Bundesrat vorbei realisiert werden. Vermittlungsverfahren und Vermittlungsausschuss Für den Fall, dass der Bundesrat einer Vorlage nicht zustimmt, kann es zu einem Vermittlungsverfahren kommen. Sowohl Bundestag als auch Bundesrat haben die Möglichkeit, ein solches Mediationsverfahren zu beantragen, in dessen Zentrum ein eigens für diesen Zweck eingerichteter Ausschuss Kriterien für Zustimmungsbedürftigkeit 10.3.3 <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 229 229 Der Bundesrat als »Ländervertretung«? steht: der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Dieses 32-köpfige Gremium setzt sich je zur Hälfte aus Mitgliedern des Parlaments (proportional zur Fraktionsstärke) und des Bundesrates (ein/ e Vertreter/ in pro Land) zusammen. Es wird gemeinsam von einem MdB und von einem/ r Ländervertreter/ in geleitet. Auf die große Bedeutung und Machtfülle dieser Einrichtung des deutschen Föderalismus ist immer wieder hingewiesen worden. Warum sind der Vermittlungsausschuss und seine Mitglieder so einflussreich? Im Falle des (vorläufigen) Scheiterns eines Gesetzgebungsverfahrens kommt dem Ausschuss eine vergleichsweise gestaltungsmächtige Aufgabe zu. Er nimmt sich die gescheiterte Vorlage vor und versucht Änderungen vorzunehmen, die die jeweiligen Widerstände aufbrechen könnten. Dabei verhandelt er - dies ist nicht zu unterschätzen - unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Mitglieder sind nicht weisungsgebunden. Entscheidungen werden mit Mehrheitsvotum gefällt. Die Macht der Ausschussmitglieder liegt insbesondere darin begründet, dass sich das von ihnen zugebundene Paket nicht mehr aufschnüren Machtfülle des Vermittlungsausschusses Vermittlungsausschuss Anrufung durch: Bundesrat »Zustimmungsgesetze« »Einspruchsgesetze« Anrufung durch: Bundesrat, Bundestag oder Bundesregierung kein Änderungsvorschlag Änderungsvorschlag Bundesrat Einspruch Einspruch überstimmt Einspruch nicht überstimmt Gesetz kommt nicht zustande Gesetz kommt nicht zustande Bundestag lehnt Änderungsvorschlag ab keine Zustimmung Gesetz kommt zustande Ausfertigung kein Einspruch Zustimmung Vermittlungsausschuss Bundestag kein Änderungsvorschlag Änderungsvorschlag Bundesrat Bundestag Gesetz kommt zustande Ausfertigung lehnt Änderungsvorschlag ab Struktur des Vermittlungsverfahrens Abb. 29 <?page no="230"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 230 230 Die föderale Demokratie lässt. Sowohl Bundestag als auch Bundesrat können dem Vermittlungsergebnis entweder als Ganzem zustimmen oder es komplett ablehnen; gegebenenfalls muss nochmals über die ursprüngliche Version des Entwurfs abgestimmt werden. In derselben Sache darf der Vermittlungsausschuss jedoch nur einmal angerufen werden. Ein Vermittlungsverfahren kann auch bei Auseinandersetzungen über nicht-zustimmungsbedürftige Gesetze anberaumt werden. Allerdings bleibt es hier bei der Möglichkeit für den Bundestag, den Einspruch des Bundesrates zu überstimmen. Der Vermittlungsausschuss ist ein wichtiger Bestandteil des kooperativen Föderalismus in Deutschland (s. u.). Er bringt die Regierungsvertreter der Länder und die Parlamentarier: innen des Bundes an einen Tisch. Er dient dazu, Blockaden zwischen den Staatsorganen und zwischen den Ebenen des Bundesstaates auf dem Verhandlungsweg aufzuheben (→ Kapitel 12) . Allerdings stoßen seine Konsensmechanismen dort an Grenzen, wo die Widersprüche zwischen Bundesrat und Bundestag unaufhebbar und womöglich nicht in der Sache, sondern machtpolitisch begründet sind - was zur Frage der parteipolitischen Instrumentalisierung des Bundesrates führt. Der Bundesrat als parteipolitisches Blockadeinstrument? Wie erwähnt, gehören der deutsche Föderalismus und insbesondere der Bundesrat zu den umstrittensten Elementen des politischen Systems. Die Ländervertretung - so eine Kritik - sei zumindest phasenweise zu einem Blockadeinstrument der parlamentarischen Opposition geworden. Dies habe dazu geführt, dass wichtige Reformprojekte nicht realisiert werden konnten. Dabei sieht sich das Staatsorgan mit dem Vorwurf seiner »Deformation« konfrontiert: Der Bundesrat habe sich von seiner eigentlichen Idee der Vertretung von Länderinteressen wegbewegt und zu einem Instrument der Parteipolitik entwickelt. Nicht mehr die Länder, sondern die Bundesparteien und ihre bundespolitischen Interessen würden in diesem Organ vertreten. Auf die Durchdringung der bundesstaatlichen Strukturen durch die Parteiendemokratie hat Gerhard Lehmbruch schon vor langer Zeit mit seinem 1976 erschienenen Buch »Parteienwettbewerb im Bundesstaat« hingewiesen. Der Parteienwettbewerb im Föderalismus wird in den Phasen eines »divided government« besonders sichtbar, also in solchen Zeiträumen, in denen die Opposition des Bundestages durch die Beteiligung an den Landesregierungen über eine entsprechende Vetoposition im Bundesrat verfügt. Solche Phasen des »divided government« sind in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder vorgekommen. Zudem haben die zunehmenden Koalitionsvarianten auf Landesebene (auch der dortige Trend zu Drei-Parteien-Regierun- Vermittlungsausschuss stärkt Konsenscharakter des politischen Systems 10.3.4 Bundesrat-- Instrument der Parteipolitik? <?page no="231"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 231 231 Politikverflechtung und Politikverflechtungsfallen gen) dazu geführt, dass gleichlaufende Koalitionsmehrheiten unwahrscheinlicher geworden sind. Die schematische Unterteilung in »A-Länder« (SPD-geführt) und »B-Länder« (Unions-geführt), die aus dem vergangenen Jahrhundert stammt, hat sich im Laufe der Zeit relativiert. Lagerübergreifende Koalitionen sind auf Landesebene verbreitet. Die Interessenlagen im Bundesrat sind komplexer geworden. Da Enthaltungen wie Nein-Stimmen gezählt werden, ist der Bundesrat blockadeanfälliger geworden. Ein genauer Blick auf das Abstimmungsverhalten im Bundesrat relativiert jedoch den Blockadevorwurf: So ist es in verhältnismäßig wenigen Situationen zu einer völligen und pauschalen Ablehnung der Initiativen der Bundestagsmehrheit gekommen. Die Vertreter: innen der Landesregierungen erweisen sich nicht als bloße Erfüllungsgehilfen der jeweiligen Bundesparteien, sondern versuchen immer wieder primär die Interessen ihres Landes durchzusetzen - zum Beispiel, indem sie im Rahmen von Paketlösungen Zugeständnisse machen, um andernorts Vorteile zu gewinnen. Politikverflechtung und Politikverflechtungsfallen Der Bundesrat ist ein Beitrag zu dem, was in der Literatur als »Politikverflechtung« bezeichnet wird - ein Konzept, das mit dem Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf eng verbunden ist. Im Gegensatz zu trennföderalen Systemen wie dem US-amerikanischen ist es ein Kennzeichen der deutschen Bund-Länder-Beziehungen, dass die beiden Ebenen vielfältig miteinander und untereinander verschränkt sind. (1) Horizontal: Auf verschiedene Arten und Weisen arbeiten die Länder zusammen und versuchen ihre Entscheidungen zu koordinieren. Hierzu dient zum Beispiel die KMK, die Kultusministerkonferenz, in der sich die für die Politikfelder Bildung, Wissenschaft und Kultur zuständigen Landesminister zusammenfinden, oder die Innenministerkonferenz. In der Corona-Pandemie ist die MPK, die Konferenz der Ministerpräsident: innen, ins Scheinwerferlicht gerückt. Diese Gremien finden im Grundgesetz keine Erwähnung. (2) Vertikal: Zwischen Bund und Ländern gibt es eine Reihe von Verflechtungen. Der Bundesrat stellt eine Form der Verknüpfung dar. Er lässt die Länder an der Gesetzgebung auf Bundesebene teilhaben und kann dabei Verhandlungen und Kooperation erforderlich machen. Zur Verflechtung tragen auch die finanzielle Verknüpfung der beiden Ebenen in Form der Verbundsteuern oder der Bundeszuweisungen, die Gemeinschaftsaufgaben und die Übernahme von Verwaltungsleistungen durch die Länder bei. Die Politikverflechtung ist mehr als nur irgendeine Facette des kooperativen Föderalismus. Vielmehr schnappt dabei eine »Falle« zu - so die Politikver- 10.4 Horizontale und vertikale-Bund- Länder- Verschränkung <?page no="232"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 232 232 Die föderale Demokratie flechtungstheorie von Scharpf und anderen. Zunächst droht »Immobilismus«, eine Unbeweglichkeit der Politik: Durch die Verschränkung von Ebenen und die erforderlichen Rücksprachen mit verschiedenen Akteuren erhöhen sich die Entscheidungskosten. Aufwand und Zeit, um Beschlüsse zu fassen, nehmen zu. Zugleich nimmt die Transparenz des Entscheidungsprozesses ab: Es ist schwerer durchschaubar, wer für die getroffenen Entscheidungen verantwortlich ist und zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn unterschiedliche Akteure von verschiedenen Ebenen eingebunden werden. Unter der Politikverflechtung leiden schließlich die Parlamente. Die machtvollen Akteure über die Ebenen hinweg sind die Regierungen, weniger die parlamentarischen Körperschaften von Bund und Ländern. Dies wird mit dem Begriff des »Exekutivföderalismus« markiert, in dem die direkt gewählten Parlamente, die »Legislativen«, oft an der Seite stehen. Mit den Föderalismusreformen sollten einige dieser Verflechtungen durchschlagen werden. So galt es, den Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze zurückzufahren (s. o.). Außerdem beseitigte man die frühere »Rahmengesetzgebung«, die zu einer weiteren Vermengung beider Ebenen beigetragen hatte. Stattdessen sollten die Kompetenzen von Bund und Ländern deutlicher getrennt werden. Ob und inwieweit die Reformen ihre Ziele erreicht haben, ist umstritten (→ Kapitel 12) . Kommunalpolitik Die »unterste« politische Ebene ist die der kommunalen Politik. »All politics is local« - dieser Satz eines US-amerikanischen Politikers besagt, dass die Politik der höheren Ebenen immer eine Rückbindung zur gesellschaftlichen Basis hat oder haben sollte. Auch die kommunale Ebene ist von Politikverflechtung betroffen. Dass dem so ist, hängt nicht zuletzt mit den Verwaltungsstrukturen in Deutschland zusammen. Ein Großteil der Ausführungsleistungen bei der Umsetzung von Bundesgesetzen wird den Ländern und somit den Kommunen und ihren Verwaltungen überlassen. Daraus resultiert die gelegentlich zu hörende Forderung, die Gemeinden und Gemeindeverbünde sollten stärker in die Entscheidungsprozesse der Bundespolitik eingebunden werden, beispielsweise durch eine eigene Vertretungskörperschaft auf Bundesebene. Aber die Verbindung findet auch in die andere Richtung statt, z. B. bei Politikerkarrieren. Ein großer Teil des politischen Personals sammelte zunächst Erfahrungen in der Stadt- und Gemeindepolitik, bevor er sich in der landesund/ oder bundespolitischen Arena etabliert hat. Immobilismus und Transparenzverlust 10.5 Kommunale Ebene-- Teil-der deutschen Politikverflechtung <?page no="233"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 233 233 Kommunalpolitik Die Kommunalpolitik läuft in »politischen Systemen« ab, die von Land zu Land unterschiedlich ausfallen können. Das Grundgesetz setzt mit dem Artikel 28 den Rahmen. Dort ist festgelegt, dass es nicht nur in den Ländern, sondern auch in den Kreisen und Gemeinden eine demokratisch gewählte Vertretung geben müsse. Auf dieser Grundlage sind von den Landesgesetzgebern verschiedene Kommunalverfassungen entwickelt worden. Gemeinsam ist den Modellen, dass der Gemeinderat oder das Stadtparlament sowie der/ die Bürgermeister/ in unmittelbar gewählt werden. Das Wahlalter auf Kommunalebene liegt in der Mehrheit der Länder bei 16 Jahren. Ansonsten besteht ein zentraler Unterschied zwischen den Kommunalverfassungen darin, ob die Bürgermeister: innen die alleinige Verwaltungsspitze bilden, sie sich diese Rolle mit den Vorsitzenden der Gemeindeparlamente teilen oder ob es noch einen besonderen Ausschuss (Magistrat) gibt, der exekutive Aufgaben übernimmt. In den meisten Bundesländern hat sich das Modell einer dualen Rat-Bürgermeister-Verfassung durchgesetzt. Eine besondere Rolle spielt auf lokaler Ebene die direkte Demokratie. Bereits im Grundgesetz ist vermerkt: »In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten« (Art. 28 Abs. 1 Satz 4). Alle Kommunalverfassungen sehen direktdemokratische Verfahren (Bürgerbegehren, Bürgerentscheid etc.) vor. Auf der lokalen Ebene finden Instrumente direkter Demokratie häufigen Einsatz. Darüber hinaus sind die Städte und Gemeinden die Räume, in denen neue, kooperative Formen der Unterschiedliche Kommunalverfassungen in Deutschland Häufiger Einsatz direktdemokratischer Verfahren Verwaltung Vollzug Bürgermeister/ in Rat Beschluss Bürger: innen Kontrolle Kontrolle Kontrolle Leitung Leitung Wahl Wahl z.T. Abwahl Abb. 30 Duale Rat-Bürgermeister-Verfassung unter einer Spitze Quelle: eigene Darstellung <?page no="234"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 234 234 Die föderale Demokratie Einbindung von Menschen getestet und eingesetzt worden sind (z. B. Bürgerforen, Bürgerhaushalte). Die Kommunen als die primäre Verwaltungsebene sind zudem stets ein Spielfeld der Verwaltungsmodernisierung gewesen. Dabei konnten in vielen Modellversuchen neue Wege ausprobiert und in einen »best-practice«-Wettbewerb miteinander gestellt werden. In diesen Wettbewerb spielt auch die Frage mit hinein, inwieweit kommunale Aufgaben von privatwirtschaftlichen Akteuren übernommen werden sollten. In der Literatur streitet man darüber, ob die Kommunalebene letzten Endes mehr ist als eine reine Verwaltungs- und Versorgungsebene. Dabei tendieren juristische Einstufungen zur Position der »Verwaltungsebene«, während politikwissenschaftliche in den Gemeinden »politische« Systeme sehen. Wo liegen die Argumente für die eine oder die andere Position? Pro Verwaltungsebene: ⚫ Die Gemeinden geben sich keine eigene Verfassung. Dies tun die jeweiligen Landesgesetzgeber, weswegen es in Deutschland landesspezifische und -einheitliche Kommunalverfassungen gibt. ⚫ Die Gemeinden haben keinen Einfluss auf ihren Kompetenzbereich. Dieser kann von höherer Stelle (Land) jederzeit verändert werden. ⚫ Die Gemeinden führen zu großen Teilen die Gesetzgebung von EU-, Bundes- und Landesebene aus (»übertragener Wirkungskreis«). Die kommunalen Einheiten können somit als Teil der »Exekutive« verstanden werden. ⚫ In ihrer Finanzierung sind die Kommunen von den anderen Ebenen abhängig, z. B. bei der Entscheidung, welche Steuermittel ihnen aus den Verbundsteuern zufließen. Pro politische Ebene: ⚫ In den Gemeinden finden sich vollständige institutionelle Systemstrukturen und Gewaltenteilung, also Formen von demokratischer »Staatlichkeit«; es gibt direkt gewählte Vertretungskörperschaften und Bürgermeister: innen. Das Gemeindesystem erinnert an das, was auf nationaler Ebene als präsidentielle Regierungsform bezeichnet wird ( → Kapitel 8 ). ⚫ Politische Parteien spielen auch in der Kommunalpolitik eine Rolle. Diese ist zwar nicht so dominant wie die auf der Bundes- und Landesebene. Aber gerade in großen Kommunen kommt der Parteipolitik eine wachsende Bedeutung zu. ⚫ Jenseits der Verwaltungsaufgaben haben die Gemeinden einen eigenen Wirkungskreis; sie können über bestimmte ihnen zugewiesene Bereiche autonom entscheiden (»freiwillige Aufgaben«). Diese Kompetenz ist ihnen vom Grundgesetz, Artikel 28 Abs. 2, ausdrücklich zugesprochen worden: »Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verwaltungs- oder politische Ebene? <?page no="235"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 235 235 Kommunalpolitik Verantwortung zu regeln«. So kommen den Kommunen in einigen Bereichen (Planung, Satzung, Organisation) Selbstverwaltungsrechte zu. ⚫ Auch stehen den Gemeinden eigene Einnahmequellen zur Verfügung. Eine besondere Stellung nehmen dabei die Gewerbesteuer und die Grundsteuer ein, deren effektive Höhe von den Gemeinden innerhalb eines bestimmten Korridors selbst festgelegt werden kann. ⚫ Die Föderalismusreform I hat die Unabhängigkeit der kommunalen Ebene an der Stelle gestärkt, wo sie dem Bund untersagt, den Kreisen, Städten und Gemeinden unmittelbar Aufgaben per Bundesgesetz zuzuweisen (Art. 84 Abs. 1 GG). Die Frage nach dem »Wesen« der Kommunalpolitik kann auch an dieser Stelle nicht endgültig beantwortet werden. Aus der Perspektive der Politikwissenschaft jedenfalls erinnert vieles von dem, was wir in Kreisen, Städten und Gemeinden beobachten können, an »Politik«, wie wir sie auf anderen Ebenen analysieren. Deutlich wird auf jeden Fall die Verflechtungsdichte von kommunaler Politik mit den Strukturen von Bund und Land. Nach dem Blick auf die Ebenen unterhalb des Nationalstaates wendet sich das folgende Kapitel dem Politikprozess auf der Ebene darüber zu. Themen sind die europäische Integration und das Phänomen der Globalisierung. Dabei zeigt sich, dass die Entgrenzung nach außen auch die innere Struktur der deutschen Demokratie verändert. Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden ⚫ » […] die Personalhoheit räumt Gemeinden und Städten das Recht ein, ihr Personal auszuwählen, anzustellen, zu befördern und zu entlassen; ⚫ die Organisationshoheit umfasst das Recht der Kommunen zur eigenen Gestaltung ihrer Verwaltungsorganisation; ⚫ die Planungshoheit räumt Gemeinden und Städten das Recht ein, Bauleitpläne (Flächennutzungs- und Bebauungspläne) aufzustellen, um das Gemeindegebiet zu gestalten; ⚫ die Rechtsetzungshoheit meint das Recht, kommunale Satzungen zu erlassen; ⚫ die Finanzhoheit gibt Kommunen das Recht zur eigenverantwortlichen Bewirtschaftung ihrer Einnahmen und Ausgaben; ⚫ die Steuerhoheit schließlich räumt Städten und Gemeinden das Recht zur Erhebung von Steuern ein.« Quelle: Siegfried Frech: Kommunalpolitik. Politik vor Ort, 2. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer 2022, S. 27 f. Kommunalebene als-Teil der Politikverflechtung Hintergrund <?page no="236"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 236 236 Die föderale Demokratie 1 Was sind die Gründe für den vergleichsweise starken Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland? 2 Wie wird im Rahmen der Bund-Länder-Finanzen versucht, eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen? 3 Wie können sich die Länder an der Gesetzgebung des Bundes beteiligen? 4 Warum kann dem Bundesrat vorgeworfen werden, ein parteipolitisches Blockadeinstrument zu sein? Inwieweit ist dieser Vorwurf berechtigt? 5 Was sind die Ursachen, was die Folgen der »Politikverflechtung« in Deutschland? 6 Was spricht dafür, was dagegen, die kommunale Ebene als eigene »politische« Einheit im System der Bundesrepublik zu begreifen? Literatur Mit dem deutschen Föderalismus aus historischer Perspektive setzen sich auseinander: Albert Funk: Föderalismus in Deutschland. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2010 , sowie: Dietmar Willoweit (Hg.): Föderalismus in Deutschland: Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik, Köln, Böhlau 2019. Mit den politischen Systemen der Bundesländer beschäftigt sich aus vergleichender Perspektive: Sven Leunig (Hg.): Die Regierungssysteme der deutschen Länder, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2012. Als generelle Einführungen in den Föderalismus, die gleichwohl intensiv den deutschen Fall berücksichtigen, sind erschienen: Roland Sturm: Föderalismus. Eine Einführung, 3. Aufl., Baden- Baden, Nomos 2020, sowie Roland Sturm: Der deutsche Föderalismus. Grundlagen - Reformen - Perspektiven, Baden-Baden, Nomos 2015. Als schlanke und kompetente Einführung in den deutschen Föderalismus bietet sich zudem an: Werner Reutter: Die deutschen Länder. Eine Einführung, Wiesbaden, Springer VS 2020 . Empfohlen seien zudem die Beiträge in dem regelmäßig erscheinenden »Jahrbuch des Föderalismus« des Europäischen Zentrums für Föderalismus- Forschung Tübingen. Mit den Föderalismusreformen beschäftigen sich Beiträge in: Julia von Blumenthal/ Stephan Bröchler (Hg.): Föderalismusreform in Deutschland: Bilanz und Perspektiven im internationalen Vergleich, Wiesbaden, Springer VS 2010, sowie Achim Hildebrandt/ Frieder Wolf (Hg.): Die Politik der Bundesländer: Zwischen Föderalismusreform und Schuldenbremse, Wiesbaden, Springer VS 2016. Speziell mit der Rolle der Landtage setzt sich auseinander: Siegfried Mielke/ Werner Reutter (Hg.): Landesparlamentarismus, Geschichte - Struktur - Funktionen, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2012 . Die Theorie der Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="237"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 237 237 Links Politikverflechtungsfalle findet sich klassisch bei: Fritz W. Scharpf/ Bernd Reissert/ Fritz Schnabel: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg, Cornelsen Verlag Scriptor 1976 . Mit der Politikverflechtung im kooperativen Föderalismus beschäftigt sich: Sabine Kropp: Kooperativer Föderalismus und Politikverflechtung, Wiesbaden, VS Verlag 2010 . Der 1976 erstmalig erschienene »Klassiker« von Lehmbruch zur Verschränkung von Bundesstaat und Parteienstaat in Deutschland liegt in dritter Auflage vor: Gerhard Lehmbruch: Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Wiesbaden, Westdeutscher Verlag 2000 . In die Kommunalpolitik führen grundlegend ein: Siegfried Frech: Kommunalpolitik. Politik vor Ort, 2. Aufl., Stuttgart, Kohlhammer 2022, und Everhard Holtmann/ Christian Rademacher/ Marion Reiser: Kommunalpolitik. Eine Einführung, Wiesbaden, Springer VS 2017, sowie Jörg Bogumil/ Lars Holtkamp: Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine policyorientierte Einführung, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2013 . Folgendes juristisch fundierte Werk zur Kommunalpolitik ist ebenfalls bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen: Hans-Günter Henneke/ Klaus Ritgen: Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung in Deutschland, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung 2021. Weitere einführende Sammelbände zur Thematik sind: Stefan Schieren (Hg.): Kommunalpolitik, Probleme und Potentiale der »Wiege der Demokratie«, Schwalbach/ Ts., Wochenschau-Verlag 2010 , sowie Andreas Kost/ Hans-Georg Wehling (Hg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern, 2. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag 2010 . Links www.bundesrat.de Die Vertretung der Länder auf Bundesebene, der Bundesrat, stellt sich, ihre Aufgaben und ihre Zusammensetzung auf dieser Seite vor. In dem Online- Angebot finden sich auch Informationen zum Vermittlungsausschuss. Ebenfalls stehen dort die Dokumente und Plenarprotokolle des Bundesrates zum Abruf bereit, genauso wie detaillierte Statistiken zur Gesetzgebung. www.politische-bildung.de Auf dieser gemeinsamen Website der Landeszentralen für politische Bildung finden sich neben allgemeinen Informationen zur Politik in Deutschland auch Links zu den landesspezifischen Angeboten der Zentralen. www.wahlrecht.de/ gesetze.htm Auf dieser privat betriebenen Seite befinden sich Links zu den Verfassungen der deutschen Länder und zu den Kommunalverfassungen. <?page no="238"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 238 238 Die entgrenzte Demokratie - Europäisierung und Globalisierung Auf den folgenden Seiten geht der Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Vieles von dem, was heutzutage in der bundesdeutschen Demokratie geschieht, lässt sich kaum noch verstehen, wenn nicht die europäische und globale Dimension von Politik mitberücksichtigt wird. Seit geraumer Zeit ist von einer »Entgrenzung« des Nationalstaates oder einer »Denationalisierung« die Rede. Politik findet zwar immer noch in beachtlichem Ausmaß in nationalen politischen Systemen statt, aber die Einflüsse »von außen« haben erheblich zugenommen. Die nationalstaatlichen Grenzen lösen sich nicht ganz auf, sie werden jedoch in vielerlei Hinsicht durchlässiger. Dies verändert die Art und Weise, wie in der deutschen Demokratie verbindliche Entscheidungen hergestellt und umgesetzt werden. Mit zwei Formen der Entgrenzung des Nationalstaates wird sich das Kapitel auseinandersetzen: Im ersten Teil steht die »Europäisierung« im Mittelpunkt. Die Bundesrepublik Deutschland ist - wie eine Reihe weiterer Staaten - Mitglied der Europäischen Union (EU). Diese Mitgliedschaft ist weit mehr als eine unverbindliche Beteiligung an einer »schönen Idee«. Sie führt vielmehr dazu, dass sich zur nationalstaatlichen Form der Politikherstellung eine zweite gesellt hat. Ein bedeutsamer Teil der Regeln, die das Zusammenleben in Deutschland bestimmen, findet seinen Ursprung im politischen System der Europäischen Union. Die EU, so wie wir sie heute kennen, ist das Produkt eines jahrzehntelangen Prozesses der Annäherung zwischen den Staaten Europas. Im ersten Abschnitt sollen die Meilensteine, also die entscheidenden Weichenstellungen des europäischen Einigungsprozesses skizziert werden. Mit dem, was vormals Europäische Gemeinschaft(en) und heute Europäische Union heißt, hat sich ein eigener politischer Handlungsraum herausgebildet. Mit den Strukturen dieses Systems beschäftigt sich der anschließende Abschnitt und fragt nach deren Auswirkungen auf die Politik in den Mitgliedstaaten. Wie haben sich die Institutionen und Organisation der bundesdeutschen Demokratie infolge der europäischen Integration gewandelt? Wie haben sich die Herstellung, Umsetzung und Kontrolle politischer Entscheidungen verändert? 11 Inhalt <?page no="239"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 239 239 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie Vergleichbare Fragen drängen sich auch in der Diskussion über die Globalisierung der deutschen Demokratie auf - die zweite Form der Entgrenzung des Nationalstaates neben der Europäisierung. Allerdings ist der Begriff »Globalisierung« wesentlich unschärfer als das Konzept der Europäisierung. Deswegen erfolgt zu Beginn dieses Abschnitts zunächst eine Begriffsklärung: Was kann man unter Globalisierung verstehen? Welche Dimensionen hat Globalisierung? Anschließend werden, wie bereits bei der Europäisierung, die Auswirkungen der zweiten Entgrenzungsdimension auf die Politik in Deutschland thematisiert: Inwieweit schlägt sich die Globalisierung auf die Art und Weise nieder, wie in der deutschen Demokratie Politik gemacht werden kann? Am Ende steht die Erkenntnis, dass sich die Politik in Deutschland infolge der zweifachen Entgrenzung grundlegend gewandelt hat. Zu erwarten ist, dass sich dieser Wandel in den kommenden Jahrzehnten weiter fortsetzen wird. Angesichts dieser Entwicklungen muss die Frage nach der Ausgestaltung von Demokratie diesseits und jenseits der nationalen Grenzen neu gestellt werden. 11.1 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie 11.2 »Globalisierung« und der Wandel der deutschen Demokratie Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie Die Entscheidung für die Teilnahme am Aufbau einer Gemeinschaft der europäischen Nationen gehört womöglich zu den wichtigsten Weichenstellungen nach der Gründung der westdeutschen Demokratie. Diese Weichenstellung hat die deutsche Nachkriegsgeschichte grundlegend mitbestimmt. Die Etablierung der zweiten deutschen Demokratie, ihre wachsende Souveränität und auch die Deutsche Einheit im Jahre 1990 wären kaum denkbar gewesen, wenn sich die Bundesrepublik nicht an dem Projekt der europäischen Einigung beteiligt hätte. 11.1 <?page no="240"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 240 240 Die entgrenzte Demokratie Europäische Integration als Prozess Die Wurzeln des europäischen Einigungsprozesses reichen weit zurück. Als die Geburtsstunde der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg gilt der 9. Mai 1950. An diesem Tag hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine Pressekonferenz ab, auf der er eine Initiative seiner Regierung vorstellte. Dieser so genannte »Schuman-Plan« sah vor, dass Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland im Sektor der Kohle- und Stahlproduktion eine Gemeinschaft gründen sollten. Weitere Staaten waren eingeladen, sich dieser Initiative anzuschließen. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 unterzeichneten sechs europäische Staaten (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten) den Vertrag zur Gründung einer »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS), auch »Montanunion« genannt. Dieser trat am 23. Juli 1952 in Kraft. Die beteiligten Nationen übertrugen einen Teil ihrer Souveränität im Bereich der Kohle- und Stahlproduktion auf eine überstaatliche »Hohe Behörde«. Die Montanunion sollte die Keimzelle eines sehr dynamischen Prozesses werden. Die Dynamik der europäischen Integrationsgeschichte ist von zwei Entwicklungen geprägt: der Vertiefung und Erweiterung der europäischen Zusammenarbeit. Politikfeldbezogene Vertiefung der europäischen Integration Bereits wenige Jahre nach Gründung der Montanunion sprang das Integrationsprojekt auf andere Politikbereiche über. Mit den Römischen Verträgen von 1957 wurden die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) sowie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben gerufen. Die drei Organisationen wurden 1967 als »Europäische Gemeinschaften« verbunden, aus denen später die »Europäische Gemeinschaft« wurde. Etappen der europäischen Integration 1951 Montanunion (EGKS) 1957 Vertrag von Rom: Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft 1959 Beginn des Zollabbaus zwischen den Mitgliedstaaten 1962 Europäischer Agrarfonds nimmt seine Arbeit auf 11.1.1 »Schuman-Plan« Hintergrund Montanunion als Keimzelle der europäischen Integration 11.1.1.1 Zeitleiste <?page no="241"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 241 241 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie 1967 Entstehung der »Europäischen Gemeinschaften« 1972 Zusammenarbeit in der Außenpolitik 1979 Europäisches Währungssystem/ erste Direktwahl des Europäischen Parlaments 1985 Schengener Abkommen 1986 Einheitliche Europäische Akte 1993 Binnenmarkt, Europäische Union, Maastricht-Vertrag in Kraft 1999 Euro-Einführung, Vertrag von Amsterdam in Kraft 2002 Euro-Bargeld 2003 Vertrag von Nizza in Kraft 2005 Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt 2009 Vertrag von Lissabon in Kraft Insbesondere die wirtschaftliche Zusammenarbeit der beteiligten Staaten entfaltete eine enorme Dynamik. Die Wirtschaftsgemeinschaft begann zunächst nur als Freihandelszone, um schon bald darauf eine gemeinsame Zollpolitik gegenüber Drittstaaten zu entwickeln. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 stand dann die Schaffung eines Binnenmarktes auf der Agenda: Noch bestehende Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedern der EG sollten aufgehoben werden. Die Einführung einer (bis 2002 nur auf dem Papier vorhandenen) einheitlichen europäischen Währung Ende 1999 schuf eine »Währungsunion«, an der jedoch nicht alle Mitgliedstaaten der EU teilnehmen. Das Schengener Abkommen von 1985 regelt die Freizügigkeit und den Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten sowie den Schutz der EU-Außengrenzen. Der im Jahr 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht machte aus der »Europäischen Gemeinschaft« die »Europäische Union«. Damit weitete sich die inhaltliche Zuständigkeit ausdrücklich auch auf wirtschaftsferne Bereiche aus. Sowohl eine »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) als auch die Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik wurden in das Vertragswerk aufgenommen, wenngleich in diesen beiden Bereichen die Entscheidungsfindung - insbesondere in Angelegenheiten der europäischen Verteidigungspolitik - noch »intergouvernemental« und nicht »supranational« abläuft. Der Vertrag von Lissabon, die letzte größere Veränderung der Rechtsgrundlagen der EU, hat der Europäischen Union noch einmal weitere Zuständigkeiten zum Beispiel im Bereich der Klimapolitik zugewiesen sowie eine Stärkung der GASP und der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« mit sich gebracht. Umbenennung in »Europäische Union« <?page no="242"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 242 242 Die entgrenzte Demokratie Supranational vs. intergouvernemental Während in einer supranationalen Gemeinschaft die Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität an eine überstaatliche Institution abgeben, bleiben die Staaten in einem intergouvernementalen Zusammenschluss souverän. Die Entscheidungen supranationaler Organisationen sind in zugewiesenen Bereichen für die einzelnen Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich. Beschlüsse eines internationalen/ intergouvernementalen Zusammenschlusses sind hingegen nur dann bindend, wenn sie von den Mitgliedern anerkannt worden sind. Ausweitung der Mitgliedschaft der Europäischen Gemeinschaft/ Union Sechs Staaten gehörten zur ursprünglichen Gründungsgemeinschaft. Bei diesen sechs ist es nicht geblieben. Vielmehr sind im Laufe der Jahre zahlreiche weitere europäische Staaten hinzugekommen. Die Erweiterung hat in verschiedenen Runden und in alle Himmelsrichtungen Raum gegriffen. Ein besonderer Erweiterungsschritt fand 1990 statt: Infolge der Deutschen Einheit sind die fünf ostdeutschen Bundesländer in das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft aufgenommen worden. Der bislang größte Erweiterungsschritt vollzog sich am 1. Mai 2004: Die Europäische Union nahm zehn Länder aus Mittel- und Osteuropa sowie die Mittelmeerstaaten Malta und Zypern auf. Quasi als Nachzügler sind Anfang 2007 noch Bulgarien und Rumänien ordentliche Mitglieder der EU geworden. Das jüngste Mitgliedsland der EU ist Kroatien, das 2013 aufgenommen wurde. Weiteren Staaten ist mittlerweile der Status eines Beitrittskandidaten verliehen worden: Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien, Türkei. In Folge des russischen Angriffskrieges ist auch der Ukraine sowie der Republik Moldau 2022 der Kandidatenstatus zugesprochen worden. Eine Reihe von Staaten hat offiziell Interesse an einer Aufnahme in den »Club« bekundet (z. B. Bosnien und Herzegowina, Kosovo). Die Entscheidung Großbritanniens aus dem Jahre 2016, die Europäische Union zu verlassen, hatte die Erweiterungsdynamik erst einmal abgebremst. Der Austritt Großbritanniens aus der EU im Januar 2020 hat aus der Gemeinschaft der 28 eine Gemeinschaft von 27 Staaten gemacht - allerdings nur bis zur nächsten Erweiterungsrunde. Definition ▼ ▲ 11.1.1.2 Erweiterungsprozess »Brexit« <?page no="243"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 243 243 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie Jahr Erweiterungsrunde Staaten 1957 Römische Verträge Belgien Bundesrepublik Deutschland Frankreich Italien Luxemburg Niederlande 1973 1. Norderweiterung Dänemark Irland Vereinigtes Königreich 1981 1. Süderweiterung Griechenland 1986 2. Süderweiterung Portugal Spanien 1990 Deutsche Einheit Neue Bundesländer 1995 2. Norderweiterung Finnland Österreich Schweden 2004 1. Osterweiterung Estland Lettland Litauen Malta Polen Slowakei Slowenien Tschechische Republik Ungarn Zypern 2007 2. Osterweiterung Bulgarien Rumänien 2013 Kroatien-Erweiterung Kroatien aktuelle Beitrittskandidaten (Stand Nov. 22) Albanien Nordmazedonien Moldau Montenegro Serbien Türkei Ukraine Tab. 25 Territoriale Erweiterung der EG/ EU <?page no="244"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 244 244 Die entgrenzte Demokratie Integration: Fortschritt mit Rückschlägen Vergleicht man die Situation von 1952 mit der heutigen, hat die europäische Integration insgesamt einen Quantensprung getätigt. Das heißt freilich nicht, dass es sich um einen stetigen Vorwärtsprozess gehandelt hätte. Vielmehr gab es auch immer wieder Rückschläge und Stagnation. Legendär ist die Blockadepolitik Frankreichs 1965/ 1966, als die Regierung unter Charles de Gaulle angesichts geplanter Änderungen u. a. im Bereich der europäischen Agrarpolitik erhebliche Nachteile für Frankreich befürchtete. Weil die französische Delegation von Juli 1965 bis Januar 1966 den Sitzungen des Ministerrats fernblieb, konnten keine Entscheidungen mehr getroffen werden. Erst der »Luxemburger Kompromiss« von 1966, der ein besonderes Vetorecht einführte, beendete die »Politik des leeren Stuhls«. Auch die »Eurosklerose«, die Stagnation des Integrationsprozesses zu Beginn der 1980er Jahre, schien den Fortschritt in der europäischen Zusammenarbeit in Frage zu stellen. Ein weiterer Rückschlag war die Ablehnung des »Verfassungsvertrags« durch die Bürger: innen in Frankreich und in den Niederlanden 2005. Und dann hat die Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union wieder zu verlassen, den Integrationsprozess erschüttert. Erstmalig verabschiedete sich ein Land aus der Union - mit komplexen Folgewirkungen auf beiden Seiten des Kanals. Der Vertrag von Lissabon Nachdem der EU-Verfassungsvertrag 2005 an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, gelang mit dem Vertrag von Lissabon im zweiten Anlauf eine institutionelle Reform der Europäischen Union in den 2000ern. Der Vertrag wurde 2007 in der portugiesischen Hauptstadt unterzeichnet und trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Wichtige institutionelle Änderungen waren unter anderem: die Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments (auch in Haushaltsfragen), die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat über weitere Politikfelder, die Schaffung der Position eines »Präsidenten des Europäischen Rates«, die Einrichtung des Amts eines/ r »EU-Außenministers/ in« und eines »Europäischen Auswärtigen Dienstes« sowie die Einführung einer »Europäischen Bürgerinitiative« (bei der mindestens eine Million Bürger: innen die Kommission auffordern können, einen Gesetzentwurf zu einem Thema vorzulegen). Die bisherige Integrationsgeschichte scheint in der Gesamtschau jedoch zu lehren, dass es eine Frage der Zeit ist, bis Rückschritte wieder aufgefangen werden. So hat der Vertrag von Lissabon viele Punkte aus dem gescheiterten Verfassungsvertrag übernommen. Und der Brexit könnte in einigen Bereichen auch zur Intensivierung der Zusammenarbeit führen - ebenso wie die 11.1.1.3 Rückschläge im Integrationsprozess Hintergrund »Dialektik von Krise und-Reform« <?page no="245"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 245 245 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie Bewältigung der Pandemie oder die Energie- und Klimakrise. Dieses »nach vorne und zurück« der europäischen Integration betrachtend spricht der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld von einer »Dialektik von Krise und Reform« - eine Dialektik, aus der immer wieder neue Formen der Zusammenarbeit entstehen. Die Europäische Union ist jedenfalls die im globalen Vergleich am weitesten fortgeschrittene Form der regionalen Zusammenarbeit von Nationen. Sie ist einerseits mehr als nur ein Staatenbund, d. h. mehr als eine internationale Zusammenarbeit von souveränen Staaten. In weiten Teilen handelt es sich bei der EU um einen supranationalen Zusammenschluss. Andererseits ist die Europäische Union auch weniger als ein Bundesstaat wie Deutschland oder die USA, in dem die Bundesebene über die Teilstaaten dominiert. Die Europäische Union ist eine Zwischenform, für die sich das Bundesverfassungsgericht den Begriff »Staatenverbund« hat einfallen lassen. Das politische System der Europäischen Union Bei dem, was sich in der Europäischen Union an Organisationen und Organisationsbeziehungen entwickelt hat, kann man mit Fug und Recht von einem »politischen System« sprechen. Denn dort wird autonom Recht gesetzt, ausgeführt und kontrolliert. Allerdings handelt es sich um ein ganz eigenwilliges politisches System, das sich von dem, was uns auf nationaler Ebene begegnet, grundlegend unterscheidet. Gerne wird hier die Wendung »sui generis« bemüht: Es handele sich um ein System »eigener Art«, um etwas Unvergleichliches, etwas Einmaliges. Bereits die Frage, wo sich im Gefüge der Europäischen Union die Exekutive und wo die Legislative verorten lässt, führt zu vergleichsweise ungewöhnlichen Antworten. Es sind drei Instanzen, die maßgeblich an der Entstehung des europäischen Rechts mitwirken: der Europäische Ministerrat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Der Ministerrat (auch: Rat der Europäischen Union) galt über Jahrzehnte hinweg als das wichtigste Organ der europäischen Rechtsetzung. In diesem Gremium kommen die Fachminister: innen der Mitgliedstaaten zusammen, um über EU-Gesetzesvorlagen zu beraten. Es gibt nicht nur einen Ministerrat, sondern verschiedene, je nachdem welche Ressortchefs sich treffen. Der Ministerrat entscheidet in der Regel mit »qualifizierter Mehrheit« (55 und mehr Prozent der Ratsmitglieder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen). Treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten mit der Spitze der Kommission, nennt sich dies »Europäischer Rat«. Der Europäi- 11.1.2 Einzigartiges System Ministerrat entscheidet über Gesetzesvorlagen <?page no="246"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 246 246 Die entgrenzte Demokratie sche Rat gibt »der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest« (Art. 15 EU-Vertrag). Auf dieser höchsten Ebene kommen die Mitgliedstaaten mindestens zweimal jährlich zusammen. Eine parlamentarische Körperschaft hat stets zum Bauplan der europäischen Kooperation gehört, auch wenn diese in den ersten Jahren nicht Parlament, sondern »Gemeinsame Versammlung« hieß. Ab dem Ende der fünfziger Jahre hat sich der Name »Europäisches Parlament« etabliert. Seit 1979 wird es alle fünf Jahre von den Bürger: innen der Europäischen Union direkt gewählt. Im Laufe der Integrationsgeschichte hat das Europäische Parlament mit seinem Erstsitz in Straßburg an Kompetenzen im Bereich der Rechtsetzung hinzugewonnen. Es wurden neue Verfahren eingeführt, die dem Parlament einen verbindlicheren Einfluss verliehen haben. Der Lissabonner Vertrag hat das frühere »Mitentscheidungsverfahren«, in dem das Parlament gleichberechtigt mit dem Ministerrat an der Rechtsetzung teilnimmt, zum Regelverfahren gemacht. Die Europäische Kommission besteht aus den Kommissar: innen und dem/ der Präsidenten/ in an der Spitze. Die Person für die Kommissionspräsidentschaft wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen; das Parlament wählt den Kommissionsvorsitz. Dabei haben die großen europäischen Parteien 2014 erstmalig Spitzenkandidaten aufgestellt. Bei der Nominierung hatte der Europäisches Parlament gewinnt an Einfluss Rat der Europäischen Union Ministerrat mit 27 Minister: innen Europäischer Rat 27 Staats- und Regierungschefs Präsident/ in der Kommission Präsident/ in des Europäischen Rates Europäische Kommission 27 Mitglieder inklusive Präsident/ in der Kommission und Hohe/ r Vertreter/ in Europäischer Gerichtshof Ausschuss der Regionen 329 Mitglieder Europäischer Rechnungshof Wirtschafts- und Sozialausschuss 329 Mitglieder Europäisches Parlament 705 Abgeordnete inkl. Präsident/ in Organe der Europäischen Union (Zusammensetzung vor Austritt Großbritanniens) Abb. 31 <?page no="247"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 247 247 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie Europäische Rat folglich keinen wirklichen Spielraum. 2019 hat dies die Staats- und Regierungschefs aber nicht davon abgehalten, mit Ursula von der Leyen eine Kandidatin als Präsidentin vorzuschlagen, die nicht aus dem Kreis der Spitzenkandiderenden kam. Die Mitgliedstaaten schlagen zudem in Einvernehmen mit dem/ der Kommissionspräsidenten/ in Kandidierende für die Kommissarpositionen vor und das Parlament muss in einem zweiten Schritt die Gesamtkommission wählen. Die Europäische Kommission im weiten Sinne umfasst noch die Generaldirektionen, also die nachgeordnete EU-Verwaltung, die einer nationalen Ministerialbürokratie vergleichbar aufgebaut ist. Aufgabe der Kommission, die auch als »Motor der europäischen Integration« bezeichnet wird, ist es zum einen, dem Ministerrat und dem Parlament Entwürfe für Rechtsakte der EU vorzulegen. Hier ist sie also »legislativ« tätig. Zum anderen hat die Kommission »ausführende« Kompetenzen. Als »Exekutive« hält sie die Umsetzung europäischen Rechts in den Ländern der EU nach. Gegebenenfalls kann sie beim Europäischen Gerichtshof ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat anstrengen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist die Judikative im EU-System (zusammen mit dem vorgelagerten »Gericht erster Instanz«, das 1989 zur Entlastung des EuGH eingerichtet worden ist). Der EuGH entscheidet über Konflikte zwischen den EU-Institutionen. Zudem urteilt er auf Antrag darüber, ob die Mitgliedstaaten ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllen. Insofern »hütet« der EuGH das Gemeinschaftsrecht und entwickelt es fort. Als weiteres Organ der Union ist noch der Europäische Rechnungshof zu erwähnen. Dieser hat die Aufgabe der Rechnungsprüfung; seine Kontrolltä- Kommission hat legislative und exekutive-Aufgaben EuGH hütet das Gemeinschaftsrecht Amtszeit Präsident/ in Herkunftsland 1958 - 1967 Walter Hallstein Deutschland 1967 - 1970 Jean Rey Belgien 1970 - 1972 FrancoMaria Malfatti Italien 1972 - 1973 Sicco Leendert Mansholt Niederlande 1973 - 1977 FrançoisXavier Ortoli Frankreich 1977 - 1981 Roy Jenkins Großbritannien 1981 - 1985 Gaston Thorn Luxemburg 1985 - 1995 Jacques Delors Frankreich 1995 - 1999 Jacques Santer Luxemburg 1999 - 2004 Romano Prodi Italien 2004 - 2014 José Manuel Dur-o Barroso Portugal 2014 - 2019 Jean-Claude Juncker Luxemburg seit 2019 Ursula von der Leyen Deutschland 1958 bis 1967: Kommission der EWG, seit 1967: Kommission der EG/ EU Tab. 26 Präsident: innen der Europäischen Kommission seit 1958 <?page no="248"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 248 248 Die entgrenzte Demokratie tigkeit erstreckt sich über alle Einnahmen und Ausgaben der Europäischen Union. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie der Ausschuss der Regionen (s. u.) haben lediglich beratende Funktionen. Das politische System der Europäischen Union hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gewandelt. Es ist in Bewegung, aber auf welchen (stabilen) Aggregatzustand hin? Die »Finalität« der europäischen Integration, also was am Ende des Prozesses stehen wird und soll, ist unklar: Will man einen Bundesstaat im Sinne der »Vereinigten Staaten von Europa« oder doch nur einen Staatenbund? Möchte man ein Kerneuropa, in dem einige Staaten mit der Integration voranschreiten? Auch ist unter den Mitgliedstaaten und innerhalb der Wissenschaft ungeklärt, ob eine Zielformulierung überhaupt wünschenswert ist. In der Debatte findet sich immer wieder die These, dass es der EU an wesentlichen Eigenschaften eines staatlichen Systems mangele; insofern werde sie stets etwas »Besonderes« und Dynamisches bleiben. Europäisierung deutscher Politik-- wie verändert sich die-deutsche Demokratie? Die Entstehung des politischen Systems der EU hat fundamentale Veränderungen der nationalen politischen Systeme zur Folge. »Europäisierung« bezeichnet den Wandel der nationalen Politik, der von der europäischen Integration angestoßen worden ist. Das Phänomen »Europäisierung« schlägt sich in ganz unterschiedlichem Ausmaß nieder, je nachdem, welchen Politikbereich man sich anschaut oder welchen Akteur man in den Blick nimmt. Die Europäisierung deutscher Politik kann an folgenden Entwicklungen festgemacht werden: (1) Wandel der Gesetzgebung und Interessenvermittlung, (2) Wandel in der Gesetzesausführung und Rechtsprechung, (3) Wandel in der Bundesstaatlichkeit. Europäisierung der Gesetzgebung und Interessenvermittlung Das politische System der Europäischen Union hat in vielen Bereichen die Kompetenz erhalten, Recht zu setzen. Im Sinne eines Nullsummenspiels muss der Europäischen Union diese Rechtsetzungsmacht von anderen übertragen worden sein, obschon die europäische Integration auch neue Bereiche für legislative Tätigkeit geschaffen hat. In der Tat sind es die nationalen Systeme, die einen Teil ihrer gesetzgeberischen Befugnisse an die Europäische Union abgetreten haben. In bestimmten Bereichen bleiben den nationalen Gesetzgebern wie dem Bundestag nur noch marginale Gestaltungsmöglichkeiten. Dies gilt beispielsweise in Fragen der Zoll- oder der Wettbewerbspolitik. In anderen Feldern wie Umwelt und Verkehr teilt sich die EU die Zuständigkeiten »Finalität« offen 11.1.3 11.1.3.1 Zunehmende Rechtsetzungsmacht der-EU <?page no="249"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 249 249 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie mit den nationalen Gesetzgebern, wobei jedoch europäische Regelungen Vorrang haben. Eine erste Facette der Europäisierung ist somit ein Verlust an Kompetenzen bei den Organen, die auf der nationalen Ebene die Aufgabe haben, Recht zu setzen. Das betrifft insbesondere die Parlamente der Mitgliedstaaten. Dieser Rückgang an Kompetenzen wird nicht durch den gleichzeitigen Gewinn an Einfluss auf die europäische Rechtsetzung aufgefangen. Immer wieder hat sich der Bundestag mit wechselndem Erfolg bemüht, seine Kompetenzen auf der europäischen Ebene zu stärken, oder das Bundesverfassungsgericht hat eine Stärkung des Bundestags eingefordert (→ Kapitel 6) . So sichern der »Europa-Artikel« (Art. 23 GG) sowie weitere Vereinbarungen dem Bundestag und Bundesrat das Recht auf frühzeitige Information. Der Vertrag von Lissabon hat zudem den nationalen Parlamenten das Klagerecht beim EuGH eingeräumt sowie die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Parlamenten europäische Rechtsetzung zu blockieren („Frühwarnmechanismus“). Doch ist der Bundestag nicht - wie beispielsweise die Bundesregierung im Ministerrat - unmittelbar in einer europäischen Institution vertreten. Für die Bundesregierung bringt dies strategische Vorteile. Sie spielt auf zwei Ebenen und kann entsprechend flexibel vorgehen: Wenn es nicht gelingt, eine Initiative im nationalen politischen System durchzusetzen, hat die Regierung immer noch die Möglichkeit, diese Idee über die Organe auf europäischer Ebene einzubringen und zu realisieren, sofern sie dafür Mehrheiten mobilisieren kann. In diesem Zusammenhang spricht man vom »Zwei-Ebenen-Spiel« der Regierungen in der Europäischen Union. Einflussmöglichkeit der-Bundesregierung auf-zwei Ebenen 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Jus z- und Innenpoli k Regionalpoli k Umweltpoli k Verkehrspoli k Agrarpoli k Währungspoli k Grad der Europäisierung (1 = schwach bis 10 = stark europäisiert) Abb. 32 Grad der Europäisierung von Politikfeldern (nach Sturm/ Pehle) Quelle: Roland Sturm/ Heinrich Pehle: Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2012, S. 351. <?page no="250"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 250 250 Die entgrenzte Demokratie Artikel 23 Abs. 1 bis 3 GG (1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. [...] (1a) Der Bundestag und der Bundesrat haben das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. Der Bundestag ist hierzu auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet. [...] (2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. (3) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahme des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz. Die Entscheidungen, die auf EU-Ebene getroffen werden, können die Form von »Verordnungen« oder »Richtlinien« haben. Verordnungen sind unmittelbar geltendes Recht. Sie müssen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union von den jeweiligen Verwaltungseinheiten umgesetzt werden und binden die Rechtsprechung der nationalen Gerichte. Wenn europäische Rechtsakte hingegen als Richtlinien verabschiedet werden, ist das Vorgehen anders. Bei einer Richtlinie wird seitens des europäischen Gesetzgebers eine verbindliche Vorgabe gemacht, wie und bis wann die nationalen Gesetzgeber ihr jeweiliges Recht zu ändern haben, um das inhaltliche Ziel zu erreichen. Hierbei sind dem Spielraum der nationalen Parlamente enge Grenzen gesetzt. Zumindest können sie nicht unter den Anforderungen der Vorgabe bleiben. Es steht ihnen aber frei, über die verpflichtenden Standards hinauszugehen. Eine Befürchtung oder - je nachdem - Hoffnung bezogen auf die inhaltliche Seite der EU-Rechtsetzung hat sich nicht bewahrheitet: Es lässt sich bei den Rechtsakten der Europäischen Union kein generelles »race to the bot- Wortlaut ▼ ▲ Verordnungen und Richtlinien <?page no="251"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 251 251 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie tom« feststellen. Das heißt, was von der EU als Recht gesetzt wird, stellt nicht zwangsläufig den kleinsten gemeinsamen Nenner nationaler Regelungen dar. Vielmehr reichen die EU-Vorgaben etwa im Daten- und Verbraucherschutz zum Teil weit über die jeweiligen nationalen Standards hinaus. Die Interessenverbände haben bereits darauf reagiert, dass eine Reihe von Entscheidungen nicht mehr in den Händen der deutschen Bundesorgane liegt, sondern von den Institutionen der EU verantwortet wird. Es sind europäische Verbände entstanden. Gleichzeitig haben die nationalen Interessenvertretungen nicht mehr nur eine Präsenz in Berlin; vielmehr betreiben sie auch Niederlassungen in Brüssel und Straßburg. Somit kann auch von einer Europäisierung der organisierten Interessen gesprochen werden. Allerdings hat eine vergleichbare Europäisierung anderer Instanzen der Interessenvermittlung, insbesondere der Parteien oder der Medien, bislang noch nicht stattgefunden. Europäisierung der Gesetzesausführung und Rechtsprechung Das Recht, das vom politischen System der Europäischen Union ausgeht, entfaltet wie beschrieben unmittelbare und mittelbare Wirkung in den nationalen Systemen. Es ist verbindlich und muss angewendet werden. Die Europäische Kommission als »Hüterin der Verträge« wacht über die Umsetzung der Rechtsakte in den Staaten der Europäischen Union. Europäisierung organisierter Interessen 11.1.3.2 Wahlperiode Anzahl der Vorlagen 1.-2. WP: 1949-1957 3. WP: 1957-1961 13 4. WP: 1961-1965 224 5. WP: 1965-1969 745 6. WP: 1969-1972 946 7. WP: 1972-1976 1759 8. WP: 1976-1980 1706 9. WP: 1980-1983 1355 10. WP: 1983-1987 1828 11. WP: 1987-1990 2413 12. WP: 1990-1994 2070 13. WP: 1994-1998 2952 14. WP: 1998-2002 3137 15. WP: 2002-2005 2491 16. WP: 2005-2009 3950 17. WP: 2009-2013 4258 18. WP: 2013-2017 3861 19. WP: 2017-2021 4001 Tab. 27 EG/ EU-Vorlagen im Deutschen Bundestag Quelle: Datenhandbücher des Deutschen Bundestages <?page no="252"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 252 252 Die entgrenzte Demokratie Die Ausführung des europäischen Rechts findet zu größten Teilen in den nationalen Verwaltungsstrukturen statt. Nur wenige europäische Agenturen übernehmen exekutive Aufgaben. Für Deutschland bedeutet dies, dass das EU-Recht im Rahmen des Verbundföderalismus umgesetzt wird. Die Länder mit ihren kommunalen Untergliederungen schultern einen Großteil der Verwaltungsleistungen im nationalen Bereich. Insofern sind auch diese entsprechend gefordert, wenn es darum geht, europäisches Recht in die Praxis zu übertragen. Mit der Existenz einer zweiten Rechtsordnung, einer europäischen, die sich neben die nationale stellt, wandelt sich auch die Rechtsprechung in Deutschland. Denn die Einhaltung des europäischen Rechts muss nachgehalten und kontrolliert werden, insbesondere dann, wenn europäische und nationale Bestimmungen in Konflikt geraten. Hierzu dient zunächst die richterliche Instanz auf europäischer Ebene, der Europäische Gerichtshof. Dieser entscheidet über die Vereinbarkeit von nationalen Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht. Auch deutsche Gerichte sind in der Lage, eine solche Prüfung vorzunehmen. So weit, so unstrittig. Umstritten ist allerdings, inwieweit das Bundesverfassungsgericht entscheiden kann, ob europäisches Recht mit nationalen Verfassungsnormen, z. B. den Grundrechten, in Konflikt steht. Das Verfassungsgericht hatte sich diese Kompetenz im so genannten »Solange I«-Urteil aus dem Jahr 1974 zugesprochen: »Solange« es keine Grundrechtskontrolle auf europäischer Ebene gebe, sei das Bundesverfassungsgericht für die entsprechende Prüfung von europäischem Recht zuständig. Von dieser Position ist es später, im »Solange II«-Urteil aus dem Jahre 1986, abgerückt: Es verzichtete auf die Kontrolle des Gemeinschaftsrechts, »solange« gewährleistet sei, dass der EuGH solche Prüfungen übernimmt. Allerdings hat das oberste deutsche Gericht im »Maastricht-Urteil« von 1993 sowie im »Lissabon-Urteil« von 2009, die beide heftig kritisiert worden sind, durchaus wieder eine Überprüfung europäischen Rechts anhand des Grundgesetzes praktiziert. Und noch 2020 hat das Bundesverfassungsgericht ein Anleihe-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank als verfassungswidrig erklärt und sich damit über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hinweggesetzt. »Maastricht-« und »Lissabon-Urteil« Das Bundesverfassungsgericht hatte sowohl im Rahmen der Ratifikation des Vertrags von Maastricht als auch nach Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon über die Vereinbarkeit dieser Integrationsschritte mit dem Grundgesetz zu entscheiden (1993 und 2009). In beiden Fällen wies das Gericht die Klagen gegen die Zustimmungsgesetze zurück, forderte gleichwohl Nachbesserungen in den deutschen Begleitgesetzen. In beiden Entscheidungen Bund und Länder setzen Rechtsakte der EU um »Solange« Hintergrund <?page no="253"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 253 253 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie spiegelt sich eine kritische Haltung des Gerichts gegenüber einer Vertiefung der europäischen Integration. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Mitgliedstaaten als die »demokratischen Primärräume« und fordert deswegen, dass das nationale Parlament substanzielle Befugnisse behalten müsse, solange es auf der Ebene der EU keine wirkliche Demokratie gebe. Die Europäische Union dürfe nicht Zuständigkeiten an sich ziehen (»Kompetenzkompetenz«), sondern ihr müssten diese von den nationalen Parlamenten ausdrücklich übertragen werden. Jede zukünftige Verlagerung von Hoheitsbefugnissen auf die Ebene der Europäischen Union müsse auf ihre Demokratieverträglichkeit hin überprüft werden. In seiner Rechtsprechung pendelt das Bundesverfassungsgericht bei der Frage, inwieweit es europäisches Recht auf seine Vereinbarkeit mit dem deutschen Verfassungsrecht überprüfen könne, hin und her. In der Gesamtschau bringt die Europäisierung jedenfalls substanzielle Einschränkungen der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts mit sich, gegen die sich die Richter: innen in einigen ihrer Entscheidungen zu stemmen versucht haben. Europäisierung der deutschen Bundesstaatlichkeit Neben dem Bundestag und dem Bundesverfassungsgericht scheinen auch die Länder zu den Verlierern der europäischen Integration zu gehören. Durch das, was in »Brüssel« geschieht, werden die Spielräume der Landtage und Landesregierungen tendenziell eingeengt. Die Europäische Union berücksichtigt nur bedingt, dass in einigen ihrer Mitgliedstaaten ausgeprägte föderale Strukturen existieren. Zwar gibt es mit dem Ausschuss der Regionen eine Vertretungskörperschaft für die »Länder« auf der EU-Ebene; diese ist jedoch vergleichsweise schwach. Sie besitzt nur unverbindliche, beratende Kompetenzen. Außerdem ist ihre Zusammensetzung höchst heterogen und hängt davon ab, welche regionalen Strukturen die Mitgliedstaaten jeweils haben. Ausschuss der Regionen (AdR) Der AdR ist mit dem Vertrag von Maastricht ins Leben gerufen worden. Seine erste Sitzung fand im März 1994 statt. Er setzt sich aus höchstens 350 Delegierten zusammen. Die jeweilige Delegationsgröße richtet sich grob an der Bevölkerungsstärke der Mitgliedstaaten aus. Die nationalen Delegierten werden auf Vorschlag der Mitgliedstaaten für fünf Jahre ernannt. Der AdR Europäisierung beschränkt Kompetenzen des BVerfG 11.1.3.3 Definition ▼ <?page no="254"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 254 254 Die entgrenzte Demokratie hat das Recht zur Stellungnahme in bestimmten Rechtsetzungsbereichen und soll dabei die Interessen der regionalen und kommunalen Ebene einbringen. Seine Stellungnahmen sind unverbindlich. Da der Ausschuss der Regionen nur bedingt als Einflusskanal auf die europäische Politik taugt, versuchen die Länder auf anderen Wegen die Entscheidungen der Europäischen Union in ihrem Sinne mitzugestalten - in Form einer eigenen Europapolitik. So haben die Bundesländer Vertretungsbüros in Brüssel eingerichtet, die »Lobby-Arbeit« betreiben. Oder sie versuchen in Zusammenarbeit mit anderen Regionen in Europa ihre Position zu stärken. Die deutschen Länder haben noch eine weitere Möglichkeit, an europäischer Politik mitzuwirken: indem sie über die Bundesebene Einfluss nehmen. Der Artikel 23 GG legt nicht nur fest, dass der Bundestag über die Rechtsetzungsprojekte in der EU informiert werden muss. Auch der Bundesrat und damit die Landesregierungen müssen zeitig in Kenntnis gesetzt werden. Die jeweilige Position des Bundesrates ist in einigen Bereichen »maßgeblich« zu berücksichtigen. Mitunter kann auch die Zustimmung des Bundesrates erforderlich sein. In bestimmten Situationen vermag sogar ein Delegierter der Länder die Rechte des Bundes in der EU wahrzunehmen. Schließlich ist durch den Vertrag von Lissabon nun auch der Bundesrat klageberechtigt beim EuGH. Art. 23 Abs. 4 bis 6 GG (4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. (5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im Übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. [...] (6) Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom ▲ Länder betreiben eigene-Europapolitik Wortlaut ▼ <?page no="255"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 255 255 Europäisierung und der Wandel der deutschen Demokratie Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. Sowohl über den Bundesrat als auch bei der unmittelbaren Vertretung der Länderinteressen auf EU-Ebene sind die Landesregierungen eingebunden. Dies macht deutlich, dass stärker noch als die Exekutiven der Länder die Parlamente, also die Landtage, zu den Verlierern des Integrationsprozesses gehören. Diese sind weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene unmittelbar vertreten. Sie mussten dennoch eine Reihe von Kompetenzen an die Gesetzgeber auf den anderen Ebenen abtreten. Die Übertragung von Kompetenzen an die Organe der EU fiele den Parlamenten in den Mitgliedstaaten womöglich leichter, wenn das System der Europäischen Union eine unstreitig demokratische Legitimation aufweisen würde. Aber hieran gibt es erhebliche Zweifel. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union Eine gern bemühte Pointe lautet: Die Europäische Union könnte selbst nicht Mitglied der EU werden. Sie erfüllte nicht die Anforderungen an demokratische Verfasstheit, die sie ihren Mitgliedern abverlangt. Die Kritik an der demokratischen Legitimation der Europäischen Union ist in den vergangenen Jahrzehnten immer lauter geworden: Die EU habe zwar dramatisch an Macht gewonnen, allerdings hätte ihre demokratische Ausgestaltung nicht mitgezogen. In der Debatte um die Demokratie in der EU gibt es eine erhebliche Breite in den Positionen: Zunächst sehen einige Beobachter überhaupt keinen Anlass zur Sorge und Kritik. Entscheidungen in der Europäischen Union würden durchaus demokratisch abgestützt, wenn auch anders als im Nationalstaat. EU-Forscher wie Andrew Moravcsik beklagen, dass an die Europäische Union strengere Maßstäbe angelegt werden als an die nationalen Demokratien. Dieser »no-problem«-These stehen verbreitet kritische Wahrnehmungen gegenüber. Eine institutionelle Variante der Kritik besagt, dass die konkrete Organstruktur der Europäischen Union keine Demokratie erlaube. Das Europäische Parlament sei trotz all seiner Stärkung noch zu schwach und müsse weiter aufgewertet, die intergouvernementalen Organe wie der Ministerrat hingegen geschwächt werden. Ergänzend sei die Etablierung ▲ Parlamente als Verlierer-des Integrationsprozesses 11.1.4 »no-problem«-These <?page no="256"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 256 256 Die entgrenzte Demokratie eines effektiven europäischen Parteiensystems, die Stärkung der europäischen Komponente bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und die Förderung einer europäischen Öffentlichkeit anzugehen. Eine radikale, substanzielle Demokratiekritik besagt wiederum, dass selbst neue und bessere Institutionen nichts nützen würden. Die Europäische Union hätte ohnehin nicht die Eigenschaften, die es bräuchte, um demokratisch verfasst zu sein. Es fehle an wichtigen Elementen: einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Identität. Es gebe kein »europäisches Volk«, von dem eine »Volksherrschaft« ausgehen könne. Dieser Sichtweise, welcher der Europaforscher Joseph Weiler den Begriff »no-demos« gegeben hat (»demos« heißt auf Griechisch »Volk«), hat sich auch das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zum Maastricht- und Lissabon-Vertrag angeschlossen: Der verlässlichste Rahmen für die Legitimation von Entscheidungen bleibe immer noch der Nationalstaat, denn nur in ihm sei die Volkssouveränität über das demokratisch gewählte Parlament gewährleistet. Dieser Logik entspricht auch das Prinzip der Subsidiarität: Möglichst viele Kompetenzen sollten auf einer möglichst tiefen politischen Ebene angesiedelt sein. Subsidiarität (lat. subsidium ferre = »Hilfe leisten«) Das Konzept der Subsidiarität entstammt der katholischen Soziallehre. Es wertschätzt die Eigenleistung der Bürger: innen und fordert eine generelle Zurückhaltung des Staates. Auf die EU übertragen bedeutet das Prinzip, dass eine Maßnahme nur dann auf einer Ebene beschlossen werden soll, wenn die jeweils tiefer liegende Ebene (Nation, Länder, Kommunen, Nachbarschaft) nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen. Der Vertrag von Maastricht erwähnte erstmalig das Subsidiaritätsprinzip als Leitbild für die europäische Integration. Der Vertrag von Lissabon ermöglicht den nationalen Parlamenten die Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips im Rahmen der Subsidiaritätsrüge und Subsidiaritätsklage. Von hier aus ist es nicht weit zu einer immer wieder zu findenden Forderung: Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere deren Parlamente, sollen stärker in die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene eingebunden werden. Die adäquate Antwort auf die Europäisierung »von oben nach unten« sei eine Demokratisierung »von unten nach oben«. »Lissabon« hat für eine solche Stärkung der Parlamente gesorgt, z. B. durch die Einführung des Klagerechts. Allerdings sind Zweifel an der Nachhaltigkeit »no-demos«-These Definition ▼ ▲ Europäisierung vs. Demokratisierung <?page no="257"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 257 257 »Globalisierung« und der Wandel der-deutschen-Demokratie dieser formalen Stärkung angezeigt. Womöglich muss eine »Demokratisierung von unten« noch grundlegender ansetzen: bei den Menschen. Denn es lassen sich viele Hinweise darauf finden, dass das europäische Integrationsprojekt bisher nicht von den europäischen Bürger: innen in der Breite getragen wird. Jedenfalls lässt sich in dem Schlagwort von der »europäisierten Demokratie« eine Spannung ausmachen. Die europäische Integration erfordert zwingend eine demokratische Abfederung. Europäisierung ist nicht automatisch mit Demokratisierung verbunden - eher im Gegenteil. »Globalisierung« und der Wandel der-deutschen-Demokratie Die zweite Form der Entgrenzung des Nationalstaates läuft unter dem Schlagwort »Globalisierung«. Dieser Begriff ist in den vergangenen Jahren häufig verwendet worden. Doch ist nicht immer ganz klar, was damit gemeint ist. Gelegentlich ist auch von »Transnationalisierung« oder »Internationalisierung« die Rede. Was die Globalisierung für die deutsche Demokratie bedeutet, ist noch viel schwerer zu beantworten als die Frage, welche Folgen die Europäisierung hat. Es soll dennoch versucht werden. »Globalisierung« als diffuser Begriff Wird über »Globalisierung« gesprochen, dann verengt sich die Debatte sehr schnell auf die wirtschaftliche Entgrenzung und ihre Auswirkungen auf den »Standort Deutschland«. Globalisierung ist allerdings mehr als ein rein ökonomisches Phänomen. Es lassen sich fünf Dimensionen der »Globalisierung« unterscheiden: (1) Dimension Gewalt: Die Fortschritte in der Waffentechnologie lassen territoriale Grenzen überwindbar werden. Drohung und Bedrohung werden grenzüberschreitend. Konflikte (auch Bürgerkriege) bleiben nicht nationalstaatlich eingehegt, sondern haben stets eine zweite, eine globale Dimension. In den vergangenen Jahren hat zudem der internationale Terrorismus als staatenübergreifende Bedrohungs- und Gewaltform an Dramatik gewonnen. (2) Dimension Umwelt: Auch die Natur kennt keine staatlichen Grenzen. Phänomene wie der Klimawandel oder die Vermüllung der Weltmeere sind per se weltumspannende Herausforderungen. Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Zusammenarbeit verschärft sich die Problematik (Stichwort: ressourcenintensive und naturschädigende Warentransporte). 11.2 11.2.1 Globalisierung-- mehr als ein ökonomisches Phänomen <?page no="258"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 258 258 Die entgrenzte Demokratie (3) Dimension Kommunikation und Kultur: Die Grenzen fallen gleichfalls für kulturelle Produkte. Für dieses Phänomen wird gelegentlich auch der Begriff der Amerikanisierung verwendet, der aber nicht den Punkt trifft. Denn es existieren global angelegte kulturelle Strömungen, die sich als Parallel- oder Gegenbewegung zur Expansion US-amerikanischer Kulturgüter verstehen. Dass die kulturelle Kommunikation nicht mehr in nationalen Grenzen bleibt, ist auch der (massen-)kommunikativen Vernetzung der Welt geschuldet. Insbesondere das Internet ist zu einem Medium der Grenzüberwindung geworden. (4) Dimension Mobilität: Nicht nur die kulturellen Produkte und die Kommunikation der Menschen sind zunehmend mobil geworden, sondern auch die Menschen selbst. Zum Teil geschieht dies sporadisch und kurzfristig, wenn Personen aus touristischen Gründen oder als Geschäftsreisende Grenzen überwinden. Zum Teil ist die Mobilität »nachhaltig«: So haben die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. (5) Dimension Wirtschaft: »Last but not least« findet Globalisierung ökonomisch statt. Die nationalen Volkswirtschaften haben sich - wenn auch nicht in allen Bereichen - füreinander geöffnet. Eine Vielzahl von Staaten nimmt am Aufbau eines freien Weltmarktes teil und hat sich verpflichtet, Handelshemmnisse abzubauen. Organisatorisch wird die Idee einer weltweiten Freihandelszone von der »Welthandelsorganisation« (»World Trade Organization«, WTO) getragen. Tatsächlich hat der internationale Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Finanzen in den vergangenen Jahrzehnten erheblich zugenommen. Gerade für die deut- 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 Tausende Ausfuhr Einfuhr -50 0 50 100 150 200 250 300 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Tausende Saldo Abb. 33 Entwicklung der Einfuhren und Ausfuhren von und nach Deutschland Quelle: Statistisches Bundesamt (www.destatis.de) <?page no="259"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 259 259 »Globalisierung« und der Wandel der-deutschen-Demokratie sche Wirtschaft ist der Außenhandel eine entscheidende Größe. Deutschland ist auf Importe (insbesondere im Energiebereich) angewiesen. Zugleich stellt die Bundesrepublik eine der größten Exportnationen dar. Der Beitrag des Waren- und Dienstleistungsexports zur Sicherung der deutschen Wirtschaftskraft ist enorm. Der Begriff »Globalisierung« ist allerdings dort irreführend, wo er den Eindruck erweckt, die ganze Welt, der gesamte Globus, nehme gleichermaßen an dieser Entwicklung teil. Der genaue Blick auf die »Globalisierungsprozesse« macht vielmehr deutlich, dass es regionale Schwerpunkte gibt. So finden sich tote Winkel der Globalisierung, also Regionen, die in nur wenigen Hinsichten - wenn überhaupt - von den oben angeführten Entgrenzungen betroffen sind (beispielsweise die Länder südlich der Sahara). Andere Regionen, zum Beispiel der nordatlantische Bereich, sind vergleichsweise dicht und intensiv »globalisiert« (oder: »regionalisiert«). Deutschland jedenfalls befindet sich mit im Zentrum der Globalisierungsprozesse. »Globalisierung« deutscher Politik-- wie verändert sich die-deutsche Demokratie? Globalisierung scheint zunächst ein nicht-politischer Vorgang zu sein. Was hat der Staat damit zu tun und wie verändert sich dadurch die deutsche Demokratie? Zunächst einmal stellen bestimmte Globalisierungsprozesse die Fähigkeit der nationalen politischen Akteure in Frage, die Gesamtheit der Geschicke noch steuern zu können. Viele Veränderungen innerhalb Deutschlands werden von außen hervorgerufen, ohne dass die nationalen Instanzen wie Regierung und Parlament noch in der Lage sind, dem entgegenzuwirken. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Klimawandel, dessen Ursachen nur zu einem Bruchteil in Deutschland liegen und zu einem großen Teil dort, wo deutsche Politik nicht eingreifen kann. Aber auch die Globalisierung der Wirtschaft engt die staatlichen Handlungsspielräume ein. Das Abwandern von Unternehmen in Regionen, in denen billiger produziert werden kann, hat hierzulande ökonomischen und politischen Druck erzeugt. Die zunehmenden Migrationsbewegungen fordern die deutsche Politik gleichfalls heraus. »Ursachenbekämpfung« wird gefordert, ist aber im Alleingang schwer zu realisieren. Oft kann die deutsche Politik nur reagieren, ohne noch gestalterisch agieren zu können. Und obschon der Nationalstaat immer seltener der Rahmen ist, innerhalb dessen Entscheidungen fallen, werden die nationalstaatlichen Instanzen, beispielsweise Regierung und Parlament, für die unmittelbaren und mittelbaren Globalisierungsfolgen zur Rechenschaft gezogen. Unterschiedliches Ausmaß von Globalisierung 11.2.2 Einengung politischer Handlungsspielräume <?page no="260"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 260 260 Die entgrenzte Demokratie Globalisierung besiegelt indes nicht das Ende der Politik und auch nicht das Ende des Staates. Die Nationalstaaten bleiben trotz - oder gerade wegen der geschilderten Entwicklungen - immer noch wichtige Bezugsgrößen. So stoßen Entgrenzungen ihrerseits an Grenzen, nämlich dort, wo die Staaten sich dem Trend der Globalisierung entgegenstemmen. Beispiele hierfür sind die immer noch erhebliche staatliche Subventionierung einiger Industriebereiche, die Abschottung heimischer Märkte vor bestimmten Importgütern sowie restriktive Einwanderungsbestimmungen. Die Steuerungsverluste im nationalen Bereich werden von den staatlichen Akteuren zum Teil wieder auf höherer Ebene aufgefangen. Denn als Reaktion auf die Entgrenzung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse haben sich die staatlichen Institutionen mitunter selbst »globalisiert«. So hat sich zeitgleich zur gesellschaftlichen Globalisierung der Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit ausgeweitet. Die Regierungen versu- Ausweitung zwischenstaatlicher Zusammenarbeit Gemeinsame Verteidigung NATO Weltfrieden und Völkerrecht: UNO Friedenssicherung: OSZE Europäische Zusammenarbeit: EU Menschenrechte: Europarat Internationale Gerichtshöfe Forschung: CERN Rohstoffübereinkommen Internationale Entwicklungsfonds und -programme Welthandel: WTO Wirtschaft und Politik: G7 Wirtschaft und Entwicklung: OECD Polizei: Interpol Internationale Einbindung Beispiele für die internationale Einbindung der Bundesrepublik Deutschland Abb. 34 Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de), eigene Darstellung <?page no="261"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 261 261 »Globalisierung« und der Wandel der-deutschen-Demokratie chen die Folgen der Denationalisierung gemeinsam in den Griff zu bekommen. In verschiedensten Politikfeldern und Regionen sind »internationale Regime« (Regel- und Normensysteme) geschaffen worden, welche die Staaten zusammenbringen und in deren Rahmen nach Strategien zur Gestaltung einer internationalen Politik gesucht wird. Insbesondere in Europa ist neben der Europäischen Union ein komplexes Geflecht an zwischenstaatlichen Zusammenschlüssen entstanden. Die Strategie des Staates, über internationale Organisationen Steuerungsmöglichkeiten zurückzugewinnen, verschiebt aber die innerstaatlichen Machtbeziehungen und hat Auswirkungen auf die nationale Demokratie. Beteiligt an dem Projekt, international oder regional verbindliche Regelungen zu finden, sind in erster Linie die Regierungen. »International« bedeutet hier »intergouvernemental«. Deutschland wird durch Mitglieder der Bundesregierung oder durch von der Regierung bestellte Delegierte vertreten. Der Bundestag, das Parlament, gerät ins Hintertreffen. Ihm verbleibt lediglich die Kompetenz, internationale Abkommen zu ratifizieren, also »ja« oder »nein« zu sagen. An den entscheidenden Verhandlungsphasen vor den Vertragsabschlüssen sind die Abgeordneten jedoch kaum oder gar nicht beteiligt. Die parlamentarische Opposition ist ohnehin außen vor. Einmal eingerichtet, produzieren die internationalen Organisationen verbindliche Beschlüsse. Entscheidungszentrum ist hier wiederum die Gruppe der Regierungsvertreter. Der Bundestag kann an der Meinungsbildung und Beschlussfindung nur verzögert und/ oder unverbindlich teilnehmen. Abgeordnete sind zwar in einigen Organisationen im Rahmen Parlamentarischer Versammlungen eingebunden. Diese haben jedoch kein verbindliches Mitspracherecht bei der Entscheidungsfindung. Die Regierungen bleiben somit in ihrem außenpolitischen Handlungsspielraum weitestgehend unbehelligt. Folglich eröffnet sich auch hier für die Exekutiven die Möglichkeit eines Zwei-Ebenen-Spiels (s. o.). In der Gesamtschau spricht vieles dafür, dass die Globalisierung der Gesellschaften und staatlicher Politik einen Beitrag zur Entparlamentarisierung, zur Schwächung des Bundestages im politischen System Deutschlands leistet und damit an die Substanz der parlamentarischen Demokratie geht. Ein tragfähiges Modell für eine »globale Demokratie« (z. B. im Kontext der Vereinten Nationen), das dieses Problem auf der höheren Ebene auffangen könnte, ist noch nicht gefunden worden. Die Suche stellt sich als äußerst schwierig dar, wesentlich schwieriger als im Fall der Europäischen Union. Noch mehr als in der EU fehlen hier die Voraussetzungen für demokratische Politikgestaltung. Insofern stellt das nationale politische System mit seinen demokratischen Einrichtungen - auch wenn sie europäisiert und globalisiert werden - immer noch den zentralen Legitimationsanker dar. Für die deutsche parlamentari- Globalisierung verstärkt Entparlamentarisierung »global democracy« als-Utopie? <?page no="262"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 262 262 Die entgrenzte Demokratie sche Demokratie heißt dies unter anderem, dafür Sorge zu tragen, dass der Bundestag möglichst weitreichend in europäische und internationale Entscheidungsprozesse eingebunden wird. Im Sinne demokratischer Zurechenbarkeit und Offenheit bedeutet dies zudem, dass im Umfeld der Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse größtmögliche Transparenz hergestellt werden muss - mit tatkräftiger Unterstützung von Medien und Nichtregierungsorganisationen. Mit solchen und weiteren Reformnotwendigkeiten wird sich das abschließende Kapitel beschäftigen. 1 Was sind die Eigenarten des politischen Systems der Europäischen Union im Vergleich zu nationalstaatlichen Systemen? 2 Was bedeutet die Europäisierung der Gesetzgebung für den Deutschen Bundestag? 3 Wie verändert sich die deutsche Bundesstaatlichkeit angesichts der europäischen Integration? 4 Woran macht sich die Diagnose vom Demokratiedefizit der Europäischen Union fest? 5 Warum ist der Begriff »Globalisierung« missverständlich? 6 Inwiefern nimmt die Globalisierung Einfluss auf die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland? Literatur Schwerpunktmäßig mit der Frage der Veränderung der deutschen Demokratie durch den Prozess der Europäisierung setzt sich auseinander: Roland Sturm/ Heinrich Pehle: Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Wiesbaden, UTB 2012. Eine Einführung in die Europäische Union und ihr politisches System bieten: Bertholt Rittberger: Die Europäische Union. Politik, Institutionen, Krisen, München, C. H. Beck 2019, und Werner Weidenfeld: Die Europäische Union, 6. Aufl., Stuttgart, UTB 2021. Als lexikalisches Nachschlagewerk über die Europäische Integration empfiehlt sich: Funda Tekin/ Werner Weidenfeld/ Wolfgang Wessels (Hg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 15. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2020 . Theoretische Ansätze der Politikwissenschaft zum Verständnis der Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit präsentiert: Hans-Jürgen Bieling/ Marika Lerch (Hg.): Theorien der europäischen Integration, 3. Aufl., Wiesbaden, Springer VS 2012 . Wichtige Zeitschriften der europäischen Inte- Lernkontrollfragen ▼ ▲ <?page no="263"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 263 263 Links grationsforschung sind unter anderem die vierteljährlich erscheinende » integration« , die vom Institut für Europäische Politik herausgegeben wird. Im englischsprachigen Bereich ist es vor allem das Journal of Common Market Studies . Ein standardisiertes Nachschlagewerk bieten zudem die regelmäßig erscheinenden Jahrbücher: Werner Weidenfeld/ Wolfgang Wessels (Hg.): Jahrbuch der Europäischen Integration, Baden-Baden, Nomos . Eine grundlegende Problematisierung der Veränderung von Staatlichkeit und Demokratie im Zeitalter der Globalisierung findet sich in: Michael Zürn: Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1998 . Eine umfassende Darstellung der Dimensionen von Globalisierung und ihrer Auswirkungen bietet Eckart Koch: Globalisierung: Wirtschaft und Politik. Chancen - Risiken - Antworten, 2. Aufl., Wiesbaden, Springer Gabler 2017 . Neue Tendenzen einer De-Globalisierung thematisiert: Stefan A. Schirm u. a. (Hg.): De-Globalisierung: Forschungsstand und Perspektiven, Baden-Baden, Nomos 2022. Links www.europa.eu Über dieses zentrale Portal öffnet sich das Web-Angebot der Europäischen Union. Die unterschiedlichen Institutionen sind dort mit eigenen Online- Angeboten vertreten. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, alle veröffentlichten Rechtsakte der Europäischen Union einzusehen. http: / / ec.europa.eu/ public_opinion Seit 1973 erhebt die Europäische Kommission Daten über die »öffentliche Meinung« in ihren Mitgliedsstaaten. Diese »Eurobarometer«-Erhebungen enthalten auch Fragen zum Vertrauen in die Politik und die Demokratie. Der Reiz der Daten ist, dass sie einen langen Zeitraum abdecken und der deutsche Fall mit anderen europäischen Staaten verglichen werden kann. https: / / www.bpb.de/ kurz-knapp/ zahlen-und-fakten/ globalisierung/ In diesem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung finden sich zahlreiche Daten und Fakten zum Thema Globalisierung. <?page no="264"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 264 264 Die zukunftsfähige Demokratie - Deutschland vor inneren und äußeren Herausforderungen Die zweite deutsche Demokratie hat sich als bemerkenswert stabil erwiesen - stabiler als der erste Demokratieversuch in Deutschland und stabiler als viele anderen Demokratien in der Welt. Dennoch heißt dies nicht, dass das politische System und die Demokratie in Deutschland nicht herausgefordert worden sind und weiter werden. Die deutsche Demokratie sieht sich mit teilweise radikaler Kritik konfrontiert. Kritisiert worden ist die zweite deutsche Demokratie freilich schon immer. In den 1970er und 1980er Jahren verdichteten sich die kritischen Stimmen insbesondere aus der neomarxistischen Perspektive. Seinerzeit wurde das gesamte System angefochten, weil es - so die Wahrnehmung - ungerechte ökonomische Herrschaftsstrukturen stabilisiere und die eigentlichen gesellschaftlichen Konflikte überdecke. In den vergangenen Jahren sind weitere kritische Perspektiven hinzugetreten: einige, die die Effektivität und Problemlösungsfähigkeit des Systems in Frage stellen, andere, die darüber hinaus grundlegende Legitimationsprobleme sehen. Dies wirft die Frage auf, wie reformfähig und damit letzten Endes resilient die deutsche Demokratie ist. Der erste Abschnitt des Kapitels diskutiert, inwieweit Deutschland als eine reformbereite und dynamische »Verhandlungsdemokratie« verstanden werden kann - oder vielleicht doch als eine blockierte Republik. Dazu gilt es, die »Veto-Spieler« im deutschen System zu identifizieren, also diejenigen Kräfte, die in der Lage sind, Entscheidungen zu verhindern - sowie die »Veto-Punkte«, also die Stellen im politischen Prozess, an denen Blockaden möglich sind. Blockaden können allerdings auch überwunden werden. So gibt es im politischen System der Bundesrepublik nicht nur Veto-Punkte, sondern auch eine Reihe von Konsenspunkten, also Orte, an denen einvernehmliche Lösungen gefunden werden können. Der zweite Teil des Kapitels wendet sich der Frage zu, ob die Vorstellung - oder das Vorurteil - von einer nicht mehr zeitgemäßen Verfassung in der Realität wiederzufinden ist. Der Blick richtet sich auf die Dynamik und Anpassungsfähigkeit des rechtlichen Rahmens. Wann hat es maßgebliche 12 Inhalt <?page no="265"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 265 265 Zwischen Blockade und Konsens und grundlegende Änderungen des Grundgesetzes gegeben? Aber auch: Wo ist noch Veränderungsbedarf verblieben? Dabei werden zwei Baustellen unterschieden: (1) Reformen zur Verbesserung der Effizienz von Entscheidungen, (2) Reformen im Sinne der Steigerung von Partizipation und Transparenz. Wird die deutsche Demokratie auch in schwierigeren Zeiten stabil bleiben? Um diese Frage rund um die Zukunftsfähigkeit des Systems geht es am Ende des Kapitels und damit des gesamten Buches. 12.1 Zwischen Blockade und Konsens - die bundesdeutsche Verhandlungsdemokratie 12.2 Die anpassungsfähige Demokratie! ? 12.3 Deutschland - auch eine Schlechtwetterdemokratie? Zwischen Blockade und Konsens-- die bundesdeutsche Verhandlungsdemokratie Wie kann man abschätzen, ob Deutschland eine reform- und anpassungsfähige Republik ist oder nicht? In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, politische Systeme entlang ihres Konsens- oder Konfliktcharakters einzustufen. Gebräuchlich ist die Gegenüberstellung von Konsens-/ Konkordanzsystemen auf der einen Seite und Mehrheits-/ Konkurrenzsystemen auf der anderen Seite. Hilfreich sind des Weiteren das Konzept der Veto-Spieler und der Veto-Punkte-Ansatz. Konsens-/ Konkordanzdemokratie vs. Mehrheits-/ Konkurrenzdemokratie Konsens- oder Konkordanzsysteme zeichnen sich dadurch aus, dass politische Entscheidungen im Einvernehmen mit mehreren Instanzen gefällt werden müssen. Eine Reihe von Akteuren hat die Möglichkeit, Politikprozesse zu blockieren. Deswegen ist es für die Entscheidungsfindung erforderlich, mittels Kompromissen und Absprachen Blockaden zu vermeiden. Beispiele für diese Demokratieform sind unter anderem die Schweiz und Belgien. In Mehrheits- oder Konkurrenzsystemen stehen sich politische Lager in einem deutlichen Parteienwettbewerb gegenüber. Dasjenige, das über die parlamentarische Mehrheit verfügt, kann vergleichsweise ungestört politische 12.1 Definition ▼ <?page no="266"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 266 266 Die zukunftsfähige Demokratie Entscheidungen fällen. Es muss nicht das Einvernehmen weiterer Akteure suchen. Als typische Wettbewerbsdemokratie gilt - mittlerweile allerdings nur noch mit Einschränkungen - Großbritannien, weswegen diese Gruppe von Systemen gelegentlich unter dem Label »Westminster-Demokratien« läuft (benannt nach dem Sitzungsort des britischen Parlaments). Die Unterscheidung dieser beiden Systemformen ist von dem Politikwissenschaftler Arend Lijphart systematisch entwickelt und geprüft worden. Veto-Spieler und Veto-Punkte in der deutschen Demokratie Wie lässt sich nun der bundesdeutsche Fall einordnen? Handelt es sich hierbei um eine Konsens- oder eine Mehrheitsdemokratie? Welche »Spieler« können den politischen Prozess blockieren? Bei der Antwort wird uns eine Vielzahl von Akteuren begegnen, die in den vorherigen Kapiteln ausführlich angesprochen worden sind. Auf den ersten Blick könnte man aufgrund des parlamentarischen Charakters des Systems vermuten, dass Deutschland das Zeug zur Mehrheitsdemokratie hat. Immerhin hat es in der Bundesrepublik stets eine von einer klaren parlamentarischen Majorität getragene entscheidungsstarke Regierung gegeben. Minderheitsregierungen sind jedenfalls auf Bundesebene bislang nicht aufgestellt worden. Regelungen wie das konstruktive Misstrauensvotum oder die Vertrauensfrage (mit drohender Parlamentsauflösung) machen Regierungen ohne parlamentarische Mehrheiten unwahrscheinlich und müssten eigentlich die Souveränität der parlamentarischen Regierung sicherstellen. Veto-Spieler Der Veto-Player-Ansatz ist von dem Politikwissenschaftler George Tsebelis entwickelt worden: Ein Veto-Spieler ist ein politischer Akteur, der in der Lage ist, einen Politikprozess zu verhindern - oder wie Tsebelis es formuliert: »Veto players are individual or collective actors whose agreement is necessary for a change of the status quo.« Es handelt sich dabei also um einzelne Funktionsträger oder um Organisationen. Der Status eines Veto-Spielers kann institutionellen Akteuren wie Staatsoberhäuptern oder Zweiten Kammern zufallen, die in der Verfassung verankert sind. Jenseits der institutionellen gibt es noch die parteipolitischen ▲ 12.1.1 Anzeichen für eine Mehrheitsdemokratie Definition ▼ <?page no="267"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 267 267 Zwischen Blockade und Konsens Veto-Spieler. Hierbei handelt es sich um einzelne Parteien oder Koalitionen von Parteien, die quer zu den Verfassungsorganen eine zweite Blockadeebene einziehen können. Mit diesem Schema kann man die Veto-Potenziale in unterschiedlichen politischen Systemen vermessen und miteinander vergleichen. Je mehr Veto- Spieler ein System hat, desto geringer sind die politische Steuerungsfähigkeit und das Reformpotenzial. Allerdings muss hier noch differenziert werden: Die Anzahl der Veto-Spieler hängt vom jeweiligen Politikfeld ab und damit von der Frage, wer bei den jeweils zu treffenden Entscheidungen von der Verfassung oder von der Sache her eingebunden werden muss. Auch ist nach Tsebelis nicht alleine die Anzahl der Veto-Spieler entscheidend. Wichtig ist auch, wie die potenziellen Veto-Player zueinander stehen, d. h. welche Distanzen zwischen ihnen liegen. In der Realität wird der »Westminster«-Charakter des deutschen Systems jedoch durch den Umstand eingeschränkt, dass parlamentarische Mehrheiten bislang immer auf Zusammenschlüssen von Parteien beruhten. Aufgrund der faktischen Koalitionsnotwendigkeit gibt es in der Bundesrepublik üblicherweise mindestens zwei parteipolitische Veto-Spieler. In klaren Mehrheitssystemen mit einer Einparteienregierung ist es in der Regel nur ein parteipolitischer Veto-Player, der dann ohne Rücksicht auf andere Parteien Beschlüsse fassen kann. In Großen Koalitionen wird die Herstellung von stabilen Mehrheiten nicht unbedingt einfacher. Zwar sind parlamentarische Abweichler: innen mitunter leichter zu verschmerzen. Aber die programmatischen Profile in ein gemeinsames Politikkonzept zu verschmelzen, ist ein schwieriges Unterfangen für die beteiligten Parteien - wurden doch im Wahlkampf die Unterschiede noch in abgrenzender Absicht benannt und zugespitzt. Fragmentierungs- und Polarisierungstendenzen im Parteiensystem werden die Koalitionsbildung erschweren und lagerübergreifende Zusammenschlüsse, z. B. in Form Großer Koalitionen oder Dreierkoalitionen, wahrscheinlicher machen. Wie auch immer: Koalitionsregierungen (ob »klein« oder »groß«) produzieren eine Reihe von Veto-Punkten. Veto-Punkte Mit den Veto-Punkten sind Gelegenheiten im politischen Prozess gemeint, bei denen die Veto-Spieler Änderungen oder die Blockade von Entscheidungen betreiben können. Somit gilt: Je mehr Blockadepunkte ein System bietet, ▲ Grenzen der deutschen Konkurrenzdemokratie Koalitionen erzeugen Veto-Punkte Definition ▼ <?page no="268"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 268 268 Die zukunftsfähige Demokratie desto weniger Steuerungsfähigkeit hat die parlamentarische Mehrheit. Dieses Konzept ist von den Politikwissenschaftlern Ellen Immergut und André Kaiser entwickelt worden. Weitere Veto-Punkte kommen hinzu, die aus dem potenziellen deutschen Mehrheitssystem eine Demokratie mit Verhandlungsnotwendigkeiten werden lassen. Hierzu zählt ohne Zweifel die föderale »Politikverflechtung«, die Verschränkung von Bundes- und Länderebene. Die Rolle des Bundesrates als Veto-Spieler ist bereits erwähnt worden: Der Bundesrat kann (je nachdem, ob es sich um ein zustimmungsbedürftiges oder ein nicht-zustimmungsbedürftiges Gesetz handelt) Vorhaben blockieren oder zumindest verzögern. Allerdings wird mit Blick auf den Bundesrat nicht in erster Linie problematisiert, dass der Länderkammer-Mehrheit ein Veto-Recht auf Bundesebene zusteht. Vielmehr dreht sich wie erwähnt die Kritik darum, dass die Opposition des Bundestages über den Bundesrat indirekt Veto-Kompetenzen erhält - also sich hier der »Parteienwettbewerb im Bundesstaat« (Gerhard Lehmbruch) manifestiert (→ Kapitel 10) . Welche weiteren Veto-Spieler können politische Entscheidungen in der bundesdeutschen Demokratie verhindern? Der/ die Bundespräsident/ in spielt eine nur nachgeordnete Rolle. Seine/ ihre Beteiligung an der Gesetzgebung, die über eine formale und (bedingt auch) materielle Prüfung hinausgeht, ist nicht im Sinne des Grundgesetzes und auch keine gängige Staatspraxis in Deutschland, wenngleich der eine oder andere Präsident versucht hat, die Spielräume auszureizen (→ Kapitel 8) . Vielmehr lohnt der Blick auf die potenzielle Veto-Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht kann, wenn es angerufen wird, ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz zu Fall bringen, so es in seiner Wahrnehmung verfassungswidrig ist. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle bedeutet dies: Eine Opposition vermag, falls sie mehr als ein Viertel der Abgeordneten umfasst, jedes von der Mehrheit beschlossene Gesetz vor Gericht zu bringen - mit der Hoffnung, dass dieses dort kassiert wird. Allerdings sind einer Instrumentalisierung der Richter: innen durch die Opposition Grenzen gesetzt: Man kann nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Nur einem Teil der Klagen wird bekanntlich stattgegeben. (→ Kapitel 9) . Die Veto-Macht der Verbände und organisierten Interessen ist politikfeldspezifisch zu gewichten. In einigen Bereichen wie z. B. bei der Aushandlung der Tarifverträge kommt bestimmten Verbänden eine beträchtliche Gestaltungsautonomie zu (→ Kapitel 3) . Ansonsten können organisierte ▲ Veto-Punkte im deutschen System Veto-Spieler BVerfG Veto-Spieler organisierte Interessen <?page no="269"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 269 269 Zwischen Blockade und Konsens Interessen die Umsetzung von verabschiedeten Entscheidungen wenn nicht verhindern (dies ist noch über den Klageweg möglich), so zumindest aber merklich erschweren. Schließlich ist noch zu fragen, inwieweit auch die Medien als Veto-Spieler im deutschen System agieren. Sie sind zwar nicht verbindlich in Gesetzgebungsprozesse eingebunden. Dennoch können sie gerade in der frühen Phase des Politikprozesses substanziellen Einfluss darauf nehmen, welche Themen überhaupt auf die politische Tagesordnung gelangen (→ Kapitel 4) . Freilich gibt es nicht »die« Medien, vielmehr eine uneinheitliche journalistische Landschaft. Innerhalb dieser mag es aber besonders einflussreiche Organe geben (z. B. »Bild« oder »Der Spiegel«). Diese sind unter bestimmten Umständen in der Lage, zur faktischen Veto-Macht aufzusteigen, indem sie erheblichen Druck auf Entscheidungsakteure ausüben. Mitunter in Wechselwirkung mit journalistischen Medien kann ebenso Social-Media- Kommunikation die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung drehen. Insbesondere im Feld der Online-Kommunikation sind neue Akteursformen entstanden, deren Meinungsmacht nicht zu unterschätzen ist. Alles in allem ist die deutsche Demokratie mit zahlreichen Veto-Spielern ausgestattet, die an einer Reihe von Punkten des politischen Prozesses ansetzen können. Mit Blick auf die begrenzten Handlungskorridore sprach der US-amerikanische Politikwissenschaftler Peter J. Katzenstein bereits in den 1980er Jahren von Deutschland als »semi-souveränem Staat«. Um dennoch zu Entscheidungen zu kommen und diese umsetzen zu können, bedarf es einer Konsensbereitschaft der Akteure und bedarf es der Gelegenheiten, bei denen man Einvernehmen suchen und herstellen kann. Konsenspunkte in der deutschen Verhandlungsdemokratie Neben den Veto-Punkten, also den Stellen, an denen im politischen Prozess potenzielle Veto-Akteure ansetzen können, gibt es auch zahlreiche Konsenspunkte: An diesen Stellen kann versucht werden, drohende oder vorhandene Entscheidungsblockaden abzuwenden respektive aufzuheben. Hierzu zählen institutionelle, das heißt von der Verfassung vorgesehene Konsenspunkte ebenso wie parteipolitische und informelle. Ein Beispiel für einen institutionellen Konsenspunkt der bundesdeutschen Demokratie ist der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat (→ Kapitel 10) . Seine Aufgabe ist es, im Konfliktfall zwischen den beiden Staatsorganen zu »vermitteln« - also einen tragfähigen Kompromiss zu entwickeln. Die Ausschussberatungen finden in einem vergleichsweise kleinen Kreis hinter verschlossenen Türen statt. Solche Bedingungen fördern die Kompromisssuche. Veto-Spieler Medien Hohe Zahl an Veto- Spielern erfordert Konsensbereitschaft 12.1.2 Vermittlungsausschuss und Fachausschüsse als Konsenspunkte <?page no="270"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 270 270 Die zukunftsfähige Demokratie Institutionelle Konsenspunkte zur Überwindung parteipolitisch bedingter Blockaden (auch solcher, die über den Bundesrat errichtet werden können) bieten gleichfalls die Fachausschüsse im Deutschen Bundestag. Dort können zwischen Mehrheit und Opposition, aber auch innerhalb der Regierungskoalition sachbezogene Kompromisse erarbeitet werden. Jedoch hat sich in der Bundestagsforschung die Erkenntnis breit gemacht, dass auch diese Gremien mittlerweile stark von parteipolitischen Konflikten geprägt werden. informell/ informal Unter informal oder informell wird das verstanden, was nicht in der Verfassung, in Gesetzen oder Geschäftsordnungen (schriftlich) fixiert ist. Es handelt sich um Vorgänge, die rechtlich nicht vorgesehen sind. Jedoch bedeutet »informal« nicht, dass es sich um ein regelfreies oder gar illegales Vorgehen handelt. Die institutionellen Konsenspunkte scheinen für eine Kompromissfindung nicht immer hinreichend zu sein. An einer Vielzahl von Stellen des politischen Prozesses sind deswegen informelle Konsenspunkte entstanden. Dort versucht man eine Einigung herzustellen, bevor die Entscheidungen in den formalen Politikprozess gelangen. Bestenfalls müssen institutionelle Konsenspunkte dann gar nicht mehr bemüht werden. Zu den informellen Konsenspunkten, die der Vermeidung von Blockaden über den Bundesrat dienen, gehören sporadische oder regelmäßige Treffen der Regierungsspitzen von Ländern und Bund (z. B. im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz/ MPK) sowie der Führungsspitzen der Parteien. Auch der Bundestag bietet eine Reihe von informellen Nischen, in denen potenzielle Veto-Player zur Konsensfindung zusammenkommen können. Der Konfliktbewältigung zwischen den parteipolitischen Veto-Spielern in Regierungskoalitionen dienen unter anderem Koalitionsrunden oder -ausschüsse. In diesen Gremien kommen die führenden Politiker: innen der an der Regierung beteiligten Parteien und Fraktionen zusammen. Die Rolle der Koalitionsgremien und die damit verbundene Arbeitsweise, z. B. wie häufig man sich trifft, wer genau Mitglied in diesem Kreis ist und was genau man dort bespricht, fällt von Kanzlerschaft zu Kanzlerschaft unterschiedlich aus. Definition ▼ ▲ Informelle Politik Nischen zur Konsensfindung <?page no="271"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 271 271 Zwischen Blockade und Konsens Koalitionsausschüsse Die Einrichtung von Koalitionsausschüssen wird üblicherweise in den Koalitionsvereinbarungen (»Koalitionsverträgen«) festgelegt. Die Zusammensetzung variiert von Koalition zu Koalition. In der Regel sind die Spitzen der Regierung, Parteien und Fraktionen Mitglieder. Koalitionsausschüsse treffen sich regelmäßig oder bei Bedarf, um in Konfliktfällen einen Konsens zwischen den beteiligten Parteien herbeizuführen. Besteht die Notwendigkeit, organisierte Interessen in eine Konsensbildung einzubeziehen, dann bieten sich hierfür beispielsweise die erwähnten neokorporatistischen Arenen an (→ Kapitel 3) . Der Einbindung wichtiger Verbände dienen auch die regierungsnahen Kommissionen oder parlamentarischen Foren, in denen Interessenvertretungen ihre Vorstellungen einbringen können (→ Kapitel 3) . Schließlich können auch einzelne Funktionsträger die Rolle von Konsensstiftern übernehmen. So sind die Kanzler/ in der Großen Koalitionen, Kurt Georg Kiesinger und Angela Merkel, phasenweise als »wandelnde Vermittlungsausschüsse« bezeichnet worden - als »wandelnde Konsenspunkte« in unserer Begrifflichkeit. Moderation, der Ausgleich von Interessen, die Einbindung verschiedener Positionen - all dies gehört zum Rollenrepertoire einer politischen Führungsperson dazu. Dies mag in Zeiten von Großen Koalitionen besonders relevant sein, wenn sich zwei sehr unterschiedliche und nahezu gleichgewichtige parteipolitische Veto-Spieler immer wieder finden müssen. Bei einer konsensorientierten Führungsstrategie kann es jedenfalls nicht darum gehen, formale Verfassungsressourcen wie die Richtlinienkompetenz anzuzapfen. Vielmehr ist die Fähigkeit zur verbindenden Kommunikation ein Ausweis von zeitgemäßer Führungskompetenz. Zwischenfazit: Die deutsche Konsensdemokratie? Was kann man bis hierhin über den Konsens- oder Konfliktcharakter des politischen Systems in Deutschland sagen? Es lassen sich Facetten einer Mehrheitsdemokratie ausmachen sowie eine vergleichsweise hohe Dichte an Veto-Spielern. Als Konsequenz ist eine Reihe von Verfahren und Instanzen etabliert worden, die dazu dienen, etwaige Blockaden und Konflikte zu überwinden respektive erst gar nicht entstehen zu lassen. Der Politikwissenschaftler Arend Lijphart bezeichnet Deutschland als »föderalistische Konsensusdemokratie«. Für ihn sind der bundesstaatliche Aufbau sowie die Verschränkungen von Bundes- und Landesebene das ent- Hintergrund Konsenspunkte mit-Verbänden Kanzler als »wandelnde Konsenspunkte« 12.1.3 Deutschland als-Verhandlungsdemokratie <?page no="272"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 272 272 Die zukunftsfähige Demokratie scheidende Systemmerkmal. Auch andere sortieren Deutschland in die Gruppe der Verhandlungsdemokratien ein, in denen ein Einvernehmen zwischen einer großen Anzahl von Veto-Spielern hergestellt werden muss. Konsenserfordernis ist das eine, Konsensfähigkeit und -bereitschaft sind das andere. Es mag für parteipolitische Akteure in gewissen Situationen opportun sein, sich bietende Konsenspunkte zu nutzen, zum Beispiel um auf anstehende Entscheidungen im eigenen Sinne Einfluss zu nehmen. Eine Konsensusdemokratie wie die Bundesrepublik wird jedoch schnell zu einer blockierten Republik, wenn Verhandlungschancen von den Veto-Spielern nicht ergriffen werden. Es kann von Vorteil sein, Konsenspunkte links liegen zu lassen, um beispielsweise im Vorfeld von Wahlen die Handlungsunfähigkeit einer Regierung herbei- und vorzuführen. Entsprechend ist der Vorwurf laut geworden, die deutschen Veto-Spieler hätten ihre Macht mitunter überdehnt und missbraucht - ein voreiliger Vorwurf, wenn man einen Blick auf die faktisch marginale Blockade durch den Bundesrat wirft oder auf die vergleichsweise wenigen »Vetos« des Bundesverfassungsgerichts. Nichtsdestoweniger wird von einigen Seiten durchaus ein Abbau der Veto-Spieler und Veto-Punkte im deutschen System gefordert - in Form einer Veränderung der politischen Verfahren und im Sinne der Umwandlung der Konsensusdemokratie hin zu einer Mehrheitsdemokratie. Dies leitet über zu der Frage, inwieweit die Verfahren des deutschen politischen Systems reformierbar und reformbedürftig sind. Die anpassungsfähige Demokratie! ? Sind die Strukturen der politischen Entscheidungsfindung in Deutschland noch zeitgemäß? Sind diese geeignet, aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu begegnen? Ist das politische System überhaupt fähig zur Selbstreform? Und sie bewegt sich doch-- die Verfassung im Wandel Ein erster Blick macht deutlich: Das Grundgesetz, das heute gültig ist, unterscheidet sich an vielen Stellen von der Fassung, die 1949 vom Parlamentarischen Rat feierlich verkündet wurde. Im Laufe der bundesdeutschen Geschichte wurde die Verfassung immer wieder überarbeitet. Im Zeitraum von 1949 bis 2021 ist das Grundgesetz 65 Mal geändert worden. Neben vielen kleinen punktuellen Grundgesetzänderungen hat es auch größere »Pakete« gegeben, in denen Verfassungsreformen gebündelt vorgenommen worden sind. Solche »Sprünge« sind zum Teil aufgrund histori- Abbau der Veto- Punkte gefordert 12.2 12.2.1 Zahlreiche Grundgesetzänderungen von-1949 bis heute <?page no="273"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 273 273 Die anpassungsfähige Demokratie! ? scher Entwicklungen nötig gewesen. Zum Teil waren sie die Antwort auf einen aufgestauten Reformbedarf. Ein erster solcher Verfassungssprung war bereits in den 1950er Jahren erforderlich. Die internationale Lage und Einbindung Westdeutschlands hatten sich so entwickelt, dass wieder deutsche Streitkräfte aufgestellt werden konnten und sollten. Die Wehrpflicht wurde in die Verfassung eingefügt sowie weitere Bestimmungen rund um den Einsatz und die Kontrolle der Bundeswehr. Die finanziellen Belastungen durch die Kriegsfolgen führten in den 1950er und 1960er Jahren zu einem Reformdruck im Bereich der Finanzverfassung. Im Rahmen einer Revision der bestehenden Regelungen erhielten die Länder zusätzliche Kompetenzen bei der Steuererhebung. Eingeführt wurde zudem der Länderfinanzausgleich (Art. 107), also dass leistungsstarke Länder leistungsschwache unterstützen. In den Artikeln 104 bis 106 wurde die Mischfinanzierung zwischen Bund und Ländern geregelt (→ Kapitel 10) . Ende der 1960er Jahre waren es die seinerzeit heftig umstrittenen Notstandsgesetze, also die Regelungen für den Katastrophen-, Krisen- und Verteidigungsfall, die eine Veränderung und Ergänzung des Grundgesetzes an verschiedenen Stellen mit sich brachten. Notstandsgesetze Nach der Gründung der Bundesrepublik unterlag das Notstandsrecht noch dem alliierten Vorbehalt. Das Grundgesetz in seiner ursprünglichen Fassung sah keine Regelungen für einen nationalen Katastrophen-, Krisen- und Verteidigungsfall vor. Ende der 1950er Jahre wurden erste Pläne für das Vorgehen in solchen Situationen vorgelegt, doch erst 1968 konnten die grundgesetzändernden Notstandsgesetze - nach langer Debatte - von der Großen Koalition unter Kanzler Kiesinger verabschiedet werden. Zu den Notstandsgesetzen gehören die Regelungen für den Verteidigungsfall, den Spannungsfall, den inneren Notstand und den Katastrophenfall. Im Falle eines Notstands dürfen bestimmte Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Als »Notparlament« wurde im Grundgesetz der Gemeinsame Ausschuss verankert (Art. 53a). Dieser setzt sich aus 32 Bundestagsabgeordneten und 16 Mitgliedern des Bundesrates zusammen. Die Verabschiedung der Notstandsgesetze fand unter scharfen Protesten der damals oppositionellen FDP und der außerparlamentarischen Opposition statt, die in den Bestimmungen antiliberale und antidemokratische Tendenzen wahrnahmen. Hintergrund <?page no="274"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 274 274 Die zukunftsfähige Demokratie In den 1970er Jahren - in einer Zeit generell hoher Reformaktivitäten - wurde eine Kommission zur Überarbeitung der Verfassung eingerichtet (»Enquete- Kommission Verfassungsreform«). In den Debatten gab es nur wenig, was nicht thematisiert wurde: Diskutiert wurden ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments, die Einführung direktdemokratischer Verfahren, die Grundrevision der föderalen Strukturen Deutschlands etc. Im Vergleich dazu waren die Vorschläge und das, was von ihnen umgesetzt wurde, eher bescheiden; so wurde etwa der Petitionsausschuss im Grundgesetz verankert. Ein Quantensprung vollzog sich im Zuge der Deutschen Einheit: Anfang der 1990er Jahre wurde die »Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat« ins Leben gerufen. Ziel war eine grundlegende Revision der Verfassung. Dies erschien nicht nur wegen des Beitritts der neuen Länder zum Bundesgebiet notwendig. Auch die Weiterentwicklung der europäischen Integration legte eine Überarbeitung des Grundgesetzes nahe. Schließlich sollte noch die Verfassung grundlegend modernisiert werden. Die Kommissionsmitglieder sowie die hinzugeladenen Expert: innen sprachen viele, auch grundlegende Fragen an. Für diverse weitergehende Vorschläge konnte jedoch keine Zwei-Drittel-Mehrheit organisiert werden. Die letzten Endes vorgenommenen Grundgesetzänderungen betrafen zum einen die Anpassung der Verfassung an die Überwindung der deutschen Teilung. Zum anderen wurde als neuer Artikel 23 der »Europa-Artikel« eingeführt. Dieser regelt die Einbindung von Bundestag und Bundesrat in die Entscheidungsfindung der Europäischen Union (→ Kapitel 11) . Gemeinsame Verfassungskommission ⚫ Offizieller Name: Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK) ⚫ Mitglieder: 64, je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat entsandt, sowie 64 stellvertretende Mitglieder ⚫ Vorsitzende: Rupert Scholz (CDU, MdB), Henning Voscherau (SPD, Erster Bürgermeister Hamburgs) ⚫ Arbeitszeitraum: 28. November 1991 - 5. November 1993 ⚫ Dokumentation von Arbeit und Ergebnis: Bundestagsdrucksache 12/ 6000 Die jüngsten größeren Überarbeitungen des Grundgesetzes sind im Rahmen der Föderalismusreformen vorgenommen worden. Hierbei handelt es sich um die umfangreichsten Änderungen der Verfassung seit ihrem Inkrafttreten. Allein im Rahmen der Föderalismusreform I im Jahr 2006 hat man 25 Grundgesetzregelungen modifiziert. Die Änderung des bundesstaatlichen Grundgesetzänderungen aufgrund Deutscher Einheit und europäischer Integration Hintergrund Föderalismusreform <?page no="275"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 275 275 Die anpassungsfähige Demokratie! ? Finanzsystems Ende der 2010er Jahre betraf rund 15 Artikel der Verfassung, darunter eine Reihe von neu eingefügten (→ Kapitel 10) . Im Vergleich mit anderen Verfassungen ist das Grundgesetz relativ häufig verändert worden; so findet sich in der Literatur auch die Einschätzung vom »oft geänderten Grundgesetz« (Andreas Busch) sowie in Medien und Politik gelegentlich die Kritik, die bundesdeutsche Verfassung werde zu leichtfertig angetastet. Jedenfalls scheint die Zwei-Drittel-Hürde in Bundestag und Bundesrat nicht unüberwindbar. In anderen Staaten stehen einer Verfassungsänderung ganz andere Barrieren im Weg: zum Beispiel ein Volksentscheid oder Abstimmungen auch in den Parlamenten der Gliedstaaten. Vor diesem Hintergrund wäre die pauschale Aussage von einer Reformresistenz des Grundgesetzes nicht haltbar. Trotz dieser Änderungsoffenheit der deutschen Verfassung sind jedoch auch viele Vorhaben gescheitert. Die Debatten über wünschenswerte Verfassungsreformen griffen stets weiter als die tatsächlichen Entscheidungen - allemal wenn man die wissenschaftlichen Diskussionen noch hinzunimmt. Das Zwei-Drittel-Erfordernis in den beiden Staatsorganen machte bislang immer eine Verständigung zwischen CDU/ CSU und SPD erforderlich. Eine solche »Große Koalition« ist allerdings für bestimmte Ideen nicht organisierbar gewesen. Zukünftig könnten die Diversität von Koalitionsversionen auf Landesebene und die schwindende Kraft der Volksparteien Verfassungsänderungen erschweren. Die Zukunft der Reformen-- Reformen der Zukunft Die Modernisierung der Verfassung und damit die Erneuerung des gesamten politischen Systems bleiben eine Daueraufgabe. Aus der Vielzahl an Vorschlägen für eine Weiterentwicklung der bundesdeutschen Demokratie seien einige herausgegriffen und in Ansätzen diskutiert. Dabei geht es zunächst um Möglichkeiten der Beseitigung von Veto-Punkten und der Verschlankung des politischen Prozesses. Im Anschluss daran dreht sich die Perspektive: Wie können Veto-Spieler gestärkt oder neue aufgebaut werden? Und unter welchen Umständen kann dies zielführend sein? Reformen als Abbau von Veto-Punkten Eine ewige Baustelle ist und bleibt die bundesstaatliche Struktur Deutschlands. Die Föderalismusreformen aus den Jahren 2006 und 2009 sowie die Bund-Länder-Finanzreform Ende der 2010er Jahre haben - so ist gemutmaßt worden - viel Druck aus dem Kessel gelassen. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Einige Probleme der deutschen Bundesstaatlichkeit sind ungelöst geblieben. Insbesondere die schwierige Finanzlage der Kommunen macht Grundgesetz ist nicht reformresistent 12.2.2 Reformen als Daueraufgabe 12.2.2.1 <?page no="276"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 276 276 Die zukunftsfähige Demokratie auf ein Strukturproblem aufmerksam: die zunehmende Übertragung von Aufgaben (Land, Bund, EU) bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der Städte und Gemeinden. Auch ist die im Rahmen der Föderalismusreform überarbeitete Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern nicht frei von bizarren Regelungen. Hierzu zählt beispielsweise die Variante der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG), die ein legislatives »Ping-Pong-Spiel« von Bund und Ländern zur Folge haben kann. Überhaupt setzt die teilweise Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Landesebene die Gliedstaaten unter neuen Druck - unter Wettbewerbsdruck. Dies kann die ohnehin bestehenden Ungleichgewichte zwischen den Ländern noch vertiefen und nach weiteren oder anderen ausgleichenden Maßnahmen rufen. So lässt sich auch die Neuregelung der Bund- Länder-Finanzen seit 2020 verstehen: Der Bund investiert mehr Geld in den Ausgleich zwischen den Ländern. Quasi kompensatorisch erhält die Bundesebene neue Kompetenzen - eine Regelung, die wiederum zu einer Schwächung der Länder im deutschen Föderalismus führt. Die Corona-Pandemie hat den generellen Trend zur Unitarisierung und zugleich die Schwächen des Föderalismus sichtbar gemacht. Die Länder hatten im Rahmen des Bundesinfektionsschutzgesetzes Spielräume, spezifische Maßnahmen zu verabschieden. Dies hat letzten Endes - so die oft geäußerte Kritik - zu einem »Flickenteppich« an Maßnahmen geführt, die nicht immer gut aufeinander abgestimmt waren. Ein immer wieder eingebrachter Vorschlag, um die Ausgangslage für die Bundesländer fairer zu gestalten, läuft auf die Neugliederung des Bundesgebietes in Form der Zusammenlegung von Ländern hinaus. Bereits diskutierte Modelle sehen die Verringerung auf fünf, sieben oder acht Bundesländer vor. Allerdings stehen diesem Reformschritt die gewachsenen Strukturen und - wie der gescheiterte Fusionsversuch Berlin-Brandenburg 1996 deutlich gemacht hat - gegebenenfalls auch die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerungen, diesen Schritt mitzugehen, entgegen. Jenseits der Reform der Bundesstaatlichkeit wird noch eine weitere Systemveränderung andiskutiert, welche die Handlungsfähigkeit der Politik stärken soll: die Änderung des bundesdeutschen Wahlrechts. Das Wahlrecht stellt schon seit geraumer Zeit eine Großbaustelle dar. Dabei stehen Reformvorschläge unterschiedlicher Reichweite im Raum. Die Befürworter beispielsweise eines Mehrheitswahlrechts argumentieren, dass mit einer solchen Reform entscheidungskräftige Mehrheiten entstehen könnten. Parteipolitische Veto-Spieler würden abgebaut, wenn die Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden, entfiele. Das Grundgesetz stünde der Einführung eines Mehrheitswahlrechts nicht im Wege. Die problematischen Konsequenzen des geltenden Wahlrechts, insbesondere die »Übergröße« des Bundestags, Notwendige Fortsetzung der Föderalismusreform Neugliederung der Länder Wahlrecht <?page no="277"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 277 277 Die anpassungsfähige Demokratie! ? werden seine Reform ohnehin unvermeidbar machen. Allerdings stehen erhebliche demokratietheoretische Einwände im Raum, die auf die Defizite des Mehrheitswahlrechts verweisen: allen voran die Benachteiligung von kleineren und von Kleinstparteien, die in den vergangenen Wahlen eine zunehmend wichtige Rolle gespielt haben. Genau diese Entwicklung hat noch eine weitere Regelung des Wahlrechts zumindest vorläufig zur Debatte gestellt: die Fünf-Prozent-Hürde. Die seitens des Bundesverfassungsgerichts erzwungene Abschaffung einer Sperrklausel für die Europawahl in Deutschland hat die Diskussion befeuert, ob nicht die analoge Regelung auf Bundesebene aufgehoben werden sollte. Eine weitere wahlbezogene Initiative zur Verschlankung des politischen Prozesses betrifft die Länge der Wahlperiode. So wird immer wieder gefordert, dass Bundestagswahlen nicht alle vier, sondern alle fünf Jahre stattfinden sollten. Damit stünde den politischen Akteuren effektiv mehr Zeit für Politikgestaltung zur Verfügung, bevor der Wahlkampf wieder alles lähme. In der Diskussion wird gerne darauf verwiesen, dass mittlerweile fast alle Bundesländer eine fünfjährige Wahlperiode haben. Und auch das Europäische Parlament wird alle fünf Jahre gewählt. Überhaupt stellen Europa und die europäische Integration eine große Herausforderung für die deutsche Politik dar. Die europäische Union legt sich wie eine zweite Haut auf die Politik in der Bundesrepublik und hemmt in manchen Situationen Entscheidungen, wie sie diese in anderen Fällen auch fördern kann. Die nationale und die europäische Ebene sind ähnlich der Bund-Länder- Beziehung miteinander verflochten. So stellt sich die Frage, ob nicht auch hier eine Entflechtung der Kompetenzen und Organe hilfreich wäre, wie dies bereits für den deutschen Bundesstaat versucht worden ist. Ziele wären eine erhöhte Transparenz bei den Zuständigkeiten sowie die »Europäisierung« der europäischen Politik, d. h. eine Verminderung des Einflusses der nationalen Regierungen auf die Entscheidungen der EU sowie der Ausbau einer wirklich europäischen Interessenvermittlung in Form echter europäischer Wahlen, Parteien und Medien - was allerdings nicht allein durch institutionelle Strukturveränderungen erreicht werden kann. Reformen im Sinne des Auf- und Ausbaus von Veto-Punkten Reformvorschläge laufen jedoch nicht durchweg auf eine »Verschlankung« politischer Entscheidungsfindung hinaus. Vielmehr wird auch eine Ausweitung und Stärkung derjenigen empfohlen, die an Entscheidungen beteiligt werden (sollen). Ein wichtiger Diskussionsstrang dreht sich um die Frage, ob die Bevölkerung selbst eine stärkere, eventuell sogar eine Veto-Rolle spielen sollte. Deutschlands Verfassung kann mit Recht als »super-repräsentativ« bezeich- Verlängerung der Wahlperiode Reform der Europäischen Union 12.2.2.2 Stärkere Einbindung der-Bevölkerung durch direktdemokratische Verfahren <?page no="278"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 278 278 Die zukunftsfähige Demokratie net werden (→ Kapitel 2) . Elemente direkter Demokratie sind bislang nicht auf der Bundesebene etabliert worden, außer für die seltene Situation einer Neuzuschneidung der Länder. Dabei hat es im Laufe der Grundgesetzgeschichte eine Reihe von letztlich gescheiterten Anläufen gegeben, direktdemokratische Instrumente einzuführen. Die Vorteile direktdemokratischer Verfahren liegen auf der Hand (→ Kapitel 2) . Für ihre Einführung spricht die anhaltende und fundamentale Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit den Inhalten und vor allem mit den konkreten Verfahren der Politikherstellung. Den gewichtigen Einwänden gegen die direkte Demokratie kann mit klugen institutionellen Lösungen begegnet werden: Konkret ist zu klären, welche Beteiligungsquoren und Fristen sinnvoll wären, welche Rolle der Bundestag dabei spielen sollte und welche Themen ausgeklammert werden müssen. Vergleichsweise unkompliziert wäre die Einführung einer »Volksinitiative«, also der Möglichkeit, dass ein festzulegendes Mindestquorum einen Gesetzesentwurf in die parlamentarische Beratung einbringen kann - vergleichbar der »Europäischen Bürgerinitiative«. Der Bundestag bliebe unangetastet in seinem Recht und in seiner Verantwortung, den Entwurf anzunehmen oder abzulehnen, müsste jedoch öffentlich darüber debattieren. In diesem Fall würden die Bürger: innen zwar nicht zu Veto-Spielern, sondern lediglich zu »Mitspielern«. Allerdings lehren die Erfahrungen aus anderen Staaten (z. B. Österreich), dass eine formal unverbindliche Volksinitiative in der politischen Wirklichkeit einen sehr verbindlichen Charakter entfalten kann. Noch mildere Spielarten der Einbindung der Bevölkerung in den politischen Entscheidungsprozess bieten Bürgerräte, -foren oder -konferenzen. In diesen kommen per Zufallsverfahren oder nach bestimmten Kriterien ausgewählte Personen zusammen, um über die Lösung einer konkret anstehenden Problemlage zu diskutieren. Die Ergebnisse der Bürgerforen können dann in den parlamentarischen Beratungsprozess eingespeist werden. Derartige Foren werden auch genutzt, um die Folgen von geplanten Gesetzen besser abschätzen zu können, indem man die Betroffenen frühzeitig zu Wort kommen lässt. Die Idee der Bürgerräte schließt an die »Planungszellen« an, die in den 1970er Jahren entwickelt worden sind (auch als »Bürgergutachten« bekannt). Jüngere Beispiele sind der Bürgerrat Demokratie (2019), der Bürgerrat Klima (2021) und der Bürgerrat zur Zukunft Europas (2022). Dieses Beteiligungsformat schwankt zwischen der Idee von Demokratie als Diskussion und der Idee von Demokratie als Repräsentation Betroffener. Relevant für die Wirkung und Akzeptanz solcher Verfahren ist die Frage, ob und wie die Ergebnisse verarbeitet werden. Ein konkretes und verwandtes Verfahren der Einbindung von Menschen in politische Entscheidungen auf lokaler Ebene bieten die »Bürgerhaushalte«. Mehr Beteiligung wagen Innovative Beteiligungsformen <?page no="279"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 279 279 Die anpassungsfähige Demokratie! ? Insgesamt greifen solche partizipativen Verfahren verstärkt auf Online- Beteiligungsplattformen zurück, die eine gleichzeitige und gleichberechtigte Einbeziehung einer großen Zahl von Menschen in die Entwicklung von Entscheidungsvorschlägen erlauben. Generell bietet die Digitalisierung eine Chance auch für die stärkere Einbindung der Bevölkerung in die Politik. Die Corona-Pandemie hat wie ein Beschleuniger für die digitale Transformation der politischen Beteiligung gewirkt - sowohl in den traditionellen Organisationen (Parteien, → Kapitel 5 ) wie auch in neuen, spontanen Formen politischer Willensbildung. Bei allen Initiativen zur Intensivierung von Bürgerbeteiligung ist aber zu berücksichtigen, dass bestehende Beteiligungsklüfte nicht noch geweitet werden dürfen. Diese Gefahr besteht durchaus, wie Studien zur Online-Partizipation zeigen. Deswegen müssen innovative Beteiligungsmaßnahmen mit Blick auf politikferne Gruppen geprüft und gestaltet werden. Dies gilt auch für die Diskussion über die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Diese Idee liegt alleine deswegen auf der Hand, als dass in einer Reihe von Bundesländern bereits jetzt Menschen ab 16 Jahren an Landtags- und Kommunalwahlen teilnehmen dürfen. Aber auch hier bleibt zu schauen, ob aus der Beteiligungs möglichkeit tatsächlich und langfristig mehr Beteiligung wird. Bürgerhaushalte Im Rahmen eines Bürgerhaushaltes haben die Bürger: innen die Möglichkeit, über einen Teil der Verwendung der Haushaltsmittel einer Gebietskörperschaft mitzuentscheiden. Die Beratungen beruhen auf einem Diskussionsprozess und finden mitunter auch online-basiert statt. Dieses Instrument hat bereits in vielen Städten und Gemeinden Deutschlands Verwendung gefunden. Außer einer Stärkung der Bevölkerung im politischen Entscheidungsprozess wird gefordert, dass das Parlament wieder deutlicher ins Entscheidungszentrum gerückt und zu einem zentralen Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung werden müsse. Wie das zu geschehen habe, dafür ist eine Reihe an Vorschlägen entwickelt worden. Unter anderem betreffen diese das Thema, wie der Bundestag auf die Prozesse von Globalisierung und Europäisierung reagieren kann (→ Kapitel 11) . Angesichts der Dynamik der europäischen Integration - insbesondere infolge der jüngsten Mega-Krisen - haben sich jedoch fundamentale Fragen gestellt: Wann sprengt eine weitere Vergemein- Definition ▼ ▲ Parlamentarisierung deutscher Politik <?page no="280"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 280 280 Die zukunftsfähige Demokratie schaftung den Rahmen des Grundgesetzes? Wie viel Vertiefung ist mit dem Grundgesetz überhaupt möglich? In den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Rolle des Bundestages bei der Bewältigung der Euro-Krise wird diese Problematik indirekt angesprochen. Ob es hier der Reformen oder ob es eines grundlegenden Verfassungssprungs bedarf, wird ein wichtiges Thema in den kommenden Jahren bleiben. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie vulnerabel der Bundestag in Krisen sein kann. Viele »wesentliche« Entscheidungen sind außerhalb des Parlaments gefällt worden. Der Bundestag muss - genauso wie die Landtage - krisenfest gemacht werden. Die bereits erwähnten Bürgerräte bieten schließlich auch für das Parlament eine Chance. Es liefe auf eine »Win-win- Situation« hinaus, wenn der Bundestag dieses Instrument nutzt, um seine »Linkages« zur Bevölkerung zu stärken und die Menschen bei Entscheidungen »mitgenommen« werden. Auf den ersten Blick scheinen sich die aufgeführten Reformideen dennoch zu widersprechen. Einige zielen auf eine Straffung von Verfahren. Andere Ansätze machen Entscheidungsprozesse hingegen langwieriger und komplizierter, weil sie noch weitere Instanzen einbeziehen oder bestehende Veto-Kräfte wie das Parlament stärken wollen. Generell gilt jedenfalls, dass schnellere Entscheidungen nicht automatisch die besseren sein müssen. Mit wenig Zeitaufwand zu Beschlüssen zu kommen ist noch kein Gewinn. Wenn sich höhere Entscheidungskosten später in der Qualität der Entscheidungen »auszahlen«, also die externen Kosten gering bleiben, hat sich die Investition gelohnt. Aus demokratietheoretischer Perspektive dienen Veto-Spieler als Gegengewichte, die Machtmissbrauch verhindern können und die Aufgabe haben, voreilige und potenziell falsche Beschlüsse zu hinterfragen. Aber andersrum gilt auch: Langsamkeit ist kein Wert an sich. In modernen komplexen Gesellschaften bleibt es bei der Notwendigkeit, innerhalb begrenzter Zeiträume zu adäquaten Problemlösungen zu gelangen. Gerade der Bundestag verbindet diese beiden Fähigkeiten: auf der einen Seite Entscheidungen öffentlich zu diskutieren und auf der anderen Seite innerhalb einer klaren Frist zu einem Beschluss zu kommen. Die wohldosierte Einführung von Instrumenten direkter Demokratie könnte darüber hinaus die Akzeptanz politischer Entscheidungen fördern - ebenso wie der verstärkte Einsatz von Bürgerräten. Jenseits kleinerer Reformschritte wäre somit die Stärkung der parlamentarischen Demokratie bei gleichzeitigem »sozial verträglichen« Ausbau der politischen Beteiligung ein angemessener Ansatz, um die deutsche Demokratie weiter zu stabilisieren. Widersprüchliche Reformansätze Stärkung der parlamentarischen Demokratie und der Partizipation <?page no="281"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 281 281 Deutschland-- auch eine Schlechtwetterdemokratie? Deutschland-- auch eine Schlechtwetterdemokratie? Das bundesdeutsche System ist gelegentlich als »Schönwetterdemokratie« bezeichnet worden. Stabil sei die Demokratie nur, solange bildlich gesprochen die Sonne scheine, solange es der Bevölkerung »gut« gehe. Diese Skepsis scheint sich mit Blick auf die bundesdeutsche Geschichte bislang nicht bewahrheitet zu haben. Dass sich die zweite deutsche Demokratie überaus stabil in das nächste Jahrtausend würde hineinfinden können, war den Gründungsvätern und -müttern nach dem Zweiten Weltkrieg aber nur bedingt klar. Einige von diesen hatten vielmehr den Eindruck, an dem Projekt einer »gewagten Demokratie« mitzuwirken. Das bundesdeutsche System hat in Laufe seiner Geschichte tatsächlich viele, auch substanzielle Herausforderungen bewältigen können: die wirtschaftliche und soziale Notlage nach dem Zweiten Weltkrieg, die Loslösung vom Besatzungsregime, die Eskalationen des Kalten Krieges, die Einbettung in die europäische Integration, die eine oder andere Wirtschaftskrise. Zu den großen Herausforderungen zählte die Überwindung der deutschen Teilung. Die bundesdeutsche Demokratie hat diesen Sprung kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag in ihrem Grundgefüge unversehrt überstanden - sich allerdings dabei einige Kratzer eingefangen, von denen abzuwarten ist, ob diese noch weiter korrodieren und folglich an die Substanz gehen werden. Neue Herausforderungen stellen sich derzeit im Bereich der Integration unterschiedlicher gesellschaftlicher Kulturen in das politische System: ethnische, religiöse, soziale und generationenbezogene Gesellschaften stoßen aufeinander. Die Debatte über den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat sich insbesondere in Folge der »Flüchtlingskrise« von 2015 verschärft: zum einen, weil viele Menschen aus anderen Kulturkreisen aufgenommen wurden, zum anderen, weil die Situation zu einer Polarisierung der Politik in Deutschland geführt hat. Polarisierungstendenzen haben sich gleichfalls in der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine mit seinen Folgen für die Energieversorgung in Deutschland gezeigt. Dies manifestiert sich auch in dem Entstehen von radikalen antidemokratischen Kreisen, die das »System« rundweg ablehnen. Die Großwetterlage für die Demokratie in Deutschland scheint sich insgesamt zu verschlechtern - es drohen Wohlstandsverluste. Der demografische Wandel beeinträchtigt die Funktionstüchtigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Die Globalisierung kann zu Einbußen in der wohlfahrtsstaatlichen Struktur Deutschlands führen; die fragile Abhängigkeit Deutschlands von (Energie-)Importen aus anderen Ländern ist sowohl während der Pandemie, als auch durch den Krieg in der Ukraine deutlich geworden. Noch weitestgehend unklar sind die Folgen der Digitalisierung der Gesellschaft auf Politik, Demokratie und Öffentlichkeit. Der internationale Terrorismus for- 12.3 Vergangene und zukünftige Herausforderungen <?page no="282"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 282 282 Die zukunftsfähige Demokratie dert wiederum den liberalen Rechtsstaat heraus: Die latente und akute Gefahr, dass Deutschland erneut Ort eines Terroranschlags werden könnte, scheint die Gewichte zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und der sichernden Macht eines starken Staates zu verschieben. Schließlich hat sich auch die europäische Integration zu einer substanziellen Herausforderung entwickelt. Deutsche Politik ist abhängig von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in anderen EU-Mitgliedstaaten. Und diese sind mitunter alles andere als unkompliziert. Das gleiche gilt auch für die gesamte internationale Politik. Hier zeichnet sich eine neue Instabilität ab, auf die Deutschland in seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu reagieren hat. So wird sich herausstellen müssen, ob sich das Wort von der »Schönwetterdemokratie Deutschland« bewahrheitet. Die Umfragewerte geben dem Zweifel Nahrung: Wird man sich stets darauf verlassen können, dass die Unterstützung der Demokratie auf hohem Niveau bleibt? Wie wirkt sich das verbreitete fundamentale Misstrauen gegenüber den politischen Eliten langfristig auf die Einstellung zur demokratischen Verfassung aus? Denn Elitenmisstrauen ist der Nährboden für populistische Bewegungen, in denen antidemokratische und Anti-System-Haltungen wachsen können. Die Demokratie in Deutschland bleibt darauf angewiesen, die Menschen »mitzunehmen«. Deswegen liegt hier eine zentrale Aufgabe für die politischen und gesellschaftlichen Funktionsträger. Nicht in der Abschottung, sondern in der Herstellung von mehr Transparenz und der Öffnung der Organisationen und Verfahren für mehr Engagement der Menschen erschließt sich ein Weg zur Stärkung der Resilienz der deutschen Demokratie. Dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist - diese Erkenntnis hat sich mit Blick auf die Entwicklungen in anderen Staaten, aber auch mit Blick auf inländische Entwicklungen eingestellt. Insofern muss die deutsche Demokratie weiter aktiv »wetterfest« gemacht werden. 1 Welches sind die institutionellen Veto-Spieler im politischen System der Bundesrepublik? 2 An welchen Stellen im bundesdeutschen System gibt es Konsenspunkte, an denen ein Einvernehmen zwischen potenziellen Veto-Spielern hergestellt werden kann? 3 Ist Deutschland eher eine Konsensus- oder eine Wettbewerbsdemokratie? 4 Hat sich die bundesdeutsche Verfassung als veränderungsresistent erwiesen? Demokratiestärkung ist-möglich und nötig Lernkontrollfragen ▼ <?page no="283"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 283 283 Literatur 5 Wo besteht noch weiterer Reformbedarf und wie könnte dieser angegangen werden? 6 Wie beurteilen Sie die Zukunft der bundesdeutschen Demokratie? Literatur Die in diesem Kapitel angesprochene Unterscheidung zwischen der Konsensusdemokratie und der Westminster-Demokratie hat Arend Lijphart entlang von 36 Fällen entwickelt und durchdekliniert: Arend Lijphart: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-six Countries, 2. Aufl., New Haven, Yale University Press 2012 . Die im Text erwähnte und in der Politikwissenschaft sehr intensiv wahrgenommene Theorie der Veto- Spieler findet sich von ihrem Vater erstmalig ausgebreitet in: George Tsebelis: Decision Making in Political Systems. Veto Players in Presidentialism, Parliamentarism, Multicameralism, and Multipartyism, in: British Journal of Political Science, 25. Jg. (1995), S. 289-326 , später dann in Buchform: George Tsebelis: Veto Players. How Political Institutions Work, Princeton, Princeton University Press 2002 . Die Veto-Punkte-Theorie wird in folgenden Publikationen erläutert: André Kaiser: Vetopunkte der Demokratie. Eine Kritik neuerer Ansätze der Demokratietypologie und ein Alternativvorschlag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (1998), S. 525-541 ; Ellen Immergut: Health Politics. Interests and Institutions in Western Europe, Cambridge, Cambridge University Press 1992 . Die These vom semi-souveränen deutschen Regierungssystem hat Peter J. Katzenstein in folgender Publikation entwickelt: Peter J. Katzenstein: Policy and Politics in West-Germany. The Growth of a Semisovereign State, Philadelphia, Temple University Press 1987 . Generelle Ansätze vergleichender Politikwissenschaft finden sich in einem umfassenden Handbuch zum Thema beschrieben: Hans-Joachim Lauth/ Marianne Kneuer/ Gert Pickel (Hg.): Handbuch Vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden, Springer VS 2016. Mit der informellen Politik setzt sich ein Sammelband auseinander, in dem das Phänomen aus konzeptionellen und empirischen Perspektiven angesprochen wird: Stephan Bröchler/ Timo Grunden (Hg.): Informelle Politik. Konzepte, Akteure und Prozesse, Wiesbaden, Springer VS 2014. ▲ <?page no="284"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 284 284 Die zukunftsfähige Demokratie Links www.mehr-demokratie.de Der Verein »Mehr Demokratie« präsentiert auf seiner Seite Vorschläge zur Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene sowie zur Reform der direkten Demokratie auf Landes- und kommunaler Ebene. www.buergerrat.de Diese Seite des Vereins »Mehr Demokratie« informiert über die bisher stattgefundenen »Bürgerräte« auf den unterschiedliche politischen Ebenen. www.buergerhaushalt.org Diese von Trägern der politischen Bildung angebotene Seite informiert über das Verfahren und bisherige Anwendungsfälle von Bürgerhaushalten vor allem auf der kommunalen Ebene in Deutschland. <?page no="285"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 285 285 Personenregister AAdenauer, Konrad 20, 29, 157, 158, 167, 169, 182 Allemann, Fritz René 24 Almond, Gabriel 56 Altmaier, Peter 169 Arnim, Hans Herbert von 122 BBarzel, Rainer 132, 160 Bas, Bärbel 132 Bauer, Gustav 23 Beyme, Klaus von 120, 205, 210 Bohl, Friedrich 169 Brandt, Willy 158, 160, 161, 162, 169, 182 Braun, Helge 169 Brüning, Heinrich 22, 23 Busch, Andreas 275 Butterwegge, Christoph 181 CCarstens, Karl 132, 169, 180, 182 Churchill, Winston 25 Cohen, Joshua 77 Cuno, Wilhelm 23 DDäubler-Gmelin, Herta 198 Dreier, Horst 198 EEbert, Friedrich 178 Ehlers, Hermann 132 Ehmke, Horst 169 Erhard, Ludwig 158, 169 Eschenburg, Theodor 63, 190 FFehrenbach, Konstantin 23 Fraenkel, Ernst 42, 44, 76 Fröhlich, Manuel 168 GGaltung, Johan 100 Gauck, Joachim 180, 182, 191 Gaulle, Charles de 244 Genscher, Hans-Dietrich 37 Gerstenmaier, Eugen 132 Glaser, Albrecht 181 Globke, Hans 169 Gorbatschow, Michael 37 Grabert, Horst 169 HHarbarth, Stephan 199 Hassel, Kai-Uwe von 132 Heinemann, Gustav W. 182, 183, 186 Hennis, Wilhelm 121 Herzog, Roman 182, 183, 191, 199 Heuss, Theodor 182, 183 Hindenburg, Paul von 22, 178 Hitler, Adolf 22 Hold, Alexander 181 Hombach, Bodo 169 Honecker, Erich 36, 38 IImmergut, Ellen 268 Inglehart, Ronald 119 JJenninger, Philipp 132 Jun, Uwe 120 KKaase, Max 56 Kaiser, André 268 Katz, Richard S. 122 Kiesinger, Kurt Georg 155, 157, 158, 169, 182, 271, 273 Knieper, Werner 169 Köhler, Erich 132 Köhler, Horst 180, 182, 183, 187, 192 Kohl, Helmut 37, 76, 158, 160, 161, 162, 169, 182 <?page no="286"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 286 286 Personenregister Konow, Gerhard 169 Korte, Karl-Rudolf 168 Krenz, Egon 38 LLahnstein, Manfred 169 Lammert, Norbert 132 Lehmbruch, Gerhard 230, 268 Leibholz, Gerhard 111, 112, 121 Lenz, Otto 169 Leyen, Ursula von der 247 Lijphart, Arend 266, 271 Limbach, Jutta 209 Lincoln, Abraham 13 Lipset, Seymour Martin 119 Lösche, Peter 121 Lübke, Heinrich 182, 183, 187 Luther, Hans 23 MMair, Peter 122 Maiziére, Thomas de 169 Marx, Wilhelm 23 Merkel, Angela 157, 158, 165, 169, 271 Meyer, Thomas 101 Michels, Robert 123, 124 Möller, Horst 21 Montesquieu, Charles-Louis 209 Moravcsik, Andrew 255 Müller, Hermann 23 NNiclauß, Karlheinz 167 Noelle-Neumann, Elisabeth 101, 102 OOffe, Claus 72, 73, 77 Olson, Mancur 72 PPapen, Franz von 22, 23 Plessner, Helmuth 217 Pofalla, Ronald 169 Putnam, Robert D. 79 RRaschke, Joachim 120 Rau, Johannes 182, 183, 187, 191 Renger, Annemarie 132 Rogers, Joel 77 Rokkan, Stein 119 Roosevelt, Franklin D. 25 Rousseau, Jean-Jacques 43 Rudzio, Wolfgang 57 Ruge, Mari H. 100 SSchabowski, Günther 38 Schäfer, Armin 52 Scharpf, Fritz W. 231, 232 Schäuble, Wolfgang 132, 169 Scheel, Walter 182, 187 Scheidemann, Philipp 23 Schepers, Hans 48 Schleicher, Kurt von 22, 23 Schmid, Carlo 29 Schmidt, Helmut 158, 160, 161, 162, 169 Schmidt, Manfred G. 208 Schmidt, Wolfgang 169 Scholz, Olaf 75, 155, 158, 164 Scholz, Rupert 274 Schreckenberger, Waldemar 169 Schröder, Gerhard 75, 157, 158, 161, 162, 165, 168, 169 Schüler, Manfred 169 Schultze, Rainer-Olaf 217 Schuman, Robert 240 Seiters, Rudolf 169 Sonneborn, Engelbert 181 Stalin, Josef 25 Steinmeier, Frank-Walter 169 Stresemann, Gustav 23 Stücklen, Richard 132 Süssmuth, Rita 132 TThierse, Wolfgang 132 Tsebelis, George 266, 267 UUlbricht, Walter 36 VVerba, Sidney 56 Voscherau, Henning 274 WWassermann, Rudolf 55 Weber, Max 66 Weidenfeld, Werner 245 Weiler, Joseph 256 Weizsäcker, Richard von 180, 182, 183, 187, 190 Westrick, Ludger 169 Wirth, Joseph 23 Wuermeling, Franz-Josef 169 Wulff, Christian 182, 183, 191, 192 <?page no="287"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 287 287 Sachregister AAbgeltungsteuer 222 Abgeordnete 46, 47, 49, 68, 109, 110, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 151, 159, 160, 162, 179, 202, 205, 268 Abgeordnetenhaus 220 abstrakte Normenkontrolle 268 Agenda-Setting 100 Aktuelle Stunde 136, 146 Algokratie 103 Alliierte 25, 27, 28, 37, 218, 219 Alliierter Kontrollrat 25 Alternative für Deutschland (AfD) 127 Ältestenrat 135 Ann-Arbor-Modell 53 Appellentscheidung 210 Arbeitgeberverbände 76 Arbeitskampf 75 Arbeitsparlament 130, 140, 141 assoziative Demokratie 77, 78, 80 Auflösung des Bundestages 161, 162, 188 Ausgleichsmandate 50, 179 ausschließliche Landesgesetzgebung 223 Ausschuss der Regionen 246, 248, 253, 254 außerparlamentarische Opposition 273 Aussperrung 74, 75 Auswärtiger Ausschuss 133 Auswärtiges Amt 133, 164 BBayernpartei 117 Beamte 34, 172 beamteter Staatssekretär 156, 170 Begnadigungsrecht 184, 185 Beitrittskandidaten (EU) 242 Berliner Mauer 36 »Berliner« Republik 24 Besatzungsmächte 25, 28, 31, 218 Besatzungsregime 24, 25, 281 Besatzungszeit 19, 41 Besatzungszone 25, 26, 27, 28, 34, 35, 218 Binnenmarkt 241 Bizone 28 Brexit 46, 242, 244 Bundesergänzungszuweisungen 222 Bundesgesetzblatt 185 Bundesinnenministerium 208 Bundesjustizminister 164 Bundesjustizministerium 208, 214 Bundeskanzleramt 168 Bundeskanzler/ Bundeskanzlerin 20, 46, 99, 142, 143, 144, 155, 156, 157, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 166, 168, 174, 185, 188, 190 Bundeskanzlerwahl 143, 144, 160, 188, 189 Bundesländer 15, 27, 28, 29, 31, 32, 33, 39, 44, 48, 54, 85, 201, 203, 215, 217, 218, 219, 220, 222, 223, 224, 225, 226, 228, 230, 231, 232, 233, 236, 237, 242, 247, 250, 252, 254, 255, 256, 273, 274, 276, 277, 278 Bundesminister 154, 155, 156, 163, 165, 166, 167, 170, 185, 246 Bundesminister der Finanzen 164 Bundesminister der Verteidigung 164 Bundesministerium 68, 133, 171 Bundespräsident 15, 31, 46, 124, 143, 144, 145, 156, 159, 160, 161, 163, 166, 172, 175, 178, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 201, 203, 207, 220, 268 Bundespräsidentenwahl 180, 183 Bundespräsidialamt 167, 184, 186, 191, 194 Bundesrat 32, 109, 111, 131, 145, 150, 159, 183, 184, 189, 196, 197, 198, 201, 203, 207, 215, 219, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 237, 250, <?page no="288"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 288 288 Sachregister 254, 255, 268, 269, 270, 272, 273, 274, 275 Bundesratsmodell 225 Bundesrechnungshof 146 Bundesregierung 15, 68, 71, 76, 109, 145, 146, 154, 156, 163, 166, 170, 172, 173, 184, 201, 202, 203, 205, 227, 229, 249, 250, 254, 255, 261 Bundesstaat/ Bundesrepublik 23, 30, 31, 32, 150, 215, 216, 217, 218, 225, 230, 237, 245, 248, 268, 277 Bundesstaatlichkeit 19, 32, 216, 248, 253, 275, 276 Bundestag 15, 32, 46, 47, 48, 49, 50, 52, 67, 68, 71, 109, 111, 112, 116, 117, 127, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 167, 172, 178, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 188, 189, 190, 196, 197, 198, 201, 202, 203, 207, 210, 211, 213, 226, 227, 228, 229, 230, 248, 249, 250, 251, 253, 254, 261, 262, 268, 269, 270, 274, 275, 278, 279, 280 Bundestagsabgeordnete 69, 137, 138 Bundestagsfraktion 114, 160, 198 Bundestagsmehrheit 142, 147, 158, 231 Bundestagspräsident/ in 131, 132, 143, 179 Bundestagsverwaltung 48, 133 Bundestagswahl 46, 48, 49, 50, 51, 60, 99, 114, 117, 123, 133, 188, 192, 203 Bundesverfassungsgericht 15, 33, 49, 83, 84, 85, 86, 87, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 143, 144, 146, 149, 150, 163, 183, 184, 186, 187, 188, 190, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 226, 228, 245, 249, 252, 253, 256, 268, 272, 277, 280 Bundesverfassungsgerichtsgesetz 109, 200, 214 Bundesverfassungsrichter: in 143, 196, 197, 198, 199, 207 Bundesversammlung 178, 179, 180, 181, 183, 194 Bundesverwaltung 170, 174 Bundeswahlleiter: in 49, 61 Bundeswehr 273 Bundeszentrale für politische Bildung 18, 40, 41, 129, 237, 263 Bund-Länder-Streitigkeit 201, 203 Bündnis 90/ Grüne 50, 55, 57, 69, 117, 118, 119, 143, 157, 158, 198 Bündnis für Arbeit 75, 76 Bürgerbegehren 233 Bürgerentscheid 233 Bürgerforen 234, 278 Bürgerhaushalt 234, 278, 279, 284 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 64, 65, 81 Bürgermeister: in 220, 233, 234, 274 Bürgerrat/ Bürgerräte 278 Bürgerrechtsbewegung 37, 118 Cchecks and balances 186 Christlich Demokratische Union (CDU) 27, 29, 50, 53, 69, 102, 116, 117, 118, 132, 157, 158, 160, 169, 180, 181, 182, 197, 198, 199, 225, 274, 275 Christlich-Soziale Union (CSU) 29, 50, 69, 102, 116, 117, 118, 132, 157, 158, 160, 181, 182, 198, 199, 225, 275 cleavage 119 Corona/ Corona-Pandemie Siehe-Pandemie Ddemografischer Wandel 59, 281 Demokratie 13, 14, 15, 19, 21, 22, 30, 32, 42, 43, 46, 56, 58, 59, 63, 65, 82, 83, 84, 85, 101, 103, 107, 110, 111, 112, 122, 125, 126, 130, 146, 167, 175, 176, 178, 188, 193, 196, 209, 212, 217, 238, 239, 253, 255, 257, 259, 261, 262, 263, 264, 265, 268, 269, 272, 280, 281, 282, 284 Demokratiedefizit 84, 255 Demokratiekritik 256 Demokratieprinzip 220 Demonstrationen 54, 71 Demontage 25 Denationalisierung Siehe-Entgrenzung Deparlamentarisierung Siehe-Entparlamentarisierung Deutsche Demokratische Republik (DDR) 14, 20, 35, 36, 37, 40, 118 Deutsche Einheit 20, 34, 37, 38, 40, 41, 47, 51, 57, 92, 118, 135, 239, 242, 243, 274 Deutsche Partei (DP) 29, 117 <?page no="289"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 289 289 Sachregister Deutscher Volkskongress 35 Deutscher Volksrat 35 deutsche Teilung 14, 20, 25, 34, 39, 40, 41, 274, 281 Deutsche Volkspartei (DVP) 23 Diäten (Bundestag) 137 Die Linke 58, 69, 118, 143, 198 digital natives 93, 94 direkte Demokratie 21, 43, 44, 45, 61, 127, 222, 233, 278, 280, 284 Direktmandate 48, 50 Direktmandatsklausel 50 Direktor beim Deutschen Bundestag 133 D-Mark 25 Dritter Sektor 78 Drittes Reich 23, 217 EEG/ EU-Vorlagen 251 ehernes Gesetz der Oligarchie 123 Einbürgerung 34 Einheitliche Europäische Akte 241 Einheitsstaat 216, 217 Einigungsvertrag 38 Einigungsvertragsgesetz 35 Einkommensteuer 222 Einspruchsgesetz 227, 228, 229 Eiserner Vorhang 25 Enquete-Kommission 135, 274 Entgrenzung 238, 239, 257, 259, 260 Entnazifizierung 24, 26 Entparlamentarisierung 15, 130, 149, 150, 151, 177, 209, 261 Ersatzgesetzgeber (Bundesverfassungsgericht) 196, 208, 213 EU-Ausschuss 133 Eurobarometer 263 Europa-Artikel des Grundgesetzes 249, 274 Europäische Atomgemeinschaft 240 Europäische Bürgerinitiative 244, 278 Europäische Gemeinschaft/ -en 238, 241, 242, 248 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 240 europäische Integration 127, 281, 282 Europäische Kommission 245, 246, 247, 251, 263 Europäischer Gerichtshof 204, 246, 247, 252 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 204 Europäischer Rat 245, 246 Europäischer Rechnungshof 246, 247 Europäisches Parlament 52, 54, 241, 244, 245, 246, 255 Europäisches Währungssystem 241 Europäische Union 13, 150, 238, 241, 242, 244, 245, 246, 248, 249, 250, 251, 253, 254, 255, 256, 261, 262, 263, 274, 277 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 240 Europäische Zentralbank 252 Europäisierung 15, 150, 238, 239, 248, 249, 251, 253, 256, 257, 262, 277, 279 Europawahl 51, 117, 277 Eurosklerose 244 Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes 32, 33 Exekutive 15, 145, 155, 169, 172, 175, 209, 234, 245, 247, 261 Exekutivföderalismus 232 FFachausschüsse des Bundestages 133, 134, 141, 145, 146, 269, 270 Fall der Mauer 37, 38 Feierabendpolitiker 137 Finanzausgleich Siehe-Länderfinanzausgleich Finanzverfassung 273 Flächentarife 74 Flüchtlingskrise 59, 281 Föderalismus 85, 216, 217, 218, 219, 229, 230, 236 Föderalismusreform 85, 187, 219, 225, 228, 235, 236, 274, 275, 276 föderalistische Konsensusdemokratie 271 Fragestunde (Bundestag) 146, 156 Fragmentierung 127, 267 Fraktionenparlament 135, 139 Fraktion/ Fraktionen 69, 130, 132, 133, 135, 136, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 146, 157, 160, 179, 198, 199, 270 Fraktionsdisziplin 139 fraktionslos 136 Fraktionsrechte 136 Fraktionsstärke 229 Fraktionszwang 139 Framing 96, 101 Frankfurter Dokumente 28, 218, 219 Freie Demokratische Partei (FDP) 27, 29, 37, 50, 102, 116, 117, 118, 157, 158, 160, 161, 162, 180, 182, 198, 225, 273 <?page no="290"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 290 290 Sachregister freies Mandat 137, 139, 180 Freihandelszone 241, 258 Freiheitlich-demokratische Grundordnung 33, 109, 112, 201, 203 Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) 109 Friedenspflicht (Tarifverhandlungen) 74, 75 Fünf-Prozent-Hürde 50, 116, 135, 277 GGemeinden 220, 222, 232, 233, 234, 235, 276, 279 Gemeindeparlament 233 Gemeinderat 52, 233 Gemeindeversammlung 233 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 241 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) 167, 170, 174 Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat 274 Gemeinsamer Ausschuss 273 Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) 241 Gemeinsame Verfassungskommission 274 Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 167, 274 Gemeinschaftssteuern 222 Gemeinwohl 62, 76, 121 Generaldirektionen (EU) 247 Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) 166, 167 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages 131, 153 Geschäftsordnungsautonomie 131 Gesetzesinitiativrecht 136, 145 Gesetzgeber 111, 144, 149, 205, 209, 210, 248, 250, 255 Gesetzgebung 30, 130, 145, 149, 166, 172, 207, 219, 225, 227, 228, 231, 234, 237, 248, 254, 268 Gesetzgebungsnotstand 185, 189 Gewaltenteilung 31, 33, 142, 144 Gewerbesteuer 235 Gewerkschaften 53, 65, 66, 74, 75, 76, 126 Globalisierung 13, 15, 150, 238, 239, 257, 258, 259, 260, 261, 263, 279 going public 70, 71, 73, 191 Große Anfrage (Bundestag) 136, 146 Große Koalition 37, 57, 117, 142, 150, 157, 187, 267, 271, 273, 275 Grundgesetz 15, 19, 20, 24, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 39, 40, 44, 45, 46, 47, 64, 83, 106, 107, 108, 111, 113, 116, 130, 131, 134, 135, 137, 139, 140, 142, 144, 148, 149, 159, 160, 161, 163, 164, 165, 166, 168, 175, 178, 183, 184, 186, 187, 188, 189, 190, 195, 196, 200, 201, 203, 204, 211, 215, 219, 220, 222, 223, 225, 226, 228, 233, 234, 250, 252, 265, 268, 272, 273, 274, 275, 276 Grundgesetzänderung 32, 272, 274 Grundrechtssenat 200 Grundsteuer 235 Grundversorgung 86 Grüne Siehe-Bündnis 90/ Grüne grüne Partei Siehe-Bündnis 90/ Grüne Gruppenparlament 135, 139 HHauptausschuss (Bundestag) 134 Haushaltsausschuss 133, 135 Holocaust 23 IImmunität 137 Indemnität 137 Influencer 97 Innenministerkonferenz 231 innerverbandliche Demokratie 65 intergouvernemental 255, 261 Internationalisierung 257 Internet 15, 82, 91, 92, 93, 94, 99, 105, 126, 149, 191, 258 Interparlamentarische Union 153 interpellative Verfahren (Bundestag) 146 JJudikative 195, 209, 247 KKabinett 147, 157, 163, 164, 165, 166, 170, 207 Kabinettsausschüsse 167 Kabinettsprinzip 165, 166 Kabinettssitzungen 167 Kabinettsvorlage 172 Kaiserreich 217 Kalter Krieg 24, 25, 28, 281 Kanzleramtschef 164, 169 Kanzlerdemokratie 154, 163, 167, 168, 170, 173 Kanzler/ in Siehe-Bundeskanzler/ Bundeskanzlerin <?page no="291"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 291 291 Sachregister Kanzlerkandidaten 99 Kanzlermehrheit 142, 143, 157, 188 Kanzlerprinzip 166, 168 Kanzlerrunde 76 Kanzlerschaft 270 Kanzlerwahl Siehe-Bundeskanzlerwahl Karenzzeit 69 Kartellpartei 122 Kerneuropa 248 Kleine Anfrage (Bundestag) 136, 146 »kleines Parteienverbot« 110 Klimakrise/ Energiekrise 245 Klimawandel 257, 259 Koalition/ -en 37, 75, 102, 117, 157, 158, 162, 168, 179, 267, 270, 276 Koalitionsausschuss 159, 271 Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) 64, 65 Koalitionsgremien 149, 150, 159, 270 Koalitionsregierungen 157, 267 Koalitionsvertrag 159, 164 Kommissionspräsident/ in Siehe-Präsident/ in der Europäischen Kommission Kommission zur Ermittlung der Konzentration auf dem Medienmarkt (KEK) 90, 105 kommunale Ebene 232, 233, 234, 235 Kommunalpolitik 215, 216, 232, 233, 234, 235, 237 Kommunalverfassungen 233, 234 Kommunen 15, 215, 232, 234, 235, 256, 275 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 27, 109, 116, 117 Kompatibilität 155 Konferenz von Jalta 25 Konfliktfähigkeit 72, 73, 77 Konkordanzdemokratie Siehe-Konsensusdemokratie konkrete Normenkontrollverfahren 200 Konkurrenzdemokratie Siehe-Mehrheitsdemokratie konkurrierende Gesetzgebung 224, 225, 276 Konsenspunkte 264, 269, 270, 271, 272 Konsensusdemokratie 265, 266, 271, 272 konstruktives Misstrauensvotum 144, 154, 160, 161, 266 Konzentrationsprozesse (Mediensystem) 90, 91, 102, 105, 116 konzertierte Aktion 75 kooperativer Föderalismus 230, 231, 237 Körperschaftsteuer 222 Kriegsgefangenschaft 25 Kruzifix-Urteil 212 Kultusministerkonferenz 231 LLänder Siehe-Bundesländer Länderfinanzausgleich 222, 273 Landesgesetzgeber 233 Landesliste 48, 49, 139 Landesparlamente Siehe-Landtag Landesregierungen 27, 109, 161, 201, 202, 205, 220, 225, 226, 230, 253, 254, 255 Landesverfassung 27, 220, 222 Landeswahlleiter: in 61 Landtag 27, 29, 30, 52, 112, 150, 179, 181, 220, 236, 253, 255 Landtagswahl 51, 61, 114, 123, 162 Legislative 145, 155, 209, 245, 247 Linke Siehe-Die Linke Linkspartei Siehe-Die Linke »Lissabon-Urteil« 252 Lissabon-Vertrag Siehe-Vertrag von Lissabon Lobbying 68 Lobbyismus 76 Lobbyregister 67, 68, 81 Londoner Empfehlungen 28 Londoner Sechs-Mächte-Konferenz 28 Luxemburger Kompromiss 244 MMaastricht-Urteil 252 Maastricht-Vertrag Siehe-Vertrag von Maastricht Magistrat (Kommunalverfassung) 233 Marshall-Fond 25 Massenmedien Siehe-Medien Massenparteien 120, 123 Medialisierung Siehe-Mediatisierung Mediatisierung 82, 95, 96, 97, 99, 103, 120 Medien 15, 70, 71, 72, 73, 74, 82, 83, 84, 85, 88, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 140, 148, 149, 168, 192, 210, 251, 262, 269, 277 Mediendemokratie 15, 82, 84, 103 Mediengesellschaft 70, 71, 94, 95, 98, 191 Mediengesetze 85 Medienholding der SPD 89 Medienrecht 83 Medienstaatsvertrag 85, 88 Medienwahlkampf 99 Mediokratie 101, 102, 103, 104 <?page no="292"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 292 292 Sachregister Mehrebenenkonstellation 215 Mehrheitsdemokratie 265, 266, 267, 271, 272 Mehrheitswahlrecht 48, 276, 277 Mehrparteienprinzip 33 Menschenrechte 13, 33, 83, 261 Michigan-Modell 53 Militärgouverneure 28, 29, 30 Minderheitskanzler/ in 159, 188, 189 Minderheitsregierung 143, 159, 160, 177, 266 Ministeramt 246 Ministerialbürokratie 68, 71, 154, 167, 170, 171, 172, 247 Ministerialdirektor: in 171, 172 Ministerialdirigent: in 171 Ministerialverwaltung Siehe-Ministerialbürokratie Minister: in Siehe-Bundesminister Ministerium für Staatssicherheit 36 Ministerpräsidentenkonferenz/ MPK 231, 270 Ministerpräsident: in 27, 28, 29, 220, 222 Ministerrat (EU) 244, 245, 246, 247, 249, 255 Misstrauensvotum 142, 160 Mitglied des Bundestages (MdB) 131, 132, 135, 136, 137, 138, 146, 148, 150, 274 Montagsdemonstrationen 38 Montanunion 240 NNachrichtenwerte 98, 100 namentliche Abstimmungen 136 Nationaldemokratie Partei Deutschlands (NPD) 110 Nationalsozialismus 19, 26, 31, 41, 64, 75, 83, 109, 116, 217 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 23, 27, 109 Nebentätigkeit (MdB) 137 negatives Stimmgewicht 49 Neo-Korporatismus 75, 76, 271 Netzpolitik 88 Neue Soziale Bewegungen 55 Neugliederung des Bundesgebietes 44, 276, 278 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) 55, 67, 262 Nichtwählenden 51, 52 nicht-zustimmungsbedürftige Gesetze 227, 230, 268 non-decisions 98 Normenkontrolle 69, 202, 205, 208, 209 - abstrakte 201, 202 - konkrete 201, 202, 205 Normensetzung 208, 209 Notparlament 273 Notstand 273 Notstandsgesetze 273 Notstandsrecht 28, 273 OOberster Gerichtshof 195 Oberstes Bundesgericht 198 öffentlicher Dienst 33, 34, 138 Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) 71, 98, 100, 149, 191 öffentlich-rechtlicher Rundfunk 85, 86, 87, 89, 93, 105 office seeking (Parteien) 122 Online-Partizipation 54, 279 Online-Wahlkampf 99 Opportunitätsprinzip 110 Opposition 33, 130, 135, 142, 145, 147, 150, 162, 168, 181, 187, 197, 203, 205, 206, 207, 208, 230, 261, 268, 270 Organisationsfähigkeit 73, 77 Organisationsgewalt 163, 164, 169 organisierte Interessen 62, 251 Organklage/ Organstreit 146, 186, 201, 203 Ostpolitik 37 PPandemie 59, 126, 148, 225, 231, 245, 276, 279, 280, 281 parlamentarische Demokratie 21, 45, 130, 142, 144, 159, 261, 280 parlamentarische Gebräuche 131 parlamentarische Regierungsform 220 Parlamentarischer Rat 20, 28, 29, 30, 40, 44, 109, 225, 272 Parlamentarische Staatssekretäre 154, 155, 156, 170, 171, 174 Parlamentarische Versammlungen 261 Parlamentsauflösung 188, 266 Parlamentsrecht 133, 142 Parlamentsreformen 151 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 118 Parteien 15, 22, 24, 27, 33, 47, 48, 49, 53, 54, 57, 68, 69, 71, 87, 99, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 127, 129, 132, <?page no="293"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 293 293 Sachregister 135, 138, 139, 176, 179, 180, 192, 196, 197, 198, 199, 203, 230, 231, 234, 251, 267, 270, 277 Parteiendemokratie 103, 106, 107, 230 Parteienfinanzierung 111, 114, 115, 122, 129 Parteiengesetz 109, 111, 112, 113, 115, 122, 129 Parteienkritik 121, 122, 125, 128 Parteienlagersystem 118 Parteienstaat 106, 107, 112, 237 Parteiensystem 50, 58, 60, 106, 109, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 128, 256 Parteienverdrossenheit 106, 121, 123, 124 Parteienwettbewerb 230, 268 Parteiidentifikation 53, 54 Parteiorganisation 120, 121, 127 Parteipolitik 230, 234 Parteipresse 88 Parteireformen 107 Parteitag 113 Parteiverbot 109, 110, 200, 201, 203, 205 partizipatorische Revolution 57 party in central office 120 party on the ground 120 Paulskirchenverfassung 23, 24 personalisiertes Verhältniswahlrecht 47 Petition 91, 148 Petitionsausschuss 131, 134, 148, 274 Ping-Pong-Gesetzgebung 225, 276 Piratenpartei 126, 127 Plebiszit 44 pluralistische Gesellschaft 62, 79 Polarisierung 127, 267, 281 Politik des leeren Stuhls 244 Politikverflechtung 215, 231, 232, 235, 237, 268 Politikverflechtungsfalle 231, 237 Politikzyklus 98 politische Beamte 172 politische Beteiligung 42, 54, 55, 57 politische Kultur 22, 24, 42, 45, 56, 57, 59, 60, 208 Politisierung 57 Populismus 46, 59, 88, 119, 282 Postmaterialismus 119 Potsdamer Konferenz 25 Präsident des Europäischen Rates 244, 246 Präsidentenanklage 183 präsidentielle Regierungsform 176, 234 Präsident/ in der Europäischen Kommission 247 Präsident/ in des Bundesverfassungsgerichts 200 präsidiales Regime 177 Präsidium des Bundestages 132 Pressefreiheit 83, 203 Preußen 27, 217, 219 professionalisierte Wählerparteien 120 public pressure 70, 72 Qqualifizierte Mehrheit (EU-Ministerrat) 245 RRadikalenerlass 33, 34 Rahmengesetzgebung 85, 232 Rechtspositivismus 22, 33 Rechtsprechung 30, 83, 195, 198, 199, 207, 209, 222, 248, 250, 251, 252, 253 Rechtsstaat 30, 31, 32, 211, 220, 282 Redeparlament 130, 140, 141 Referate (Bundesministerien) 171 Referendum 44 Referentenentwurf 171, 172 Regierungsfraktionen 150, 151 Regierungskoalition Siehe-Koalition/ en Regierungsmehrheit 130, 142, 145, 147, 154 Reichskanzler 21, 22, 23, 177 Reichspräsident 21, 22, 176, 177, 178, 185 Reichsregierung 177 Reichsstände 217 Reichstag 21, 22, 177 Reichsverfassung Siehe-Weimarer Reichsverfassung Reservemacht der Bundespräsidenten 188, 189 Ressortprinzip 166 Richterwahlausschuss Siehe-Wahlausschuss des Deutschen Bundestages Richtlinienkompetenz 166, 271 Riepl’sches Gesetz 94 Rittersturz-Konferenz 28, 29 Römische Verträge 240, 243 Runder Tisch 37 Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag 85 Rundfunkräte 86, 87 SSainte-Laguë/ Schepers 48, 49 Schengener Abkommen 241 <?page no="294"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 294 294 Sachregister Schlichtungsverfahren 75 Schuldenregel 219 Schuman-Plan 240 Schweigespirale 101, 102, 104 Selbstauflösungsrecht des Bundestages 163 semi-präsidentielles System 175, 176, 193 Senate des Bundesverfassungsgerichts 197, 200 Senatsmodell 225 Social Media 15, 45, 54, 148 »Solange II«-Urteil 252 »Solange I«-Urteil 252 »Soldaten sind Mörder«-Entscheidung 212 Sonderausschüsse des Bundestages 135 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 23, 27, 29, 37, 50, 53, 69, 89, 102, 114, 116, 117, 118, 126, 132, 158, 160, 162, 169, 180, 182, 198, 225, 274, 275 soziales Kapital 78, 79 Sozialismus 58, 118 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 36, 118 Sozialistische Reichspartei (SRP) 109 Sozialpflichtigkeit des Eigentums 31 Sozialstaat 30, 31, 32 Sperrklausel Siehe-Fünf-Prozent-Hürde Spiegel-Urteil 84 Spitzenbeamt: innen 172 Spitzenkandidierenden Siehe-Kanzlerkandidaten Staatenbund 216, 217, 245, 248 Staatenverbund 245 Staatsakt 184, 190 Staatsangehörigkeitsgesetz 34 Staatsbegräbnis 184 Staatsoberhaupt 15, 29, 31, 172, 175, 177, 178, 181, 184, 186, 188, 190, 191, 192, 194 Staatsrechtssenat 200 Staatssymbole 184 Städte 25, 233, 276 Stadtparlament 233 Stadtrat 52 Stammwähleranteil 123 ständige Ausschüsse des Bundestages Siehe-Fachausschüsse des Bundestages Statistisches Bundesamt 258 Streik 71, 75 Subsidiarität 250, 256 Südschleswigscher Wählerverband 117 super-repräsentativ 42, 43, 44, 45, 55, 59, 277 supranational 241, 242, 245 TTarifautonomie 74 Tarifpartner 66, 74, 75 Tarifverhandlungen 74, 75 Tarifvertrag 75, 268 Terrorismus 224, 257, 281 Transnationalisierung 257 trennföderale Systeme 216, 231 TV-Duell/ TV-Triell 99 UÜberhangmandate 48, 49, 50, 179 Überprüfung von Gesetzen - formelle 186 - materielle 186 übertragener Wirkungskreis 234 Ukraine-Krieg/ Krieg in der Ukraine 59, 242, 281 Unitarisierung 276 Unterabteilungen (Ministerialverwaltung) 171 Untersuchungsausschuss 70, 131, 135, 142, 146, 147 Untertanenkultur 56, 57 VVerbände 14, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 113, 149, 251, 268, 271 Verbändedemokratie 15, 62, 63, 65, 79 Verbändestaat 63 Verbundföderalismus 216, 252 Verbundsteuern 231, 234 Vereine 14, 33, 54, 63, 64, 65, 66, 67, 79, 80, 112 Vereinigte Staaten von Europa 248 Vereinigungsfreiheit 64, 203 Vereinsrecht 81 Vereinte Nationen 261 Verfassungsbeschwerde 84, 200, 201, 202, 207 Verfassungsgerichte der Länder 220 Verfassungsreform 272, 274 Verfassungsrichter: innen Siehe-Bundesverfassungsrichter: innen Verfassungsschutz 34 Verfassungsvertrag 241, 244 Verhandlungsdemokratie 265, 269, 271, 272 <?page no="295"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 295 295 Sachregister Vermittlungsausschuss 136, 228, 229, 230, 237, 269, 271 Vermittlungsverfahren 227, 228, 229, 230 Versammlungsfreiheit 203 verspätete Nation 217 Verteidigungsausschuss 133 Verteidigungsfall 273 vertikale Gewaltenteilung 219 Vertrag von Amsterdam 241 Vertrag von Lissabon 241, 244, 246, 249, 252, 254, 256 Vertrag von Maastricht 241, 252, 253, 256 Vertrag von Nizza 241 Vertrauensfrage 142, 159, 161, 162, 163, 188, 189, 190, 266 Verwirkung von Grundrechten 201, 203 Veto-Player Siehe-Veto-Spieler Veto-Punkte 264, 265, 266, 267, 268, 269, 272, 275, 277 Veto-Spieler 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 275, 276, 278, 280, 283 Volatilität 54 Volksbegehren 44, 45 Volksentscheid 43, 44, 45, 54, 275 Volksinitiative 44, 45, 278 Volkskammer (DDR) 36, 37 Volksparteien 117, 120 Volkssouveränität 33, 43, 256 vote seeking (Parteien) 120 WWahlalter 233 Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) 118 Wahlausschuss des Deutschen Bundestages 195, 197, 200 Wahlbeteiligung 50, 51, 52, 57 Wahlen 22, 30, 42, 44, 46, 51, 52, 54, 55, 61, 72, 99, 111, 112, 116, 119, 120, 123, 127, 157, 179, 181, 220, 272, 277 Wahlforschung 60 Wahlkampf 48, 99, 102, 115, 154, 157, 267 Wahlkreis 47, 49 Wahlprüfungsausschuss 203 Wahlrecht 46, 47, 49, 50, 52, 54, 55, 60, 61, 276, 277 Wahlverfahren 131, 178, 197 Währungsunion (EU) 241 Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 38 Warnstreiks 75 Web 2.0 94 Wechselwähler: innen 123 wehrhafte Demokratie 19, 31, 32, 33, 65, 203 Weimarer Reichspräsident 176 Weimarer Reichsverfassung 20, 22, 23, 40, 44, 83, 108, 176, 177, 185 Weimarer Republik 13, 14, 19, 20, 21, 22, 23, 27, 40, 41, 88, 116, 176, 177, 178, 185, 186, 217 Welthandelsorganisation/ World Trade Organization (WTO) 258 Wesentlichkeitstheorie 144 Westminster-Demokratie 266, 283 Wettbewerbsdemokratie 266 Wirtschafts- und Sozialausschuss (EU) 246, 248 Wohlfahrtsverbände 66 ZZehn-Punkte-Plan 37 Zentrumspartei 23, 117 Zitierrecht (Bundestag) 136 Zivilgesellschaft 63, 77, 80 Zollunion (EU) 248 Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik (EU) 241 Zuschauerdemokratie 55 zustimmungsbedürftige Gesetze 227, 228, 232, 268 Zwangsschlichtung 74 Zwei-Ebenen-Spiel 249, 261 Zwei-plus-Vier-Vertrag 38 Zweite Kammer 131, 225, 226, 266 Zweiter Weltkrieg 19, 23, 24, 25, 27, 217, 218, 240, 281 Zweitstimme 48, 50 <?page no="296"?> www.claudia-wild.de: Marschall__Politisches_System_Deutschland(5)__[Druck-PDF]/ 18.01.2023/ Seite 296 <?page no="297"?> ISBN 978-3-8252-5884-9 Dieses Buch stellt eine grundlegende Einführung in das politische System der Bundesrepublik Deutschland dar. Stefan Marschall behandelt dabei die zentralen Akteure und Institutionen sowie die Funktionsweise und Funktionsprobleme der bundesdeutschen Demokratie. Das Buch richtet sich an Studierende der ersten Semester und ist auch für politisch Interessierte geeignet. Stefan Marschall ist Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Lehrbücher mit einem klaren Konzept: ▶ Definitionen, Dokumentenauszüge und Hintergrundinformationen erleichtern das Lernen ▶ zahlreiche Tabellen und Abbildungen machen Fakten deutlich ▶ Lernkontrollfragen fördern das Verständnis ▶ mit weiterführenden kommentierten Literaturangaben und Weblinks basics Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de Politikwissenschaft QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel