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Präventionsmarketing

Ziel- und Risikogruppen gewinnen und motivieren

0516
2022
978-3-8385-5901-8
978-3-8252-5901-3
UTB 
Viviane Scherenberg
10.36198/9783838559018

Gesundheitsverhalten positiv beeinflussen Rauchen, Bewegungsmangel, falsche Ernährung und Stress, aber auch medizinische Vorsorge, Impfungen und die AHA-Regel: Prävention und Gesundheitsförderung gewinnen zunehmend an Bedeutung. Viviane Scherenberg beleuchtet praxisorientiert die Hintergründe, Möglichkeiten und Anwendungsfelder des Präventionsmarketings - angefangen bei der zielgruppenspezifischen Konzeption bis hin zur Evaluation. Das Buch richtet sich sowohl an Studierende der Gesundheitswissenschaften und des Marketings als auch an Praktiker:innen aus dem Gesundheitswesen und der betrieblichen Gesundheitsförderung.

<?page no="0"?> Viviane Scherenberg Präventionsmarketing 2. Auflage <?page no="1"?> utb 4742 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Viviane Scherenberg, MPH, leitet den Fachbereich Public Health und Umweltgesundheit an der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirt‐ schaft. <?page no="3"?> Viviane Scherenberg Präventionsmarketing Ziel- und Risikogruppen gewinnen und motivieren 2., überarbeitete und erweiterte Auflage UVK Verlag · München <?page no="4"?> 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2022 1. Auflage 2017 DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559018 © UVK Verlag 2022 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4742 ISBN 978-3-8252-5901-3 (Print) ISBN 978-3-8385-5901-8 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5901-3 (ePub) Umschlagabbildung: © AndreyPopov | iStockphoto Autorinnenbild: © APOLLON Hochschule Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 13 17 1 19 1.1 19 1.1.1 19 1.1.2 22 1.1.3 25 1.1.4 29 1.1.5 32 1.1.6 37 1.1.7 38 1.1.8 40 1.2 41 1.2.1 41 1.2.2 43 1.2.3 45 1.2.4 47 1.2.5 51 1.2.6 53 55 Inhalt Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschnitt I: Hintergründe zum Thema Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition und Dimensionen der Gesundheit . . . . . . . . . . . Präventive Herausforderungen durch chronische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventive Herausforderungen durch Infektionskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventive Herausforderunge durch den Klimawandel . . . Hintergründe zur Gesundheits- und Präventionspolitik . . Wirtschaftsfaktor Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftsfaktor Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterogenität des Gesundheitssektors . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition, Zielsetzung und Handlungsfelder . . . . . . . . . . . Akteure von Präventionsinterventionen . . . . . . . . . . . . . . . Strategien der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onlinemedien und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamification und Serious Games als spielerischer Zugang zu Präventionsthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 55 56 56 2 57 2.1 57 2.2 60 2.3 61 63 64 64 65 67 3 69 3.1 69 3.2 73 3.3 76 3.4 77 3.4.1 77 3.4.2 86 3.4.3 107 3.4.4 109 112 113 113 113 115 ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Herausforderungen des Präventionsmarketings . . . . Präventionsdilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legitimationsdruck und Wettbewerbsdruck der Akteure . Paradigmenwechsel der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschnitt II: Hintergründe und Entwicklungen des Gesundheitsmarketings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheits- und Präventionsmarketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungslinien und Grenzen des Gesundheitsmarketings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilbereiche und Disziplinen des Gesundheitsmarketings . Übergreifende Besonderheiten des Präventionsmarketings Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspsychologische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . Neuropsychologische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische und diskriminierende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Aspekte und übergreifende Qualitätsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschnitt III: Marketing als Teilgebiet von Präventionsintervention . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4 117 4.1 118 4.2 122 4.3 124 126 126 126 127 5 129 5.1 129 5.2 134 5.3 136 5.4 138 150 150 151 151 6 153 6.1 153 6.2 157 6.3 160 6.4 162 6.5 164 168 169 169 170 7 171 7.1 171 7.1.1 172 7.1.2 179 Marktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationsgewinnung durch Sekundär- und Primärforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik in der Marktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der Stichproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategische Aspekte des Präventionsmarketings . . . . . . . . . . . . . Situationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alleinstellungsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppen- und Marktsegmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . Marketingziele und -strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbezogene Aspekte: Marketingstrategische Hintergründe zu spezifischen Präventionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Universelle Präventionsinterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . Selektive Präventionsinterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indizierte Präventionsinterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturellen Präventionsinterventionen . . . . . . . . . . . . . . Settinginterventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Aspekte des Präventionsmarketings . . . . . . . . . . . . . . . Marketingmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungspolitik (Produktpolitik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozesspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 7.1.3 187 7.1.4 193 7.1.5 197 7.2 207 220 220 220 221 8 223 8.1 223 8.2 225 8.3 228 8.4 233 243 244 244 244 9 245 253 287 Preispolitik (Gegenleistungspolitik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Distributionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Branding von Präventionsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . Good-Practice-Kriterien der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung in der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation von Präventionsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . Kontrolle im Präventionsmarketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wichtige Schlagwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Wiederholungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ✺ Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planung: Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Vorwort zur zweiten Auflage Bemühungen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung sind einem ständigen Wandel unterlegen. Seit der Herausgabe der 1. Ausgabe dieses Buches gab es vielfältige globale Veränderungen, die es notwendig machen, das Werk anzupassen. Lange Zeit stand die Reduzierung chronischer Erkrankungen im Fokus präventiver Bemühungen und dies nicht ohne Grund, denn durch den verän‐ derten Lebenstil in den Industrienationen galten chronische Erkrankungen als größte Herausforderung für die Gesundheitssysteme des 21. Jahrhun‐ derts. Der Ausbruch der Coronavirus-Krankheit (COVID-19) hat die Auf‐ merksamkeit wieder stärker auf die Bedeutung und damit die Bedrohung durch Infektionskrankheiten gelenkt. Im Zuge der Präventionsbemühungen rückten, bedingt durch Ausgangs‐ beschränkungen, digitale Interventionen in den Vordergrund. Ebenfalls stär‐ ker in in den Mittelpunkt traten präventive Interventionen, die Menschen mit „sanften Anstupsern“ (Nudging) in die gewünschte Richtung lenken sollten: Ziel war es bspw., zur Einhaltung der AHA+A+L-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltag mit Maske, App, Lüften) beizutragen oder die Impfbereit‐ schaft zum Schutz der Bevölkerung zu erhöhen. Auch wird in dieser Auflage darauf eingangen, wie Entscheidungen durch die Art und Weise bzw. den Rahmen (Framing) der Informationsdarstellung in Gesundheitskampagnen positiv beeinflusst werden können. Eng in Verbindung mit der zunehmenden Verbreitung von Infektions‐ krankheiten, chronischen Erkrankungen sowie akuten Gesundheitsbelas‐ tungen stehen umweltbezogene Veränderungen, wie z. B. die globalen Auswirkungen des Klimawandels. Dabei trägt das veränderte Klima nicht nur dazu bei, dass sich in neuen Regionen Krankheitserreger (durch z. B. Zecken, Mücken) übertragen, sondern auch dazu, dass sich, bedingt durch Hitzewellen, u. a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen verschlechtern können. Dieser zunehmenden Bedeutung umweltbezogener und globaler Verände‐ rungen sowie den damit verbundenen präventiven Möglichkeiten soll diese Auflage Rechnung tragen. Bremen, März 2022 Prof. Dr. Viviane Scherenberg MPH <?page no="10"?> Hinweis ∣ Gendergerechte Sprache In diesem Band wird für Berufs- und Personenbezeichnungen das gene‐ rische Maskulinum verwendet. In dieser genderneutralen Ausrichtung schließt es alle Geschlechtsidentitäten mit ein. 10 Vorwort zur zweiten Auflage <?page no="11"?> Vorwort zur ersten Auflage Präventionsmarketing ist eine sehr neue Disziplin. Demgegenüber blickt Marketing und Werbung auf eine lange Geschichte zurück. Hannes Buchli beschreibt in seinem Buch „6.000 Jahre Werbung: Altertum und Mittelal‐ ter“ bereits 1962 Werbung als „eine Beeinflussung des Menschen, die ihn veranlasst, etwas freiwillig zu tun“ (vgl. Buchli 1962: 41). Hierbei ist die Freiwilligkeit hervorzuheben, die Ausdruck dafür ist, dass Werbung Kunst der Überzeugung darstellt und Zwang als Gegenstück verstanden werden kann (vgl. Buchli 1962: 49). Kommerzielles Marketing weckt die Sehnsucht auf und nach Produkten und Dienstleistungen, indem positive Emotionen und Motive angesprochen und in uns geweckt werden. Prävention fokus‐ sierte sich hingegen lange Zeit auf die Weckung negativer Emotionen, um gesundheitsbewusste Verhaltensweisen bei Menschen zu stimulieren. Die Darstellung drohender Konsequenzen mithilfe von Angstappellen, eine vermutete Defizitorientierung sowie der Fokus auf vermeintliche Fehler, Versäumnisse, Mängel, Unzulänglichkeiten und Versagen stand und steht teils immer noch in der Aufmerksamkeit des Präventionsgeschehens. Ohne Zweifel können und sollten die Gesundheitswissenschaften von den Erkenntnissen des kommerziellen Marketings lernen. Intention des Buches ist es daher, aufzuzeigen, wie Risikozielgruppen mithilfe strategischer und operativer Marketingansätze erreicht werden können und welche unter‐ schiedlichen Möglichkeiten der Qualitätssicherung hierbei zur Verfügung stehen. Darauf hinzuweisen ist, dass Präventionsinterventionen - angefangen von Präventionskursen, Präventionsreisen, Aufklärungskampagnen, On‐ linecoaching bis zu Gesundheits-Apps - für die unterschiedlichsten gesund‐ heitlichen Handlungsfelder samt der jeweiligen Bedürfnis- und Motivlagen der Zielgruppe enorm vielschichtig, höchst komplex und die spezifischen Ausgangslagen sehr heterogen sind. Das Buch dient daher dazu, anhand einer Vielzahl von Praxisbeispielen Einblicke zu gewähren und Möglichkei‐ ten aufzuzeigen, da Projekte im Bereich des Präventionsmarketings immer individuell auf die jeweiligen präventiven Herausforderungen und Belange der Zielgruppe differenziert konzipiert werden müssen. Ein besonderes Anliegen der Autorin ist es, auf die vielfältigen sozialen, ethischen und gesetzlichen Besonderheiten dieser höchst sensiblen Marke‐ <?page no="12"?> tingdisziplin hinzuweisen, die bei präventiv agierenden Institutionen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein einhergehen sollten. Das Buch richtet sich damit sowohl an Studierende aus den Bereichen Gesundheits‐ wissenschaften und Marketing als auch an interessierte Praktiker. An dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön an zahlreiche Kollegen aus Forschung und Praxis. Sie tragen mit ihren Erfahrungen und ihrem außerordentlichen Engagement zum Wohle der Gesundheit - insbesondere für schwer erreichbare und vulnerable Gruppen - dazu bei, dass dieses Buch mit zahlreichen nützlichen und praxisrelevanten Verweisen auf Plattformen, Checklisten, Leitlinien etc. gespickt ist. Bremen, Juni 2017 Prof. Dr. Viviane Scherenberg MPH 12 Vorwort zur ersten Auflage <?page no="13"?> Abkürzungsverzeichnis ADM ∣ Arbeitskreis Deutscher Markt und Sozialforschungsinstitute AIDA ∣ Attention, Interest, Desire, Action AOK ∣ Allgemeine Ortskrankenkasse ARD ∣ Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland ASI ∣ Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute ASIDAS ∣ Attention, Search, Interest, Desire, Action, Share AWMF ∣ Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fach‐ gesellschaften e.V. BBG ∣ Behindertengleichstellungsgesetz BDGS ∣ Bundesdatenschutzgesetz BGBI ∣ Bundesgesetzblatt BKK ∣ Betriebskrankenkasse BMEL ∣ Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft BMG ∣ Bundesministerium für Gesundheit BMWi ∣ Bundesministerium für Wirtschaft und Energie BoD ∣ Burden of Disease BVM ∣ Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher BZgA ∣ Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung CEM ∣ Customer-Experience-Management COVID ∣ Coronavirus Disease CRM ∣ Customer-Realtionsship-Management DAK ∣ Deutsche Angestellten Krankenkasse DEAS ∣ Deutscher Alterssurvey DEGS ∣ Deutsche Erwachsenen-Gesundheits-Survey denic ∣ Regristireungsstelle für deutsche Domains DGOF ∣ Deutsche Gesellschaft für Online-Forschung e.V. DIN ∣ Deutsche Industrienorm DISCERN ∣ Qualitätskriterien für Patienteninformationen DMP ∣ Disease Management Programm DPMA ∣ Deutsches Patent- und Markenamt ECDC ∣ European Center for Disease Control EFSA ∣ Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EID ∣ Emerging and Re-emerging Infectious Diseases <?page no="14"?> ESOMAR ∣ European Society for Opinion and Marketing Research FAMOS ∣ Fragebogen zur Analyse Motivationaler Schemata GBE ∣ Gesundheitsberichterstattung GbR ∣ Datenbank der Werbung GEDA ∣ Gesundheit in Deutschland aktuell GeschmMG ∣ Geschmacksmustergesetz GHO ∣ Global Health Observatory GKV ∣ Gesetzliche Krankenversicherung GKV- GMG ∣ GKV-Modernisierungsgesetz GKV-GRG 2000 ∣ Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 HCV ∣ Health-Claims-Verordnung HMG ∣ Heilmittelgesetz HTA ∣ Health Technology Assessment ICC ∣ International Chamber of Commerce IDF ∣ International Diabetes Federation IDG ∣ Informations- und Dokumentationszentrum IfSG ∣ Infektionsschutzgesetz IGEL ∣ Individuelle Gesundheitsleistungen IPCC ∣ Intergovernmental Panel for Climate Change IS-GBE ∣ Informationssystem im Internet (eingerichtet von der Serviceein‐ richtung des Statistischen Bundesamts) ISO ∣ International Organization for Standartization JÖSchG ∣ Jugendschutzgesetz KIGGS ∣ Kinder- und Jugendlichen-Gesundheitsstudie KKV ∣ Komparativer Konkurrenzvorteil LOHAS ∣ Lifestyles of Health and Sustainability MarkenG ∣ Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen MDS ∣ Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen MWV ∣ Mobilfunk-Warn-Verordnung MRSA ∣ methicillin-resistente Staphylococcus aureus NCDs ∣ non communicable diseases NPO-Marketing ∣ Non-Profit-Marketing OECD ∣ Organisation for Economic Co-operation and Development OTC ∣ over the counter PrävG ∣ Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention RABE ∣ Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, ungesunde Ernäh‐ rung 14 Abkürzungsverzeichnis <?page no="15"?> RKI ∣ Robert Koch-Institut RNS ∣ ribonucleic acid DNS ∣ desoxyribonucleic acid ROI ∣ Return-on-Investment RStV ∣ Rundfunkstaatsvertrag RUMBA ∣ relevant, understandable, mesurable, behavioral, attainable SERVQUAL ∣ Service Quality Assessment SGB ∣ Sozialgesetzbuch SMART ∣ specific, mesurable, achievable, relevant, targeted SOEP ∣ Sozioökonomischer Panel SWOT ∣ strengths, weakness, opportunities, threats TK ∣ Techniker Krankenkasse TMG ∣ Telemediengesetz UAP ∣ Unique Advertising Proposition UCP ∣ Unique Communication Proposition UPP ∣ Unique Passion Proposition UrhG ∣ Urheberrechtsgesetz USP ∣ Unique Selling Proposition UV-Strahlung ∣ ultraviolette Strahlung UWG ∣ Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb VBG ∣ Verwaltungs-Berufsgenossenschaft gesetzliche Unfallversicherung VR ∣ Virtual Reality WHO ∣ World Health Organisation ZDF ∣ Zweites Deutsches Fernsehen 15 Abkürzungsverzeichnis <?page no="17"?> Abschnitt I: Hintergründe zum Thema Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="19"?> 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ wie Gesundheit definiert wird und welche Dimensionen Gesundheit einnehmen kann. ■ welche Krankheitsbilder in den Industrienationen dominieren. ■ welche gesundheits- und präventionspolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit und des Gesundheitsverhaltens voll‐ zogen wurden. ■ welche Bedeutung die Gesundheit aus unterschiedlichen Perspek‐ tiven als Wirtschaftsfaktor einnimmt. 1.1 Gesundheit 1.1.1 Definition und Dimensionen der Gesundheit Es existiert in der Wissenschaft eine Vielzahl an Definitionen von Ge‐ sundheit. Die wohl bekannteste Definition wurde in der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Constitution of the World Health Organisation) erstmals 1946 festgehalten und definiert Gesundheit als „Zu‐ stand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO 2006a: 1). Einerseits beinhaltet diese Definition einen hohen und medizinisch schwer fassbaren Anspruch, der mitunter falsche Erwartungen erweckt und zudem gesellschaftliche Verhältnisse und gesundheitliche Ungleichheiten nicht berücksichtigt (vgl. Kickbusch 1982: 267). Darüber hinaus schließt die Definition die Bedeutung der subjektiv wahrgenommenen Gesundheit, die als ein wesentliches Bewertungskriterium des Gesundheitszustandes in Form der gesundheitsbezogenen Lebensqualität des salutogenetischen Kon‐ zepts beschrieben wird, aus. Andererseits bietet die WHO-Definition eine Perspektive, die ganzheitlich ist und weit über eine biomedizinische (körper‐ <?page no="20"?> liche) Ebene hinaus soziale sowie emotionale Aspekte miteinschließt. Das Konzept der Salutogenese wurde von dem israelischen Medizinsoziologe Aaron Antonovsky entwickelt auf der Erkenntnis, dass Menschen trotz viel‐ fältiger Gesundheitsrisiken gesund bleiben können. Damit stellt das Konzept der Salutogenese das Gegenstück zur Pathogenese dar, das die Entstehung und Entwicklung von Krankheit in den Fokus stellt. Bei der salutogeneti‐ schen Sicht wird Gesundheit und Krankheit nicht traditionell dichotom klassifiziert, da das Konzept von einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum (health easy-disease continuum) ausgeht, bei dem sich der Gesundheits‐ zustand eines Menschen aus den dynamischen Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsrisiken und -ressourcen und seiner Umwelt ergibt. Somit be‐ trachtet die Salutogenese „den Kampf in Richtung Gesundheit als permanent und nie ganz erfolgreich“ (Antonovsky 1993: 10). Inwiefern ein Mensch von den Endpolen „völliger Gesundheit“ und „völliger Krankheit“ entfernt ist, wird nach der Auffassung von Antonovsky von den vorhandenen Wider‐ standsressourcen und dem Kohärenzgefühl beeinflusst (vgl. Hurrelmann 2006: 125). Dabei wird das Kohärenzgefühl als Orientierungsmaßstab des salutogenetischen Modells verstanden und beschreibt, inwiefern das Gefühl des Vertrauens (vgl. Antonovsky 1997: 36) ■ die Anforderungen aus der inneren oder äußeren Umwelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersehbar und erklärbar macht (Versteh‐ barkeit: sense of comprehensibility), ■ die Ressourcen verfügbar sind, um den Anforderungen gerecht zu werden (Handhabbarkeit: sence of manageability), und ■ es sich lohnt, Energie zu verwenden (Bedeutsamkeit: sence of mea‐ ningfulness). Insbesondere in Belastungssituationen wirkt sich ein starkes Koheränzge‐ fühl positiv auf den Gesundheitszustand aus, da das Stresserleben als weni‐ ger belastend empfunden wird. In welchem Maße sich ein Kohärenzgefühl, Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und soziale Kompetenzen entwickeln und damit Menschen eine Stärkung der Problemlösungsfähigkeit erfahren, hängt u. a. von den jeweils gesammelten Partizipationserfahrungen ab. Nicht ohne Grund beschreibt die Verfassung der WHO zudem: 20 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="21"?> „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selbst Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ (WHO 2006a). Weiter heißt es: „Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen und sozialen Stellung“ (WHO 2006a: 1). Mit der Definition wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich und mit allen ihren körperlichen, psychischen und sozialen Dimensionen (im Rahmen des Präventionsmarketings) betrachtet werden muss. Die → Tab. 1 zeigt daher beispielhaft, was sich hinter den einzelnen Dimensionen der Gesundheit verbergen kann. Dimension Beispiele soziale Aspekte der Gesundheit Ausgestaltung und Zufriedenheit mit sozialen Beziehun‐ gen, Wahrnehmung sozialer Akzeptanz und Unterstüt‐ zung, Zugehörigkeit und Gebrauchtwerden physische Aspekte der Gesundheit Funktionsfähigkeit und Beeinträchtigung des körperlichen Gesundheitszustandes psychische Aspekte der Gesundheit emotionale Befindlichkeit, Selbstwertgefühl, Körperselbst‐ bild, Optimismus Tab. 1: Dimensionen der Gesundheit Quelle: Eigene Darstellung. Werden Marketingkonzepte für Präventionsmaßnahmen entwickelt, so muss genauestens analysiert werden, welche Dimensionen der Gesundheit 21 1.1 Gesundheit <?page no="22"?> angesprochen werden. Dabei ist zu beachten, dass sich die beschriebenen Dimensionen der Gesundheit gegenseitig - positiv wie negativ - beeinflus‐ sen können. So kann sich eine körperliche Beeinträchtigung (z. B. ausgelöst durch eine chronische Erkrankung) auf die psychische Gesundheit negativ auswirken und bspw. bei einem drohenden Arbeitsplatzverlust dazu führen, dass die soziale Gesundheit der Betroffenen (z. B. durch Ausgrenzung, Isolation, Einsamkeit) stark in Mitleidenschaft gezogen wird. 1.1.2 Präventive Herausforderungen durch chronische Erkrankungen Gerade chronische Erkrankungen stehen im Fokus von Präventionsbe‐ mühungen. Zu den häufigsten nicht übertragbaren Krankheiten („non communicable diseases“, kurz NCDs) zählen bspw. Herz-Kreislauf-Er‐ krankungen, Krebs, psychische Gesundheitsprobleme, Diabetes mellitus, chronische Atemwegserkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen aber auch Suchterkrankungen. Laut GEDA-Studie 2019/ 2020-EHIS geben 51,9 % der Frauen und 46,4 % der Männer an (gesamt: 49,2 %), mindestens von einer chronischen Krankheit betroffen zu sein (vgl. Heidemann et al. 2021: 7). Dabei wird der höchste Anteil der Krankheitslast auch als „burden of disease“ (kurz BoD) tituliert. Innerhalb der letzten 12 Monate im Untersuchungszeitraum lag bei 30,9 % der deutschen Bevölkerung eine Allergie, bei 17,1 % Athrose, bei 8,9 % Diabetes Mellitus, bei 8,3 % depressive Sympthome, bei 8,0 % Asthma bronchiale und bei 5,8 % eine koronale Herzerkrankung (KHK) vor (vgl. Heidemann, 2021: 9 ff.). Liegen mehrere Erkrankungen gleichzeitig vor, so wird von Multimorbidität gesprochen. Mit 4.140 € pro Einwohner war im Jahr 2015 rund die Hälfte (49,3 %) der Krankheitskosten für 1. Herz-Kreislauf-Erkrankungen (570 €), 2. Erkrankungen des Verdauungssystems (510 €), 3. psychische Verhaltensstörungen (540 €) und 4. Muskel-Skelett-Erkrankungen (420 €) verantwortlich (vgl. Statistisches Bundesamt 2019a). NCDs bergen einen gesamtgesellschaftlichen Schaden in sich, da chronische Erkrankungen 22 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="23"?> ■ nicht nur mit persönlichem Leid, sondern einer Einbuße der selbstbe‐ stimmten Lebensführung, -qualität (intangible Kosten) und -erwar‐ tung verbunden sind, ■ Versorgungskosten (direkte Kosten) und ■ durch Arbeitsunfähigkeit und Frührente indirekte Kosten verursa‐ chen, da sie oft lebenslang auf das medizinische Versorgungssystem angewiesen sind. Nicht nur die Betroffenen, sondern auch Angehörige sind betroffen. Denn die Pflege chronisch erkrankter Angehöriger (caregiving burden) kann dazu führen, dass Angehörige ihren Beruf aufgeben müssen oder aufgrund der hohen Belastung selbst erkranken (vgl. Lange et al. 2000: 1130 f.). Die so fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch den hohen Anteil krank‐ heitsbedingt nicht erwerbsfähiger Bevölkerungsteile stellt eine Belastung für eine Volkswirtschaft dar. Daher ist es Aufgabe der Gesundheitspolitik, den Gesundheitszustand der Bevölkerung - zur Sicherstellung des gesell‐ schaftlichen Humankapitals - zu stärken und unnötige Krankheitskosten für die Gemeinschaft zu vermeiden (vgl. Schwartz 2003: 3). Denn ein lang‐ fristig geschwächter Arbeitsmarkt durch Erwerbslosigkeit bzw. -minderung und die zunehmende Verrentungstendenz führt zu einer wirtschaftlichen Leistungsschwächung des sozialen Sicherungssystems. Letztlich können nur dann Sozialleistungen an Bedürftige verteilt werden, wie sie zuvor erwirtschaftet wurden (vgl. Eichenhofer 2007: 30). Wichtige Informationen über die Entwicklung u. a. chronischer Erkran‐ kungen für die Politik und Forschung, für die Akteure des Gesundheitswe‐ sens sowie die breite Öffentlichkeit liefert die Gesundheitsberichterstattung (GBE) (vgl. Bardehle/ Annuß 2012: 404). Die in der GBE verwendeten Datenquellen, die sich mit den Häufigkeiten von Erkrankungen und To‐ desursachen befassen (sogenannte deskriptive Epidemiologie), werden von unterschiedlichsten Institutionen zu unterschiedlichen Gebiets- oder Sachbezügen bereitgestellt. Oft handelt es sich hierbei um aggregierte Daten, die routinemäßig in Sammelstatistiken erhoben werden. Aspekte, die bei der GBE betrachtet werden, sind vielfältig und können sich auf ge‐ sundheitliche Risikofaktoren und -verhaltensweisen, auf Krankheiten und Gesundheitsstörungen, auf die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems und auf die Gesundheitskosten beziehen. Die GBE speisen sich aus amtlichen Statistiken, Statistiken unterschiedlicher Akteure des Gesundheitswesens sowie Surveys. 23 1.1 Gesundheit <?page no="24"?> Wichtigste amtliche Statistiken des Bundes und der Länder sind z. B. Bevölkerungsstatistik, Mikrozensus, Pflegestatistik, Krankenhausstatistik, Pflegestatistik, Todesstatistik sowie Statistik meldepflichtiger Erkrankun‐ gen, Schwangerschaftsabbrüche, Berufskrankheiten, Geburten und Sterbe‐ fälle. Verschiedene Akteure des Gesundheitswesens erstellen Basis- und Spe‐ zialberichte. Während Basisberichte einen Überblick über übergreifende Bereiche (z. B. Geburtenstatistik) bieten, beziehen sich Spezialberichte auf ausgewählte Thematiken. Gerade die GKVn verfügen über eine Vielzahl epidemiologisch routinemäßig erhobener Daten, die in Spezialberichten münden. ■ Barmer GEK: Gesundheitsreports der Länder, Zahnreport, Heil- und Hilfsmittelreport, Arzneimittelreport, Pflegereport, Krankenhausre‐ port, Arztreport ■ BKK-Bundesverband: BKK-Gesundheitsreport ■ DAK-Gesundheit: Gesundheitsreport ■ Deutsche Rentenversicherung: Reha-Bericht ■ Die Nationale Präventionskonferenz: Präventionsbericht ■ Fachverbände: Deutsche Diabetes Union: Gesundheitsbericht Diabetes ■ IKK classic: Berichte „Gesundheit im Handwerk“ ■ Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen: Präventionsbericht ■ Techniker Krankenkasse: TK-Gesundheitsreport ■ WHO: Europäischer Gesundheitsbericht etc. ■ WIdO AOK: Versorgungs-Report; Fehlzeiten-Report, Gesundheitsatlas etc. Zudem existieren weitere Register, die z. B. von Universitäten oder Insti‐ tuten gepflegt werden. Hinsichtlich der regionalen Perspektive und des Einzugsgebiets lassen sich weitere Gesundheitsberichterstattungen auf in‐ ternationaler Ebene (z. B. der OECD, WHO oder Europäischen Kommis‐ sion) und nationaler Ebene (GBE des Bundes, das Robert Koch-Institut sowie die einzelnen Bundesländer) nennen. Wichtige nationale Surveys werden u. a. vom Robert Koch-Institut durchgeführt, z. B. der Bundes-Ge‐ sundheits-Survey bzw. die „Gesundheit in Deutschland aktuell“-Studie (GEDA)der Deutsche Erwachsenen-Gesundheits-Survey (DEGS), die tele‐ fonische Kinder- und Jugendlichen-Gesundheitsstudie (KiGGS) oder der Deutsche Alters-Survey (DEAS). Darüber existieren zahlreiche weitere 24 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="25"?> nationale Surveys zu unterschiedlichsten Themen (wie z. B. „Health Literacy Survey Germany, kurz HLS-GER) oder auch zu Krankheitsbildern (wie der „Epidemiological Survey of Substance Abuse“, kurz ESA). Wichtige inter‐ nationale Surveys sind bspw.: International Health Policy Survey (IHP), Global Drug Survey (GDS), Health Behaviour in School-aged Children und National Health Interview Survey (HBSC). Spezifische Datenselektionen können auf nationaler Ebene mithilfe des Informationssystems für die Gesundheitsberichterstattung selbst vornehmen. Das Informations- und Do‐ kumentationszentrum (IDG), eine Serviceeinrichtung des Statistischen Bun‐ desamts, hat hierzu im Internet das Informationssystem IS-GBE eingerichtet ( ➽ www.gbe-bund.de). Mit der Hilfe des Informationssystems können in‐ dividuelle Selektierungen, bspw. zur Bedarfsermittlung und Argumentati‐ onsuntermauerung, für präventive Marketingmaßnahmen vorgenommen werden. Auch auf internationaler Ebene existieren Informationssysteme zur Gesundheitsberichterstattung, wie bspw. die OECD-Datenbank oder der WHO. In der Datenbank der Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD), also eine Organisation für wirtschaftliche Zusam‐ menarbeit und Entwicklung ( ➽ stats.oecd.org) können nicht nur wirtschaft‐ liche Indikatoren, sondern auch Gesundheitsindikatoren (z. B. Mortalität, Lebenserwartung, arbeitsbedingte Fehlzeiten, Übergewicht, Tabakkonsum) der Mitgliedsstaaten selektiert werden. Über das Global Health Observatory (GHO) der WHO ( ➽ www.who.int/ data/ gho) können vielfältige Indikatoren (z. B. Verkehrsicherheit, Gewaltprävention, Ernährung, Body-Mass-Index (BMI), Umwelt und Gesundheit, Luftqualität, ansteckende Krankheiten, Impfquoten etc.) der unterschiedlichen Länder selektiert und eingesehen werden. Linktipps Gesundheitsmonitoring des RKI: ➽ www.rki.de (Gesundheitsmonito‐ ring) Informationssystem IS-GBE: ➽ www.gbe-bund.de Gesundheitsmonitoring der WHO: ➽ www.who.int/ data/ gho 1.1.3 Präventive Herausforderungen durch Infektionskrankheiten Welche drastischen Folgen Infektionskrankheiten für Mensch und Gesell‐ schaft haben können, wurde spätestens nach dem COVID-19-Ausbruch im 25 1.1 Gesundheit <?page no="26"?> Dezember 2019 deutlich. Dabei können Infektionskrankheiten als ständiger Begleiter des Menschen angesehen werden, da Menschen von einer unüber‐ schaubaren Anzahl von Viren, Bakterien, Pilzen und Parasiten befallen werden und entsprechend erkranken können (vgl. Vogel/ Schaub 2021: 1). Neue sowie vermehrt auftretende Infektionskrankheiten werden unter dem Begriff „emerging and re-emerging infectious diseases“ (kurz EID) zusam‐ mengefasst und stellen trotz verbesserter hygienischer, diagnostischer und therapeutischer Errungenschaften eine große Herausforderung für Medizin und Gesundheitspolitik dar. Der Grund für die gewachsene Bedrohung des Menschen durch die Einschleppung und Verbreitung von Infektionskrank‐ heiten kann in der Zunahme weltweiter Handelsbeziehungen und Fernrei‐ sen sowie der steigenden internationalen beruflichen Mobilität gesehen werden (vgl. Hellenbrand 2003: 7). Dabei können sich Infektionskrankheiten mehr oder weniger über die eigenen Landesgrenzen hinaus ausbreiten: Von einer Endemie wird dann gesprochen, wenn eine Erkrankung bzw. ein Erreger innerhalb eines geografisch definierten Gebietes oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe konstant auftritt. Eine Epidemie liegt dann vor, wenn mehr Krankheitsfälle auftreten als überlicherweise erwartet werden. Liegt eine Erkrankungswelle vor, bei der eine große Anzahl von Menschen betroffen ist und die sich weltweit oder über ein weites Gebiet inklusive des Überschreitens internationaler Grenzen ausbreitet, dann kann von einer Pandemie gesprochen werden (vgl. Ammon 2020: 201). Dabei setzt das Vorliegen einer Infektion einen Erreger, einen Übertragungsvor‐ gang sowie einen empfänglichen Wirtsorganismus voraus (vgl. Ammon 2020: 206). Die Übertragung, das Haftenbleiben und das Eindringen von Mikroor‐ ganismen (Viren, Bakterien, Pilze, Protozoen) in einen Makroorganismus (Mensch) kann direkt oder indirekt erfolgen. Eine direkte Übertragung liegt vor, wenn der Erreger direkt aus dem Reservoir auf den Wirtsorga‐ nismus übergeht (z. B. durch Berührung, Einatmen infektiöser Tröpfchen, Tierbiss). Bei einer indirekten Übertragung erfolgt die Übertragung vom Erreger zum Wirtsorganismus über ein Transportmittel. Dies kann entweder über ein Vehikel (z. B. Lebensmittel, Wasser, ärztliche Instrumente) oder einen Vektor (z. B. Insekten, Nagetiere) geschehen. Auch Luft kann zum Vehikel werden und den Erreger indirekt übertragen, so dass die Infektion nicht durch den direkten Kontakt (wie bei der Tröpfcheninfektion) erfolgt (vgl. ebd.). 26 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="27"?> Infektionkrankheiten können danach unterteilt werden, über welchen Übertragungsweg der Erreger den Wirtsorganismus befällt (vgl. Groß 2013: 30; Weiß 2013: 206 ff.; Schulz-Stübner 2017: 317): ■ Infektionen durch Bakterien: Bakterielle Infektionskrankheiten (z. B. Diphterie, Tetanus, Scharlach) werden durch einzellige Lebens‐ wesen (Bakterium) in der Umwelt (Luft, Wasser, Lebensmittel etc.) ausgelöst. ■ Infektionen durch Viren: Virale Infektionskrankheiten können über Tröpfcheninfektionen, Blutderivate, Schmierinfektionen, Sperma oder Tiere übertragen werden. Unterschieden werden RNS-Viren (z. B. Mumps, Masern, HIV, Influenza, Hepatitis A) sowie DNS-Viren (z. B. Pockenvirus, Hepatitis-B-Virus). ■ Infektionen durch Zoonosen und Parasiten: Zoonotische Infekti‐ onskrankheiten (wie z. B. FSME, Borriliose, Malaria, Tollwut, BSE) liegen vor, wenn Erreger zwischen Wirbeltier und Mensch übertragen werden. Parasitäre Infektionskrankheiten werden durch Parasiten bzw. Protozonen (Einzeller), Helminthen (Würmer) oder Arthopoden (Glie‐ derfüßler) hervorgerufen. ■ Infektionen durch nosokomiale Erreger: Nosokomiale Infektionen (bzw. Krankenhausinfektionen) stellen Infektionen (z. B. durch Staphy‐ lokokken) dar, die Patienten in Krankenhäuser bekommen können. MRSA-Stämme, die zu einer nosokomialen Infektion führen, können sowohl von betroffenen Patienten stammen (endogene Infektionen) als auch exogen von anderen Menschen oder Tieren bzw. durch die unbe‐ lebte Umgebung (z. B. gemeinsam benutzte Badetücher) übertragen werden. ■ Infektionen durch Pilze: Pilzinfektionen werden durch Mykosen (Pilze) verursacht. Solche krankheitsauslösenden Erreger können bspw. Dermatophyten, Hefepilze oder Schimmelpilze sein. Grundsätzlich kann eine Immunität und damit der Schutz vor der krankma‐ chenden Wirkung des Erregers natürlich, durch eine frühere durchgemachte Infektion mit demselben Erreger (spezifsche Immunität) aktiv (durch Imp‐ fung) oder passiv (durch spezifsche Immunglobuline) erreicht werden (vgl. Ammon 2020: 206). Dabei erzeugen Impfungen sowohl eine individuelle Immunität als auch eine kollektive Immunität (Herdenimmunität) gegen die Infektionskrankheit, wenn eine hohe Durchimpfungsrate erreicht wird. Wird eine Herdenimmunität von bspw. 95 % erreicht, profitieren die restli‐ 27 1.1 Gesundheit <?page no="28"?> chen 5 % der nicht geimpften Personen, da die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, sinkt (vgl. Krauth/ Oedingen 2021: 131). Für Präventionsinterven‐ tionen ist es wichtig zu wissen, dass die Motive für eine positive Impfent‐ scheidung teils geschlechtsunabhängiger, teils aber auch geschlechtsspezifi‐ scher Natur sind. Dabei stellen eine gute Imformationsbasis zum Nutzen von Impfungen, das Vertrauen in das Gesundheitssystem sowie eine vertrauens‐ volle Arzt-Patienten-Beziehung geschlechtsunabhängige Faktoren dar, die eine Impfentscheidung begünstgen. Bei Männern scheint besonders der Abbau von Barrieren (Zeit, Entfernung, reibungsloser Ablauf der Impfung etc.) sowie die Sensibilisierung für potenzielle Gesundheitsgefahren im Falle einer Nichtimmunisierung relevant zu sein, während bei Frauen soziale Faktoren (z. B. bereits geimpfte Angehörige, Schutz der Familie) einen großen Einfluss auf die Impfwahrscheinlichkeit ausüben. Genderspezifische Motive sowie z. B. der Beziehungsstatus oder das Vorhandensein von schutzbedürftigen Kindern oder Angehörigen etc. sind folglich auch bei der Gestaltung von Impfkampagnen von Bedeutung, um die Impfbereit‐ schaft mithilfe einer zielgruppenspezifischen Ansprache erhöhen zu können (vgl. Scherenberg/ Preuß 2021: 59). Daneben stehen weitere Konzepte zur Eindämmung wie z. B. Aufklärung, Kontaktreduzierung, Identifizierung und Isolierung von Erkrankten, Screening und neuere Ansätze wie Apps zur Kontaktnachverfolgung im Zentrum der Präventionsbemühungen (vgl. Vogel/ Schraub 2021: 56). Die Grundlage für die Verordnungen zur Eindäm‐ mung von Pandemien (z. B. Kontaktbeschränkungen oder Schließungen von Schulen etc.) bildet das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infekti‐ onskrankheiten beim Menschen“ (Infektionsschutzgesetz, kurz IfSG). Dabei stellt die Meldepflicht für Infektionskrankheiten ein international etablier‐ tes Instrument zur Krankheitskontrolle (Surveillance) und Krankheitsprä‐ vention dar. Während die meldepflichtigen Krankheiten (Arztpflicht) im § 6 des IfSG hinterlegt sind, regelt der § 7 des IfSG meldepflichtige Krankheits‐ erreger (Labormeldepflicht). Während das RKI in Deutschland die zentrale Behörde zur Überwachung von Infektionskrankheiten ist, hat sich seit 2005 mit dem „European Center for Disease Controll“ (kurz ECDC) ein EU-wei‐ tes Netzwerk zur Überwachung von Infektionskrankheiten etabliert (vgl. Ammon/ Faensen 2009: 176). Infektionskrankheiten gewinnen hierzulande nicht nur angesichts der Globalisierung an Bedeutung, sondern auch der Klimawandel beeinflusst die Zunahme an Infektionskrankheiten und damit die Bedeutung von präventiven Interventionen, wie das folgende Kapitel verdeutlicht. 28 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="29"?> 1.1.4 Präventive Herausforderunge durch den Klimawandel Umweltbezogene Veränderung und insbesondere der Klimawandel bringt weltweit ein vermehrtes Auftreten von extremen Wetterereignis‐ sen (Stürme, Gewitter, Hitze, Dürren etc.) mit Gefahrenpotentialen für den Menschen mit sich. Die mit den Extremwetterereignissen (z. B. Stark‐ regenereignisse, Überflutungen, langanhaltende Trockenphasen) verbunde‐ nen klimabezogenen Gesundheitsgefahren äußern sich sowohl in einem verstärkten Aufkommen hitzebezogener Erkrankungen (Hitzekrämpfe, Hitzeerschöpfung, Hitzschlag etc.) als auch von Infektionserkrankungen (z. B. Dengue-Fieber, Malaria, Borreliose, Durchfallerkrankungen) (vgl. IPCC 2019: 240 ff.). Zudem gehen klimabezogene Veränderungen mit ei‐ ner negativen Beeinflussung der Luftqualität (z. B. Ozonkonzentration), der Bedrohung der Ernährungssicherheit sowie klimabezogenen Migrati‐ onsbewegungen einher (ebd.). Auf die damit verbundenen umwelt- und gesundheitsbezogenen Folgen wies der „Intergovernmental Panel for Climate Change“ (IPCC), ein zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen, der auch als Weltklimarat tituliert wird, bereits 2018 in seinem Sonderbe‐ richt „Global Warming of 1,5°C“ hin (vgl. ICCP 2019: 53 f.). Die → Tab. 2 verdeutlicht exemplarisch, welche Gesundheitsgefahren für den Menschen durch Hitzewellen, länger anhaltende Pollenflüge, erhöhte UV-Strahlung und Ozonwerte ausgehen können. gefährdete Zielgruppen Gesundheitsgefahren Hitze - alte Menschen (über 60-Jährige) - chronisch Kranke (Kreislauf, Atem‐ wege u. a.) - Menschen mit psychiatrischer Grunderkrankung - sozial isolierte, Menschen mit nied‐ rigem sozialökonomischem Status, Wohnungslose - Arbeitende, die der Hitze nicht aus‐ weichen bzw. sich nicht schützen können - Personen, die ihre Freizeit im Freien verbringen (mit ggf. hoher körperli‐ cher Aktivität, z. B. Sportler, Kinder) - Hitze-Ausschlag, Hitze-Pusteln - geschwollene Beine - Muskelkrämpfe - Hitzschlag oder Krampfanfälle - Kreislaufbeschwerden, Kreislauf‐ kollaps, Herzbeschwerden, Kurzat‐ migkeit, Erschöpfungszustände - Austrocknung durch vermehrtes Schwitzen 29 1.1 Gesundheit <?page no="30"?> UV-Strahlung - Gesamtbevölkerung, insbesondere hellere Hauttypen, Kinder und Ju‐ gendliche sowie Personen, die durch Beruf oder Freizeitverhalten der UV-Strahlung besonders ausgesetzt sind - Immunsupprimierte und mit be‐ stimmten Medikamenten behan‐ delte Patienten - Sonnenbrand als akute Schädigung - erhöhte Gefährdung für schwarzen Hautkrebs und chronische Schädi‐ gung mit Voralterung der Haut und erhöhter Gefährdung für weißen Hautkrebs - Schädigung des Auges (bzw. der Hornhaut mit der erhöhten Ent‐ wicklung einer Hornhauttrübung (grauer Star) Pollen - Pollenallergiker - gerötete, brennende, tränende, ju‐ ckende, geschwollene Augen - stark laufende Nase, Juckreiz im Nasen-, Mund- und Rachenbereich, Niesanfälle, Reizhusten bis hin zu Atemnot Ozon - Personen mit Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems - Menschen, die hohen Ozonwerten im Freien bei Spiel, Sport oder Ar‐ beit mit häufig längerer, anstren‐ gender körperlicher Tätigkeit aus‐ gesetzt sind - Säuglinge und Kleinkinder, da sie - auf ihre Körpergröße bezogen - ein relativ erhöhtes Atemvolumen haben und als Risikogruppe gelten - mehrstündige Exposition und kör‐ perliche Belastung können Reizun‐ gen der Atemwege, Husten und Atembeschwerden auslösen - Asthmaanfälle - bei Hochleistungssport ist eine Re‐ duzierung der körperlichen Leis‐ tungsfähigkeit möglich Tab. 2: Gesundheitsgefährdungen durch Hitze, UV-Strahlungen, Pollen und Ozon Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Capellaro/ Sturm 2015: 56. Die in der → Tab. 2 dargestellten umwelt- und klimabedingen Auswirkun‐ gen haben einen direkten Einfluss auf die Prävalenzen der angeführten Krankheitsbilder. Präventionsinterventionen, die sich auf die Folgen des Klimawandels konzentrieren, werden daher in Zukunft an Bedeutung zu‐ nehmen. Insbesondere digitale Informations- und Frühwarnsysteme werden hierbei an Relevanz gewinnen, da hierbei sowohl die breite Bevölkerung, spezifische Bevölkerungsgruppen als auch Akteure in gesundheitsbezoge‐ nen Settings (z. B. Pflegeheime, Schulen, Betriebe) in die Lage versetzt 30 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="31"?> werden, vorsorgliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz zu treffen. Hier‐ bei gilt es besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen, wie z. B. ältere Menschen zu schützen. Die Fähigkeit, dass Gesundheitssysteme und ge‐ sundheitsbezogene Settings trotz umwelt- und klimabezogenen Belastun‐ gen ihre Grundfunktion aufrechterhalten können, wird unter dem Begriff Klimaresilienz zusammengefasst (vgl. Herrmann/ Danquah 2021: 29 ff.). Bereits heute existieren zahlreiche digitale Informationsbzw. Frühwarnsys‐ teme (z. B. UV-Index, Hitzewarnsystem, Pollenflug- und Ozonvorhersage) für gesundheitsbezogene Umweltfaktoren. Unterschieden werden können sowohl internetbezogene Informationssysteme (z. B. Starkregenkarten, Hit‐ zekarten) wie auch Apps. Dabei werden Apps, trotz der „Verordnung für die Aussendung öffentlicher Warnungen in Modilfunknetzen“ (Mobil‐ funk-Warn-Verordnung, kurz MWV) und der damit verbundenen Möglich‐ keit, die Bevölkerung per SMS zu informieren, einen wichtigen Teil des „Warn-Mix“ aus Sirenen, Ansagen im Rundfunk und auf Ansagetafeln darstellen (vgl. BMWi 2021a: o. S.). Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass in eine App integrierte Leitfäden, Checklisten oder kommunale Infor‐ mationen für die relevanten Zielgruppen auch nach einem Netzausfall offline einsehbar sind (vgl. Nestler 2017: 4). Unterschieden werden können umweltbezogene Apps zum Schutz der Gesundheit danach, ob sich die Warnhinweise an die allgemeine Bevölkerung oder an spezifische Bevölke‐ rungsgruppen richten: ■ Gesundheits-Apps, die sich populationsübergreifend auf umweltbezo‐ gene Gesundheitsbelastungen konzentrieren (z. B. Pollenwarn-App), ■ Gesundheits-Apps, die sich auf umweltbezogene Gesundheitswarnhin‐ weise für spezifische Bevölkerungsgruppen (z. B. Asthma-App mit Pollen‐ flughinweisen) konzentrieren, ■ Bevölkerungsschutz-Apps, die populationsübergreifend umweltbezo‐ gene Warnhinweise (z. B. NINA-App) aussprechen und ■ Bevölkerungsschutz-Apps, die (umweltbezogene) Warnhinweise für spezifische Bevölkerungsgruppen (z. B. in Risikogebieten; Meine Pe‐ gel-App) aussprechen. Dabei beschränken sich im Bereich des Bevölkerungsschutzes Einzelgefah‐ ren-Apps auf spezifische Gefahren (z. B. Erdbeben, Stürme, Starkregen, Überflutungen, Brände, Epidemien), während Multi-Gefahren-Apps (oder multiszenarische Gefahren-Apps) sämtliche Gefahren einschließen (vgl. Dallo/ Marto 2021: 2). Die Auswirkung und das Ausmaß umwelt- und 31 1.1 Gesundheit <?page no="32"?> klimabezogener Gesundheitsgefahren für den Menschen hängen von der individuellen (Prä-)Disposition und Resilienz, dem individuellen Verhalten sowie den individuellen und gemeinschaftlichen Anpassungsleistungen ab. Ungeachtet dieser Einflussfaktorensind als weitere Parameter bspw. der Wohnort, die natürliche Umwelt, das soziale Netzwerk sowie die Anpas‐ sungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu nennen (vgl Bunz/ Mücke 2017: 637), die durch vorausschauende Maßnahmen (u. a. der Gesundheitspolitik) positiv beeinflusst werden können. Wie eng die Themen Umwelt- und Klimaschutz sowie Gesundheit miteinander verknüpft sind, verdeutlicht ein Beispiel. So können gesundheitsbezogene Marketingsmaßnahmen im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes, die sich auf die Verändung sozialer Normen als Strategie zur Verhaltensänderung beziehen, sowohl auf der individuellen als auch der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt sein. Eine solche Maßnahme stellt die Aktion „Zu gut für die Tonne“ ( ➽ www.zugutf uerdietonne.de) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung dar (vgl. Debbeler et al. 2021: 254). 1.1.5 Hintergründe zur Gesundheits- und Präventionspolitik Da ein kurativ orientiertes Gesundheitswesen nicht proaktiv auf die beunru‐ higenden (sozial-)epidemiologischen Entwicklungen einwirken kann, wird die Prävention, Gesundheitsförderung und die verbesserte Versorgung chro‐ nisch-degenerativ Erkrankter als Weg zur Erschließung gesundheitlicher Produktivitätsreserven angesehen. Dabei dienen der Gesundheitspolitik volkswirtschaftliche Krankheitskosten bei der Allokation des knappen Ge‐ sundheitsbudgets als Entscheidungshilfe festzulegender prioritärer Hand‐ lungsfelder. Da eine fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch einen hohen Anteil der krankheitsbedingt nicht erwerbsfähigen Bevölkerung eine Belastung für eine Volkswirtschaft darstellt, ist es Aufgabe der Gesundheits‐ politik, den Gesundheitszustand der Bevölkerung - zur Sicherstellung des gesellschaftlichen Humankapitals - zu stärken und unnötige Krankheits‐ kosten für die Gemeinschaft zu vermeiden (vgl. Schwartz 2003: 3). Die gesundheitliche Lage und die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft sind eng miteinander verknüpft. Aufgrund der steigenden Kluft zwischen Arm und Reich und der daraus resultierenden gesundheitlichen Negativeffekte und den direkten Auswirkungen auf den Wohlstand eines Landes sollte eine Orientierung nicht nur an quantitativ-ökonomischen (z. B. Steigerung des 32 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="33"?> Bruttosozialprodukts), sondern verstärkt an qualitativ-sozialen Gesichts‐ punkten (z. B. Abwendung sozialer Missstände) (doppelte Produktivität) erfolgen (vgl. Opaschowski 2006: 65 f.). Die Armutsgefährdungsquote 2019 lag gemäß der Sozialberichterstattung des Bundes in Deutschland auf Basis des Mikrozensus 2018 bei 15,9 %, während Bremen das bundesweit höchte Armutsrisiko mit 24,9 % und Bayern mit 11,9 % das niedrigste Armutsrisiko aufwiesen (vgl. Statistisches Bundesamt 2019b). Die Armutsquote misst den Anteil der Personen mit einem Einkommen von weniger als der Armuts‐ grenze, sprich 60 % des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens der Gesamtbevölkerung. In Bezug auf Prävention wies der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bereits 2001 darauf hin, dass Prävention nicht vorrangig Kostendämpfung zum Ziel hat, sondern die Gesundheitsvorsorge einen Wert an sich darstellt (vgl. SVRG 2001: 71). So hat sich die Gesund‐ heitspolitik von einer rein ökonomisch-fiskalischen Kostendämpfungspoli‐ tik zu einer gesundheitsorientierten Steuerungspolitik entwickelt (siehe Rosenbrock/ Gerlinger 2004; Rosenbrock 2006). Diese Trendwende stellt indes keine Abkehr der dominierenden ökonomischen Steuerungsmecha‐ nismen dar, sondern sollte durch den Blick auf priorisierte Gesundheitsziele (→ Tab. 3) zu einer wirksameren Mittelallokation beitragen (vgl. Bauch 1996: 159). Priorität nationale Gesundheitsziele Start Ausrichtung 1 Diabetes mellitus Typ 2: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh er‐ kennen und behandeln 2003 krankheits‐ bezogen 2 Brustkrebs: Mortalität vermindern, Lebensqualität erhö‐ hen (2003) 3 Tabakkonsum: reduzieren präventions‐ bezogen 4 Gesund aufwachsen: Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung zielgruppen‐ bezogen 5 Gesundheitliche Kompetenzen: erhöhen, Patient(inn)ensouveräntität stärken populations‐ bezogen 6 Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behan‐ deln 2006 krankheits‐ bezogen 33 1.1 Gesundheit <?page no="34"?> 7 Gesund älter werden 2011 zielgruppen‐ bezogen 8 Alkoholkonsum: reduzieren 2015 präventions‐ bezogen 9 Gesundheit rund um die Geburt 2017 zielgruppen‐ bezogen Tab. 3: Nationale Gesundheitsziele Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an gesundheitsziele.de (07.12.2021). Für diesen Paradigmenwechsel waren maßgeblich die Gesundheitsberichters‐ tattungen auf supranationaler Ebene verantwortlich, die auf die Komplexität gesundheitlicher Determinanten aufmerksam machten. Die Grundlage lie‐ ferte bspw. der kanadische Lalonde-Bericht (vgl. Lalonde 1974), der Epp Report der WHO „Achieving Health for All“ (Epp 1986), der britische Black Report (Department of Health and Social Security 1980) und die Ottawa-Charter (WHO 1986). 1984 verabschiedete die WHO ihr erstes Zielprogramm „Health for All“, das in überarbeiteter Form „Health21“ 1998 veröffentlicht wurde (WHO 2005: 26). Seit 1985 macht sich auf nationaler Ebene der von der Bun‐ desregierung eingesetzte „Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“ für eine zielorientierte Gesundheitsberichtserstattung stark (vgl. u. a. SVRG 1995). Dieser beschrieb in einem Sondergutachten 1995 ein hierarchisches Zielsystem (vgl. SVRG 1995: 47 f. und 58 ff.), dass sich an der WHO Programm „Health for all by the year 2000“ orientierte (vgl. Tophoven 1998: 92). Für die operative Erarbeitung wurde von der Arbeits‐ gruppe 4 (Stärkung der Prävention) - des vom Bundesgesundheitsministerium eingerichteten „Runden Tischs“ - das „Deutsche Forum für Prävention und Gesundheitsförderung“ eingesetzt, das im Jahre 2000 die Konsensplattform „gesundheitsziele.de“ (vgl. BMG 2007) initiierte. Entscheidende ordnungspo‐ litische Maßnahmen zur Stärkung der Prävention wurde mit Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes (GKV-GRG 2000, BGBl I S. 2626) bzw. der Novellierung des § 20 SGB V vorgenommen. Seither sind Präventionsinter‐ ventionen ein fester Bestandteil des GKV-Leistungskatalogs und die Kassen sind dazu angehalten für die Verminderung der sozialen Ungleichheiten von Gesundheitschancen einzutreten. Zudem wurden die GKVn verpflichtet, ein‐ heitlich und gemeinsam prioritäre Handlungsfelder und Kriterien hinsichtlich Bedarf, Zielgruppen, Zugangswegen, Inhalten und Methodik zu beschließen (siehe AGdSvGKV 2010). Effizienzaspekte bei Präventionsmaßnahmen, wie 34 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="35"?> es das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V und § 4 Abs. 4 SGB V) vorsieht, wurden erstmals mit der Einführung der Bonusmodelle für ge‐ sundheitsbewusstes Verhalten (GKV-Modernisierungsgesetz; vgl. GKV-GMG 2004) berücksichtigt. Denn die Aufwendungen initiierter Programme (lt. § 65a Abs. 4 SGB V) müssen sich mittelfristig tragen und die Kassen nach spätestens 3 Jahren Rechenschaft abgeben. Mit diesem Passus sollten marktpolitische Eigeninteressen (z. B. Neukundengewinnung; Kundenbindung guter Risiken) zu Ungunsten des Gemeinwohls (Vernachlässigung schlechter Risiken) unter‐ bunden werden. Keinen Aufschluss gibt indes der jährlich veröffentliche Präventionsbericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen über die (vgl. MDS 2016) Tragweite, Nachhaltigkeit und Wirksamkeit hinsichtlich einer Reduzierung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit (vgl. Gerlinger 2007: 25 ff.). Erschwerend kommt hinzu, dass die Wirksamkeit und (objektive) Qualität präventiver Maßnahmen aufgrund der Vielschichtigkeit gesundheitlicher Einflussfaktoren nur indirekt anhand quantitativer und qualitativer Indikatoren bzw. health gains (d. h. ein Gesundheitsgewinn bspw. durch gewonnene Lebensjahre, Inzidenzen, Präva‐ lenzen) nachvollzogen werden kann. Anzumerken ist, dass die Nachfrage nach Gesundheits- und Präventionsmaßnahmen von der subjektiv wahrge‐ nommenen Qualität abhängt. Entsprechend hängt es von einer Gesellschaft ab, was sie als Qualität definiert und welche Art der Qualität ihr wichtig ist (vgl. Fleßa 2007: 22). Die gesundheitspolitische Herausforderung ist es daher, Rahmenbedingungen für ein effizientes Gesundheitswesen zu schaffen, und die Prinzipien von gesellschaftlicher Solidarität, dem Recht auf Eigenstän‐ digkeit und Eigenverantwortung des Einzelnen ständig auszutarieren oder neu zu justieren (vgl. Reichmann 2004: 100). Ohne Zweifel haben hierbei neben gesundheitspolitischen Interventionen (implizite Gesundheitspoli‐ tik) wirtschafts-, bildungs-, wohnungs-, verkehrssowie umweltpolitische Maßnahmen einen Einfluss auf die Volksgesundheit (explizite Gesundheits‐ politik) (vgl. Rosenbrock/ Kümpers 2006a: 372; 2006b: 246). Daher ist das Problem unzähliger Präventionsprogramme (z. B. Unfall-, Sucht-, Kriminal-, Gewaltprävention oder einzelne Präventionsaktivitäten der GKVn) der mono‐ thematische Parallelbetrieb ohne die synergetische Vernetzung (vgl. Altgeld 2008: 1). Je mehr davon bei Interventionen diverser (Politik-)Bereiche in ein Gesamtkonzept miteinander verschmelzen, desto wahrscheinlicher ist ein positives Ergebnis (vgl. Judge et al. 2006: 7). Denn um die Quelle Upstream von Gesundheitsgefährdungen (z. B. geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit) zu beseitigen und nicht nur die Folgen am Ende der kausalen Kette Downstream 35 1.1 Gesundheit <?page no="36"?> zu eliminieren, sind kombinierte Up- und Downstream-Interventionen ent‐ lang der gesamten Kausalkette notwendig (vgl. Mielck 2006: 446). Damit liegt das größte Potenzial einer vorsorgenden Gesundheitspolitik in dem verbesserten Gesundheitszustand unterer Schichten, in die Angleichung der Schichten und der Verringerung gesundheitlicher Gradienten (vgl. Graham 2004: 118; Graham/ Kelly 2004: 7). Die Tatsache, dass Prävention eine gesamt‐ gesellschaftliche Aufgabe ist, hat die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (PrävG - kurz Präventionsgesetz) Rechnung getragen. Die zielorientierte Prävention wurde ab dem 01.01.2016 durch die Nationale Präventionskonferenz der sozialen Präventionsträger (gesetzliche Kranken-, Renten-, Unfall- und Pflegeversiche‐ rung) unter Mitwirkung von Bund, Ländern, Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit sowie der Sozialpartner strategisch geplant. Die Geschäftsstelle der Nationalkonferenz ist bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) angesiedelt und hat zur Aufgabe, die Mitglieder der Präventionskonfe‐ renz bei der Entwicklung der erarbeiteten Nationalen Präventionsstrategie zu unterstützen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen beauftragt die BZgA mit der Entwicklung krankenkassenübergreifender Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in unterschiedlichen Lebenswelten (z. B. Kita, Schule, Pflegeeinrichtungen). Weitere Aufgaben der BZgA sind die Implementierung, wissenschaftliche Evaluation und Qualitätssicherung (vgl. Deutscher Bundestag 2015: 2 ff.). Genauere Informationen zur Umsetzung wurden in den Bundesrahmempfehlungen nach § 20d Abs. 3 SGB V der Na‐ tionalen Präventionskonferenz zusammengefasst, die die Qualitätssicherung und Evidenzorientierung sowie die Partizipation als wichtige Anforderung von Präventionsinterventionen an unterschiedlichen Stellen des Dokumentes betonen (vgl. Die Nationale Präventionskonferenz 2018: 14 ff., 21, 38). Linktipps Informationen zur Gesundheitspolitik: ➽ www.bpd.de (Politik/ Innenpo‐ litik/ Gesundheitspoltik) Informationen zur nationalen Präventionskonferenz: ➽ www.npk-info.de Europäisches Überwachungssystem für Infektionskrankheiten (ECDC): ➽ www.ecdc.europa.eu 36 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="37"?> 1.1.6 Wirtschaftsfaktor Gesundheit Während ein Wirtschaftswachstum gemessen an Umsatz- und Beschäfti‐ gungszuwächsen aus volkswirtschaftlicher Sicht positiv wahrgenommen wird, werden im Gesundheitswesen steigende Gesundheitsausgaben eher negativ empfunden und mit explodierenden Kosten (Kostenexplosion) gleichgesetzt (siehe auch Mackenthun/ Henke/ Schreyögg 2004). Diese Sicht‐ weise blendet aus, dass das Wachstum des Gesundheitsmarktes mit einer Verschiebung von Konsumentenpräferenzen und einer Leistungsauswei‐ tung verbunden sind, um den erhöhten Bedarf zu decken. Denn ein wach‐ sender Gesundheitsmarkt fördert den Wohlstand einer Gesellschaft. Das betrifft insbesondere den stark wachsenden zweiten Gesundheitsmarkt. Dieser umfasst alle gesundheitsrelevanten Dienstleistungen und Waren, die nicht von einer privaten oder gesetzlichen Krankenkasse und somit durch Mitgliedsbeiträge übernommen oder durch Steuern finanziert werden (erster Gesundheitsmarkt). Gesundheitsrelevante Dienstleistungen kön‐ nen sich zum einen auf die Kernbereiche der Gesundheitswirtschaft, sprich auf alle direkten Ausgaben des Gesundheitswesens beziehen. Zum anderen können sich gesundheitsrelevante Dienstleistungen auch auf die erweiterte Gesundheitswirtschaft, sprich auf alle Güter und Dienstleistungen mit einem indirekten Gesundheitsbezug beziehen, die nicht von Institutionen des Gesundheitswesens miteinander in Verbindung gebracht werden und erst aufgrund einer subjektiven gesundheitsbezogenen Kaufentscheidung erworben werden (vgl. Czypionka et al. 2015: 60) (→ Tab. 4). güterbezogene Abgrenzung Abgrenzung nach Finanzierung erster Gesundheitsmarkt zweiter Gesundheitsmarkt Kernbereiche der Ge‐ sundheitswirtschaft z. B. erstattungsfähige Arzneimittel, Kranken‐ hausbehandlung z. B. OTC Präparate, indivi‐ duelle Gesundheitsleistun‐ gen erweiterte Gesund‐ heitswirtschaft z. B. Zuschüsse Präven‐ tionskurse; Berufsausbil‐ dung z. B. Wellness, Kleidung, Er‐ nährung mit Gesundheits‐ bezug Tab. 4: Abgrenzung der Gesundheitswirtschaft Quelle: Henke/ Neumann/ Schneider 2010: 73. 37 1.1 Gesundheit <?page no="38"?> Der Bedeutungszuwachs privat finanzierter Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen des zweiten Gesundheitsmarktes rührt daher, dass immer mehr Menschen bewusster mit ihrer Gesundheit umgehen. Hierfür reicht ihnen die Versorgung des ersten Gesundheitsmarktes nicht mehr aus. Sie nutzen Dienstleistungen und Produkte, die der Gesunderhaltung oder ihrem Wohlbefinden dienen, wie bspw. Ernährung, Sport, Wellness, freiverkäufli‐ che Arzneimittel aber auch Schönheitsoperationen. Die wirtschaftliche Bedeutung des zweiten Gesundheitsmarktes zeigt sich darin, dass der zweite Gesundheitsmarkt (+5,8 %) zwischen 2011 und 2020 stärker gewachsen ist als der erste Gesundheitsmarkt (+3,5 %). Die Konsumausgaben privater Haushalte für individuell finanzierte Gesund‐ heitsleistungen (IGEL-Leistungen) beliefen sich im Jahr 2020 auf rund 131 Milliarden Euro (2011: 79 Milliarden) (vgl. BMWi 2021b: 20). Der zweite Gesundheitsmarkt bietet insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Bewusstseinswandels in vielfältigen Bereichen, wie bspw. Leben im Alter, Gesundheit zu Hause, individualisierte Medizin, Biotechnologie, Gesundheitstourismus sowie E-Health, vielfältige Anknüpfungspunkte für die innovative Entwicklung neuer Gesundheitspro‐ dukte und -dienstleistungen. 1.1.7 Wirtschaftsfaktor Prävention Prävention kann aus unterschiedlichen Perspektiven als wichtiger Wirt‐ schaftsfaktor angesehen werden. Als einer davon wird die Kosteneinspa‐ rung angesehen, die seit Jahren in zwei Zukunftsszenarien im Hinblick auf den ökonomischen Nutzen heftig debattiert wird. ■ Nach der optimistischen Morbiditätskompressionsthese (auch Kom‐ pressionsthese) (nach Fries) bleiben Menschen länger gesund und schwere gesundheitliche Einschränkungen werden durch eine gesün‐ dere Lebensweise altersmäßig hinausgezögert (vgl. Fries 2005: 810 f.). Gesundheitsförderung und Primärprävention begründen eine Verschie‐ bung chronischer Morbidität und zudem, dass das Ausgabenprofil erst vor dem Todeszeitpunkt exponentiell ansteigt, da die Morbidität infolge des verbesserten Gesundheitszustandes erst mit dem Alter zunimmt. ■ Nach der pessimistischen der Morbiditätsexpansionsthese (auch Medikalisierungsthese nach Grueneberg) wird eine Ausdehnung der krankheitsbedingten Lebenszeit postuliert, da Krankheiten früher er‐ 38 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="39"?> kannt und behandelt werden (vgl. Niehaus 2006: 4 f.). Die Gesundheits‐ ausgaben würden somit aufgrund der höheren Lebenserwartung in die Horizontale gestreckt. Einigkeit herrscht darüber, dass durch Prävention und Gesundheitsför‐ derung vorzeitige Todesfälle und krankheitsbedingte Frühverrentungen vermieden, die krankheitsbedingten Produktionsverluste in Unternehmen reduziert, die Autonomie im Alter bewahrt und die Pflegebedürftigkeit verhindert oder hinausgezögert wird. Mehr als 20 Jahre nach Aufstellung der Hypothese von Fries gilt die compression of morbidity and disability auf der Ebene der Lebensqualität (im Vergleich zur monetären Kompression) als weitgehend erwiesen (siehe Niehaus 2006 und Fetzer 2005). Ob Kom‐ pression oder Expansion, der größte Gesundheitsgewinn und damit das höchste Einsparpotenzial liegt im Bereich altersassoziierter Erkrankungen (wie bspw. Diabetes, Asthma), die nachweislich durch die Vermeidung und Eliminierung von Lifestyle- und Risikofaktoren präventabel sind. Kosten für Prävention und Gesundheitsförderung stellen insofern nicht nur für die Ge‐ sellschaft und für die GKVn, sondern gerade für Unternehmen eine lohnende Zukunftsinvestition dar. Denn Investitionen, die im Bereich präventiver Maßnahmen getätigt werden, zahlen sich bei wirksamen und zielgerichteten Maßnahmen doppelt aus: So führen laut einer Studie bspw. Maßnahmen im Bereich der Betrieblichen Gesundheitsförderung aus Arbeitgebersicht zu einer Senkung krankheitsbedingter Fehlzeiten um durchschnittlich 25 %, einem Return-of-Investment (ROI) bei krankheitsbedingten Fehlzeiten um 2,73 € und bei Krankheitskosten um 3,27 € (vgl. Chapman 2005: 5). Folglich kann Prävention nicht nur für die potenziell anvisierten Zielgruppen (z. B. am Arbeitsplatz) zu einer positiven Veränderung der körperlichen und psychischen Verfassung führen, sondern auch die Arbeitgeber können von solchen Investitionen profitieren. Das kann sich auf wirtschaftlicher Ebene in präventiven Einsparungen und leistungsbezogenen Produktivitätssteige‐ rungen zeigen. Dabei lässt sich der ■ präventive Nutzen (z. B. durch Verringerung von Arbeitsbelastungen, Verbesserung der Gesundheit, des Wohlbefindens und des Arbeitskli‐ mas), ■ produktivitätsbezogene Nutzen (z. B. Vermeidung von Betriebsstö‐ rungen, Steigerung der Arbeitszufriedenheit und Mitarbeitermotiva‐ tion, Erhaltung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit, Verringerung der Fluktuation und Erhöhung der Mitarbeiterbindung) sowie 39 1.1 Gesundheit <?page no="40"?> ■ marketingstrategische Nutzen (z. B. Förderung der Corporate Iden‐ tity und Verbesserung des Unternehmensimages, Erhöhung der Kun‐ denzufriedenheit und -bindung sowie der Wettbewerbsfähigkeit) auf Unternehmensebene oftmals nicht voneinander trennen und ist eng miteinander verbunden (siehe auch BKK 2004). Dabei erkennen Unterneh‐ men zunehmend, dass Prävention ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Ein wichtiger Treiber hierfür ist der zunehmende Fachkräftemangel. Nicht zu unterschätzen sind neben den direkten Nutznießern die indirekten Nutz‐ nießer in Gestalt von Unternehmen, die sich auf die Planung, Umsetzung, Vermarktung und Evaluation von präventiven Maßnahmen konzentriert haben. 1.1.8 Heterogenität des Gesundheitssektors Im Gesundheitssektor herrscht eine große Heterogenität und Pluralität der Akteure, die durch unterschiedliche Ressourcenverfügbarkeit und staatliche Regulierungen, freien oder staatlich regulierten Markteintritt gekennzeichnet ist. Da der Gesundheitsmarkt stark wächst, kann davon ausgegangen werden, dass der Wettbewerb, die Rivalität aber auch die Kooperationsbereitschaft unter den Akteuren zunehmen wird. Klassisch wird der Gesundheitssektor in die folgenden drei Ebenen (vgl. Wasem et al. 2013: 52) unterteilt: ■ Makroebene: Die Makroebene bilden die staatlichen, internationalen und supranationalen Akteure (z. B. Bundesregierung, WHO). Diese regulieren das Verhalten der Akteure auf Meso- und Mikroebene, indem sie Gesetze und Verordnungen verabschieden und deren Einhaltung überwachen. ■ Mesoebene: Die Mesoebene bezieht sich auf die Organisationen und Institutionen der Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversi‐ cherung sowie auf „freie“ Organisationen, Institutionen und Verbände. ■ Mikroebene: Die Mikroebene besteht aus einzelnen individuellen Akteuren (z. B. Krankenkassen, Ärzte, Apotheker, Industrie). Sie bieten Gesundheitsgüter und -dienstleistungen an oder fragen sie nach und müssen dabei die gesetzlichen Bestimmungen beachten. Die starke Heterogenität der Anbieter und damit der Produkte und Dienst‐ leistungen führt automatisch zu einer Unübersichtlichkeit, Intransparenz 40 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="41"?> und einer hohen Komplexität für die unterschiedlichen Zielgruppen. Zudem haben die Vielfalt und die unterschiedlichen Interessenslagen zur Folge, dass sich die Akteure wechselseitig blockieren, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen (vgl. Stuppardt 2008: 439). Ergänzend ist anzumerken, dass der Gesundheitsmarkt (insbesondere der Krankenhausmarkt) zunehmend durch Kettenbildung und einer Privatisierungswelle gekennzeichnet ist, welches wiederum eine stärkere Kapitalmarktorientierung zur Folge hat (vgl. Rache/ Braun/ Rehinersdorff 2015: 12). Keinen Halt macht dieser Trend vor den Akteuren im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung. Denn ein Kennzeichen des Gesundheitswesens und damit ein Defizit der Präven‐ tion stellt die mangelhafte Kooperation und Koordination der Akteure dar (vgl. Stuppardt 2008: 438). Die Einführung des Präventionsgesetzes hat daher zum Ziel, dieser Herausforderung zukünftig verstärkt zu begegnen. 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung 1.2.1 Definition, Zielsetzung und Handlungsfelder Das zentrale Anliegen der Prävention ist es, einen schlechten Gesundheits‐ zustand zu vermeiden. Gesundheitsförderung hingegen versucht, durch positiv fördernde Rahmenbedingungen die Gesundheit und das Wohlbefin‐ dens von Menschen zu verbessern. Beide Interventionsformen wurden lange Zeit als Entweder-oder-Intervention betrachtet, während heutzutage Ansätze der Gesundheitsförderung als bedeutende komplementäre Strategie der Primärprävention angesehen werden (vgl. Rosenbrock/ Kümpers 2006a: 372, Glaeske et al. 2003: 9). Schon die Jakarta-Erklärung der WHO begriff die Gesundheitsförderung und damit die Stärkung individueller Ressourcen und gesundheitsförderlicher Schutzfaktoren (z. B. die Selbstwirksamkeit) als die Schlüsselkompetenz zur sozialen und ökonomischen Entwicklung der Menschen des 21. Jahrhunderts (vgl. WHO 1997: 9). Oft scheitert die praktische Umsetzung der synergetischen Logik beider Strategien an der medizinisch orientierten Dominanz des Gesundheitswesens. Erfreuli‐ cherweise hat sich die Prävention und Gesundheitsförderung nach dem Top-down-Prinzip (old public health (public health medicine)) und mit vorwiegend staatlich regulierten Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung und -förderung deutlich weiterentwickelt (vgl. Hurrelmann et al. 2006: 16). Seit Mitte der 1980er-Jahre wurden verstärkt gesellschaftliche Bedingun‐ 41 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="42"?> gen der partizipativen Gesundheitsentwicklung und -sicherung nach dem Bottom-up-Prinzip (empowerment) berücksichtigt, die unter dem Begriff new public health (promotion of health) zusammengefasst wurden (vgl. Leppin 2002: 83). Gesundheitsförderung und Prävention kann daher als Prozess der Organisationsentwicklung mit dem Ziel einer bedarfsgerechten, wirtschaftlichen und kontinuierlichen Weiterentwicklung der Gesundheits‐ förderung und -versorgung verstanden werden (vgl. Schnabel 2006: 196). Folglich strebt promotion of health eine Verbesserung der bevölkerungs‐ bezogenen Gesundheit durch die positive Beeinflussung gesundheitlicher Determinanten, die gerechte Verteilung von Gesundheitschancen sowie die gezielte Gesundheitsförderung (health promotion) an. Die Vielschichtigkeit und damit Multidimensionalität gesundheitli‐ cher Ungleichheit in der Bevölkerung lässt sich anhand geschlechts- und altersspezifischer Ungleichheit anschaulich erklären. Berufliche und so‐ mit wirtschaftliche Benachteiligungen bedingt durch das Geschlecht, das Alter (aufgrund dominierender jugendzentrierter Personalpolitiken) oder die familiäre Doppelbelastung sind Faktoren, die sich ungünstig auf den Gesundheitszustand auswirken können. Die interagierenden Zusammen‐ hänge zwischen Geschlecht, Alter, Ethnizität und den differenzierten Be‐ darfslagen der Individuen werden im Gesundheitswesen oft verkannt (vgl. Kuhlmann/ Kolip 2005: 167). Auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte (insbesondere türkische Staatsbürger, respektive türkische Frauen) liegen bei den zentralen Faktoren gesundheitlicher Chancengleichheit (Arbeit, Einkommen und Bildung) deutlich zurück (siehe Migrationsbericht 2019 der Bundesregierung; BMI/ BAMF 2020). Unabhängig von bestehenden Ge‐ schlechter- oder Altersasymmetrien wird davon ausgegangen, dass die Ansammlung gesundheitlicher Belastungen bei gleichzeitiger Abnahme persönlicher, ökonomischer und sozialer, protektiver Ressourcen in enger Verbindung zueinanderstehen (vgl. SVRG 2005: 29). Abhilfe zur Eindämmung gesundheitlicher Belastungen soll insbesondere die Reduktion und Eliminierung der in den Industrienationen führenden Lifestylebzw. Risikofaktoren, auch bekannt als holy four (McQueen 1976) oder RABE-Parameter (Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsman‐ gel und ungesunde Ernährung) schaffen (vgl. Lengerke v 2007: 74 ff.). Der GKV-Spitzenverband hat zur Umsetzung des sogenannten Präventions‐ paragrafen (§ 20 SGB V) Anforderungskriterien für die Handlungsfelder „Bewegungsgewohnheiten“, „Ernährung“, „Stressmanagement“ und „Sucht‐ konsum“ aufgestellt und im Leitfaden Prävention zusammengestellt (vgl. 42 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="43"?> GKV-Spitzenverband 2021: 53 ff.). Kursanbieter von Präventionsinterven‐ tionen in diesen Handlungsfeldern, die über die GKVn abrechnen möch‐ ten, müssen das Prüfsiegel der Zentralen Prüfstelle für Prävention ( ➽ www.zentrale-prüfstelle-prävention.de) vorweisen. Neben den genannten klassischen Handlungsfeldern gewinnen im Zeitalter von z. B. AIDS und Ozonloch zunehmend auch neuzeitliche behaviorale Risikofaktoren wie ungeschützter Sex, Sonnenbaden und risikoaffine Verhaltensweisen (vgl. Lengerke v/ Manz 2007: 19) an Bedeutung. Linktipps Gesundheitsziele.de: ➽ www.gesundheitsziele.de Zentrale Prüfstelle für Prävention: ➽ www.zentrale-prüfstelle-präventio n.de 1.2.2 Akteure von Präventionsinterventionen Akteure, die Präventionsinterventionen konzipieren, planen, steuern oder evaluieren, existieren auf internationaler, nationaler, regionaler und kom‐ munaler Ebene. Eine der bedeutendsten Organisationen auf internationa‐ ler Ebene (Europa und gobal) ist die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, kurz WHO). Die WHO ist insbesondere für die Kon‐ zeptions- und Strategieentwicklung (z. B. Aktionsprogramme, Konferenzen) von übergreifender Bedeutung. Auf europäischer Ebene engagiert sich seit den 1990er-Jahren verstärkt die Europäische Union, sie legt EU-Programme auf und fördert die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Hierzulande hat sich sowohl auf Bundes-, Länderals auch auf kommunaler Ebene eine breite Infrastruktur mit einer Vielzahl von Einrichtungen und Organisationen in staatlicher, halbstaatlicher (öffentlich-rechtlicher) und nichtstaatlicher Trägerschaft entwickelt, die in Prävention und Gesundheitsförderung un‐ terschiedliche Aufgaben und Zuständigkeiten haben (→ Abb. 1). 43 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="44"?> staatliche Institutionen halbstaatliche Institutionen 1 nichtstaatliche Institutionen Bundesministerium für Gesundheit Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesinstitute (RKI etc.) Sachverständigenrat Runder Tisch, Forum Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Gesundheitsministerkonferenz mit AOLG Kultusministerkonferenz Ministerien/ Senate für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Kultus und Bildung der Länder und Stadtstaaten Landesgesundheitsämter, Landesinstitut NRW öffentlicher Gesundheitsdienst kommunale Ämter kommunale Ämter Bundesebene Landesebene kommunale Ebene gesetzliche Krankenkassen öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten Bundesärzte-/ zahnärztekammern Berufsgenossenschaften Kassenärztliche und -zahnärztliche Bundesvereinigung Rentenversicherungsträger Landesverbände der GKVen Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten Landesärzte-/ zahnärztekammern Landeskassenärztliche und zahnärztliche Vereinigungen Krankenkassen Krankenhäuser und Reha- Einrichtungen Gesundheitskonferenzen regionale Arbeitsgemeinschaften für Gesundheitsförderung (Gf) DGE, DHS u.a. spezielle Verbände Bundesverbände der Wohlfahrtspflege u.a. Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. Sportverbände private Krankenkassen Selbsthilfeorganisationen Verbraucherzentralen Bundesverband Unternehmen Massenmedien (Print und E) Netzwerke Gesunde Städte etc. Selbsthilfeverbände KISS Landesverbände der Wohlfahrtspflege u.a. Verbraucherzentralen Sportverbände Landeszentralen/ Arbeitsgemeinschaften für Gf/ Ge Stiftungen Betriebe Kitas, Schulen, Jugendarbeit Einricht. der Wohlfahrt Selbsthilfegruppen Beratungsstellen Stiftungen Bildungseinrichtungen Betriebe Sportvereine 1 Körperschaften des öffentlichen Rechts in Selbstverwaltung Institution/ Organisation ausschließlich für Prävention und Gesundheitsförderung direkte Zugehörigkeiten Kooperationen Abb. 1: Akteure im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung Quelle: Blümel 2011. Anzumerken ist, dass die Anzahl privater Anbieter angesichts des gesund‐ heitsbezogenen Bewusstseinswandels in der Bevölkerung und die damit verbundene Bereitschaft zur privaten Finanzierung zugenommen haben. Die zunehmende Zersplittung und Unübersichtlichkeit des Präventions- und Gesundheitsmarktes mit teils konkurrierenden Präventionsakteuren und -maßnahmen wird nicht unkritisch gesehen (vgl. Altgeld 2012: 8). Denn der unverbundene und isolierte Parallelbetrieb von Präventionsmaßnahmen ohne synergetische Vernetzung kann sich negativ auf die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit auswirken und das Problem des Präventionsdilemmata mitunter verschärfen, statt es zu lösen - insbesondere dann, wenn im privat- und halbprivatwirtschaftlichen Bereich eher einkommensstarke Zielgruppen statt gesundheitliche vulnerable Risikozielgruppen im Fokus 44 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="45"?> des Interesses der Akteure stehen. Doch gerade eine synergetische Koope‐ ration zwischen den unterschiedlichen Akteuren wäre notwendig, um etwas Neues zu schaffen, was einzelnen Akteuren aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzfelder nicht möglich wäre. Bei der additiven Kooperation würden zumindest Ressourcen gemeinsam genutzt und Prozesse so miteinander verknüpft, um gemeinsam ein besseres Ergebnis im Rahmen von Präventi‐ onsinterventionen erreichen zu können (→ Abb. 2). Abb. 2: Stufen der Kooperation und Konkurrenz in der Prävention synergetische Kooperation (abgestimmtes Vorgehen, Gemeinschaftsprojekte) additive Kooperation (gegenseitige Information ohne Einfluss auf die jeweiligen Kerngeschäfte) Nebeneinander/ Parallelaktivitäten (mit oder ohne Feinbeobachtung) Konkurrenz/ Wettbewerb (z.B. aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen [SGB V] oder um Fördergelder) Konkurrenz Kooperation Abb. 2: Stufen der Kooperation und Konkurrenz in der Prävention Quelle: Altgeld 2012: 10. Es bleibt abzuwarten, ob sich der teils von staatlicher Seite stimulierte Wett‐ bewerb (z. B. GKVn) (vgl. Altgeld 2012: 9) im Zuge des Präventionsgesetzes auf Settingebene verringert und so eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Akteuren forciert wird. 1.2.3 Strategien der Prävention Die am weitesten verbreitete Klassifizierung von Präventionsinterventionen unterteilt Prävention nach Caplan (1964) in Primär-, Sekundär- und Terti‐ ärprävention (vgl. Leppin 2004: 32). 45 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="46"?> ■ Primärprävention: Maßnahmen zur Primärprävention richten sich an gesunde Gruppen mit dem Ziel, Inzidenzen zu verringern. ■ Sekundärprävention: Die Sekundärprävention hingegen dient der Krankheitsfrüherkennung und -eindämmung bei gesunden bzw. symp‐ tomlosen Menschen. ■ Tertiärprävention: Die Tertiärprävention versucht, Krankheitsfolgen oder Rückfälle bereits erkrankter Patienten zu verhindern. Heute gilt die Klassifikation nach Caplan (1964) als überholt, da eine ausschließliche zeitliche Differenzierung am medizinischen Krankheitsmo‐ dell nicht trennscharf vollzogen werden kann (vgl. Schüz/ Müller 2006: 147). Insbesondere für die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen erweist sich die von Gordon (1983) ursprünglich entwickelte und vom Institute of Medicine 1994 aufgegriffene Einteilung in universelle, selektive und indizierte Prävention als praktikabler, da mit dieser Klassifikation eine genauere methodische Zielgruppenspezifität vorgenommen werden kann (vgl. Gordon 1983: 107 ff.; Mrazek/ Haggerty 1994: 493). ■ universelle Prävention: Bei universell ausgerichteten Präventions‐ maßnahmen wird versucht, eine breite Öffentlichkeit (ohne Zielgrup‐ penfokus) zu erreichen. ■ selektive Prävention: Selektive Maßnahmen hingegen konzentrieren sich auf spezielle Segmente, bei denen Risikofaktoren (z. B. zunehmende Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen) vorliegen, sich aber noch kein Krankheitsbild manifestiert hat. ■ indizierte Prävention: Die indizierte Prävention legt ihren Fokus auf Zielgruppen, bei denen bereits Vorstufen einer Erkrankung aufgetreten sind (vgl. Leppin 2004: 34 f.). ■ Während die Umsetzung universell ausgerichteter Präventionsmaß‐ nahmen zur Verhaltensprävention weitgehend verbreitet sind, erfolgt die Durchsetzung gesundheitlicher Standards indes äußerst selektiv (d. h. in sogenannten Settings). Ob sich Interventionen auf eine Teil‐ gruppe (bzw. nach sozioökonomischen Merkmalen, wie Geschlecht und Alter) oder Gesamtgruppe oder auf ein spezifisches Stadium des Gesundheitsprozesses ausgerichtet sind, hängt von den jeweiligen Prä‐ ventionsinstrumenten ab. Wichtige Handlungsfelder, auf die sich die Prävention beziehen kann, sind sehr vielfältig (vgl. Altgeld 2012: 8): 46 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="47"?> ■ Prävention in der Schwangerschaft, Frühe Hilfen Kriminalprävention, Gewaltprävention, Suchtprävention ■ gesundheitsbezogene Prävention in den Bereichen Ernährung, Bewe‐ gung und Stressbewältigung ■ andere krankheitsspezifische Prävention (z. B. Impfungen, Jodmangel, Krebsfrüherkennung), Unfallprävention (am Arbeitsplatz, in Verkehr und Freizeit) ■ Sexualaufklärung bzw. Prävention sexuell übertragbarer Erkrankungen (Aids, Hepatitis u. a.) und Prävention von frühen Schwangerschaften, Suizidprävention und Prävention psychischer Erkrankungen ■ Gesundheitsförderung in Settings (z. B. Kindertagesstätten, Schulen, Kommunen oder Betriebe) Abhängig davon, welches Ziel, welche Zielgruppe, welches Handlungsfeld oder welches Setting anvisiert wird und von welchen Akteuren die Präven‐ tionsintervention initiiert wird, stehen unterschiedliche Instrumentarien zur Verfügung, auf die im folgenden → Kapitel näher eingegangen wird. 1.2.4 Methoden der Prävention Methodische Instrumentarien von Präventionsinterventionen, um verhal‐ tens- und verhältnispräventive Strategien umzusetzen, sind sehr vielfältig und können übergreifend in ■ edukative Verfahren, ■ normativ-regulatorische Verfahren und ■ ökonomische Anreiz- und Bestrafungssysteme unterteilt werden (vgl. Leppin 2010: 40). Dabei zielen edukative Verfahren insbesondere im Rahmen der Verhältnisprävention und Gesundheitsförde‐ rung darauf ab, auf die Einsicht, die Veränderungsmotivation und die Stärkung der gesundheitlichen Kompetenz positiv einzuwirken. Methoden, die bei edukativen Verfahren bevölkerungsweiten oder risikozielgruppen‐ bezogenen Strategien zum Einsatz kommen, sind in der → Tab. 5 abgebildet (ebd.). 47 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="48"?> Ziel Beispiele Information und Aufklärung - bevölkerungsweite Kampagnen über Bewegung, Ernährung, AIDS etc. - individuelle Arzt-Patienten-Gespräche über Rauchen Beratung - Drogen- und Suchtberatung - Beratung von Personen in Krisensituationen Verhaltens- und Selbstma‐ nagementtraining - Stressbewältigungsprogramme - Patientenschulungen (Diabetes etc.) - schulische Kompetenzförderungsprogramme - (Umgang mit Cybermobbing etc.) Tab. 5: Methoden der Prävention Quelle: Leppin 2010: 40. Unter normativ-regulatorische Methoden werden hingegen alle Maß‐ nahmen zusammengefasst, bei denen über Gesetze, Vorschriften, Ge- und Verbote mit Sanktionsandrohungen bei Missachtung versucht wird, präven‐ tive Ziele zu erreichen. Diese insbesondere verhältnispräventiven Aktivitä‐ ten können auf unterschiedlichen Ebenen vollzogen werden bzw. einwirken, um Gesundheitsrisiken übergreifend und für bestimmte Bevölkerungsgrup‐ pen zu minimieren (vgl. Richter/ Rosenbrock 2014: 134 f.): ■ auf institutioneller Ebene, z. B. positive Arbeitsbedingungen (Ar‐ beitsschutzgesetz, betriebliches Eingliederungsmanagement etc.) ■ auf überregionaler, nationaler oder internationaler Ebene, z. B. Nichtraucherschutzgesetz, Anschnallpflicht für Autofahrer, Schutz‐ helmpflicht für Motorradfahrer, Promillegrenze im Straßenverkehr, rechtliche Vorschriften zum Emissionsschutz, des Schutzes vor Schad‐ stoffen, Lebensmittelüberwachung, Jugendschutzgesetz. Nicht immer lassen sich die einzelnen Methoden trennscharf unterscheiden, denn die Tabaksteuer z. B. stellt neben den Bonusprogrammen der gesetz‐ lichen Krankenkassen ein ökonomisches Anreiz- und Bonusprogramm dar, dass dazu beitragen soll, das gesundheitliche Risikoverhalten durch ökonomische Anreize einzudämmen. Für die zuvor beschriebenen Präventionsformen stehen unterschiedliche Instrumentarien zur Verfügung. Dabei wird anhand des Paragraf 1 des SGB V deutlich, welche Bedeutung die GKVn im Präventionsbereich einnehmen. 48 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="49"?> Dabei wird gleichermaßen der hohe Anspruch an die GKVn unter der Überschrift Solidarität und Eigenverantwortung deutlich: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Ver‐ sicherten. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzei‐ tige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu bei‐ tragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. Die Krankenkassen haben den Versicherten dabei durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken.“ Abb. 3: Beispiel für präventive Instrumentarien nach dem SGB V Gesundheitsorientierung One-size-fits-all -Interventionen mit niedrigem Risikostatus Target-group -Interventionen mit hohem Risikostatus Primärprävention Tertiärprävetion universelle Prävention selektive Prävention indizierte Prävention Bonusmodelle § 65a SGB V Setting-Prävention bzw. Betriebliche Gesundheitsförderung § 20 SGB V Hausarztmodell § 73b SGB V Disease- Management- Programme § 137 SGB V Integrierte Versorgung § 140 SGB V Krankheitsorientierung Sekundärprävention Abb. 3: Beispiel für präventive Instrumentarien nach dem SGB V Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Scherenberg/ Greiner 2008: 19. 49 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="50"?> Die → Abb. 3 gibt daher einen exemplarischen Überblick darüber, wie die Instrumentarien der GKVn zu den unterschiedlichen Präventionsformen eingeordnet werden können. Eine weitere Übersicht soll zur Vereinfachung darstellen, wie Präven‐ tionsinterventionen je nach Ziel und Zielgruppe innerhalb des SGB V verankert sind (→ Tab. 6). Dabei zeigt die hohe Anzahl an Paragrafen, wie stark präventiv agierende Institutionen an gesetzliche Regularien bei der Planung, Konzeption sowie Vermarktung von Präventionsinterventionen gebunden sind und an welcher Stelle die Gesetze berücksichtigt werden müssen. Primärprävention Sekundärprävention Tertiärprävention Zeitpunkt der Interven‐ tion vor Eintreten einer Er‐ krankung in Frühstadien einer Er‐ krankung nach Manifestation einer Erkrankung Ziel der In‐ tervention Verringerung der Inzi‐ denz von Erkrankungen, Risikominimierung oder -eliminierung medizinische Diagnose von zum Teil noch klinisch symptomlosen Frühstadien einer Er‐ krankung und deren er‐ folgreiche Frühbehand‐ lung Verhütung der Krank‐ heitsverschlimmerung, Vermeidung von blei‐ benden Funktionsverlus‐ ten und eingeschränk‐ ten Aktivitäten bzw. Teilhabe Adressaten der Interven‐ tion gesunde beziehungs‐ weise Personen ohne Symptome noch gesunde Personen mit manifesten, bereits auftretenden, unklaren oder noch ohne Sym‐ ptome Patientinnen und Patien‐ ten mit chronischer Be‐ einträchtigung Leistungen und Begriff‐ lichkeiten im SGB V § 20 Prävention § 20a Betriebliche Ge‐ sundheitsförderung § 20b Prävention arbeits‐ bedingter Gesundheits‐ gefahren § 20d Schutzimpfungen § 21/ 22 Verhütung von Zahnerkrankungen § 23/ 24 Medizinische Vorsorgeleistungen § 65a Bonus für ge‐ sundheitsbewusstes Ver‐ halten § 25 Gesundheitsunter‐ suchungen § 26 Kinderuntersu‐ chung § 40 Leistungen zur medizinischen Rehabili‐ tation § 42 Leistungen zur medizinischen Rehabili‐ tation für Mütter und Vä‐ ter § 43 Ergänzende Leistun‐ gen zur Rehabilitation § 137 g Zulassung struk‐ turierter Behandlungs‐ programme § 140a Integrierte Ver‐ sorgung Tab. 6: Präventionsebenen und Präventionsleistungen der GKV Quelle: Altgeld 2012: 12. 50 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="51"?> 1.2.5 Onlinemedien und Prävention Onlinemedien nehmen bei präventiven, gesundheitsfördernden sowie Mar‐ ketingmaßnahmen neben „traditionellen“ Medien (wie Print und Rundfunk), einen immer größeren Stellenwert ein. Dabei können unter Onlinemedien oder digitale (oder „neue“) Medien alle Medien zusammengefasst werden, die eine Multimedialität und damit Integration unterschiedlicher Medien in eine digitale Präsentation (Hypertextstruktur) und Interaktivität ermöglicht (vgl. Aufenanger 1999: 62). Wie die → Abb. 4 zeigt, können Onlineme‐ dienträger die für Präventions- und Marketingzwecke genutzt werden, in Websites, Social Media sowie mobile Medien, wie Smartphones oder Tablet, unterteilt werden. Abb. 4: Kategorisierung von Online-Medien Medien (Medienträger) OFFLINE ONLINE Print Zeitschriften und Zeitungen Rundfunk Fernsehen und Hörfunk Websites Allgemein und Fachforen Social Media Weblogs, Wikis, Social Networks Mobile Mobile Websites, Apps Abb. 4: Kategorisierung von Onlinemedien Quelle: Eigene Darstellung. Onlinemedien stellen für Nutzer eine zeit- und ortsunabhängige Informa‐ tionsquelle dar. Gemäß der ARD/ ZDF-Onlinestudie verfügen hierzulande 94 % (67 Millionen) der über 14-Jährigen über einen Internetanschluss, 76 % (54 Millionen) von ihnen nutzen im Durchschnitt täglich 136 Minuten das Internet (Frauen: 126 Minuten, Männer: 144 Minunten) (vgl. Bleisch/ Koch 2021: 461). Geht es um die Intensität, so sind 76 % täglich im Internet aktiv. 51 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="52"?> Während junge Menschen im Alter von 14-19 Jahren zu 100 % täglich das Internet nutzen, beträgt der Anteil bei älteren Menschen (60-69 Jahre) 62 % (vgl. Bleisch/ Koch 2021: 489). Zwar sind jüngere Altersgruppen online akti‐ ver, allerdings kommt es zunehmend zu einer Annäherung der sogenannten digitalen Kluft (digital divide) zwischen den Generationen, Geschlechtern und Schichten. Aus Präventionssicht zu berücksichtigen ist, dass trotz An‐ näherung der digitalen Kluft sozial benachteiligte oder ältere Menschen im Vergleich zu gut gebildeten und ökonomisch abgesicherten Schichten allein aus informationstechnologischen Gründen einen Partizipationsvorsprung haben. Andererseits sind gerade behinderte Menschen internetaffin, da sie das Internet im Vergleich zu Nichtbehinderten überdurchschnittlich nutzen, um so behindertenbedingte Nachteile kompensieren zu können (vgl. Cornelssen/ Schmidt 2008: 1). Neben der zunehmenden Verbreitung von gesundheitsbezogenen Inter‐ netseiten (wie z. B. ➽ www.e-coaches.de) haben Gesundheits-Apps eine zunehmende Bedeutung. Derzeit existieren weltweit mehr als 97.000 Ge‐ sundheits-Apps. Laut „Mobile health market report 2013-2017“ steigt diese Zahl allein monatlich um weitere 1.000 neuer Apps an, so dass der Markt pro Jahr um rund 25 % wächst (vgl. Research2Guidance 2016: 11; Research2Guidance 2013 zit. n. Househ et al. 2014: 97). Dabei ist die gesundheitsspezifische Zweckbestimmung sehr heterogen, wie die Daten‐ bank „MyHealthApps.net“ mit über 100.000 Apps zu unterschiedlichsten gesundheitsspezifischen Zweckbestimmungen (von z. B. Stress, Ernährung, Bewegung, Sucht bis hin zu Toilettenfinder für Behinderte) ( ➽ myhea lthapps.net; Stand 07.12.2021) bestätigt. Gesundheitsaffine Internetseiten und Apps stellen keine isolierten Maßnahmen dar, sondern werden nicht selten miteinander verknüpft. So können bspw. die im DiGA-Verzeichnis enthaltenen digitalen Gesundheitsanwendungen (bzw. „Apps auf Rezept“) zu unterschiedlichen Anwendungsgebieten (Brustkrebs, Multiple Sklerose, Tinnitus, Adipositas, Diabetes mellitus, Angststörungen, Depression und Alkoholabhängigkeit etc.) als „Stand-Alone“-Maßnahmen, als Bestandteil eines „Stepped-Care“-Konzeptes (als erster Schritt mehrerer möglicher Ver‐ sorgungsschritte) oder als Bestandteil eines „Blended-Care“-Konzeptes (in Kombination mit Face-to-Face-Maßnahmen) angeboten werden (vgl. Ebert/ Baumeister 2020: 743). Allerdings ist es bei Stand-Alone-Interventionen vorteilhaft einen „menschlichen Support“ anzubieten, da auf diese Weise die Adhärenz und damit der Therapieerfolg erhöht werden können. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass sich digitale Gesundheitsan‐ 52 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="53"?> wendungen zur Prävention und Gesundheitsförderung längst nicht mehr auf das Smartphone oder das Tablet beschränken, sondern andere neuere Technologien, wie bspw. Sprachassistenten (Amazon Alexa Skills etc.) und Virtual-Reality-Brillen (VR-Anwendungen) einschließen. Auch soziale Ro‐ boter (sogenannte „health buddies“) werden bereits zur Steigerung der Gesundheitskompetenz eingesetzt. Kommen neue Technologien zum Ein‐ satz, sollten potenzielle Risiken auf das jeweilige Medium, die Intervention sowie die Zielgruppe hin überprüft werden, da die Risiken sehr spezifisch ausfallen können. Beispielhaft genannt werden kann bei VR-Anwendungen die sogenannte „motion sickness“, „virtual reality sickness“ oder „simulator sickness“, deren Symptome der Reisekrankheit ähneln und sich als Schwin‐ del, Übelkeit und räumlicher Orientierungslosigkeit äußern können (vgl. Wojciechowski/ Blaszczyk 2019: 318). Zudem sind soziale Roboter bewusst oft klein, niedlich und puppen- oder kinderähnlich, da elektronische Geräte, die wie Menschen agieren und so aussehen, als gruselig wahrgenommen werden. Diese Diskrepanz zwischen Erscheinen und Kompetenz wird als „uncanny valley“ bezeichnet (vgl. Becker 2018: 236). Linktipps DiGA-Verzeichnis: ➽ diga.bfarm.de Sprachskill von Alexa (Kategorie: Alexa Skills à Gesundheit & Fitness): ➽ www.amazon.de VR-Anwendungen (Stichwort: health, fitness etc.): ➽ www.oculus.de Diabetes-Health-Buddy zur Gesundheitskompetenz bei Kindern: ➽ www.jerrythebear.com Krebs-Health-Buddy zur Vorbereitung auf medizinische Eingriffe für Kinder: ➽ www.aflacchildhoodcancer.org Demenz-Health-Buddy zur sozialen Unterstützung älterer Menschen: ➽ www.mymabu.com 1.2.6 Gamification und Serious Games als spielerischer Zugang zu Präventionsthemen Unter Gamification (zu Deutsch: Spielifizierung) wird übergreifend die Nutzung von spielerischen Designelementen in Nichtspielkontexten ver‐ standen (vgl. Deterding et al. 2011: 9). Zu nennen sind bspw. Belohnungs‐ systeme in Form von Auszeichnungen oder Ranking-Listen, wie sie bei 53 1.2 Prävention und Gesundheitsförderung <?page no="54"?> Gesundheits-Apps bzw. Tracking-Apps durch die Koppelung mit Social Media (z. B. Facebook) integriert werden (→ Kapitel 3.4.1). Dabei ist zu beachten, dass Rankings in sozialen Medien oder Challenges eher bereits gesundheitsaffine Menschen motivieren. Menschen mit derzeit schlechtem Gesundheitsverhalten und einem schlechten Gesundheitszustand und ohne Anspruch auf Höchstleistungen werden wenig ermutigt, ihr Gesundheits‐ verhalten zu verändern (vgl. Scherenberg 2015: 146). Auch die Verknüpfung mit klassischen Präventionsinterventionen, wie die präventiven Bonuspro‐ gramme mit Tracking-Apps der gesetzlichen Krankenkassen, können als eine Form des Gamification verstanden werden. Gamification-Elemente bei Präventionsinterventionen werden daher vor allem aus Motivations- und Marketinggründen eingesetzt. Vom Gamification zu unterscheiden sind Serious Games, bei denen Lerninhalte in einen spielerischen Kontext gestellt werden. Damit gehen Serious Games über den Spielzweck mithilfe von Entertainment-Elementen hinaus. Im Kontext der Prävention und Gesundheitsförderung werden gesundheitsspezifische Aufklärungsinhalte, wie bspw. Informationen über Gesundheitsrisiken, spielerisch vermittelt. Zusammenfassend wird die unterhaltsame Vermittlung von Botschaften unter den Begriffen Edutainment (Education und Entertainment) und Info‐ tainment (Information und Entertainment) zusammengefasst. Interventio‐ nen, die auf spielerische Weise gesundheitliche Inhalte vermitteln, werden wiederum unter der Wortschöpfung health edutainment oder health‐ tainment subsummiert. Kritisch wird bei der Integration von Edutainment und Infotainment angemerkt, das eher die Illusion einer Informiertheit und keine wirkliche Informiertheit stattfindet. Denn überdosierte Unterhal‐ tungseffekte können von den inhaltlichen Aspekten ablenken und behin‐ dern so die ursprüngliche Intention (vgl. Sacher 2000: 95). Wohl dosiert und sinnvoll eingesetzt können Health-edutainment-Elemente mithilfe von Podcasts, Filmen, praktischen Checklisten, Fragebögen oder Selbsttests (z. B. Selbsttests zu Computerspiel- und Internetsucht, Herzinfarkt-Risikobewer‐ tung, Body-Mass-Index- oder Nichtraucher-Rechner) einen Beitrag zur Aufklärung und Sensibilisierung des eigenen Verhaltens beitragen. Beson‐ ders wirksam sind Health-edutainment-Elemente dann, wenn sie nicht nur auf gesundheitliche Risiken, sondern auf positive Gesundheitsgewinne auf‐ merksam machen. Beispielsweise zeigen Gewinnrechner bei Nichtrauche‐ rinterventionen die gesundheitlichen und ökonomischen „Gewinne“ seit der letzten Zigarette aus, um die einmal getroffene Entscheidung zu bestärken. Entsprechend sollten sich informative und methodische Elemente nicht auf 54 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="55"?> die Darstellung bestehender Defizite beschränken, sondern die Vermittlung positiver Botschaften sowie der Integrationen von Handlungsempfehlun‐ gen zur Verhaltensumstellung und Rückfallprophylaxe beinhalten. Aus der wissenschaftlichen Forschung ist bekannt, dass Frauen im Vergleich zu Männern einen besonderen Wert auf fördernde und instrumentelle Unterstützung legen und diese aktiv suchen, dabei ist ihnen die Hilfe zur Selbsthilfe besonders wichtig (vgl. Blättner 1998: 144). ✺ Zusammenfassung Prävention und Gesundheitsförderung versuchen sowohl die soziale, psy‐ chische als auch die physische Gesundheit positiv zu beeinflussen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Reduzierung chronischer Krankhei‐ ten gelegt. Auf gesundheitspolitischer Ebene wurden vielfache Maßnahmen ergriffen, um Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu fördern. Zu nennen ist insbesondere die Einführung des Präventionsgesetzes. Neben einer Vielzahl an staatlichen und halbstaatlichen Akteuren sind zunehmend nichtstaatliche Akteure aktiv. Die Triebfeder des präventiven Handelns ist je nach Interessenslage der Akteure sehr vielfältig und neben der Steigerung des gesundheitlichen Wohlergebens oft ökonomischer Natur (z. B. Kosteneinsparungen, Potenzialausschöpfungen, Umsatzsteigerung). Interventionen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung für unterschiedliche Zielgruppen werden dabei nicht nur über spezifische Set‐ tings (z. B. Schule, Betriebe), sondern zunehmend über Onlinemedien (z. B. Webseiten, Gesundheits-Apps) initiiert. Dabei werden bereits im Bereich des E-Learnings eingesetzte Elemente (z. B. Gamification, Serious Games) dazu genutzt, um die Motivation in Richtung einer gesundheitsförderlichen Verhaltensweise zu steigern. ✺ Wichtige Schlagwörter Salutogenese, Lifestyle-Faktoren, chronische Erkrankungen, Infektions‐ krankheiten, Präventionsdilemma, Gesetze, Akteure, Präventionsformen, Onlinemedien, Gesundheits-Apps 55 ✺ Zusammenfassung <?page no="56"?> ✺ Wiederholungsfragen 1. Was wird unter dem Begriff Salutogenese verstanden? 2. Warum sind Gesundheitssurveys für die Initiierung von Präventions‐ marketingmaßnahmen von Bedeutung? 3. Welche wirtschaftlichen Argumente können für Präventionsmaßnah‐ men im Bereich der Betrieblichen Gesundheitsförderungen angebracht werden? 4. Welche Gesetze sind bei der Primärprävention zu beachten? 5. Was unterscheidet Gamification von Serious Games? ✺ Literaturempfehlung Dockweiler Ch, Fischer F (Hrsg.) (2019). ePublic Health - Einführung in ein neues Forschungs- und Anwendungsfeld. Göttingen: Hogrefe Verlag. Oberender P, Zertth J, Engelmann A (2017). Wachstumsmarkt Gesundheit. 4. Auflage. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Traidl-Hoffmann C, Schulz Ch, Herrmann M, Simon B (Hrsg.) (2021). Planetary Health: Klima, Umwelt und Gesundheit im Anthropozän. Berling: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Vogel P, Schaub G (2021). Seuchen, alte und neue Gefahren - Von Pest bis COVID-19. Wiesbaden: Springer Verlag. 56 1 Einführung: Gesundheit und Prävention als Gegenstand des Marketings <?page no="57"?> 2 Spezifische Herausforderungen des Präventionsmarketings Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ welche spezifischen Herausforderungen bei der Erreichung von Risikozielgruppen zu beachten sind. ■ auf welche veränderte Logik moderne Präventionsinterventionen bauen (sollten). ■ wie motivationale Ziele beschaffen sein müssen, um handlungsre‐ levant zu werden. 2.1 Präventionsdilemma Die größte Herausforderung von Präventionsmaßnahmen stellt die Über‐ windung des Präventionsdilemmas (auch bekannt als Präventions-Paradox) dar. Denn die Bevölkerungsgruppen mit dem größten Krankheitsrisiko sind immer noch schwer mit Präventionsmaßnahmen zu erreichen (vgl. Hurrelmann 2003: 118; Bauer 2005: 73 ff.). Die Erklärung für dieses Dilemma und der damit verbundenen gesundheitlichen Ungleichheit wird laut so‐ zioökonomischen Analysen in der sozioökonomischen Lage gesehen (vgl. Mielck 2000: 361). Dabei beeinflusst neben der Höhe des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens insbesondere die subjektiv-erlebte Armut die Lebenserwartung und die gesundheitliche Lage des Einzelnen. Denn bei einem Anstieg der Arm-Reich-Kluft zwischen den sozialen Schichten erhöht sich der Frustrationslevel unterer sozialer Schichten (vgl. Wilkinson 1996: 88 f.; De Vogli et al. 2005: 160 ff.; Helmert et al. 2000: 20). In Bezug auf die auslösenden Faktoren sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten existieren zwei gegenläufige Ansätze, ob <?page no="58"?> ■ der sozioökonomische Status die Gesundheit (Verursachungs- oder Kausalhypothese) oder eher ■ der Gesundheitszustand zu einem sozialökonomischen Abbzw. Auf‐ stieg (Drift- oder Selektionshypothese) führt (vgl. Rugulies et al. 2007: 48). Heinzel-Gutenbrunner kam in einem sozioökonomischen Panel (SOEP) zu dem Ergebnis, dass bei Erwachsenen eher eine soziale Selektion vorliegt. Folglich erhöht eine chronisch schlechte Gesundheit das Armutsrisiko. Bei Kindern liegt vorwiegend ein Kausaleffekt vor, denn wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener auch eher einen schlechteren Gesundheits‐ zustand (vgl. Heinzel-Gutenbrunner 2000: 42 ff.). Allergien stellen eine Ausnahme dar, da gerade Kinder aus Familien aus sozial niedrigen Schichten eine signifikant niedrigere Allergieprävalenz aufweisen (vgl. Schlaud et al. 2007: 705 ff.). Doch gesundheitliche Ungleichheiten (health inequity) werden nicht allein durch sozioökonomische Faktoren (wie bspw. Bildung, berufliche Status, Einkommen; vertikale soziale Ungleichheit), sondern auch durch horizontale soziale Ungleichheiten (bspw. Alter, Geschlecht, Ethnizi‐ tät, Familienstand) ausgelöst (vgl. Hradil 1987: 116 ff.). Soziale horizontale und vertikale Ungleichheiten beeinflussen einander, da ungünstige sozial‐ strukturelle Faktoren hervorgerufen durch einen Mangel an Einkommen, Bildung, Partizipationschancen, Anerkennung und sozialer Ressourcen (strukturierte soziale Ungleichheit) (vgl. Krekel 2004: 19 f.) auch negative Effekte auf sozialer und gesundheitlicher Ebene hervorrufen können (vgl. Mielck 2002: 54). Exkurs ∣ Auch Reichtum macht krank! Die Diabetesrate liegt weltweit bei 10,5 % (2021) und wird laut ei‐ ner Hochrechnung auf 12,2 % im Jahr 2045 steigen (vgl. IDF 2021: 33). Während hierzulande chronische Krankheiten, z. B. Lungenkrank‐ heiten (Asthma bronchiale und COPD), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck oder Arteriosklerose) sowie Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus, tendenziell eher bei niedrigem sozioökonomischem Status vorkommen, zeigt sich bei Be‐ wohnern von pazifischen Inseln ein anderes Bild. Das Feld der höchsten Diabetesrate weltweit führen Pakistan (30,8 %), Französisch-Polynesien 58 2 Spezifische Herausforderungen des Präventionsmarketings <?page no="59"?> (25,2 %) und Kuweit (24,9 %) an (vgl. IDF 2021: 38). Typisch für diese Länder ist, dass die Verwestlichung der Ernährungsweisen zu einem drastischen Anstieg der Diabetesrate geführt hat. Das Beispiel der Insel Nauru (23,4 %) zeigt dies: Durch den Abbau von Phosphatvorkommen stieg der Wohlstand dort rasch an und verdrängte die traditionelle Lebens- und Ernährungsweise. Da Fettleibigkeit auf dieser Insel zudem als ein Symbol für Reichtum und einen höheren sozialen Status gilt, nahm das Gewicht und die Diabetisrate deutlich zu (siehe auch Dowse et al. 1995). Der Exkurs macht deutlich, dass die Wertvorstellungen und Überzeugun‐ gen einer kulturellen Gesellschaft mit dafür verantwortlich sind, welche ungesunden oder gesunden Verhaltensweisen Menschen der jeweiligen Gemeinschaft aufweisen. Die Beurteilung gesundheitlichen Verhaltens ist immer auch modischen, sich schnell wandelnden Trends unterworfen. Wie das Beispiel Rauchen hierzulande zeigt, kann sich eine Wertvorstellung gegenüber Verhaltensweisen im Laufe der Zeit stark ändern. Galt das Ziga‐ retten Rauchen in den 1950er-Jahren noch als modern, kann Rauchen heute als weitgehend gesellschaftlich verpönt angesehen werden. Anzumerken ist, dass Menschen, die sich nicht gesellschaftskonform verhalten, unter hohen Druck geraten und mitunter ausgegrenzt werden, wenn sie die durch die Werbung propagierten Trends nicht befolgen (vgl. Scherenberg/ Glaeske 2010: 53). Denn gesundheitsbewusste Verhaltensweisen hängen stark von den sozialen Verhältnissen ab, in denen Menschen aufgewachsen sind und leben. Damit steigt die Gefahr einer Schuldzuweisung (victim blaming) insbesondere sozial benachteiligter Gruppen. Dies zeigt, dass Präventionsin‐ terventionen und damit präventionsbezogene Marketingmaßnahmen auch immer eine ethische Dimension beinhaltet. Grundsätzlich sollte bei der Pla‐ nung daher genauestens eruiert werden, wie die alters-, geschlechts-, migra‐ tions- und schichtspezifische Ausgangslage ist, um marketingstrategische Maßnahmen für Präventionsinterventionen einleiten zu können, die (Ri‐ siko-)Zielgruppen erreichen, die bisher besonders vom Präventionsdilemma betroffen sind. Über das Inanspruchnahmeverhalten in den Bereichen der Früherkennung, der zahnmedizinischen Vorsorge, der Primärprävention oder dem Impfverhalten gibt bspw. die Gesundheitsberichterstattung des Bundes ( ➽ www.gbe-bund.de, siehe Gesundheitsvorsorge) einen guten Ein‐ blick. 59 2.1 Präventionsdilemma <?page no="60"?> 2.2 Legitimationsdruck und Wettbewerbsdruck der Akteure Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens stellt ein dauerhaftes konfliktträchtiges Thema mit unbestimmtem Ausgang dar. Nach Aussagen der OECD ist es bisher nach der Einführung des Wettbewerbs im Gesund‐ heitswesen keinem Land gelungen, dass dadurch entstandene Trade-off zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Effizienz zu lösen (vgl. OECD 2008: 168). Eine Gemeinnützigkeitsorientierung muss aus der Sicht der Akteure im Gesundheitswesen nicht grundsätzlich im Wider‐ spruch zur Eigennutzmaximierung stehen. Im Gegensatz zu kurzfristigen Konkurrenzvorteilen stellt die Gemeinnutzorientierung die Voraussetzung für die langfristige Überlebensfähigkeit dart. Denn der moralische Legiti‐ mationsdruck der Akteure im Gesundheitswesen ist auf eine gestiegene Konsumentensensibilität und die damit verbundenen Diskrepanzerfahrun‐ gen der Öffentlichkeit zurückzuführen und kann damit als neue Wettbe‐ werbsdimension angesehen werden. Ein solcher Legitimationsdruck hat in anderen Branchen (z. B. Umwelt- und Bankenwesen) längst Einzug gehalten und kann als Treiber des Corporate-Social-Responsibility-Trends angesehen werden. Denn verkaufsfördernde Empfehlungsdienste oder Ver‐ käuferbewertungen beschränken sich längst nicht mehr auf den Konsum‐ gütermarkt (z. B. Amazon, eBay). User-generierte Erfahrungsberichte über die Akteure des Gesundheitswesens sowie deren gesundheits- und präventionsbezogene Dienstleistungen sind in Bewertungsplattformen und Bewertungsforen (z. B. Ciao, Dooyoo, Jameda) zunehmend zu finden. Dabei fallen die subjektiven Meinungsäußerungen und Werturteile unter den § 5 des deutschen Grundgesetzes der Meinungsfreiheit. Diese können als Anregungen für die Eigenentwicklung und Fortentwicklung von eigenen Präventions- und Marketingmaßnahmen dienen und können aufgrund der hohen Verbreitung die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit von Produkten und Dienstleistungen, Institutionen bis hin zu ganzen Branchen beeinflussen. Aufgrund der möglichen negativen Auswirkungen auf die Wahrnehmung von (potenziellen) Teilnehmern, Mitarbeitern oder auch (potenziellen) Ko‐ operationspartnern, sollten user-generierte Erfahrungsberichte keineswegs unterschätzt werden. Daher sollten kurzfristige ökonomische Vorteile von Marketingmaßnahmen, wie es bspw. bei einem Einsatz von extrinsischen Anreizen (wie Boni, Rabatte, Incentives etc.) der Fall ist, immer im Hinblick auf die langfristigen ökonomischen Folgen überprüft werden. Denn Men‐ schen gewöhnen sich leicht an ein bestimmtes Reizniveau. Die mögliche 60 2 Spezifische Herausforderungen des Präventionsmarketings <?page no="61"?> Folge ist, dass bei der Fokuslegung auf externe Anreize eine Suche nach neuen und immer stärkeren Reizen (das sogenannte variety seeking) erfolgt, zur Stimulierung immer aufmerksamkeitsstärkere Anreize bei Prä‐ ventions- und Marketingmaßnahmen notwendig sind und mitunter ein Wechselverhalten ausgelöst wird (vgl. McAllister/ Pessemir 1982: 313). 2.3 Paradigmenwechsel der Prävention Auch heute ist Prävention immer noch stark geprägt von einer Defizit- und Problemorientierung. Die weitverbreitete Präventionslogik der Krankheits‐ vermutung führt automatisch zu einer Inkompetenzvermutung, bei der die Kompetenzvermutung in den Hintergrund rückt (vgl. Lindner/ Freund 2001: 76). Ein solch eher misstrauens- und verdachtsgeleiteter Blick hat zur Folge, dass menschliche Stärken in den Hintergrund rücken. Denn ohne Zweifel sind Menschen gewillt, ihren mitunter gesundheitsschädigenden Lebensstil zu verändern. Der alleinige Fokus auf Probleme und Defizite reduziert allerdings die Chance, dass Menschen - durch eine gezielte Lösungs-, Res‐ sourcen- und Kompetenzorientierung präventiver Maßnahmen - ermutigt werden, ihren Lebensstil zu ändern. Eine lösungs- und ressourcenorientierte Perspektive setzt den Hinweis auf Lernstrategien voraus. Eine Abkehr einer Problem- und Defizitorientierung ist wichtig, da in Abhängigkeit davon, ob Lernvorgänge aus Lust oder unter Angst getägtig werden, in unserem Gehirn unterschiedliche Areale angesprochen werden. Denn werden Vorgänge unter Angst erlernt, erfolgt ein erneuter Abruf der im Mandelkern abgespeicherten Lerninhalte auch nur in Verbindung mit dem jeweiligen Angstkontext. Wird hingegen aus Freude gelernt, erfolgt die Abspeicherung des Gelernten an einer Stelle im Gehirn, bei der die Inhalte mit kreativen, entwicklungs- und wachstumsorientierten Aspekten gekoppelt sind (vgl. Spitzer 2004: 9). Denn „was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen“ (Spitzer 2002: 160). Eine positive gefühlsmäßige Beteili‐ gung verbessert den Lernprozess und sorgt dafür, dass die Wahrnehmung auf die Lösungs- und Ressourcenorientierung gelenkt wird. Entsprechend gehen höhere Bewältigungskompetenzen mit erlebten Belastungen und dessen Konsequenz einher. Die subjektive Bewertung von Belastungen (cognitive appraisal) und die anschließende Belastungsbewertung (co‐ ping), die sich negativ auf die Gesundheit auswirken kann, werden von 61 2.3 Paradigmenwechsel der Prävention <?page no="62"?> personalen (z. B. Werten, Kontrollüberzeugungen, Motivationsmustern oder Zielen) und situationalen Faktoren (z. B. Kontrollierbarkeit des Stressors, Vorhersagbarkeit und Unsicherheit einer Situation, Dauer oder Art des Stressors) beeinflusst (vgl. Krohne 1997: 269 ff.). Die Bedürfnisdimensionen sind daher nicht bipolar, sondern stellen zwei voneinander unabhängige Motivationssysteme (Lustgewinn und Unlustvermeidung) dar (vgl. Bamber‐ ger 2005: 286). Motivationale Ziele lassen sich dabei in Annäherungsziele (sogenannte „Hin-zu“-Ziele; die mit positiven Emotionen einhergehen) und Vermeidungsziele („Weg-von“-Ziele; die mit negativen Emotionen verbunden sind) unterteilt (vgl. Grosse-Holtforth/ Grawe 2000: 170 f.). In der → Tab. 7 finden Sie ein konkretes Beispiel dafür, wie ein Annährungs- und Vermeidungsziel bei Rauchern aussehen kann und welche unterschiedlichen Dimensionen sich hinter den beiden motivationalen Zielen verbergen bzw. wahrgenommen werden können. Die Dimensionen wurden zur therapiere‐ levanten Ermittlung von Annährungs- und Vermeidungszielen zur Selbst- und Fremdeinschätzung von Grosse-Holtforth und Grawe mithilfe des „Fragebogens zur Analyse Motivationaler Schemata (FAMOS)“ entwickelt. Annäherungsziele Vermeidungsziele Beispiel: „Ich werde frei von der Sucht sein und mehr Geld haben! “ Beispiel: „Ich werde nicht mehr rauchen und mich ausgegrenzt fühlen! “ Dimensionen: Intimität/ Bindung, Affi‐ liation/ Geselligkeit, Altruismus, Hilfe, Anerkennung/ Bestätigung, Status, Au‐ tonomie, Leistung, Kontrolle, Bil‐ dung/ Verstehen, Glauben/ Sinn, Ab‐ wechslung, Selbstvertrauen und Selbstbelohnung. Dimensionen: Alleinsein/ Trennung, Geringschätzung, Erniedrigung/ Bla‐ mage, Vorwürfe/ Kritik, Ab‐ hängigkeit/ Autonomieverletzung, Verletzung/ Spannung, Schwäche/ Kon‐ trollverlust, Hilflosigkeit und Versagen. Tab. 7: Annäherungs- und Vermeidungsziele Quelle: Grawe 200: 170ff. Formulieren Menschen negativ-assoziierte Vermeidungsziele, kann dies eine erhöhte Angst, eine reduzierte Lebenszufriedenheit und eine schwä‐ chere Gesundheit zur Folge haben (vgl. Gollwitzer/ Moskowitz 1996: 367). Darüber hinaus neigen Menschen mit Vermeidungszielen dazu, sich weniger kompetent zu fühlen, ihre Handlungsziele umzusetzen. Ein geschmälertes Kompetenz- und Kontrollerleben hat zudem Auswirkungen auf das sub‐ jektive Wohlbefinden (vgl. Elliot/ Sheldon 1997: 178 f.). Damit Ziele den 62 2 Spezifische Herausforderungen des Präventionsmarketings <?page no="63"?> sogenannten Rubikon passieren können und damit aus ihnen eine Absicht wird, sind starke positive Emotionen und nicht die Verminderung positiver Gefühle notwendig (vgl. Storch 2006: 173). Denn oft ist das Ergebnis von Vermeidungszielen ein dauerhaftes schlechtes Gewissen, da Ziele nicht um‐ gesetzt werden. Elliot und Sheldon warnen: „[…] the adoption of avoidance goals must be considered a psychological vulnerability in that it places one at risk for a host of negative experience and outcomes” (Elliot/ Sheldon 1997: 182). Den Grund für die negativen Begleiterscheinungen von Vermeidungs‐ zielen sehen Neurowissenschaftler darin, dass Vorstellungsbilder die Basis für geistige Funktionen bilden (vgl. Damasio 1994: 130). Denn alles was vermieden werden soll, muss zuvor mental repräsentiert werden, damit das neuronale Netz den unerwünschten Zustand aktivieren kann. Doch gerade negative Vorstellungsbilder steigern die Wahrscheinlichkeit, dass Nichtgewolltes eher handlungsrelevant wird. Annäherungsziele verfolgen wiederum - durch die im Gehirn positiv erzeugten Vorstellungsbilder - den direkten Weg des Zustandes, der angestrebt wird. Das neuronale Netz wird aktiviert und infolgedessen die Wahrscheinlichkeit des erwünschten Verhaltens erhöht. Ein Beispiel für die Darstellung für Annährungsziele im Bereich der Prävention stellt die Werbekampagne „Eatkarus“ für gesunde Ernährung von Edeka ( ➽ www.youtube.de - Eatkarus) dar, die ethische Grenzen überzog (siehe Merkur 2017). Die Kampagne „Sweet Kills“ der Diabetes Association of Thailand stellt ein Beispiel für die Darstellung von Vermeidungszielen dar ( ➽ www.ufunk.net/ design/ sweet-kills). Hand‐ lungswirksame Ziele stellen immer auch die Bewältigung individueller Probleme dar. Allerdings stößt die Zukunft der Prävention immer dann auf unlösbare Probleme, wo die Instabilität der Lebensentwürfe und Lebensla‐ gen überhand gewinnt (vgl. Lindner/ Freund 2001: 80). Die beschriebenen motivationspsychologischen Hintergründe spielen bei der Gestaltung von Marketingmaßnahmen für Präventionsinterventionen für die Teilnehmer‐ gewinnung und -bindung eine entscheidende Rolle, wie das → Kapitel 3.4 noch deutlicher zeigen wird. ✺ Zusammenfassung Präventionsinterventionen sollten insbesondere die Bedürfnisse von Risi‐ kozielgruppen berücksichtigen. Oftmals werden Präventionsinterventionen von sogenannten healthy user nachgefragt, die ohnehin ein positives 63 ✺ Zusammenfassung <?page no="64"?> Gesundheitsverhalten aufweisen. Die Berücksichtigung des Präventionsdi‐ lemmata, bei der insbesondere Risikogruppen anvisiert werden, ist von Bedeutung, da insbesondere Institutionen mit einer präventiven und da‐ mit sozialen Zweckbestimmung in der Öffentlichkeit ihren Unternehmens‐ zweck legitimieren müssen. Der Fokus des Marketings auf den alleinigen „Absatz“ von Präventionsinterventionen kann Imageschäden verursachen und die öffentliche Glaubwürdigkeit negativ beeinflussen. Inhaltlich sollte die Gestaltung die Trendwende im Bereich der Prävention und damit die Abkehr einer Problemorientierung berücksichtigen. Wurden inhaltliche Botschaften zur Erreichung von insbesondere Risikogruppen in der Vergan‐ genheit oft defizit- und problemorientiert mithilfe von Angstappellen vor‐ genommen, zeigen neuere gesundheitspsychologische Erkenntnisse, dass ressourcen- und lösungsorientierte Ansätze bei Zielgruppen durch eine höhere Motivation bessere Wirkungseffekte erzielen. Auch die Erkenntnisse des Neuromarketings sollten Berücksichtigung finden, um u. a. alters- und geschlechtsspezifische Motivlagen und Bedürfnisse die Zielgruppen adäquat zu berücksichtigen. ✺ Wichtige Schlagwörter Präventionsdilemma, Legitimationsdruck, Paradigmenwechsel, Lösungsori‐ entierung, Problemorientierung, victim blaming, Vermeidungsziele, Annäh‐ rungsziele ✺ Wiederholungsfragen 1. Was wird unter dem Begriff victim blaming verstanden? 2. Wie hat sich die Präventionslogik verändert? 3. Welche unterschiedlichen Präventionsklassifikationen existieren? 4. Welche methodischen Instrumentarien kommen in der Prävention zum Einsatz? 5. In welche Kategorien können motivationale Ziele unterteilt werden? 64 2 Spezifische Herausforderungen des Präventionsmarketings <?page no="65"?> ✺ Literaturempfehlung Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J (Hrsg.) (2014). Lehrbuch Prävention und Gesund‐ heitsförderung. Bern: Hans Huber Verlag. Scherenberg V (2011). Nachhaltigkeit in der Gesundheitsvorsorge: Wie Krankenkas‐ sen Marketing und Prävention erfolgreich verbinden, Springer Verlag, Heidel‐ berg. 65 ✺ Literaturempfehlung <?page no="67"?> Abschnitt II: Hintergründe und Entwicklungen des Gesundheitsmarketings <?page no="69"?> 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ wie sich Gesundheitsmarketing entwickelt hat und was sich hinter dieser neuen Disziplin verbirgt. ■ welche Besonderheiten beim Gesundheits- und Präventionsmarke‐ ting zu beachten sind. ■ welche gesundheits- und neuropsychologischen sowie rechtlichen Aspekte bei der Entwicklung von Maßnahmen im Bereich des Präventionsmarketings beachtet werden sollten. 3.1 Entwicklungslinien und Grenzen des Gesundheitsmarketings Gesundheitsmarketing kann als eine Teildisziplin des Sozialmarketings (oder soziales Marketing) angesehen werden. Dabei wird die Geburtsstunde des Sozialmarketings vor mehr als 55 Jahren oft mit der rhetorischen Frage: „Why can’t you sell brotherhood like you sell soap? “ verbunden (vgl. Wiebe 1952 zit. n. Dichtl/ Helm 2002). Denn Sozialmarketing als Teil des übergrei‐ fenden Non-Profit-Marketings (oder auch NPO-Marketings) beschäftigt sich mit „as a design, implementation, an control of programs calculated to influence the acceptability of social ideas an involving considerations of product planing, price, communication, distribution, and marketing research“ (Kotler/ Zaltman 1971: 12). Diese Definition orientiert sich stark an klassischen Marketingdefinitionen, daher definierten Wiedmann und Raffée Sozialmarketing allgemeiner als „Marketing für aktuelle soziale Ziele und Ideen“ (Wiedmann/ Raffée 1995: 4), da Sozialmarketing „einen Beitrag zur Verwirklichung des Gegenmachtprin‐ <?page no="70"?> zips“ leisten soll und „damit ein wirksames Korrekturinstrument zum kom‐ merziellen (Sozio-)Marketing zur Verfügung“ stellt (Raffée et al. 1983: 749 f.). Damit zielt das Sozialmarketing, im Vergleich zum kommerziellen Marke‐ ting und den Beeinflussungsversuchen zugunsten von Unternehmenszielen, auf die Verwirklichung ideeller Ziele und Motive und soziales und gesell‐ schaftliches Engagement zugunsten der Allgemeinheit in den Mittelpunkt des Marketinggeschehens ab. Im Vergleich zum kommerziellen Marketing wird daher stärker auf Überzeugung als auf die Überredung gesetzt, um Denk- und Verhaltensweisen zu beeinflussen und Stärken und Schwächen darzustellen. Zwar werden auch im Sozialmarketing Techniken des kom‐ merziellen Marketings eingesetzt, allerdings nur, um ein öffentliches Anlie‐ gen zu realisieren und eine Einstellungs- und Verhaltensänderungen zu erzielen. Marketing zur Verbreitung gesellschaftlicher Ideen im Interesse der Allgemeinheit können sich folglich nicht nur auf den „Absatz“ z. B. präven‐ tiver und gesundheitsförderlicher Interventionen beziehen, sondern auch auf die langfristige gesundheitliche Verhaltensmotivierung und Verhaltens‐ änderung von Rezipienten. Oft genutzte Formen des Sozialmarketings stellen das Reduktionsmarketing, das Kontramarketing sowie das Stimulie‐ rungsmarketing dar. Beim Reduktionsmarketing (oder De-Marketing) geht es darum, Marketingaktivitäten zu initiieren, die darauf abzielen, eine übersteigerte Nachfrage nach einem Produkt (z. B. Zigarettenkonsum) zu reduzieren. Das Kontramarketing (oder Countermarketing) geht noch einen Schritt weiter, indem eine als schädigend empfundene Nachfrage vollkommen aufgelöst werden soll (z. B. Drogenkonsum). Beim Stimulie‐ rungsmarketing (oder Anreizmarketing) hingegen wird versucht, für eine fehlende Nachfrage (z. B. gesunde Nahrungsmittel) Anreize zu schaffen (vgl. Schauer 2015: 165). Um die Bandbreite möglicher Themen beispielhaft zu verdeutlichen, werden im Folgenden die unterschiedlichen Themen von Kampagnen im Bereich des Sozialmarketings dargestellt (vgl. Kotler et al. 2015: 793) ■ Kognitive Kampagnen: Kognitive Kampagnen setzen auf der Ebene der Wissensvermittlung, sprich der gesundheitlichen Aufklärung an und haben zum Ziel, das Bewusstsein gegenüber spezifischen Präven‐ tionsthemen (z. B. Zuckeranteil bei bestimmten Nahrungsmitteln) zu schärfen. ■ Handlungsorientierte Kampagnen: Handlungsorientierte Kampa‐ gnen (oder Handlungskampagnen) versuchen, bei der anvisierten Ziel‐ 70 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="71"?> gruppe kurzfristig eine konkrete gesundheitsförderliche Handlung aus‐ zulösen (z. B. Teilnahme an Impfkampagnen). ■ Verhaltenskampagnen: Verhaltenskampagnen (oder Verhaltensän‐ derungskampagnen) zielen darauf ab, eine langfristige Verhaltensände‐ rung bei den Empfängern auszulösen (z. B. Reduzierung des Zigaretten- oder Alkoholkonsums). ■ Wertekampagnen: Wertekampagnen (bzw. Kampagnen zur Verände‐ rung des Wertesystems) haben zum Ziel, Vorstellungen, Einstellungen und Vorurteile zu bestimmten Themen positiv zu beeinflussen und zu verändern (Beispiel: Homosexuelle, Ausländer etc.). Der Einsatz von Marketingmethoden zur Verwirklichung übergeordneter Ziele findet verstärkt in einem verschärften Wettbewerb und mit knappen finanziellen Mitteln statt. Oft sind der gesundheitlichen Beeinflussung von Menschen (z. B. im GKV-Markt) definierte Grenzen (siehe § 20a SGB V) gesetzt. Da im GKV-Bereich eine steigende Anonymität durch die markterosionsbedingte Vergrößerung der Kassen beobachtet werden kann, erschwert diese Marktveränderung die Versichertenbeeinflussung. Denn die entstandene Pluralität und Fragmentierung hat zur Folge, dass spezifische Zielgruppen eindeutiger angesprochen werden müssen (vgl. Gromberg 2006: 23). Dies trifft nicht nur für die GKVn zu, sondern angesichts der steigenden Angebote auf dem Präventionsmarkt auf alle Anbieter. Damit stellt Sozialmarketing zugleich ein Beziehungsmarketing dar (vgl. Luthe 1997: 236 f.). Allerdings können die Wirkungen des Sozialmarketings ge‐ schwächt werden, wenn es aufgrund personalisierter Werbeaktivitäten auf der Nachfrageseite aufgrund der Reizüberflutung verstärkt zu Ablehnungen kommt, die unterschiedliche negative Effekte auslösen können (vgl. Stauss 2002: 26 ff.): ■ Belästigungseffekt: Eine verstärkte Kommunikation und Motivati‐ onsaufforderung im Sinne der Erreichung gesundheitlicher Ziele kann trotz sozialer Intention unerwünscht sein und mitunter als Belästigung und Bevormundung empfunden werden. Dies kann dazu führen, dass die Bemühungen fruchtlos sind, im äußersten Fall kontraproduktive Effekte hervorrufen und so Kosten ohne Nutzen verursachen. ■ Indiskretionseffekt: Um die Menschen persönlich ansprechen und motivieren zu können, werden persönliche Daten benötigt. Die Verwen‐ dung persönlicher Daten zur individuellen Behandlung kann mitunter als indiskret empfunden werden und Ablehnung auslösen. 71 3.1 Entwicklungslinien und Grenzen des Gesundheitsmarketings <?page no="72"?> ■ Fesselungseffekt: Eine Überbewertung von Marketingkomponenten mit Bindungscharakter im Rahmen des Sozialmarketings kann als Fesselung wahrgenommen werden. Diese empfundene Fesselung kann in eine kategorische Ablehnung münden. ■ Ökonomisierungseffekt: Für Rezipienten, die eine starke emotionale Beziehung zur jeweiligen Institution aufweisen, haben Bindungs- und Fesselungsmaßnahmen negative Folgen. Denn die Neubewertung der Kundenbeziehung führt dazu, dass monetäre Anreize und damit der ökonomische Charakter der Beziehung verstärkt ins Bewusstsein rü‐ cken. Das Vertrauen wird zuweilen eher reduziert als gefördert. ■ Diskiminierungseffekt: Beinhalten Maßnahmen für das Sozialmar‐ keting Kundendifferenzierungen, bergen diese die Gefahr, dass sich Kunden mit einem „geringeren Kundenwert“ bei einer wahrgenom‐ menen Selektierung mitunter benachteiligt fühlen. Diese Form der Diskriminierung kann die Beziehung zwischen der Zielgruppe und der jeweiligen Institution negativ beeinflussen. ■ Entwertungseffekt: Am Kundenwert ausgerichtete Maßnahmen kön‐ nen dazu führen, dass ein Gefühl der Entwertung entsteht, da der Verlust des vorherig wahrgenommenen Kundenstatus wahrgenommen wird. ■ Entpersonalisierungseffekt: Mit zunehmender Größe eines Teilneh‐ merbzw. Kundenbestands und damit einer kostenbedingten Standar‐ disierung von persönlichen Ansprachen mithilfe von Textbausteinen wächst die Gefahr, dass die Zielgruppe eine zuvor wahrgenommene persönliche Beziehung als Pseudobeziehung wahrnimmt und die Bin‐ dung zur jeweiligen Institution verloren geht. Die unterschiedlichen Effekte verdeutlichen, dass Störungen der Wirkpro‐ zesse die soziale Intention mitunter schmälern können. Das motivationale Spannungsfeld in Form einer Reaktanz wird maßgeblich vom Umfang und der Stärke des wahrgenommenen Drucks sowie der Bedeutung der eingeschränkten Meinungs- und Verhaltensfreiheit bestimmt (vgl. Dicken‐ berger et al. 1993: 245). Der Begriff Reaktanz kommt ursprünglich aus der Elektrotechnik und beschreibt eine bestimmte Form des Widerstandes. Das daraus angelehnte Konzept der Widerstandsreaktion im Bereich des Kundenverhaltens, die in Frustration münden kann, wurde als Theorie der psychologischen Reaktanz erstmals von Brehm (1966) vorgestellt (vgl. Gniech/ Dickenberger 1994: 259). Um das Ausmaß der Reaktanz näher zu betrachten, bedarf es einer genaueren Betrachtung der Interessendimension 72 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="73"?> und möglicher Aspekte der Kommunikation, die Widerstand und eine mög‐ liche Demotivation bei (potenziellen) Teilnehmern einer präventiven Inter‐ vention auslösen kann. Reaktanz als „neu“ wahrgenommene Bedrohung und Einschränkung der Freiheit konnte bspw. bei der COVID-19-Pandemie beobachtet werden, wenn die Selbstwirksamkeit und erwartete Wirkung der Schutzmaßnahmen nicht gegeben waren (vgl. Debbele et al. 2021: 254). Um Widerstände zu überwinden, müssen Marketingbotschaften für Präven‐ tionsinterventionen glaubwürdig, seriös, konsistent, transparent und einen echten Gewinn und einen hohen persönlichen Nutzwert transportieren. 3.2 Teilbereiche und Disziplinen des Gesundheitsmarketings Veränderte Umweltanforderungen und Trends in den Bereichen Technolo‐ gie (Neue Medien), Gesellschaft (Nachhaltigkeit) und Wirtschaft (Interna‐ tionalisierung) haben zu einer rasanten Ausdehnung der Marketingdisziplin geführt (vgl. Sepehr 2013: 158). Insbesondere der demografische Wandel und die zunehmende Bedeutung Neuer Medien beeinflussen das Konsu‐ menten- und Anspruchsverhalten (z. B. gegenseitiger Erfahrungsaustausch auf interaktiven Plattformen; Bedeutungsverlust des Handels) und führen zu einer Erweiterung der Marketingdisziplin - insbesondere im Bereich des New-Media-Marketings (vgl. Sepehr 2013: 162). Ein Überblick über die Vielfalt und Ausdehnung der Marketingdisziplin in Abhängigkeit des relevanten Mediums, des Zielmarktes, der Zielgruppe oder des gewählten Gegenstandes ist in der → Tab. 8 beispielshaft dargestellt. Differenzierungen Beispiele relevante Vorge‐ hensweise und Medium Direktmarketing, One-to-one-Marketing, Dialogmarketing, Database-Marketing, Permission-based-Marketing, Virales Marketing, Guerilla-Marketing, Neuromarketing, Online‐ marketing, Social-Media-Marketing, Eventmarketing relevanter Ziel‐ markt/ Träger Krankenhausmarketing, Krankenkassenmarketing, Pharma‐ marketing, Apothekenmarketing, Regionalmarketing relevante Ziel‐ gruppe Non-Profit-Marketing, Business-to-Business-Marketing, Business-to-Consumer-Marketing, Seniorenmarketing, Frauenmarketing, Männermarketing, Jugendmarketing, Kin‐ dermarketing, Patientenmarketing, Multiplikatorenmarke‐ ting, Einweisermarketing, Kundenmarketing, LOHAS-Mar‐ keting, Spendermarketing 73 3.2 Teilbereiche und Disziplinen des Gesundheitsmarketings <?page no="74"?> relevante Zielset‐ zungen Demarketing (Reduktionsmarketing), Persuasion-Marketing (Überzeugungsmarketing), Empfehlungsmarketing relevanter Gegen‐ stand oder The‐ menfeld Eventmarketing, Bildungsmarketing, Stadtmarketing, Pflegemarketing, Personalmarketing, Handelsmarketing, Point-of-Sales-Marketing, Geschäftsstellenmarketing, So‐ cial Marketing, Spendenmarketing, Medikamentenmar‐ keting, Dienstleistungsmarketing, Gesundheitsmarketing, IGEL-Marketing, Präventionsmarketing Tab. 8: Marketingdisziplin und ihre Ausprägungen Quelle: Eigene Darstellung. In Abhängigkeit der strategischen Vorgehensweise, des jeweiligen Ziel‐ marktes, der relevanten Zielgruppe oder des konkreten Gegenstands bzw. Themenfelds existieren unterschiedliche Marketingdisziplinen, die in der Praxis nicht für sich allein, sondern in Kombination angewandt werden. So können Maßnahmen im Bereich des Präventionsmarketings auf spezifische Zielgruppen (z. B. Jugendmarketing) und Medien (Onlinemarketing etc.) seitens unterschiedlicher Akteure (z. B. Krankenkassenmarketing) durchge‐ führt werden, die damit verschiedene Zielsetzungen (z. B. De-Marketing) verfolgen. Damit geht es beim De-Marketing - im Vergleich zum Profimar‐ keting - um die Reduktion und Umlenkung einer Nachfrage bzw. einer bestimmten (gesundheitlichen) Verhaltensweise (vgl. Froböse/ Turmh 2016: 28) in eine aus Präventionssicht gewünschte Richtung (z. B. Nikotinabusus). Diese Beispiele machen die enorme Komplexität der Marketingdisziplin und damit auch die Bedeutung der Analyse als Grundlage des strategischen und operativen Marketings deutlich. Wenden wir uns nun konkret dem Gesundheitsmarketing zu, dass sich nach der Definition von Mai, Schwarzer und Hoffmann auf die „Gesamtheit an Maßnahmen, mit denen gesundheitsförderliches Verhal‐ ten gesteigert und/ oder gesundheitspositionierte Produkte und Dienst‐ leistungen entwickelt, bepreist, vertrieben und kommuniziert werden, wobei bei der Entwicklung und Umsetzung dieser Maßnahmen bewusst gesundheitspsychologische Rahmenbedingungen, d. h. die Beweggründe für gesundheitsbewusstes Verhalten, sowie gesundheitsökonomische Rahmenbedingungen, d. h. regulierende Maßnahmen des Staates auf 74 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="75"?> dem Markt für gesundheitsbezogene Produkte und Dienstleistungen, Berücksichtigung finden.“ (vgl. Mai/ Schwarz/ Hoffmann 2013: 11) bezieht. Dabei wird deutlich, dass Gesundheitsmarketing eine interdiszi‐ plinäre Marketingdisziplin mit den Schnittstellen Marketing, Gesundheits‐ ökonomie und Gesundheitswissenschaften ist (vgl. Mai/ Schwarz/ Hoffmann 2013: 10). Auch verdeutlicht diese Definition, dass Präventionsmarketing nur ein Teilgebiet des Gesundheitsmarketings, neben z. B. Pharmamarke‐ ting, IGEL-Marketing (für individuelle Gesundheitsleistungen), ist. Präven‐ tionsmarketing konzentriert sich gezielt auf alle Marketingmaßnahmen und Prozesse von Institutionen zur Schaf‐ fung, Kommunikation und Bereitstellung von präventiven und ge‐ sundheitsförderlichen Dienstleistungen sowie Produkten, die gesund‐ heitsgefährdende Risikofaktoren verringern oder eliminieren sollen, gesundheitsförderliche Schutzfaktoren erhöhen und/ oder die gesund‐ heitlichen Lebensbedingungen von gesunden, gefährdeten oder bereits erkrankten Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen bzw. in kri‐ tischen Lebensphasen - übergreifend, selektiv oder in ausgewählten Settings - verbessern sollen. Dabei können sich die Marketingmaßnahmen auf universelle, selektive, indizierte oder strukturelle Präventionsinterventionen beziehen und sollten evidenzbasiert, sprich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, ausgerich‐ tet werden. Dies ist insbesondere deshalb von enormer Bedeutung, da die Einflussnahme auf die gesundheitliche Verhaltensänderung und Etablierung gesundheitsbezogener Gewohnheiten von einer Vielzahl an Determinanten (Alter, Geschlecht, Schicht etc.) abhängt und hier auf unterschiedliche gesicherte Methoden und Strategien aus den Gesundheitswissenschaften (Gesundheitspsychologie etc.) zurückgegriffen werden kann. 75 3.2 Teilbereiche und Disziplinen des Gesundheitsmarketings <?page no="76"?> 3.3 Übergreifende Besonderheiten des Präventionsmarketings Präventionsmarketing unterscheidet sich von anderen Marketingdiszipli‐ nen, die einen Einfluss auf den Entwicklungs- und Bereitstellungsprozess nehmen. Wie auch bei anderen Dienstleistungen gelten für Präventionsin‐ terventionen Spezifika, die bei Marketingmaßnahmen zu berücksichtigen sind. Die Besonderheiten beziehen sich insbesondere auf die Leistungs‐ qualität des Anbieters und die Immaterialität des Leistungsergebnisses (vgl. Meffert/ Bruhn/ Hadwich 2015: 31 ff.). Denn Dienstleistungen stellen aufgrund ihrer Eigenschaften ein wahrgenommenes Risiko aufgrund einer Qualitätsunsicherheit dar. ■ Sucheigenschaften (search qualities): Sucheigenschaften stellen Ei‐ genschaften des Dienstleisters oder Dienstleistung dar, die von Interes‐ senten durch die eigene Wahrnehmung vor der Teilnahme einer Präven‐ tionsintervention beurteilt werden können. Für Sucheigenschaften bzw. als Entscheidungsgrundlage ziehen Interessenten bspw. das dargestellte Leistungsspektrum (inkl. der Leistungsmerkmale), die Bewertung neu‐ traler Instanzen (z. B. Zentrale Prüfstelle Prävention, Qualitätszertifi‐ kate, Gütesiegel, Garantie), Kundenempfehlungen (Communitys etc.), Medienberichte, die Reputation und das Markenimage heran (vgl. Wei‐ ber/ Adler 1995: 67). ■ Erfahrungseigenschaften (credence qualities): Erfahrungseigenschaf‐ ten können weder ex-ante noch ex-post beurteilt werden und ergeben sich (mit erheblichen Kosten) erst im Verlauf der Beziehung. Da sich Er‐ fahrungseigenschaften auf den Leistungserstellungsprozess beziehen, stellen sie für die Teilnehmer immer auch einen Trial-and-error-Prozess dar (vgl. Schade/ Schott 1993: 17). Die positiven Leistungserwartungen der Teilnehmer werden dabei durch die Beratungsqualität und -inten‐ sität, die Produkt- und Leistungsqualität sowie den wahrgenommenen Kundenservice (z. B. Zuverlässigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Kom‐ petenz und Freundlichkeit der Mitarbeiter, Referenzen Dritter) beein‐ flusst. ■ Vertrauenseigenschaften (experience qualities): Vertrauenseigen‐ schaften werden erst nach einer (kostenlosen Probe-)Teilnahme sicht‐ bar bzw. können erst nach Abschluss einer Präventionsdienstleistung von den Teilnehmern abgeschätzt werden. Vertrauenseigenschaften 76 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="77"?> können als Ausdruck für die Zufriedenheit und Bindung der Teilnehmer angesehen werden. Die Einhaltung und Stabilität des Leistungsverspre‐ chens sowie die Vision und gelebten Werte der jeweiligen Institution sind Aspekte, die auf das Vertrauen in die Dienstleistung und auf den Dienstleister positiv Einfluss nehmen. Im Hinblick auf die zunehmende Komplexität des Präventionsmarktes treten Sucheigenschaften in den Hintergrund und Erfahrungs- und Vertrauensei‐ genschaften gewinnen an Bedeutung. Dabei stellt der unzureichende Infor‐ mationsstand eine Wechselbarriere dar, da nur wenige Wechselanreize aus Leistungs- und Qualitätsgründen bestehen. Eine verstärkte Leistungs- und Qualitätstransparenz hingegen schafft Vertrauen und steigert die Glaubwür‐ digkeit, die sich auf die Motivation, das Gesundheitsverhalten und auf den Gesundheitsstatus der Teilnehmer auswirken können. 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings Verhaltenswissenschaftliche Ansätze liefern hierzu die Erklärungen und Bedingungen menschlichen Verhaltens. Um die Einflussmöglichkeiten auf das Aktivitätsniveau systematisch beeinflussen zu können, werden im Folgenden die gesundheits- und motivationspsychologischen Aspekte näher betrachtet. 3.4.1 Gesundheitspsychologische Hintergründe Gesundheit kann als Zustand objektiven und subjektiven Befindens einer Person aufgrund zahlreicher äußerer und innerer Lebensbedingungen, die sich durch die Interaktion des Einzelnen mit seiner Umwelt ergeben, be‐ zeichnet werden (vgl. Hurrelmann 2003: 8). Dieses Gleichgewichtsstadium, welches zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt ständig neu erzeugt werden muss, wird von physiologischen Prozessen, emotionalen Reaktionen und Wahrnehmungen, Verhalten, Umwelt sowie zwischenmenschlichen, psychologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren inner‐ halb des jeweiligen kulturellen Rahmens beeinflusst (vgl. DiClement et al. 2007: 206). 77 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="78"?> Bei der Umsetzung gesundheitlicher Verhaltensweisen entsteht insofern ein permanenter Konflikt, das Geschenk des Lebens bewahren zu wollen und den Verlockungen, hedonistischer Genüsse zu widerstehen (vgl. Weitkunat/ Moretti 2007: 20). Gefangen in diesem Dilemma stellt der Genussverzicht bzw. die Veränderung gesundheitsschädigender Lebensgewohnheiten die Betroffe‐ nen vor unterschiedliche Herausforderungen. Wird eine Verhaltensänderung als relevant angesehen, wird eine starke Bedrohung empfunden und ist nur eine geringe Anstrengung (z. B. bei Impfungen) notwendig, kann eine positive Veränderung als wahrscheinlich angenommen werden. Eine hingegen im Lebensstil fest verankerte Verhaltensweise, die ferner mit psychologischen Abhängigkeiten verbunden ist (z. B. Tabakkonsum), setzt beim Individuum eine sehr große Anstrengung und starke Willenskraft voraus. So kann die Ausbildung neuer Gewohnheiten laut einer Studie zwischen 18 und 254 Tage dauern. Im Durchschnitt vergehen 66 Tage, bis sich die Gewohnheit etabliert hat, dabei werden umso mehr Wiederholungen benötigt, je komplexer das jeweilige Verhalten ist (vgl. Lally et al. 2010: 1000). Internale Determinanten (wie z. B. die soziale Unterstützung, die Gesellschaftsstrukturen oder die Einflüsse der Medien) sowie internale Mediatoren (wie z. B. Überzeugungen, Gewohnheiten, Erwartungen, wahrgenommene Bedrohung und Selbstwirk‐ samkeit) bestimmen das Verhalten wechselseitig (vgl. DiClement et al. 2007: 207 f.) (→ Abb. 5). Internale Faktoren, wie das individuelle Wollen (Mo‐ tivation) und das persönliche Können (Fertigkeiten), sind im Vergleich zu externalen Faktoren, die - proximal - eher näher zum tatsächlichen Gesundheitsverhalten stehen, vergleichsweise leichter positiv zu beeinflussen (vgl. DiClement et al. 2007: 209). Auch wenn Wechselwirkungen zwischen den vier Größen bestehen, können Präventionsinterventionen nur auf der Ebene der Mediatoren einen positiven Einfluss nehmen. Ob Präventionsprogramme gesundheitsbewuss‐ tes Verhalten in positiver Weise beeinflussen können, hängt maßgeblich von der Motivation des Empfängers ab. Motivation kann als „aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ bezeichnet werden (vgl. Rheinberg 2004: 15). Als Bemessungs‐ grundlage von Handlungszielen stellen Motive die Ausgangsbasis für Motivation dar (vgl. Schmalt 1998: 549). Grob skizziert kann Motivation insofern als das Ergebnis einer Übereinkunft von zeitlich überdauernden, inhaltlich spezifischen Dispositionen (den Motiven als Personalfaktor), situativen Reizen mit Aufforderungscharakter (Anreize) und subjektiven Erfolgswahrscheinlichkeiten (als Situationsfaktor) verstanden werden (vgl. 78 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="79"?> Abb. 5: Determinanten/ Mediatoren gesundheitsbewussten Verhaltens Health Outcome (Gesundheitszustand) Bedingungen des Gesundheitsverhaltens externale Determinanten internale Mediatoren Sollen Normen und Regelungen Wollen Motivation und Werte Ermöglichung/ Unterstützung hemmende/ begünstigende Umstände Können Fähigkeiten und Fertigkeiten gesundheitsbewusstes Verhalten Aspekte der Situation Aspekte der Person Abb. 5: Determinanten/ Mediatoren gesundheitsbewussten Verhaltens Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rosenstiel, v. L. 2003: 39. Kleinbeck 2006: 270). Die Wirkung situativer Reize ist wiederum an die Be‐ urteilung des Empfängers gebunden und löst motivierte Handlungen dann aus, wenn der Anreiz als Mittel der eigenen Bedürfnisbefriedigung wahrge‐ nommen wird (vgl. Schanz 1991: 16). Emotionale Motive (z. B. Hoffnung und Furcht) erzeugen Erwartungen und können wiederum als Bedingung für gesundheitsbewusste Modifikationen angesehen werden (vgl. Brunstein 2006: 241). Generell lassen sich vier Erwartungstypen unterscheiden (vgl. Sokolowksi/ Heckhausen 2006: 198; McMillan/ Conner 2007: 238): 1. Situations-Ergebnis-Erwartungen (S → E) | basieren auf der sub‐ jektiven Wahrnehmung, dass gewisse Konsequenzen in Form einer gesundheitlichen Bedrohung mit einer Nichtänderung des Verhaltens verknüpft sind. 2. Handlungs-Ergebnis-Erwartungen (H → E) | beziehen sich auf die Annahme, dass eine Verhaltensänderung entweder eine wahrgenommene Bedrohung reduziert oder die Aussicht auf eine Belohnung (Boni) erhöht. 3. Ergebnis-Folge-Erwartungen (E → F) | stellen empfundene Kon‐ sequenzen dar, die nach erfolgreicher Verhaltensänderung erwartet werden. 4. Selbstwirksamkeitserwartungen (SW) | beruhen auf Einschätzun‐ gen, aus eigener Kraft die Verhaltensänderung erfolgreich bewältigen zu können. 79 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="80"?> Motivation ist das Resultat eines komplexen Abwägungs- und Entschei‐ dungsprozesses zwischen Motiven, Anreizen und Erwartungen, der das Ausmaß und die Richtung der Handlung bestimmt. Trotz einer hohen Mo‐ tivation sind Verhaltensänderungen respektive fest verwurzelte behaviorale Risikofaktoren (z. B. Nikotin- und Alkoholverzicht) bis zur endgültigen Ziel‐ erreichung mit der Überwindung von inneren und äußeren Widerständen verbunden (vgl. Rheinberg 2004: 175 f.). Denn nicht alle Modifikationsbemü‐ hungen werden als Flow-Erlebnis erlebt, sondern als aversiv empfunden. Entsprechend betonen die meisten theoretischen Modelle zur Motivation das hedonistische Prinzip, das impliziert, dass Individuen danach streben, Lustvolles zu maximieren und Aversives zu minimieren. Eine rationale Analyse zwischen Aufwand (Kosten) und Effektivität (Nutzen) bildet die Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine Verhaltensänderung (vgl. McMillan/ Conner 2007: 242 f.). Abb. 6: Erweitertes Handlungsphasenmodell - Rubikonmodell Abwägen volitional präaktional Planen volitional aktional Handeln Motivation postaktional Bewerten = P · S Interaktion S-E-Erwartung Handlung intrinsisch Ergebnis intrinsisch Folgen extrinsisch Folgeanreiz H-E-Erwartung SW-Erwartungen E-F-Erwartung Intentionsbildung Intentionsdeaktivierung Intentionsinitiierung Motivation prädezisional Person (Motiv) Situation (Anreize) Rubikon Tätigkeitsanreiz Abb. 6: Erweitertes Handlungsphasenmodell - Rubikonmodell Quelle: Scherenberg 2008: 29 in Anlehnung an Heckhausen/ Heckhausen 2006: 6; Rhein‐ berg 2006: 341. Scheitern Modifikationsversuche, so muss dies allerdings nicht zwangsläu‐ fig auf mangelnder Motivation beruhen, sondern kann an mangelndem Wil‐ len liegen. Speziell das Rubikonmodell von Heckhausen berücksichtigt den 80 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="81"?> Aspekt des Wollens (Volition) und unterscheidet vier Handlungsphasen, die durch spezifische Übergänge voneinander getrennt sind. Die zeitliche Ablaufperspektive erstreckt sich vom Erwachen der Wünsche vor der Zielsetzung bis hin zu den bewertenden Gedanken nach der Zielerreichung. Heckhausen geht davon aus, dass motivationale Prozesse aus einer spru‐ delnden Quelle von Wünschen bestehen, die meist nur flüchtiger Natur sind (vgl. McMillan/ Conner 2007: 242 f.). Wird aus einem Wunsch eine Absicht, kann von einer Intention gesprochen werden und der sogenannte „Rubikon“ wird überschritten (→ Abb. 6). Der Begriff Rubikon bezieht sich auf den gleichnamigen Fluss in Italien, den Julius Cäsar und seine Legionen mit den Worten „Alea iacta est.“ (zu Deutsch: Die Würfel sind gefallen.) 49 v. Chr. überschritt und damit nach langem Abwägen endgültig und unwiderruflich den Krieg eröffnete (vgl. Rheinberg 2004: 183). Während in der prädezinionalen Phase die Realisierbarkeit der Wünsche abgewogen wird, überprüfen Individuen in der präaktionalen Phase, welche Umsetzungsstrategie zur Zielerreichung angewendet werden kann. In der aktionalen Phase erfolgt die tatsächliche Umsetzung, die in der postaktiona‐ len Phase bewertet wird und darüber entscheidet, ob neue Handlungen geplant, das Anspruchsniveau gesenkt oder das Ziel deaktiviert wird (vgl. Kleinbeck 2006: 278 ff.). Sollten mit Maßnahmen des Präventionsmarketings Institutionen ihre Zielgruppe dauerhaft motivieren, so müssen die kogni‐ tiven Prozesse aller Handlungsphasen berücksichtigt werden. Beständig sind die Handlungen dann, wenn sie eigenverantwortlich bzw. aus eigenem Antrieb (intrinsisch) erfolgen, da nur so die potenziell vorteilhaften Ver‐ haltenskonsequenzen erkannt werden. Von außen gesteuerte Handlungen (extrinsisch) sind so lange handlungsleitend, wie externe Anreize aufrecht‐ erhalten werden. Bei der Motivierung gesundheitsbezogenen Verhaltens ist daher zu beachten, dass die Befriedigung primär auf dem Weg zum Ziel bzw. in der Zielerreichung selbst liegt. Verhaltensqualifizierungen steigern nicht nur die Selbstwirksamkeit, sondern zugleich die Motivation (vgl. Rosenstiel v. L. 2003: 40 ff.). Eine auslösende Motivaktivierung durch passende Anreize ist besonders bei bisher unempfänglichen Individuen notwendig. Diese können - sollten sie alleinig monetären Charakter haben - auch negative Effekte beim Empfänger auslösen, da die Gefahr besteht, dass durch den Fokus auf monetäre Aspekte die Handlungsziele entfallen und intrinsische Motivation zerstört wird. Dieser Effekt wird in der Psychologie auch Verdrängungseffekt, Korrumpierungseffekt oder auch Überrechtferti‐ gungseffekt (Overjustification-Effect) genannt (vgl. Rheinberg 2006: 337 f.). 81 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="82"?> Dabei können innerhalb von präventiven Interventionen direkte Anreize 1.) an erzielten Resultaten (z. B. Anzahl der Schritte) und 2.) an Verhaltensaus‐ führungen (z. B. Schrittaktivität) gekoppelt werden (vgl. Rheinberg 2004: 56). Nicht selten erfolgt im Rahmen digitaler Interventionen eine Koppelung mit sozialen Medien (z. B. integrierte Community), um erzielte Ergebnisse zu veröffentlichen und/ oder Vergleiche vorzunehmen (vgl. Rheinberg 2004: 55). Auf diese Weise werden unterschiedliche Motive, wie das Streben nach sozialem Anschluss (Affiliationsmotiv), zwischenmenschlicher Nähe (In‐ timitätsmotiv), Effizienz (Leistungsmotiv) oder sozialer Wirksamkeit (Machtmotiv) angesprochen (vgl. Brunstein 2018: 270 ff.; Neyer/ Asendorf 2018: 175): ■ Affiliationsmotiv (Präferenz für soziale Interaktion): Beim Affiliati‐ onsmotiv (oder Anschlussmotiv) erfolgt die Kontaktaufnahme und soziale Interaktion (z. B. App-Communitys) mit fremden oder wenig bekannten Teilnehmern einer präventiven Intervention, um eine wech‐ selseitige positive Beziehung zu schaffen. Dabei kann die Interaktion und Zugehörigkeit zu Gleichgesinnten das Kompetenzerleben und die Selbstwirksamkeit angsichts eigener Erfahrungen, eigener Befindlich‐ keiten, stellvertretender Erfahrungen und der Überredung anderer Teilnehmer situationsspezifisch steigern (vgl. Bandura 1997: 3 f.). ■ Intimitätsmotiv (Präferenz für Nähe und Vertrautheit mit anderen): Beim Intimitätsmotiv (oder Beziehungs-, Nähe- oder Begegnungsmotiv) konzentriet sich sich die Interaktion durch eine gezielte Vernetzung auf eng vertraute Personen bezieht. Das Intimitätsmotiv stellt ein Untermotiv des Anschlussmotivs dar und hat zum Ziel, sich gegenseitig zu ermutigen. ■ Leistungsmotiv (Präferenz für Erfolg): Beim Leistungsmotiv geht es darum, persönliche Leistungen zu demonstrieren. Ziel ist es, die eigene Leistungsfähigkeit mit selbst- oder fremdgesetztem Gütestandard zu bewerten, um auf diese Weise durch eine gesteigerte Leistungsfähigkeit eine gute Bewertung im Vergleich mit einem Gütemaßstab in Form von Stolz und Anerkennung zu erhalten (vgl. Brunstein/ Heckhausen 2018: 145). Der Vergleich kann sich auf andere (sozialer Gütemaßstab), eigene Leistungen (individueller Gütemaßstab) oder objektiv festgesetzte Kri‐ terien (absoluter Gütemaßstab) beziehen (vgl. Frenzel/ Stephens 2017: 29). Solche immateriellen Anreize in Form von für Dritte sichtbare 82 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="83"?> Auszeichnungen können als Anreize fungieren und andere aktivieren und motivieren. ■ Machtmotiv (Präferenz, andere zu beeinflussen): Beim Machtmotiv geht um die Kontrolle, das Beeindrucken oder die Beeinflussung Dritter. Beim personalisierten Machtmotiv stehen im Vergleich zum soziali‐ sierten Machtmotiv egoistische Motive im Vordergrund, da es hier darum geht, andere zu übertreffen und so Ansehen zu erlangen (z. B. Erstplatzierung bei einem Wettbewerb). Die Demonstration der (z. B. sportlichen) Überlegenheit durch Auszeichnungen wird als eine Art Prestigeprojekt angesehen und geteilt. Beim sozialisierten Machtmotiv stehen bei der Machtausübung hingegen soziale Beweggründe zum Wohle der Gemeinschaft im Fokus (z. B. Bewegungstipps) (vgl. McClel‐ land 1987: 298). Die Ausführungen haben gezeigt, dass je nach Persönlichkeits- und Motiv‐ struktur unterschiedliche Motive angesprochen werden können (vgl. Felser 2015: 102). Allerdings scheint es auch hier genderspezifische Unterschiede zu geben: Denn Anschlussmotive (bzw. die gegenseitige verbale Unterstüt‐ zungsleistung) sind bei Frauen ausgeprägter. Macht- und Anschlussmotive widerum korrelieren bei Frauen negativ, da sich die beiden Motive bei Frauen (im Vergleich zu Männern) widersprechen (vgl. Schultheiss/ Brun‐ stein 2001: 82). Dabei wird das stärker ausgeprägte Machtmotiv bei Männern biologisch mit dem höheren Testosteronspiegel erklärt. Der höhere Oxy‐ tocin-Spiegel sorgt bei Frauen hingegen für höhere Bindungswerte (vgl. Montag 2016: 44 f.). Personen, die ohnehin gesellig sind, weisen ein starkes Bedürfnis nach sozialem Anschluss auf, dabei ist die Angst vor Zurückwei‐ sung niedriger ausgeprägt. Da schüchterne Teilnehmer zwar Anschluss suchen, aber gleichzeitig Zurückweisung fürchten, liegt bei ihnen oft ein Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt vor (vgl. Neyer/ Asendorpf 1989: 33 f.). Kritisch anzumerken ist, dass sich die Motive nicht immer trennscharf von‐ einander abgrenzen lassen, da oft mehrere implizite (unbewusste) Motive angesprochen werden. Tatsache ist, dass die angesprochenen Anreize immer auch wahrgenommene Rückmeldungen darstellen, die in der Lage sind, das Kompetenzerleben zu steigern. Die damit einhergehenden kompetenzun‐ terstützenden Feedbacks können in granuale, nachhaltige und kumulative Kompetenzfeedbacks unterteilt werden (vgl. Rigby/ Ryan 2011: 23 ff.; Sailer 2016: 116 ff.): 83 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="84"?> Feedbackform Erklärung Beispiel granulare Kompetenzfeedbacks Feedbacks, die eine unmittelbare posi‐ tive Rückmeldungen geben, die eins zu eins mit dem Verhalten der Teilnehmer verbunden sind aktuelle Schrittzah‐ lerreichung nachhaltige Kompetenzfeedbacks Feedbacks, die sich nicht nur auf ein Ereignis, sondern auf eine ganze Zeit‐ spanne, in der ein Gesundheitsverhalten erfolgreich durchgeführt wird, beziehen Gewichtsabnahme, Schrittanzahl inner‐ halb einer Woche kumulative Kompetenzfeedbacks Feedbacks, die permanente Veränderun‐ gen das Feedback mehrere, zusammen‐ gefasste Verhaltensweisen geben. Auszeichnungen Tab. 9: Kompetenzunterstützende Feedbacks Quelle: Scherenberg 2019: 480 in Anlehnung an Rigby/ Ryan 2011: 23 ff.; Sailer 2016: 116 ff.). Nicht unterschätzt werden darf bei der Entwicklung von präventiven Interventionen, dass Anreize sowie gesundheitspsychologische Verhaltens‐ modelle Grenzen haben. Deutlich wird dies bei der Betrachtung der In‐ tentions-Verhaltens-Lücke („intention-behavior-gap“). Auch wenn viele Verhaltensmodelle (z. B. Schutzmotivationstheorie, Theorie des geplanten Handelns) eine starke Absicht (bzw. Intention) als den wichtigsten Ein‐ flussfaktor für die gesundheitliche Verhaltensänderung ansehen, kam eine Metaanalyse (über 10 Metaanalysen mit 422 Studien) zu dem Schluss, dass die Intention nur einen geringen Teil ausmacht und ein Großteil der Varianz im Verhalten unerklärt bleibt (vgl. Sheeran 2002: 29). Mit anderen Worten: Die Anzahl der Personen, die eine positive Absicht hatten und dennoch nicht handelten, war größer als die Anzahl der Personen, die trotz negativer Absicht handelten (→ Tab. 10). Wiederum war die Anzahl derjenigen, die eine positive Absicht hatten und ihre Handlung in die Tat bzw. nicht in die Tat umsetzten, gleich groß (vgl. Sheeran 2002: 28 f.). Daraus kann geschlußfolgert werden, dass nur die Hälfte aller positiven Absichten tatsächlich in die Tat umgesetzt wird (vgl. Sheeran/ Webb 2016: 511). 84 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="85"?> Intention (Absicht) positive Absicht negative Absicht nachfolgendes Verhalten gehandelt Intention und gehandelt keine Intention, aber trotzdem gehandelt nicht ge‐ handelt Intention, aber nicht gehandelt keine Intention und nicht gehandelt Tab. 10: Vierfelder-Tafel Intentions-Verhaltens-Lücke Quelle: Orbell/ Sheeran 2002: 154. Orbell und Sheeran empfehlen - da die Intentions-Verhaltens-Lücke nicht auf motivationale, sondern auf volitionale Hürden zurückzuführen ist (vgl. Orbell/ Sheeran 2002: 151) -, umsetzungsrelevante Aspekte stärker zu be‐ rücksichtigen. Dabei sind die Art und der Schweregrad des anvisierten Zieles, die Basis der Intention (z. B. persönlicher Leidensdruck), die Merk‐ male der Absicht (z. B. Dauerhaftigkeit, zeitliche Stabilität) und die Qualität der jeweiligen Intention entscheidend dafür, ob die Verhaltensumsetzung erfolgt. Aus diesem Grund sollten Hürden, auf die Präventionsteilnehmer bei der Verhaltensumsetzung stoßen könnten, immer vorab genauestens analysiert werden. Als unterstützende Hilfemittel zur Bewältigung der Verhaltensumstellung bieten sich insbesondere Wenn-Dann-Pläne oder Interventionen mit integrierter Fortschrittskontrolle an (vgl. Sheeran/ Webb 2016: 504 ff.). Von chronischem Aufschiebeverhalten (bzw. von Prokrastina‐ tion) wird gesprochen, wenn Handlungen bewusst aufgeschoben werden, auch wenn dies negative Konsequenzen zur Folge hat (vgl. Pinnow 2018: 79). Die Gründe für das Aufschieben können sowohl eine Reaktion auf das Vorhandensein psychischer (z. B. vergangene Erfahrungen des Scheiterns) als auch physiologischer Widerstände (z. B. Dominanz bestimmter Verhal‐ tensweisen im Belohnungssystem) sein. Aus der Prokrastinationsforschung bekannt ist, dass indes die Umsetzung von Verhaltensänderungen in kleinen (leistbaren) Schritten eine Veränderung der Einstellung zur Folge haben kann. Die damit einhergehenden ersten Erfolgserlebnisse und das gestei‐ gerte Selbstvertrauen tragen dazu bei, dass gesteckte Ziel verwirklicht und sich so positives Denken, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl durch erfolgreiches Handeln ausprägen kann (vgl. Bachmann 2017: 257 f.). 85 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="86"?> 3.4.2 Neuropsychologische Hintergründe Die Marketingwissenschaft ging lange Zeit vom bewussten und rational handelnden Konsumenten aus (vgl. Munzinger/ Musiol 2008: 49). Moderne bildgerechte Verfahren der psychiatrischen Hirnforschung (z. B. funktio‐ neller Magnetresonanztomographie), die neuronale Zustände untersuchen und Hirnaktivitäten mithilfe farbiger Bilder quantifizieren und lokalisie‐ ren können (vgl. Esch/ Möll 2004: 83 f.), zeigen uns das Gegenteil: Denn gefühlsbetonte Konsumentenentscheidungen dominieren und sind um ein Vielfaches größer als bewusste Entscheidungen (vgl. Esc3h/ Müll 2008: 134). Der eingeschätzte Anteil unbewusster Entscheidungen variiert: Während Häusel von ca. 70 bis 80 % (vgl. Häusel 2007a: 11) ausgeht, beziffert Zaltman den Anteil aller unbewusst auftretender Gedanken auf ca. 95 % (vgl. Zaltman 2003: 40). Ungeachtet der Varianz werden somit nur 5 bis 30 % aller Entscheidungen bewusst getroffen. Besonders unter Zeitdruck, bei Informationsüberlastung, geringem Interesse oder Entscheidungsunsi‐ cherheit sind unbewusste Handlungen dominant (vgl. Scheier 2008: 308). Ursache ist die hohe Energiebilanz: Denn das Gehirn macht zwar nur 2 % unserer Körpermaße aus, verbraucht indes bei Hochbelastung rund 20 % unserer gesamten Körperenergie (vgl. Aiello/ Wheeler 1982: 201 f.). Dieser hohe Verbrauch bezieht sich auf bewusste Vorgänge, die im größten Gehirn‐ teil, dem Neokortex, verarbeitet werden. Unbewusste Vorgänge hingegen verbrauchen nur ca. 5 % Energie (vgl. Pellerin/ Magistretti 1999: 325). Da ein geringer Energieverbrauch überlebenswichtig ist, versucht das Gehirn, bewusste Aktivitäten durch Routinen zu entlasten. Die Ursache hierfür ist historisch bedingt: Denn der für unbewusste Aktivitäten zuständige Hirnstamm (oder Reptiliengehirn, zuständig für Triebe und niedrige Instinkte) und das limbische System (oder Säugetierhirn, zuständig für Emotionen) entwickelten sich vor 500 Millionen Jahren bzw. 300 Millionen Jahre und stellen anatomisch gesehen den ältesten Teil des Gehirns dar. Das vernünftig denkende Großhirn (oder Neokortex bzw. neue Säugetierhirn) entstand erst vor rund 100 Millionen Jahren (vgl. Ploog 1970: 71). Diese Einteilung des Gehirns in die angesprochenen drei Gehirnbereiche sowie der Begriff limbisches System gehen auf Theorie „The Triune Brain“ („Das dreieinige Gehirn“) des Neurobiologen Paul MacLean zurück (siehe MacLean 1990). Für die Marketingkommunikation und die Formulierung von gesundheitsbezogenen Botschaften bedeutet dies, dass Gesundheitsin‐ formationen dann wahrgenommen werden, wenn sie für den Rezipienten 86 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="87"?> bzw. die Rezipienten zum einen emotional bedeutsam sind und sie zum anderen wie äußere Reize über die Sinnenkanäle erreicht. Denn werden Bot‐ schaften über unterschiedliche Wahrnehmungskanäle zeitgleich eingespielt („multisensory enhancement“) und es kommt zu einer wechselseitigen (multisensorischen) Verstärkung. Weisen die wahrgenommenen Reize für die Rezipienten eine Kongruenz auf, führt dies dazu, dass das Gehirn die Botschaften deutlich intensiver verarbeitet („Superadditivität“) (vgl. Stanford et al. 2005: 9 f.). Mit anderen Worten: Je zahlreicher und ähnlicher eine Botschaft die Rezipienten über die fünf prägenden Sinne (Sehsinn: visuell; Hörsinn: auditiv; Tastsinn: haptisch; Geruchssinn: olfaktorisch und Geschmackssinn: gustatorisch) erreicht, desto stärker verfestigt sie sich. Dabei nimmt das Gehirn pro Sekunde ca. 11 Millionen Bits (Informations‐ einheiten) unbewusst und lediglich 40 bis 50 Bits pro Sekunde (sprich 0,00004 %) bewusst wahr (vgl. Wilson 2002: 43). 95 % der Botschaften, die unsere fünf Sinne aufnehmen, sind als implizit und damit als „low involvement“ einzustufen. Involvement beschreibt das Gefühl, in welchem Maß sich Menschen einbezogen bzw. eingebunden fühlen. Nach Scheier und Held ist der Anteil der Werbespots, an die sich Konsumenten erinnern, im Zeitverlauf von 18 % (im Jahre 1985) auf 8 % (im Jahr 2002) gesunken (vgl. Scheier/ Held 2006: 18, 159). Nicht verwunderlich, dass aufgrund der Informationsüberflutung nur 5 % aller angebotenen Werbeinformationen ihre Empfänger erreichen (vgl. Kotler-Riel 2015: 22). Je nachdem, ob die aufgenommenen Informationen im Hippocampus des limbischen Systems (zuständig für das Erlernen von Neuem und Einzelheiten) mit negativen oder positiven Gedächtnismustern oder Erlebnissen assoziiert werden, lösen sie ablehnende Emotionen oder ein positives Verlangen aus (vgl. Raab et al. 2008: 146). Bei guten Gefühlen erfolgt die Ausschüttung körpereigener Opiate, die vom Gehirn als Belohnung wahrgenommen werden. Negative Gefühle wirken lähmend und lösen Vermeidungsmuster aus (vgl. Roth 2006: 35 ff.). Da gute Gefühle den Schlüssel zum Unterbewusstsein darstel‐ len, ergibt sich als Konsequenz für die Kommunikation, dass emotional bedeutsame Botschaften ausgesendet werden müssen (vgl. Scheier 2008: 311). Angesichts der Erkenntnis, dass Aufmerksamkeits- und kognitive Ver‐ arbeitungsprozesse parallel und nicht wie vielfach angenommen starr hierarchisch ablaufen, sehen Befürworter des Neuromarketings klassische Stufenmodelle der Wirkungsforschung als überholt an (vgl. Scheier/ Held 2007: 99). Das älteste Stufenmodell AIDA (1898, nach Elmo Lewin) des 87 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="88"?> Behaviorismus besteht aus den Phasen Attention, Interest, Desire und Action. Neobehavioristische Modelle beziehen nicht beobachtbare Vorgänge (z. B. Erinnerung) in die Betrachtung mit ein und beschränken sich nicht auf einfache Reiz-Reaktion-Verknüpfungen (vgl. Felser 2001: 15 f.). Emotionale Botschaften, die aus der Außenwelt auf uns treffen, durch‐ laufen die Filterinstanzen des limbischen Systems. Auf Basis des Züricher Modells der sozialen Motivation von Bischof (2001; siehe Scheffer/ Heck‐ hausen 2006: 64 ff.) wurden drei große Emotions- und Motivfelder des limbischen Systems identifiziert und parallel unabhängig von dem Hirnfor‐ scher Panksepp entdeckt (vgl. Panksepp 1998: 101 ff.): Balance, Stimulanz und Dominanz. Aus diesen auch von Häusel titulierten „Big 3“ (vgl. Häusel 2005: 17, Häusel 2007b: 70; Häusel 2014: 57 f.) lassen sich für die Praxis Kommunikationsinhalte ableiten (vgl. Scherenberg 2011: 94): ■ Balance: Bedürfnis nach Sicherheit (z. B. Geborgenheit, Sicherheit, Stabilität, Fürsorge, Harmonie, Solidarität, Tradition durch Qualitäts- und Garantiezusagen): Unterstützt die Maßnahme bzw. Botschaft die Zielgruppe darin, sich sicher und geborgen zu fühlen? ■ Stimulanz: Bedürfnis nach Erregung (z. B. Abwechslung, Spieltrieb, Lustempfindung durch Erlebnisse, Unterhaltung): Unterstützt die Maß‐ nahme bzw. Botschaft die Zielgruppe dabei, etwas Neues auszuprobie‐ ren und Abwechslung zu erfahren? ■ Dominanz: Bedürfnis nach Autonomie (z. B. Abgrenzung, Macht, Kontrolle, territorialer Anspruch, Status): Unterstützt die Maßnahme die Zielgruppe in ihrer Selbstwirksamkeit bzw. stärkt sie das eigene Kontroll- und Machtempfinden? Das evolutionär älteste und machtvollste Motiv (= Balance) wird bspw. durch die Leistungen der GKVn und damit dem Wunsch nach Absicherung (im Krankheitsfall) angesprochen. Während Eigenverantwortung oder das Moral-Hazard-Verhalten und damit das Bedürfnis, eigene Ziele verfolgen zu wollen, dem Dominanz-System zugeordnet werden können (vgl. Scheren‐ berg/ Glaeske 2010: 45). Die Stärke und die Gewichtung der Motive ergeben sich aus den unterschiedlichen Charakteren und Emotionsschwerpunkten, die sich laut einer repräsentativen Studie (n > 30.000 Einzelinterviews) grob in sieben Persönlichkeitstypen zuordnen lassen (vgl. Häusel 2014: 62 f.): 88 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="89"?> Persönlichkeitstypen Emotionsfelder Motive 19 % Traditionalisten Balance/ Dominanz geringe Zukunftsorientierung, ge‐ ringe Konsumlust, hohe kognitive Auflösung 29 % Harmonisierer Balance/ Stimulanz hohe Sozial- und Familienorientie‐ rung, geringe Aufstiegs- und Sta‐ tusorientierung 13 % Offene Stimulanz Offenheit für Neues, Wohlfühlen, Toleranz 13 % Hedonisten Stimulanz/ Domi‐ nanz Suche nach Neuem, Individualis‐ mus, Spontanität, geringer kogni‐ tiver Auflösung 6 % Abenteurer Dominanz/ Stimu‐ lanz hohe Risikobereitschaft, geringe Impulskontrolle 10 % Performer Dominanz hohe Leistungs- und Statusorien‐ tierung, Ehrgeiz 10 % Disziplinierte Dominanz/ Balance hohes Pflichtbewusstsein, Wunsch nach Ordnung und Sicherheit Tab. 11: Limbische Persönlichkeitstypen und ihre Verteilung Quelle: Häusel 2014: 62 f. Zwar sind solche Einteilungen wissenschaftlich eher kritisch anzusehen, da eine Persönlichkeitstypisierung [1] nie ganz überschneidungsfrei möglich und [2] die angesprochenen Motivsysteme schwer abgrenzbar sind und miteinander interagieren. Doch im Vergleich zur o. g. Limbic-Type-Vertei‐ lung beschränken sich bekannte Lebensstilmodelle (z. B. Sinus-Milieus von Sinus Institut) auf ökonomische Dimensionen (z. B. soziale Lage, Werte). Da je nach Alter, Geschlecht und sozialem Status die Stärke und Gewich‐ tung von emotionalen Motiven sehr unterschiedlich ausfallen, scheint eine Schwerpunktsetzung zur besseren motivationalen Zielgruppenori‐ entierung überlegenswert. Denn wie → Abb. 7 zeigt, ist bei Frauen eher das Bedürfnis nach Sicherheit ausgeprägt, während bei Männern die Autonomie im Vordergrund steht. Beiden Geschlechtern ist gleich, dass mit zunehmendem Alter der Reiz nach Neuem (Stimulanz) sinkt und das Bedürfnis nach Sicherheit (Balance) steigt. Verantwortlich für diese emo‐ tionalen Persönlichkeitsausprägungen sind neurochemische Vorgänge (so‐ genannte Neuromodulatoren: Hormone, Neuropeptide, Neurotransmitter 89 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="90"?> usw.). Während mit steigendem Alter das Dominanz-Hormon Testosteron (vor allem bei Männern) und der Stimulanz-Neurotransmitter Dopamin und damit Neugier und Risikobereitschaft sinken, steigen die Konzentration des Stresshormons Cortisol und das Sicherheitsbedürfnis an (vgl. Häusel 2010: 53). Abb. 7: Verteilung limbischer Persönlichkeitstypen 25 4 17 15 20 1 3 15 10 4 2 11 5 14 7 18 22 19 25 23 18 58 46 18 0% 20% 40% 60% 80% 100% 20-40 Jahre 60+ Jahre Frauen Männer Hedonisten Abenteurer Performer Controller Genießer Bewahrer Stimulanz = Reiz nach Neuem Dominanz = Angst vor Kontrollverlust Balance = Suche nach Sicherheit Abb. 7: Verteilung limbischer Persönlichkeitstypen Quelle: Häusel 2007b: 86 ff. Aus diesen Motivschwerpunkten, je nach Alter oder Geschlecht, lassen sich wichtige Hinweise für eine „gehirngerechte“ inhaltliche Ansprache für bestimmte Zielgruppen ableiten. In der Privatwirtschaft werden bereits Zielgruppenselektionen nach sogenannten „LimbicTyps®“ (z. B. Bewahrer, Abenteurer, Genießer, Disziplinierte) vorgenommen, um dem Konsumenten näherzukommen. Auch für die Ausgestaltung von Gesundheitskampagnen bzw. den Inhalt von Kommunikationselementen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung lassen sich wichtige Hinweise aus den Erkenntnis‐ sen der unterschiedlichen Persönlichkeitsschwerpunkte ableiten. Werbeslo‐ gans, wie „I make you sexy“ ( ➽ www.imakeyousexy.com) oder „Ewig schlank“ ( ➽ ewigschlank.com) sind auf diese Weise gehirngerecht angelegt und wecken wie bei klassischen Werbemaßnahmen die Sehnsucht, nach einem 90 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="91"?> gewollten Zustand und fokussieren sich auf positive und nicht auf negative Aspekte in Form von Angstappellen. Denn positive Konsequenzen und da‐ mit wahrgenommene Belohnungen stellen Verhaltensbeschleuniger dar, die vom Schweregrad, der Überzeugungsstärke und dem zeitlichen Abstand zur positiven Konsequenz beeinflusst werden (vgl. Müller 2007: 216). Nicht ohne Grund lösen Versprechen wie „Joggen: Topfit in 14 Tagen“ in Zeitschriften wie bspw. FIT FOR FUN einen besonderen Reiz auf Laufwillige aus (vgl. Förster, o. J.). Grundsätzlich weisen Werbeslogans die vier unterschiedlichen Sprechhandlungen Argumentieren, Auffordern, Behaupten und Befehlen auf (vgl. Urban 1980: 146 ff.), mit deren Hilfe gesundheitliche Appelle oder Aufrufe bei einer Zielgruppe ausgelöst werden sollten: Sprechhandlung Beispiele Argumentieren - „Leber heißt Leben.“ ( ➽ www.leber-heisst-leben.de) - „Frische ist Leben.“ ( ➽ www.5amtag.de) Auffordern - „Mach’s mit! “ ( ➽ www.gib-aids-keine-chance.de) - „Alkohol? Kenn Dein Limit.“ ( ➽ www.kenn-dein-limit.de) Behaupten - „Wer leben rettet, schützt auch das eigene.“ ( ➽ www.dguv .de/ impfenschuetzt) - „Aids ist ein Massenmörder.“ ( ➽ www.gib-aids-keine-chan ce.de) Befehlen - „Mach den Impf-Check! “ ( ➽ www.impfen-info.de) - „Runter vom Gas! “ ( ➽ www.runtervomgas.de) Tab. 12: Slogan-Charakteristiken bei Präventionsinterventionen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Urban 1980: 146ff. Auch offene Fragestellungen, z. B. „Brennt’s im Schritt? “ ( ➽ www.liebesl eben.de), „Wie geht’s Dir? “ ( ➽ www.wie-gehts-dir.ch), können sensibilisie‐ ren und den präventiven Denkprozess anregen. Hinsichtlich der Wirkung solcher Slogans ist entsprechend anzumerken, dass gesundheitliche Hand‐ lungsentscheidungen immer von impliziten Einstellungen abhängen, die als unbewusste Spuren unserer Vergangenheit, sprich von automatisch abgerufenen Assoziationen (vgl. De Houwer et al. 2009: 347 f.) bzw. inne‐ ren Vorstellungsbildern beeinflusst werden. Folglich wird die Einstellung gegenüber z. B. Sport bei Menschen von vorhandenen Wissensstrukturen in Form von Assoziationen repräsentiert. Der Begriff Sport kann demzufolge sowohl denotative (objektiv-wertfreie) (z. B. Bewegung, Fitness) als auch 91 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="92"?> konnotative (subjektiv-bewertende) Assoziationen (z. B. Anstrengung, Leis‐ tung, Freude) auslösen (vgl. Hätty 1989: 80 ff.), je nachdem, welche indivi‐ duellen Vorerfahrungen oder welche sozial und kulturell unterschiedlichen Vorstellungsbildern vorliegen. Begründet wird die im Erfahrungsgedächtnis abgespeicherte Bewertung und damit Verknüpfung des Erlebten mit dem körperlichen Empfinden mit dem Konzept des somatischen Markers (vgl. Damasio 1993: 173; Esch/ Möll 2009: 24). 3.4.2.1 Entscheidungsbeeinflussung durch Framing, Priming und Anchoring Menschliche Erfahrungen der Vergangenheit haben immer auch einen Ein‐ fluss darauf, wie die Umwelt aktuell wahrgenommen wird. Dabei werden die durch die menschlichen Sinnesorgane erfassten Informationen der Umwelt, die die Entscheidungsfindung beeinflussen, sowohl bewusst als auch unbe‐ wusst wahrgenommen. Die Entscheidungsfindung hängt folglich von der Darstellung des Entscheidungskontextes und der Entscheidungssituation ab. Diese Erkenntnis ist für die Gesundheitskommunikation von großer Bedeutung, da die neuropsychologischen Erkenntnisse im positiven Sinne für die Gestaltung von z. B. Gesundheitskampagnen genutzt werden können. Die folgenden Befunde zu den Themenfeldern Framing, Priming und Anchoring können besonders dann von Nutzen sein, wenn es darum geht, Entscheidungen zum Wohle der Gesundheit in die gewünschte Richtung zu lenken. Framing In der Psychologie werden „Frames“ (zu Deutsch: Rahmen) als kogni‐ tive Deutungsrahmen bezeichnet, die Meinungen und Entscheidungen beeinflussen, indem bestimmte Werte, Fakten und andere Überlegungen weggelassen, hervorgehoben oder ihnen eine scheinbar größere Relevanz verliehen wird (vgl. Nelson et al. 1997: 569). Anders ausgedrückt wird ein spezifischer Sachverhalt „in einen Rahmen“ gestellt, durch den er eine spezifische Bedeutung erhält. Demzufolge kann unter dem Begriff Framing die Beschreibung eines Entscheidungsproblems verstanden werden, bei dem unterschiedlichen Präsentationen (Framing) strukturell äquivalenter Sachverhalte als Gewinn oder Verlust eingeorndnet werden. Differenziert werden können übergreifend drei unterschiedliche Framing-Arten: Beim attributiven Framing nimmt ein Attribut nur zwei Ausprägungen an, 92 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="93"?> die sich logisch ergänzen (z. B. negativ: 25 % Fettanteil; positiv: 75 % fettarm), um so die Verhaltensentscheidung zu beeinflussen (vgl. Beck 2014: 154). Ein Framing bei riskanten Entscheidungen liegt vor, wenn zwei Entscheidungen zur Wahl stehen. Dabei ist die Entscheidung entweder sicher (z. B. Entscheidung für eine COVID-19-Impfung) oder riskant (z. B. Entscheidung gegen eine Impfung). Beim Handlungsfraiming wird eine Handlung entweder positiv oder negativ dargestellt (vgl. Becker 2014: 155). Mit anderen Worten: Die Beschreibung eines Entscheidungsproblems wird durch unterschiedliche Präsentation (Framing) eines strukturell äqui‐ valenten Sachverhaltes entweder als Gewinn oder als Verlust beschrieben. Während Gewinn-Frames (oder „gain-frames“) den Nutzen des erwünschten Verhaltens in den Mittelpunkt stellen, fokussieren sich Verlust-Frames (oder „loss-frames“) auf die Kosten, die bei einer Nichteinhaltung oder Ablehnung eines Verhaltens entstehen (können) (vgl. O’Keefe 2012: 4 ff.). Beispielsweise wird bei der Darstellung von Behandlungsergebnissen entweder der Nutzen (z. B. „99 von 100 Patienten überleben“) oder der Schaden (z. B. „einer von 100 Patienten stirbt“) betont. Framing stellt folglich die Bezugsrahmensetzung dar. Darüber, ob Gewinn- oder Verlust-Frames eher dazu beitragen, dass Verhalten positiv zu beeinflussen, existiert in der empirischen Forschung kein Konsens (vgl. Hastall/ Sukalla 2013: 211). Um mehr über die Effektivität von Gewinn- und Verlust-Frames aufdecken zu können, bedarf es ange‐ sichts der Komplexität des Geschehens der Berücksichtigung potenzieller Mediatoren und Moderatoren (vgl. Wagner 2017: 8). Es scheint vielmehr bedeutend zu sein, dass die Glaubwürdigkeit und Attraktivität der Quellen, bspw. unterstützt durch den Einsatz von sogenannten „Testimonials“ (vgl. Corcoran 2011: 82, 92) (→ siehe Kapitel 7.2), ausschlaggebend dafür ist, das Verhalten positiv zu beeinflussen. Dabei wird die systematische Änderung der Präferenz als Framing-Effekt bezeichnet (vgl. Pfister/ Jungmann/ Fi‐ scher 2017: 195). Die oft in der Gesundheitskommunikation eingesetzten Medien-Frames können in episodische und thematische Frames unterteilt werden, je nachdem, auf welchen innhaltlichen Bezugsrahmen sie sich stützen (vgl. Iyengar 1991: 13 f.). 93 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="94"?> Frame-Art Beispiele vergleichbarer Basisframe episodische Frames Darstellung von Ergebnissen mithilfe von Einzelschicksalen Betroffener Personalisierung (Perso‐ nen oder Einzelhandlun‐ gen) thematische Frames Darstellung von Ereignissen in einem abstrakten und allgemeinen Zusam‐ menhang alle anderen Basisframes Tab. 13: Episodische und thematische Frames Quelle: lyengar 1991: 13f. Wird bspw. die Gefahr, die vom COVID-19-Virus auf die Gesundheit von Menschen ausgeht, über eine bereits erkrankte Person mit einem schweren Verlauf dargestellt, kann von einem episodischen Frame gesprochen werden. Werden Gesundheitsexperten (wie z. B. Prof. Dr. Christian Drosten) herangezogen, die über populationsbezogene, statistische Hintergründe den Krankheitsverlauf darstellen, stellt dies einen thematischen Frame dar. Zwar steht in beiden Fällen der Krankheitsverlauf im Fokus, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven. Priming Unter dem Begriff Priming wird die Vorbereitung oder Erleichterung einer Reaktion auf einen bestimmten Zielreiz („target“) durch die Verarbeitung eines anderen spezifischen Reizes („prime“) verstanden (vgl. Rüter 2006: 287). Zwar wird der Begriff Priming in der Fachliteratur oft mit Bahnung übersetzt, allerdings leitet sich der Begriff korrekterweise von „to prime“ (zu Deutsch: vorbereiten) ab. Wird bspw. nach der Fortführung bestimmter Begriffe, wie Bananen, Weinrauben, Mandarinen und Birnen gefragt, so ist es sehr wahrscheinlich, dass weitere Obstsorten (wie z. B. Äpfel) genannt werden. Durch die erstgenannten Begriffe erfolgt die „Vorbereitung“ bzw. „Voraktivierung“, sprich, es werden durch den Vorreiz Assoziationen im Gehirn geweckt. Dabei kann die Wahrnehmung über den nachfolgenden Reiz (z. B. Äpfel) sowohl bewusst (supraliminal) als auch unterbewusst (subliminal) erfolgen. Mit anderen Worten liegt die Wahrnehmung entweder unter (lat. sub = unter) oder über (lat. supra = über) der Schwelle des Bewusstseins (lat. limen = Schwelle). Nicht bewusst wahrnehmbar sind Reize, die maximal 30 Millisekunden dargestellt werden (vgl. Uhlhaas 2013: 94 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="95"?> 19). Im Bereich des Primings lassen sich verschiedene Formen des Primings differenziert betrachten (vgl. Werth et al. 2020: 29 f.; Rüter 2006: 287 f.), die im Folgenden vorgestellt werden: ■ Semantisches Priming: Als semantisches Priming wird ein Pri‐ ming-Effekt bezeichnet, bei dem ein vorangestellter Prime die assoziiert oder semantisch verknüpften Gedächtnisinhalte erleichtert. So wird das Wort „Apfel“ (Zielreiz) vom Gedächtnis schneller enkodiert, wenn zuvor das semantisch verwandte Wort „Ernährung“ (Vorreiz) erfolgte als Begriffe aus semantisch völlig anderen Bedeutungsfeldern (z. B. Schnee, Auto). Die vorherige Aktivierung eines semantisch ähnlichen Begriffs verkürzt die Reaktionszeit. ■ Konzeptionelles Priming: Als konzeptionelles Priming wird ein Pri‐ ming-Effekt bezeichnet, bei dem die kognitive Erleichterung durch die Reaktion auf komplexe, mit dem Vorreiz assoziierte Konzepte erfolgte. Es ist wahrscheinlich, dass Wörte wie „Schwimmen“, „Turnen“, „Jog‐ gen“, die konzeptionell miteinander verbunden sind, Priming-Effekte zeitigen. ■ Affektives Priming: Als affektives Priming wird ein Priming-Effekt bezeichnet, der die Reaktion des Vorreizes auf einen nachfolgenden Zielreiz (z. B. „Operation“) erleichtert, wenn dieser dieselbe Valenz (Wertigkeit) wie der Prime (z. B. „unangenehm“) aufweist, bzw. er‐ schwert, wenn dieser anders ist (z. B. „angenehm“). Es erfolgt somit keine semantische, sondern eine affektive bzw. emotionale Bewertung des vorangestellten Reizes. ■ Prozedurales Priming: Als prozedurales Priming wird ein Priming-Ef‐ fekt bezeichnet, bei dem eine bestimmte kognitive oder behaviorale Prozedur erleichtert wird, wenn eine Prozedur in der Vergangheit bereits durchgeführt wurde. So wird die Verarbeitungsstruktur des Targets (z. B. „Reflexion des eigenen Trinkverhaltens“) schneller durch‐ geführt, auch wenn der Prime in einem völlig anderen Kontext oder in Zusammenhang mit einem anderen Thema präsentiert wurde (z. B. „Reflexion des eigenen Schlafverhaltens“). Priming kann im präventiven Kontext vielfach eingesetzt werden, um ge‐ sundheitliche Einstellungen und Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen. Dabei kann sich der vorangestellte Zielreiz auf alle menschlichen Wahrneh‐ mungssinne und damit auf visuelle (Sehsinn), olfaktorische (Geruchssinn), auditive (Hörsinn), gustatorische (Geschmacksinn) und haptische (Tastsinn) 95 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="96"?> Prime-Reize beziehen. Eine Studie zum Thema „Steigerung der Handhygiene von Besuchern eine Intensivstation durch Priming“ belegte, dass visuelle Primes (Sehen: männliche oder weibliche Augen) und olfaktorische Pri‐ mes (Riechen: Zitronengeruch) einen Einfluss auf die Handhygiene haben kann. Denn im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigte sich in der Studie eine signifikante Verbesserung der Handhygiene immer dann, wenn ein Bild von „männlichen Augen“ über dem Handgelspender angebracht war. Keine si‐ gnifikante Verbesserung wurde hingegen bei weiblichen Augen beobachtet. Männliche Augen scheinen folglich andere Emotionen bei den Probanden auszulösen (Autorität, Einfluss etc.) als weibliche Augen. Auch der mit Sauberkeit verbundene Zitrusgeruch hatte eine signifikante Verbesserung der Handhygiene zufolge (vgl. King et al. 2016: 2 ff.). Auch die automatische Aktivierung stimmungskongruenter Inhalte und damit stimmungskongruenter Erinnerungen („mood-congruent me‐ mory“) (vgl. Myers 2014: 347) kann in der Gesundheitskommunikation genutzt werden, da Gedächtnisinhalte, die zur Stimmung während des Ab‐ rufens passen, leichter erinnert werden. Während einer positiven Stimmung werden nicht nur gesundheitsbezogene Sachverhalte positiver betrachtet, sondern auch Urteile auf indirektem Wege „gefärbt“ (vgl. Werth/ Denzler/ Mayer 2020: 113). Anchoring Eine weitere Möglichkeit, gesundheitliches Verhalten positiv zu beeinflus‐ sen, stellt das Anchoring (Verankerung) dar. „Als Anker bezeichnet man eine ursprünglich generierte oder erhaltene Information, welche in einem Beurteilungsbzw. Entscheidungsprozess als Ausgangspunkt dient. Der Anker wirkt dabei unabhängig davon, ob die Information für die Entscheidung relevant ist oder nicht.“ (Enste/ Hüther 2011: 16) Diese Beeinflussungmög‐ lichkeit wird oft in Onlineshops verwendet, indem der ursprüngliche Preis neben dem herabgesetzten Preis positioniert wird. Ein anderes Beispiel stellen Spendenaufrufe („Schon 5 Euro helfen, das Leid vieler Kinder zu lindern“) dar. In beiden Fällen wird bewusst ein Anker gesetzt, um Entschei‐ dungen und Verhaltensweisen zu beeinflussen. Solche Maßnahmen der Verhaltensbeeinflussung werden in der kognitiven Psychologie als Veran‐ kerung bezeichnet, da sich Menschen oft an Referenzwerten orientieren. Dabei können sich Anker auf nummerische Werte und Farbcodierungen oder andere kommunikative Inhalte beziehen. Auch im Gesundheitswesen 96 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="97"?> wird der Anchoring-Effekt verwendet. Dabei kann es zu einem Ancho‐ ring-Bias kommen, der sowohl negative wie auch positive Folgen haben kann. Das folgende Beispiel soll eine solche Ankerheuristik erklären, bei der sich Menschen bei ihrer Urteilsunsicherheit oft an ehemaligen Anker‐ werten orientieren. Derartige Ankerwerte können einen Einfluss auf die Verfolgung von Regeln haben (z. B. Tragen von medizinischen Masken während der COVID-19-Pandemie). Zagury-Orly vermutete bspw., dass die niedrige Akzeptanz von medizinischen Gesichtsmasken in der US-Be‐ völkerung ihren Ursprung in widersprüchlichen Botschaften der WHO hatte (vgl. Zagury-Orly 2020). Denn die US-Bürger orientierten sich an den anfänglichen WHO-Meldungen (z. B. Twitter-Tweet vom 26.03.2020) und nicht an den korrigierten Meldungen der WHO auf Basis neuerer wissenschaftlicher Studien (z. B. Prather et al. 2020; MacIntyre/ Wang 2020). Begründet werden kann dies Orientierung am ursprünglichen Anker mit dem Reihenfolgepositionseffekt bzw. seriellem Positionseffekt (oder „primacy-recency-effect“ oder „serial-position-effect“). Gemäß dem Reihefol‐ gepositionseffekt werden Informationen am ehesten gespeichert, wenn diese zu Beginn (Primary-Effekt) oder am Ende einer Darbietungsabfolge (Receny-Effekt) stehen (vgl. Gerrig/ Zimbardo 2008: 247; Myers 2014: 348). In Abhängigkeit davon, ob die Informationen aus dem Arbeitsspeicher oder durch eine bewusste Informationsverarbeitung im Langzeitarbeitsspeicher aufgenommen wurden, werden die ersten oder die letzten Informationen abgerufen. Informationen, die als emotional relevant und damit als bedeu‐ tungsvoll eingestuft werden, werden eher ins Langzeitgedächtnis übertra‐ gen. Dabei sorgen Wiederholungen für eine höhere Gedächtnisleistung und tragen dazu bei, dass (gesundheitliche) Botschaften langfristig behalten werden (vgl. Hoyer et al. 2013: 190 f.; Homburg 2017: 102). Die zuvor dargestellten Beispiele verdeutlichen, dass es bei der Präventionskommuni‐ kation mitunter auch darum geht, alte (falsche) Anker oder gesundheitliche Mythen aufzubrechen, um neue Verhaltensgewohnheiten zu etablieren. Denn je öfter Informationen auf Menschen einwirken, für umso wahrer werden sie eingeschätzt. Es ist sozusagen nicht verwunderlich, wenn gesundheitsbezogene Mythen, die z. B. durch soziale Medien über lange Zeit sehr stark verbreitet wurden, nicht mehr als solche erkannt und hinterfragt werden. Selbst bei Widerlegung stellt die durch Wiederholung entstandene Vertrautheit eine kognitive Entlastung dar und sorgt dafür, dass Fehlinformationen abgerufen werden. Dieser Bestätigungsfehler oder anhaltende Einflusseffekt („continued influence effect“) ist nicht neu (vgl. 97 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="98"?> Susmann/ Wegner 2021: 11): Bekannt war und ist, dass die Vertrautheit einer Information und damit der subjektive Bekanntheitsgrad dafür verant‐ wortlich zeichnet, dass Gesundheitsmythen als glaubwürdig eingeschätzt werden und oft eine hohe Haltbarkeit haben. Die Tendenz, bekannten Fehlinformationen trotz offenkundiger Falschheit zu vertrauen, wird in der Psychologie auch als illusorischer Wahrheitseffekt („illusory truth effect“ oder „mere exposure effect“) bezeichnet (vgl. Begg et al. 1992: 446 ff.; Hohlfeld 2020: 197). Während in der Vergangenheit oft davon ausgegangen wurde, dass korrigierte Informationen mitunter entgegengesetzte Wirkungen nach sich ziehen können („backfire effect“), gibt es neuer Erkenntnisse, die Hoffnung geben. Denn Fehlinformationen können in der Wahrnehmung dann korrigiert werden, wenn sie von vertrauenswürdigen Personen sind, Verweise auf Faktenprüfartikel beinhalten und „gehirngerecht“ (z. B. mit‐ hilfe leicht nachvollziehbarer Grafiken, alternativer kausaler Erklärungen) aufbereitet werden (vgl. Nyhan 2021). Die psychologischen Erkenntnisse der Framing-, Priming- und Anchoring-Forschung werden insbesondere im Rahmen von Nudges angewendet. 3.4.2.2 Nudging - sanfte Anstupser zur Verhaltensänderung Ein wichtiges Instrument, Menschen in gewünschte gesundheitsbezogene Richtungen zu lenken, stellt das Nudging („sanftes Anstupsen“) dar (vgl. Thaler/ Sunstein 2008: 15). Entwickelt wurde das Konzepte des Nudging vor dem Hintergrund, dass Menschen sich oft irrational verhalten und nicht immer Entscheidungen treffen, die ihrem Wohlergehen dienlich sind (vgl. Thaler/ Sunstein 2009: 7 f.). Denn menschliche Verhaltensweise hängen in hohem Maße von Verhaltenstendenzen, wie bspw. Trägheit, Prokrastination (Aufschub), Framing und Präsentation, sozialen Einflüssen und Schwierig‐ keiten bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeiten, ab (vgl. Reisch/ Sand‐ rini 2015: 26 ff.; Sunstein 2011: 1350 ff.). Nudges stellen keine Ge- oder Verbote, Anreize, Strafen oder Überzeugungsversuche dar, sondern kön‐ nen als Entscheidungs- und Verhaltensumstände bezeichnet werden (vgl. Hansen/ Jespersen 2013: 10). Emotionale Autobahnschilder in Kinderschrift mit dem Aufdruck „Papi, fahr vorsichtig“, Aufkleber mit Schritten, positio‐ niert an Treppen, oder auch die Abstandsmarkierungen im Kassenbereich während der COVID-19-Pandemie stellen solche sanften Erinnerungen an Verhaltensalternativen dar, die zur Veränderung des eigenen Verhaltens anregen sollen. Dabei sollen Nudging-Interventionen Menschen mithilfe 98 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="99"?> einer sogenannten Entscheidungsarchitektur („choice architecture“) dazu bringen, bessere Entscheidungen ohne eine aufwendige Informationssuche treffen zu können (vgl. Thaler 2018: 431). Differenziert werden können Nudges, die sich auf das Einzelwohl von Individuen beziehen („pro-self nudges“), und solche, die dem Gemeinwohl dienen („pro-social nudges“) (vgl. Barton/ Grüne-Yanoff 2015: 344). Im Rahmen von Nudges kommen gemäß der Zwei-Prozess-Theorie der Urteilsbildung (oder „dual process theory of impression formation“) zwei Prozesse der kognitiven Informations‐ verarbeitung zum Tragen (vgl. Kahneman 2003: 1449; Stanovich/ West 2000: 658 ff.), die sich wie folgt unterscheiden lassen (vgl. Kahneman 2003: 1449 ff.; Evans 2008: 256 ff.; Pfister/ Jungermann/ Fischer 2017: 345 f.): ■ Beim System 1 (Default-System) erfolgen die kognitiven und emo‐ tionalen Verarbeitungsprozesse weitgehend automatisch, unwillkürlich und unbewusst. Dabei steuert das System 1 in der Regel die meisten Wahrnehmungen, Urteile, Entscheidungen oder Verhaltensweisen. Das Default-System (engl. default = Voreinstellung) wird entsprechend als System 1 bezeichnet, da das System 1 vom Gehirn automatisch voreingestellt ist, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. ■ Beim System 2 (Interventionsinstanz) laufen die kognitiven Prozesse bewusst und kontrolliert und damit intentional (zielgerichtet) ab. Zum Tragen kommt das System 2 insbesondere dann, wenn die Aufmerk‐ samkeit gefordert ist und wenn wir uns aufgrund unvorhergesehener Ereignisse von Routinen lösen müssen, um eine neue Lösung zu suchen. Nudges lassen sich ensprechend in unterschiedliche Nudging-Typen unter‐ teilen (vgl. Hansen/ Jespers 2013: 23), die in der → Tab. 14 dargestellt sind. Beide Arten (System 1 und 2) haben zum Ziel, automatische Denkweisen zu beeinflussen, indes stellt bei Typ-2-Nudges das reflektierte Denken die Gesundlage für die Beeinflussung des reflektierten Verhaltens in den Vordergrund. Der Nudges-Typ-2 versucht folglich, durch automatische Denkweisen das menschliche Verhalten positiv zu beeinflussen. 99 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="100"?> Klassifikation Transparent Intransparent System 1 (automati‐ sches Denken) Nudge-Typ-1 Facitilation of Consistens Choice: Vereinfachung der kon‐ sistenten Wahl Beispiel: beidseitiges Drucken als standardmäßige Voreinstellung, beruhigende Musik im Flugzeug, visuelle Illusionen im Straßenver‐ kehr (z. B. falsche Straßenlöcher zur Geschwindigkeitsreduktion) Manipulation of Choice: Manipulation der Wahl Beispiel: Anordnung auf Formularen, z. B. Unter‐ schrift am Anfang, Anord‐ nung von Speisen am Buf‐ fet, Anpassung von Tellern und Gläsern an Positions‐ größen System 2 (reflektiertes Denken) Nudge-Typ-2 Transparent Influence of Be‐ haviour: sicht- und erkennbare Versuche der Manipulation Beispiel: grüne Fußspuren, die zu einem Mülleimer führen, Strom‐ rechnung mit vergleichender Ver‐ brauchszahl vom Nachbarn Non-Transparent Mani‐ pulation of Behavior: ver‐ steckte Manipulation des Verhaltens Beispiel: offene Kühltruhe, um Eis zu verkaufen, posi‐ tive oder negative Darstel‐ lung von Altersvorsorgeop‐ tionen Tab. 14: Klassifikation von Typen von Nudges Quelle: Hansen/ Jespers 2013: 23. Grundsätzlich werden Nudges in vielfältiger Weise im Rahmen von prä‐ ventiven Interventionen eingesetzt, um das gesundheitsförderliche Verhal‐ ten von pezifischen Ziel- und Risikogruppen gesundheitsförderlich zu beeinflussen und Denk- und Verhaltensmuster in gewünschte Richtungen zu lenken. Nudges können sich dabei auf unterschiedliche Handlungs‐ felder, z. B. Ernährung, Bewegung, Verkehrssicherheit, Einhaltung der AHA+A+L-Regeln während der Coronapandemie, aber auch unterschiedli‐ che gesundheitsbezogene Settings (z. B. Betrieb, Lebensmittel, Straßenver‐ kehr), beziehen. Dabei können zur Verhaltensbeeinflussung unterschiedli‐ che Nudging-Techniken eingesetzt werden. Die 10 wichtigsten Nudges wurden von Sunstein in seiner Übersicht „Nudging - A Very Short Guide“ zusammengefasst (vgl. Sunstein 2014: 3 ff.). Diese werden im Folgenden exemplarisch am Beispiel der Einhaltung von AHA-Regeln im Einzelhandel kurz erläutert (vgl. Sunstein 2014: 3 ff. in Anlehnung an Pfannes/ Adams/ Rossi 2020: 3): ■ Default-Regeln („default rules“): Bei diesem Nudge wird keine aktive Entscheidung gefällt, da die gewünschte Wahl als Standardoption prä‐ sentiert wird. Ein Beispiel hierfür stellen Lebensmittel (z. B. Tomaten) 100 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="101"?> dar, die bereits verpackt in einer Vitrine positioniert werden, damit Kunden automatisch hygienisch handeln. ■ Vereinfachung („simplification“): Bei diesem Nudge werden (kom‐ plexe) Vorgehensweisen vereinfacht, indem die beste Auswahl als einfache Option dargestellt wird. Markierungen auf dem Boden stellen solche Nudges dar, die dazu beitragen sollen, dass die Abstände im Kassenbereich eingehalten werden. ■ Soziale Normen („use of social norms“): Bei diesem Nudge wird unmissverständlich dargelegt, dass die erwünschte Verhaltensweise bereits von der Mehrheit relevanter Vergleichsgruppen umgesetzt wird. Soziale und altruistische Appelle (z. B. „Solidarisch für alle“ über Lautsprecher), die darauf aufmerksam machen, dass das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes der Gesundheit der Allgemeinheit dient, sind ein Beispiel für solche Nudges. ■ Erhöhung der Bequemlichkeit und Einfachheit („increase of ease and convenience“): Bei diesem Nudges wird durch die Reduzierung von Barrieren versucht, das gewünschte Verhalten in die gewünschte Richtung zu lenken. Ein Beispiel stellen Zugänge zu Gebäuden dar, die die Besucherströme (Ein- und Ausgang) regeln. Weitere Möglichkeiten sind die attraktive Platzierung von Alltagsmasken im Verkaufsbereich oder die zentrale Positionierung von Desinfektionsspray im Eingangs‐ bereich. ■ Offenlegung von Informationen („disclosure“): Bei diesem Nudge werden Informationen leicht zugänglich und verständlich offengelegt. Dies können bspw. Informationsplakate über Coronaregeln sein. ■ Grafische oder andere Warnhinweise („warnings, graphic and otherwise“): Bei diesem Nugde wird durch besonders auffällige Ele‐ mente versucht, die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Dies können Warn‐ hinweise und Informationstafeln sein, die Besucher an die Coronaregeln erinnern, aber auch Schilder, die darauf hinweisen, auf das Händeschüt‐ teln zu verzichten. ■ Strategien zur Selbstbindung („precommitment strategies“): Bei die‐ sem Selbstbindungs-Nudging werden Ziele öffentlich gemacht, um die Verbindlichkeit bei den Besuchern zu erhöhen. Ein Beispiel kann ein Aufruf zur Mitgliedschaft in einer Gruppe für Nachbarschaftshilfe sein, um sich dazu zu bekennen, Einkäufe für Risikogruppen (ältere Menschen etc.) zu tätigen (z. B. REWE-Spot: „Wie seid Ihr füreinander da? “). 101 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="102"?> ■ Erinnerungen („reminders“): Bei diesem Nugde werden Erinnerungen eingesetzt, um Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen. Dies können sowohl Plakate, Informationstafeln oder Schilder sein, um die Besucher an die Einhaltung der Hygienemaßnahmen zu erinnern. ■ Durchführungswillen bedenken („eliciting implementation inten‐ tion“): Bei diesem Nugde werden zur Erinnerung Fragen im Hinblick auf die Handlungsintention eingesetzt. Dies können regelmäßige Lautspre‐ cherdurchsagen sein, bei denen an die Vernunft der Besucher appelliert wird (z. B. „Sitzt Deine Alltagsmaske richtig? “; „Bist Du gut geschützt? “) ■ Informationen über frühere Verhaltensweisen („informing people of the nature and consequences of their own past choice“): Bei diesen Nudge wird an das frühere Verhalten und die Konsequenzen erinnert, um das Verhalten positiv zu beeinflussen. Dies können Informationen darüber sein, dass die Besucher sich und andere gefährden, wenn sie die Hygienemaßnahmen nicht immer und konsequent einhalten. Nudges können entsprechend sehr vielfältig ausfallen und dabei auch positive Verhaltensweisen mit Danksagungen vorwegnehmen („Danke, Ihr seid mit Abstand die besten Kunden“). Die folgenden Beispiele sollen die kreative Vielfältigkeit von Nudgings (mit Gamification-Elementen) exemplarisch verdeutlichen. Dabei handelt es sich um drei originelle Beispiele der von Volkswagen und der Mercedes Benz gestifteten Kampagne „The Fun Theory“ und „WhatAreYouFOR“. ■ Umweltschutz ( ➽ www.youtube.com/ watch? v=zSiHjMU-MUo) ■ Bewegungsförderung ( ➽ www.youtube.com/ watch? v=2lXh2n0aPyw) ■ Verkehrssicherheit ( ➽ www.youtube.com/ watch? v=SB_0vRnkeOk) ■ Händedesinfektion ( ➽ https: / / www.youtube.com/ watch? v=6bSca5Z8lf8) Die Effektivität von Nudges wurde bereits vielfach wissenschaftlich un‐ tersucht: Eine Metaanalyse mit über 100 Nudging-Studien zeigte, dass Default-Nudges die höchste und Selbstbindungs-Nudges die niedrigste Ef‐ fektivität aufweisen (vgl. Hummel/ Maedche 2019: 49 ff.). Der Verbleib bei der einfachen Default-Option (Voreinstellung) wird in der Verhaltensökonomie auch als „stickiness“ bezeichnet (vgl. Pottow/ Ben-Shahar 2006: 652 f.). Be‐ gründet werden können diese Befunde damit, dass einfache Entscheidungen Menschen oft glücklicher machen, bekannt als Überlastungsphänomen („choice-overload-hypothesis“, vgl. Iyengar/ Lepper 2000), Auswahl-Para‐ dox („paradox-of-choice-effect“, vgl. Schwartz 2005) und „Effekt zu großer 102 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="103"?> Auwahl“ („too-much-choice-effect“) (vgl. Scheibehenne et al. 2009). Denn die Zunahme an Optionsvielfalt kann demotiviere Wirkungen haben, da sie eine ständige kognitive Überforderung zur Folge hat. Nicht selten werden Nudges im Rahmen von Gesundheitskampagnen integriert. Hierzu werden anwendungsorientierte Gestaltungsmodelle genutzt, wie bspw. das MINDSPACE-Modell (vgl. Dolan et al. 2012), EAST-Gestaltungsmodell (vgl. BIT 2014), CAN-Design (vgl. Wansink 2015) und 4Ps-Framework-Modell (vgl. Chance/ Gorlin/ Dhar 2014). Dabei stellt das EAST-Gestaltungsmodell eine Weiterentwicklung des MINDSPACE-Frameworks dar. Wie anhand der Darstellung der Nudging-Formen deutlich wurde, können im Rahmen von Nudging-Interventionen eine Vielzahl von Nudges genutzt werden. An dieser Stelle wird exemplarisch aufgrund der hohen theoretischen sowie anwendungsbezogenen Nachvollziehbarkeit und Praktikabilität das MINDSPACE-Modell und das EAST-Gestaltungsmodell vorgestellt. MINDSPACE-Modell MINDSPACE ist ein Akronym für die verhaltensbestimmenden Faktoren (Messenger, Incentive, Norms, Defaults, Salience, Priming, Affect, Commit‐ ment, Ego), die auf Basis neurobiologischer und psychologischer Befunde identifiziert wurden (vgl. Dolan 2012: 265). Ursprünglich entwickelt wurde das Modell vom „Behavioral Insights Team“, einer Regierungsorganisation der Vereinigen Königreichs, für die Nuging-Anwendungen im politischen Kontext. Das MINDSPACE-Framework ist mit dem Konzept des „Nudging“ eng verbunden und wurde auf Basis psychologischer Theorien entwickelt, die annehmen, dass das Verhalten weitgehend automatisch erfolgt und durch den Kontext, in dem Entscheidungen getroffen werden, beeinflusst wird. Kritisch anzumerken ist, dass der Nudging-Ansatz, auf dem MIND‐ SPACE basiert, kognitive Prozesse der Entscheidungsfindung und damit möglicherweise andere potenzielle Triebkräfte der Verhaltensänderung außer Acht läßt (vgl. O’Sullvan et al. 2016: 1028 f.). Die → Tab. 15 gibt am Beispiel des Betrieblichen Gesundheitsmanagements einen Einblick in die Wirkmechanismen und Umsetzungsmöglichkeiten. Dabei können die einzelnen Wirkungsmechanismen als „aktive Zutaten“ für ein „komplexes Gericht“ verstanden werden (vgl. Eichhorn/ Ott 2019: 18). 103 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="104"?> Wirkmechanismen Beschreibung Beispiel: BGM ① Messenger (Absender) Wir werden von den Personen beeinflusst (z. B. Testimonials, Peergroups), die eine Informa‐ tion übermitteln. Einbindung angesehener Mit‐ arbeiterInnen und/ oder Fach‐ leute ② Incentives (Anreiz) Antworten auf Anreize wer‐ den durch vorhersehbare mentale Abkürzungen be‐ stimmt, z. B. Tendenz, Verluste zu vermeiden bzw. Gewinne zu erzielen Anrechnung der Teilnahme an Gesundheitsaktionen als Ar‐ beitszeit ③ Norms (Normen) Wir werden von dem beein‐ flusst, was andere tun, z. B. durch soziale Normen und Netzwerke. Tragen der persönlichen Schutzausrüstung wird von Führungskräften vorgelebt und bei Nichteinhalten offen angesprochen ④ Defaults (Voreinstellungen) Wir schwimmen mit dem Strom bei vorausgewählten Handlungsoptionen. Automatische Anmeldung zu Aktionen mit der Option, sich wieder abzumelden ⑤ Salience (Salienz) Unsere Aufmerksamkeit wird auf Neues und persönlich Re‐ levantes gelenkt. Anbringung von Hinweis‐ schildern mit eingängigen Botschaften an Orten, die für das Verhalten relevant sind ⑥ Priming (Hervorhebung) Unsere Handlungen werden oft durch unbewusste Reize und Auslöser beeinflusst. Auffälligere Platzierung und attraktivere Gestaltung der gesünderen Mahlzeit in der Kantine im Vergleich zur un‐ gesunden Variante ⑦ Affect (Affekt) Unsere Emotionen bestimmen unsere Handlungen. Gestaltung abschreckender Bilder mit Konsequenzen des sicherheits- oder gesundheits‐ gefährdenden Verhaltens ⑧ Commitment (Selbstbindung) Wir streben innerlich nach Konsistenz: bei unseren öf‐ fentlichen Versprechen und zwischenmenschlichen Hand‐ lungen. Öffentliches Commitment für das Gehen von 10.000 Schrit‐ ten pro Tag durch gemeinsame Teil-nahme an einem Wettbe‐ werb ⑨ Ego (Ich-Bezug) Wir verhalten uns so, dass wir uns persönlich besser fühlen. Betonung des individuellen Beitrags zu einer unterneh‐ mensweiten Gesundheitskam‐ pagne Tab. 15: MINDSPACE-Modell Quelle: Eichhor/ Ott 2019: 19 in Anlehnung an Dolan 2013: 266. 104 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="105"?> EAST-Framework Das EAST-Framework besticht durch seine hohe Anwedungsorientierheit, denn das Akronym EAST steht für Handlungsempfehlungen zur Ausgestal‐ tung von Verhaltensanreizen, die einfach (easy), attraktiv (attract), sozial gerecht (social) und zeitlich klug gewählt (timely) sein sollen (vgl. BIT 2014: 4). Dabei unterscheidet sich das EAST-Gestaltungsmodell vom MIND‐ SPACE-Modell (Messenger, Incentive, Norms, Defaults, Salience, Priming, Affect, Commitment, Ego) durch seine Einfachheit und Praktikabilität. Das EAST-Gestaltungsmodell und die in → Tab. 16 dargestellten Prinzipien können als Checkliste für die Ausgestaltung von präventiven Interventionen herangezogen werden, bei der die anwendungsbezogenen Wirkungsme‐ chanismen des MINDSPACE-Frameworks auf kompakte Weise integriert wurden. Dabei kann sowohl das EASTals auch das MINDSPACE-Frame‐ work auf unterschiedlichste präventive Anwendungs- und Handlungsfelder sowie gesundheitbezogenen Settings angewendet werden und beide stellen Hilfestellungen dar, die aus Praktikabilitätsgründen vom Behavioral Insights Team vereinfacht dargestellt wurden. EAST-Prinzipien Zentrale Fragestellung Umsetzung Make it Easy Können die Entscheidun‐ gen einfach getroffen wer‐ den? Wurden die Informa‐ tionen (laien-)verständlich aufbereitet? - Defaults verwenden - Unannehmlichkeiten re‐ duzieren - Informationen einfach und verständlich aufbe‐ reiten Make it Attractive Werden die Botschaften (Slogans etc.) und Entschei‐ dungsoptionen ansprechend und zielgruppenspezifisch dargeboten? - Aufmerksamkeit erregen durch Salienz - Handlungsbereitschaft erzeugen durch Anreize Make it Social Wurden soziale Aspekte (z. B. Vorbilder, stellvertretene Er‐ fahrungen Dritter) oder Ver‐ bindlichkeiten ausreichend in‐ tegriert? - Kraft sozialer Normen einsetzen - Von Netzwerkdynamiken profitieren - Selbstbindungseffekte nutzen 105 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="106"?> Make it Timly Wurde der Zeitpunkte richtig gewählt (z. B. Erinnerungen, verbale Belohnungen)? - Sofortige Reaktionsmög‐ lichkeiten schaffen - Schlüsselmomente wahr‐ nehmen - Realisierungsstrategien unterstützen - Zeitinkonsistenzen ab‐ schwächen Tab. 16: EAST-Prinzipien Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Throun et al. 2017: 30 f.; Eichhorn/ Ott 2019: 34. Anzumerken ist, dass Nudging-Maßnahmen durchaus auch kritisch gesehen werden, da das psychologische Wissen gezielt dazu genutzt werden kann, die Trägheit und Urteilsverzerrung für Eigeninteressen zu nutzen. Aller‐ dings darf gemäß des Grundgedankes des Paternalismus sowohl der Staat, Institutionen als auch einzelne nur dann in die Angelegenheiten Dritter eingreifen, wenn es dem menschlichen Wohl dient (vgl. Dworkin 1983: 19). Nudges (z. B. „Wird oft zusammengekauft“; „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch“) im Onlinehandel zeigen indes, dass Nudges nicht selten für ökonomische Eigeninteressen genutzt werden. Dabei wird zwischen vier Arten des Paternalismus differenziert, einerseits der weiche und harte Paternalismus und andererseits der starke und schwache Paterna‐ lismus (vgl. Kühler 2013: 7 ff.). Beim weichen oder autonomieorientierten Pa‐ ternalismus wird durch Überredung, Warnungen oder Sanktionen versucht, das Verhalten zu beeinflussen. Dahingegen stellt der harte Paternalismus einen radikalen Eingriff in die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit (z. B. durch Verbote) zur Förderung des Wohls dar (vgl. Beck 2015: 88). Der harte Paternalismus kann schwach oder stark ausgeprägt sein: Beim schwa‐ chen Paternalismus stimmen die Interessen überein, während beim starken Paternalismus gegen den Willen und die Interessen gehandelt wird. Das Konzept von Thaler und Sunstein liegt dem „libertären Paternalismus“ bzw. dem „weichen Paternalismus“ zugrunde (vgl. Thaler/ Sunstein 2009: 5 ff.). Die Ausführung sind für Gesundheits-Nudges bedeutend, da bei der Ausgestaltung von Nudges immer auch ethische Regeln beachtet werden sollten (vgl. Meisler 2020: 15): 106 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="107"?> ■ Zweckmäßigkeit: Die mit den Nudging-Maßnahmen verfolgten Ziele sollten immer dem Wohle des Individuums und der Allgemeinheit dienen. ■ Wahlfreiheit: Die Wahlfreiheit der Zielgruppe sollte durch mögliche alternative Handlungsoptionen respektiert werden. ■ Transparenz: Die Anwendung der Nudging-Techniken sollte transpa‐ rent sein, sprich durch kommunikative Maßnahmen begleitet werden. ■ Partizipation: Nudging-Maßnahmen sollten möglichst unter Einbezie‐ hung der betroffenen Zielgruppe gestaltet werden. ■ Absender: In Abhängigkeit davon wer die Nudging-Maßnahme initi‐ iert, kann die Zielgruppenakzeptanz unterschiedlich ausfallen (Messen‐ ger-Effekt). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei der Umsetzung von präventionsbezogenen Nudging-Interventionen eine Wahlmöglichkeit be‐ stehen sollte bzw. Nudges umgangen werden können. Es muss sichergestellt werden, dass Nudges nicht manipulativ sind und die Nudging-Intervention ethisch und moralisch vertretbar ist bzw. dem Wohl des Individuums bzw. der Gesellschaft dienen (vgl. Sunstein 2015: 433 ff.). Wie bedeutend die vorgestellten Regeln sind und warum ethisches Handeln für Präventionsin‐ tereventionen generell fundamental ist, darauf wird im folgenden Kapitel näher eingegangen. Linktipp MINDSPACE- und EAST-Framework des Behavioural Insights Team: ➽ www.bi.team 3.4.3 Ethische und diskriminierende Aspekte Wie im → Kapitel 1.1.3 angesprochen sind laut Abs. 1 SGB V insbesondere die GKVn angehalten, der Verminderung sozial bedingter Ungleichheiten von Gesundheitschancen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sozial benachteiligte Gruppen, wie Menschen mit niedrigem Einkommen, niedri‐ ger Schulbildung und niedrigem sozialen Status sowie Personen mit anderen sozialen Benachteiligungen (z. B. Arbeitslose, Alleinerziehende, Migranten mit unzureichenden Deutschkenntnissen und Behinderte) sollten bei der Konzeptionierung entsprechend berücksichtigt werden (vgl. Rosenbrock 107 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="108"?> 2004: 6). Da eine Risikogruppenstrategie bspw. nach sozioökonomischen Kriterien (wie Einkommen oder sozialer Schicht) je nach Ansprache mit‐ unter einer Diskriminierung gleichkäme, werden soziodemografische Kri‐ terien (z. B. Alter, Geschlecht oder Familienstand) bei der Zielgruppenstra‐ tegie verwendet. Die Ausrichtung auf spezielle Zielgruppen orientiert sich überwiegend an altersspezifischen Merkmalen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene). Da gerade Unternehmen im Gesundheitswesen politische und moralische Institutionen (vgl. Okoniewski 2000: 8) mit sozialem Charakter sind, hängt ihre Existenz im Vergleich zu Profitunternehmen nicht nur von wirtschaftlichen, sondern vor allem von ihren sozialen Ergebnissen ab (vgl. Niedermeier/ Müller 2001: 74). Unethisches Verhalten, bspw. eine gezielte Selektierung oder gar Diskriminierung bestimmter Risikogruppen (→ Ka‐ pitel 3.1), kann sowohl in strafrechtlicher Hinsicht als auch in Form von Reputationsschäden Gefahren in sich bergen. Ferner kann davon ausgegan‐ gen werden, dass eine negative Wahrnehmung zum Vertrauensverlust führt. Wie sensibel Marketingaktivitäten im Bereich der Prävention sein können, zeigt z. B. die Existenz der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V. und zahlreiche negative Reaktionen auf die Werbekampagnen „Eatkarus“ zur gesunden Ernährung des Unternehmens Edeka. In den sozialen Medien erfolgte ein sogenannter Shitstorm mit dem Vorwurf der Diskriminierung übergewichtiger Menschen (dem sogenannten Fatshamings) (vgl. Merkur 2017). Auch der provokante Aktionsfilm der Deutschen Krebshilfe, der auf den gefährlichen Zusammenhang zwischen UV-Strahlung und Hautkrebs hinweist und insbesondere junge Menschen vor dem Gang ins Solarium warnen sollte, löste eine Welle der Empörung aus und wurde vorzeitig abgebrochen und aus dem Netz genommen ( ➽ www.youtube.de - Rosi hat Schwein gehabt) (vgl. Deutsche Krebshilfe 2012). Das Gesamtvertrauen ist insofern dann gefährdet, wenn die Bürger das Gesundheitssystem und einen zu stark wettbewerbsorientierten Präventionsmarkt als inkonsistent und als ethisch nicht vertretbar empfinden. Präventionsinterventionen können aber auch helfen, Stigmatisierungen und negative Stereotype in der Öffent‐ lichkeit durch gesundheitliche Aufklärung und Vorurteile durch spezifische Präventionsinterventionen (z. B. für Drogenabhängige, Übergewichtige) abzubauen. Grundsätzlich kann zwischen öffentlicher Stigmatisierung, Selbststigma und struktureller Stigmatisierung unterschieden werden (vgl. Rüsch 2014: 19 f.). Von öffentlicher Stigmatisierung wird dann gesprochen, wenn eine Minderheit in der Öffentlichkeit als nicht „normal“ eingestuft und verallgemeinernd mit einem Makel behaftet wird (z. B. „Übergewichtige 108 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="109"?> sind faul und willensschwach.“). Beim Selbststigma werden diese Vorurteile von den Betroffenen übernommen und mindern so das Selbstwertgefühl, die Motivation und führen nicht selten zu einem Rückzug. Negative Darstellun‐ gen in den Medien können als strukturelle Stigmatisierungen bezeichnet werden, die systematische Benachteiligungen und das Selbststigma und die Scham wiederum erhöhen (vgl. Rüsch 2014: 19 f.). Da sich Maßnahmen des Präventionsmarketings mehr oder weniger mit unterschiedlichen (stig‐ matisierten) Risikofaktoren und chronischen Erkrankungen (wie z. B. der Drogenabhängigkeit) beschäftigen, ist eine hohe Sensibilität für die jewei‐ lige Zielgruppe unabdingbar. Diskriminierungen können mehr oder minder verdeckt oder offen durch Selektionsentscheidungen, die Kommunikation, den Service, den Preis oder auch über spezifische Rabatte vorgenommen und wahrgenommen werden. Dabei wirkt sich eine wahrgenommene Dis‐ kriminierung nicht nur negativ auf das Motivationsverhalten der direkten (potenziellen) Teilnehmergruppe, sondern auch auf die breite Öffentlichkeit in möglichen Image- und Reputationsschäden aus. 3.4.4 Rechtliche Aspekte und übergreifende Qualitäts‐ anforderungen Rechtliche Restriktionen sind vielfältig und erstrecken sich von der Erstel‐ lung der Dienstleistung bis hin zur zielgruppenspezifischen Kommunika‐ tion mit der jeweiligen Zielgruppe. Bei der Erstellung einer spezifischen Dienstleistung im Präventionsumfeld (Produktpolitik) sind je nach Set‐ ting und Zielgruppe die jeweiligen aktuellen Gesetzgebungen zu beachten (→ Kapitel 1.1.3 und 1.2.4), da diese dafür verantwortlich sind, welcher Markt bzw. welche Zielgruppen für welchen Preis (Preispolitik) auf dem ersten oder zweiten Gesundheitsmarkt (→ Kapitel 1.1.4) erschlossen werden können. Hier ist ebenfalls zu bedenken, dass es für den ersten Gesundheits‐ markt übergreifende Qualitätsanforderungen für primärpräventive Präven‐ tionsangebote existieren. So müssen GKV-finanzierte Präventionskurse in den Handlungsfeldern Bewegung, Ernährung, Stressmanagement und Umgang mit Suchtmitteln von der Zentralen Prüfstelle Prävention zertifi‐ ziert werden. Seit Juni 2016 hat die Zentrale Prüfstelle Prävention auch für digitale Präventions- und Gesundheitsförderungsangebote eigene Qua‐ litätskriterien festgelegt (vgl. Zentrale Prüfstelle Prävention 2021b) (Dis‐ tributionspolitik). Interaktive Selbstlernprogramme, sprich Onlinekurse, Webinare, Fernkurse, Gesundheitscoaching für Gruppen oder Game-ba‐ 109 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="110"?> sed-learning-Angebote, müssen sowohl die normalen Kriterien des Leitfa‐ dens Prävention des GKV-Spitzenverbands erfüllen (z. B. spezifische Grund- und Zusatzqualifikation, Stundenverlaufspläne) (vgl. Zentrale Prüfstelle Prävention 2021a; 2021b; GKV-Spitzenverband 2021), als auch verpflichtet, in besonderer Weise dem Datenschutz (Kommunikationspolitik) Rech‐ nung zu tragen. Zudem werden die Anbieter mittels einer Selbstverpflich‐ tungserklärung aufgefordert, eine Wirkungsevaluation durchzuführen. Sol‐ che digitalen Präventions- und Gesundheitsförderungsangebote werden für ein bzw. drei Jahre zertifiziert, wenn sie bestimmte Qualitätskriterien erfüllen. Bspw. ist der gesundheitliche Nutzen mithilfe einer wissenschaft‐ lichen Studie zu belegen. Steht diese noch aus, kann eine Zertifizierung bei Erfüllung aller anderen Kriterien und der Vorlage des Studiendesigns zunächst für ein Jahr erfolgen. Erst wenn der gesundheitliche Nutzen durch eine mindestens prospektive Vorher-Nacher-Beobachtungsstudie belegt wurde, erfolgt die Zertifizierung durch die Zentrale Prüfstelle Prävention für drei Jahre. Hierbei wird eine Kohortenstudie, bei der zwei Gruppen (Nutzer und Nichtnutzer) in einem Kontrollgruppendesign miteinander verglichen werden, erwartet (vgl. GKV-Spitzenverband 2020: 2 ff.). Zudem ist zu beachten, dass für spezifische Bereiche nicht selten bereits medizinische, evidenzbasierte Behandlungsleitlinien existieren, wie etwa die aktuelle S3-Leitlinie „Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums“ (vgl. AWMF 2021), die zur inhaltlichen Aus‐ gestaltung von Präventionsinterventionen herangezogen werden sollten. Allgemein sollten bei der Kommunikation rechtliche Aspekte, angefangen von der Impressumspflicht bei Druckerzeugnissen und Internetwebseiten (§ 5 TMG/ § 55 RStV) bis hin zu datenschutzrechtlichen Aspekten bei der zielgruppenspezifischen Ansprache, Berücksichtigung finden. Werden bspw. zur zielgruppenspezifischen Ansprache Daten erhoben, sollte das Opt-in-Verfahren und nicht das Opt-out-Verfahren verwendet werden (siehe § 7 UWG: Unzumutbare Belästigung). Beim Opt-out-Verfahren muss der Empfänger selbst aktiv werden, um sich vor unerwünschten Botschaften durch Streichung aus dem Verteiler zu schützen. Hingegen wird beim Opt-in-Verfahren (Single-Opt-in-Verfahren, Confirmed-Opt-in-Verfahren oder Double-Opt-in-Verfahren) vorab das Einverständnis der Empfänger zur Interaktion eingeholt (vgl. Bucher et al. 2016: 25). Die Pflicht zur generellen Einholung einer Einwilligung findet sich im § 4a des Bundesdatenschutzge‐ setzes (BDSG) wieder, Informationen über andere Direktmedien finden sich u. a. im Telemediengesetz (TMG) wieder. Auf besondere personenbezogene 110 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="111"?> Daten (z. B. Gesundheitsdaten) weist wiederum der § 3 Abs. 9 des BDSG hin. Denn die Erhebung, Verarbeitung und Verwendung von persönlichen Daten ist laut BDSG § 4 Abs. 1 nur erlaubt, wenn sie den Prinzipien der Zweckmä‐ ßigkeit, Erforderlichkeit und Zweckbindung entsprechen. Weiterhin sind bei der Datenerhebung und -verwendung die im §§35 SGB I (Sozialgeheimnis) in Verbindung mit dem § 67 SGB X (Sozialdatenschutz) sowie die spezifischen Vorschriften des § 284 SGB V (Sozialdatenschutz der Krankenkassen) zu beachten. Staatliche Institutionen sind laut Behindertengleichstellungsge‐ setz (§ 7 des BGG) verpflichtet, auch Menschen mit Einschränkungen (wie Sehbehinderte und Blinde, Hörgeschädigte und Gehörlose, kognitiv Einge‐ schränkte und Konzentrationsschwache, motorisch Eingeschränkte und Menschen in hohem Alter) eine Teilhabe zu ermöglichen. Doch barrierefreie Webseiten sollten nicht nur für öffentliche Institutionen, sondern auch für private Unternehmen selbstverständlich sein. Der Grund hierfür ist das zunehmende öffentliche Interesse, wie u. a. die Initiative „Barrierefrei kom‐ munizieren und informieren - für alle“ (gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ➽ www.bik-fuer-alle.de und ➽ www.bitvtest.de) zeigt. Exkurs ∣ Health Claims Nährwerts- und gesundheitsbezogene Angaben bei Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln (inkl. Werbung und Aufmachung; soge‐ nannte Health Claims) müssen sich auf allgemeine wissenschaftliche Nachweise stützen und durch diese abgesichert sein. Denn durch die „Verordnung (EG) Nr. 1924/ 2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel“ (Health-Claims-Verordnung, HCV) sollen Verbraucher bei der Auswahl von Lebensmitteln vor irreführender Wer‐ bung geschützt werden. Voraussetzung für die Zulassung von Health Claims ist eine positive Bewertung des Nachweises der gesundheitli‐ chen Wirkung eines Lebensmittels durch die Europäische Behörde der Lebensmittelsicherheit (EFSA). Die Basis stellt eine Liste über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben von Lebensmitteln dar, mit der der Artikel 13 Absatz 3 der Verordnung umgesetzt wurde. Als nicht gesundheitsbezogene Angaben wurden „Haribo macht Kinder froh“, „So wertvoll wie ein kleines Steak“ oder „Red Bull verleiht Flügel“ eingestuft, da diese teilweise wertenden 111 3.4 Gestaltungsspezifische Besonderheiten des Präventionsmarketings <?page no="112"?> Übertreibungen sich nur auf das subjektive Genussempfinden oder allgemeine Wohlbefinden beziehen (vgl. Pressemitteilung der EU-Kom‐ mission vom 01.10.2003). Bei ihren Marketingaktivitäten bewegen sich präventiv agierende Institu‐ tionen zwischen dem Europarecht bzw. dem Wettbewerbsrecht. Neben Ver- und Geboten, die Akteure innerhalb des Gesundheitswesens bei Mar‐ ketingaktivitäten beachten müssen (z. B. Gesetz über die Werbung auf dem Gebiet des Heilmittelwesens (HMG), sind eine Vielzahl an Gesetzen zu beachten, die außerhalb des Gesundheitswesens gelten (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen (MarkenG), Geschmacksmustergesetz (GschmMG), Urhebergesetz (UrhG)) (siehe hierzu auch Fechner 2017). Je nachdem für welche Zielgruppe (z. B. Jugendschutzgesetz - JÖSchG) und für welchen Gegenstand die jeweiligen präventiven Maßnahmen (z. B. DMP, Präventionskurse oder Bonusprogramme der Krankenkassen) initiiert werden, sind weitere Gesetze (z. B. Sozialgesetzbuch) zu berücksichtigen. ✺ Zusammenfassung Gesundheitsmarketing und insbesondere das Präventionsmarketing stellt eine neuere Teildisziplin des Marketings dar. Auch wenn beim Präventions‐ marketing Techniken des kommerziellen Marketings Anwendung finden, erfordert es die Auseinandersetzung mit der Thematik Gesundheit, die Besonderheiten und möglichen Sensibilitäten spezifischer Zielgruppen in besonderer Weise zu beachten. Denn bei der Initiierung von Marketingmaß‐ nahmen sind eine Vielzahl an verhaltenspsychologischen, rechtlichen sowie qualitätsbezogenen Aspekten bei der Entwicklung bis hin zur Vermarktung von Dienstleistungen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung zu berücksichtigen. Je nach Zielgruppe, dem ausgewählten Setting und der jeweiligen Präventionsintervention (z. B. Apps, Nudging) sollte entspre‐ chend genau analysiert werden, welche Motive, Bedürfnisse und rechtli‐ chen Bestimmungen vorliegen. Denn eine ungewollte Herabwürdigung und soziale Diskriminierung bestimmter Zielgruppen kann nicht nur die Zufriedenheit der Teilnehmer stark beeinträchtigen, sondern das Image der Institution stark schädigen. 112 3 Gesundheits- und Präventionsmarketing <?page no="113"?> ✺ Wichtige Schlagwörter Gesundheitsmarketing, Präventionsmarketing, Neuromarketing, Motive, Motivsystem, Emotionen, Diskriminierung, Fatshaming, Priming, Nudging, Recht, Datenschutz, Health Claims ✺ Wiederholungsfragen 1. Was bedeutet multisensory enhancement? 2. Warum ist es so schwer, aus gesundheitspsychologischer Perspektive heraus, gesundheitliches Verhalten zu verändern? 3. Nach welchen Motiven streben Männer und Frauen nach neuropsycho‐ logischen Erkenntnissen? 4. Welche rechtlichen Aspekte sind bei den unterschiedlichen Marketing‐ mix-Instrumentarien zu beachten? 5. Warum ist die Berücksichtigung ethischer Aspekte beim Präventions‐ marketing so bedeutsam? ✺ Literaturempfehlung Fechner F (2021). Medienrecht, 21. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2017). Einführung in die Gesundheitspsychologie, 4. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. Kohlmann CW, Salewski C, Wirtz M (Hrsg.) (2018). Psychologie in der Gesundheits‐ förderung, Bern: Hogrefe Verlag. Scherenberg V. (2018). App-Motivation: Präventions-Apps und ihre motivationalen Anreizkomponenten, in: Gesundheitsförderung KONKRT, Band 22: Digitalisie‐ rung als Treiber von Wandel - Chancen und Barrieren moderner Gesundheits‐ kommunikation und ihre Organisationen. Köln: Bundeszentrale für gesundheit‐ liche Aufklärung, S. 19-31. 113 ✺ Wichtige Schlagwörter <?page no="115"?> Abschnitt III: Marketing als Teilgebiet von Präventionsintervention <?page no="117"?> 4 Marktforschung Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ welche Bedeutung Marktforschung im Präventionsmarketing ein‐ nimmt. ■ zwischen welchen unterschiedlichen Formen der Marktforschung Sie unterscheiden können. ■ was Sie bei der Durchführung von Marktforschungsaktivitäten in qualitativer und ethischer Perspektive beachten sollten. Um passgenaue Präventionsinterventionen entwickeln zu können, sind fundierte Kenntnisse über den Markt, die potenzielle Zielgruppe und deren Verhaltensweisen, Motive und Bedürfnisse notwendig. Ziel der Marktforschung ist es daher, systematisch Daten und Informationen zur Entscheidungsvorbereitung, -unterstützung und -findung zu sammeln und auszuwerten. Damit tragen Marktforschungsbemühungen zu einer sicheren Entscheidungsfindung und zu einer Unsicherheitsreduktion bei (vgl. Bruhn 2016: 4). Indirektes Ziel der Marktforschung ist es, damit die Effektivität und Effizienz von Marketingmaßnahmen zu gewährleisten und zu erhöhen. Dabei nimmt die Sammlung, Selektion, Priorisierung und Verdichtung von Informationsmaterialien für das relevante Entscheidungsproblem automa‐ tisch eine Selektions- und Bewertungsfunktion ein (vgl. Kühn/ Kreutzer 2006: 13). Die Forschungsbemühungen können sich dabei auf alle vier Säulen des operativen Marktingmix (→ Kapitel 7) beziehen und helfen dabei, die folgenden beispielhaften Fragen mithilfe von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden zu beantworten: ■ Produktpolitik: Wie sollte die präventive Dienstleistung ausgestaltet werden, um den Teilnehmerbedürfnissen gerecht zu werden und po‐ sitive Verhaltensänderungen zu erwirken? Sollte es unterschiedliche Dienstleistungsvarianten geben? ■ Preispolitik: Welcher Preis kann für die Dienstleistung (Zahlungsbe‐ reitschaft) in unterschiedlichen Phasen (z. B. Markteinführung) oder <?page no="118"?> für unterschiedliche Zielgruppen (z. B. Studierende) angesetzt werden? Sollte es Rabatte oder ein Bonussystem (zur Motivation) geben? ■ Distributionspolitik: Über welche On- oder Offlinekanäle und über welche Meinungsbildner bzw. Multiplikatoren (z. B. Ärzte) können unterschiedliche Zielgruppen erreicht werden? ■ Kommunikationspolitik: Welche Kommunikationsmittel und wel‐ che Kommunikationsziele sind bei der Zielgruppe relevant? Welche Botschaftenstrategie (z. B. emotionale Appelle, rationale Argumenta‐ tion, humorvolle Appelle oder Angstapelle) zur Erreichung und Über‐ zeugung der Zielgruppe sollte bevorzugt werden? Um die beispielhaften offenen Fragen beantwortet zu können, wird bei der Informationsbeschaffung zwischen den beiden Erhebungsmethoden der Sekundärforschung (resk research: retrospektiver Ansatz) und der Primär‐ forschung (field reseach: prospektiver Ansatz) unterschieden, auf die im → Kapitel 5.1 näher eingegangen wird. 4.1 Informationsgewinnung durch Sekundär- und Primärforschung Die Sekundärforschung stellt die Zweit- und Neuauswertung vorhandener Daten dar. Die Erhebung und Auswertung von Sekundärforschungsdaten wird aus ökonomischer Sicht immer als erster Schritt empfohlen, um auf dieser Basis entscheiden zu können, ob und welche weiteren Daten als Entscheidungsgrundlage mitunter selbst durch eine eigene Erhebung (Primärforschung) erhoben werden müssen (vgl. Koch et al. 2016: 41). Daher stellt die Sekundärforschung immer auch eine Vorbereitung für eine notwendige Primärforschung dar. Bei der Sekundärforschung wird auf vorhandene interne (innerbetriebliche) oder externe (außerbetriebliche) Daten zurückgegriffen. Interne Daten stellen vorhandene Kundenbzw. Teilnehmerdaten, Anmelde- und Abbruchzahlen oder Beschwerden dar. Neben internen Datenquellen sind bei neuen Präventionsinterventionen vor allem unternehmensexterne Datenquellen von Bedeutung, um anhand von epidemiologischen Daten über Risikofaktoren, gesundheitliche Verhaltens‐ weisen und Erkrankungen in der Bevölkerung bedarfs- und zielgruppenge‐ rechte präventive Dienstleistungen entwickeln zu können. 118 4 Marktforschung <?page no="119"?> Sekundärdaten, sprich bereits vorhandene Daten im Gesundheitswesen, stammen oft aus amtlichen oder administrativen Statistiken (vgl. Schöffski 2008: 198). Hierunter fallen bspw. Krankenkassen- und Apothekendaten, pu‐ blizierte klinische Studien, epidemiologische Erhebungen (Registern), Meta‐ analysen und Anwendungsbeobachtungen (vgl. Greiner 2008: 50). Während unter dem Begriff Sekundärliteratur alle Übersichtsarbeiten (Metaanal‐ ysen, HTA-Berichte etc.) subsumiert werden, fallen unter die Kategorie Primärliteratur alle Einzelarbeiten (randomisierte kontrollierte Studien, kontrollierte klinische Studien, Kohorten-Studien, Fall-Kontroll-Studien sowie Surveys und Register) (vgl. Droste 2008: 100 f.). Wichtige Informationen über die Entwicklung u. a. chronischer Erkran‐ kungen liefert die Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) (vgl. Bardehle/ Annuß, 2012: 404). Die in der Onlinedatenbank ( ➽ www. gbe-bund.de) verwendeten Datenquellen befassen sich mit den Häufigkei‐ ten von gesundheitlichen Risikofaktoren, Risikoverhalten, Krankheiten, Gesundheitsstörungen, die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems und auf die Gesundheitskosten. Dabei speist sich die GBE aus amtlichen Sta‐ tistiken des Bundes und der Länder, wie z. B. Bevölkerungsstatistik, Mikro‐ zensus, Pflegestatistik, Krankenhausstatistik, Pflegestatistik, Todesstatistik sowie Statistik meldepflichtiger Erkrankungen, Schwangerschaftsabbrüche, Berufskrankheiten, Geburten und Sterbefälle. Grundsätzlich existieren hin‐ sichtlich der regionalen Perspektive Gesundheitsberichterstattungen auf internationaler (z. B. der OECD, WHO oder Europäischen Kommission) und auf nationaler Ebene (GBE des Bundes, Robert Koch-Institut sowie einzelne Bundesländer). Wichtige nationale Surveys, sprich regelmäßige Erhebungen zu spezifischen Themen, werden u. a. vom Robert Koch-Insti‐ tut durchgeführt, z. B. der Bundes-Gesundheitssurvey bzw. der Deutsche Erwachsenen-Gesundheits-Survey (DEGS), die telefonische Kinder- und Jugendlichen-Gesundheitsstudie (KiGGS) oder der Deutsche Alterssurvey (DEAS). Auf internationaler Ebene können beispielswiese der Internatio‐ nal Health Policy Survey, der Global Drug Survey, Health Behaviour in School-aged Children und National Health Interview Survey genannt wer‐ den. Health-Technology-Assessment-Berichte (kurz HTA-Berichte) schließen neben der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit auch soziale, rechtliche und ethische Aspekte in ihre Bewertungen mit ein und werden u. a. vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation (kurz DIMDI) durchgeführt. 132 HTA-Berichte (Stand Februar 2017) zu vielfältigen The‐ 119 4.1 Informationsgewinnung durch Sekundär- und Primärforschung <?page no="120"?> men (Prävention, Wirksamkeit von Diäten, Rehabilitation, Therapie des Burnout-Syndroms etc.) können mithilfe einer Onlinedatenbank ( ➽ www. dimdi.de) für die Sekundärforschung herangezogen werden. Anzumerken ist, dass bei der Verwendung von Datenquellen immer die Eignung und die Qualität kritisch im Hinblick auf Nützlichkeit, Vollständig‐ keit, Aktualität und Wahrheit (vgl. Berekoven et al. 2009: 22 ff.) geprüft werden sollte. Die folgenden Fragen können dabei helfen, die Datenquali‐ tät besser einzuschätzen (vgl. Scherenberg 2016: 80): ■ Genügen die Daten wissenschaftlichen Gütekriterien? ■ Liegen ausreichende Informationen darüber vor, woher die Daten kommen, wie sie erhoben wurden und wie alt diese sind? ■ Sind die Daten überhaupt für die jeweiligen Marktforschungszwecke bzw. die relevante Thematik angemessen und angebracht? Sekundärdaten sind schneller und kostengünstiger zu beschaffen als Primär‐ daten, allerdings sind diese meist nicht auf die jeweiligen Marktforschungs‐ bemühungen ausgerichtet. Werden Primärdaten erhoben, können diese mit qualitativen oder quantitativen Methoden erhoben werden und zudem einmalig als Querschnittsuntersuchung oder dauerhaft als Längsschnitts‐ analyse angelegt sein (vgl. Magerhans 2016: 67). ■ Qualitative Marktforschung: Ziel der qualitativen Marktforschung (oder auch Motivforschung) ist es, subjektive, nicht quantifizierbare Einstellungen, Motive, Bedürfnisse der potenziellen Zielgruppe und damit Erkenntnisse über das gegenwärtige Verhalten oder eine Verhal‐ tensabsicht zu erlangen. Der zentralen Frage „Warum ist es so? “ wird dabei mithilfe von offenen Interviews und Gruppendiskussionen an einer meist geringen Fallzahl nachgegangen (vgl. Weis/ Steinmetz 2008: 35). ■ Quantitative Marktforschung: Ziel der quantitativen Primärfor‐ schung ist es, objektiven Gegebenheiten und damit quantifizierbare, neue Erkenntnisse über eine Grundgesamtheit zu erlangen. Die zentrale Frage „Was ist? “ wird mithilfe von einseitigen Befragungen (Fragebö‐ gen, Interviews etc.) an einer Untersuchungsgruppe mit hohen Fallzah‐ len versucht zu ergründen (vgl. Weis/ Steinmetz 2008: 35). Qualitative und quantitative Marktforschungsbemühungen schließen sich dabei nicht aus. Sie sollten nicht als konkurrierende, sondern können [1] als ergänzende Verfahren angesehen werden und [2] von den jeweiligen 120 4 Marktforschung <?page no="121"?> Erkenntnisbemühungen abhängen. Obwohl qualitative Methoden den Vor‐ teil haben, dass sie tiefergehende Einstellungen und Motive erheben, daraus unbekannte Trends abgeleitet werden können und Zielgruppen sowie Mar‐ ketingmix-Instrumentarien genauer bestimmt werden können, dominiert in der Praxis die Anwendung quantitativer Methoden (vgl. Weis/ Steinmetz 2008: 36). In beiden Fällen muss das methodische Vorgehen nachvollziehbar und transparent beschrieben, die Ergebnisse kritisch eingeordnet und die Limitation der Ergebnisse offengelegt werden. Wichtig ist in diesem Zusam‐ menhang die Sicherstellung wissenschaftlicher Gütekriterien. Die folgenden Fragen können dabei helfen, allgemeine Standards zu überprüfen und zu gewährleisten. Hinsichtlich der Bedeutung der unterschiedlichen Gütekrite‐ rien ist zu sagen, dass Objektivität eine Voraussetzung für Reliabilität ist und Reliabilität wiederum eine Voraussetzung der Validität ist (vgl. Berekoven et al. 2009: 83). Diese Wirkungskette sollte bei Marktforschungsbemühungen (und bei Evaluationen → Kapitel 8.3) immer berücksichtigt werden. Gütekriterium Relevante Fragen Objektivität Liefert der Fragebogen die gleichen Ergebnisse unabhängig von der befragten Person? Reliabilität Misst der Fragebogen genau? Validität Misst der Fragenbogen, was er messen soll? Interpretierbarkeit Sind die Ergebnisse interpretierbar? Zumutbarkeit Kann der Fragebogen dem Probanden zugemutet werden? Praktikabilität Ist der Fragebogen praktikabel hinsichtlich seiner Anwen‐ dung? Tab. 17: Wissenschaftliche Gütekriterien Quelle: Pieper/ Neugebauer 2014: 5 modifiziert nach Tecic et al. 2010. Ein Pretest, sprich ein systematischer Probelauf stellt sicher, dass Frage‐ bögen oder Interviewer-Leitfäden (sowie andere dienstleistungsbezogene Hilfsmittel, wie z. B. der Test eines Onlineplattform) getestet und optimiert werden können. Mehraufwand, der sich durch einen Probelauf ergibt, und damit die Optimierung eines Fragebogens, lohnen sich, da sich diese später in einer höheren Datenqualität und Responsequote niederschlagen (vgl. Neumann 2006: 210). Dies gilt für die Marktforschung in gleichem 121 4.1 Informationsgewinnung durch Sekundär- und Primärforschung <?page no="122"?> Maße wie für den Einsatz z. B. späterer Responsemittel im Bereich der Kommunikationspolitik oder der Erprobung einer neuen Dienstleistung auf dem Präventionsmarkt. Neben den genannten Qualitätsaspekten sollten bei Marktforschungsbe‐ mühungen - gerade im Gesundheitswesen - ethische Aspekte Berücksich‐ tigung finden, wie das → Kapitel 5.2 offenbaren wird. 4.2 Ethik in der Marktforschung Werden Primärforschungen durchgeführt, so sollten existierende ethische Grundsätze beachten werden. Um das Vertrauen in der Öffentlichkeit welt‐ weit zu pflegen, haben die Internationale Handelskammer (International Chamber of Commerce: ICC) und der European Society for Opinion and Marketing Research (ESOMAR) den ICC/ ESOMAR-Kodex ( ➽ esomar.org) verbindliche ethische Mindeststandards publiziert. Der ICC/ ESOMAR-Ko‐ dex für Mitglieder in mehr als 130 Ländern basiert auf drei Grundprinzipien, die die Markt-, Meinungs- und Sozialforschung in ihrer Geschichte beson‐ ders geprägt haben (vgl. ESOMAR 2016: 7): 1. Bei der Erhebung von personenbezogenen Daten der betroffenen Per‐ sonen für Recherchezwecke müssen Forscher über Informationen, die sie erfassen wollen, dahingehend transparent sein, welche Daten sie planen weiterzuleiten und in welcher Form. 2. Die Forscher müssen sicherstellen, dass die in der Forschung verwen‐ deten personenbezogenen Daten gründlich vor unbefugtem Zugriff geschützt und nicht ohne Zustimmung der betroffenen Person offenge‐ legt werden. 3. Die Forscher müssen sich stets ethisch verhalten und nichts tun, was einem Betroffenen schaden könnte oder den Ruf der Markt-, Meinungs- und Sozialforschung beeinträchtigen könnte. Acht unterschiedliche Artikel sollten die Verantwortung gegenüber den Betroffenen, den Kunden, der Öffentlichkeit und dem professionellen Be‐ rufsstand durch Selbstverpflichtung der Mitglieder gewährleisten (vgl. ESO‐ MAR 2016a: 8 ff). Im Zeitalter der onlinebasierten Marktforschung kommt dem Datenschutz eine besondere Bedeutung zu. Diesem Umstand hat die ESOMAR mit der Entwicklung der „Checkliste zur Selbstüberprüfung von 122 4 Marktforschung <?page no="123"?> Datenschutzregeln und -prozeduren“ Rechnung getragen (vgl. ESOMAR 2016b: 6 ff). Auf nationaler Ebene engagieren sich die Verbände der Markt- und Sozi‐ alwirtschaft dafür, Standards und Richtlinien für unterschiedliche Anwen‐ dungszwecke zu gewährleisten. Insbesondere der Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e. V. (ADM), der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e. V. (ASI), der Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher e. V. (BVM) und die Deutsche Gesellschaft für Online-Forschung e. V. (DGOF) haben sich zusammengeschlossen, um die Qualität von Befragungen durch die Erstellung von Richtlinien und Check‐ listen sicherzustellen. Da gerade im sensiblen Gesundheitsmarkt eine seriöse Vorgehensweise bei der Erhebung von Daten höchste Priorität hat, wurden von den Verbänden der Markt- und Sozialforschung zur Selbstregulierung bereits im Jahre 2007 „Richtlinien für Studien im Gesundheitswesen zu Zwecken der Markt- und Sozialforschung“ erstellt. Darüber hinaus wurden Richtlinien ( ➽ www.adm-ev.de - Richtlinien) für ■ die Aufzeichnung und Beobachtung von Gruppendiskussionen und qualitativen Einzelinterviews, ■ den Einsatz von Mystery Research in der Markt- und Sozialforschung, ■ telefonische Befragungen, ■ die Befragung von Minderjährigen, ■ den Umgang mit Adressen in der Markt- und Sozialforschung, ■ den Umgang mit Datenbanken in der Markt- und Sozialforschung, ■ für Onlinebefragungen, ■ Untersuchungen in den und mittels der Sozialen Medien und ■ den Einsatz von Datentreuhändern in der Markt- und Sozialforschung entwickelt. Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels und der technologi‐ schen Entwicklung ist davon auszugehen, dass die derzeitigen Standesregeln der verschiedenen Berufsverbände weiter ergänzt werden. Nichteinhaltun‐ gen zum Schutz der Branche, der Auftraggeber und der Betroffenen können beim „Rat der Deutschen Markt- und Sozialforschung e.V.“ ( ➽ www.rat-ma rktforschung.de) seit dem Jahre 2001 gemeldet werden und führen zu einer öffentlichen Rüge. 123 4.2 Ethik in der Marktforschung <?page no="124"?> 4.3 Auswahl der Stichproben Werden Primärforschungen vorgenommen, wird aus Zeit- und Kostengrün‐ den sowie aus der Größe der Grundgesamtheit oft eine Stichprobenauswahl, sprich eine Teilerhebung (im Vergleich zur Vollerhebung) vorgenommen. Die Stichprobe (oder auch Sample) ist eine Teilmenge der Grundgesamt‐ heit, die sich auf den jeweiligen vorher definierten Untersuchungsgegen‐ stand bezieht (vgl. Homberg 2012: 245). Dabei verfügt die Teilmenge über die gleichen Merkmale wie die definierte Grundgesamtheit. Je nach univer‐ seller, selektiver oder indizierter Präventionsintervention oder regionaler oder überregionaler Ausrichtung wird eine Eingrenzung bspw. nach dem Alter, Geschlecht, Risikofaktoren oder Erkrankungen vorgenommen. Von den Ergebnissen der jeweils gezogenen repräsentativen Stichprobe wird anschließend auf allgemeine Erkenntnisse geschlossen. Für die Auswahl der Stichprobe wird in der Marktforschung übergreifend zwischen zwei unterschiedlichen Auswahlverfahren differenziert, zum ei‐ nen das Verfahren der Zufallsauswahl (auch Random-Verfahren) und zum anderen das Verfahren der bewussten Auswahl. Für beide Verfah‐ ren, so auch für das einfache, reine Zufallsverfahren stehen unterschiedliche Techniken der Zufallsauswahl zur Verfügung (vgl. Berekhoven 2009: 45): 1. Einfache, reine Zufallsauswahl (oder Lotterie-Verfahren): Bei der Lotterieauswahl besteht die gleiche Auswahlchance für alle Elemente. Hierbei können vier unterschiedliche Techniken genutzt werden: a) Zufallszahlengenerator: Beim Zufallszahlengenerator werden alle Elemente einer Grundgesamtheit durchnummeriert und es erfolgt die anschließende Ziehung mittels eines Zufallsgenerators. b) Systemati‐ sche Zufallsauswahl: Die systematische Zufallsauswahl unterschei‐ det sich von der Auswahl mithilfe eines Zufallsgenerators dahingehend, dass für die Auswahl fixe Selektionsintervalle definiert sind und so bspw. jedes 10. Element gezogen wird. c) Schlussziffernverfahren: Beim Schlussziffernverfahren werden jene Elemente der Grundgesamt‐ heit ausgewählt, die eine bestimmte Endziffer (z. B. 5) aufweisen. d) Buchstabenauswahl: Ausgewählt werden bei der Buchstabenauswahl alle Elemente der Grundgesamtheit, deren Namen einen vorher defi‐ nierten Anfangsbuchstaben haben. 2. Geschichtete Zufallsauswahl (stratified sampling): Bei der ge‐ schichteten Zufallsauswahl werden Elemente vorab in Gruppen einge‐ 124 4 Marktforschung <?page no="125"?> teilt, somit Schichten (z. B. nach Altersgruppen) gebildet und aus diesen Schichten zufällig Elemente ausgewählt. 3. Klumpenauswahl (cluster sampling): Es werden sogenannte Klum‐ pen gebildet, sprich eine Auswahl aus bestimmten Teilkollektiven (z. B. Schulklassen, Vereinssportgruppen, Nachbarschaften, Berufsgruppen oder Stadtteilen) gezogen, dann wird diese zufällige Ziehung als Klum‐ penauswahl bezeichnet. Bei den Verfahren der bewussten Auswahl stehen wiederum unterschiedli‐ che Techniken zur Verfügung, die nicht zufällig, sondern bei denen eine bewusste Auswahl nach interessierten Merkmalen in Form von Samples konstruiert werden (vgl. Berekhoven 2009: 49). 1. Quota-Verfahren: Beim Quota-Verfahren wird die Grundgesamtheit anteilig verteilt (z. B. 55 % Männer, 45 % Frauen), da eine solche Vertei‐ lung für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand eine besondere Rolle spielt. 2. Cut-off-Verfahren: Das Cut-off-Verfahren oder Verfahren nach dem Konzentrationsprinzip geht noch einen Schritt weiter und beschränkt die Auswahl auf eine bestimmte Grundgesamtheit (z. B. Männer), um aufgrund des hohen Klärungsbedarfs neue Erkenntnisse zu gewinnen. 3. Typische Auswahl: Bei der typischen Auswahl werden nach freiem, subjektivem Ermessen die Elemente aus der Grundgesamtheit ausge‐ wählt, die besonders typisch und charakteristisch für den jeweiligen Un‐ tersuchungsgegenstand sind (z. B. Geschlechterverteilung in bestimm‐ ten Berufsgruppen). Bei Marktforschungsaktionen werden von den genannten Methoden nicht selten mehrere Methoden miteinander kombiniert. Dies ist bspw. der Fall, wenn die Grundgesamtheit besonders groß ist und [1] per Zufall ein Gebiet oder eine Gemeinde und [2] eine kleinere Einheit (z. B. Personen mit spezifischen Merkmalen) gezogen wird. Der Stichprobenumfang ist von der voraussichtlichen Responsequote, dem vorhandenen Budget und der gewünschten Präzision der Aussagen abhängig. Wird eine effektive Stichprobe von 300 angestrebt und eine Responsequote von 10 % angenommen, so müsste eine Stichprobe von 3.000 Teilnehmern gezogen werden (vgl. Magerhans 2016: 77). Die Rücklaufquote wird beeinflusst von der Form der jeweiligen Marktforschungsaktion (z. B. Umfang des Fragebogens, Teilnahmeanreize). 125 4.3 Auswahl der Stichproben <?page no="126"?> ✺ Zusammenfassung Marktforschung stellt eine wichtige Grundvoraussetzung für die strategi‐ sche und operative Entscheidungsfindung innerhalb des Präventionsmar‐ ketings dar. Hierbei kann zwischen einer Vielzahl an unterschiedlichen Methoden je nach Erkenntnisinteresse unterschieden werden. Fundamen‐ tal für die Ergebnisse der Marktforschungsbemühungen sind die wissen‐ schaftliche Vorgehensweise und die Einhaltung ethischer Prinzipien der Marktforschung. Unterschiedliche Standards in Form von Richtlinien und Checklisten unterschiedlicher Berufsverbände sichern eine seriöse Vorge‐ hensweise und erhöhen die Qualität und das öffentliche Ansehen. Der Aufwand ist abhängig von dem Erkenntnisinteresse, der gewählten Methode und dem jeweiligen Stichprobenumfang. In Abhängigkeit von der Größe der Grundgesamtheit stehen unterschiedliche Stichprobenauswahlverfahren zur Verfügung, mit denen einzelne Stichprobenelemente aus einer Grund‐ gesamtheit gezogen werden können. Insbesondere bei der Situationsanalyse wird zur Gewinnung relevanter Informationen über den Markt auf die Methoden der Marktforschung zurückgegriffen. ✺ Wichtige Schlagwörter Primärforschung, Sekundärforschung, quantitative Marktforschung, quali‐ tative Marktforschung, Grundprinzipien der Marktforschung, Stichproben‐ auswahl ✺ Wiederholungsfragen 1. In welcher Reihenfolge sollten Sie Primär- und Sekundärforschung betreiben und warum? 2. Welche Daten stehen Ihnen aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zur Verfügung und wo finden Sie diese? 3. Was sollten Sie hinsichtlich der Verwendung von Sekundärdaten aus qualitativer Hinsicht beachten? 4. Wann wenden Sie quantitative und wann quantitative Methoden der Marktforschung an? 126 4 Marktforschung <?page no="127"?> 5. Welche Richtlinie(n) sollten Sie (insbesondere) bei Marktforschungsak‐ tivitäten (im Gesundheitswesen) beachten? ✺ Literaturempfehlungen Koch J, Gebhardt P, Riedmüller F (2016). Marktforschung - Grundlagen und prakti‐ sche Anwendung. 7. Auflage. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter. Magerhans A (2016). Marktforschung - Eine praxisorientierte Einführung, Wiesba‐ den: Springer Verlag. Scherenberg V (2016). Gesundheitsökonomische Evaluationen kompakt - Für Stu‐ dium, Prüfung und Beruf. Bremen: APOLLON University Press Verlag. 127 ✺ Literaturempfehlungen <?page no="129"?> 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ auf welcher Basis Sie strategische Marketingentscheidungen treffen sollten. ■ welche Analyseinstrumentarien Ihnen zur Entscheidungsunterstüt‐ zung zur Verfügung stehen. ■ wie Sie Ihren relevanten Markt eingrenzen, Marketingziele und Zielgruppen definieren. 5.1 Situationsanalyse Um überhaupt strategische Marketingentscheidungen treffen zu können, ist eine fundierte Analyse der Ausgangssituation, sprich eine fundierte Situationsanalyse notwendig. Bei Analyse der Situationsanalyse für eine spezifische Präventionsintervention sind sowohl alle ■ externen Einflussfaktoren (z. B. gesamtgesellschaftliche, epidemio‐ logische, politische und rechtliche Rahmenbedingungen sowie techno‐ logische Entwicklungen) als auch alle ■ internen Einflussfaktoren (z. B. Qualifikation der Mitarbeiter, Un‐ ternehmensimage) einzubeziehen und gegenüberzustellen. Im Einzelnen wird zwischen vier unterschiedlich übergreifenden Formen der Situationsanalyse unterschie‐ den. Dabei werden die externen Faktoren in der Umfeldanalyse, der Markt‐ analyse und der Wettbewerbsanalyse (zusammen Umweltanalyse) und in‐ terne Faktoren in der Kompetenz- und Ressourcenanalyse beleuchtet und mithilfe einer Risiko-Chancen-Analyse und einer Stärken-Schwächen-Ana‐ lyse zusammengefasst in einer Strategic-fit-Analyse gegenübergestellt (vgl. Wirtz 2013: 133) (→ Abb. 8). Durch einen solchen Abgleich zwischen den interner Unternehmensressourcen und den Möglichkeiten und Grenzen der externen Umweltbedingungen soll auf diese Weise eine möglichst optimale <?page no="130"?> strategische und damit vorteilsgenerierende Stimmigkeit (das sogenannte stategic fit) im Rahmen der Situationsanalyse ermittelt und auf dem Markt erreicht werden. Abb. 8: Situationsanalyse Strategic-Fit-Analyse Umfeldanalyse Branchen-/ Marktanalyse Wettbewerbsanalyse Ressourcenanalyse Chancen-Risiko- Analyse Stärken-Schwächen- Analyse  technisch  regulativ  ökonomisch  gesellschaftlich  Marktstruktur  Präventionspotenzial, Nachfrageverhalten  Wettbewerbsverhalten  Wettbewerbsintensität  Kernkompetenz  Ressourcen  Prozesse  Identifikation von Chancen und Risiken aus Umfeld-, Branchen- und Marktentwicklung  Abgleich der externen Chancen und Risiken mit den internen Stärken und Schwächen  Abgleich der Kompetenzen mit dem Wettbewerber  Identifikation der Vor- und Nachteile ggü. dem jeweils besten Wettbewerber Abb. 8: Situationsanalyse Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Wirtz 2013: 133. Besonders wichtig für Präventionsinterventionen und die Zielgruppener‐ reichung und dauerhafte Motivation ist die Analyse des Entscheidungsver‐ haltens von (potenziellen) Teilnehmern als Teilbereich der Marktanalyse. Fragen, die im Rahmen der Analyse des Entscheidungsverhaltens stehen, sind (vgl. Schweiger/ Schrattenecker 2017: 21 f.): ■ Nach welchen Kriterien erfolgt die Beurteilung der Alterativen (sachbe‐ zogene Merkmale, gefühlsbetone Eindrücke, wahrgenommene Risiken, eigener Leidensdruck etc.)? ■ Wie beurteilen die Teilnehmer das eigene Angebot im Vergleich zu Mitbewerberangeboten? ■ Wie werden die Teilnahmeentscheidungen gefällt (extensiv, gewohn‐ heitsmäßig, impulsiv etc.)? ■ Wie werden Informationen aufgenommen (aktiv oder passiv, über welche Medien)? ■ Welche Bedeutung haben soziale Faktoren (Gruppeneinfluss, Mei‐ nungsführer, Leitbilder, Rollenverhalten etc.)? 130 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="131"?> ■ Wie groß ist das Interesse für bestimmte Dienstleistungskomponenten bzw. präventive Handlungsfelder? ■ Wie wird die Werbebotschaft aufgenommen und verarbeitet? Was bewirkt sie? Der Blick auf die marktbezogenen Stärken und Schwächen und die unter‐ nehmensbzw. produktbezogenen Chancen und Risiken soll dabei helfen, wichtige Erkenntnisse über die aktuelle und zukünftige Positionierung zu identifizieren und ggf. eine Interventionsmodifikation bzw. eine Interventi‐ onsvariation (durch z. B. veränderte Bestandteile) oder eine Interventions‐ differenzierung (durch z. B. eine selektive Zielgruppenausrichtung) ableiten zu können. Mithilfe der SWOT-Analyse können die Stärken (Strengths) und Schwächen (Weaknesses) der Präventionsintervention den Chancen (Opportunities) und Risiken (Threats), die sich aus der Umwelt ergeben, gegenübergestellt werden (vgl. Simon/ Gathen 2002: 214). Wie eine Chan‐ cen-Risiken-Analyse für eine Onlinecoaching-Maßnahme im Bereich der Prävention beispielhaft aussehen kann, zeigt die → Tab 18. Threats (Risiken) Opportunities (Chancen) - Schwächung der Wettbewerbs‐ fähigkeit und der Wettbe‐ werbs-Image-Struktur durch ein‐ dringen in etablierte Märkte - Image- und Teilnehmerverlust bei Initiierung qualitativer schlechter Maßnahmen (Gefahr der Negativ‐ propaganda) (z. B. in Bewertungs‐ plattformen) - Trend zur Intransparenz und Orien‐ tierungslosigkeit potenzieller Teil‐ nehmer durch eine zunehmende Angebotsvielfalt - erschwerte Re-Motivierung und er‐ höhte Kosten durch Sättigungser‐ scheinung und erhöhtes Anspruchs‐ denken - erhöhte Kosten durch a) mögliche Verfehlung der Zielgruppe und b) hoher Initiationsaufwand - Gewährleistung der Wettbewerbsfä‐ higkeit durch neue bzw. zusätzliche Möglichkeiten der Gewinnung und - -bindung von Teilnehmern - Imagesteigerung durch öffent‐ lichkeitswirksames gesundheitsför‐ derndes Engagement der jeweiligen Institution - Wissens- und Erfahrungsvorsprung und Wettbewerbsvorteil durch früh‐ zeitige Initiierung einer innovati‐ ven Maßnahme (First-Mover-Ad‐ vantage/ Lerneffekte) - Steigerung des Gesundheitsbe‐ wusstseins und des Präventi‐ onsgedankens sowie positive Einflussnahme auf das Gesundheits‐ verhalten und auf die Lebensqualität der Teilnehmer Tab. 18: Chancen-Risiken-Analyse: Beispiel Onlinecoaching Quelle: Eigene Darstellung. 131 5.1 Situationsanalyse <?page no="132"?> Charakteristisch für eine vollständige SWOT-Analyse ist die Entwicklung einer kompletten Vier-Felder-Tafel, um alle Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken auf einen Blick gegenüberzustellen. Die vollständige SWOT-Analyse hat somit zum Ziel, die Wettbewerbssituation inklusive der möglichen Gefahren und Bedrohungen übersichtlich darzustellen, um auf dieser Basis Empfehlungen für zukünftige Handlungen ableiten zu können. Zentrale Fragen, die bei der Erstellung der SWOT-Analyse herangezogen werden können, finden sich in der → Tab. 19 und können sich sowohl auf das präventiv agierende Unternehmen selbst als auch auf ein Produkt bzw. eine spezifische Präventionsintervention beziehen. interne Perspektive externe Perspektive eigene Stärken eigene Schwächen Chancen am Markt Welche Chancen am Markt können aufgrund von eigenen Stärken genutzt werden? strategisches Fenster Welche Chancen am Markt können aufgrund von Schwächen nicht genutzt werden? Risiken am Markt Welche Risiken im Markt können aufgrund von eigenen Stärken profitabel sein? Welche Risiken im Markt können aufgrund eigener Schwächen riskant sein? strategisches Risiko Tab. 19: Zentrale Fragen einer SWOT-Analyse Quelle: Kreutzer 2017: 94. Aufgrund der Marktdynamik werden Stärken-Chancen-Kombinationen oft auch als strategisches Zeitfenster (oder Window of Opportunity) bezeichnet, da für Unternehmen nur ein begrenztes Zeitfenster zur Verfügung steht, um das Fit zwischen den Marktchancen und der optimalen Entfaltung herzustellen (vgl. Eschen 2002: 229). Neben der SWOT-Analyse steht auf der analytischen Instrumentalebene die Analyse des allgemeinen Kundenbzw. des bisherigen Teilnehmerverhaltens, das Benchmarking und die Lebens‐ zyklusanalyse zur Verfügung. Das Benchmarking kann als Problem‐ wahrnehmungs- und Problemlösungsinstrument verstanden werden, bei 132 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="133"?> dem branchenexterne und brancheninterne Best-Practice- und Worst-Prac‐ tice-Verfahren identifiziert werden, um die eigene präventive Intervention zu optimieren. Zur Motivierung langfristiger Verhaltensänderungen ist der Bedarfslebenszyklus von besonderer Bedeutung. Mithilfe von Bedarfs‐ lebenszyklen können differierende Bedürfnisse einzelner Lebensphasen bestimmter Zielgruppen sowie präventive Interventionsmöglichkeiten über den gesamten Lebensweg eines Individuums (zwischen Geburt und Tod) genauer strukturiert werden. Dieser umfassende konzeptionelle Ansatz der Bedarfsanalyse hat die Aufgabe, ■ eine gegenwartsorientierte Steuerung der Präventionsinterventionen (z. B. durch einzelne Interventionskomponenten) und der Bedürfnisbe‐ friedigung (z. B. durch die Motivationsgestaltung) zu gewährleisten und ■ neue Erkenntnisse für eine zukunftsorientierte Steuerung im Sinne des Relationship-Managements ableiten zu können (vgl. Meffert/ Bruhn 2006: 190). Für die Gestaltung des Prozessablaufs kommt der Teilnehmerlebenszyk‐ lus (im Rahmen der Präventionsmaßnahmen) für das Gewinnungs-, Bin‐ dungs- und Rückgewinnungsmanagement der Teilnehmer in Betracht. Denn entgegen der Fokussierung auf einzelne Transaktionen stellt eine transak‐ tionsübergreifende und nachfrageorientierte Perspektive den nachhaltigen Präventionserfolg sicher. Die Ergebnisse der Lebenszyklusanalyse tragen durch die Identifizierung spezifischer Teilnehmerbedürfnisse entscheidend zur zielgruppengerechten Positionierung und zur Überwindung von Teil‐ nehmerbarrieren bei. Zudem sollten die Ergebnisse der Lebenszyklusana‐ lyse in die Konzeptionierung und Gestaltung der Interventionsbestandteile (Produktdesign) und in den Ablauf (Prozessdesign) münden, um so den Prozessmechanismen, sprich die Organisationsstruktur definieren und gewährleisten zu können. Auch bei der Ausgestaltung der Kommunikation (Kommunikationsdesign) kann die Berücksichtigung der Informations-, Beeinflussungs- und Steuerungsziele zu einer dauerhaften Aktivierung der anvisierten Zielgruppe beitragen. Denn neben der Akzeptanzschaffung und Sicherstellung der Teilnehmerbereitschaft („individuelles Wollen“) muss bei der Konzeption präventiver Intervention auch die Vermittlung der rele‐ vanten Fähigkeiten bzw. die Teilnahmefähigkeit („persönliches Können“) (Unterstützungsdesign) berücksichtigt werden. Dies setzt voraus, dass bei der Gestaltung eine langfristige Sicht eingenommen wird und die Erhaltung und der Ausbau eines Gesundheitsbewusstseins fokussiert werden. Die 133 5.1 Situationsanalyse <?page no="134"?> gesammelten Informationen der dargestellten Analysen gehen so in die Definition des Alleinstellungsmerkmals, der Zielgruppen- und Marktseg‐ mentierung und der strategischen Entscheidung ein, bevor die konkrete operative Umsetzung der Präventionsintervention (→ Kapitel 7) erfolgen kann. 5.2 Alleinstellungsmerkmal Ziel der Situationsanalyse ist es, aufgrund der Bestandsaufnahme einen Wettbewerbsvorteil abzuleiten. Der fachspezifische Terminus für die Po‐ sitionierungsherausstellung wird Alleinstellung oder auch Uniqueness genannt. Dabei stellt das sogenannte Unique Selling Proposition (kurz USP) das einzigartige und unverwechselbare Nutzen- und Teilnehmerver‐ sprechen der Präventionsintervention (Benefit) gegenüber Angeboten des Wettbewerbers dar. Dabei kann sich die Unverwechselbarkeit auf drei unterschiedliche Formen beziehen (vgl. Elste 2009: 31): ■ Absolute Einzigartigkeit: Die absolute Einzigartigkeit ist gegeben, wenn das Angebot einmalig auf dem Markt ist. ■ Relative Einzigartigkeit: Die relative Einzigartigkeit liegt vor, wenn in einer spezifischen Ausprägung des Präventionsangebotes (z. B. Ser‐ vice, inhaltliches Konzept) eine Überlegenheit vorhanden ist. ■ Situative Einzigartigkeit: Die situative Einzigartigkeit ist gegeben, wenn potenziellen Teilnehmern über die Vergleichsangebote des Wett‐ bewerbs keine konkreten Informationen vorliegen. Dem USP liegen objektiv bewertbare und damit für die anvisierte Zielgruppe deutlich wahrnehmbare Nutzenaspekte der Präventionsintervention (z. B. durch Maßnahmen zur Produktqualität) zugrunde. Erst wenn dieser im Vergleich zum Wettbewerb genannte komparative Konkurrenzvorteil (KKV) bzw. die Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit einer präventiven Dienstleistung inkl. der Dienstleistungselemente definiert worden ist, kann auf operativer Ebene agiert werden. Während das USP als eine reine Behauptung angesehen werden kann, stellt das Reason Why (oder Reason-to-Believe) die nachvoll‐ ziehbare und glaubhafte Begründung für das einzigartige Nutzenversprechen dar (vgl. Fuchs/ Unger 2014: 152). Insbesondere bei der Präferenzstrategie (Qualitätsführerschaft) geht es im Vergleich zur Preis-Mengen-Strategie (Kostenführerschaft) darum, mithilfe qualitativ herausragender Präventions‐ 134 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="135"?> interventionen ein USPs zu erarbeiten und teilnahmefördernd darzustellen. Bei Pionieren und frühen Folgern sind eindeutige Nutzen- und Konkurrenz‐ vorteile durch den hohen Innovationsgrad gegeben. Späte Folger hingegen müssen stärker durch eine Unique Advertising Proposition (UAP) oder auch Unique Communication Proposition (UCP) eine Differenzierung zu ihrem Wettbewerb schaffen (vgl. Bruhn 2015: 147). Im Gegensatz zum USP kann das UAP nicht vom Wettbewerber imitiert werden, da Nachahmer vom Wettbewerb schnell entlarvt werden (vgl. Pepels 2012: 98). Akteure, die auf eine Preis-Mengen-Strategie setzen, sind demnach gezwungen, sich stärker durch eine werbliche Inszenierung zu positionieren. Eine einzigartige und aufmerksamkeitsstarke Kommunikationsbotschaft zeichnet sich durch emo‐ tionale bedeutsame Botschaften aus. Oft steht bei der potenziellen Teilnahme an präventiven Interventionen nicht der gesundheitliche Nutzen, sondern der Beitrag zum eigenen Lebensstil sowie zusätzliche Erlebniswerte im Vorder‐ grund. Verdeutlicht werden kann dieser Aspekt damit, dass viele Menschen Erlebnisparks einfachen Schwimmbädern vorziehen (vgl. Kroeber-Riel 1993, 21). Ein weiterer Ansatz, der gerade für (präventive) Dienstleistungsunterneh‐ men relevant ist, stellt die Unique Passion Proposition (UPP) dar. Das UPP kann als eine Art Spirit verstanden werden, der sich in leidenschaftlichem Engagement der Akteure bezüglich ihrer Dienstleistung, dem Service (vgl. Kreutzer 2017: 400) und insbesondere der präventiven Sache an sich äußert. Das UPP trägt damit zur Stärkung der Glaubwürdigkeit der präventiv agieren‐ den Unternehmen bei. Sowohl das USP, das UCP als auch das UPP münden in einer Alleinstellung des gesamten Marketingkonzeptes (Unique Marketing Proposition) (→ Abb. 9). Abb. 9: Unique Marketing Proposition UMP = Unique Marketing Proposition = Alleinstellung durch die Einzigartigkeit des Marketingkonzepts USP = Unique Selling Proposition UCP = Unique Communication Proposition UPP = Unique Passion Proposition Alleinstellung durch die produktbezogene Einzigartigkeit Alleinstellung durch die kommunikative Einzigartigkeit Alleinstellung durch die leidenschaftliche Einzigartigkeit Abb. 9: Unique Marketing Proposition Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kreutzer 2017: 401. 135 5.2 Alleinstellungsmerkmal <?page no="136"?> 5.3 Zielgruppen- und Marktsegmentierung Um passgenaue Präventionsprodukte und Marketingmaßnahmen für Prä‐ ventionsdienstleistungen entwickeln und umsetzen zu können, bietet sich die Spezifizierung auf eine abgegrenzte Zielgruppe, die sogenannte Markt‐ segmentierung an. Die Segmentierung des Marktes bzw. der Zielgruppe nach bestimmten Clustern sollte [1] möglichst gleich (intern homogen) sein aber sich [2] von anderen Teilsegmenten unterscheiden (extern heterogen) (vgl. Bruhn 2014: 59). Die genaue Segmentierung des Marktes kann dabei auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen (vgl. Steffenhagen 2008: 39 ff.): ■ Marketingsegmentierung nach Anbietermerkmalen: Bei der Seg‐ mentierung nach Anbietermerkmalen wird der Markt nach Geschäfts‐ modellen unterteilt (z. B. onlinegestützte Präventionskurse versus klas‐ sische Präventionskurse). ■ Marktsegmentierung nach Produkt- und Leistungsmerkmalen: Von einer Segmentierung nach Produkt- oder Leistungsmerkmalen ist die Rede, wenn die Segmentierung bspw. nach präventiven Handlungs‐ feldern (z. B. Bewegung, Ernährung) erfolgt. ■ Marktsegmentierung nach Bedürfnismerkmalen bzw. Funktio‐ nen: Wird die Unterteilung des Marktes bei präventiven Angeboten bspw. nach Leistungsorientierung, Freizeit- und Spaßorientierung oder Präventionsorientierung vorgenommen, so wird von einer Marktseg‐ mentierung nach Bedürfnismerkmalen gesprochen. ■ Marktsegmentierung nach Kundenmerkmalen: Bei einer Markt‐ segmentierung nach Kundenmerkmalen erfolgt eine Unterteilung bspw. nach geografischen (z. B. Bundesland, Stadt), soziodemografischen (z. B. Alter, Geschlecht), sozialpsychologischen (z. B. Lifestyle) oder verhaltensspezifischen Merkmalen (z. B. Bewegung). Die Marktsegmentierung hat dabei die Aufgabe, [1] die Identifikation und [2] die Definition von Marktsegmenten als Basis für eine zielgruppen- und bedarfsspezifisch maßgeschneiderte Interventionsstrategie (Target-Mar‐ keting) vorzubereiten (vgl. Simon/ Gathen 2002: 273 ff.; Meffert/ Bruhn 2006: 153 ff.). Neben spezifischen Daten zur bedürfnisgerechten Ansprache ste‐ hen als Schlüssel für die erste Ansprache oft soziodemografische Daten zur Verfügung. Zudem werden mithilfe des Präventionsmarketings eigene Daten erhoben. Ziel ist es, jedem Teilnehmer die bestmögliche Betreuung 136 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="137"?> zur (dauerhaften) Stimulierung des Gesundheitsverhaltens zukommen zu lassen. Profildaten innerhalb von Präventionsinterventionen können sein: Abb. 10: Profildaten präventiver Interventionen psychografische Daten Lebensstil, Motive und Einstellungen, Interesse und Motivation sozioökonomische Daten Bildung, Beruf, Arbeitslosigkeit Art/ Dauer der Mitgliedschaft geografische Daten Makro: Bundesland, Stadt Mikro: Wohngebiet, Stadtteil soziodemografische Daten Geschlecht, Familienstand, Anzahl Kinder, Alter (Lebensphase) verhaltensbezogene Daten Teilnahme- und Präventionsverhalten Kommunikationsverhalten einstellungsbezogene Daten Anreiz- und Gesundheitspräferenzen Servicepräferenzen Mögliche Profildaten präventiver Interventionen Grunddaten Aktions- / Reaktionsdaten Potenzialdaten zielgruppenspezfische Kommunikation systematische Ermittlung des Präventions-, Kommunikations-, Unterstützungsbedarfs auf Wunsch (Permission) Selbstselektion Fremdselektion Datensegmentierung als Basis zielgruppenspezifischer Unterstützung der Teilnehmer Abb. 10: Profildaten präventiver Interventionen Quelle: Scherenberg 2008: 116 in Anlehnung an Wirtz 2005: 224. Die so gebildeten Zielgruppen fungieren als eine Art Kompass für die ziel‐ gerichtete Verhaltensmobilisierung der potenziellen Teilnehmer. Auf Basis der Erkenntnisse der dargestellten Analyseinstrumente lässt sich systema‐ tisch eine Beziehung (Relationship Management) aufbauen. Zentrales Ziel sollte es sein, anhand der Segmentcharakteristika (z. B. unterschiedliches Präventionsverhalten je nach Geschlecht und Alter) und der Bedarfsprofile eine zielgerichtete Betreuung vorzunehmen. Anstatt einer Fokussierung auf einzelne Transaktionen soll eine transaktionsübergreifende und nach‐ frageorientierte Perspektive den nachhaltigen Erfolg sicherstellen. Nur so erfüllen aufgestellte Ziele eine ■ Orientierungsbzw. Lenkungsfunktion der Maßnahmen, ■ Kontrollfunktion durch die Bewertungsmöglichkeit sowie 137 5.3 Zielgruppen- und Marktsegmentierung <?page no="138"?> ■ Motivationsfunktion durch zielgerichtete Handlungen der Institutio‐ nen (sowie der Teilnehmer) (vgl. Kreutzer 2006: 54). Voraussetzung für die Marktsegmentierung ist, dass spezifische Grundsätze beachtet werden sollten, die eine hohe Zielorientierung gewährleisten (vgl. Kotler/ Bliemel 2006: 451 f.; Freter 2008: 90 ff.; Meffert et al. 2012: 194 f.): ■ Verhaltensrelevanz: Die Segmentierungskriterien sollten einen un‐ mittelbaren Zusammenhang (zum Kauf- und Konsumverhalten bzw.) in Bezug zur jeweiligen Präventionsintervention z. B. zum Präventions- und Risikoverhalten aufweisen. ■ Zeitliche Stabilität: Die Segmentierungskriterien sollten in Bezug auf die Verhaltensweisen der Zielgruppen für einen längeren Zeitraum stabil sein. ■ Ausreichende Segmentgröße: Die Segmentierungskriterien sollte die Teilmenge nicht soweit eingrenzen, dass eine gezielte Ansprache nicht mehr möglich ist. ■ Bezug zur Marktbearbeitung: Die Segmentierungskriterien stellen die Basis für die operationale Marktbearbeitung dar und sollen differen‐ zierte Hinweise für den Einsatz der Marketinginstrumente geben. ■ Ansprechbarkeit und Zugänglichkeit: Die Segmentierungskriterien sollten so ausgewählt werden, dass die Teilmenge mit den Marketin‐ ginstrumenten und ausgewählten Medien ansprechbar ist. ■ Messbarkeit: Die Segmentierungskriterien sollten so gewählt werden, dass die Marktsegmente quantifizierbar sind. Aus der Marktsegmentierung ergeben sich Marktsegmente, die es ermög‐ lichen, den anvisierten Markt mit unterschiedlichen Marktsegmenten zu bearbeiten. Bevor eine geeignete Markteintritts- und Marktbearbeitungs‐ strategie festgelegt wird, ist es notwendig, Marketingziele festzulegen, aus denen dann die jeweilige Strategie abgeleitet wird. 5.4 Marketingziele und -strategie Strategische Marketingziele lehnen sich an übergeordnete Unternehmens‐ ziele an, sie stellen die Ausgangsbasis für die Strategiefestlegung und die Planung der Marketingkonzeption dar. Damit sind strategische Marketing‐ ziele ein übergeordnetes Zielsystem für das jeweilige Unternehmen, von 138 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="139"?> denen operative Marketingziele einzelner Marketingbereiche systematisch abgeleitet und umgesetzt werden (vgl. Hermanns et al. 2012: 71). Zur Operationalisierbarkeit von Zielen ist es notwendig, Ziele zu präzisieren. Entsprechend sollten Ziele sowohl quantitativ wie auch qualitativ nach dem SMART-Prinzip spezifiziert werden. Somit müssen Ziele klar definiert (specific bzw. stated), messbar (measurable), erreichbar (achievable), rele‐ vant und realistisch (relevant bzw. realistic) und mit eindeutigen Terminen (targeted bzw. time-oriented) versehen werden (vgl. Angermeier 2005: 409). Werden Marketingmaßnahmen für Präventionsinterventionen geplant, so muss definiert werden, welche inhaltlichen Ziele als Voraussetzung für eine kurz-, mittel- und langfristige Erreichung und Motivierung der Zielgruppen notwendig sind. Die zeitlichen Ziele sind so zu definieren, dass sie die finanzielle Zielerreichung (z. B. Deckungsbeitrag, Umsatz, Kosten‐ einsparung) sicherstellen. Finanzielle Ziele orientieren sich dabei an den ökonomischen Interessen der jeweiligen Institution. Während bspw. Kran‐ kenkassen durch die positive Gesundheitsbeeinflussung der jeweiligen Ziel‐ gruppe Krankheitskosten einsparen möchten, stehen für Institutionen aus der Privatwirtschaft oft eher umsatzspezifische Aspekte im Vordergrund. Dabei werden ökonomische Ziele durch nichtmonetäre, vor-ökonomische bzw. psychographische Zielgrößen (z. B. Bekanntheitsgrad, Teilnehmerzuf‐ riedenheit und -bindung, Loyalität, Weiterempfehlungsrate) beeinflusst, die oft schwer quantifizierbar sind. Zu den psychographischen Zielen zählen ebenfalls die für die Prävention so wichtige Änderung des gesundheitlichen Risikoverhaltens oder die Zunahme an Gesundheitskompetenzen der Teil‐ nehmer, die im Rahmen der jeweiligen Intervention geplant ist. Je nach Setting und Präventionsintervention sind die Zielgrößen passgenau zu bestimmen. Wie unterschiedlich Zielgrößen in Abhängigkeit von der jewei‐ ligen Präventionsintervention aber auch dem gewählten Setting aussehen können, zeigen die in der → Tab. 20 beispielhaft dargestellten Zielgrößen einer Intervention im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung. 139 5.4 Marketingziele und -strategie <?page no="140"?> Zielgrößen: Präventionsinterventionen ökonomische Zielgrößen außerökonomische Zielgrößen - Krankheitskosteneinsparung - Reduzierung von Fehlzeiten - Senkung der Unfallversicherungs- und Ausgleichzahlungsprämien - Steigerung der Produktivität - Senkung der Fluktuationsrate - Return-On-Investment - Steigerung des Bekanntheitsgrads und des Images - Erhöhung der Teilnehmergewin‐ nung und -bindung - Verbesserung der innerbetriebli‐ chen Kooperation und des Arbeits‐ klimas - Steigerung der Mitarbeiterzufrie‐ denheit und der Mitarbeitermotiva‐ tion - Verbesserung der Innovationsfähig‐ keit Tab. 20: Zielgrößen im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung Quelle: Eigene Darstellung. Bei Präventionsinterventionen steht die positive Verhaltensbeeinflussung im Mittelpunkt. Entsprechend bietet sich für die Festlegung wirksamer Präventionsbestandteile, die einen großen Einfluss auf die gesundheitliche Zielsetzung im Rahmen von Maßnahmen im Bereich des Präventionsmar‐ ketings haben, neben dem SMART-Prinzip bei der Definition von Zielen als Orientierung zudem die RUMBA-Regel an. Denn nach der RUMBA-Regel sollten zugrundeliegende Gesundheitsbzw. Verhaltensprobleme bedeut‐ sam (Relevant), für die potenziellen Teilnehmer nachvollziehbar (Under‐ standable), mit hoher Zuverlässigkeit messbar (Measurable), in Bezug auf das angestrebte Gesundheitsverhalten erreichbar (Behavioral) und von allen Teilnehmern beeinflussbar (Attainable) sein (vgl. Schrappe 2001: 389). Die so definierten messbaren Ziele sind in Form von Veränderungsindikatoren innerhalb festgelegter Zeitfenster gleichzeitig im Rahmen der späteren Kontrolle überprüfbar. Die Ziele sind auf der Basis der Situationsanalyse (→ Kapitel 5.1) abzuleiten. Die → Tab. 21 zeigt, wie qualitative und quantitative Ziele für eine Präventionsintervention aussehen können, um anschließend operative Marketingmaßnahmen (→ Kapitel 7) ableiten zu können. 140 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="141"?> qualitative und quantitative Ziele kurzfristig 1 Jahr - Vermarktung der Präventionsintervention (Werbung, PR) - Vertrauensaufbau (bei Teilnehmern und Multiplikatoren) - Schaffung eines Bekanntheitsgrades bei der Zielgruppe: ca. 30 % - Einschreibung in das Präventionsprogramm: Männer: ca. 5 bis 10 % | Frauen: ca. 0,5 bis 2 % - erste Aktivitäten mittelfristig < 3 Jahre - Vertrauensintensivierung - Wissensvermittlung und dauerhafte Aktivierung - Generierung weiterer Neueinschreibungen: ca. 2-3 % - Bindung der Teilnehmer und Zufriedenheitssteigerung: ca. 25-30 % - sporadische Teilnahme: ca. 30 % langfristig > 3 Jahre - Generierung weiterer Neueinschreibungen - Sicherung der dauerhaften Akzeptanz bzw. Teilnahme - Verstärkung der Aktivitäten durch Empfehlungen (Mund‐ propaganda) und Verstärkungseffekte der Teilnehmer unter‐ einander sowie durch Akzeptanz bei den Multiplikatoren (Ärzte etc.) - Verhaltensänderung aufgrund von Wissensvermittlung und gegenseitiger Aktivierung Tab. 21: Kurz-, mittel- und langfristige Zielsetzung Quelle: Eigene Darstellung. Bei der späteren Überprüfung von selbstgesteckten Zielen kann die soge‐ nannte Goal Attainment Scaling (GAS) Hilfestellung leisten, bei der die Ziel‐ erreichung mithilfe einer 5-stufigen Skala (angefangen von „viel mehr als erwartet“ bis „viel weniger als erwartet“) kontrolliert wird (vgl. Schaefer/ Ko‐ lip 2010: 67). Der Leitfaden „Goal Attainment Scaling (Zielerreichungsscala)“ ist auf der Internetseite des Landeszentrums Gesundheit NRW in der Rubrik Gesundheitsförderung/ Qualität/ Evaluationstools/ Methodenkoffer ( ➽ www .lzg.nrw.de) zu finden (vgl. Schaefer/ Kolip 2015). Grundsätzlich haben Präventionsinterventionen den Anspruch, durch systematische Wissensvermittlung positive Verhaltensänderung zu stimu‐ lieren. Neben der Steigerung der Lebensqualität und -dauer soll die Le‐ bensstiländerung zur Reduzierung der Folgekomplikationen und damit zur Kostenreduktion führen. Für einen möglichst hohen Return on Investment (ROI) sind Evaluationen unerlässlich (→ Kapitel 8.3). Intention ist es, durch Evaluationen eine dauerhafte Kontrolle (→ Kapitel 8.4) zur zeitnahen 141 5.4 Marketingziele und -strategie <?page no="142"?> Optimierung initialisieren zu können. Kostenziel ist es, Maßnahmen zu erstellen, die zu möglichst geringen Kosten bei höchstmöglicher Erreichung der qualitativen und quantitativen Ziele eine hohe Zielgruppenerreichbar‐ keit gewährleisten. Das Risiko für Investitionsfehlentscheidungen soll auf diese Weise möglichst geringgehalten werden. Auf Basis der definierten Marketingziele kann nun eine Marketingstrategie abgeleitet werden, die als langfristiger, globaler Verhaltensplan zur Erreichung der Marketingziele angesehen werden kann (vgl. Meffert et al. 2014: 21). Hierbei werden über‐ greifend vier strategische Fragestellungen nach allgemeinen Stoßrichtun‐ gen als Grundlage für das operative Marketing beantwortet (vgl. Kreutzer 2013: 179): 1. Marktfeldstrategie: Welche Produkte und Dienstleistungen im Be‐ reich der Prävention und Gesundheitsförderung werden angeboten? 2. Marktarealstrategie: Wo werden die Produkte und Dienstleistungen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung angeboten? 3. Marktsegmentierungsstrategien: Wer soll als Zielgruppe für die Produkte und Dienstleistungen im Bereich der Prävention und Gesund‐ heitsförderung fungieren? 4. Marktstimulierungsstrategie: Wie werden die potenziellen Teilneh‐ mer stimuliert, um die Produkte und Dienstleistungen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung nachzufragen? Die genannten Strategien führen nach der Beantwortung der vier Entschei‐ dungsfelder zusammenfassend zu einer zentralen Positionierungsstrategie für den jeweiligen Präventionsanbieter. Dabei kann jedes Entscheidungsfeld als Entscheidungskontinuum aufgefasst werden (vgl. Tomczak 1989: 141 ff.), bei dem die Endpole „Beibehaltung der Marktposition“ bis hin „Neupositio‐ nierung“ in Frage gestellt werden. Die Mitte des Kontinuums stellt eine „Umpositionierung“ dar. [1] Marktfeldstrategie Mit der Marktfeldstrategie wird festgelegt, mit welcher Produkt‐Markt‐ Kombination in Zukunft das Wachstumsziel erreicht werden soll. In Ab‐ hängigkeit davon, ob auf dem aktuellen oder auf einem neuen Markt agiert, oder ob neue oder bestehende präventive Interventionen angeboten werden, bestehen unterschiedliche marktfeldstrategische Optionen, die bei der operativen Umsetzung des Marketingmix Berücksichtigung finden. Für 142 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="143"?> eine Institution, die bisher zertifizierte Ernährungskurse (der Zentralen Prüfstelle Prävention) auf dem Präsenzmarkt (vor Ort) angeboten hat, stehen bspw. die in der → Tab. 22 dargestellten Optionen zur Verfügung. Angebote gegenwärtige Präventionsangebote Hinzunahme neuer Präventionsangebote Bedienung ge‐ genwärtiger Märkte Marktdurchdringung Das Angebot wird intensiver vermarktet. Produktentwicklung Neue Angebote werden bspw. im Bereich Bewegung angebo‐ ten. Bedienung zu‐ künftiger Märkte Marktentwicklung Das Angebot wird online an‐ geboten (Erschließung des On‐ linemarkts). Produktdiversifikation Neue Angebote werden für spezifische Zielgruppen (z. B. Kinder, Chroniker) entwickelt. Tab. 22: Ansoff-Matrix Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Ansoff 1966: 162. Bei der Angebotsausweitung und damit der Ausrichtung von Institutionen auf neue Märkte und neue Produkte und Dienstleistungen wird zwischen der horizontalen, vertikalen und lateralen Diversifikation differenziert (vgl. Meffert/ Bruhn/ Hadwich 2015: 228; Yip 1982: 129 f.): ■ Horizontale Diversifikation: Bei der horizontalen Diversifikation werden Produkte und Dienstleistungen angeboten, die einen direkten Bezug zum bestehenden Angebot aufweisen und die gleiche Teilneh‐ mergruppen anvisieren. Beispielsweise liegt eine horizontale Diversi‐ fikation vor, wenn neben Bewegungskursen auch Ernährungskurse offeriert werden. ■ Vertikale Diversifikation: Die vertikale Diversifikation liegt bei einer Erweiterung des Leistungsspektrums entlang der Wertschöpfungskette vor, sprich bei Produkten und Dienstleistungen, die vor- oder nachge‐ lagert sind. Dies ist bspw. der Fall, wenn Anbieter von Bewegungsan‐ geboten gleichzeitig eine Akademie betreiben und staatlich anerkannte Fitnesstrainer für den Eigenbedarf ausbilden. ■ Laterale Diversifikation: Bei der lateralen Diversifikation werden Produkte und Dienstleistungen angeboten, die außerhalb des bisherigen Leistungsspektrums liegen. Beispielsweise liegt die laterale Diversifika‐ 143 5.4 Marketingziele und -strategie <?page no="144"?> tion vor, wenn Anbieter im Bereich Stressprävention gleichzeitig als Reiseanbieter aktiv sind. Die konzentrische und konglomerate Diversifikation stellt eine Unterform der lateralen Diversifikation dar. Während bei der konzentrischen Diver‐ sifikation ähnliche Kundenbedürfnisse (im Falle des Reiseanbieters z. B. Sporturlaub) vorhanden sind, besteht bei der konglomeraten Diversifikation keinerlei Verbindung zum bestehenden Leistungsspektrum (vgl. Ansoff 1965: 132 ff). Neben der Frage nach der Produkt- und Unternehmensdiver‐ sifikation stellt sich die Frage nach der räumlichen bzw. geografischen Marktausrichtung. [2] Marktarealstrategie Bei der Marktarealstrategie fällt die strategische Entscheidung darüber, ob die Produkte und Dienstleistungen auf dem nationalen oder sogar internationalen Markt angeboten werden sollen. Die grundsätzlichen geo‐ politischen Optionen für spezifische Marktareale sind in der → Tab. 23 zusammengefasst. Ausrichtung Beispiele national = Domestic Marketing lokal regional überregional national Stadtgebiet von Bremen Stadt Bremen Bundesland Nordrhein-Westfalen deutschlandweit überregional = International Marketing international multinational transnational global wenige, z. B. deutschsprachige Län‐ der mehrere Länder europaweit weltweit Tab. 23: Regionale Ausrichtung Quelle: Eigene Darstellung in Becker 2001: 301. Anzumerken ist, dass insbesondere bei gesundheitsbezogenen Dienstleis‐ tungen und Produkten nationale Gesetze und Bestimmungen zu berück‐ sichtigen sind, so dass Präventionsdienstleistungen oft auf nationale Marktareale ausgerichtet sind. Ein Beispiel für eine überregionale Markt‐ arealstrategie stellt das Abnehmprogramm BodyChange dar, dass auch in Brasilien und in den USA vermarktet wird (vgl. Welt/ NTV24 2014). Wichtig 144 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="145"?> ist, dass gerade bei überregionalen Marktaktivitäten kulturelle, rechtliche und wirtschaftliche Besonderheiten bei der Marktbearbeitung Berücksich‐ tigung finden. Aber auch schon auf nationaler Ebene können die regionalen Vorlieben (z. B. Ernährung, Bewegung) mitunter stark differenzieren und sind bei der Marktbearbeitung, bei der Entwicklung und der Umsetzung von Präventions- und Marketingmaßnehmen stets zu berücksichtigen. Grund‐ sätzlich können Gebietsausweitungen nach einem erfolgreichen Marktein‐ tritt drei unterschiedliche Ausprägungsformen aufweisen (vgl. Becker 2001: 462): ■ konzentrische Gebietsausweitung: Bei der konzentrischen Gebiets‐ ausweitung wird der Markt und damit die potenziellen Teilnehmer von Präventionsinterventionen ringförmig um das bestehende Marktareal erschlossen. ■ selektive Gebietsausweitung: Werden einzelne Gebiete in der Nähe des bestehenden Marktareals erschlossen, um so regionale Lücken zu schließen, dann ist von einer selektiven Gebietsausweitung die Rede. ■ inselförmige Gebietsausweitung: Von einer inselförmigen Gebiets‐ ausweitung wird gesprochen, wenn bei der Marktbearbeitung z. B. zuerst wichtige Ballungszentren erschlossen werden, um anschließend eine Vernetzung der Zentren untereinander vorzunehmen. Welche Form der Gebietsausweitung gewählt wird, hängt von unterschied‐ lichen Aspekten, bspw. dem vorhandenen Präventionspotenzial, der regio‐ nalen Erfahrung, möglichen und vorhandenen Kooperationspartnern, der Logistik sowie von den zur Verfügung stehenden Personalkapazitäten in den jeweiligen Regionen ab. [3] Marktsegmentierungsstrategie Bei der Marktsegmentierungsstrategie (oder Marktparzellierungsstrategie und Zielmarktstrategie) werden marketingstrategische Entscheidungen über die grundsätzliche Marktabdeckung getroffen. Dabei geht es um die Beantwortung der zentralen Fragen nach der Marktabdeckung, dem Differenzierungsgrad und der Segmentierung des Marktes (vgl. Kreutzer 2013: 190): 145 5.4 Marketingziele und -strategie <?page no="146"?> ■ Marktabdeckung: In welchem Ausmaß soll der Markt abgedeckt werden? ■ Differenzierung: In welchem Umfang soll das Angebot differenziert werden? ■ Segmentierung: Nach welchen Segmentierungskriterien und in wel‐ che Segmente soll der Markt aufgeteilt werden? Die beiden ersten Fragen stellen zentrale Entscheidungen über die ma‐ nagementorientierte Marktorientierung dar und führen automatisch zu Schlussfolgerungen im Bereich der Kommunikations- und Produktpolitik. Die dritte Frage befasst sich mit der taxonomischen Marktsegmentierung (vgl. Kreutzer 2013: 190), bei der große, heterogene Zielgruppen in kleinere, möglichst homogene Zielgruppen mit größeren Ähnlichkeiten (z. B. im Hin‐ blick auf den Präventionsbedarf, die Verhaltensmuster oder die Bedürfnisse) (→ Kapitel 5.2) unterteilt werden. Die → Tab. 24 bietet einen Überblick über die möglichen Marktsegmentierungsstrategien. Marktabdeckung Differenzierung des Marketingprogramms vollständig teilweise undifferenziert Massenmarktstrategie undifferenziertes Marketing Abdeckung des Gesamtmarktes mit einer spezialisierten Präventionsintervention konzentriertes differenziertes Marketing Abdeckung eines Teilmarktes mit einer spezialisierten Präventionsintervention differenziert Marktsegmentierungsstrategie Differenziertes Marketing Abdeckung des Gesamtmarktes mit unterschiedlicher Präventionsintervention selektiv-differenziertes Marketing Abdeckung eines Teilmarktes mit differenzierter Präventionsintervention Tab. 24: Marktsegmentierungsstrategie Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Herrmann/ Huber 2013: 114. Die Marktsegmentierungsstrategie stellt die Grundlage für die Marktseg‐ mentierung bzw. die differenzierte Marktbearbeitung dar. Bei der Markt‐ segmentierung kommt automatisch das Thema „Individualisierung von präventiven Dienstleistungen“ und damit auch die Schaffung eines unver‐ wechselbaren Alleinstellungsmerkmales zum Tragen (→ Kapitel 5.2). 146 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="147"?> [4] Marktstimulierungsstrategie Innerhalb der Marktstimulierungsstrategie bzw. Marktbeeinflussungsstra‐ tegie wird entschieden, ob die Marktbeeinflussung der anvisierten Zielgruppe über Qualitäts- oder Preisaspekte dominiert wird (vgl. Fro‐ böse/ Thurm 2016: 73). Die Marktstimulierungsstrategie geht damit auch im Rahmen von Präventionsinterventionen von den Teilnehmermotiven Qualität oder Preis aus und differenziert zwischen der Präsenzstrategie und der Preis-Mengen-Strategie (vgl. Froböse/ Thurm 2016: 73): ■ Präferenzstrategie (oder Qualitätsstrategie): Bei der Präferenzstra‐ tegie wird ein Präventionsangebot so differenziert, dass qualitativ bzw. leistungsmäßig aus Sicht der Teilnehmer eine Einzigartigkeit (Besser-Prinzip oder Anders-Prinzip) geschaffen wird. Die Anbieter be‐ geben sich bei dieser leistungsfokussierten Vorgehensweise in einen Präsenzwettbewerb, der auf langfristige Differenzierungsvorteile und einen überlegenen Wettbewerbsvorteil setzt. Als Beispiel sind regionale Premium-Fitness-Clubs zu nennen. ■ Preis-Mengen-Strategie (oder Discountstrategie): Bei der Preis-Mengen-Strategie wird eine umfassende Kostenführerschaft an‐ gestrebt, bei dem durch dauerhafte und permanente Reduktion der Kosten der Preisvorteil an die Teilnehmer weitergegeben wird (Bil‐ lig-Prinzip). Bei einer preisfokussierten Vorgehensweise begeben sich die Anbieter in einen Preiswettbewerb. Große Unternehmen, so bspw. Fitness-Ketten mit günstigen Angeboten (z. B. McFIT) verfolgen diese Strategie. Kosteneinsparungen können durch den Verzicht auf kosten‐ intensive Beratungs- und Serviceangebote, eine hohe Standardisierung oder die Beschränkung der Angebotsbreite und -tiefe erreicht werden. Die Präferenz- und Preis-Mengen-Strategie kann sich sowohl auf den Gesamtmarkt als auch auf einen ausgewählten Teilmarkt beziehen. Dabei handelt es sich nicht per se um eine Entweder-oder-Entscheidung, sondern vielmehr kann das Preis-Leistungs-Verhältnis in Form eines Kontinuums dargestellt werden (→ Abb. 11). Bei der Mittellagen-Strategie wird jeweils das durchschnittliche Preis- und Leistungsniveau angeboten (vgl. Froböse 2016: 73). Anzumerken ist, dass Marken (→ Kapitel 7.2) mit Leistungs- und Qualitätsvorteilen oft eine längere Lebenszeit als Marken mit einem Preisvorteil haben, da Leistungs- und Qualitätsvorteile schwerer zu imitie‐ ren sind als Preisvorteile (vgl. Becker 1998: 110 f.). Dabei können die wahr‐ 147 5.4 Marketingziele und -strategie <?page no="148"?> genommenen Leistungs- und Preisvorteile nicht real existieren, sondern lediglich im Vergleich zum Wettbewerb rein subjektiv empfunden werden (vgl. Kreilkamp 1987: 114 ff.). Der Vorteil der Preisstrategie liegt darin, dass sich niedrige Preise leichter vermarkten lassen als erklärungsbedürftige Qualitätsaspekte eines Produktes oder eine Dienstleistung (vgl. Froböse/ Thurm 2016: 74). Leistungsvorteile, die im Rahmen der Präferenzstrategie durch eindeutige Leistungsvorteile vorgenommen werden, beziehen sich auf die Qualitäts‐ aspekte (z. B. Beständigkeit, Verantwortung), Convenience-Aspekte (z. B. Beratung, Service) oder Erlebnisaspekte (z. B. Abenteuer, Events, Enter‐ tainment). Bezogen auf Präventionsinterventionen spielen Erlebnisaspekte bspw. bei Bewegungsangeboten (z. B. Gemeinschaftserlebnis, Spaß am Sport) eine besondere Rolle (vgl. Leyk et al. 2010: 129), aber auch im Rahmen von Onlineinterventionen sind erlebnisbezogene Komponenten förderlich für die Verhaltensmotivierung von Teilnehmern. Abb. 11: Leistungs- und Preisvorteil Leistungsvorteil aus Sicht der Teilnehmer  Qualität (Beständigkeit etc.)  Convenience (Beratung etc.)  Erlebnis (Abenteuer etc.) Preisvorteil für den Teilnehmer Abb. 11: Leistungs- und Preisvorteil Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kreilkamp 1987: 118. Die genannten Positionierungsstrategien sind nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern führen in der Summe zu einer der beispielhaft genannten Gesamtstrategien (vgl. Tomczak/ Kuß/ Reinecke 2014: 192): ■ Präferenzorientierte Marktsegmentierungsstrategie: innovativer und aggressiver Strategiestil, Teilmarktabdeckung, Präferenzstrategie ■ Präferenzorientierte Massenmarktstrategie: innovativer und ag‐ gressiver Strategiestil, Gesamtmarktabdeckung, Präferenzstrategie ■ Aggressive Preis-/ Mengen-Strategie: innovativer und aggressiver Strategiestil, Gesamtmarktabdeckung, Preis-/ Mengen-Strategie Oft sind gerade innovative und aggressive Positionierungsstrategien erfolg‐ reich. Preis-Mengen-Strategien sind dann erfolgsversprechend, wenn sie sich auf einen nationalen Gesamtmarkt beziehen, während Präferenzstrate‐ 148 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="149"?> gien auch auf Teil- und Gesamtmärkten durchschnittliche Erfolge erzielen können (vgl. Tomczak/ Kuß/ Reinecke 2014: 192). Akteure, die sich durch Qualitäts- und Leistungsmerkmale positionieren möchten, verfolgen die Pionierstrategie. Denn neben der Definition des Marktfeldes, des geografi‐ schen Marktes, der Marktabdeckung und des zentralen Wettbewerbsvorteils müssen sich Akteure im Präventionsumfeld Gedanken darüber machen, wie sie sich in zeitlicher Hinsicht gegenüber dem Wettbewerb positionieren wollen. Grundsätzlich können drei unterschiedliche Timing-Strategien un‐ terschieden werden: ■ Pionierstrategie (First-Mover-Strategy): Bei der Pionierstrategie treten Akteure als Innovator auf. Während bei Produkten der Innovationsschutz durch Patente möglich ist, bestehen Schutzmöglichkeiten bei Präventi‐ onsinnovationen nur selten. Durch die frühzeitige Marktpositionierung können Pioniere ihr Marktsegment ohne Rücksicht auf Konkurrenten frei wählen, verschaffen sich Markt-Know-how, sammeln wichtige Erfah‐ rungswerte, strategische Kostenvorteile und können eine Markentreue zu Teilnehmern aufbauen (vgl. Berndt/ Altobelli/ Sander 2016: 187). Diese Vorteile sind indes nur durch hohe Investitionen bei der Markterschlie‐ ßung zu erreichen, zudem können Imageschäden bei unausgereiften Dienstleistungen (mit Kinderkrankheiten) entstehen, von denen Folger profitieren (vgl. Dahm 1995: 127; Tomczak/ Kuß/ Reinecke 2014: 104). ■ Frühe-Folger-Strategie (Second-to-Market-Strategy): Bei der Frü‐ hen-Folger-Strategie (oder Follower-Strategie) kopieren Akteure im Be‐ reich der Prävention Innovationen ohne größere zeitliche Verzögerung. Dabei kann es sich um ein optimiertes Angebot (second-but-better entry) oder um ein reines Duplikat (mee-too entry) handeln (vgl. Schnaars 1986: 28; Rüth/ Haag 2015: 82). Die frühen Folger (early follower) können anhand des Marktverhaltens des Pioniers bestehende Risiken und Chan‐ cen identifizieren (reduzierte Markt-Ungewissheit), um Ableitungen für die eigene Marktbearbeitung vorzunehmen. ■ Spät-Folger-Strategie (Late-to-Market-Strategy): Bei der Spät-Fol‐ ger-Strategie kopieren Akteure im Bereich der Prävention Branchenin‐ novationen nach erfolgreicher Marktetablierung. Späte Folger (late fol‐ lower) profitieren auf diese Weise von etablierten Standards. Vorteilhaft ist die Spät-Folger-Strategie, wenn eigenes Entwicklungs-Know-how fehlt oder technologische Entwicklungen oder Teilnehmerbedürfnisse schwer abschätzbar sind (vgl. Backhaus 1999: 257 f.). 149 5.4 Marketingziele und -strategie <?page no="150"?> Bei technikbezogenen Präventionsleistungen (z. B. Präventions-Apps) kann davon ausgegangen werden, dass die Pionierstrategie besonders vorteil‐ haft ist, da sich die Anbieter einen Zeitvorteil verschaffen. Wird die vor‐ übergehende Monopolstellung genutzt, um Standards zu etablieren, um Markteintrittsbarrieren aufzubauen und um eine hohe Marktdurchdringung zu erzielen, dann können die Wettbewerbsvorteile gesichert werden (vgl. Weiber/ Kollmann/ Pohl 1999: 167). ✺ Zusammenfassung Um strategische Marketingentscheidungen treffen zu können, ist eine fun‐ dierte Situationsanalyse bestehend aus der Umfeld-, Markt-, Wettbewerbs- und Ressourcenanalyse notwendig, um eine SWOT-Analyse erstellen zu können. Das Ergebnis des Abgleichs der internen Stärken und Schwächen mit den externen Chancen und Risiken ist die Darstellung der IST-Situation, um das Alleinstellungsmerkmal (USP) ableiten zu können. Die Definition der Zielgruppe (inkl. Zielgruppensegmentierung), der Marketingziele sowie der Marketingstrategien stellen die weiteren Schritte der zu treffenden strate‐ gischen Entscheidungen dar. Innerhalb der Strategiefestlegung wird genau bestimmt, welche Produkte und Dienstleistungen (Marktfeldstrategie) in welchem regionalen Markt (Marktarealstrategie) und mit welcher Marktab‐ deckung (Marktsegmentierungsstrategie) angeboten werden und auf welche Weise die Zielgruppe beeinflusst wird (Marktstimulierungsstrategie). Die Timing-Strategie legt zudem die Höhe des Innovationsgrads fest und damit, ob sich die präventiv agierenden Institutionen als Pioniere, frühe Folger oder als späte Folger auf dem Markt positionieren möchten. ✺ Wichtige Schlagwörter Situationsanalyse, SWOT-Analyse, Zielgruppensegmentierung, Marketing‐ ziele, SMART-Prinzip, Alleinstellungsmerkmal, RUMBA-Regel, Goal Attain‐ ment Scaling, Marketingstrategie, Produktdiversifikation, Timing-Strategie 150 5 Strategische Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="151"?> ✺ Wiederholungsfragen 1. Welche externen Einflussfaktoren müssen Sie bei der Situationsanalyse als Grundlage für ein Präventionsprogramm zur Hautkrebsvorsorge berücksichtigen? 2. Wo besteht der zentrale Unterschied zwischen der Chancen-Risiko- und der Stärken-Schwächen-Analyse? 3. Nach welchen Merkmalen können Märkte segmentiert werden? 4. Zählen Sie jeweils drei psychografische, verhaltensbezogene und ein‐ stellungsbezogene Merkmale auf! 5. Welche Eigenschaften sollten Ziele aufweisen? 6. Wann wenden Sie eine undifferenzierte Marktstrategie an? ✺ Literaturempfehlungen Meffert H; Bruhn M; Hadwich K (2015). Dienstleistungsmarketing: Grundlagen - Konzepte - Methoden. 8. Auflage. Wiesbaden: Springer Verlag. Tomczak T, Kuß A, Reinecke S (2014). Marketingplanung - Einführung in die marktorientierte Unternehmens- und Geschäftsfeldplanung. Wiesbaden: Sprin‐ ger Verlag. Kreutzer, RT (2017). Praxisorientiertes Marketing: Grundlagen - Instrumente - Fallbeispiele. Wiesbaden: Springer Verlag. 151 ✺ Wiederholungsfragen <?page no="153"?> 6 Anwendungsbezogene Aspekte: Marketing‐ strategische Hintergründe zu spezifischen Präventionsformen Lernziele In diesem Kapitel erhalten Sie einen praxisorientierten Einblick darüber, ■ welche Marketingstrategien und -ziele bei universellen, selektiven und indizierten Präventionsinterventionen sowie Settinginterven‐ tionen angewendet werden. ■ wie vielschichtig und wie komplex Präventionsinterventionen an‐ gelegt werden können. ■ wie untrennbar die Präventionsformen miteinander verbunden sind und welche unterschiedlichen Methoden aufgrund der spezifischen Bedürfnislagen der Zielgruppen Verwendung finden. 6.1 Universelle Präventionsinterventionen Präventionsmaßnahmen, die auf keine spezifische Zielgruppe ausgerichtet sind, bewegen sich im Bereich der universellen oder kollektiven Präven‐ tion. Diese Bevölkerungsgruppenstrategie kann sich auf Maßnahmen für typische Lifestyle-Faktoren (z. B. Bewegung, Ernährung, Sucht oder Stress) oder auf Themen mit einer generellen populationsübergreifenden Relevanz (z. B. HIV-Aufklärungskampagnen, Impfkampagnen, Anti-Rau‐ cher-Kampagnen, Kampagnen zur Verkehrssicherheit oder Verkehrserzie‐ hung) beziehen. Bei Präventionsmaßnahmen, die sich auf einen Gesamt‐ markt ohne einen spezifischen Zielgruppenbezug konzentrieren und nicht auf segmentspezifische Besonderheiten eingehen, kommen bei der Marktbe‐ arbeitung meist undifferenzierte Marketingstrategien mit vollständiger oder teilweiser Marktabdeckung (Massenmarktstrategie oder Schrotflinten‐ methode) (→ Kapitel 5.4) zum Einsatz (vgl. Busch et al. 2013: 122). Zu nennen sind insbesondere Maßnahmen der gesundheitlichen Aufklärung und Bildung (health literarcy), die über massenmediale Kampagnen an <?page no="154"?> die breite Öffentlichkeit getragen werden. Die breite (Teil-)Bevölkerung erhält bspw. bei universellen Interventionen eingehende Informationen und Anleitungen zur gesundheitlichen Verhaltensänderung bspw. über Online‐ portale oder mithilfe von Präventions-Apps. Die → Tab. 25 verdeutlicht die Variationsvielfalt der Themen, die im Rahmen von Aufklärungs- und Informationskampagnen zum Tragen kommen können. Die BZgA hat eine Internetplattform ( ➽ www.wegweiser.bzga.de) errichtet, die übergreifend Transparenz über die mehr als 270 überregional tätigen Fachinstitutionen aus 25 Themenbereichen und die Beschreibungen von acht gesundheitsre‐ levanten Bereichen schafft. Anzumerken ist, dass sich allgemeine Aufklä‐ rungs- und Informationskampagnen im Handlungsfeld Sucht nicht nur auf stoffgebundene Süchte (Alkohol-, Nikotin-, Drogen-, Medikamentensucht etc.) beschränken, sondern sich auch auf stoffungebundene Süchte (z. B. Internet-, Handy-, Spiel-, Kauf-, Arbeits-, Esssucht) beziehen können. Denn stoffungebundene Süchte lösen ähnliche Belohnungseffekte im Gehirn aus wie die Einnahme stoffgebundener Drogen (vgl. Tretter 2012: 7 ff.) und gehen mit unterschiedlichen psychischen, körperlichen und finanziellen Folgeprobleme bei den Betroffenen (und dem sozialen Umfeld) einher. Institution Präventionsthema Internetseiten BZgA HIV-Aufklärung Liebesleben Sexualaufklärung Schwangerschaft sexueller Missbrauch ➽ www.gib-aids-keine-chance.de ➽ www.liebesleben.de ➽ www.sexualaufklaerung.de ➽ www.zanzu.de ➽ www.trau-dich.de BZgA Glückspiel Glückspiel ➽ www.drugcom.de ➽ www.check-dein-spiel.de BZgA BZgA Infektionskrankheiten Impfungen ➽ www.infektionsschutz.de ➽ www.impfen-info.de BZgA Organspende ➽ www.organspende-info.de BMVI, Verkehrssicherheitsrat TAC Mobil in Deutschland e.V. ➽ www.runtervomgas.de ➽ www.meetgraham.com.au ➽ www.besmart-mobil.de Tab. 25: Beispiele für universelle Präventionskampagnen Quelle: Eigene Darstellung. 154 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="155"?> Da universelle Präventionsinterventionen nach dem Gießkannenprinzip unspezifisch vorgehen, bergen sie hohe Streuverluste in sich. Dabei kon‐ zentriert sich die undifferenzierte Marktbearbeitung aufgrund der hohen Homogenität des Marktes auf die Gemeinsamkeiten und nicht auf die Unterschiede der Motivationsstruktur der breiten Öffentlichkeit (vgl. Busch et al. 2013: 122). Aufgrund z. B. des Informations- und Aufklärungscharak‐ ters von Kampagnen streben undifferenzierte Marketingmaßnahmen zwar eine totale Marktabdeckung an, hinsichtlich der konkreten Zielgruppe und dem jeweiligen Präventionszweck decken sie den Markt allerdings oft nur partiell ab (z. B. „Be smart - mobil“ - Autorfahrer) (vgl. Busch et al. 2014: 156). Befördert werden die zahlreichen Kampagnen universeller Präventionsinterventionen unterschiedlicher Institutionen durch offline- und onlinegestützte Kommunikationsmaßnahmen (z. B. Social-Media-Mar‐ keting via Facebook, YouTube), die auf diese Weise für mehr Traffic sorgen sollen. Dabei stellt das virale Marketing und damit die Weiterleitung von Inhalten nach dem Schneeballsystem die Königsdisziplin des Social-Me‐ dia-Marketings dar, da durch die virale Verbreitung die Hebelwirkung um ein Vielfaches höher ist als bei traditionellen Marketinginstrumentarien (vgl. Ceyp/ Scupin 2013: 141). Entsprechend wird deutlich, wie wichtig das Multi-Channel-Marketing (bzw. Multi-Channel-Management oder Cross-Media-Management) zur Erhöhung der Reichweite, der Markenwahr‐ nehmung und der breiten Imagewirkung ist. Social-Media-Aktionen (z. B. spezifische Facebook-Seiten, YouTube-Channel) und E-Mail-Newsletter stellen universelle Marketinginstrumente dar, die sich folglich weder auf eine spezifische Akquisitionsstufe beziehen noch auf eine spezifische Ziel‐ gruppe ausgerichtet sind. Die eingesetzten massenkommunikativen Mar‐ ketingmaßnahmen (z. B. Werbemittel: Fernsehen, Hörfunk, Zeitschriften; Werbemittel: Hörfunk-, TV-Spots, Plakate) (Zusatzmedium) greifen inein‐ ander und tragen dazu bei, den Bekanntheitsgrad der Kampagnen für eine universelle Präventionsintervention (Basismedium) zu erhöhen und so Aufmerksamkeit zu erzielen. Um größtmögliche Synergieeffekte durch den Einsatz massenkommunikativer Maßnahmen erzielen zu können, ist eine Orchestrierung der unterschiedlichen Kanäle in inhaltlicher, formaler und zeitlicher Hinsicht notwendig (vgl. Bruhn 2016: 88 f.). Die Orchestrierung der Marketinginstrumentarien ist damit nichts anderes als der harmonische und damit gleichzeitige und aufeinander abgestimmte Einsatz der einzelnen Marketinginstrumentarien zur Erhöhung der Wirkung und Wirksamkeit. Zusammenfassend verfolgen undifferenzierte Marketingmaßnahmen im 155 6.1 Universelle Präventionsinterventionen <?page no="156"?> Bereich der universellen Prävention die folgenden Ziele (vgl. Kreutzer 2014: 286 f.): ■ Schaffung eines hohen Bekanntheitsgrades ■ Generierung von Traffic (z. B. für Homepage, Gesundheits-Apps) ■ Übergreifende Aufklärung aller Bevölkerungsgruppen ■ Gewinnung von Interessenten bzw. Teilnehmern ■ Anregung von Spontanteilnehmern ■ Realisierung von Kosteneinsparungen durch die breite Streuung ■ Aktualisierung/ Anreicherung von Interessentenbzw. Teilnehmerda‐ ten ■ Markenkommunikation Hinsichtlich des Zeitpunktes ist anzumerken, dass undifferenzierte Marke‐ tingstrategien nicht nur bei bundesweiten Informations- und Aufklärungs‐ kampagnen unterschiedlicher Institutionen (z. B. Bundesministerium für Gesundheit) zum Tragen kommen, sondern oft auch in der Einführungs‐ phase von neuen präventiven Dienstleistungen (vgl. Kreutzer 2014: 247) eingesetzt werden. Dabei können besonders wirkungsvolle und kreative Marketingstrategien auch übergreifende Mythen erzeugen, die sich lang‐ fristig in den Köpfen der breiten Öffentlichkeit manifestieren, wie der heute noch aktuelle rote Weihnachtsmann-Mantel aus der Coca-Cola-Werbung aus den 1930er-Jahren (vgl. Kirchgeorg et al. 2010: 38) sowie der folgende gesundheitsbezogene Exkurs verdeutlicht. Exkurs ∣ Der 10.000-Schritte-Mythos Wie erfolgreich Botschaften universeller Marketingkampagnen sein können, zeigt das japanische Unternehmen Yamasa Tokei. Als im Jahre 1964 in Tokio die Olympischen Spiele stattfanden, kam der Schrittzähler „Manpo-kei“ auf den Markt. Dabei „Po“ für „Schritt“, „kei“ für „Maß“ und „man“ für die Zahl 10.000. Aus marketingstrategischen Gründen wurde dieser einprägsame Name mit der magischen Zahl 10.000 gewählt (vgl. Cao 2015: 6). Zwischenzeitlich gilt der Schwellenwert von 10.000 Schritten als anerkannt und wird von vielen Experten und anerkannten Institutionen (z. B. SBK-Kampagne: ➽ www.10000-schritte.de) offiziell empfohlen. Allerdings stellen sich die praktischen Empfehlungen je nach Alter und dem aktuellen Aktivitätsniveau differenzierter dar. Wäh‐ rend Kinder rund 10.000 Schritte (Mädchen: 10.000-14.000 Schritte und 156 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="157"?> Jungen: 12.000-16.000 Schritte) gehen sollten (vgl. Tudor-Locke et al. 2011), liegt bei Senioren (50+) eine Spannweite je nach gesundheitlicher Vorbelastung bei 2.000 bis 9.000 Schritte (vgl. Tudor-Locke et al. 2011). Bei Erwachsenen liegt die aktuelle Schrittrange zwischen 1.800 bis 8.800 Schritte, die empfohlenen Richtwerte differieren in Abhängigkeit des aktuellen Aktivitätsniveaus (bei Inaktiven: weniger als 5.000 Schritte; bei wenig Aktiven: 5.000 bis 7.500 Schritte; bei mäßig Aktiven: 7.500- 10.000 Schritte, bei Aktiven: 10.000-12.500 Schritte und bei sehr Aktiven mehr als 12.500 Schritte) (vgl. Tudor-Locke 2004: 1f.). 6.2 Selektive Präventionsinterventionen Während bei universellen Präventionsmaßnahmen ein spezifischer Ziel‐ gruppenbezug und eine genauere Segmentierung des Marktes nicht notwen‐ dig sind, stellt sie bei selektiven Präventionsmaßnahmen eine zwingende Voraussetzung dar. Denn die Ausrichtung auf spezifische Marktsegmente durch eine entsprechende Segmentierung (→ Kapitel 5.3) und damit auf umrissene Zielgruppen mit spezifischen Risikofaktoren, bei denen sich noch kein Krankheitsbild manifestiert hat, legitimiert erst Maßnahmen der selektiven Prävention. Im Gegensatz zu universellen Präventionsinterven‐ tionen liegt damit eine geringe Interferenz (Überschneidung) mit nicht betroffenen Zielgruppen vor (vgl. Walter et al. 2008: 199). Die Risiko‐ personenstrategie (oder Low-risk-Strategie) für ausgewählte Zielgruppen können sich bspw. auf Vorsorge- oder Früherkennungsmaßnahmen, auf spezifische Aufklärungskampagnen für sexuell hochaktive Jugendliche und Erwachsene, Grippeschutzimpfungen für exponierte Berufsgruppen und ältere Menschen oder auch auf Mammographie-Screenings bei Frauen mit einer familiären Krebsbelastung beziehen (vgl. Franzkowiak 2008: 199). Die Konzentration auf bestimmte Risikogruppen und damit Marktsegmenten ermöglicht eine zielgerichtete Präventionsintervention, bei der die beiden folgenden Marketingstrategien zum Tragen kommen können: ■ Konzentrierte differenzierte Marketingstrategie: Bei der konzen‐ trierten differenzierten Marketingstrategie fokussieren sich die jeweili‐ gen Institutionen auf einen Teilmarkt mit einer spezifischen Präventi‐ onsintervention. Beispiel: Suchtprävention für Jugendliche 157 6.2 Selektive Präventionsinterventionen <?page no="158"?> ■ Selektiv-differenzierte Marketingstrategie: Bei der selektive-diffe‐ ren-zierten Marketingstrategie setzt die jeweilige Institution auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und entwickelt für die Zielgruppe diffe‐ renzierte Präventionsinterventionen. Dienstleistung. Beispiel: Suchtin‐ terventionen für Jugendliche, junge Erwachsene, Schwangere etc. Dabei bedienen sich selektive wie universelle Präventionsinterventionen häufig massenmedialer Kommunikationsinstrumentarien zur Reichweiten‐ erhöhung und zur Entanonymisierung spezifischer Ziel- und Risikogruppen. Hinzu kommt, dass bei vielen Themen und Zielgruppen eine direkte Ri‐ sikopersonenstrategie mitunter einer Diskriminierung (→ Kapitel 3.4.3) gleichkäme und aus diesem Grund eine Massenmarktstrategie und damit eine passive Rekrutierung gewählt wird. Gemäß der Pull-Strategie (zu Deutsch: ziehen) wird durch den Einsatz von Massenmedien (z. B. die Internetseite der selektiven Präventionsintervention) versucht, bei der an‐ visierten Zielgruppe einen Nachfragesog zu erzeugen (vgl. Kotler 2011: 825) (→ Kapitel 7.1.5). Eine aktive Rekrutierung erfolgt durch eine direkte Ansprache bestimmter Personengruppen per Face-to-Face-Kontakt oder Telefon. Ein Beispiel ist der Einsatz von Betroffenen und freiwilligen Laienhelfern (sogenannte outreach worker) oder Werbung durch Nachbarn (neighborhood canvassing) (vgl. Walter et al. 2008: 202). Auch Roadshows sind häufig genutzte Maßnahmen, um in Großstädten Aufklärungsarbeit vor Ort zu leisten. Anzumerken ist, dass auch hier das Präventionsdilemma und damit eine Selbstselektion oft ein starker Bias zugunsten gesundheits‐ bewusster Gesunder zum Tragen kommt (vgl. Walter et al. 2008: 201). Um auf die unterschiedlichen Zielgruppenbedürfnisse spezifisch eingehen zu können, können bspw. onlinegestützte Fragebögen zum Einsatz kommen. Eine Login-Registrierung kann anonym mithilfe eines Pseudonyms (Nick‐ name) erfolgen, um die Hemmschwelle gering zu halten. Denn selektive Präventionsinterventionen können unkritische, aber auch heikle Themen ansprechen, denn die Bandbreite kann AIDS-Aufklärungskampagnen für homosexuelle Männer, Grippeschutzimpfungen für ältere Menschen (vgl. Tröster 2009: 25) bis hin zu Vorsorge-Apps für türkischstämmige Migran‐ ten einnehmen. Wie die Beispiele aktueller Präventionskampagnen zeigen (→ Tab. 26), können die Risikofaktoren sehr vielschichtig sein, indirekt vorliegen und müssen sich dabei nicht zwangsläufig auf die traditionel‐ len Lifestyle-Faktoren (wie Sucht, Stress, Bewegungsmangel oder falsche Ernährung) beschränken. Denn die Risikofaktoren können sich sowohl 158 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="159"?> auf das risikobehaftete Verhalten selbst als auch auf die Verhältnisse bezie‐ hen, in denen sich Menschen befinden (z. B. suchtbelastete Familien), die letztlich die Ursache für das gesundheitsschädliche Verhalten darstellen. Entsprechend ist die genaue Ursachen-Wirkungs-Kette der Risikofaktoren genau zu analysieren, um belastungs- und risikoerhöhende und damit ge‐ sundheitsschädigende Wirkungen an ihrer Quelle entgegenzuwirken (siehe strukturelle Präventionsinterventionen → Kapitel 6.5). Die Anfälligkeit für gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen wird durch die Vulnerabilität (Gesamtheit der Risikofaktoren) und die Resilienz (Gesamtheit der Ressour‐ cen) beeinflusst, entsprechend bemüht sich die selektive Prävention um eine begründete Zielgruppeneingrenzung aufgrund einer erhöhten Gefährdung (negative Risiko-Ressourcen-Bilanz) (vgl. Meili 2006: 118). Bei der Eingren‐ zung der Zielgruppen sowie bei der Kommunikation sind unterschiedliche gender- und altersspezifische Motivlagen zu berücksichtigen. So wurde Rauchen von Jugendlichen mit den Attributen cool, sexy, abenteuerlustig und extravagant assoziiert, während bei älteren Menschen die Attribute Weisheit, Erfahrung und Besonnenheit im Vordergrund standen (vgl. Kess‐ ler 2015: 267). Auch gesellschaftliche Schönheitsideale können variieren, während für Frauen Schlankheit als Ernährungs- und Bewegungsmotiv wesentlich ist, ist für Männer der athletische Körperbau von Bedeutung (vgl. Kautzky-Willer 2012: 98). Institution Präventi‐ onsthema Zielgruppe Risikofak‐ tor Internetseiten DZSKJ, DISuP Sucht (Alkohol) Kinder suchtbelastete Familien ➽ www.projekt-trampolin.de Drogenhilfe Köln Sucht (Medien) Familien mit Kindern problemati‐ sche Medi‐ ennutzung ➽ www.escapade-projekt.de Villa Schöpf‐ lin gGmbH Sucht (Glücks‐ spiel) Multiplika‐ toren suchtbelas‐ tete Jugend‐ liche und Erwachsene ➽ www.villa-schoepflin.de (Projekt Joker) Drogenhilfe Köln e. V., KOALA e.V. Sucht häusliche Gewalt Kinder „Problemel‐ tern“ ➽ www.kidkit.de 159 6.2 Selektive Präventionsinterventionen <?page no="160"?> DAK Deutschen Krebshilfe Sucht (Rauchen) Jugendliche junge Er‐ wachsene (Raucher) Rauchen ➽ www.justbesmokefree.de Tab. 26: Beispiele für selektive Präventionsinterventionen Quelle: Eigene Darstellung. Sowohl universelle, selektive als auch induzierte Präventionsinterventionen können ebenfalls direkt in gesundheitsbezogenen Lebenswelten (siehe Set‐ tinginterventionen → Kapitel 6.5) ansetzen. 6.3 Indizierte Präventionsinterventionen Indizierte oder gezielte Präventionsinterventionen richten sich an Hochrisi‐ kogruppen, bei denen gesicherte Risikofaktoren vorliegen (Sekundärpräven‐ tion), oder an Personen, bei denen sich eine Erkrankung bereits manifestiert hat (Tertiärprävention) (vgl. Leppin 2004: 32; Walter et al. 2008: 199). Damit bietet bei der Hochrisikopersonenstrategie (oder High-risk-Strategie) sich je nach Zielgruppengröße (bzw. vorliegender Prävalenz) und in Abhängigkeit des Bekanntheitsgrades der Risikozielgruppe eine Massenmarktstrategie oder eine konzentrierte Marketingstrategie an. Mithilfe der Hochrisikostrategie können so die äußerst spezifischen Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen der Risikozielgruppe berücksichtigt werden. Die Besonderheit im Vergleich zu selektiven Präventionsinterventionen ist, dass nur geringe bis keine In‐ terferenz mit Nichtbetroffenen vorliegt. Andererseits sind selektive Präven‐ tionsinterventionen mit höheren Kosten bei den Betroffenen verbunden. Aufgrund der bereits vorliegenden Verankerung im medizinischen System kann einerseits eine höhere Akzeptanz erwartet werden, andererseits stellt die Etikettierung als Risikoträger eine besondere Herausforderung bei der Zielgruppenerreichung dar (vgl. Walter et al. 2008: 199). Die Ziele indizierter Präventionsinterventionen sind sehr vielfältig und können sich auf die Erar‐ beitung und Sicherung einer Abstinenz, der Verantwortungsübernahme bis hin zur Befähigung der Selbstorganisation der Lebenssituation der Betroffe‐ nen beziehen (vgl. Schay 2013: 44). Hochrisikopersonenstrategien, die auf spezifische Risikopersonen vorsorgend, frühbehandelnd oder schadensmini‐ mierend (bzw. rückfallpräventiv) einwirken, sind bspw. Rückenschulungen für Personen mit chronifizierten Rückenschmerzen, Mentorenprogramme für 160 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="161"?> erstauffällige jugendliche Drogenkonsumenten, Elterntrainings für betroffene Eltern, Kondomgebrauch bei sexuell aktiven HIV-Infizierten, Diätempfehlun‐ gen und (Selbsthilfe-)Gruppen zur Reduktion von Hypercholesterinämie (d. h. ein zu hohen Cholesterinspiegel im Blut), regelmäßige Kontrollen bei Hyper‐ tonikern oder Screening und Früherfassung von gesundheitlich auffälligen Menschen zur Einleitung von Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen konzentrieren (vgl. Franzkowiak 2008: 199). Die genannten Maßnahmen erfordern eine hohe Anpassung der Maßnahmen auf die individuellen Belange die gezielt ausgewählte Zielgruppe (vgl. Walter et al. 2008: 199). Zu berück‐ sichtigen sind bei der Kommunikation auch genderspezifische Unterschiede: Während bspw. chronisch erkrankte Frauen einen größeren Wert auf emotio‐ nal bestimmte Lösungsstrategien (z. B. soziale Unterstützungen, Einbeziehung psychischer Faktoren, Stärkung der Fähigkeit zum Selbstmanagement) legen, präferieren männlichen Chronikern problemorientierte Strategien (z. B. klare Anweisungen, strukturierte Schulungen) (vgl. Kautzky-Willer 2012: 86). Die → Tab. 27 zeigt beispielhaft Präventionsinterventionen, die spezifisch auf Hochrisikogruppen ausgerichtet sind. Institution Hochrisikogruppe/ Thema Internetseiten Novatis Pharma Menschen mit Asthma (Asthmaprävention) ➽ www.luftstoss.de TU Dresden Menschen mit psychischen Störungen (Prävention bei Depression, Panik, Soziale Phobie, Angst‐ störung) ➽ www.icare-online.eu Universitätsklinik für Psych‐ iatrie & Psychotherapie Schwangere mit Suchter‐ krankungen (Suchtprävention) ➽ www.iris-plattform.de Delphi - Gesellschaft für For‐ schung, Beratung & Projekt‐ entwicklung mbH Eltern von Kindern und Ju‐ gendlichen, die suchtgefähr‐ det/ süchtig sind (Suchtprävention) ➽ www.elternberatung-suc ht.de (ELSA) Scottish Association for Mental Health (SAMH) Menschen mit psychischen Störungen (Suizidprävention) ➽ www.seemescotland.org 161 6.3 Indizierte Präventionsinterventionen <?page no="162"?> Bundesverband Frauenbera‐ tungsstellen und Frauennot‐ rufe Frauen gegen Gewalt e.V. Frau mit Gewalterfahrungen (Gewaltprävention) ➽ www.frauen-gegen-gewa lt.de Tab. 27: Beispiele für indizierte Präventionsinterventionen Quelle: Eigene Darstellung. Bei näherer Betrachtung der Tabelle wird deutlich, dass die selektive und indizierte Prävention (sowie die strukturelle Prävention) nicht immer klar voneinander zu trennen sind und ineinanderfließen. So stellen bspw. Sucht‐ erkrankungen chronische Erkrankungen dar, da diese nicht selten mit chronischen Verläufen einhergehen, mit Rückfällen verbunden sind (vgl. Wolter 2011: 182 f.) und einen Zwangscharakter aufweisen. Oft lassen sich im Bereich der Sucht die beiden Interventionsformen - wenn überhaupt - nur anhand des Risikogrades abgrenzen. Alle Interventionsformen können ■ auf die Zielgruppe selbst (zielgruppenzentrierter Ansatz), ■ auf das einflussnehmende Umfeld (z. B. Eltern, Peergroups, Multiplika‐ toren) (umfeldzentrierter Ansatz) oder ■ auf die Zielgruppe als auch auf das Umfeld (multimodaler Ansatz) ausgerichtet werden (vgl. Hennemann et al. 2017: 54). Der englische Begriff Peer bedeutet Gleichrangige, Gleichgestellte oder Gleichaltrige. Damit stellen Peergroups informelle Gruppen (oder auch Cliquen, Freundschaftskreise, Netzwerke etc.) dar, in denen sich in der Regel altershomogene Personen mit ähnlichen Interessen und Bedürfnissen befinden (vgl. Ecarius et al. 2011: 113). Voraussetzung dafür, dass eine bedürfnisgerechte und damit auf die sehr individuellen Belange und Um‐ feldfaktoren eingegangen wird, ist auch hier die Entanonymisierung der Zielgruppe. Denn gerade indizierte Präventionsinterventionen sind sehr komplex und erfordern eine intensive Anpassung der Intervention, zudem können sie zum Teil sehr intensiv und belastend für die Zielgruppe sein (vgl. Walter et al. 2012: 209). 6.4 Strukturellen Präventionsinterventionen Strukturelle Präventionsinterventionen setzen nicht bei dem Verhalten (Verhaltensprävention), sondern bei den Verhältnissen (Verhältnispräven‐ 162 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="163"?> tion) der Zielgruppe an. Damit bezieht sich die strukturelle Prävention auf Veränderungen des ökologischen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Umfelds bzw. der Umweltfaktoren. Denn der Ansatz der strukturellen Prävention beruht auf der Annahme, dass ein gesundheitsschädigendes Ver‐ halten von Individuen durch ein komplexes Bündel von äußeren Einflüssen beeinflusst wird. Strukturelle Präventionsmaßnahmen konzentrieren sich somit auf die Schaffung von Voraussetzungen für gesundes Verhalten, da die Verhältnisse, in denen sich Menschen befinden, oft die Ursache für gesundheitsschädigende Verhaltensweisen darstellen. Verhältnisprävention bedeutet folglich, die gesundheitsgerechte Gestaltung des Lebensumfeldes der Menschen zu schaffen. Gesetzliche Vorgaben wie bspw. das Jugend‐ schutzgesetz und das Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen aber auch die Anerkennung von Diversität und damit der Schutz vor gesellschaftlicher Ausgrenzung bestimmter Gruppen (→ Tab. 28) fallen ebenfalls unter die Verhältnisprävention (vgl. Wilke/ Timmersmanns 2015: 265). Institution Strukturansatz Internetseiten DAK Antidiskriminierung Adipositas ➽ www.aktion-schwereslos.de BZgA Antidiskriminierung HIV ➽ www.welt-aids-tag.de Polizeiliche Kriminalprä‐ vention der Länder und des Bundes (ProPK) gegen Gewalt, Hass im Netz, Verschwörungs‐ theorien, Antisemitismus, Radikalisierung ➽ www.zivile-helden.de Polizeiliche Kriminalprä‐ ventionder der Länder und des Bundes Zivilcourage ➽ www.aktion-tu-was.de Tab. 28: Beispiele für strukturelle Präventionsinterventionen Quelle: Eigene Darstellung. Maßnahmen, wie bspw. die Bereitstellung von Fahrradständern oder Um‐ kleidemöglichkeiten etc. im Betrieb können verhältnisgestützte Verhal‐ tensprävention tituliert werden, da sie zum Ziel haben, das Verhalten der Mitarbeiter positiv zu beeinflussen (vgl. Walter et al. 2012: 200). Das angeführte Beispiel macht deutlich, dass im Alltag in der sozialen und institutionellen Umgebung kombinierte Präventionsinterventionen - insbe‐ sondere in Settings - notwendig sind. 163 6.4 Strukturellen Präventionsinterventionen <?page no="164"?> 6.5 Settinginterventionen Der Settingansatz wird als die wichtigste Umsetzungsstrategie der Gesund‐ heitsförderung angesehen (vgl. Altgeld/ Kolip 2010: 49). Spezifische Settin‐ ginterventionen setzen in sozialen Räumen an, in deren Menschen laut Ottawa-Charter der WHO Menschen spielen, lernen, leben, arbeiten und lieben (vgl. WHO 1986: 5). Settingsinterventionen werden als aufsuchende Strategien bezeichnet, sie bergen den Vorteil in sich, dass schwer erreichbare - insbesondere ältere und sozial benachteiligte - Personen auf diese Weise in ihren jeweiligen Lebenswelten erreicht werden können (vgl. Reifegerste 2014: 174 f.). Die Erreichung spezifischer Risikozielgruppen für Präventions‐ interventionen kann über Kindertagesstätten, Schulen, Betriebe, Quartiere, Gemeinden, Krankenhäuser oder auch sozialen Wohnräume (wie z. B. Alten- und Pflegeheime, Kinderheime, Wohnheime für Einwanderer, Gefängnisse) erfolgen. Im Gegensatz zum zielgruppenspezifischen Ansatz setzt der settin‐ gorientierte Ansatz bei den Sozialräumen unterschiedlicher Zielgruppen an und geht von der Grundannahme aus, dass Gesundheitsförderung im Alltag hergestellt und aufrechterhalten wird (vgl. Altgeld/ Kolip 2010: 49). Demnach stellen Settings Orte dar, die sowohl positive als auch negative Auswirkun‐ gen auf die Gesundheit ausüben können. Bei der Umsetzung können die folgenden beiden Strategien differenziert werden (vgl. Rosenbrock/ Michel 2007: 7): ■ Gesundheitsförderung in einem Setting: Hierbei handelt es sich um die Einführung von gesundheitsfördernden und präventiven Maßnah‐ men in einem Setting. ■ Gesundheitsförderndes Setting: Bei einem gesundheitsfördernden Setting stehen die Partizipation und die Organisationsentwicklung im Mittelpunkt. Hierbei handelt es sich um einen grundsätzlichen Politik- und Strategiewechseln, der durch die Einbeziehung aller Beteiligten (Partizipation) und die Integration gesundheitsförderlicher Aspekte in den täglichen Alltag innerhalb des Settings gekennzeichnet ist. Die Gesundheitsförderung in Settings ist ein integraler Bestandteil gesund‐ heitsfördernder Settings. Die → Tab. 29 verdeutlicht zusammenfassend die Unterschiede zwischen den beiden möglichen Umsetzungsstrategien. 164 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="165"?> Gesundheitsförderung in einem Setting gesundheitsförderndes Setting Ausgangslage gesundheitliche Problemstel‐ lung gesundheitliche Problemstel‐ lung Zielgruppe einzelne Personengruppen alle schulischen Personengrup‐ pen Sichtweise Setting als Ort, an dem man die Zielgruppe erreicht Setting als Ort, der gesund‐ heits-förderlich gestaltet wer‐ den kann Konzept Gesundheitsförderung in das Setting Gesundheitsförderung durch das Setting Motto Gesundheit zum Thema einzel‐ ner Zielgruppen machen Gesundheit zum Thema des Settings machen Strategie Veränderung individueller De‐ terminanten von Gesundheit Veränderung strukturell-syste‐ mischer Determinanten von Gesundheit Outcome Wissen, Einstellungen, Verhal‐ ten Rahmenbedingungen und Strukturen Tab. 29: Umsetzungsstrategien der Gesundheitsförderung im Vergleich Quelle: Paulus/ Dadaczynski 2016. Die unterschiedlichen Möglichkeiten, die Gesundheit von Menschen in unterschiedlichen Settings zu beeinflussen, kann sich demnach auf die Verhältnisprävention (Gesundheitsförderung in einem Setting) als auch auf die Verhaltens- und Verhaltensprävention (Gesundheitsförderndes Setting) beziehen. Wie stark sich die Zielsetzung, die Zielgruppe sowie die jeweili‐ gen Maßnahmen je nach der Umsetzungsstrategie differenzieren können, verdeutlicht die → Tab. 30 anhand eines Beispiels aus der Betrieblichen Gesundheitsförderung. Während sich zielgruppenbezogene Ansätze auf das Individuum und dessen Verhalten konzentrieren, steht im Fokus struk‐ turbildender Ansätze (der Betrieblichen Gesundheitsförderung) zum einen die Ursachen für gesundheitsschädliche Verhaltensweisen zu reduzieren und zum anderen gesundheitsfördernde Rahmenbedingungen im jeweiligen Setting zu fördern. 165 6.5 Settinginterventionen <?page no="166"?> zielgruppenbezogener settingorientier‐ ter Ansatz strukturbildender settingorientierter Ansatz Fokus der Veränderung Wissen, Einstellungen und Verhalten der Zielgruppe Betriebsstrukturen und Prozesse Zielgruppe Arbeitnehmer Arbeitnehmer/ Führungskräfte Ziel Erhöhung der persönlichen Co‐ ping-Strategien zur Bewältigung der Anforderungen Optimierung der Aufbau- und Ab‐ lauf-organisation zur flexiblen Gestal‐ tung der Arbeitsfähigkeit der Mitarbei‐ ter Maßnahme Sensibilisierungskampagne und Co‐ ping-Kurse Prozessgestaltung und Organisations‐ entwicklung Tab. 30: Beispiele für präventive Ansätze im Betrieb Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Franzkowiak 2006: 122. Auf Meso- und Mirkoebene existieren demzufolge Settings, in denen Prä‐ ventionsinterventionen initiiert werden können und für die auf nationaler Ebene übergreifende Initiativen zur Förderung der Gesundheit gegründet wurden. Die Interventionen in Settings betreffen alle menschlichen Lebens‐ phasen und Lebensbereiche. Exemplarisch sollen an dieser Stelle ausge‐ wählte Interventionen vorgestellt werden. ■ Gemeinde- und quartiersbezogene Interventionen: Gemeinde- und quartiersbezogene Interventionen können für bestimmte (selek‐ tive) Zielgruppen als auch für übergreifende (universell) und mit den Bewohnern initiiert werden, um Bewohner zu aktivieren. Ziel von Gesunde-Städte-Netzwerken ist es, durch Kooperation relevanter Akteure positive Synergieeffekte zu erzielen. So engagieren sich im Gesunde-Städte-Netzwerk (Healty Cities) zwischenzeitlich 75 deutsche Großstädte ( ➽ www.gesunde-staedte-netzwerk.de), um durch Koope‐ rationen und gemeinsame Abstimmung positive Synergieeffekte zu erzielen. Dabei geht es um eine kollektive Marketingstrategien aller Akteure, um die Gesundheit vor Ort im Verbund zu stärken. 166 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="167"?> ■ Interventionen in Kindertagesstätten (Kitas) und Grundschulen: Kitas und Schulen stellen Settings dar, die nur geringe Schnittstellen zwischen dem Bildungs- und Gesundheitssektor bieten. Zu nennen sind die gesetzlich verpflichtende Gruppenprophylaxe zur Prävention von Zahnerkrankungen und die Schuleingangsuntersuchungen (vgl. Altgeld/ Kolip 2010: 52). Eine Verankerung der Prävention in den Schul‐ gesetzen steht noch weitgehend aus. Die meisten der zahlreichen Prä‐ ventionsinterventionen, die sich auf das Setting Schule konzentrieren, sind derzeit in erster Linie auf die Themen Ernährung, Bewegung, Sucht und Gewalt ausgerichtet (Tigerkids: ➽ www.tigerkids.de; ■ Bio-Brotbox: www.bio-brotbox.de; Papilio: ➽ www.papilio.de; Klasse2000: ➽ www.klasse2000.de). Ein weiteres Beispiel für eine bun‐ desweite Initiative stellt die Plattform „Fit von klein auf “ der BKKn dar ( ➽ www.fitvonkleinauf.de). ■ Interventionen in Hochschulen: Bei Präventionsinterventionen im Setting Hochschule geht es im Sinne der Betrieblichen Gesundheits‐ förderung zum einem um die Mitarbeiter der Hochschule selbst und zum anderen zunehmende auch um die Gesundheit der Studierenden (vgl. Felbinger 2009: 143). Dabei beschränkten sich die Präventionsin‐ terventionen längst nicht mehr auf den Hochschulsport. Eine bundes‐ weite Initiative, die sich stark um das Thema Gesundheitsförderung in Hochschulen bemüht, stellt der Arbeitskreis gesundheitsfördernde Hochschule ( ➽ www.gesundheitsfoerdernde-hochschulen.de) dar. ■ Betriebliche Interventionen: Mit am meisten verbreitet sind präven‐ tive Bemühungen im Bereich des Settings Betrieb. Die Variationsviel‐ zahl ergibt sich nicht nur aus der bestehenden Gesetzeslage oder dem ökonomischen Interesse der Arbeitgeber (z. B. Minimierung von Fehl‐ zeiten, Produktivitätsverlust, Mitarbeitergewinnung und -bindung), sondern ist der Tatsache geschuldet, dass Strategien und präventive Interventionen sehr spezifisch auf die jeweiligen Belange der Branche, Zielgruppe und beruflichen Belastung angepasst werden müssen. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV) ( ➽ www.praeve ntion-arbeitswelt.de) die Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) ( ➽ www .iga-info.de), die Universität Heidelberg mit der Plattform „Maßnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen“ (MEgA) ( ➽ w ww.gesundearbeit-mega.de) stellen nur einige der zahlreichen Initiativen dar, die sich um die betriebliche Gesundheitsförderung bemühen. 167 6.5 Settinginterventionen <?page no="168"?> Zusammenfassend ist anzumerken, dass sich Settingprojekte zwar schnell verbreitet haben, die Programme indes mitunter aufgrund der zunehmenden Diversifizierung an klarer Zielorientierung verloren haben. Die Weiterent‐ wicklung von Methoden und Instrumentarien ist weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene sehr weit vorangeschritten. Bemühungen bestehen darin, dass gerade bewährte Instrumentarien der betrieblichen Ge‐ sundheitsförderung auf andere Settings übertragen und angepasst werden. Grundsätzlich besteht bei allen Präventionsinterventionen ein besonderer Handlungsbedarf hinsichtlich des Präventionsmarketings bei der Ausrich‐ tung am größten Bedarf (vgl. Altgeld/ Kickbusch 2012: 192 f.). ✺ Zusammenfassung Insbesondere bei universellen Präventionsinterventionen (Bevölkerungs‐ gruppenstrategie) sind digitale Marketingmaßnahmen unter Einbeziehung des Social-Media-Marketings nicht mehr wegzudenken. Eine besondere Bedeutung zur maximalen Streuung nimmt das Multi-Channel-Marketing ein, dabei gilt es, die einzelnen Maßnahmen so aufeinander abzustimmen, dass durch die Orchestrierung der Marketinginstrumente (vgl. Holland 2004: 44) hohe Synergieeffekte erzielt werden. Identifiziert werden können Zielgruppen nach ihren Verhaltensmustern, nach den vorliegenden Krank‐ heitsrisiken (bzw. Krankheitsbild), biographischen Ereignissen, Lebensräu‐ men oder soziodemographischen Merkmalen (vgl. Walter et al. 2012: 211). Die folgenden Kriterien können zusammenfassend - auch in Kombination - bei marketingstrategischen Entscheidungen und Zielgruppenselektion herangezogen werden (vgl. Walter et al. 2012: 208): ■ geschlechtsbezogen: Frauen, Männer mit erhöhtem Gesundheitsrisiko ■ Altersgruppen mit erhöhtem Risiko (z. B. Säuglinge, Kinder, Jugendli‐ che, Ältere, Hochbetagte) ■ Bevölkerungsgruppen in risikoerhöhten Lebensphasen, z. B. Schwan‐ gere, Personen im Übergang zum „Ruhestand“, Personen nach Tren‐ nung bzw. Tod eines Partners, pflegende Angehörige ■ Bevölkerungsgruppen in Settings mit speziellen Risikokonstellationen, z. B. Wohnquartiere, Schultypen, bestimmte Betriebe oder Branchen, ■ Bevölkerungsgruppen mit spezifischen erhöhten Krankheitsrisiken, z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose 168 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="169"?> ■ vulnerable oder sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, z. B. Ar‐ beitslose, Obdachlose, Migranten. Selektive und indizierte Präventionsinterventionen sind (Low-risk-Strategie und High-risk-Strategie) in der Praxis mitunter schwer voneinander abzu‐ grenzen und zeichnen sich bei der Identifizierung durch den Risikograd und bei der Umsetzung durch den Individualisierungsgrad der jeweiligen Präventionsintervention ab. Da Präventionsinterventionen sich meist mit sehr sensiblen Thematiken auseinandersetzen, ist gerade die empathische Umsetzung (z. B. im Rahmen der Kommunikationspolitik) zur Vermeidung von negativen Gefühlen bei der jeweiligen Zielgruppe von enormer Bedeu‐ tung. ✺ Wichtige Schlagwörter Universelle Prävention, selektive Prävention, indizierte Prävention, Settin‐ ginterventionen, gesundheitsfördernde Settings, Gesundheitsförderung in Settings, Initiativen ✺ Wiederholungsfragen 1. Warum kann dem Social-Media-Marketing eine hohe Bedeutung bei universellen Präventionsinterventionen zugesprochen werden? 2. Über welche unterschiedlichen marketingspezifischen Maßnahmen können Zielgruppen selektiver Präventionsinterventionen rekrutiert werden? 3. Welche Besonderheiten weisen induzierte Präventionsinterventionen im Vergleich zu selektiven Präventionsinterventionen auf und müssen daher bei der Konzeption beachtet werden? 4. Auf welche unterschiedlich übergreifenden Zielgruppen können Prä‐ ventionsinterventionen ausgerichtet werden und wie werden die dazu‐ gehörigen Ansätze bezeichnet? 5. Welche Konsequenzen hat die Differenzierung „Gesundheitsförderung in Settings“ und „gesundheitsförderlichen Settings“ für das Marketing? 169 ✺ Wichtige Schlagwörter <?page no="170"?> ✺ Literaturempfehlungen Hennemann T, Hövel D, Casale G, Hagen T, Fitting-Dahlmann K (2017). Schulische Prävention im Bereich Verhalten, Reihe Fördern lernen, Band 19, 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer GmbH. Kautzky-Willer A. (2012). Gendermedizin. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau Verlag GmbH. Pundt J, Scherenberg V (Hrsg.) (2016). Erfolgsfaktor Gesundheit in Unternehmen: Zwischen Kulturwandel und Profitkultur, APOLLON University Verlag. Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg.) (2012). Public Health - Gesundheit und Gesundheitswesen. München/ Jena: Urban & Fischer Verlag. 170 6 Anwendungsbezogene Aspekte <?page no="171"?> 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ wie die operative Marktbearbeitung anhand unterschiedlicher Mar‐ ketingstrategien bei spezifischen Zielgruppen vorgenommen wer‐ den kann. ■ welche Kommunikationsinstrumentarien bei der undifferenzierten und differenzierten Marktbearbeitung favorisiert werden. ■ welche unterschiedlichen Marketingstrategien einer gezielten Aus‐ richtung und Kanalisierung von operativen Maßnahmen zugrunde liegen können. 7.1 Marketingmix Institutionen, die Präventionsdienstleistungen anbieten und Präventions‐ marketing betreiben möchten, stehen unterschiedliche klassische (aus dem erwerbswirtschaftlichen Bereich stammende) Instrumente des Marketing‐ mix zur Verfügung. Hier ist der klassische Marketingmix des Transaktions‐ marketings von McCarty zu nennen, das zwischen den Bereichen ■ product (Leistungspolitik), ■ promotion (Kommunikationspolitik), ■ place (Distributionspolitik), ■ price (Preispolitik) sowie ergänzend die Bereiche ■ personal (Personalpolitik), ■ physical facilities (Ausstattungspolitik) und ■ process management (Prozesspolitik) differenziert (vgl. Meffert/ Bruhn 2006: 387; Zollondz 2004: 24). Mitunter wird der Bereich ■ public voice (sprich die Öffentlichkeitspolitik) <?page no="172"?> ebenfalls einbezogen. Die einzelnen Teilelemente des Marketingmix sind eng miteinander verbunden und fließen ineinander über. Dabei sollte das klassische Marketingmix auf die Anwendungszwecke des Präventionsmar‐ ketings nicht unreflektiert übertragen werden, denn die gängige Einteilung in Preis-, Produkt-, Distributions- und Kommunikationspolitik bedarf einer inhaltlichen Anpassung an z. B. gesetzliche Restriktionen sowie an die Spezifika des Marktes, die jeweilige Zielsetzung und Zielgruppe. Denn auch das ergänzte Freiburger Management-Modell für Non-Profit-Organisationen (NPO) mit seinen sechs P´s (people, performance, price, politics, promotion, place) (vgl. Purtschert 2005: 216 ff.) lässt trotz der sozialen Charakteristika der Akteure präventiver Interventionen keine Eins-zu-eins-Übertragung auf den Präventionsbereich zu. Da keine anerkannte Marketingmix-Systematik für den Präventionsbereich existiert, erfolgt bei der nachfolgenden Beschrei‐ bung der Teilelemente des Marketingmix ein Rückgriff auf die strategische Marketingprozess-Definition aus dem Public-Health-Bereich von Siegel und Doner (Siegel/ Doner 2004: 57): „The components of the process of defining, positioning, packaging and framing the public health product, then the promise or the benefit that products should offer; developing an image for the product that is consistent with the promise; and providing support for the promise.“ Die Produktpolitik kann als Kernelement des Marketingmix angesehen werden, da ohne das Produkt bzw. die Dienstleistung die kommunikations-, distributions- und preispolitische Legitimation fehlt (vgl. Ziouziou 2010: 79) und ohne ihre Existenz alle weiteren Elemente des Marketingmix nicht wirksam werden (vgl. Rennhak/ Opresnik 2016: 61) 7.1.1 Leistungspolitik (Produktpolitik) Die Produktpolitik wird im Dienstleistungsbereich konsequenterweise als Leis‐ tungspolitik bezeichnet. Dabei umfasst die Leistungspolitik alle unternehme‐ rischen Maßnahmen, die sich auf die Gestaltung der Dienstleistungen sowie der Ausgestaltung der präventiven Intervention (Leistungsprogrammpolitik) beziehen - angefangen von der Neuentwicklung, der Variation, der Eliminie‐ rung bis hin zur Servicepolitik. Der Beschwerdepolitik kommt aufgrund 172 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="173"?> der Bedeutung der Integration des externen Faktors (vgl. Meffert/ Bruhn 2003: 364) und des Partizipationsgedankens bei Präventionsinterventionen eine be‐ sondere Bedeutung zu. Innerhalb der Ausgestaltung der Leistungsprogramm‐ politik werden sowohl die Breite als auch die Tiefe der Dienstleistungsangebote festgelegt und ausgestaltet. Während die Programmbreite Aufschluss über die z. B. Anzahl verschiedener Präventionskurse in unterschiedlichen Handlungs‐ feldern (z. B. Ernährung, Bewegung) gibt, schlägt sich die Programmtiefe in der Anzahl verschiedener Vertiefungskurse (z. B. für unterschiedliche Zielgrup‐ penbedürfnisse) eines ausgewählten präventiven Handlungsfeldes nieder (z. B. Ernährung). Die Programmtiefe und -breite drückt dabei je nach strategischer Entscheidung den Spezialisierungsgrad und die Angebotsvielfalt des jeweiligen Anbieters aus. Dabei reduziert sich die Leistungsprogrammpolitik nicht auf die Entwicklung und Einführung neuer Präventionsinterventionen (Launch). Denn wie die → Abb. 12 zeigt, geht es vielmehr auch um die Innovation, Elimination und Variation bzw. Modifikation bestehender Präventionsinter‐ ventionen. Neben der Einstellung (Elimination) können Interventionen neu entwickelt (Innovation) oder bestehende Interventionen modifiziert werden (Variation). Eine Programmpflege liegt vor, wenn Mängel behoben, Ak‐ tualisierungen vorgenommen und so eine oder mehrere weniger relevante Programmeigenschaften verändert werden, ohne das Grundprogramm zu tangieren (vgl. Meffert/ Burmann 2014: 418; Rennak 2017: 170). Eine erkennbare Aufwertung der Intervention wird als Programm-Facelift (oder aufgrund der Wiederbelebung durch eine Aktualisierung auch als Programm-Revival) bezeichnet, hingegen führt eine umfassende konzeptionelle Umpositionierung zu einem Programm-Relaunch (vgl. Pepels 2012: 448, Rennak/ Opresnik 2016: 67). Abb. 12: Leistungspolitische Entscheidungsalternativen Leistungspolitik Programmbreite Programmtiefe Programmelimination Programminnovation Programmvariation Programmdiversifikation Programmdifferenzierung Programmpflege Programm- Facelift Programm- Relaunch Abb. 12: Leistungspolitische Entscheidungsalternativen Quelle: Tomczak/ Kuß/ Reinecke 2014 in Anlehnung an Engelhardt/ Plinke 1979: 160. 173 7.1 Marketingmix <?page no="174"?> Von einer Strukturveränderung wird dann gesprochen, wenn eine Änderung der Gewichtung der angebotenen Interventionen (z. B. die Teilnehmernach‐ frage im Bereich Ernährung steigt zu Ungunsten der Teilnehmernachfrage im Bereich Bewegung) vorliegt (vgl. Freiling/ Reckenfelderbäumer 2009: 401). Nachdem die grundsätzlichen Ausstattungsmöglichkeiten der Leistungs‐ politik beleuchtet worden sind, steht nun die Entwicklung von Präventions‐ interventionen im Vordergrund. Das Hauptanliegen präventiver Interven‐ tionen ist die Förderung gesundheitlicher Verhaltensweisen, daher ist auch die Entwicklung der Präventionsinterventionen innerhalb der Leistungs‐ programmpolitik angesiedelt. Dabei findet idealtypisch das Produktdesign bzw. die Ausgestaltung präventiver Interventionen auf zwei Ebenen statt: Während die Grund- und Minimalleistungen als Kernleistungen definiert werden, stellen Zusatzleistungen ergänzende Nutzenkomponenten (vgl. Kotler/ Bliemel 1995: 660 ff.; Meffert 2000: 333; Meffert/ Bruhn 2006: 392; Normann 2000: 77) zur Sicherstellung des Leistungsversprechens innerhalb der Kommunikationspolitik (→ Kapitel 7.1.5) dar (→ Abb. 13). Abb. 13: Leitungsdefinitionen 2. Zusatzleistungen (Secondary Service Level) Definition von Zusatz- und Begeisterungskomponenten der Präventionsintervention (= indirekte Ausgestaltung) 1. Kernleistungen (Core Service Level) Definition von Basis- und Leistungskomponenten der Präventionsintervention (= direkte Ausgestaltung) Markenpolitik Beschwerdepolitik Unterstützungspolitik Integrationspolitik Abb. 13: Leistungsdefinition Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Scherenberg 2008: 99. Kernleistungen sichern die Minimalqualität, während mögliche Zusatz‐ leistungen rund um die präventive Dienstleistung die Werterhöhungsqua‐ lität steigern sollen. Ein wesentlicher Aspekt bei der Bestimmung der Kern‐ leistungen ist es, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Zielgruppen warum ihr Verhalten ändern (bzw. nicht ändern). Die Ausgestaltung der Präventionsintervention kann basierend auf den Erkenntnissen der Situati‐ 174 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="175"?> onsanalyse, der Bedürfnisanalyse sowie der Lebensbedarfszyklusanalyse der jeweiligen Zielgruppe(n) vorgenommen werden. Häufig nehmen nicht die gewünschten Risikogruppen Präventionsangebote wahr, sondern vor allem gesunde Menschen, die sich ohnehin schon gesundheitsbewusst verhalten. Die Ausgestaltung sollte daher detailliert geplant werden und besonders die Problemlagen von Risikogruppen berücksichtigen. Kernelemente, die definiert werden müssen, sind bspw. das präventive Handlungsfeld bspw. das Risikoverhalten (je nach Risikogruppe oder Indikation), der Interventi‐ onstypus, die fokussierte Zielgruppe, die Zielsetzungen, die Zielprioritäten sowie die Nutzenkomponenten. [1] Festlegung des Interventionstypus Präventionsinterventionen können prinzipiell drei groben Interventionsty‐ pologien zugeordnet werden: Abb. 14: Typologien Präventionsinterventionen Einzelinterventionen universell ausgerichtete Interventionen Ein-Kanal- Interventionen Verbundinterventionen selektiv ausgerichtete Interventionen Mehr-Kanal- Interventionen Abb. 14: Typologien Präventionsinterventionen Quelle: Eigene Darstellung. Für die Institutionen besteht die Möglichkeit, ein eigenes Programm oder im Verbund mit anderen Institutionen ein Gemeinschaftsprogramm zu initiieren. Eine Kooperation ist nicht nur angesichts des Präventionsgesetzes ausdrücklich vom Gesetzgeber gewünscht, sondern trägt dazu bei, mögliche Risiken zu reduzieren und so eine Aufwands- und Kostenminimierung zu erzielen. Zudem können Präventionsinterventionen universell oder selektiv auf spezifische Zielgruppen ausgerichtet werden. Selektiv ausgerichtete Interventionen sind in der Regel mit einem höheren logistischen Aufwand verbunden, führen indes dazu, dass sich die jeweilige Zielgruppe besser an‐ gesprochen fühlt. Auch können Präventionsinterventionen hinsichtlich der Mitgliedschaft formell oder informell gestaltet sein. Die formelle Teilnahme setzt eine offizielle Registrierung voraus. Allerdings kann eine Teilnahme‐ 175 7.1 Marketingmix <?page no="176"?> erklärung mitunter als Hemmschwelle wahrgenommen werden, so dass die Teilnehmeranzahl geringer ausfällt. Andererseits kann eine Mitgliedschaft die Ernsthaftigkeit der Präventionsintervention unterstreichen, die Selbst‐ verpflichtung der Teilnehmer erhöhen und die Basis für eine unterstützende Kommunikation schaffen. Eine weitere Differenzierung kann darin erfolgen, über welche Kanäle die Präventionsintervention erfolgt (online, offline oder online/ offline etc.). Die Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile einzelner Interventionstypen ist abhängig von der Zielgruppe, dem Setting, den Rahmenbedingungen und der Zielsetzung. [2] Festlegung der fokussierten Ziel- und Risikogruppen Die Grundlage für eine positive Beeinflussung der Einstellung und des Verhaltens potenzieller Teilnehmer ist die Spezifizierung der Zielgruppe. Um eine Passgenauigkeit des Angebotes vornehmen zu können, ist neben dem Alter, dem soziokulturellen Hintergrund und der sozialen Lage insbesondere das Geschlecht bei der Kanalisierung und Lenkung gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen sinnvoll. Speziell die Geschlechterperspektive sollte bei Präventionsangeboten mehr berücksichtigt werden, da hier - neben schicht‐ spezifischen Merkmalen - das Präventionspotenzial besonders hoch ist (vgl. Altgeld/ Kolip 2006: 15 f.). Untersuchungen zeigen, dass bspw. die Inan‐ spruchnahme von Früherkennungsmaßnahmen bei Frauen höher ausfällt als bei Männern. Nur mithilfe einer differenzierten Zielgruppendefinition ist folglich eine Anreiz- und Förderungseffizienz gesundheitsbewusster Verhaltensweisen möglich. Die Zielgruppenspezifizierung unter besonderer Berücksichtigung der Chancengleichheit schließt nicht nur die Bedürfnisse, Präferenzen und gesundheitliche Verhaltensweisen mit ein, sondern bein‐ haltet die bevorzugten kommunikativen Zugangswege aller Zielgruppen‐ segmente, um so eine bedarfsgerechte Dialogkommunikation (online wie offline) vornehmen zu können. [3] Festlegung der Zielsetzung, der Zielprioritäten und des Zeitbezugs Gesundheitliche Interventionsziele sollten neben dem Schweregrad und dem zeitlichen Aufwand auch positive Verhaltensentwicklungen der Teil‐ nehmer berücksichtigen, um eine dauerhafte Verhaltensmotivation zu sti‐ mulieren. Die Erreichung vorgegebener oder selbstgesteckter Zielgrößen sollten verbal belohnt werden. Um die Koppelung von gesundheitlichen Handlungen und Belohnungen unmittelbar erfahrbar zu machen, bietet 176 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="177"?> sich eine direkte Wertschätzung ohne zeitliche Verzögerung an. Eine Möglichkeit stellen onlinegestützte Statusmeldesysteme zur Transparenz sichtbarer Erfolge dar (z. B. mithilfe von Apps), die eine direkte Motivati‐ onsfunktion auslösen. Anzumerken ist, dass Statusmeldungen auch negative motivationale Effekte hervorrufen können. Denn eine Transparenz kann dann als negativer Anreiz empfunden werden, wenn die Teilnehmer ihre Negativfortschritte betrachten, mit Resignation reagieren und schwer zu reaktivieren sind. Um die Teilnehmer stets reaktivieren zu können, emp‐ fiehlt sich eine Motivierung, die wahlweise positive Erfolge würdigt, oder bei Stagnation bzw. Rückschritten ermutigt. Beteiligt sich der Teilnehmer innerhalb eines angekündigten Zeitfensters wieder an einer Intervention, ist eine Wertschätzung umso wichtiger. Während dauerhafte Teilnahme (z. B. durch Gratulationen) kurzfristig eine lineare oder gar konvexe Funktion aufweisen sollte, wird auf langfristige Sicht ein konkaver Verlauf empfohlen (vgl. Drumm 2004: 556). Summa summarum sollten Ziele bzw. Zielprioritä‐ ten und der zeitliche Kontext der Zielerreichung aufgrund weitreichender psychologischer Effekte exakt geprüft werden. [4] Festlegung der Mehrwerte Die Bereitschaft zur Verhaltensänderung wird bei den Teilnehmern dann aktiviert, wenn sie erwarten können, dass durch ihre Verhaltensänderung ein Nutzen erzielt wird, der zu einer persönlichen Bedürfnisbefriedigung beiträgt. Somit kommt der Auswahl z. B. verbaler Anreize (je Teilnehmer‐ gruppe) eine besondere Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Interven‐ tion zu. Um mehr Eigenverantwortung bei den Teilnehmern zu erzeugen, sollten immaterielle Nutzenkomponenten implementiert werden, die einen emotionalen Wirkungseffekt bei der Zielgruppe erzielen (vgl. Glusac 2005: 73). Statuslevel und Abzeichen können je nach Teilnahmeengagement (durch Präventionsstatuslevel z. B. in Gold, Silber und Bronze) nicht nur bei Kindern und Jugendlichen dazu führen, Stolz für die eigene Leistung aufzubauen. Bei dem Vielfliegerprogramm Miles & More der Lufthansa können Kunden bspw. zum Frequent Traveler oder Senator aufsteigen und erhalten besondere Privilegien (vgl. Lauer 2004: 94). Auch bei weit verbreiteten Gesundheits-Apps (z. B. Fitbit) erhalten die Nutzer unterschied‐ lichste Abzeichen für erreichte persönliche Meilensteine. Symbolische Be‐ lohnungen tragen (wie unerwartete kleine Gesten der Anerkennung) so zur Motivationssteigerung bei und aktivieren gleichzeitig die intrinsische 177 7.1 Marketingmix <?page no="178"?> Motivation (vgl. Rheinberg 2006: 338). Symbolische und inhaltliche Anreize sind wichtige Mehrwerte zur Unterstützungsgestaltung und können zur Nachhaltigkeit der Präventionsintervention beitragen. Unterstützungs- und Serviceleistungen und ein ausgeprägtes Beschwerdemanagement sind dem‐ entsprechend wichtige Zusatzleistungen. Grundsätzlich lassen sich drei Verstärkungsarten unterscheiden: Attraktivitätsverstärker (z. B. durch Un‐ terstützungsleistungen), Personenverstärker (z. B. durch besondere Zuwen‐ dungen durch symbolische Belohnungen) und materielle Verstärker (z. B. durch Prämien) (vgl. Korte 1996: 80). Im Vergleich zur klassischen Produktpolitik zeichnet sich die „direkte“ Produktpolitik (des Beziehungs- und Erfahrungsmanagements) durch eine hohe Kundenbzw. Teilnehmerintegration aus (vgl. Wirtz/ Blockus 2006: 213). Die Teilnehmerintegration ist das Resultat einer ständigen Interaktion, bei der Bedürfnisse, Erwartungen und Zufriedenheiten der Teilnehmer erhoben werden, bedürfnisgerecht in die kommunikativen Maßnahmen einfließen und so Teilnehmernähe und Teilnehmerorientierung geschaffen wird. Durch eine hohe Integration ist es zudem möglich, user-generierten Content zu schaffen, um das Engagement zu erhöhen (vgl. Kreutzer/ Land 2017: 139 f.). Die Möglichkeiten zur Integration der (potenziellen) Teilneh‐ mer in Kreativprozesse im Sinne einer Co-Produktion bei Präventionsin‐ terventionen können vielfältig sein, angefangen von Fotowettbewerben, einem Aufruf für die Suche nach einem Sport-Maskottchen bis hin zu Slogans für eine zielgruppenspezifische Ernährungsintervention. Der starke Interaktionsgrad und die individuellen Serviceleistungen tragen als Zusatz‐ nutzen auf diese Weise zu einer Erhöhung der Teilnehmerzufriedenheit bei (vgl. Holland 2004: 170). Dabei sind gerade emotionale Zusatzleistungen bei zunehmender Ähnlichkeit von Dienstleistungen bedeutsam, um sich vom Wettbewerb positiv abzuheben (vgl. Meffert/ Bruhn 2006: 402). Die inhalt‐ liche Ausgestaltung der Kern- und Zusatzleistungen können inhaltlicher und emotionaler Natur sein und sowohl zum Ziel haben, Aufmerksamkeit zu erregen, als auch Impulse für eine Verhaltensänderung zu setzten. Die → Abb. 15 zeigt beispielhaft die Vielfalt der inhaltlichen Ausgestaltung (Content-Marketing), die innerhalb im Rahmen einer onlinebasierten Präventionsintervention vorgenommen werden kann. Dabei hängt die Po‐ sitionierung der Inhalte immer auch von der inhaltlichen Ausgestaltung der jeweiligen Infotainment-, Edutainment- und Servotainment-Elemente der Plattform ab. 178 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="179"?> Abb. 15: Beispiele für Content einer Online-Plattform aufmerksamkeitssteigernde Inhalte emotionale Inhalte verhaltensmotivierende Inhalte sachliche Inhalte inspirieren unterhalten bilden überzeugen Spiele Video Celebrity Endorsement/ prominente Testimonials Events Podcasts Artikel E-Books Studien Checklisten / Selbsttests Communitys/ Foren interaktive Demos Information zu Präventionsthemen Webinare Infografiken Repords Anleitungs- Videos Fallbeispiele/ stellvertretende Erfahrungen Experten- Chat Votings Abb. 15: Beispiele für Content einer Onlineplattform Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Horzetzky 2015: 18; Kreutzer/ Land 2017: 162 Untrennbar mit den präventiven Dienstleistungen und der jeweiligen in‐ haltlichen Ausgestaltung verbunden sind die Prozesse vor, während und nach der Teilnahme. Denn aus Teilnehmersicht werden Dienstleistungen als Prozess erlebt. Aus diesem Grund ist die Darstellung der Gestaltung teilnehmermotivierender Prozesse für die Prävention elementar. 7.1.2 Prozesspolitik Neben der inhaltlichen Gestaltung werden die (potenziellen) Teilnehmer maßgeblich durch die Ablauforganisation (process) positiv wie auch negativ beeinflusst, da die Teilnehmer die angebotene Dienstleistung als Prozess wahrnehmen. Bei der Definition und Strukturierung der Prozesse sollte folglich die Teilnehmersicht maximal einbezogen werden: „A process should be designed to product outputs that satisfy the requirements of customer.“ (Davenport 1993: 15). Insofern kann die Prozessorientierung bzw. die Pro‐ zesspolitik als ein integraler Bestandteil der Teilnehmerorientierung ver‐ standen werden, bei dem die Teilnehmer in den Mittelpunkt institutioneller Entscheidungen gestellt werden. Die an den Teilnehmerbedürfnissen aus‐ 179 7.1 Marketingmix <?page no="180"?> gerichteten Abläufe (process customization) (vgl. Davenport 1993: 77 f.) führen aus Teilnehmerperspektive zu einem prozessbezogenen Differenzie‐ rungsvorteil (vgl. Büttgen 2002: 151). Damit stellt das zentrale Merkmal der Prozessgestaltung die ganzheitliche Betrachtung aller Teilprozesse über den gesamten Teilnehmerzyklus der Interventionsteilnahme. Die Art und Weise der Dienstleistungsprozesse entscheiden über die Qualitätswahrneh‐ mung der Teilnehmer. Die Beurteilung der Prozessqualität und die mögli‐ che Dauer der Interventionsteilnahme hängen folglich von der positiven Wahrnehmung der angebotenen Präventionsmaßnahme mit zunehmendem Zeiterleben ab. Parasuraman, Berry und Zeithaml identifizierten fünf key issues, die eine gute Dienstleistung auszeichnen (SERVQUAL-Ansatz) (vgl. Parasuraman/ Zeithaml/ Berry 1998: 12/ 23): ■ Tangibles: Die Annehmlichkeiten des tangiblen Umfelds basiert auf materiellen, technischen und personellen Realitäten (Erscheinungs‐ bild/ Ausstattung der Dialogmedien, Wirkung der Betreuung, Attrakti‐ vität der Präventionsmaßnahme usw.). ■ Reliability: Die Zuverlässigkeit zeigt sich in der korrekten Ausführung zugesicherter Leistungen (z. B. durch eine niedrige Fehlerbzw. Rekla‐ mationsquote). ■ Responsiveness: Die Reaktionsfähigkeit zeichnet sich aus durch das Entgegenkommen, auf Teilnehmerbedürfnisse und -probleme zeitnah zu reagieren (z. B. durch kurze Wartezeiten (Callcenter) und Reaktions‐ zeiten (z. B. Anfragen)). ■ Assurance: Die Leistungskompetenz spiegelt sich in der Fach- und Pro‐ blemlösungskompetenz und der Höflichkeit bzw. Serviceorientierung (Mitarbeiter) wider und trägt durch die Vermittlung von Sicherheit und Vertrauen zur Akzeptanz bei. ■ Empathy: Das Einfühlungsvermögen äußert sich durch eine aufmerk‐ same und individuelle Betreuung auf allen Kommunikationsebenen (Würdigung und Verständnis bei der Umstellung behavioraler Risiko‐ faktoren durch Serviceunterstützung etc.). Die beschriebenen Dimensionen des SERVQUAL-Ansatzes beruhen auf einem Befragungsinstrument mit insgesamt 22 Items, die Kundenerwar‐ tung nach den o. g. Aspekten der Dienstleistungsqualität erhebt. Die Dimensionen (assurance und empathy) repräsentieren dabei sieben Ori‐ ginaldimensionen, bestehend aus: „communication, credibility, security, competence, courtesy, understanding / knowing customers and access“ (vgl. 180 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="181"?> Parasuraman/ Zeithaml/ Berry 1998: 12/ 23; Homburg/ Krohme 2006: 980; Hartmann/ Kreuzer/ Kuhfuß 2004: 54). Alle fünf Dimensionen üben einen Einfluss auf die Prozessgestaltung aus. Aus diesem Grund wird der SERV‐ QUAL-Ansatz oft als Instrument zur Konzeptualisierung der Dienstleis‐ tungsqualität herangezogen (vgl. Homburg/ Krohmer 2006: 981). Allerdings beschränkt sich die Prozessgestaltung umfangreicher Interaktionsbeziehun‐ gen nicht nur auf den Anmelde- oder Abmeldemechanismus, sondern schließt die Gesamtheit aller Aktivitäten vor, während und nach der Teil‐ nahme einer Präventionsaktivität mit ein. Vom Erstkontakt bis zur Abmel‐ dung kann der Ablauf in sieben Prozessstufen unterteilt werden (vgl. Wirtz/ Blockus 2006: 215) (→ Abb. 16). Abb. 16: Leistungsdefinition Abstinenzphase = Teilnehmer sind wieder ansprechbar, da der Auslöser für den Programmabbruch (z.B. persönliche Lebensumstände oder Programmunzufriedenheit behoben wurden Kündigungsphase = Teilnehmer entscheidet sich für einen Abbruch der Programmteilnahme Degenerationsphase = Programmaktivität seitens des Teilnehmers findet nicht mehr statt Reifephase = Programmteilnahme und gesundheitsförderliche Verhaltensaktivität wird dauerhaft durchgeführt und stabilisiert Wachstumsphase = Aktive Programmteilnahme seitens des Teilnehmers durch Anforderungserfüllung (und Erhalt positiver Verstärker) Sozialisierungsphase = Kundenaktivität in Form einer (ersten bzw. erneuten) Interessensbekundung = Einschreibung in das Bonusprogramm Anbahnungsphase = Identifikation potenzieller Teilnehmergruppen (und Bedürfnisse) = Erstansprache über Massenmedien mit Responsemöglichkeiten sowie Direktansprache Recruitment: Akquisitionsu. Interessensmanagement Stadium: Absichtslosigkeit Retention: Interessentenu. Bindungsmanagement Stadium: Absichtsbildung Retention: Unterstützungsu. Bindungsmanagement Stadium: Handlung Retention: Unterstützungs- und Bindungsmanagement Stadium: Aufrechterhaltung/ Termination Retention: Bindungs- und Abbruchspräventionsmanagement Stadium: Rückfall Recovery: Kündigungs- und Rückgewinnungsmanagement Stadium: Absichtslosigkeit Recovery: Rückgewinnungsu. Unterstützungsmanagement Stadium: Absichtsbildung Close-Loop-Prozess präventiver Bonusprogramme Gefährdungsphase Recovery: Revitalisierungsphase gezielte (Re-)MOTIVIERUNG der Teilnehmer (mit besonders großem Präventionspotenzial) 1 2 3 4 5 6 Übergreifende Steuerungsgröße Präventionspotenzial Chum Management Zufriedenheitsmanagement Beschwerdemanagement Abb. 16: Leistungsdefinition Quelle: Scherenberg 2008: 106 in Anlehnung an Wirtz/ Blockus 2006: 215; Strauss 2000: 16. 181 7.1 Marketingmix <?page no="182"?> Die einzelnen Prozessstufen lehnen sich an den Teilnehmerlebenszyklus an und können auf die Kernprozesse der Teilnehmergewinnung (recruitment), der Teilnehmerbindung (retention) und der Teilnehmerrückgewinnung (recovery) heruntergebrochen werden. Diese Beziehungsphasen werden auch als die „3 Rs“ bezeichnet (vgl. Bruhn 2004: 36), teils wird als viertes Element reclamation hinzugefügt („4 Rs“) (vgl. Renker 2005: 114). Die chronologische Abfolge der Teilnehmeraktivitäten und die ständige Orientierung an den Bedürfnissen der (potenziellen) Teilnehmer ermöglicht neben der Erhebung der individuellen Rah‐ menbedingungen eine permanente Überprüfung und Weiterentwicklung des Präventionskonzepts. Da sich die Bereitschaft zur gesundheitlichen Verhaltens‐ änderung und die Beziehungsintensität während der Teilnahme unterschied‐ lich entwickeln, sollten teilnehmerorientierte Prozesse durch die frühzeitige Überwindung von Hindernissen möglichst zu einer gewohnheitsetablierenden Verhaltenskonstanz führen. Auch verhaltenstherapeutische Ansätze, wie bspw. das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (kurz TTM, auch Stages-of-Change-Modell) nach Prochaska und DiClement, beschreiben Verhal‐ tensänderungen als einen Prozess, bei der die fünf unterschiedlichen Stufen der Motivation Absichtslosigkeit (Präkontemplation), Absichtsbildung (Kontempla‐ tion), Vorbereitung, Handlung, Aufrechterhaltung und Termination (teils auch Rückfall) unterteilt werden (vgl. Knoll et al. 2005: 54). Diese Phasen sollten zur Aufrechterhaltung der Motivation der Teilnehmer bei der Gestaltung der Prozesspolitik durch die Implementierung spezifischer Gestaltungselemente zur Überwindung möglicher Hindernisse berücksichtigt werden. Phase mögliche Elemente ① Absichtslosigkeit ② Absichtsbildung - Wissensvermittlung - Vermittlung eines Problembewusstseins ③ Vorbereitung - Darstellung der Vorteile der Verhaltensänderung - Hilfestellung der Auflösung von Ambivalenzen ④ Handlung - Lenkung auf Erfolge - Belohnung - Ermittlung der Auslöser - Entwicklung von Techniken der Stimuluskontrolle ⑤ Aufrechterhaltung - Lenkung auf wahrnehmbare Erfolge - Vermittlung von Strategien bei „Ausrutschern“ Tab. 31: Phasen der Verhaltensänderung Quelle: Knoll et al. 2005: 54. 182 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="183"?> Werden die Phasen des TTM übersprungen, ist die Gefahr eines Rückfalls in alte Gewohnheitsmuster besonders hoch. Dabei besteht die höchste Rückfallquote in den Phasen Handlung und Aufrechterhaltung (vgl. Hoff‐ mann/ Faselt 38). Werden Rückfälle in alte Gewohnheitsmuster in die Pro‐ zesspolitik mit einbezogen, dann sollten die in → Tab. 32 beschriebenen vier zentralen Phasen und möglichen Einflussmöglichkeiten integriert werden (vgl. Marlatt 1985 zit. n. Klos/ Görgen 2009: 39). Phase Beispiele für mögliche Methoden Förderung eines ausgewo‐ genen Lebensstils - Identifizierung und Abbau belastender Alltags‐ faktoren - Planung angenehmer Dinge - Techniken zur Stressbewältigung Identifizierung von Rück‐ fallrisiken - Darstellung der Vorteile der Verhaltensänderung - Hilfestellung der Auflösung von Ambivalenzen - Analyse früherer Rückfälle und emotionaler Zu‐ stände Verbesserung der Bewälti‐ gungs-kompetenz - Ressourcenaktivierung (Vorwegnahme des Ver‐ haltens) - Selbstkontrollstrategien und Ablenkungstrai‐ nings - Notfallhilfen (Notfallplan, Ausrutscher-Vertrag) Veränderung der rückfall‐ bezogenen Kognitionen - Umdeutung von Ausrutschern - Entkatastrophisierung - Erstellung einer Entscheidungsmatrix Tab. 32: Methoden zur Rückfallprophylaxe Quelle: Klos/ Görgen 2009: 39. Ausgehend vom Teilnehmerlebenszyklus sollte bei der Teilnehmergewin‐ nungsphase grundsätzlich die Aufmerksamkeit und das Interesse für die Präventionsintervention geweckt werden, um Log-in-Effekte (bzw. eine Einschreibung) zu erzielen. Dabei kann die Anbahnung über anonyme Massenmedien (z. B. Kundenzeitschriften) und durch eine direkte Ansprache potenzieller Teilnehmer erfolgen. Kommt es zu einer ersten Transaktion zwischen den Teilnehmern und dem Initiator, führt dies dazu, dass die Teilnehmer erste Erfahrungen (Sozialisation) sammeln (vgl. Strauss 2000: 16). In dieser Prozessstufe findet die eigentliche Überzeugungsarbeit durch eine vertrauenerweckende Heranführung der Präventionsbzw. Interven‐ tionssinnhaftigkeit z. B. durch die Zusendung eines Welcome-Packages 183 7.1 Marketingmix <?page no="184"?> oder durch eine Schnuppermitgliedschaft statt. Die Teilnehmerbindungs‐ phase zielt darauf ab, durch eine Teilnehmerbindung eine dauerhafte Stabilisierung der gesundheitlichen Verhaltensaktivitäten zu erreichen. Die kontinuierliche Erfüllung der Anforderungen bzw. die stabile Verhaltensak‐ tivität (Wachstum) kann durch Erinnerungssysteme, die an den Bedürfnis‐ sen der Teilnehmer ausgerichtet sind, gestützt werden. Auch eine verstärkte Integration der Teilnehmer oder sogenannte Value-Added-Services (sprich Mehrwertleistungen, wie z. B. erweiterte Beratungsangebote) können dazu führen, den Nutzen dauerhaft zu sichern. Werden die Anforderungen von den Teilnehmern im Sinne der Aufrechterhaltung und Termination dauer‐ haft erfüllt, so wird das Stadium der Reife erreicht. Da die ersten Präventi‐ onsziele erreicht sind, die Initiatoren indes daran interessiert sind, zusätzli‐ che Kundenbindungseffekte (zur Verstetigung des Verhaltens) zu erzielen, wird in der Reifephase versucht, durch Wechselbarrieren eine Gebundenheit aufzubauen (vgl. Bruhn 2006: 522). Werden keine Teilnehmeraktivitäten verzeichnet (Degeneration), gilt es, einem möglichen Teilnahmeabbruch bzw. einer Kündigung proaktiv vorzubeugen. Da die Abbruchauslöser persönlicher und institutioneller Natur sein können, gilt es durch ein Zufriedenheits- und Beschwerdemanagement zu prüfen, welche möglichen Mängel beseitigt werden können. Abbruchgefährdungen sind grundsätzlich in allen Phasen gegeben. Mithilfe der Erhebung von Frühwarnindikatoren (Churn Management) besteht die Möglichkeit, Abbruchgefährdungen früh‐ zeitig wahrzunehmen, um gezielte Gegenmaßnahmen zur Stabilisierung der Verhaltensaktivitäten einzuleiten. Mithilfe einer Churn-Analyse (zusam‐ mengesetzt aus den Begriffen Change und Turn) kann auf Basis des Teil‐ nahmeverhaltens im Zeitverlauf eine Abbruchwahrscheinlichkeit prognos‐ tiziert werden, so dass abbruchwillige Teilnehmer identifiziert und gezielt angesprochen werden können (vgl. Hippner/ Hoffmann/ Wilde 2007: 593). Ist z. B. das Vertrauen zwischen dem Initiator und Teilnehmer gestört oder der Sättigungsgrad angebotener Anreize erreicht, kann es zur Abstinenz oder Kündigung kommen. In der Teilnehmerrückgewinnungsphase wird versucht, gefährdete oder verlorene Teilnehmer durch eine aktive Kontakt‐ aufnahme und Unterstützung in das alte Aktivitätsniveau zurückzuführen. Der beschriebene Nutzungsprozess der Präventionsmaßnahme greift ent‐ sprechend unmittelbar in den gesundheitlichen Entwicklungsprozess der Teilnehmer ein. Als zentrale Steuerungsgröße der Maßnahmen sollte das Präventionspo‐ tenzial (der unterschiedlichen Bedarfsbzw. Risikogruppen) herangezogen 184 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="185"?> werden. Denn eine undifferenzierte Verfahrensweise ohne eine Fokussie‐ rung würde in vielen Fällen Streuverluste und Ressourcenverschwendung bedeuten und ist daher durch eine zielgerichtete Steuerung zu ersetzen. Mit der Standardisierung der beschriebenen Prozesse wird eine wahrge‐ nommene individualisierte Form der Präventionsunterstützung (mass cus‐ tomization based prevention) erzeugt, die bei Teilnehmern ein Gefühl der Verbundenheit (Commitment) hervorruft, ohne sie durch vertragli‐ che, ökonomische oder technische Gegebenheiten zu binden. Je nach Bin‐ dungsursache kann die Teilnehmerbindung verbundenheitsgetrieben oder gebundenheitsgetrieben erfolgen. Die Verbundenheit bzw. die freiwillige Teilnehmerbindung basiert auf emotionalen Ursachen (z. B. Überzeugung) und ist maßgeblich durch die Beziehungs- und Transaktionsqualität zu beeinflussen. Die Gebundenheit erfolgt durch technische, vertragliche oder ökonomische Barrieren, die eine Bindung erzwingt (vgl. Strauss 2006: 436 f.). Diese verbundenheitsgetriebene Bindungsform weist dauerhaft nicht nur eine stärkere Überzeugungskraft auf, sondern hat eine positive Wirkung auf die Zufriedenheit der Teilnehmer. Denn ohne Verbundenheit wird eine mehr oder minder erzwungene Gebundenheit nur so lange aufrechter‐ halten, wie die ökonomischen, technisch-funktionalen oder vertraglichen Mechanismen des Programms wirken (vgl. Lorbeer 2003: 57 f.). Das Ausmaß der Individualisierung kann durch den Integrations- und Interaktionsgrad der Teilnehmer bestimmt werden. Für die Teilnehmer spiegelt sich die Prozessbedeutsamkeit neben der Intensität der Integration in erster Linie durch den wahrgenommenen Nutzen der Einbeziehung wider (vgl. Büttgen 2002: 147). Die interne Erfahrens- und Wissensweitergabe der Teilnehmer kann wichtige Impulse für die (gemeinschaftliche) Weiter‐ entwicklung der Präventionsintervention (im Sinne eines collaboratives development) liefern. Insofern kann die Integration der Teilnehmer helfen, mögliche Trade-offs zwischen der Maximierung des teilnehmerbezogenen Nutzens und der Minimierung der betriebswirtschaftlichen Kosten offenzu‐ legen. Interaktionen und damit Kontaktpunkte (customer touchpoints) stellen für die Teilnehmer Augenblicke der Wahrheit (sogenannte moments of truth) dar, die es besonders an customer touchpoints ermöglichen, durch die Identifizierung der Probleme und Erwartungen der Teilnehmer, eine verbesserte Steuerung des präventiven Geschehens zu erreichen (vgl. Schreiner 2004: 46). Da die Teilnehmerakquise und -betreuung im Frontof‐ fice (Onstage-Prozesse), die Interventionsabwicklung jedoch im Backoffice (Backstage-Prozesse) stattfindet, ergibt sich zwangsläufig die Notwendig‐ 185 7.1 Marketingmix <?page no="186"?> keit der engen Verzahnung der beiden Bereiche. Frontoffice-Prozesse (oder Client-Facing-Prozesse) stellen Prozesse dar, bei denen die Initiatoren in ei‐ nem direkten Kontakt zum Teilnehmer stehen, während Backoffice-Prozesse im Hintergrund ablaufen. Während die relativ autonomen Backstage-Pro‐ zesse ohne direkten Teilnehmereinfluss vorhersehbar sind, hängen die integrativen Onstage-Prozesse vorwiegend von den (differierenden) Wün‐ schen der Teilnehmer ab (vgl. Kleinaltenkamp/ Ehret 1998: 79; Bruhn 1998: 177). Je ausgeprägter der Interaktions- und Integrationsgrad ist, umso mehr Aktivitäten sind auf die spezifischen Teilnehmerbedürfnisse auszurichten. Der Teilnehmerprozess mit definierten Service- und Unterstützungsphasen sollte immer ein geschlossener Regelkreislauf (close loop) nach den Ansät‐ zen des CRMs (Customer-Relationship-Management, sprich dem Kundenbe‐ ziehungsmanagement) und des CEMs (Customer-Experience-Management) darstellen, um das Präventionspotenzial durch gezielte Aktivitäten auf der analytischen, operativen, kollaborativen und kommunikativen Ebene ausschöpfen zu können. Aufgabe des CEM im Rahmen des CRMs ist es, auf‐ grund der erhobenen Bedürfnisse der Teilnehmer positive Erfahrungen und Erlebnisse an allen Kontaktpunkten und über den gesamten Teilnehmerzyk‐ lus zu schaffen (vgl. Kreutzer/ Land 2017: 108 f.). Denn das analytische CRM liefert auf der Basis von ausgewerteten Teilnehmer- und Transaktionsdaten wichtige Hinweise zur Verbesserung der Teilnahmeaktivitäten, die in die operative Umsetzung (operatives CRM) einfließen können. Während sich das operative CRM unterschiedlicher Kommunikationskanäle bedient, ist es die Aufgabe des kommunikativen CRM, eine gezielte Steuerung und Unter‐ stützung sowie die Synchronisierung aller Kommunikationskanäle zu den Teilnehmern (Inbound wie Outbound) zu gewährleisten. Das kollaborative CRM setzt verstärkt auf die aktive Zusammenarbeit und Unterstützung der Partner (und Teilnehmer) durch Integration (vgl. Winkelmann 2006: 303; Ahlert/ Hesse 2002: 17). Der Brückenschlag (place), sprich die Über‐ mittlung des Leistungsversprechens (durch z. B. Flyer) und der Leistungen (durch z. B. Beratung) kann direkt (unmittelbar: Internet-Homepage und mittelbar: Geschäftsstellen) oder indirekt über Co-Produzenten erfolgen (vgl. Meffert/ Bruhn 2006: 599 ff.). Da z. B. Ärzte als Multiplikatoren einen großen Einfluss auf das Leistungsgeschehen ausüben, liegt es nahe, diese zu integrieren und zu informieren, um die Akzeptanz zu erhöhen und eine wechselseitige Unterstützung im Sinne eines kollaborativen CRMs zu gewährleisten. Summa summarum dient die vorgestellte Prozessunter‐ teilung dazu, die Abläufe so zu strukturieren, um die Handhabbarkeit 186 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="187"?> der Intervention im Zeitverlauf für die Teilnehmer zu optimieren. Denn neben dem wahrgenommenen Nutzen sind für den Interventions- und Projekterfolg spezielle Faktoren, wie die Bequemlichkeit und Einfachheit maßgeblich, die sich in einem nicht zu unterschätzenden Maße in einem bedürfnisorientierten Prozessing widerspiegeln. 7.1.3 Preispolitik (Gegenleistungspolitik) Im kommerziellen Marketing wird die Gestaltung der Entgelte (Beiträge und sonstige Konditionen) unter die Begriffe Preis-, Finanzierungs-, Entgelt- oder Kontrahierungspolitik zusammengefasst (vgl. Hesse et al. 2007: 20). Die Kontrahierungspolitik (lat. contrahere = zusammenziehen, übereinkom‐ men, eine geschäftliche Verbindung eingehen) beinhaltet alle vertraglich fixierten - meist monetären - Elemente (vgl. Meffert et al. 2008: 544 ff.), die von der jeweiligen Institution für die jeweilige Präventionsintervention festlegt werden. Handelt es sich um Maßnahmen im Bereich des Sozialmar‐ ketings, kommt zudem oft der Begriff Gegenleistungspolitik ins Spiel. Denn häufig werden gerade im Bereich der Prävention Gegenleistungen (z. B. regelmäßige Teilnahme, gesundheitliche Verhaltensänderungen) für eine angebotene Leistung erwartet und erhofft, die taktisch und strategisch geplant werden müssen (vgl. Busch et al. 2013: 251). Demzufolge reduziert sich die Preispolitik nicht auf die Festlegung des Preises (z. B. Kursgebüh‐ ren), sondern schließt zudem weitere preispolitische Aspekte, wie z. B. Zahlungsbedingungen, kostenlose Angebote (Testzugang, Probemonat etc.), zeitliche Rabattaktionen (z. B. Sommer, Weltgesundheitstag), Weiteremp‐ fehlungsprämien, Teilnahmebedingungen bis hin zu Sonderrabatten für spezifischen Zielgruppen mit ein. Die Preis- oder Gegenleistungsstrategie unterscheidet sich stark, je nachdem ob es sich um ein Non-Profit- oder ein Profit-Unternehmen handelt. Bei Profit-Unternehmen ist die preisstra‐ tegische Entscheidung davon abhängig, ob eine Qualitätsführerschaft (eher Hochpreisstrategie) oder eine Kostenführerschaft (eher Niedrigpreisstrate‐ gie) angestrebt wird (→ Kapitel 5.4). Die Festlegung der Positionierung (Niedrig-, Mittel- oder Hochpreislage) wird als Preislagenstrategie bezeich‐ net (vgl. Müller 2016: 150). Für die Erreichung unterschiedlicher Teilneh‐ mergruppen oder Märkte stehen zudem als Instrumentarium zeitliche, räumliche, personenbezogene, leistungsbezogene oder mengenbezogene Preisdifferenzierungsstrategie im Vordergrund (vgl. Bruhn 2016: 81): 187 7.1 Marketingmix <?page no="188"?> ■ Zeitliche Preisdifferenzierung: Von einer zeitlichen Preisdifferenzie‐ rung wird gesprochen, wenn die Preise zu bestimmten Teilnahmezeit‐ punkten (z. B. Wochenendkurse) differieren. Hingegen bezieht sich die zeitraumbezogene Preisdifferenzierung anlassbezogen auf die Teilnah‐ meentscheidung innerhalb einer spezifischen Zeitperiode (z. B. Januar - Stichwort: Gute Vorsätze) (vgl. Simon/ Fassnacht 2016: 246). Auch bei der Markteinführung neuer präventiver Dienstleistungen werden oft niedrige Preise zur Marktdurchdringung (Penetrationsstrategie) angesetzt. Saisonale Preisdifferenzierungen sind insbesondere im Tou‐ rismusbereich (z. B. Präventionsreisen) gängige Mittel, um saisonale Nachfrageschwankungen aufzufangen (vgl. Meffert/ Bruhn 2012: 544 f.). ■ Räumliche Preisdifferenzierung: Unterscheidet sich der Preis in geografisch abgegrenzten Teilmärkten (z. B. aufgrund unterschiedlicher (Personal-) Kosten oder Teilnehmerpräferenzen, so liegt eine räumliche Preisdifferenzierung vor. Aber auch bei unterschiedlichen Standorten einer präventiv agierenden Institution können unterschiedliche Preise angesetzt werden. Bei präventiven Onlineangeboten spielen räumliche Preisdifferenzierungen keine Rolle, da im Internet keine räumliche Selektion möglich ist (vgl. Simon/ Fassnacht 2016: 501). ■ Personenbezogene Preisdifferenzierung: Bei der personenbezoge‐ nen Preisdifferenzierung werden spezifischen Zielgruppen, z. B. Schü‐ lern, Auszubildenden, Studierenden, Rentnern, Schwerbehinderten unterschiedliche Preise bzw. Rabatte gewährt. Zudem können sich Preisdifferenzierungen auch auf Teilnehmermerkmale beziehen, wie bspw. Treuerabatte in Form von gestaffelten Teilnahmebeiträgen oder Preisunterschiede für Mitglieder und Nichtmitglieder (vgl. Simon/ Fass‐ nacht 2016: 255). Auch Bonusprogramme stellen personenbezogene Preisdifferenzierungen dar. ■ Leistungsbezogene Preisdifferenzierung: Von einer leistungsbezo‐ genen oder nutzenorientierten Preisdifferenzierung ist dann die Rede, wenn unterschiedliche Varianten einer präventiven Dienstleistung (z. B. spezifische Servicekomponenten, wie medizinische Untersuchungen) existieren und entsprechend kenntlich gemacht werden (Premium-Mo‐ delle etc.). Eine leistungsbezogene Preisdifferenzierung wird oft bei Gesundheits-Apps vorgenommen. Während Light-Versionen (bzw. die Grundversion) der App nicht selten kostenlos sind, müssen weiter‐ führende Inhalte in Form von spezifischen Kursen oder zusätzlichen 188 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="189"?> Themengebieten zusätzlich kostenpflichtig (App-in-Käufe) bezogen werden (vgl. Scherenberg 2015: 28). ■ Mengenbezogene Preisdifferenzierung: Eine mengenbezogene Preisdifferenzierung liegt dann vor, wenn Preisdifferenzierungen bei der Inanspruchnahme von mehreren z. B. Kursangeboten offeriert werden. Eine Sonderform der mengenbezogenen Preisdifferenzierung stellt die mehrpersonenbezogene Preisdifferenzierung dar, die bspw. bei Partnern (Ehepartner, selbstgewählte Teampartner etc.) ein Rabatt gewährt (vgl. Simon/ Fassnacht 2016: 248; 257). Jahresabonnements und 10er Karten fallen ebenfalls unter die mengenbezogene Preisdifferen‐ zierung. Preisbündelungen stellen eine weitere Form der Preisdifferenzierung dar, bei der mehrere Produkte oder Dienstleistungskomponenten zusammenge‐ fasst werden. Bei reinen Preisbündelungen (pure bundling) werden Dienst‐ leistungen ausschließlich als Paket angeboten, während bei gemischten Preisbündelungen (mixed bundling) sowohl einzelne Dienstleistungskom‐ ponenten als auch das Gesamtpaket der Zielgruppe angeboten werden (vgl. Bruhn 2016: 174). Ist die Preisstrategie festgelegt worden, können die einzelnen Preise für die jeweiligen Produkte oder Dienstleistungen definiert werden. Hierbei sind sowohl die Deckung der Kosten, die Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft der zuvor definierten Zielgruppen zu bedenken, als auch, dass von Preisen hohe emotionale Wirkungen ausgehen (vgl. Pepels 2006: 26). Demnach sind bei der Bestimmung des Preises unter‐ nehmensbezogene (z. B. Kosten, Deckungsbeiträge, Unternehmensziele, Marketingstrategie) und konsumentenbezogene Preisdeterminanten (z. B. Nachfrageverhalten, Preisvorstellungen, Konkurrenzverhalten, rechtliche Bestimmungen) zu berücksichtigen. Im Folgenden werden die unterschied‐ lichen Methoden zur Preisbestimmung vorgestellt. Anzumerken ist, dass es sich nicht um Entweder-oder-Optionen handelt, sondern vielmehr um Orientierungen zur Preisfestsetzung (vgl. Kuhnle 2013: 150). Denn bei der Preisbestimmung sollten sowohl die Kosten, der Wettbewerb als auch das Nachfrageverhalten berücksichtigt werden (vgl. Rennhak/ Opresnik 2016: 79, 91). 189 7.1 Marketingmix <?page no="190"?> ■ Kostenorientierte Preisbestimmung: Bei der kostenorientierten Preisbestimmung (Inside-out-Perspektive) wird die Preisuntergrenze auf der Grundlage der vom Rechnungswesen zur Verfügung gestellten Kosteninformationen der Leistungserstellung (z. B. Personalkosten, Miete, Entwicklungskosten) festgesetzt (vgl. Günter/ Hausmann 2012: 61). ■ Konkurrenzorientierte Preisbestimmung: Orientieren sich die ei‐ genen Preise oder Beiträge an denen der Konkurrenten (oder des Leitpreises des Marktführers), so wird von einer konkurrenzorientier‐ ten oder wettbewerbsorientierten Preisbestimmung gesprochen (vgl. Rennhak/ Opresnik 2016: 92). Die Analyse der Preise und der Leistun‐ gen der Wettbewerber (Wettbewerbsanalyse; → Kapitel 5.2) bildet in Abwägung der eigenen angebotenen Leistungen die Basis der Preisfest‐ setzung. ■ Nachfrageorientierte Preisbestimmung: Wird von einer nachfrage‐ orientierten Preisbestimmung (Outside-in-Perspektive) gesprochen, so wird die Nutzenerwartung und die mögliche Reaktion der Zielgruppen anhand der Zahlungsfähigkeit bzw. Zahlungswilligkeit und der Zah‐ lungsfähigkeit aber auch der Wertvorstellungen und des Images der präventiv agierenden Institution einbezogen. Die Höhe der Preisbereit‐ schaft der definierten Zielgruppe ist maßgeblich für die Festsetzung der Preisobergrenze verantwortlich (vgl. Günter/ Hausmann 2012: 62). Dabei ist zu beachten, dass der Präventionsbedarf insbesondere bei Menschen aus unteren sozialen Schichten besonders hoch ist (→ Kapi‐ tel 2.1). Wie bereits angeführt, gehen von Preisen emotionale Wirkungen aus. Emotionen, die bei den Teilnehmern ausgelöst werden, können sowohl positiv wie auch negativ die Nachfrage, die Motivation und die Bindung der (potenziellen) Teilnehmer beeinträchtigen. Dabei besitzen Preisemotionen drei operationalisierbare Hauptdimensionen: [1] Stärke (Intensität), [2] Richtung (positiv/ negativ) und [3] Art (Inhalt/ Qualität) (vgl. Trommsdorff 2004: 69 ff.). In der → Tab. 33 finden sich zur besseren Veranschaulichung einige Beispiele für mögliche Preisemotionen. 190 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="191"?> Preisemotion Beispiele Preisfreude (+) Positive Emotionen, die durch die wahrgenommenen günstigen Preise bei der Inanspruchnahme der Präventionsintervention (z. B. niedrigen Einführungspreis) oder ein kostenloses Angebot erlebt werden. Preisbelohnung (+) Positive Emotionen, die durch besondere Erlebnisse bei der In‐ anspruchnahme der Präventionsintervention (z. B. präventive Erfolge, soziales Erleben in der Gruppe, lange Anfahrtswege) erlebt werden. Preisärger (-) Negative Emotionen, die durch besondere Erlebnisse bei der In‐ anspruchnahme der Präventionsintervention (z. B. ausgebuchte Kurse) erlebt werden. Preisneid (-) Negative Emotionen, die durch eine wahrgenommene Bevor‐ zugung bestimmter Personen (z. B. VIP-Status) bei der Inan‐ spruchnahme der Präventionsintervention erlebt werden. Tab. 33: Beispiel für Preisemotionen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Diller 2008: 99. Preisemotionen werden mithilfe einer preiserlebnisbetonten Kommunika‐ tionspolitik bei den Teilnehmern aktiviert. Darstellungsformen von Preis‐ emotionen können (zielgruppenspezifisch) [1] verbal durch die Veranschau‐ lichung des Preises („ohne Aufnahmegebühr - ohne Risiko“) und [2] durch die gestalterische Darstellung (z. B. durch Preisgegenüberstellung: „19,00 Euro statt 29,00 Euro pro Monat“ oder „Kostenlos für Versicherte der BKK“ sowie durch Preisangebote „3 Monate testen zum Festpreis von 99,00 Euro“ oder „8-Wochen-Programm gratis“) vorgenommen werden. Ziele, die demnach im Rahmen der Preis- und Gegenleistungspolitik verfolgt werden, tangieren damit sowohl den Zielgruppenerreichungsgrad, die Kapazitätsauslastung, das wahrgenommene Preis-Leistungs-Verhältnis also auch die ökonomische Sicherung bzw. Weiterführung der jeweiligen Präventionsintervention. Zusammenfassend müssen damit im Rahmen der Preispolitik der preis‐ politische Spielraum analysiert, die preispolitischen Ziele konkretisiert, die preispolitische Strategie sowie die einzelnen preispolitischen Maßnah‐ men festgelegt und die preispolitische Entscheidung kontrolliert werden. Dabei unterscheidet sich Vorgehensweise von Institution zu Institution je nach dem ökonomischen Interesse sehr stark. Vielfach werden präventive Interventionen für Teilnehmer insbesondere bei Non-Profit-Unternehmen 191 7.1 Marketingmix <?page no="192"?> kostenlos angeboten, da es sich um Drittmittel- und Forschungsprojekte handelt (siehe ➽ www.gesundheitsforschung-bmbf.de) oder wie bei den GKVn die Finanzierung staatlich geregelt ist. Denn gerade im Gesundheits‐ wesen ist die Kontrahierungspolitik stark reglementiert, daher sind die dargestellten preispolitischen Instrumentarien nur bedingt auf alle Akteure, z. B. die GKVn, zu übertragen. Ein Blick auf die GKVn und die Verteilung der Mittel im Rahmen des Präventionsgesetzes ist bei der Initiierung von Präventionsmaßnahmen sinnvoll, sofern sich diese nicht auf den zweiten Gesundheitsmarkt konzentrieren. Exkurs ∣ Gesetzliche Krankenversicherung Im Bereich der GKVn wurde die Preispolitik in der Vergangenheit mit der Beitragspolitik gleichgesetzt. Doch seit der Einführung kas‐ senspezifischer Zusatzbeiträge stellen neue gesetzliche Freiräume (Bo‐ nusprogramme, Wahltarife etc.) weitere preispolitische Stellhebel dar. Die kassenspezifischen Zusatzbeiträge stellen ein Preissignal für die Versicherten dar, die von den GKVn erhoben (bzw. ausgeschüttet) werden können, sofern die ihnen zugewiesene Versichertenpauschale den Ausgabenbedarf nicht deckt (bzw. überschreitet). Dabei beinhaltet die Kontrahierungspolitik zudem alle vertraglich fixierten (meist mo‐ netären) Elemente (Meffert et al. 2008: 544 ff.), die z. B. im Rahmen von Selbstbehalten oder Bonusprogrammen festlegt werden. Da sich der Austauschprozess nicht auf monetäre Zahlungen beschränkt, wird auch von Gegenleistungspolitik gesprochen (vgl. Freiling 2004: 339, Busch et al. 2008: 271). Denn Einsparungen sind bei den GKVn nicht nur durch Senkung der Verwaltungskosten und durch die Kürzung von Mehrleistungen, sondern insbesondere über die Erschließung präven‐ tiver Rationalisierungspotenziale möglich. Gegenleistungen auf nicht monetärer Ebene stellen Beeinflussungsmaßnahmen dar, die durch eine Verhaltensänderung der Versicherten zu Einsparungspotenzialen führen sollen. Aufgrund der starken Bedeutung von Gegenleistungen hält das NPO-Modell die Dimension Anreiz- und Beitragspolitik vor (vgl. Purtschwert 2005: 296). Die GKVn schreiben im Rahmen des Präventionsgesetzes über Vergabe‐ stellen Präventionsinterventionen auf verschiedenen Internetplattformen (Beispiel siehe ➽ www.praeventionskonzept.nrw.de) aus. Per Gesetz stehen 192 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="193"?> für unterschiedliche Maßnahmen Mittel zur Verfügung, die im SGV § 20 hinterlegt sind. Krankenkassen: Die Aufwendungen für Prävention und Gesundheitsförderung belaufen sich auf 7,52 Euro je Versicherten (Stand 12/ 2021) - 3,15 Euro für betriebliche Gesundheitsförderung - 2,15 Euro für Gesundheitsförderung in nichtbetrieblichen Settings (davon 0,45 Euro für die BZgA) - Gesundheitliche Selbsthilfe: 1,05 Euro statt je Versicherten - Pflegekassen: 42 Millionen Euro für Unterstützung gesundheitsfördernder Verhältnisse in Pflegeeinrichtungen (ab 2022) Tab. 34: Mittelverwendung im Rahmen des Präventionsgesetzes Quelle: § 20 SGV. 7.1.4 Distributionspolitik Unter der Distributionspolitik werden alle Entscheidungen und Handlungen subsumiert, die im Zusammenhang mit der Übermittlung der präventi‐ ven Dienstleistungen stehen (vgl. Meffert 2000: 600). Damit schließt die Distributionspolitik die Standortwahl, die Gestaltung der Kontaktstellen (z. B. Geschäftsstellennetz, Außendienst, Betreuer) sowie die Gestaltung des logistischen Systems (z. B. regionale Integration) und die Optimierung der Zusammenarbeit mit Multiplikatoren und Meinungsbildnern (Ärzte, Arbeitgeber, Selbsthilfegruppen etc.) mit ein (vgl. Hasitschka/ Hrschka 1982: 118). Demzufolge sind zur Optimierung von Tauschprozessen und zur Reduzierung der Distanz zwischen den Institutionen und ihren potenziellen präventiven Teilnehmern zentrale Entscheidungen hinsichtlich der Art und Form des Teilnehmerkontaktes (z. B. Teilnehmerzuordnungen, Öffnungszei‐ ten, Außendienst, Hotlines) zu treffen. Dabei bedingt der Dienstleistungs‐ charakter von Präventionsinterventionen, dass nicht das Management der physischen Distribution, sondern die Gestaltung aller möglichen Kontakt- und Kommunikationskanäle (inkl. der Prozesse) und damit die Erreichbar‐ keit und der Zugang zu potenziellen Teilnehmern im Vordergrund der Distributionspolitik steht. Grundsätzlich kann bei der Distribution zwischen der direkten Distribution (oder Direktdistribution) und der indirekten Distribution differenziert werden (→ Abb. 17). ■ Direkte Distribution: Bei der direkten Distribution wird die präven‐ tive Dienstleistung direkt von der präventiv agierenden Institution 193 7.1 Marketingmix <?page no="194"?> selbst erbracht und unmittelbar oder mittelbar den potenziellen Teil‐ nehmern direkt zur Verfügung gestellt. Während bei der unmittelbaren direkten Distribution die Leistung an einer zentralen Stelle (z. B. Fitness‐ studio) zur Verfügung gestellt wird, erfolgt bei der mittelbaren direk‐ ten Distribution die Leistung oder das Leistungsversprechen an unter‐ schiedlichen Orten (z. B. Filialsystem, Franchising-System) (vgl. Schrögl 2012: 101). Auch gewinnen Onlineangebote und Präventions-Apps an Bedeutung, sie stellen eine Sonderform der direkten Distribution dar. ■ Indirekte Distribution: Bei der indirekten Distribution wird die Leistung oder das Leistungsversprechen über eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit einem Multiplikator, sprich mindestens einem Vermittler oder Co-Producer, und damit über mindestens eine Zwi‐ schenstufe an die eigentliche Zielgruppe offeriert (vgl. Bruhn 2013: 563). Beispielsweise können GKVn als Vermittler für die zertifizier‐ ten Präventionskurse der zentralen Präventionsdatenbank angesehen werden (z. B. ➽ bkk.zentrale-pruefstelle-praevention.de/ kurse), auf die die GKVn auf ihren Internetseiten verweisen. Auch Arbeitnehmer können als Multiplikator auftreten, wenn sie bspw. im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung Sonderrabatte für ihre Mitarbeiter für Bewegungsangebote etc. ausgehandelt haben. Abb. 17: Beispiel direkter und indirekter Distribution Anbieter von Präventionsinterventionen potenzielle Teilnehmer („Endzielgruppe“) indirekte Distribution (über Multiplikatoren) Internetseite, Publikumsmessen etc. direkte Distribution (an Teilnehmer) Beispiel: Arbeitnehmer (ausgehandelte Rabatte) Beispiel: GKVn Präventionsdatenbank mit Zwischenstufe ohne Zwischenstufe Internetseite, Fachmessen, Kongresse etc. mittelbar zentraler Ort (Internet, Geschäftsstelle etc.) unmittelbar unterschiedliche Orte (Franchising, Filialen etc.) Abb. 17: Beispiel direkte und indirekte Distribution Quelle: Eigene Darstellung. 194 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="195"?> Liegt sowohl die direkte als auch die indirekte Distribution vor, so wird von einem Mehrkanalsystem gesprochen. Übernimmt der Multiplikator eine Teilleistung im Leistungsprozess, kann von einem Co-Producer ge‐ sprochen werden. Dabei kann der Co-Producer und Vermittler entweder die präventive Dienstleistung selbst oder nur das präventive Leistungsver‐ sprechen, sprich das Anrecht auf die zukünftige Leistung, und damit die reine Information über den Inhalt und die Qualität der Leistung anpreisen. Die → Tab. 35 zeigt beispielhaft, welche unterschiedlichen Rollen und Aufgaben der Co-Producer oder der Vermittler im Rahmen einer Betrieb‐ lichen Gesundheitsförderung innehaben kann. Anzumerken ist, dass die Distributionsorgane grundsätzlich „Aushängeschilder“ für die jeweilige Dienstleistung darstellen, da potenzielle Teilnehmer immer erst mit dem jeweiligen Distributionsorgan - direkt oder indirekt - Kontakt aufnehmen. Ist der erste Kontakt negativ, so schlägt sich der negative Eindruck auch auf Dienstleistungsproduzenten nieder (vgl. Hilke 1989: 26). Rolle: Co-Producers Teilleistung durch Arbeitgeber Rolle: Vermittler reine Vermittlung durch Arbeit‐ geber Gegenstand: eigentliche Leistung indirekter Vertrieb der Leis‐ tung mittels Co-Producers: Präventionsleistung eines ex‐ ternen Dienstleisters, die durch interne Beratungen intern nach‐ gefragt werden (z. B. organi‐ sierter Gesundheitstag mit Leis‐ tungsangeboten) indirekter Vertrieb der Leis‐ tung mittels Vermittler: Prä‐ ventionsleistungen eines exter‐ nen Dienstleisters, die durch den Arbeitgeber vermarktet und intern angeboten werden (z. B. aktive Pausen im Betrieb) Gegenstand: Leis‐ tungs-ver‐ sprechen indirekter Vertrieb des Leistungsversprechens mit‐ tels Co-Producers: Präventi‐ onsleistungen eines externen Dienstleisters, die durch interne Beratungen extern nachgefragt werden (z. B. Suchtberatung) indirekter Vertrieb des Leistungsversprechens mit‐ tels Vermittler: Präventions‐ leistungen eines externen Dienstleisters, die durch den Ar‐ beitgeber vermarktet und extern nachgefragt werden (z. B. Gut‐ scheine für Mitarbeiter für Fit‐ nessstudios) Tab. 35: Beispiele für Formen der indirekten Distribution Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bruhn 2013: 563. Auch Standortentscheidungen, die Gestaltung von Räumlichkeiten und damit die Schaffung einer angenehmen Atmosphäre bei Präsenzinterventi‐ 195 7.1 Marketingmix <?page no="196"?> onen sind Aspekte, die im Rahmen der Distributionspolitik geklärt werden. Die Einsparungsnotwendigkeiten, die Konsolidierungsprozesse und die steigende Akzeptanz digitaler Medien bedingen, dass eine zunehmende kommunikative Verlagerung auf das Internet (z. B. virtuelle Berater, Coa‐ ches) vollzogen wird. Dabei kann zwischen einer eDistribution im wei‐ teren und engen Sinne (vgl. Schmidt 2007: 153) sowie einer hybriden Distribution differenziert werden (vgl. Meier/ Stormer 2012: 161): ■ eDistribution im weiteren Sinne: Unter eDistribution im weiteren Sinne wird die Verbreitung des Angebotes der präventiven Dienstleis‐ tung über ein elektronisches Netzwerk verstanden (z. B. Onlinebu‐ chung). ■ eDistribution im engeren Sinne: eDistribution im engeren Sinne stellt die komplette Bereitstellung einer präventiven Dienstleistung über ein elektronisches Netzwerk dar (z. B. Präventions-Apps, Online‐ training- und Coaching-Plattformen). ■ Hybride Distribution: Von einer hybriden Distribution wird gespro‐ chen, wenn Online- und Offlinekomponenten von präventiven Dienst‐ leistungen sinnvoll (auch im Sinne eines hybriden Lernarrangements - Blended Learning) miteinander kombiniert werden und dadurch die Vorteile von Präsenzveranstaltungen und E-Learning genutzt werden. Im Gegensatz zu präventiven Präsenzinterventionen werden an onlineba‐ sierte Präventionsangebote andere Anforderungen an die Distributionspo‐ litik gestellt. Die folgenden beispielhaften Fragen sollten gestellt werden, wenn eine Entscheidung hinsichtlich des Distributionskanals herbeigeführt werden muss (vgl. Bieberstein 2001: 280 f.): ■ Dienstleistungsbezogene Faktoren: Was ist hinsichtlich der Erklä‐ rungsbedürftigkeit, des notwendigen Grades an persönlicher Anleitung bzw. Interaktion oder des notwendigen Interaktionsbedarfs bei dem einzusetzenden Distributionskanal zu berücksichtigen? ■ Teilnehmerbezogene Faktoren: Kann und wenn ja, auf welche Weise kann die Zielgruppe (aufgrund des Mediennutzungsverhaltens: online oder offline) vorzugsweise erreicht werden? Wie sieht die geografische Zielgruppenverteilung aus? Welche Teilnahmegewohnheiten liegen bei Off- und Online-interventionen bei der Zielgruppe vor? 196 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="197"?> ■ Kanalbezogene Faktoren: Wie hoch sind die Bereitstellungskosten bei den unterschiedlichen Distributionskanälen (offline/ online)? Wie ist die direkte Erreichbarkeit bei Standortentscheidungen? ■ Institutionsbezogene Faktoren: Wie ist die Marktstellung der eige‐ nen Institution? Welche finanziellen Mittel stehen zur Verfügung? ■ Wettbewerbsbezogene Faktoren: Wie ist die Marktstellung des Wettbewerbs? Welche Distributionskanäle nutzt der Wettbewerb mit welcher Akzeptanz und Wirkung? ■ Umfeldbezogene Faktoren: Welchen Einfluss hat der Einsatz neuer Technologien (z. B. Apps) bei der Distribution? Geht es um die eDistribution, so ist darauf hinzuweisen, dass das Fern‐ sehen aufgrund der hohen Erreichbarkeit von Zielgruppen insbesondere bei universellen Präventionsinterventionen ein hohes Potenzial aufweist. Emotionale Bilder und der Verweis auf spezifische Präventionsinterventi‐ onen auf Internetplattformen erscheinen geeignet, um eindrucksvoll auf die Vorteile von Präventionsinterventionen mit niedrigschwelligen Interak‐ tionsmöglichkeiten (z. B. E-Mail, SMS) hinzuweisen (vgl. Wriggers 2007: 197). 7.1.5 Kommunikationspolitik Ein Grunddilemma zahlreicher Präventionsangebote ist die mangelnde Bekanntheit bei der Zielgruppe (vgl. RKI 2006: 124). Entsprechend darf bei der Kommunikationsgestaltung nicht per se von einer Bekanntheit ausgegangen werden, wenn vor allem langfristig eine unterstützende Kom‐ munikation notwendig ist, um Teilnehmer immer wieder neu zu motivieren. Voraussetzung ist, dass die Kommunikationsprozesse und Kommunikati‐ onsinhalte zur Bekanntmachung der Präventionsintervention (Kommu‐ nikationsobjekt) verstärkt auf Bedarfs- und Risikogruppen (Kommuni‐ kationssubjekt) ausgerichtet werden und so die Verhaltensbereitschaft stabilisieren. Die Kommunikationspolitik (promotion) hat als Sprachrohr des Marke‐ tings die Aufgabe, neben der Erhöhung des Bekanntheitsgrades positiv auf die Einstellung und das Verhalten der (potenziellen) Teilnehmer einzuwirken (vgl. Homburg/ Kromer 2006: 766). 197 7.1 Marketingmix <?page no="198"?> Zur grundsätzlichen Positionierung (bei Teilnehmern und Multiplikatoren) und der Profilierung (gegenüber dem Wettbewerb) bedarf es zur Festle‐ gung der Kommunikationsstrategie einer Definition der Zielgruppe(n), der kommunikativen Inhalte bzw. der zu kommunizierenden Botschaft, des Timings, des Kommunikationsdrucks (i.S. der Schaltfrequenz), der Kommunikationskanäle (Internet usw.) sowie der Instrumente (klassi‐ sche Werbung, Direktkommunikation usw.) (vgl. Kreutzer 2017: 316). Die Kommunikationsstrategie setzt sich aus drei Teilbereichen zusammen und beantwortet die folgenden Fragen (vgl. Föll 2007: 43): ■ Copy-Strategie: Was soll kommuniziert werden? ■ Kreativ-Strategie: Wie soll es kommuniziert werden? ■ Media-Strategie: Wo soll es kommuniziert werden? Dabei liegt bei Präventionsinterventionen eine hohe Wahrscheinlichkeit der kommunikationspolitischen Zielerreichung - kurzfristig (Potenzialziele) und langfristig (Erfolgsziele) - dann vor, wenn es gelingt, mithilfe der Kommunikationsmaßnahmen die in der → Abb. 18 dargestellten Verhal‐ tensbarrieren bei den Teilnehmern abzubauen: Abb. 18: Verhaltensbarrieren und kommunikative Ziele Informationsbarrieren Transformationsbarrieren Fähigkeitsbarrieren Willensbarrieren Problem des „Verstehens“ Problem des „Könnens“ Problem des „Wollens“ Potenzialziele Erfolgsziele Attention/ Aufmerksamkeit Desire/ Wunsch Interest/ Interesse Action/ Verhaltensänderung Problem des „Kennens“ Abb. 18: Verhaltensbarrieren und kommunikative Ziele Quelle: Scherenberg 2014: 111 in Anlehnung an Bruhn 2004: 97; Homburg/ Krohmer 2006: 767. Kritisch anzumerken ist, dass zur Systematisierung kommunikationspoli‐ tischer Zielsetzungen in der Vergangenheit meist hierarchische Werbewir‐ kungsmodelle herangezogen wurden. (Neo-)behavioristische Erklärungs‐ modelle, wie bspw. das älteste AIDA-Modell (1989, nach Elmo Lewin mit 198 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="199"?> den Phasen: Attention, Interest, Desire und Action), gelten aufgrund der vereinfachten Reiz-Response-Annahme der Kommunikation auf Basis des Push-Prinzips heute mitunter als überholt. Denn solche neobehavioristi‐ schen Modelle beziehen keine beobachtbaren Vorgänge des menschlichen Organismus (z. B. Erinnerung und Wahrnehmung) in die Betrachtung (Reiz-Organismus-Reaktions-Annahme) mit ein und beschränken sich auf eine einfache Reiz-Reaktion-Verknüpfung (vgl. Felser 2001: 15f.; Zimmer‐ mann 2006: 13 f.). Veraltet ist auch die Annahme, dass Rezipienten im Zeitalter der Reizüberflutung der Werbung ihre volle Aufmerksamkeit schenken (vgl. Felser 2001: 16). Dennoch gilt, dass Wirkungsprozesse nach der Ablauffolge Wissen-Empfinden-Handeln gerade bei Präventionsinter‐ ventionen konzeptionell berücksichtigen sollten (vgl. Kotler/ Bliemel 1995: 918), um die Verhaltensbarrieren bei den Teilnehmern systematisch abbauen zu können. Geht es um die Onlinekommunikation, so wird die AIDA-Formel durch die ASIDAS-Formel ersetzt, da im Anschluss der Aufmerksamkeit eine ausgedehnte Suchphase (Search) folgt und abschließend oft das Teilen von Erfahrungen (Share) im Vordergrund steht (vgl. Kreutzer 2017: 320). Ungeachtet dieser neueren Erweiterung der AIDA-Formel kann bei der Ver‐ folgung der Kommunikationsziele aufgrund der unterschiedlichen Bedürf‐ nisbzw. Wissenslagen zwischen den folgenden Zielgruppen unterschieden werden (vgl. Scherenberg/ Greiner 2008: 112): ■ favorisierte Zielteilnehmer, die man für die Präventionsmaßnahme primär gewinnen möchte (z. B. spezielle Bedarfs- und Risikogruppen), ■ Interessenten, d. h. Nutzungsplaner bzw. Unentschlossene, die be‐ reits ein generelles Interesse an Prävention bekundet haben, ■ gegenwärtige Teilnehmer, die sich bereits in die Präventionsinter‐ vention eingeschrieben haben bzw. aktiv sind und weiter zu betreuen sind, ■ ehemalige Teilnehmer, d. h. Nutzer, die sich eingeschrieben haben, allerdings nicht mehr aktiv sind und wieder re-aktiviert bzw. re-moti‐ viert werden sollten, sowie ■ mögliche Partner und Multiplikatoren, die einen Einfluss auf die Verhaltensaktivitäten der (potenziellen) Teilnehmer ausüben (können) bzw. eine Kontrollfunktion innehaben (z. B. Ärzte). Die Bedeutung von Multiplikatoren in Form von Meinungsführerschaft darf nicht unterschätzt werden, daher hat sich eine eigene Disziplin, das Influencer-Marketing entwickelt. Meinungsführer berichten über Blogs 199 7.1 Marketingmix <?page no="200"?> und Social-Media-Plattformen ihre Erfahrungen und werden daher gezielt mit Informationen im Rahmen der Kommunikationspolitik bedient (vgl. Kreutzer/ Land 2017: 209 ff.). Um gewünschte Effekte bei der Zielgruppe zu erreichen, kann je nach Stoßrichtung von den präventiv agierenden Akteu‐ ren eine Push- oder Pull-Strategie verfolgt werden. Bei der Push-Strategie (Aktivierungsstrategie) wird mithilfe von konzentrierten Kommunikati‐ onsaktivitäten (z. B. Outbound) ein Druck erzeugt, um das gewünschte Ziel (z. B. Teilnahmeeinschreibungen oder Verhaltensaktivität) zu erreichen. Damit fallen unter den Begriff Outbound-Kommunikation alle auslau‐ fenden Interaktionen, während unter Inbound-Kommunikation alle einlaufenden Interaktionen subsumiert werden. Meist wird der Terminus Outboundbzw. Inbound-Kommunikation im Kontext von Callcenter-Ak‐ tivitäten genannt (vgl. Fuchs/ Unger 2014: 279, 346). Zielführend ist die Push-Strategie, wenn ein konkretes Interesse seitens der Teilnehmer (z. B. Reminder für Vorsorge-Checkups) bekundet wurde. Bei der Pull-Strategie (Stimulierungsstrategie) wird hingegen versucht, durch massenmediale oder eine direkte Teilnehmeransprache einen Nachfragesog zu erzeugen. Informationsleistungen, die sich an dem konkreten Bedarf der Zielgruppe orientieren, tragen zu einer Stimulierung einer aktiven Nachfrage (im Sinne der Eigenverantwortung) bei. Push-Effekte können sowohl über Kommuni‐ kationsmaßnahmen als auch über die Preispolitik (bzw. monetäre Anreize durch Rabatte) der Präventionsintervention erzielt werden. Folglich setzt die Pull-Strategie im Vergleich zur Push-Strategie durch eine sanfte Moti‐ vierung auf nachhaltige Effekte, auf einen langfristigen Vertrauensaufbau und verschafft den Teilnehmern möglichst viele Möglichkeiten zum Dialog. Ideal ist je nach Bedarf eine Kombination aus Pull- und Push-Strategie. Auch Multiplikatoren (z. B. Ärzte) können im weitesten Sinne nach den Ansätzen des Trade Marketing per Pull-Strategie kommunikativ eingebunden werden, um diese bei ihren präventiven Bemühungen zu unterstützen. Im Vergleich zur unpersönlichen Kommunikation kommt der direkten Kommunikation (Arzt-Patienten-Beziehung) aufgrund eines engen Vertrauensverhältnisses, besonders bei erklärungsbedürftigen Dienstleistungen, und zum Abbau von Informationsasymmetrien eine besondere Bedeutung bei der Teilnahmeför‐ derung zu. 200 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="201"?> Abb. 19: Typologie von Kommunikationsinstrumenten hoch niedrig hoch niedrig gering hoch gering gering hoch gering hoch hoch Kontinuität und Rationalität Streuverluste und Kontaktkosten Interaktivität und Involvement Informationsvermittlung Grad der Kundenorientierung (Bedürfnisorientierung spezifischer Bedarfsgruppen) Grad der Zielorientierung (Ausschöpfung des Präventionspotenzials) Massenkommunikation  klassische Werbung  Öffentlichkeitsarbeit Bedarfsgruppenkommunikation  Eventmarketing/ Veranstaltungen  Social Sponsoring  Teilnahmeförderung über Multiplikatoren Individualkommunikation  persönliche Kommunikation  Direktkommunikation  Multimediakommunkation populationsbezogene Kommunikation = Gesamtteilnehmerpotenzial segmentbezogene Kommunikation = Bedarfsgruppenpotenzial personenbezogene Kommunikation = Risikogruppenpotenzial Above-the-Line- Medien Below-the-Line- Medien Identifizierung Qualifizierung und Segmentierung Individualisierung 1 2 3 Abb. 19: Typologie von Kommunikationsinstrumentarien Quelle: Scherenberg 2008: 133 in Anlehnung an Meffert/ Bruhn 2006: 480. Zur Kommunikation stehen verschiedene Kommunikationsinstrumente und Medien zur Verfügung, um die potenzielle Zielgruppe systematisch zu identifizieren und gemäß ihrem Präventionspotenzial segmentieren zu können. Aufgrund der Informationsüberflutung, der verstärkten Selektion einstürmender Werbebotschaften, des veränderten Informationsverhaltens und der Vielfalt neuer präventiver Angebote weisen klassische Medien immer weniger Durchschlagskraft auf. Offlinemedien können nicht durch Onlinemedien ersetzt werden, sondern sind komplementär zu nutzen, da diese analog zum Fernsehen eine ähnliche Revolution aufweisen (vgl. Kotler/ Esch 2015: 34). Daher ist es in den letzten Jahren verstärkt zu einer Verlagerung von klassischen Above-the-Line-Medien (z. B. TV, Radio, Print, Kino) hin zu Below-the-Line-Medien (z. B. Mailing, E-Mail, Online‐ banner) gekommen (vgl. Peters/ Krafft 2005: 84; Bruhn 2016: 83). Während sich populationsbezogene Kommunikationsstrategien (Below-the-Line) zur Beeinflussung breiter Zielgruppen eignen, dient die personenbzw. segmentbezogene Ansprache einer gezielten und direkten Stimulierung von gesundheitlichen Bewusstseinsprozessen (Above-the-Line) (→ Abb. 19). 201 7.1 Marketingmix <?page no="202"?> Die Unterscheidung der Kommunikationsstrategien kommt ursprünglich aus der Schifffahrt, denn was sich oberhalb der Wasserlinie befindet (Above-the-Line), ist für alle sichtbar, während zielgerichtete Maßnahmen (Below-the-Line) nur ausgewählten Zielgruppen vorbehalten sind (vgl. Kreutzer 2006: 255). Da die Kommunikationsinhalte von der Art der Verarbeitung bzw. des sogenannten Involvements abhängen, sollte die gesundheitliche Beeinflus‐ sung aufgrund sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse ■ auf die wiederholte Darbietung der Informationen bei geringer Verar‐ beitungstiefe und ■ auf eine Erhöhung der Verarbeitungstiefe abzielen (vgl. Kroeber-Riel/ Weinberg 2003: 345). Das Involvement kann als Ich-Beteiligung und damit als gedankliches Engagement der (potenziellen) Teilnehmer bezeichnet werden. In Abhän‐ gigkeit des Grads des Involvements sind zur Beeinflussung der emotionalen und kognitiven Prozesse der Teilnehmer unterschiedliche Gestaltungsstile notwendig (vgl. Kroeber-Riel/ Weinberg 2003: 372 f.; Föll 2007: 159). Abb. 20: Low-Involvement- und High-Involvement- [a] Low-Involvement-Beeinflussung [b] High-Involvement-Beeinflussung Stimulanz über emotionale und bildbetonte Kommunikation Ziel: Aufmerksamkeit Impulsdauer: dauerhaft Rhythmus: häufiger Mittel: Bilder und Anreize Zielgruppe: Interessenten Affinität: niedrig Medien: Below-the-Line Fokus: Nutzenorientierung Instrumente  Kundenzeitschrift/ Anzeigenschaltung (z. B. mit Prominenten)  Prospekte und Flyer  Internetwerbung bzw. E-Mail- Kampagnen mit Video-Podcast/ TV  Socialsponsoring  Pressemeldungen Instrumente  Programm-Hotline  individualisierte Mailings & Newsletter: Statusinfo/ Reminder  Programmzeitschrift (mit Edutainment- Charakter)  Vorträge & E-Learning  eCommunity  Infobroschüren Stimulanz über rationale und argumentative Kommunikation Ziel: Überzeugung Impulsdauer: kurz Rhythmus: gering Mittel: Informationen Zielgruppe: Teilnehmer Affinität: hoch Medien: Above-the-Line Fokus: Lösungsorientierung Abb. 20: Low-Involvement- und High-Involvement-Kommunikation Quelle: Scherenberg 2008: 114 in Anlehnung an Kroeber-Riel/ Weinberg 2003: 372 f. Auch die emotionale Kommunikation kann nicht ganz auf faktische Infor‐ mationen verzichten. Daher wird in der Praxis häufig eine Mischform (emotional-informative Kommunikationsform) verwendet (vgl. Föll 2007: 202 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="203"?> 155). Dabei gilt, dass über textliche Informationen rationale Argumente und über bildliche Informationen Emotionen transportiert werden sollten (vgl. Munziger/ Musiol 2008: 67). Gemäß dem Bildüberlegenheitseffekt (oder pic‐ ture superiority effect) sind bildliche Darstellungen verbalen Darstellungen überlegen (vgl. Kroeber-Riel 1993: 26 f.). Eine besonders starke Gedächtnis‐ wirkung liegt vor, wenn zwischen Bild und Text eine Interaktion stattfindet. Werden einprägsame Texte verwendet, die zudem bildliche Vorstellungsbil‐ der auslösen, ist die Wirkung besonders hoch (vgl. Felser 2015: 70). Rationale Argumente werden dabei oft mit Bildern (z. B. stellvertretende Erfahrungen erfolgreicher Teilnehmer) untermauert. Grundsätzlich zeichnen sich Präventionsmaßnahmen durch eine diffe‐ renzierte Kommunikation aus, die sich an den realen Bedürfnissen der Teilnehmer orientiert. Bei der inhaltlichen Gestaltung von Kommunikati‐ onsmitteln sollte auch auf die angelsächsischen DISCERN-Kriterien zur Beurteilung von Gesundheitsinformationen ( ➽ www.discern.de) zurückge‐ griffen werden. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Teilnehmer bzw. die Bedarfs- oder Risikogruppen Unterschiede in ihrem Gesundheitsverhalten sowie unter‐ schiedliche Vorlieben in der kommunikativen Ansprache, der Kanalnutzung und der Anreizwahl aufweisen. Insbesondere die sozialen Verhältnisse haben Auswirkungen auf die differenzierenden Präferenzen, die ihrerseits verhaltensprägend sind. Da das gesundheitliche Risikoverhalten Einfluss auf den Lebensstil hat, können unterschiedliche Lebensstile Hinweise auf den Zusammenhang zwischen sozialem Status und dem Gesundheitsver‐ halten (vgl. Wolf 2003: 123) und den favorisierten kommunikativen Zu‐ gangskanälen der Teilnehmer liefern (vgl. Grimm 2005: 1). Zur Erklärung sozialer Ungleichheiten in der Gesundheit werden hierzu schichtungsso‐ ziologische Modelle, wie z. B. Lebenslagen-, Lebensstil-, Milieu- und Schichtmodelle herangezogen (vgl. Hradil 2006: 34), da diese davon aus‐ gehen, dass das individuelle Können und Wollen entscheidend von dem Milieu, in dem sich die Zielgruppe befindet, beeinflusst wird (vgl. Normann 2006: 3). Lebensstilmodelle (wie z. B. die Sinus-Milieus des Sinus-Instituts ( ➽ www.sinus-institut.de) versuchen, psychografische Hintergründe des Verhaltens von Zielgruppen zu charakterisieren. Zwar können diese Modelle einen Beitrag zur Erkennung und Bildung von groben Strukturen und z. B. Kommunikationszielgruppen leisten, allerdings können sie weder in internen Datenbanken abgebildet werden, noch berücksichtigen sie akute Veränderungen im Leben des einzelnen Teilnehmers. Um Kommuni‐ 203 7.1 Marketingmix <?page no="204"?> kationsmaßnahmen zielgruppenspezifisch ausrichten zu können, müssen die wahren Präferenzen der Teilnehmer sichtbar gemacht werden. Hinter dem Begriff segment-of-one-approach steht die Leitidee, die Ansprache möglichst gezielt auf die Teilnehmer zuzuschneiden (vgl. Meffert/ Bruhn 2006: 263). Aktuell beschränken sich konventionelle Segmentierungsmodelle auf das Alter, das Geschlecht oder auf geografische Merkmale. Doch gerade bei der Gesundheitskommunikation ist ein hoher Individualisierungsgrad und die so erzeugte Signalwirkung von besonderer Bedeutung. Die Berück‐ sichtigung individueller Unterschiede und Ausgangslagen als mögliche Faktoren einer Selbstselektion können dazu beitragen, dass die Teilnehmer die Hintergründe und Absichten der Präventionsmaßnahme verstehen. Eine gute Betreuungs- und Unterstützungsdifferenzierung ist folglich nur herstellbar, wenn es gelingt, die Teilnehmer näher kennenzulernen. Um Ängsten vor Datenmissbrauch oder gar einer möglichen empfundenen Diskriminierung (z. B. bei Rauchern oder Übergewichtigen) entgegenzuwir‐ ken, sollten Datenerhebungen im Sinne des Permission Marketing und zum Schutz der Privatsphäre von den Teilnehmern ausdrücklich erwünscht sein. Sie sollten selbst entscheiden können, ob und in welchem Grad sie eine Interaktion wünschen. Laut Seth Gordin sind die Kriterien des Einver‐ ständnismarketings erfüllt, wenn die Botschaft erwartet, persönlich und relevant ist (vgl. Gordan 1999: 40 ff.). Die Speicherung persönlicher Daten ist im höchsten Maße Vertrauenssache. Werden zur zielgruppenspezifischen Ansprache Daten erhoben, muss daher aus datenschutzrechtlichen Gründen (→ Kapitel 3.4.4) das Opt-in-Verfahren und nicht das Opt-out-Verfahren verwendet werden, da beim Opt-out-Verfahren der Empfänger selbst aktiv werden muss, um sich vor unerwünschten Botschaften durch Streichung aus dem Verteiler zu schützen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Präventionsprogramme auf alle Teilneh‐ mer gleich wirken. Entsprechend werden je nach Erwartungshaltung der Teilnehmer die Effekte unterschiedlich ausfallen. Die spezifischen Zielgrup‐ penmerkmale stellen eine gute Entscheidungshilfe für die Mediaplanung und die Gestaltung der Botschaften dar. Zudem kann die Segmentierung als Basis für eine passgenaue Ansprache der jeweiligen Bedarfs- und Risi‐ kogruppe punktuell vorgenommen werden. Durch jede Transaktion und der damit verbundenen Qualifizierung kann die Zugehörigkeit zu einem Zielgruppensegment neu ermittelt werden. Auch wenn sich die soziodemo‐ grafischen Merkmale der Zielgruppen ähneln können, ist es Aufgabe der 204 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="205"?> Above-the-Line- und Below-the-Line-Aktivitäten, die Zielgruppe durch die einzelnen Interaktionen (bzw. Selbstsegmentierungen) in bedürfnisgerechte Betreuungspfade zu führen. Die Identifizierung der wahren Bedürfnisse und Präferenzen erfolgt durch Responsemittel, die Institutionen ex ante bei der Anmeldung und ex post während der Teilnahme oder Mitgliedschaft bereit‐ stellen. Die Segmentierung erfolgt nicht isoliert nach einem Kriterium, son‐ dern sollte den aktuellen Teilnehmerstatus, den Präventionsbedarf und die spezifischen Bedürfnisse der Teilnehmer berücksichtigen. Der lebenspha‐ senbezogene Präventionsbedarf der Teilnehmer sollte immer Bestandteil der Kommunikation sein. Insofern fließt bei der zielgruppenspezifischen Dialogkommunikation sowohl der subjektive Bedarf (durch die Selbstselek‐ tion) als auch der objektive Bedarf (durch die Fremdselektion) ein. Die Kommunikationskosten werden reduziert, indem respektive nur Teilnehmer kontaktiert werden, die tatsächlich eine Interaktion wünschen. Zudem ist anzunehmen, dass eine ungewollte Kommunikation ihre motivationalen Ziele verfehlt. Aus budgetären Gründen sollten die laufenden Kommuni‐ kationsprozesse (z. B. der Versand von Teilnehmerzeitschriften) genutzt werden. Der Feinabstimmung der Instrumente, Kanäle und Inhalte kommt daher eine zunehmende Bedeutung zu. Denn der Trend zum Multi-Chan‐ nel-Marketing macht es notwendig, die Kommunikation bei verstärkter Cross-Multimedialität so zu gestalten, dass bei Teilnehmern ein einheitliches Bild entsteht (vgl. Wirtz 2005: 241). Die bevorzugten Zugangswege können je nach Zielgruppe stark variieren. Je nach Informations- und Interaktions‐ grad durchläuft der Teilnehmer standardisierte Betreuungsphasen, die ihn zu dauerhaften gesundheitlichen Aktivitäten (durch Unterstützung und Erinnerung) stimulieren sollen (→ Abb. 21). Eine direkte Ansprache sorgt im Vergleich zur undifferenzierten breiten Streuung von Kommunikationsmitteln für eine hinreichende Wahrschein‐ lichkeit einer positiven Verhaltensänderung. Indes verlassen sich die Teil‐ nehmer bei ihrer Informationsbeschaffung längst nicht mehr nur auf eine Quelle, sondern beziehen unterschiedlichste Medien in den Entscheidungs‐ prozess mit ein. Speziell die Zunahme an (Negativ-)Berichten in den öffent‐ lichen Massenmedien rund um das deutsche Gesundheitswesen hat teils zu einem Misstrauen und einem Vertrauensverlust geführt. Daher ist die vorge‐ nommene Einordnung des public voice als eigenständiges Kommunikations‐ instrument durch einen immer höheren Stellenwert der öffentlichen Mei‐ nung - insbesondere im Gesundheitswesen - gerechtfertigt. Zwar zählt die Mundpropaganda nicht zu den steuerbaren Kommunikationsinstrumenten, 205 7.1 Marketingmix <?page no="206"?> klassische Werbung Ziel: Aktivierung mehrstufige Betreuung Ziel: Motivierung einstufige Betreuung Ziel: Stabilisierung sekundäre Interaktionsstufe Fremdselektion: abgeleitete Bedürfnisse und Präferenzen anhand der Teillnehmerhistorie primäre Interaktionsstufe Fremdselektion: abgeleitete Bedürfnisse und Präferenzen anhand theoretischer Erkenntnisse tertiäre Interaktionsstufe Selbstselektion: tatsächliche Bedürfnisse und Präferenzen der Teilnehmer Grunddaten Database Dreidimensionalität der Zielgruppensegmentierung: Teilnehmerstatus Präventionsbedarf Teilnehmerbedürfnisse mehrstufige Betreuung Ziel: Motivierung Aktions- und Reaktionsdaten Abb. 21 Abb. 21: Kommunikativer Betreuungsprozess präventiver Interventionen Quelle: Scherenberg/ Greiner 2008: 118 in Anlehnung an Holland 2004: 69. indes können auch die Akteure von Präventionsinterventionen versuchen, aktiv auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen. Denn die Aufgabe des Public Voice besteht darin, die öffentliche Meinung positiv zu beeinflussen, Meinungsbildungen zu kanalisieren und positive Empfehlungen zu stimulie‐ ren (vgl. Wiesner 2005: 196). Sowohl das Image der jeweiligen Institution als auch das Image der jeweiligen Präventionsintervention strahlt auf den Teil‐ nehmererfolg der Intervention aus. Wird die öffentliche Meinung proaktiv bei der Kommunikationsplanung unterschiedlicher Adressaten (Teilnehmer und Multiplikatoren) einbezogen, besteht die Möglichkeit, Vertrauen durch eine glaubwürdige und ehrliche Informationspolitik aufzubauen (vgl. Berg‐ mann 2000: 170; 197). Hierbei kann je nach Vorgehensweise zwischen einem reaktiven und proaktiven Public Voice unterschieden werden. Beim reakti‐ ven Public Voice reagieren die Akteure auf Äußerungen, indem bspw. Fragen beantwortet und Fakten richtiggestellt werden (vgl. Wiesner 2005: 196). Das proaktive Public Voice geht eine Stufe weiter und stimuliert den Dialog (z. B. über Virtual Communities), um Schwachstellen zu erkennen und frühzeitig gegensteuernde Maßnahmen zur Schadensregulierung einleiten zu können. Das proaktive Public Voice birgt die Gefahr, dass hier auch negative Meinungen platziert werden können. Indes besteht die Chance 206 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="207"?> - neben der Ausnutzung des Crowding-Effektes - darin, Informationen über die Bedürfnisse und Problemlagen der Teilnehmer zu gewinnen und das Wissen für die Weiterentwicklung der Präventionsintervention nutzbar zu machen. Zudem können positive Platzierungen Nachahmungseffekte auslösen. Da kein Eigeninteresse vermutet wird, stellen die Aussagen Dritter (Versicherter oder Ärzte) eine besonders glaubhafte Informationsquelle dar (vgl. Wegmann 2002: 255). Denn die Steigerung der Selbstwirksam‐ keit erfolgt situationsspezifisch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen (mastery experiences), eigener Befindlichkeiten (physiological and emotional state), stellvertretender Erfahrungen (vicarious experiences) anderer Teilneh‐ mer sowie von Überredungen (social persuasion) Dritter (z. B. Ärzte) (vgl. Bandura 1997: 3 f.). Linktipps Medizinische Hochschule Hannover: ➽ www.discern.de Sinus-Institut: ➽ www.sinus-milieus.de 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen Die Marke wird als „[…] eine in der Psyche der Konsumenten verankertes, un‐ verwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung“ bezeichnet (Meffert 2002: 847). Folglich hat die subjektive Wahrnehmung des geschaffenen Markenbildes (branding) einen bedeutenden psychologischen Teilnahmeeinfluss auf eine Präventionsintervention, welche mit dem tat‐ sächlichen physischen Angebot nicht zwangsläufig übereinstimmen muss (vgl. Gounaris/ Stathakopoulos 2004: 289). Denn bei der Sichtung von Lieb‐ lingsmarken werden die Aktivitäten der vorderen Hirnrinde (Kortex), die für das Nachdenken (d. h. für rationale Entscheidungen) verantwortlich sind, reduziert. Gleichzeitig werden die Areale des Gehirns verstärkt durchblutet die für die Verbindung von Gefühlen mit dem affektiven Handeln und der Selbstwahrnehmung zuständig sind (vgl. Köster 2006: 37). Auf diese Weise versucht das Gehirn, Energie einzusparen. Denn während intuitive (unbewusste) Entscheidungen nur 2 % der gesamten Energie verbrauchen (vgl. Scheier 2007: 306), steigt der Körpermetabolismus bei normalen Gehirn‐ aktivitäten auf ca. 20 % (bei Kindern sogar bis zu 60 %) und bei angestrengtem Nachdenken auf ca. 30 % an (vgl. Roth 2006: 31 ff.). Kenning et al. bezeichnen 207 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="208"?> den Effekt intuitiver Entscheidungen durch starke Markenbilder kortikale Entlastung (vgl. Kenning et al. 2002: 6), die eine willkommene Entlastung des Gehirns darstellt und customer confusion und customer resignation reduziert. Marken als fest verwurzelte Repräsentanten in den Köpfen der Konsumenten basieren u. a. auf bildlichen Assoziationen und Markenslo‐ gans (z. B. „AOK - Die Gesundheitskasse“, „Barmer - die gesund experten“, „DAK - Unternehmen Leben“), die bei angesehenen und starken Marken für Zuverlässigkeit, Vertrauen, Glaubwürdigkeit oder Verantwortungsbewusst‐ sein stehen. Konsumenten und natürlich damit auch potenzielle Teilnehmer vertrauen darauf, dass das Markenversprechen erfüllt wird, dabei gilt: Je größer die Übereinstimmung zwischen Leistungsversprechen der Marke und der Bedürfnisstruktur ist, umso sinnbzw. identitätsstiftender wird die jeweilige Marke wahrgenommen (vgl. Köster 2006: 239). Auch in Bezug auf Präventionsdienstleistungen führt die zunehmende Komplexität zu Entscheidungen, die eher instinktiv über eine von der Werbung verankerte Sympathieorientierung erfolgt. Es mag daher nicht verwundern, dass gerade Angebote mit hoher Werbeintensität und hohem Markenimage an Bedeu‐ tung gewinnen. Denn ein öffentlichkeitsstarkes Markenimage verdichtet zahlreiche komplexe Informationen (vgl. Jacoby et al. 1977: 209, 214) und stellt für die Verbraucher einen Vertrauens- und Orientierungsanker dar (vgl. Esch et al. 2004: 133). Die Markenbildung kann sich auf Einzelmarken (oder Individualmarken) und bei einem Zusammenschluss von mehreren präventiv agierenden Institutionen auf Kollektivmarken beziehen. Dies ist bspw. bei gemeinde- und quartiersbezogenen Interventionen (→ Kapitel 6.5) der Fall. Star- und Experten-Testimonials werden als Verstärker einer Marke (sowie beim product placement) eingesetzt, dass im US-amerikanischen als celebrity endorsement bekannt ist (vgl. Schierl 2016: 166). Prominente Botschafter wie Detlef D! Soost ( ➽ www.imakeyousexy.de) steigern die Aufmerksamkeit, sorgen bspw. bei zahlreichen Fitnessprogrammen für eine verbesserte Erinnerung und erhöhen den Teilnahmeanreiz (vgl. Nufer/ Heider 2012: 16 ff). Dabei handelt es sich zwischenzeitlich nicht mehr nur um Prominente aus Sport und Fernsehen, sondern auch um Experten aus der Wissenschaft (Prof. Dr. Ingo Froböse, ➽ www.ingo-froboese.de, www. formel-froboese.de; Dr. Daniel Gärtner, ➽ www.dr-daniel-gaertner.de), die entsprechend für mehr Qualität stehen sollen. Der Teilnahmeanreiz ist dann besonders hoch, wenn die Marke mithilfe relevanter Persönlichkeitsaspekte der jeweiligen Testimonials (z. B. Attraktivität, Sympathie, Stärke oder eigener Betroffenheit) emotional aufgeladen wird (vgl. Fowles 1996: 24), da 208 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="209"?> emotionale Ereignisse besser als neutrale Ereignisse vom Gehirn verarbeitet werden (vgl. Fanderl 2005: 100). Botschafter mit einer direkten oder indirek‐ ten Betroffenheit setzt u. a. die Deutschen Krebshilfe (siehe ➽ www.deutsc he-krebshilfe.de) im Rahmen ihrer bundesweiten Kampagne „Mit aller Kraft gegen den Krebs - gemeinsam für das Leben“ ein. Aber auch stellvertretende Erfahrungen von Laien-Testimonials („Hol dir das Foto des Lebens“; ➽ www .size-zero.de), mit denen sich (potenzielle) Teilnehmer identifizieren können, sind effektiv (vgl. Felser 2015: 280). Dabei spielen Marken insbesondere bei der Teilnehmerbindung und -gewinnung von Präventionsinterventionen eine bedeutende Rolle. Inwiefern Markenbilder auf das Teilnehmerverhalten (respektive im Hinblick auf Prävention und Gesundheitsförderung) einen Einfluss nehmen, wurde bislang empirisch nicht ausreichend untersucht. Bekannt ist, dass der wahrgenommene Wert einer Marke aufgrund einer erhöhten Zufriedenheit, Vertrautheit und Commitment zu einer positiven Einstellung (Akzeptanz) gegenüber dem Unternehmen oder dessen Produk‐ ten führt und so die Verhaltensabsicht positiv beeinflusst (vgl. Helm 1995: 29). Die Ursache liegt darin, dass Menschen dazu neigen, Objekte mithilfe von menschlichen Attributen zu beseelen (Animismus) (vgl. Meffert 2007: 363), da Marken analog zu Menschen Persönlichkeitseigenschaften (z. B. freundlich, modern) zugesprochen werden. Die Relevanz der Marke auf das Verhalten ist folglich davon abhängig, welche Gefühle und Einstellungen die Marke bei den Teilnehmern auslöst. Folglich stellt die Markenwahrnehmung und die daraus resultierende Urteilsbildung den Anfang einer kausalen Kette für eine mögliche Einstellungs- und Verhaltensbeeinflussung dar. Dabei bildet die Verbindung zwischen Marke und Verhalten die Markenidentität (Selbstbild) dar. Die Markenidentität drückt aus, wofür die Marke steht oder stehen soll. Wie Marken wahrgenommen werden (Fremdbild), beschreibt das Markenimage, welches sich als mehrdimensionales Einstellungskonst‐ rukt aus dem sachlich-funktionalen, symbolischen, rationalen und experien‐ ziellen Nutzen zusammensetzt (vgl. Strebinger 2008: 161). Zentrale Fragen, die sich präventiv agierenden Institutionen im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Nutzenfunktionen einer Marke stellen sollten, sind: ■ sachlich-funktionaler Nutzen (Grund- oder Zwecknutzen): Was soll mit der präventiven Dienstleistung erreicht werden? ■ symbolischer Nutzen (Zusatznutzen): Was sollen die Teilnehmer durch die Nutzung der präventiven Dienstleistungen der Marke über sich selbst aussagen? 209 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="210"?> ■ relationaler Nutzen: Welche Beziehung sollen die Teilnehmer zur Marke aufbauen? ■ experienzieller Nutzen: Welche Erlebnisse sollen für die Teilnehmer mit der präventiven Dienstleistung verbunden sein? Der funktionelle Nutzen kann als Grad der Bedürfnisbefriedigung ange‐ sehen werden, wobei der Abgleich zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefrie‐ digung durch die Marke individuell und rein nach subjektiven Maßstäben erfolgt. Alles was über den funktionalen Nutzen (wie z. B. Prestige, Erlebnis‐ werte, Qualitätsversprechen) hinausgeht, wird als symbolischer Nutzen bezeichnet. Der symbolische Nutzen kann ein bedeutender Motivator des Verhaltens sein und stellt einen persönlichen Mehrwert für die Teilnehmer dar, der sich wie folgt äußern kann (vgl. Burmann 2005: 367): ■ Vermittlung von Prestige (= Geltungsnutzen) ■ Gefühl der Gruppenzugehörigkeit ■ Wahrnehmung der Marke als Mittel der Selbstverwirklichung ■ Verknüpfung der Marke mit individuellen wichtigen Erlebnissen und Erinnerungen ■ Marke als Mittel zur Generierung von Beziehungsvorteilen ■ Marke als Sinnbild individueller wichtiger Werte oder Lebensstile. Zusammenfassend kann das Resultat der Verdichtung und Bewertung der subjektiv wahrgenommenen Markenattribute als Grad der Bedürfnisbefrie‐ digung bezeichnet werden, die das Markenimage, die Markenbekanntheit und die Differenzierungskraft in einem hart umkämpften Präventionsmarkt beeinflusst (→ Abb. 22): 210 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="211"?> Abb. 22: Komponenten des Markenimages Markenima ge (Fremdbild der Kasse) relationaler Nutzen: Sympathie, emotionale Bindung, Vertrauen, Verlässlichkeit Inside-out- Perspektive Positionierung  Markennutzenversprechen  Markenverhalten Outside-in- Perspektive Feedback  Markenerwartungen  Markenerlebnis symbolischer Nutzen: Selbstdarstellung Markenattribute: von den Versicherten zugesprochene Eigenschaften Markenbekanntheit Relevanz für das Kundenverhalten funktionaler Nutzen: Lösung von Problemen experienzieller Nutzen: Produkterlebnis Selbstbild der Kasse(n) Fremdbild der Öffentlichkeit/ Versicherten Abb. 22: Komponenten des Markenimages Quelle: Scherenberg 2011: 117 in Anlehnung an Meffert/ Burmann 1996: 35; Strebinger 2008: 161; Wänke/ Florack 2007: 120. Je größer die Kongruenz von Selbst- und Fremdbild ist, desto stärker ist die am Markt wahrgenommene Markenidentität (vgl. Böing/ Huber 2003: 72). Zusätzlich entscheidet die Kongruenz zwischen Reden und Handeln darüber, wie glaubwürdig z. B. die jeweiligen Institutionen und ihre präventiven Dienstleistungen sind. Denn stimmen die Handlungen mit den ausgesende‐ ten Botschaften (z. B. Slogans, → Kapitel 3.4.2, → Tab. 12) nicht überein, entstehen bei den potenziellen Teilnehmern dissonante Wahrnehmungen, die negative Auswirkungen auf die wahrgenommene Authentizität haben. Besonders verhaltensrelevant sind Marken, wenn eine starke emotionale Be‐ ziehung zwischen der Institution und der Zielgruppe entsteht (vgl. Burmann 2005: 361). Dieser relationale Nutzen und damit die resultierende Bezie‐ hungsqualität können, in Abhängigkeit von der Gestaltung der Markenbot‐ schaft und der Austauschprozesse, mehr oder weniger gut ausfallen. Damit eine stabile Vertrauensbeziehung und Glaubwürdigkeit entstehen kann, sind Faktoren wie Kompetenz, Konsistenz, Kongruenz und Kontinuität der Wahrnehmung der Marke notwendig. Somit hängt die Markenwirkung als wichtiges Informationssurregat von einer Vielzahl von Determinanten ab, indes kann die Glaubwürdigkeit als Metadeterminante angesehen werden 211 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="212"?> (vgl. Baumgarth 2003: 201). Das Produkterlebnis wird als experienzieller Nutzen bezeichnet. Damit markenkonformes Verhalten (im Bereich Prä‐ vention und Marketing) unterstützt werden kann, müssen die jeweiligen Instrumente auf die Marken- und Unternehmensziele ausgerichtet werden und den Teilnehmerbedürfnissen gerecht werden. Das Vorleben bestimmter Markenwerte - als eine Art Vorbildfunktion - nach innen und außen, beeinflusst die Identität der Marke entscheidend. Denn Markenversprechen wecken Erwartungen bei Teilnehmern. Während intuitive Entscheidungen (basierend auf hoher Vertrautheit, Glaubwürdigkeit und Commitment) Teil‐ nehmerzufriedenheit steigern, haben reflektierte Entscheidungen mitunter eine geringere Zufriedenheit zur Folge (vgl. Dijksterhuis et al. 2006: 1006, Wilson/ Schooler 1991: 184). Hierbei ist davon auszugehen, dass Teilneh‐ mer, die mit einer Marke zufrieden sind, ihre Zufriedenheit durch posi‐ tive Mundpropaganda kommunizieren und somit wichtige Multiplikatoren darstellen. Dieses Commitment und Rollenverständnis hat das Potenzial zur direkten Verhaltensänderung, denn Marken transportieren spezifische Wertvorstellungen, Erwartungen und Verhaltensnormen. Gelingt es, dass sich die Teilnehmer mit den Botschaften identifizieren und sich als Teil einer sozialen Gruppe verstehen, erhöht sich auch die Motivation, sich mitunter neuen (ggf. präventiven) Verhaltensleitbildern anzupassen (vgl. Bandura 2002: 127 f.). Zusammenfassend hängen die Entscheidungen und Verhaltensweisen von vielfältigen emotionalen Prozessen ab (vgl. Föll 2007: 183): ■ Entscheidungen werden überwiegend auf Basis von Emotionen gefällt. Entscheidungen werden in Abhängigkeit davon getroffen, ob von der gewählten Option positive Gefühle zu erwarten sind. Emotionen wirken folglich als Markierungssignale und steuern die Gedanken. ■ Die emotionale Bewertung hängt vom individuellen Emotions-, Motiv- und Wertesystem der jeweiligen Konsumenten ab. ■ Starke Marken wirken als Entscheidungsheuristik zur Ableitung sub‐ jektiv wahrgenommener vorteilhafter Entscheidungen, die die Informa‐ tionsverarbeitung der Teilnehmer erleichtert. ■ Vertraute Marken werden intuitiv ausgewählt. Die emotionale Bindung zur jeweiligen Institution führt dazu, dass Botschaften des Wettbewerbs mitunter ausgeblendet werden. Marken als eine Art übergreifender Vertrauens- und Orientierungsanker können (je nach Ausgestaltung der Markenattribute) demnach nicht nur 212 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="213"?> unternehmensspezifische (Marketing), sondern auch gesellschaftsrelevante Botschaften (Prävention und Gesundheitsförderung) transportieren und beeinflussen. Denn die Marke als bedeutendes Kommunikationsinstrument beinhaltet das soziale Engagement und damit, in welchem Maße die prä‐ ventiv agierenden Akteure in der Öffentlichkeit als verantwortungsvoll handelndes Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen werden (vgl. Bruhn 2003: 343). Die wachsende Bedeutung der Marke und der Imagebildung und die Stärkung der Entscheidungsmacht und Eigenverantwortung prägt das Landschaftsbild des Präventionsmarktes. Die durch die Institutionen re‐ präsentierten Wertebeziehungen können sich auf die Einzelreputation und subsummiert auf die kollektive Gesamtreputation einer Branche oder eines Präventionsverbundes beziehen. Bei der Einzelreputation und Gesamtreputation erwächst so die Bindung und Vertrautheit und damit die Beeinflussung von Verhaltensweisen im Rahmen des Marketings. Im positiven Sinne kann Sympathie als Reputation verstanden werden und stellt letztlich nicht nur eine Form der Überredung, sondern eine bedeutende Dimension der Imagebildung dar. Reputation ist folglich ein bedeutsames Teilattribut des Unternehmens- und Markenimages, das sich auf die At‐ tribute Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein, ge‐ sellschaftspolitisches Engagement oder Umweltschutzorientierung bezieht (vgl. Kernstock/ Schubiger 2004: 296). Die Unterscheidung zwischen Repu‐ tation und Marke ist dann schwer, wenn die Teilnehmer nicht zwischen Unternehmen und Marke differenzieren können. Die Reputation und damit der gute Ruf der Institution als bedeutendes Marketinginstrument mit intensiver Vertrauensfunktion stellt für die Teilnehmer somit eine Art Qualitätssignal dar, das dazu beiträgt, Unsicherheit zu reduzieren. Die in diesem Zusammenhang differenzierten Output-Signale (z. B. Marke, Reputation, Rankings, Auszeichnungen) nehmen respektive bei immateri‐ ellen Vertrauensgütern (wie bspw. Präventionsleistungen) im Vergleich zu Inputsignalen (z. B. Serviceleistungen) eine bedeutende Rolle ein (vgl. Schnoor 2000: 30). Die Reputation mit ihren funktionalen, sozialen und expressiven Funktionskomponenten (wie die → Abb. 23 verdeutlicht) kann das Vertrauen in eine Institution und präventive Dienstleistung maßgeblich positiv beeinflussen (vgl. Eisenegger/ Imhof 2008: 251). 213 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="214"?> Abb. 23: Reputationstypen Funktion Typus Zielsetzung Anpassung = Zweck- und Erwartungserfüllung seitens der Versicherten und der Öffentlichkeit Abgrenzung = Wettbewerbsdifferenzierung funktionale Reputation Erfüllung funktionaler Leistungsziele/ -erwartungen (z.B. Kompetenz, Erfolg) soziale Reputation Erfüllung sozialmoralischer Erwartungen (z.B. Sozialverantwortung, Integrität) expressive Reputation Erfüllung eines einzigartigen Profils (z.B. Identität, Authentizität) Abb. 23: Reputationstypen Quelle: Scherenberg 2011: 119 in Anlehnung an Eisenegger 2005: 36ff. Reputation schafft Vertrauen im Bezug auf das funktionsgerechte Handeln (funktionale Reputation als Indikator der Unternehmenszweckerfüllung) und das einwandfreie sozial(moralisch)e Handeln (als Indikator für mora‐ lische Integrität). Die wirtschaftliche Reputation (als Indikator für Fach‐ kompetenz und Erfolg) steht für die Anpassungsleistung der jeweiligen Institution (vgl. Eisenegger 2005: 34 f.). Die expressive Reputation sorgt durch die Einzigartigkeit für eine Abgrenzung vom Wettbewerb. Gerade im Non-Profit-Bereich ist die soziale Reputation äußerst fragil, daher ist die Vertrauensbildung und das wahrgenommene Verantwortungsbewusst‐ sein hier besonders bedeutsam und kann die funktionale Reputation beein‐ flussen. Mit anderen Worten: Je niedriger die Sozialreputation ist, umso schwächer kann der Wert der Gesamtreputation angesehen werden (vgl. Eisenegger 2005: 100; Schranz 2007: 155). Denn das Verantwortungsgefühl beeinflusst die Glaubwürdigkeit, die wiederum vom jeweiligen Markenbild abhängt. Maßgeblich für den Aufbau von Reputation verantwortlich sind die Innovations- und Kommunikationsfähigkeit sowie der wirtschaftliche Erfolg (vgl. Herger 2006: 198 ff.). Auch die Unternehmensgröße übt einen Einfluss für die Reputation aus: So werden Organisationen mit z. B. einer großen Mitarbeiterzahl oft automatisch mit einer guten Reputation asso‐ ziiert (vgl. Schwalbach 2003: 237). Bestehen positive Reputationseffekte, steigt die Bereitschaft der Zusammenarbeit mit Teilnehmern und Koopera‐ 214 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="215"?> tionspartnern. Negative Reputationseffekte können dazu beitragen, dass die Teilnehmerbeziehung nachhaltig geschmälert oder sogar zerstört wird. Die konsequente Ausrichtung (der Marken) an die Zielgruppenbedürf‐ nisse darf nicht unterschätzt werden. Entsprechend wurde die vorherr‐ schende Inside-out-Perspektive durch eine Outside-in-Perspektive ergänzt. Denn die ressourcenorientierte Inside-out-Perspektive (resource-based view) versucht durch die Mobilisierung und den Ausbau interner Ressour‐ cen, Fähigkeiten und Kompetenzen, nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu erlangen (vgl. Collins/ Montegomory 1995: 119). Hingegen konzentriert sich eine teilnehmerorientierte Outside-in-Perspektive (market-based view) - basierend auf der Überzeugung, dass der Markt die strategische Stoßrich‐ tung bestimmt - auf die Auseinandersetzung mit dem Wettbewerbsumfeld (vgl. Porter 1980: 4 ff.). Was demnach aus institutioneller Sicht die Teil‐ nehmerorientierung (Inside-out-Perspektive) ist, stellt für Teilnehmer die Teilnehmerzufriedenheit (Outside-in-Perspektive) dar (vgl. Freyland et al. 1999: 1744, Krafft 1999: 511 ff.). Der Market-based-Ansatz beschränkt sich dabei nicht nur auf die direkten Anspruchsgruppen. Denn nicht nur die Teilnehmer von Präventionsinterventionen sowie die breite Öffentlichkeit (als Marktbarometer und gesellschaftliches Reflexionsmedium) sind mit möglichen Sanktionsmechanismen ausgestattet, sondern vielmehr nehmen Medien (als bedeutende Mittler) über ihre Berichterstattung eine Kontroll‐ funktion ein (vgl. Ruter/ Häfele 2007: 361). Damit Themen den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung durchlaufen können, sollten diese bestimmte Aufmerksamkeitsregeln passieren. Denn Themen unterliegen dann einer verstärkten Beobachtung, wenn sie (vgl. Luhmann 1983: 17): ■ eine überragende Priorität bestimmter Werte aufweisen, ■ Krisen oder Krisensymptome tangieren, ■ der Absender der Kommunikation einen gewissen Status aufweist, ■ Symptome eines Erfolges behandeln, ■ die Ergebnisse einen Neuheitscharakter haben und/ oder ■ eine drohende Belastung (Schmerzen oder zivilisatorische Schmerzsur‐ regate) suggerieren. Über die Massenmedien öffentlich kommunizierte Themen und Meinungs‐ äußerungen formen die öffentliche Meinung und bieten die potenzielle Chance zur Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Für präventiv agierende Institutionen folgt daraus, dass sie (wollen sie aktiv ihre Reputa‐ tion und ihr Image beeinflussen) ihre Position durch öffentliche Medien 215 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="216"?> kommunizieren müssen. Letztlich können die von Niklas Luhmann genann‐ ten Aufmerksamkeitsregeln für die öffentliche Meinung gleichermaßen auf die (weitgehend über massenmediale Medien verbreitete) werblichen Aktivitäten übertragen werden. Indes gewinnen mitunter bisher (schwa‐ che) Anspruchsbzw. Teilnehmergruppen durch die Massenmedien (Blogs, Foreneinträge, Wikis und soziale Netzwerke etc.) an Macht und können ihrerseits auf die Vertrauenswürdigkeit von Organisationen einwirken (vgl. Herger 2006: 188). Einer repräsentativen Umfrage des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) zufolge geht es den Konsumenten bei der Suche nach Informationen oft nicht mehr um reine klassifizierbare Fakten, sondern um subjektive Erfahrungen von (wildfremden) Menschen, mit denen sie ein gemeinsames Interesse verbindet. Sachliche Abwägungen werden verstärkt durch emotionale Entscheidungen ersetzt (vgl. Frick/ Hauser 2007: 86). Zwar ist der Einfluss unabhängiger Experten (z. B. Stiftung Warentest) ungebrochen groß, jedoch fällt auf, dass sich die Konsumenten mehr und mehr im Internet vernetzen, um Erfahrungen auszutauschen (vgl. Frick/ Hauser 2007: 84). Längst beschränken sich die verkaufsfördernden Empfeh‐ lungsdienste oder Verkäuferbewertungen als vertrauensbildende Maßnah‐ men nicht mehr auf den Konsumgütermarkt (z. B. Amazon, eBay). Auch user-generierte Erfahrungsberichte über die jeweilige Institution und deren Dienstleistungen (z. B. Ciao, Dooyoo, Yopi, Idealo) erfreuen sich bei der Öffentlichkeit zunehmender Beliebtheit. Verbraucherschützer warnen indes vor der zunehmenden Präferenzbildung auf Basis mitunter mangelhafter und manipulationsanfälliger Meinungen von Laien (vgl. Verbraucherzen‐ trale 2005: 1). Ungeachtet der Pro- und Contra-Argumentationen für oder gegen die öffentliche Aussprachemöglichkeit von Lob oder Kritik seitens der Konsumenten stellen die durch die Medientransparenz bedingten Refle‐ xionspotenziale (neben den Medien) eine immer wichtigere wertschöpfende Funktion dar. „Die Repräsentation der Öffentlichkeit durch die Massenmedien garan‐ tiert mithin im laufenden Geschehen Transparenz und Intransparenz zugleich, nämlich bestimmtes thematisches Wissen in der Form von jeweils konkretisierten Objekten und Ungewissheit in der Frage, wer wie darauf reagiert“ (Luhmann 2004: 188). 216 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="217"?> Die zunehmende Überprüfung der Leistungsfähigkeit durch externe Dritte (z. B. Stiftung Warentest) konzentriert sich vorwiegend auf den Input (d. h. von Produkten und Dienstleistungen) und üben zudem einen wesentlichen Einfluss auf die Reputation und das Image aus. Oft sind Marketingkon‐ zepte der Kritik ausgesetzt, sich zu wenig an der Bewältigung gesellschaft‐ licher Herausforderungen zu orientieren. Die psychosozialen Kosten des Marketings (z. B. Imageverlust) werden hierbei mitunter vernachlässigt. Die Einnahme einer Gesellschaftsperspektive sowie eine wert- und gesell‐ schaftsorientierte Unternehmensführung ist notwendig, um ein positives Image aufzubauen, um mögliche Reputationsrisiken zu minimieren und um bestehenden Erwartungshaltungen in der öffentlichen Wahrnehmung gerecht zu werden. Die Basis für die Befriedigung öffentlicher Erwartungen bildet die Zielausrichtung und die daraus resultierende Leistungserfüllung. Dabei lassen sich sowohl die Verhaltensbeeinflussung der jeweiligen Ziel‐ gruppe als auch die gesundheitlichen Ziele aus den wirtschaftlichen Zielen ableiten. Zudem beeinflussen sich wirtschaftliche und gesundheitliche Ziele gegenseitig, da sie als Prüfstein in der Öffentlichkeit angesehen werden können. Ein positives Image und eine positive Reputation sowie eine hohe Gesellschafts- und Teilnehmerorientierung können Fehltritte proaktiv verhindern und negative Konsequenzen im Nachhinein abschwächen (vgl. Habisch et al. 2007: 18). Das Verhalten und die Handlungen präventiv agierender Institutionen sollten mit den eigenen Leitbildern (Marke etc.) und den öffentlichen Wertvorstellungen konform gehen, da das Vertrauen in Marken und Unternehmen als Triebfeder des persönlichen und kollektiven Vertrauens angesehen werden kann. Denn „der einzelne Kunde vertraut vorwiegend deshalb, weil auch die anderen vertrauen - und er vertraut auf die Stabilität des Vertrauenssystems“ (Deichsel 2004: 126). Die Macht der Marke als Imagetreiber übt nach Haedrich et al. zwar keinen direkten Einfluss auf den Unternehmenswert aus, sehr wohl aber indirekt über Faktoren wie höhere Teilnehmerbindung, leichtere Teilneh‐ merakquise, positivere Effekte beim Handeln, bei höherer Preisbildung, leichterer Gewinnung von Mitarbeitern sowie Cross-selling-Effekten (vgl. Haedrich et al. 2003: 204). Bereits seit den 1960er-Jahren versucht die empirische Erfolgsfaktorenforschung, kritische Parameter zu identifizieren, um dem Geheimnis des Unternehmenserfolgs auf die Spur zu kommen (vgl. Woywode 2004: 15 ff.). Angesichts einer Vielzahl an abhängigen Variablen sind insbesondere Aussagen über die kurz- und langfristige Steigerung des Unternehmenserfolges aufgrund von sachlichen und zeitlichen Zurech‐ 217 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="218"?> nungsproblemen schwer möglich. Oft wird Erfolg mit den Dimensionen Effizienz und Effektivität gleichgesetzt und in der traditionellen ökonomi‐ schen Literatur als perfomance (Leistung) oder business performance zusam‐ mengefasst (vgl. Bredrup 1995: 173). Die → Abb. 24 zeigt die Wirkungskette einzelner Marketingaktionen auf den letztlichen Unternehmenserfolg. Abb. 24: Chain of Marketing Productivity The Firm Marketing Action (& Prevention Action) Tactical Actions (advertising, service improvements etc.) Strategies (promotion, product strategy, channel strategy etc.) Marketing Assets (brand equity, customer equity etc.) Market Position (market share, sales etc.) Financial Position (profits, cash flow etc.) Value of the Firm (market capitalization, Tobin’s q) Impact on Firm Value (market valueadded) Financial Impact (return on investment, economic value-added) Market Impact (market share impact, sales impact etc.) Customer Impact (impact on attitudes & on satisfaction etc.) Abb. 24: Chain of Marketing Productivity Quelle: Rust et al. 2004: 77. Performance drückt nicht zwangsläufig eine hohe Leistungsfähigkeit aus, sondern begründet sich in einer gelungenen medienwirksamen Inszenie‐ rung des Tuns. Ein Performance-Gap liegt vor, wenn eine wahrgenommene Divergenz zwischen Erwartung und Realität besteht (vgl. Zaltman et al. 1973: 55). So können negative Abweichungen durch überzogene Erwar‐ tungshaltungen aber auch durch verschiedenste organisatorische oder strukturelle Bedingungen (z. B. fusionsbedingte Umstrukturierungsmaß‐ nahmen, Einführung neuer erklärungsbedürftiger Produkte etc.) entstehen. Empirische Studien haben gezeigt, dass eine positive Korrelation zwischen Mitarbeiter- und Teilnehmerimage sowie organisatorischem Erfolg und Teilnehmerzufriedenheit existiert (vgl. Davies et al. 2002: 160 ff.). Entspre‐ chend kann die Mitarbeiterzufriedenheit auf die Teilnehmerzufriedenheit 218 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="219"?> wirken, während die Kundenzufriedenheit positiv auf die Teilnehmerloya‐ lität und den ökonomischen Erfolg Einfluss nimmt. Somit kann die Teilneh‐ merzufriedenheit als ein Indikator für die Imagebeobachtung angesehen werden. Dabei werden erfolgreiche Dienstleistungsmarken nicht nur durch die Kommunikation, sondern auch durch das Verhalten der Mitarbeiter und deren Leistungen geprägt (vgl. Herger 2006: 173 f.). Wie bedeutend die Markenbildung für Mitarbeiter (aber auch ehrenamtliche Helfer) ist, zeigte eine branchenübergreifende Unternehmensumfrage aus dem Jahre 2005, denn aus Unternehmersicht ist zu 63 % (mit steigender Tendenz) (2003: 56 %) der gesamte Unternehmenswert auf positive Markeneffekte zurückzuführen (vgl. PricewaterhouseCooper 2006: 11). Zwar bezieht sich diese Studie nicht auf den Präventionsmarkt, indes wird deutlich, dass die einstellungsbezogene, verhaltensbildende und verhaltenssteuernde Wir‐ kung eines positiven Markenimages einen enormen Einfluss auf den Erfolg von Unternehmen ausüben kann. Bei der Markenbildung sollten zwingend rechtliche Aspekte, sprich der Markenschutz, beachtet werden - ungeachtet ob es sich dabei um eine Gemeinschafts- oder eine Einzelmarke handelt. Dabei können sich geschützte Rechte auf Wort-Bild-Marken von illustrier‐ ten Charakteren (z. B. TV-Helden Peb und Pebber), Institutionen (BZgA) oder Präventionsinterventionen (z. B. Kinder stark machen) beziehen, die beim deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) angemeldet werden. Dabei unterscheidet insbesondere die Originalität, die Einzigartigkeit und die Unverwechselbarkeit darüber, ob eine Marke schützenswert ist oder nicht. Eine Recherche zu bereits eingetragenen Marken ist über das DPMA-Regis‐ ter möglich. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang die Prüfung belegter Internet-Domains bei der Registrierungsstelle für deutsche Domains ( ➽ www.denic.de) und damit die Sicherung einer einprägsamen In‐ ternet-Domain für die jeweilige Präventionsintervention bei den jeweiligen Registrierungsstellen, die entweder den Markennamen oder den gewählten Slogan beinhalten sollte. Linktipps Slogans GbR (Datenbank der Werbung): ➽ www.slogans.de Deutsches Patent- und Markenamt (Markenschutz): ➽ www.dpma.de/ marke/ markenschutz denic = Regristierungsstelle für deutsche Domains (.de): ➽ www.denic.de 219 7.2 Branding von Präventionsmaßnahmen <?page no="220"?> ✺ Zusammenfassung Dem Marketingmix kommt durch die Festlegung der Marketinginstrumen‐ tarien die Aufgabe zu, die Zielsetzung der zuvor festgelegten Marketing‐ strategien sicherzustellen. Mithilfe der Marketingmixinstrumentarien wird definiert, welche präventive Dienstleistung (Produktpolitik), zu welchem Preis (Preispolitik), an welchen Orten (Distributionspolitik) und über welche kommunikativen Beförderungsmittel (Kommunikationspolitik) der poten‐ ziellen Zielgruppe offeriert werden. Bei Festlegung und Umsetzung des Marketingmix müssen nicht nur z. B. gesundheitspsychologische und ethi‐ sche Besonderheiten bei der Produktentwicklung und Kommunikation mit Risikozielgruppen beachtet werden, sondern auch, für welchen Markt (z. B. erster oder zweiter Gesundheitsmarkt) die Intervention entwickelt wird. Je nachdem, um welches präventiv agierende Unternehmen es sich handelt, sind mehr oder weniger gesetzliche Regulierungen des Gesundheitsmarktes zu beachten. Ungeachtet dessen stellt die Markenbildung einen wichtigen Erfolgsgaranten dar, da sie als Orientierungsanker dient. Zudem können wirkungsvolle Marken ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermit‐ teln und so einen positiven Einfluss auf die Einstellungen und das Verhalten der Teilnehmer ausüben. ✺ Wichtige Schlagwörter Leistungspolitik, Prozesspolitik, Preispolitik, Distributionspolitik, Kommu‐ nikationspolitik, Branding, Markenbildung, Markenidentität, Reputation, Slogan, Markenrecht ✺ Wiederholungsfragen 1. Aus welchen psychologischen Gründen ist die Marketingbildung auch für den Erfolg von Präventionsinterventionen mitentscheidend? 2. Welche Rolle nehmen Testimonials bei der Markenbildung ein? 3. Wählen Sie eine Marke ihrer Wahl aus dem Bereich der Prävention und überlegen Sie, welcher sachlich-funktionale, symbolische, rationale und experienzielle Nutzen vorliegt? 220 7 Operative Aspekte des Präventionsmarketings <?page no="221"?> 4. Was verbirgt sich hinter der funktionalen, sozialen und expressiven Funktion der Reputation? 5. Welche Rolle spielen usergenerierte Erfahrungsberichte von Teilneh‐ mern bei der Markenbildung? ✺ Literaturempfehlungen Kröber-Riel W, Esch FR (2015). Strategie und Techniken der Werbung, 8. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer GmbH. Hurrelmann K, Baumann E (2014). Handbuch Gesundheitskommunikation. Bern: Hans Huber Verlag. Simon H, Fassnacht M (2016). Preismanagement: Strategie - Analyse - Entscheidung - Umsetzung, 4. Auflage. Wiesbaden: Springer Verlag. Kreutzer R, Land KH (2017). Digitale Markenführung - Digitales Branding im Zeitalter des digitalen Darvinismus. Wiesbaden: Springer Verlag. 221 ✺ Literaturempfehlungen <?page no="223"?> 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle Lernziele In diesem Kapitel erfahren Sie, ■ welche Qualitätskriterien bei Präventionsinterventionen berück‐ sichtigt werden sollten. ■ wie die Qualitätssicherung bei Präventionsinterventionen gesichert werden kann. ■ auf welche unterschiedlichen Weisen Präventionsinterventionen evaluiert werden können. ■ mit welchen Kriterien Marketingmaßnahmen im Bereich des Prä‐ ventionsmarketings kontrolliert und optimiert werden können. 8.1 Good-Practice-Kriterien der Prävention Geht es um die Initiierung von Interventionen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung, haben sich Good-Practice-Leitlinien mit Krite‐ rien etabliert, die sich bereits in der Praxis bewährt haben. Zu nennen sind bspw. die 12 Kriterien des Kooperationsverbundes für gesundheitliche Chancengleichheit, die im Jahre 2004 aufgestellt wurden und präventiv agierende Institutionen bei der Konzeption und Umsetzung von Interven‐ tionen als Orientierung dienen. Ausgangslage für die Entwicklung der Good-Practice-Kriterien bildete eine Datenbank mit über 2.000 dokumen‐ tierten Präventionsprojekten unterschiedlichster Akteure, die auf freiwil‐ liger Basis erhoben wurden (siehe ➽ www.gesundheitliche-chancengleichh eit.de). Der so entstandene Kriterienkatalog dient als niedrigschwelliges Reflexionsinstrument, um die eigenen Stärken und Schwächen von Projek‐ ten zu identifizieren (vgl. Kolip et al. 2012: 62). Im Folgenden werden die wichtigsten Kriterien anhand von Fragestellungen kurz vorgestellt, die in Form einer Broschüre Interessierten auf der zuvor genannten Internetseite zur Verfügung steht, und mit genauen Entwicklungsstufen versehen sind (vgl. Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2015: 7 ff.): <?page no="224"?> ■ Konzeption und Selbstverständnis: Weist die Intervention einen klaren Zusammenhang zur Gesundheitsförderung und/ oder Prävention auf ? Trägt die Intervention zur Verringerung der sozialen Ungleichheit bei? ■ Zielgruppenbezug: Wird die Zielgruppe klar eingegrenzt und bezieht sie sich auf sozial Benachteiligte? ■ Setting-Ansatz: Werden die einzelnen Maßnahmen der Intervention ausreichend auf die Zielgruppen und Strukturen innerhalb eines Set‐ tings ausgerichtet? ■ Multiplikatoren-Konzept: Werden in die Intervention Multiplikato‐ ren eingebunden? ■ Innovation und Nachhaltigkeit: Beinhaltet die Intervention neue Ansätze und ist die Intervention auf Langfristigkeit ausgerichtet? ■ Niedrigschwellige Arbeitsweise: Sieht die Intervention niedrig‐ schwellige Arbeitsweisen vor? ■ Partizipation: Wird die (potenzielle) Zielgruppe an der Konzeption, der Durchführung und/ oder der Bewertung beteiligt? ■ Empowerment: Befähigt und bestärkt die Intervention die einzelnen Teilnehmer darin, die eigenen persönlichen und sozialen Ressourcen der eigenen Gesundheit zu nutzen? ■ Integriertes Handlungskonzept und Vernetzung: Zeichnet sich die Intervention durch eine intersektorale Zusammenarbeit aus und werden Kooperationspartner bei der Umsetzung integriert? ■ Qualitätsmanagement/ -entwicklung: Sieht die Intervention einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (Public Health Action Cycle) vor? ■ Dokumentation und Evaluation: Wird die Intervention ausreichend dokumentiert und evaluiert? ■ Kosten-Nutzen-Relation: Stehen die Kosten der Intervention in einer angemessenen Relation zum Nutzen? Erstellt wurde die Praxisdatenbank insbesondere für gesundheitsfördernde und präventive Interventionen für Menschen in schwierigen sozialen La‐ gen. Allerdings kann die Datenbank für jegliche Präventionsinterventio‐ nen übergreifend nützlich sein - für die eigene kreative Ideenfindung, für die Suche nach Kooperationspartnern und für die Situationsanalyse (bzw. die Konkurrenzanalyse und damit die Ableitung des USPs). Denn innerhalb der Praxisdatenbank können bereits existierende Interventionen 224 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="225"?> nach unterschiedlichsten Kriterien (Lebenswelt, Präventionsthemen, Ziel‐ gruppen, Alter etc.) ( ➽ www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/ praxisd atenbank) selektiert werden. Für den Qualitätsentwicklungsprozess sind die Good-Practice-Kriterien indes nicht ausreichend, da hierfür u. a. die Integration unterschiedlicher Fachexperten, potenzieller Teilnehmer sowie möglicher Kooperationspartner im Sinne der partizipativen Qualitätsent‐ wicklung notwendig sind (vgl. Kolip et al. 2012: 62 f.). Auf mögliche Instru‐ mentarien im Bereich der Qualitätsentwicklung und -sicherung wird daher im → Kapitel 8.2 näher eingegangen. Linktipps Gesundheitliche Chancengleichheit: ➽ www.gesundheitliche-chancengl eichheit.de Clusters Gesundheitswirtschaft Berlin-Brandenburg: ➽ www.praevent ionsatlas.de Good-Practice-Datenbank („Klasse KiTa“-Wettbewerb des Niedersäch‐ sische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe): ➽ www.nifbe.de 8.2 Qualitätssicherung in der Prävention Das Deutsche Institut für Normung definiert Qualität als „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt“ (DIN ISO 9000: 2005). Diese Definition macht deutlich, dass der Begriff Qualität sehr abstrakt ist und zum Verständnis in Abhängigkeit des jeweiligen Kontextes einer genaueren Konkretisierung bedarf. Werden von präventiv agierenden Institutionen konkrete Anforderungen für Interventionen definiert, die entsprechend einen positiven Gesundheitsbeitrag bei der anvisierten Zielgruppe leisten sollen, müssen gesundheitliche, didaktische und bei digitalen Interventionen (z. B. Onlinecoaching, Gesundheits-Apps) zudem technische Merkmale berücksichtigt werden. Dabei bieten sich bei der Anforderungsdefinition zur Orientierung die Qualitätsdimensionen Kontext-, Input-, Durchführungs- und Ergebnisqualität an (vgl. Ehlers 2011: 74 ff.), da sich diese an der Ursachen-Wirkungs-Kette orientiert. Denn ausgehend vom eigentlichen Gesundheitsziel bezieht sich die Er‐ gebnisqualität auf den tatsächlichen Erfolg der präventiven Intervention. 225 8.2 Qualitätssicherung in der Prävention <?page no="226"?> Je nach Zweck der Intervention äußert sich der Erfolg kurzfristig in ei‐ ner hohen Teilnahme- und Nutzungsintensität (Qutcomequalität) und langfristig in messbaren langfristigen gesundheitlichen Wirkungen (z. B. Kompetenzsteigerung, verändertes Gesundheitsverhalten, Gesundheitssta‐ tus; Outputqualität). Um eine hohe Ergebnisqualität überhaupt erzielen zu können, müssen spezifische Zielgruppenbedürfnisse und Nutzenkom‐ ponenten (Kontext- und Inputqualität) berücksichtigt werden und auf didaktischer Ebene Motivationskomponenten (Durchführungsqualität) integriert werden. Da die Vermeidung von unnötigem (Kosten-)Aufwand und Gesundheitsrisiken als immanenter Bestandteil des Qualitätsbegriffs angesehen werden kann, sollten im Sinne des Präventionsdilemmata daher insbesondere jene Zielgruppen erreicht werden, die bisher mit anderen Interventionen nicht erreicht wurden. Zur Erhöhung der Wirksamkeit und angesichts möglicher Gesundheitsrisiken bei einer falschen Konzeptionie‐ rung ist zum einen Integration gesundheitlicher Experten (Medizin, Pflege, Psychologie und E-Health) und zum anderen die Integration von Laien (Patienten etc.; Inputqualität) eine Bedingung, um eine hohe Ergebnis‐ qualität zu gewährleisten und Imageschäden zu vermeiden. Für die Qua‐ litätswahrnehmung und Vertrauensschaffung ist zudem die Transparenz einer solchen Integration bedeutend. Unterschiedlichste Qualitätssiegel für die Präventionsinterventionen selbst (z. B. Deutscher Standard Prävention, SPORT PRO GESUNDHEIT) sowie Siegel im Bereich der Transparenz (afgis-, HON-, Healthon-Siegel) sollen hierbei helfen, dem Nutzer die Ent‐ scheidung zu erleichtern. Denn aktuell weisen vorliegende Studien bspw. bei Gesundheits-Apps darauf hin (vgl. Moglia/ Castano 2015; Wallace/ Dhingra 2014), dass nur wenige Apps auf die Integrationen von Gesundheitsex‐ perten bei der App-Entwicklung verweisen (vgl. Scherenberg/ Liegmann 2016: 46). Hinsichtlich der Inputqualität ist zudem anzumerken, dass die Berücksichtigung evidenzbasierter Leitlinien ein weiteres wichtiges Qua‐ litätsinstrumentarium zur Qualitätssicherung darstellt (→ Kapitel 3.4.4), das bei der Entwicklung von Präventionsinterventionen Berücksichtigung finden sollte. Die → Tab. 36 zeigt beispielhaft anhand von Gesundheits-Apps zusammenfassend, welche zentralen Leitfragen, vor, während und nach der Interventionsimplementierung zu bedenken sind, um eine hohe Qualitäts‐ sicherung zu gewährleisten. 226 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="227"?> Qualitätsdimension und Beispiele: Strukturqualität Welche personellen, technischen und finanziellen Rahmenbedingungen liegen für die Entwicklung, Umsetzung und Evaluation der Gesundheits-App vor? Beispiele - Qualifizierung des eigenen Personals, Klärung von Zuständigkei‐ ten etc. - Hard- und Softwareausstattung - Finanzierungsabsicherung Kontext- und Inputqualität Welche organisatorischen und programmbezogenen Voraussetzungen müssen geschaffen bzw. welche Ressourcen bereitgestellt/ berücksichtigt werden, damit die Gesundheits-App unmittelbar/ langfristig Wirkungen erzeugt? Beispiele - Entwicklung eines qualifizierten Expertenteams (Informatik; Prä‐ vention etc.) - Berücksichtigung der technischen Ausstattung der Nutzer - Berücksichtigung von Bedürfnissen (z. B. Integration Risikogrup‐ pen) Prozess- und Durchführungsqualität Wie muss die Gesundheits-App beschaffen sein, um unmittelbar/ langfristig Wir‐ kungen bei den Nutzern zu erzeugen? Beispiele - Form und Art der vermittelten (relevanten) Inhalte - Integration von didaktischen Methoden (Lernkonzept) - Integration von Motivationskomponenten Ergebnisqualität Welche Wirkungen hat die Gesundheits-App auf die Nutzer und wie hoch ist die Wirksamkeit der Gesundheits-App? Outcomequalität Welche unmittelbaren Ergebnisse hat die Gesundheits-App auf die Nutzer? Beispiele - Erreichungsgrad der potenziellen Zielgruppe - Persönlicher Nutzengrad/ Akzeptanz der Gesundheits-App - Nutzung der Gesundheits-App Outputqualität Welche langfristigen Ergebnisse hat die Gesundheits-App auf die Nutzer? Beispiele - Wirkung auf das Wissen/ die Einstellung der Nutzer - Wirkung auf das Gesundheitsverhalten - Wirkung auf den Gesundheitszustand Tab. 36: Qualitätsdimensionen von Präventionsinterventionen Quelle: Scherenberg 2015 in Anlehnung an Ehlers 2011: 74ff. 227 8.2 Qualitätssicherung in der Prävention <?page no="228"?> Zusammenfassend werden unter dem Begriff Qualitätssicherung alle Maß‐ nahmen subsumiert, die dazu beitragen, die Qualität über den gesamten Entwicklungs- und Umsetzungsprozess sicherzustellen und zu verbessern. Damit wird deutlich, dass Qualitätsprozesse als Daueraufgabe verstanden werden müssen. Zur Sicherstellung dieser Aufgabe stehen unterschied‐ lichste Checklisten für die Planung, Durchführung und Evaluation von Präventionsprojekten zur Verfügung. 8.3 Evaluation von Präventionsmaßnahmen Mit der zunehmenden Verbreitung von Präventionsinterventionen rückt automatisch die systematische Bewertung des präventiven Wertes mithilfe festgelegter Kriterien in den Vordergrund des Geschehens. Evaluationen verfolgen dabei unterschiedliche Funktionen, die sowohl für die Optimie‐ rung der Präventionsinterventionen selbst als auch für das Marketing und damit die Teilnehmergewinnung und -bindung von hohem Nutzen sind (vgl. Stockmann 2002: 3 ff.; Widmer/ De Rocchi 2012: 27 f.): ■ Erkenntnisfunktion: Evaluationen haben die grundsätzliche Funk‐ tion, Erkenntnisse über die Eigenschaften und Wirkungen von Evalua‐ tionsgegenständen zu sammeln, um das Wissen über die Beteiligten zu erweitern. ■ Lern- und Dialogfunktion: Eng mit der Erkenntnisfunktion verbun‐ den sind Lernprozesse der Beteiligten, die einen Dialog unterstützen. Voraussetzung für diesen Lern- und Dialogprozess ist die enge Einbe‐ ziehung aller Beteiligten inkl. Betroffener und damit Teilnehmer. ■ Optimierungsfunktion: Letztlich sollten Evaluationen nicht allein zum Gegenstand haben, Interventionen und Maßnahmen zu überprü‐ fen, sondern dazu beizutragen, eine Optimierung durch den jeweiligen Erkenntnisgewinn vorzunehmen. ■ Entscheidungsfunktion: Evaluationen stellen durch ihren Erkennt‐ nisgewinn die Basis für Wahlentscheidungen bspw. für oder gegen eine Maßnahme dar. Aus diesem Grund sollten Evaluationsstudien mit praxisorientierten Handlungsempfehlungen versehen werden. ■ Legitimationsfunktion: Sie beinhaltet die Durchführung sowie die Ergebnisdarstellung, um Maßnahmen zu legitimieren, dies zum einen in der Öffentlichkeit (z. B. innerhalb der Werbung) und zum anderen, um 228 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="229"?> bei drittmittelbasierten Projekten Rechenschaft über erhaltene Mittel ablegen zu können. Grundsätzlich können Interventionsevaluationen zusammenfassend als „systematic collection of information about activities, characteristics, and outcomes of programs to make judgements about the programm, improve program effectiveness, and/ or inform decisions about future programming“ (Patton 1997: 23) verstanden werden. Diese Definition verdeutlicht die Vielschichtigkeit einer potenziellen Be‐ wertung, die sich in unterschiedlichen Evaluationstypen äußert. Standards zur Evaluation wurden beispielswiese von der Gesellschaft für Evaluation ( ➽ www.degeval.de) herausgegeben. War in der Vergangenheit eine reine Input-Output-Betrachtung ausreichend, bedarf es angesichts knapper Res‐ sourcen im Gesundheitswesen verstärkt der ergänzenden Betrachtung von Outcome- und Impact-Größen (vgl. Stockmann 2004: 37) sowie von gesundheitsökonomischen Auswirkungen. Insbesondere das Interesse an ökonomischen Kriterien ist in den letzten Jahren gestiegen. Je nach Frage‐ stellung ist die Effizienz von Maßnahmen mithilfe von Kosten-Kosten-, Kosten-Wirksamkeits-, Kosten-Nutzen- oder Kosten-Nutzwert-Analysen bestimmbar (vgl. Scherenberg 2016: 87 ff.). Prinzipiell kann sich die Bewer‐ tung auf einzelne Komponenten (output), auf Stärken und Schwächen der praktischen, organisatorischen Umsetzung (process), auf intendierende Effekte (outcome) und auf kausal verursachte Gesundheitseffekte (impact) beziehen. Die klassische Dreiteilung von Evaluationen im Bereich Public Health und damit von Präventionsintervention ist process, impact und out‐ come. Aufgrund der Zeitdimension werden Outcome-Kriterien (= Ergebnis, Resultat) oft auch als long-term-measures und Impact-Kriterien (= Wirkung, Einfluss) als short- oder middle-term-measures bezeichnet (vgl. Girgis 1998: 110; Thomas 2006: 170 f.). Während die Wirksamkeit (effectiviness) den Grad der Zielerreichung (Output-Outcome-Verhältnis bzw. Effizienzzielrelation) widerspiegelt, richtet sich die Betrachtung der Effizienz (efficiency) auf das Verhältnis zwischen Input und Output (Zielrelation). Je nachdem, welcher Gegenstand im Rahmen einer Evaluationsstudie aus der → Abb. 25 untersucht wird, handelt es sich um eine Input-, Throughout-, Outpunt-, Outcome- oder Impact-Evaluation. 229 8.3 Evaluation von Präventionsmaßnahmen <?page no="230"?> Abb. 25: Grobdarstellung verschiedener Evaluationsformen Ergebnisse (Ergebnisqualität) Outcome-Evaluation (long-term)  Gesundheitsstatus  Lebensqualität  Prävalenz von Risikofaktoren, Morbidität/ Mortalität usw. Impact-Evaluation (short-term)  Bekanntheit, Zielgruppenerreichung, Teilnahmerate, Anforderungserfüllung, Tendenzen usw.  Einstellungs-, Verhaltens- und Wissensveränderungen Throughput- Evaluation Prozessqualität = Umsetzung und Dynamiken der Intervention Input- Evaluation Ressourcen- und Mitteleinsatz Output- Evaluation Programmqualität = einzelne Leistungskomponenten des Programms Ziele Bedürfnisse Anforderungen Effizienz (Zweck-Mittel-Relation) Effektivität (Soll-Ist-Vergleich) Abb. 25: Grobdarstellung verschiedener Evaluationsformen Quelle: Scherenberg 2008: 122 in Anlehnung an Øvretveit 2002: 56. Eine weitere Unterteilung kann [1] in Abhängigkeit vom Zeitpunkt in formativer und summativer Evaluation und [2] in Abhängigkeit davon, wer die Evaluation durchgeführt hat, in Selbst- und Fremdevaluation erfolgen (vgl. Döring/ Bortz 2016: 990). Die formative Evaluation wird aufgrund der Zielsetzung auch als programmbegleitende, aktiv-gestaltende oder prozess‐ orientierte Evaluation tituliert, während die summative Evaluation als bilan‐ zierende, zusammenfassende oder ergebnisorientierte Evaluation genannt wird (vgl. Stockmann 2003: 17; Bortz/ Döring 2006: 110). Da Outcome-Krite‐ rien bei Präventionsinterventionen erst nach vielen Jahren sichtbar werden, ist ein längerer Betrachtungszeitraum (z. B. mindestens 3 Jahre) notwendig. Die summative Evaluation hat demnach eher eine Kontroll- und Legiti‐ mationsfunktion, während der formativen Evaluation eine Optimierungs- und Lernfunktion innewohnt (vgl. Döring/ Bortz 2016: 990). Dabei ist eine genaue Wirkungszuordnung nur mithilfe eines Prä-post-Vergleiches (Vor‐ her-Nachher-Vergleich) bzw. einer aufwendigen Längsschnittsstudie (z. B. eine Kohortenstudie und der Vergleich zweier Gruppen von Teilnehmern und Nichtteilnehmern) möglich, die kostenaufwendig ist aber wichtige mar‐ ketingstrategische Impulse liefern kann. Eine weitere Herausforderung bei der Evaluation liegt darin, dass die Erfolgsmessung präventiver Interventio‐ nen durch den Umstand erschwert wird, dass mögliche Interventionseffekte einer spezifischen präventiven Dienstleistung, wie bspw. ein verändertes 230 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="231"?> Gesundheitsverhalten, schwer von anderen nicht kontrollierbaren Einfluss‐ faktoren zu trennen sind. Denn positive Gesundheitseffekte können sich so‐ wohl auf interne Faktoren (wie Wirkungen einer Präventionsintervention) als auch auf externe Faktoren (wie Wirkungen aus dem direkten Umfeld) beziehen. Oft wird bei Evaluationen eine ausschließlich betriebswirtschaftli‐ che Perspektive eingenommen. Diese Vernachlässigung „weicher“ Kriterien bei solchen Evaluationsstudie wird indes als sehr problematisch angesehen (vgl. Oberender/ Zerth/ Engelmann 2017: 176). Denn lediglich bei Lebensqua‐ litätsmessungen werden subjektive Befindlichkeiten der Teilnehmer durch die Operationalisierung objektiviert bzw. messbar gemacht. Im Folgenden werden aufgrund der hohen Bedeutung zusammenfassend die wichtigsten Evaluationsformen für präventive und gesundheitsfördernde Interventio‐ nen beschrieben: ■ Formative Evaluation: Formative Evaluationen stellen prozessbeglei‐ tende Maßnahmen zur kontinuierlichen Neujustierung einer Präventi‐ onsintervention dar, deren Erkenntnisse direkt in die Entwicklung und Optimierung einfließen. Nichtintendierte Wirkungen werden durch die Erhebung von objektiven (z. B. Bekanntheitsgrad, Teilnehmerraten) und subjektiven Kriterien (z. B. qualitative Befragungen) ermittelt und tragen zur dauerhaften Verbesserung der Präventionsintervention bei. Nutzen- und Anreizhinterfragungen sollten sich sowohl auf Teilnehmer als auch auf Nichtteilnehmer beziehen, um mögliche Teilnahmebarrie‐ ren aufdecken zu können. ■ Summative Evaluation: Summative Evaluationen setzen bei der fertig entwickelten Präventionsintervention an und dienen dazu, die Wirkung und den Nutzen der Interventionsmaßnahme zu bewerten. Die Eva‐ luationsergebnisse können als eine Art Qualitätskontrolle bezeichnet werden, da sie belegen, ob die jeweilige Dienstleistung tatsächlich Erfolg verspricht. ■ Selbstevaluation: Bei der Selbstevaluation wird die Evaluation von den Betreibern der Intervention selbst durchgeführt. Auch wenn z. B. die Befragung der Teilnehmer unabhängig ist und einen hohen Praxisbezug aufweist, steht die Selbstevaluation oft unter dem Verdacht, gewollt oder ungewollt geschönte Ergebnisse zu produzieren. Evaluationen, die dabei keinen ernsthaften Charakter aufweisen, werden auch als Pseudoevaluationen bezeichnet. 231 8.3 Evaluation von Präventionsmaßnahmen <?page no="232"?> ■ Fremdevaluation: Bei der Fremdevaluation wird die Evaluation extern von einer unabhängigen Institution (z. B. Universität, Forschungsein‐ richtung) durchgeführt. Fremdevaluationen wird aufgrund der neutra‐ len Haltung eine höhere Glaubwürdigkeit bescheinigt, daher ist ihre kommunikationspolitische Wirkung im Rahmen von Werbemaßnah‐ men oft höher. Fremdevaluationen haben den Vorteil, dass externe Insti‐ tutionen aufgrund ihrer übergreifenden Erfahrung Impulse einbringen können. Bei der Abwägung, ob eine (kostenaufwendige) Fremdevalua‐ tion einer Selbstevaluation vorgezogen wird, ist zu beachten, dass auch für interne Mitarbeiter verdeckte Kosten (Personalkosten) entstehen. Summa summarum lassen sich unabhängig von der jeweiligen Evaluations‐ form kognitive und gesundheitliche Veränderungsprozesse bei den Teilneh‐ mern gesichert nur mithilfe von Längsschnittsstudien über mehrere Jahre und nicht durch punktuelle Querschnittsstudien belegen. Dabei wird der größte Erkenntnisgewinn dann entstehen, wenn eine enge Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis sowie eine Integration der Teilnehmer besteht. Allgemeine Standards und damit klassische Gütekriterien, die bei empiri‐ schen Erhebungen Anwendung finden, wurden im → Kapitel 7 beschrieben. Hinsichtlich der Evaluationsplanung sollten die folgenden Fragen berück‐ sichtigt werden: ■ Welche Fragen sollen beantwortet werden? ■ Welches sind mögliche Datenquellen? ■ Liegen die notwendigen Daten bereits vor? ■ Welche Methoden sind geeignet? ■ Welche Perspektiven sind zu berücksichtigen? ■ Welche Ergebnisse hätten welche Konsequenzen? Nützliche Informationen zum Thema Evaluationen präventiver Interventio‐ nen bietet bspw. das Landeszentrum Gesundheit NRW. Auf der Internetseite ( ➽ www.lzg.nrw.de/ ges_foerd/ qualitaet/ evaluationstools) sind u. a. Evalua‐ tionsinstrumentarien für unterschiedliche Settings (z. B. Kita, Schulen, Stadtteile), für spezifische Zielgruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene etc.) und für unterschiedliche Präventionsthemen (z. B. Bewegung, Ernäh‐ rung) zu finden. Der Landespräventionsrat Niedersachsen unterteilt bei der Programmbewertung drei Wirksamkeitstufen, auf deren Basis eine Daten‐ bank mit empfohlenen Präventionsprogrammen inkl. der dazugehörigen Evaluationsstudien aufgestellt wurde ( ➽ www.gruene-liste-praevention.de). 232 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="233"?> Linktipps Gesellschaft für Evaluation: ➽ www.degeval.de Grüne Liste Prävention: ➽ www.gruene-liste-praevention.de 8.4 Kontrolle im Präventionsmarketing Die Qualitätssicherung von Marketingmaßnahmen wird über die Kontrolle gesichert. Ähnlich wie bei der summativen und formativen Evaluation der präventiven Interventionen selbst verfolgt die Kontrolle aller strategischen und operativen Maßnahmen des Präventionsmarketings zwei übergreifende zeitliche Funktionen (vgl. Weber/ Schäffer 2006: 233): ■ Feedback-Kontrolle: Die Feedback-Kontrolle hat als zurückblickende Überwachung zum Ziel, einen Soll-Ist-Vergleich vorzunehmen und damit die Zielerreichung zu überprüfen. ■ Feedforward-Kontrolle: Die Feedforward-Kontrolle hat als zukunfts‐ orientierte Überwachung zum Ziel, eine Anpassung zur Erreichung des Sollwerts durch die Auslotung von Erfolgspotenzialen vorzunehmen. Dementsprechend geht es bei der Kontrolle von präventionsbezogenen Marketingmaßnahmen nicht wie bei der präventiven Evaluation um die verhaltensspezifischen und gesundheitlichen Auswirkungen, sondern um die übergreifende Sicherstellung der Effektivität und Effizienz. Oft werden in diesem Zusammenhang die beiden relevanten Wirtschaftlichkeitsmaße Effizienz und Effektivität umgangssprachlich synonym verwendet, aller‐ dings verbergen sich hinter diesen Begriffen vollkommen unterschiedliche Bedeutungen (vgl. Drucker zit. n. Naz 2004: 214): ■ Effektivität (engl. effectiveness) leitet sich aus dem lateinischen Wort efficiencia (zu Deutsch: Wirksamkeit) ab. Die Effektivität stellt das Maß für die Zielerreichung (Output) dar, mit der die grundsätzliche Eignung und die Zweckmäßigkeit von Marketingmaßnahmen überprüft werden. Die zentrale Fragestellung lautet: Werden jene Maßnahmen durchge‐ führt, die auch wirklich Erfolg versprechen? (Are we doing the right things? ) ■ Effizienz (engl. efficiency) ist etymologisch auf das lateinische Wort efficere für „bewirken“ zurückzuführen. Die Effizienz stellt das Maß für 233 8.4 Kontrolle im Präventionsmarketing <?page no="234"?> die Wirtschaftlichkeit des Ressourceneinsatzes (sprich der Input-Out‐ put-Relation) dar. Damit lautet die zentrale Fragestellung: Werden die Maßnahmen selbst in einer erfolgsversprechenden Art und Weise durchgeführt? (Are we doing the things right? ) Geht es um die Priorisierung der beiden Wirtschaftlichkeitsmaße, ist es wichtiger, das Richtige zu tun, als etwas richtig zu machen, denn Effizienz kann niemals Effektivität ersetzen. Denn wie es die Aussage von Ferdinand Drucker auf den Punkt bringt: „Nichts ist weniger produktiv als mehr Dinge zu erlangen, die wir besser gar nicht täten.“ (Drucker zit. n. Naz, 2004, 214). Um Maßnahmen kontrollieren zu können, ist die Auswahl geeigneter Indikato‐ ren und Kennzahlen notwendig. Dabei können Indikatoren im Hinblick auf ihre zeitlichen Auswirkungen in die beiden folgenden Kategorien unterteilt werden (vgl. Kaufmann 1997: 423 f.; Kaplan/ Norton 1997: 10): ■ Nachlaufende Indikatoren (auch results measures, lagging indicators oder „vergangenheitsorientierte Spätindikatoren“) stellen Erfolgsgrö‐ ßen, die in meist quantitativen Ergebniskennzahlen dargestellt werden, dar. Diese Indikatoren stellen sogenannte harte oder meist ökonomische Faktoren (hard facts), wie beispielswiese der Marktanteil, dar. ■ Vorlaufende Indikatoren (auch process measures, leading indcators oder „zukunftsorientierte Frühindikatoren“ können als Leistungstreiber verstanden werden, die im Gegensatz zu nachfolgenden Indikatoren eher zu erwartende Erfolgspotenziale abbilden. Diese Indikatoren sind vorwiegend nichtökonomische oder weiche Indikatoren (soft facts), wie z. B. die Teilnehmerzufriedenheit. Anzumerken ist, dass Maßnahmen, die sich lediglich auf kurzfristige, quantitative Extremerfolge (hard facts) in Form hoher Teilnahmequoten fokussieren, nicht nur hohe Kosten produzieren und zulasten langfristiger, qualitativer Erfolge (soft facts) gehen können. Dies ist der Fall, wenn externe Anreize (z. B. Gewinnspiel) ohne eine direkte Affinität zur Prä‐ ventionsintervention zwar kurzfristig Teilnehmerquoten erzeugen, indes die Transaktionskosten in die Höhe treiben, da nur ein Gewinninteresse und kein Interesse an der Intervention vorliegt. Wird somit die zeitliche Dimension allein auf die Gegenwart reduziert und der kurzfristige Erfolg als einziges Entscheidungskriterium angesetzt, geraten langfristige Aspekte des Marketings (wie z. B. die Unternehmensperformance) sowie der Präventi‐ onsintervention (wie z. B. eine dauerhafte gesundheitliche Verhaltensände‐ 234 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="235"?> rung der Teilnehmer) in Gefahr (vgl. Scherenberg 2011: 44). Die Bedeutung von soft facts von heute (bspw. emotionelle Wahrnehmung und Einstellung potenzieller Teilnehmer) darf daher nicht unterschätzt werden, da sich diese zukünftig monetär niederschlagen und als hard facts von morgen bezeichnet werden können. Dabei können Einstellungen impliziter als auch expliziter Natur sein und entsprechend bewusst oder unbewusst auftreten. Während explizite Einstellung mithilfe von direkten Messmethoden (z. B. Fragebögen) erhoben werden können, ist eine Erhebung von impliziten Einstellungen dagegen nur mit indirekten Messmethoden (z. B. implizierter Assoziationstest) möglich. Abb. 26 Indirekte Verfahren (z.B. implizite Assoziationstest) direkte Verfahren (z.B. Fragebogen) Gesundheitsverhalten implizite Einstellung explizite Einstellung zusätzlicher Erklärungsbetrag Abb. 26: Messung implizierter und expliziter Einstellung (Niemand/ Fleischhauer 2012: 114) Werden indirekte Messmethoden verwendet, so hat dies den Vorteil, dass Verhaltensweisen oftmals besser erklärt werden können, wenn neben selbstberichteten expliziten Einstellungen zudem indirekte Einstellungen erhoben werden. Beispielsweise lassen sich auf diese Weise die Ursachen für den Konsum von Drogen, ungesunden Lebensmitteln oder die Ablehnung von Impfungen und damit Verhaltensmotive aufdecken, die mithilfe von direkten Verfahren nicht offenbar werden (vgl. Niemand/ Fleischhauer 2012: 107, 114). Da das Teilnehmerverhalten und das Mitarbeiterverhalten nicht isoliert voneinander betrachtet werden können und sich auf die Intervention und das präventiv agierende Unternehmen auswirken, müssen im Sinne der Ganzheitlichkeit sowohl teilnehmerspezifische, interventionsspezifische, mitarbeiterspezifische als auch institutionelle Aspekte mit in die Kontrolle der Marketingmaßnahme einbezogen werden. Im Folgenden werden daher beispielhaft die genannten Aspekte samt möglicher Indikatoren und deren Hintergründe näher beleuchtet (vgl. Scherenberg 2011: 254 ff): 235 8.4 Kontrolle im Präventionsmarketing <?page no="236"?> [1] Teilnehmerspezifische Aspekte Interessenten- und Teilnehmerbeziehungen werden durch unterschiedliche Faktoren - positive wie negative - stark beeinflusst. Indikatoren, die die Teilnehmerbeziehung beeinflussen können, sind Zufriedenheit, Reak‐ tion- und Bearbeitungszeit aber auch die Ablaufstabilität der präventiv agierenden Institutionen. Wird die Gesamtzufriedenheit erhoben, sollte daher mindestens ein weiterer Indikator (z. B. Weiterempfehlungsrate) integriert werden, da allgemeine Zufriedenheitsaussagen nur eine geringe Aussagekraft haben, oft ein zu optimistisches Bild liefern und daher zu Fehlinterpretationen führen können. Dies ist der Fall, wenn die artikulierte Zufriedenheit der eigenen emotionalen Stabilisierung dient. Subjektive Zufriedenheitsaussagen erhalten nur in Kombination mit weiteren kon‐ kreten Erfahrungs- und Erwartungsaussagen und der direkten Messung objektiver Qualitätsindikatoren eine fundierte Aussagekraft - vorzugsweise im Hinblick auf unterschiedliche Zielgruppen (Alter, Geschlecht etc.) (vgl. Scherenberg 2014: 171 f.). Eine Präzisierung der Gesamtzufriedenheit kann durch einen Blick auf die Interaktionszufriedenheit erfolgen. Zudem wird die Gesamtzufriedenheit nicht nur von der Teilnehmerzufriedenheit, dem Commitment (Verbundenheit und innere Selbstbindung zur Institution) und der Loyalität der Teilnehmer beeinflusst, sondern auch die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen sind handlungswirksam und üben einen Einfluss auf die Übernahme der Eigenverantwortung aus (vgl. Meffert/ Bruhn 2006: 308). Geht es um die Teilnehmerfluktuation, so sollten alters- und genderspezifi‐ sche Aspekte beleuchtet werden, da Frauen im Vergleich zu Männern nicht nur ein höheres Sicherheitsbedürfnis und eine höhere Loyalität aufweisen, sondern gesundheitsbewusster sind. Institutionen, die sich auf weibliche Segmente konzentrieren (z. B. Fitnessprogramme für Frauen: Schlanker und definierter Körper; ➽ www.sophia-thiel.com; Laufmamalauf; ➽ www.laufm amalauf.de), profitieren von diesen genderspezifischen Unterschieden. Auch ältere Menschen weisen hingegen eine geringere Wechselneigung auf (vgl. Freyland et al. 2001: 429). Einerseits profitieren Institutionen, die sich auf eine hohe Altersstruktur konzentrieren von einer geringen Teilnehmerfluk‐ tuation, andererseits muss aufgrund des natürlichen Ausscheidungsproz‐ esses der Marketingfokus stärker auf die Gewinnung neuer Teilnehmer statt auf Teilnehmerbindung gelegt werden. Die Gesamtfluktuationsquote sollte daher immer um alters- oder todesfallbedingte Abgänge bereinigt werden. Neben Alter und Geschlecht üben Faktoren wie Ausbildung oder 236 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="237"?> beruflicher Status einen weiteren Einfluss auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten aus. Denn umso qualifizierter die Teilnehmer sind, umso geringer fällt die Loyalität aus (vgl. Freyland et al. 2001: 429). Beispiel für teilnehmerspezifische Indikatoren Kriterien vergleichbare Indikatoren Teilnehmerzufriedenheit Teilnehmerfluktuationsquote (Anzahl verlorene Teilnehmer im Verhältnis zur Gesamtteilnehmer‐ zahl), Teilnehmergewinnungsquote (Anzahl ge‐ wonnener Teilnehmer im Verhältnis zur Gesamt‐ versichertenzahl), durchschnittliche Zugehörigkeit pro Jahr Weiterempfehlung Weiterempfehlungsrate (z. B. Anzahl Mitglieder werben Mitglieder pro Teilnehmer) Interaktionszufriedenheit Reaktionszeit und Bearbei‐ tungszeit Beschwerdequote (Anzahl Beschwerden pro Teil‐ nehmer), Konfliktquote (bzw. Anzahl Klagen pro Teilnehmer) durchschnittliche Bearbeitungsbzw. Reaktionszeit (Anfragen, Beschwerden etc.) Tab. 37: Beispiele für teilnehmerspezifische Kriterien und Indikatoren Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Scherenberg 2015: 255. Da teilnehmerspezifische Aspekte von der Teilnehmerstruktur beeinflusst werden, sollten die in der → Tab. 37 genannten Indikatoren berücksichtigt werden. Dabei sollten teilnehmerspezifische Indikatoren immer im Verhältnis zu der Teilnehmeranzahl gesetzt werden, um die Aussagekraft zu erhöhen. [2] Interventionsspezifische Aspekte Bei der Mobilisierung der Teilnehmer kommt es nicht nur auf die Einschrei‐ bungsquote (und damit mitunter die passive Teilnehmerquote) an, sondern im Hinblick auf die Kontinuität der Teilnahme auf unterschiedliche Ziel- und Risikogruppen. Der Grad der dauerhaften Teilnehmermotivierung gerade unmotivierter Teilnehmergruppen kann Aufschluss über die emotionale Unterstützung seitens der jeweiligen Institution geben. Handelt es sich bei der präventiv agierenden Institution um eine GKV, kann zudem die (mone‐ täre) Befähigung (z. B. die Höhe der durchschnittlichen Zuschüsse oder die Inanspruchnahme von Gesundheitskursen) gerade bei Teilnehmern unterer Einkommensklassen oder die Koppelung mit präventiven Bonusprogram‐ 237 8.4 Kontrolle im Präventionsmarketing <?page no="238"?> men (und extrinsischen Anreizen) eine Rolle spielen. Auch unterstützende Serviceleistungen oder -komponenten der Präventionsintervention sowie spezifische Events oder Apps stellen Aspekte dar, die sich förderlich auf die Teilnehmermobilisierung ausüben können. Beispiel für interventionsspezifische Kriterien und Indikatoren Kriterien vergleichbare Indikatoren Teilnehmeraktivierung (aktive) Teilnehmerquote pro Teilnehmer Teilnehmermotivierung Teilnehmerfluktuationsquote, durchschnittliche Teilnehmerdauer, Teilnehmerquote Teilnehmerunterstützung durchschnittliche Höhe des Zuschusses sowie die Inanspruchnahme von Gesundheitskursen pro Mit‐ glied (Freiwillige, Pflichtversicherte etc.) (GKV), durchschnittliche Inanspruchnahmen von spezi‐ fischen Serviceleistungen/ -komponenten der Prä‐ ventionsintervention Teilnehmer-Incentivierung durchschnittliche Kosten für Incentives pro Teil‐ nehmer, durchschnittliche Prämienausschüttung pro (aktivem) Teilnehmer (GKV) Teilnehmerrentabilität durchschnittliche Erlöse/ Einsparung pro Teilneh‐ mer (Alter, Geschlecht, Status etc.) Tab. 38: Beispiele für interventionsspezifische Kriterien und Indikatoren Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Scherenberg 2015: 256. [3] Mitarbeiterspezifische Aspekte Mitarbeiterzufriedenheit und Teilnehmerzufriedenheit stehen in einem en‐ gen Zusammenhang und stellen für die Erreichung übergreifender Unter‐ nehmensziele eine entscheidende Rolle dar. Denn nur zufriedene und loyale Mitarbeiter tragen dazu bei, dass auch die Teilnehmer zufrieden und loyal sind und umgekehrt (vgl. Mattmüller 2006: 62). Dementsprechend kann eine hohe Fluktuationsquote auf ein schlechtes Betriebsklima, Mobbing, schlechte Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitsüberlastung oder mangelnde Laufbahnperspektiven der Mitarbeiter hinweisen. Insbe‐ sondere lang bekannte Mitarbeiter stellen für Teilnehmer aufgrund des Erfahrungswissens einen hohen Vertrauenswert dar. Dieser Vertrauenswert wirkt sich auf die Teilnehmermotivation positiv aus. Der enge Zusam‐ 238 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="239"?> menhang zwischen Mitarbeiter- und Teilnehmerzufriedenheit verdeutlicht die Notwendigkeit einer starken Mitarbeiterorientierung insbesondere in personalintensiven Dienstleistungsbereichen, wie dem Gesundheitsbzw. Präventionsmarkt. Die Nutzung der Ressource Mitarbeiter ist abhängig davon, wie die präventiv agierenden Institutionen in der Lage sind, das Potenzial und das Wissen ihrer Mitarbeiter zu nutzen und zu fördern. Mitarbeiterzufriedenheit und -partizipation sowie das Verhältnis zu allen Anspruchsgruppen (Teilnehmer, Kooperationspartner, Multiplikatoren etc.) stellen für die Verstetigung der Prozesse eine fundamentale Basis dar. Ein klares (und von allen Mitarbeitern gelebtes) Leitbild kann dabei als Werte‐ system verstanden werden. Auch soziales Engagement kann sich positiv auf die Mitarbeiterloyalität und -bindung und das Unternehmensimage auswir‐ ken (vgl. Kaiser/ Schuster 2004: 669 ff.). Für 58 % der Befragten der Millennial Employee Engagement Study 2016 stellt soziales Engagement sogar ein Entscheidungskriterium bei der Arbeitgeberwahl dar, 74 % empfinden ihre Arbeit als erfüllender und auf 70 % wirkt sich das soziale Engagement ihrer Arbeitgeber zudem positiv auf die Loyalität aus (vgl. Cone Communication 2015: 1). Die → Tab. 39 zeigt beispielhaft, welche mitarbeiterspezifischen Indikatoren bei der Marketingkontrolle herangezogen werden können. Beispiel für mitarbeiterspezifische Kriterien und Indikatoren Kriterien vergleichbare Indikatoren Mitarbeiterzufriedenheit und Mitarbeitermotivation Fluktuationsquote (Verhältnis Anzahl ausgeschiede‐ ner Mitarbeiter und ersetzter Mitarbeiter), durch‐ schnittliche Zugehörigkeit zur Institution in Jahren, Lohn- und Gehaltskosten pro Teilnehmer, Betei‐ ligungsquote/ Umsetzungsquote, Vorschlagswesen pro Mitarbeiter, Konfliktquote (Anzahl Klagen pro (Ex-)Mitarbeiter), Anteil Mitarbeiter im direkten Teilnehmerkontakt Personalentwicklung Mitarbeiterqualifizierung (Anzahl Weiterbil‐ dungs-maßnahmen pro Mitarbeiter/ Ebene) Arbeitsablaufstabilität Fehlzeitenquote (Verhältnis zwischen ausgefallener Arbeitszahl und dispositiver Arbeitszeit) Personalwachstum Prozentuale Zu- und Abnahme des Personalbes‐ tands Tab. 39: Beispiele für mitarbeiterspezifische Kriterien und Indikatoren Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Scherenberg 2015: 257. 239 8.4 Kontrolle im Präventionsmarketing <?page no="240"?> [4] Institutionelle Aspekte Auch die institutionellen Aspekte, die betrachtet werden können, sind viel‐ fältig: angefangen von Indikatoren wie Marktanteil, Marktabdeckung oder bspw. die Höhe sogenannter Transaktionskosten (z. B. Verwaltungskosten). Dabei reduzieren sich Verwaltungskosten nicht auf personelle Verwaltungs‐ kosten (Löhne und Gehälter, Weiterbildungskosten), sondern inkludieren alle sachlichen Verwaltungskosten (Geschäftsbedarf, Bewirtung und Unter‐ haltung von Grundstücken, Abschreibungen etc.). Verwaltungskosten kön‐ nen stark variieren und von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden. So können hohe Verwaltungs- und Steuerungsaufwendungen insbesondere bei starken Wechselbewegungen der Teilnehmer (z. B. bei Teilnehmerunzuf‐ riedenheit) entstehen. Akteure, die onlinebasierte Interventionen anbieten, profitieren dahingehend, dass keine hohen Kosten für Miete oder Personal etc. entstehen. Indes kann ein besonderes Engagement im Bereich der Produktentwicklung (z. B. Gesundheits-Apps) bei First Movern (→ Kapi‐ tel 5.4) die Verwaltungskosten in die Höhe treiben. Damit wird deutlich, dass die Verwaltungskostenhöhe je Teilnehmer wenig über die Effizienz selbst aussagt. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, Verwaltungsaufwände differenziert und zukunftsorientiert zu betrachten. Beispiel für institutionelle Kriterien und Indikatoren Kriterien Vergleichbare Indikatoren Teilnehmerstruktur Leistungsausgaben pro Teilnehmer, durchschnittliches Alter und Geschlechtsverteilung Annäherungswerte Effizienz und Effektivi‐ tät persönliche Verwaltungskosten (pro Teilnehmer), sachliche Verwaltungskosten (pro Teilnehmer) ¾ Werbungskosten pro Teilnehmer ¾ Präventionskosten pro Teilnehmer, Betreuungsaufwand pro Teilnehmer/ Mitglied, durch‐ schnittliche Einnahme-/ Ausgaberelation Tab. 40: Beispiele für teilnehmerspezifische Kriterien und Indikatoren Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Scherenberg 2015: 259. Die angeführten Kriterien und Indikatoren dienen lediglich dazu, einen beispielhaften Einblick zu gewähren. Denn Indikatoren müssen individuell auf jedes Projekt neu zugeschnitten werden. Insbesondere wenn es um Onlineinterventionen geht, müssen in Abhängigkeit vom jeweiligen Me‐ 240 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="241"?> dium (Internetseite, Gesundheits-App oder Social-Media-Plattformen) eine Vielzahl an weiteren Indikatoren (z. B. Click-Rate, Anzahl an Followern, Likes, Weiterempfehlungsraten) betrachtet werden. Für Internetanalysen, Social-Media-Analysen oder App-Analysen stehen unterschiedliche kos‐ tenlose Instrumentarien zur Verfügung. Zwingend erforderlich ist, dass Erkenntnisse von Kontrollbemühungen nach dem Closed-Loop-Ansatz in spätere Planungsprozesse integriert werden. Dabei werden Maßnahmen im Bereich der Marketingkontrolle oft durch ein operatives Marketing-Audit ergänzt. Bei einem operativen Marketing-Audit wird regelmäßig (z. B. ein‐ mal pro Jahr) geprüft, ob die aufgestellten Ziele noch verfolgt werden (vgl. Kreutzer 2017: 441). Auf diese Weise können sowohl Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt als auch auf veränderte Umweltentwicklungen reagiert werden (vgl. Nieschlag et al. 2002: 1167). Damit haben Marketing-Auditie‐ rungen einen noch stärken Feedback-forward-Charakter als Maßnahmen im Bereich der Marketingkontrolle. In der → Tab. 41 sind zum besseren Verständnis beispielhaft Fragen eines Marketingmix-Audits aufgeführt. Produktpolitik - In welchem Ausmaß deckt die präventive Intervention die Erwartungshaltung der Teilnehmer ab? - Weist die präventive Intervention ausreichend aufklä‐ rende und motivierende Komponenten auf ? Preispolitik - Sind die Konditionen ausreichend transparent für die Teilnehmer? - Wird eine Preisdifferenzierung angeboten, um unter‐ schiedliche Zielgruppen für die Intervention zu gewin‐ nen? - Welche Wirkungen haben Preisänderungen auf die Teilnehmernachfrage? Distributionspolitik - Welche Potenziale in einzelnen Kanälen wurden bisher nicht ausgeschöpft? - Werden die Synergien zwischen den einzelnen Kanälen genutzt? - Bietet das Multi-Channel-Konzept für Teilnehmer spe‐ zifische Vorteile? - Stellen integrierte Anreizsysteme eine hohe Teilneh‐ mergewinnung und -bindung sicher? 241 8.4 Kontrolle im Präventionsmarketing <?page no="242"?> Kommunikations‐ politik - Ist die Off- und Onlinekommunikation umfassend mit‐ einander vernetzt? - Werden Kommentare in sozialen Medien schnell er‐ kannt und beantwortet? - Werden die Daten- und Informationsgrundlagen für die Teilnehmeransprache regelmäßig geprüft? - Wird die Teilnehmeransprache vor dem Hintergrund einer Verhaltensmotivierung konzipiert? Tab. 41: Ausgewählte Fragen eines Marketingmix-Audits Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kreutzer 2017: 441. Marketing-Audits können sich grundsätzlich auf alle angestrebten Ziele konzentrieren. Eine spezifische Form des Marketingmix-Audits stellt das Produkt-Marken-Audit dar (vgl. Kreutzer 2017: 442). Das Produkt-Mar‐ ken-Audit steht in einem sehr engen Zusammenhang mit der letztlichen präventiven Zielsetzung der jeweiligen Intervention, da bei dieser Form des Audits insbesondere die Emotionen und Motive im Fokus stehen. Dies ist von besonderer Bedeutung, da Emotionen und Motive als Schlüssel für die gesundheitliche Verhaltensänderung angesehen werden können (→ Kapitel 3.4.1 und 3.4.2). Motivanalyse - Welche Emotionen/ Motive sind innerhalb der Präven‐ tionsintervention angelegt? - Welche Emotionen/ Motive werden von bestehenden Angeboten angesprochen? - Heben sich die angesprochenen Emotionen/ Motive glaubhaft von bestehenden Angeboten ab? - Tragen die ausgewählten Emotionen/ Motive langfris‐ tig zum Aufbau einer überzeugenden Markenpositio‐ nierung bei? Produktanalyse - Kann die Präventionsintervention die gewählten Emo‐ tionen/ Motive glaubhaft bedienen? - Welche vorhandenen Präventionskomponenten und Features könnten die Ansprach der gewünschten Emo‐ tionen und Motive noch verstärken? - Über welche Eigenschaften kann eine Differenzierung vom Wettbewerb erfolgen? 242 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="243"?> Markenanalyse - Welche der in der Dienstleistung angelegten Emotio‐ nen und Motive werden von der Marke angesprochen bzw. sollen von dieser angesprochen werden? - Welche (Risiko-)Zielgruppen sind aufgrund der in der Marke bzw. der Präventionsintervention angelegten Emotionen und Motiven zu fokussieren? - Welche Zielgruppen werden von den bestehenden An‐ geboten angesprochen? - Durch welche expliziten und impliziten Codes (Spra‐ che, Symbole, Geschichte, Sensorik) können die defi‐ nierten Emotionen und Motive angesprochen werden? - Ermöglichen die gewählten Codes in ihrer Gesamtheit einen konsistenten Auftritt? - Differenzieren die eingesetzten Codes im Wettbe‐ werbsumfeld und kontrastieren zu anderen Auftritten? - Wird an allen Markenkontaktpunkten ein stimmiger Auftritt zur Untermauerung der definierten Emotionen und Motive erreicht? - Werden möglichst viele Sinne gleichzeitig mit konsis‐ tenten Botschaften angesprochen? Tab. 42: Ausgewählte Fragen eines Produkt-Marken-Audits Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kreutzer 2017: 441 und Schleier/ Held 2013: 172ff. ✺ Zusammenfassung Für den langfristigen Erfolg von Präventionsinterventionen ist die Quali‐ tätssicherung entscheidend. Die Berücksichtigung bestehender Good-Prac‐ tice-Kriterien und ein Blick auf erfolgreiche Best-Practice-Projekte hilft, bewährte Qualitätsstandards von Anfang an hochzuhalten. Dabei darf sich die Sicherung der Qualität nicht auf die Ergebnisqualität (Output- und Outcome-Qualität) beschränkten, sondern muss alle Qualitätsdimen‐ sionen (Strukturqualität, Kontext- und Inputqualität sowie Prozess- und Durchführungsqualität) berücksichtigen. Denn die Berücksichtigung beste‐ hender (medizinischer) Leitlinien ist ebenso bedeutend wie die Integration eines interdiszipliären Teams und Betroffener für die Ergebnisqualität. Die Wirksamkeit von Präventionsinterventionen wird mithilfe von summativen und formativen Evaluationen, die Wirksamkeit von Marketingmaßnahmen durch ergebnisorientierte Feedforward-Kontrolle und Feedback-Kontrolle während und nach dem Projektablauf gesichert. Nachlaufende und vor‐ laufende Indikatoren ermöglichen es, den Erfolg und Misserfolg frühzei‐ 243 ✺ Zusammenfassung <?page no="244"?> tig abzuschätzen und korrigierende Maßnahmen zu ergreifen. Mithilfe des Marketing-Audits werden Faktoren identifiziert, die dem Marketing‐ planungssystem dienen und damit eine zukunftsorientierte Funktion zur Optimierung der Marketingmaßnahmen einnehmen. ✺ Wichtige Schlagwörter Qualitätssicherung, Qualitätskriterien, formative Evaluation, summative Eva‐ luation, Selbstevaluation, Fremdevaluation, Marketingkontrolle, Forward-Kon‐ trolle, Feedback-Kontrolle, Indikatoren, Kennzahlen, Marketing-Audits ✺ Wiederholungsfragen 1. Warum sollten Good-Practice-Kriterien nicht nur bei Präventionsinter‐ ventionen für sozial benachteiligte Zielgruppen Anwendung finden? 2. Wann kommt die formative und summative Evaluation zur Anwendung? 3. Ist die Effektivität wichtiger als Effizienz eines Projektes und wenn warum? 4. Welche Bedeutung haben Spät- und Frühindikatoren bei Marketing‐ maßnahmen und warum sollte Spätindikatoren eine besondere Auf‐ merksamkeit geschenkt werden? 5. Warum sind Fragen eines Produkt-Marken-Audits für Maßnahmen des Präventionsmarketings besonders wichtig? ✺ Literaturempfehlungen Döring N, Bortz J (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in den Human- und Sozialwissenschaftler, 5. Auflage. Berlin/ Heidelberg: Springer Verlag. Kolip P, Ackermann G, Ruckstuhl B, Studer H (2012). Gesundheitsförderung mit Sys‐ tem: quint-essenz - Qualitätsentwicklung in Projekten der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Hans Huber Verlag. Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit (LIGA.NRW) (2011). Qualitätsinstrumente in Prävention und Gesundheitsförderung. Ein Leitfaden für Praktiker in Nordrhein-Westfalen (LIGA.Praxis 8). URL: http: / / www.lzg.nrw.de/ _media/ pdf/ liga-praxis/ liga-praxis_8_qualitaetswegweiser.pdf [Stand 02.01.2017]. 244 8 Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle <?page no="245"?> 9 Planung: Checkliste Lernziele In diesem Kapitel erhalten Sie zu den bereits implementierten Frageka‐ talogen in den einzelnen Kapiteln eine zentrale Checkliste an die Hand, die Ihnen dabei hilft ■ Marketingmaßnahmen für Präventionsinterventionen systema‐ tisch zu planen, umzusetzen und zu evaluieren und ■ innerhalb eines Präventionsmarketingprojektes reflektiert und strukturiert vorzugehen. Mit der Checkliste soll eine praxisorientierte, weiterführende Hilfestellung für die Entwicklung von Projekten im Bereich des Präventionsmarketings gegeben werden. Die Basis für die operative Planung stellt die Festlegung der strategischen Positionierung dar. [1] Strategische Positionierung (→ Kapitel 5) Zu Beginn eines Marketingprojektes ist die IST-Situation zu prüfen, Ziel‐ gruppen, Ziele sowie die Strategien sind zu definieren. Folglich stellt die Definition des Problems der Zielgruppe sowie der inhaltlichen Ausrichtung die Basis der strategischen Planung dar. Mithilfe einer Wettbewerbsanalyse sollte abgeklärt werden, welche Projekte bereits existieren und wer unmit‐ telbare Wettbewerber sind. Ebenso sind rechtliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Auf dieser Basis werden weitere Schritte zur konkreten Planung, Umsetzung, Vermarktung und Kontrolle festgelegt. [a] Situationsanalyse (→ Kapitel 5.1) ■ Wurde eine fundierte Umfelds-, Markt-, Wettbewerbs- und Ressourcen‐ analyse als Grundlage durchgeführt? ■ Welche Stärken/ Schwächen und welche Chancen/ Risiken liegen vor und treffen aufeinander? ■ Liegen fundierte Daten über die potenziellen Teilnehmer vor (Motive, Bedürfnisse, epidemiologischer Hintergrund, Präventionspotenzial)? <?page no="246"?> [b] Alleinstellungsmerkmal (→ Kapitel 5.2) ■ Mit welchen USP (Alleinstellungsmerkmal) soll sich - aufgrund der eingehenden Analyse - das Projekt von anderen Projekten abheben, um einen gesundheitsförderlichen oder präventiven Mehrwert zu generie‐ ren? ■ Wie hebt sich die Kommunikation ab (UCP)? [c] Zielgruppen- und Marktsegmentierung (→ Kapitel 5.3) ■ Wie und für wen soll die präventive Intervention ausgerichtet werden? ■ universell (breite Öffentlichkeit ohne Zielgruppenfokus, z. B. Kinder- und Jugendliche allgemein, Bevölkerung allgemein) ■ selektiv (mit Zielgruppenfokus ohne Krankheitsbild, z. B. Kinder suchtkranker Eltern, übergewichtige Kinder, Raucher) ■ indiziert (mit Zielgruppenfokus mit ersten Vorstufen einer Erkrankung, z. B. adipöse Kinder und Jugendliche, Asthmatiker, Diabetiker) ■ Welche Zielgruppe wird genau anvisiert (z. B. spezifische Risikogruppen oder Multiplikatoren der Risikogruppen) und nach welchen zielgrup‐ penspezifischen Merkmalen soll die Zielgruppe segmentiert werden? ■ Geschlecht ■ Alter ■ soziokultureller Hintergrund ■ Sonstiges [d] Marketingziele und -strategien (→ Kapitel 5.4) ■ Welche präventive Herausforderung soll mithilfe des Marketingprojek‐ tes gelöst werden? ■ Auf welche präventiven Handlungsfelder soll die Intervention ausge‐ richtet werden? ■ Was sind marketingstrategische und präventive Ziele (qualitative und quantitative; kurz-, mittel- und langfristig)? ■ Wie sollten die Ziele überprüfen werden? 246 9 Planung: Checkliste <?page no="247"?> [2] Operative Umsetzung (→ Kapitel 7) Nachdem die Zielgruppe, deren Bedürfnisse, Zugangswege sowie die Ziel‐ setzung und Finanzierungsmöglichkeiten definiert wurden, wird im nächs‐ ten Schritt die konkrete Planung, Umsetzung und Vermarktung festgelegt. Neben der Planung werden konkrete Inhalte inklusive der didaktischen Vorgehensweise und Designaspekte, unter Berücksichtigung der anvisierten Zielgruppe definiert. Um den Erfolg des Projektes sicherzustellen, sollten entsprechende Evaluationsmaßnahmen bestimmt und durchgeführt wer‐ den. [a] Leistungs- und Produktpolitik (→ Kapitel 7.1.1) ■ Welche Präventionsintervention soll angeboten werden, in welcher Breite und Tiefe? ■ Welche Kernelemente und Zusatzelemente beinhaltet das Angebot? ■ Welche thematischen Schwerpunkte soll die Präventionsintervention abdecken? □ körperliche Gesundheit □ psychische Gesundheit □ soziale Gesundheit □ Gesundheitsförderung (Ressourcenstärkung) □ Verhaltensprävention - Ernährung - Bewegung - Sucht - Stress - Verhältnisprävention - Sonstiges ■ Welche genauen Inhalte sollen mit welcher Zielsetzung integriert bzw. vermittelt werden? ■ Welche einzelnen Bestandteile sollte die Präventionsintervention auf‐ weisen (z. B. Vermittlungsformen, didaktischen Elemente)? □ Edutainment (z. B. Gesundheitskurse) □ Infotainment (z. B. Selbsttest) □ Servotainment (z. B. Podcast) □ Gamifizierung (z. B. Spiele) □ Sonstige 247 9 Planung: Checkliste <?page no="248"?> [b] Prozesspolitik (→ Kapitel 7.1.2) ■ Welchen motivationsfördernden Maßnahmen (z. B. Lernstatus, Erfolgs‐ meldungen, Newsletter, Tipps, automatische Erinnerung) planen Sie für den kurz- und langfristigen Erfolg (Traffic, Verhaltensänderung) ein? ■ Werden die motivationsfördernden Maßnahmen an die Phasen einer möglichen Verhaltensänderung (TTM etc.) angepasst? [c] Preispolitik (→ Kapitel 7.1.3) ■ Wie wird das Projekt finanziert (Eigenfinanzierung, Fremdfinanzie‐ rung, Kooperation etc.)? ■ Zu welchem Preis wird die Intervention angeboten? Und welche Rabatte etc. werden ggf. gewährt? ■ Werden bei der eDistribution die im → Kapitel 7.1.3 beschriebenen Faktoren berücksichtigt bzw. Fragen beantwortet? [d] Distributionspolitik (→ Kapitel 7.1.4) ■ Werden bei der Definition der Übermittlung der Dienstleistung neben direkten auch indirekte Distributionswege berücksichtigt? ■ Berücksichtigt die Definition der Übermittlung der Dienstleistung auch wichtige Mulitplikatoren und Meinungsbildner? [e] Kommunikationspolitik (→ Kapitel 7.1.5) ■ Über welche Medien soll (warum) die Zielgruppe primär erreicht wer‐ den? □ klassische Medien (Fernsehen, Radio, Tageszeitung, Zeitschriften, Plakatwerbung etc.) □ Neue Medien (Internetseite, Apps, Podcasts, Mikroblogs, Videos, Soziale Netzwerke etc.) ■ Welche Möglichkeit der Dialogaufnahme wird der Zielgruppe angebo‐ ten? An welche Intention (Beratung, Service etc.) wird diese verknüpft? □ asynchron/ zeitversetzt (z. B. Newsletter, E-Mail, Twitter) □ synchron/ zeitgleich (z. B. Chat) □ Sonstiges 248 9 Planung: Checkliste <?page no="249"?> ■ Welche motivationsfördernden Maßnahmen (z. B. Lernstatus, Erfolgs‐ meldungen, automatische Erinnerungen) werden integriert? ■ Welche Sprache bzw. welches Sprachniveau wird entsprechend der definierten Zielgruppe (z. B. Kinder) verwendet? ■ Liegen eindeutige Datenschutzerklärungen zur individualisierten Ziel‐ gruppenansprache vor? ■ Werden gültige Datenschutzrichtlinien (entsprechend des Telemedien- und Bundesdatenschutzgesetzes) berücksichtigt? ■ Welche benutzerfreundlichen und niedrigschwelligen Aspekte müssen hinsichtlich des Designs und der jeweiligen Zielgruppenbedürfnisse berücksichtigt werden? [3] Branding (→ Kapitel 7.2) Ein weiterer wichtiger Bestandteil der operativen Marketingumsetzung stellt die Marketingbildung dar, denn Marken tragen zur kognitiven Entlas‐ tung bei und können das Verhalten beeinflussen. Um die Mission, die Vision und die Werte der Präventionsintervention transportieren zu können, müs‐ sen Marken mittels Text, Bild, Formen und Farben gestaltet und emotional aufgeladen werden. Hilfreich sind zudem die in → Tab. 35 dargestellten Fragen. ■ Besteht ein prägnanter und einprägsamer Name bzw. Slogan für das Präventionsprojekt? ■ Wurde die Innen- und Außensicht bei der Definition berücksichtigt (Pretest)? ■ Verbinden potenzielle Teilnehmer positive Assoziationen mit der Marke? ■ Werden Laien- oder Experten-Testimonials einbezogen und welche Ziele sind mit dem Einsatz verbunden? ■ Wurde die Markenfähigkeit des Namens geprüft und rechtlich beim Deutschen Patent- und Markenamt geschützt (Wort-Bild-Marke)? ■ Wurde eine Domain für die Marke gewählt und gesichert? [4] Qualitätssicherung, Evaluation und Kontrolle (→ Kapitel 8.2) Um den Erfolg des präventiven Projektes dauerhaft sicherzustellen, sollten frühzeitig Methoden zur Qualitätssicherung sowie Evaluationsmaßnahmen definiert und durchführt werden. Die Qualitätssicherung, Evaluation und 249 9 Planung: Checkliste <?page no="250"?> Kontrolle trägt über den gesamten Entwicklungs- und Umsetzungsprozess hinweg entscheidend zur Erfolgssicherung des Projektes bei. [a] Qualitätssicherung (→ Kapitel 8.2) ■ Aus welchen Fachdisziplinen (Medizin, Gesundheitswissenschaften, Pädagogik, Informatik, Psychologie, Recht etc.) werden Experten auf‐ grund des jeweiligen Schwerpunktes beteiligt? ■ Welche internen Abteilungen (Gesundheitsmanagement, Marketingab‐ teilung etc.) sollten einbezogen werden? ■ Sind Maßnahmen (z. B. Integration von Betroffenen und Multiplikato‐ ren, Akzeptanztest) für eine frühe Einbindung der Zielgruppe geplant? Wenn ja, wen binden Sie in Ihrem Fall genau ein und warum? ■ Wird die Partizipation beachtet (Einbeziehung von Betroffenen/ Selbst‐ hilfe)? ■ Wie wird die inhaltliche Qualität garantiert (z. B. evidenzbasierte Informationen) und diese seriös nach außen transparent gemacht? ■ Wie wird die Qualität der Intervention vor, während und nach der Einführung gesichert? [b] Evaluationen von Präventionsinterventionen (→ Kapitel 8.3) Evaluationen sind unabdingbar, um Präventionsinterventionen optimieren zu können und um dessen Existenz gegenüber Dritten rechtfertigen zu können. ■ Werden die Zeitpunkte für eine Evaluation definiert, um die Präventi‐ onsintervention optimieren und rechtfertigen zu können? ■ Werden Evaluationen durchgeführt und welche passenden Methoden werden gewählt? ■ Welche Konsequenzen werden aus den Evaluationen gezogen? [c] Kontrolle von Marketingmaßnahmen (→ Kapitel 8.4) Neben der Evaluation der Präventionsintervention und der damit verbunde‐ nen Erkenntnisse hinsichtlich der Akzeptanz, der Verhaltensänderung sowie der gesundheitlichen Effekte sollten alle Marketingmaßnahmen kontrolliert werden, um Optimierungen vornehmen zu können. 250 9 Planung: Checkliste <?page no="251"?> ■ Wird vorab genau festgelegt, wie und wann die Kontrolle der einzelnen Marketingmaßnahmen erfolgen soll? ■ Mit welchen genauen Kennzahlen wird der Erfolg des Projektes über‐ prüft und warum? Wurde die Sinnhaftigkeit der ausgewählten Kenn‐ zahlen hinterfragt? ■ Wird ein Marketing-Audit durchgeführt? ■ Welche Form des Marketing-Audits wird gewählt und wird von wem und zu welchem Zeitpunkt durchgeführt? 251 9 Planung: Checkliste <?page no="253"?> Literaturverzeichnis Ahlert D, Hesse J (2002). Relationship Management im Beziehungsnetz zwischen Hersteller, Händler und Verbraucher. 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Anreiz-Marketing 70 Anreizsysteme, ökonomische 47 Ansoff-Matrix 143 Appelle 91 ASIDAS-Formel 199 asismedium 155 Assoziationen 91 Attraktivitätsverstärker 178 Aufrechterhaltung 182 Bahnung 94 Barrieren - Teilnahmebarrieren 231 Basisberichte 24 Bedarfslebenszyklus 133 Bedürfnisanalyse 175 Bedürfnisdimensionen 62 Befindlichkeiten 207 Belästigungseffekt 71 Belohnungseffekt 154 Below-the-Line 201 Benchmarking 132 Beschwerdemanagement 178 Bestrafungssysteme, ökonomische 47 Bevölkerungsgruppenstrategie 153 Beziehungsintensität 182 Bildüberlegenheitseffekt 203 Bottom-up-Prinzip 42 Branding 207 Bundesdatenschutzgesetze 110 caregiving burden 23 Celebrity Endorsement 208 Challenges 54 Chancengleichheit 176 Checklisten 245 chronische Erkrankungen 22 chronisches Aufschiebeverhalten 85 Churn-Analyse 184 Commitment 185 Content-Marketing 178 Coping 61 Co-Produktion 178 Countermarketing 70 COVID-19 25, 73, 94, 97f., 100f. Cross-Selling-Effekte 217 customer confusion 208 customer resignation 208 Customer-Touch-Points 185 Datenqualität 120 Datenquellen 120 Default-System 99 De-Marketing 70 <?page no="288"?> digitale Kluft 52 digitale Kluft (digital divide) 52 DISCERN-Kriterien 203 Diskiminierungseffekt 72 Diskriminierung 72, 108 Distributionspolitik 109, 118, 193 Diversifikation 143 DPMA-Register 219 EAST-Gestaltungsmodell 103, 105 eDistribution 196 edukative Verfahren 47 Edutainment 54 Effektivität 233 efficiency 233 Effizienz 233 Einzelmarken 208 Einzelreputation 213 Einzigartigkeit 134 Emotionsschwerpunkten 88 Endemie 26 Entanonymisierung 158 Entpersonalisierungseffekt 72 Entscheidungsarchitektur 99 Entwertungseffekt 72 Epidemie 26, 31 Epidemiologie 23 Erfahrungsberichte 60 Ernährung 42 erster Gesundheitsmarkt 37 Erwartungstypen 79 Evaluation 228f. Evaluation, formative 231 Evaluation, fremd 232 Evaluation, selbst 231 Evaluation, summative 231 Experten-Testimonial 208 Fatshaming 108 Fesselungseffekt 72 First-Mover-Strategy 149 Fluktuation 236 Frames 92 episodische 93f. Gewinn- 93 Medien- 93 thematische 93f. Verlust- 93 Framing 92f., 98, 172 attributives 92 bei riskanten Entscheidungen 93 Handlungs- 93 Framing-Effekt 93 Frühe-Folger-Strategie 149 Frühwarnindikatoren 184 Gamification 53 Gebundenheit 185 Gefühle 87 Gegenleistungspolitik 187 Gemeinschaftsprogramm 175 Gesamtreputation 213 Geschlecht 42 Geschlechterperspektive 176 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 192 Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention 36 Gesundheit 77 Gesundheits-Apps 52 Gesundheitsberichterstattung 23 gesundheitsförderndes Setting 164 Gesundheitsförderung 41 Gesundheitsförderung, betriebliche 165 Gesundheitsförderung, 288 Register <?page no="289"?> Umsetzungsstrategien 165 Gesundheitsförderung in einem Setting 164 Gesundheitsmarketing 69 Gesundheitsmarkt, erster und zweiter 37 Gesundheitsmythos 98 Gesundheitspolitik 32 Gesundheitsreport 24 Gesundheitsziele 33 Gewinn-Rechner 54 Gewohnheiten 78 Gewohnheitsmuster 183 Glaubwürdigkeit 60 Good-Practices-Kriterien 223 Gratulationsboni 177 Gruppenprophylaxe 167 Gütekriterien 120 Handlung 182 Handlungsfelder 46 Handlungsziele 62 Health Claims 111 health edutainment 54 Health Gains 35 Health Literarcy 153 Healthy User 63 Herdenimmunität 27 Hirnforschung 86 hitzebezogene Erkrankungen 29 Hochrisikopersonenstrategie 160 Holy Four 42 HTA-Berichte 119 illusorischer Wahrheitseffekt 98 Inanspruchnahmeverhalten 59 Indikatoren 234 Indikatoren, fremdlaufende 234 Indikatoren, nachlaufende 234 Indiskretionseffekt 71 indizierte Prävention 46 Infektionskrankheiten 25-28, 36 Influencer-Marketing 199 Infotainment 54 Input-Signalen 213 Inside-Out-Perspektive 215 Intentions-Verhaltens-Lücke 84f. Interventionsinstanz 99 Interventionstypus 175 Intimitätsmotiv 82 Involvement 202 Kampagnen, handlungsorientierte 70 Kampagnen, kognitive 70 Kernleistungen 174 Klimaresilienz 31 Klimawandel 28ff. Kohärenzgefühl 20 Kollektivmarken 208 Kommunikationsinhalte 202 Kommunikationsobjekt 197 Kommunikationspolitik 110, 197 Kommunikationsstrategie 198 Kommunikationssubjekt 197 Kontra-Marketing 70 Kontrolle 233 Kontrolle, Feedback 233 Kontrolle, Feedforward 233 kortikale Entlastung 208 Kosten-Nutzen-Betrachtung 229 Laienhelfer 158 Laien-Testimonial 209 Late-to-Market-Strategy 149 Lebensbedarfszyklusanalyse 175 lebensphasenbezogene 289 Register <?page no="290"?> Präventionsbedarf 205 Lebensqualität 19, 231 Lebenszyklusanalyse 132 Leistung 218 Leistungsmotiv 82 Leistungspolitik 172 Leistungsvorteile 148 Leitfaden Prävention 42 Lernstrategien 61 Lifestylefaktoren 42 Lösungsorientierung 61 Lustgewinn 62 Machtmotiv 82f. Marke 207, 213 Markenbekanntheit 210 Markenidentität 209 Markenimage 208 Markenversprechen 212 Marketing-Audit 241 Marketing-Mix 171f. Marketing-Strategie 142 Marketing-Strategien, undifferenzierte 153 Marketingziele 138 Marktabdeckung 146 Marktanalyse 129 Marktarealstrategie 142, 144 Marktfeldstrategie 142 Marktforschung 117 Marktforschung, qualitative 120 Marktforschung, quantitative 120 Markting-Mix 117 Marktsegmentierung 136 Marktsegmentierungsstrategie 145 Marktsegmentierungsstrategien 142 Marktstimulierungsstrategie 142 Massenmarktstrategie 153 Massenmedien 215 Mehrwerte 177 Meinungsbildner 193 Messmethoden direkte 235 indirekte 235 Meta-Analyse 119 Migranten 158 Minderjährige 123 MINDSPACE-Modell 103ff., 107 Mitarbeiterzufriedenheit 238 moments of truth 185 Morbiditätsexpansion-These 38 Morbiditätskompression-These 38 Motivationssystem 62 Motiv-Systeme 89 Multi-Channel-Marketing 155 Multiplikatoren 193 Nachfrage-Sog 158 nicht-übertragbaren Krankheiten 22 Non-Profit-Unternehmen 191 normativ-regulatorische Verfahren 47 Nudging 98 Ökonomisierung 60 Ökonomisierungseffekt 72 Online-Kurse 109 Online-Medien 51 Opt-in-Verfahren 110 Opt-out-Verfahren 110 Orchestrierung (Marketing) 168 Output-Signale 213 Outside-in-Perspektive 215 Pandemie 26, 28, 73, 97f., 100 Paternalismus 106 performance → Leistung 290 Register <?page no="291"?> Performance 218 Permission Marketing 204 Personenverstärker 178 Pionierstrategie 149 Potenzialziele 198 Präferenzstrategie 147 Prävention 41 Prävention, Akteure 44 Prävention, Dilemmas 57 Prävention, indizierte 46 Prävention, Interventionen 157 Prävention, Leitfaden 42 Prävention, primär, sekundär, tertiär 46 Prävention, selektive 46 Prävention, universelle 46 Prävention, Verhalten 163 Prävention, Zentrale Prüfstelle für 43 Präventionsgesetz 36 Präventionsstatuslevel 177 Preisbestimmung 189 Preisbündelung 189 Preisdifferenzierung 188 Preisemotionen 190 Preis-Mengen-Strategie 147 Preispolitik 117, 187 Preisvorteil 147 Primärforschung 118 Primärprävention 46 Primary-Effekt 97 Primes olfaktorische 96 visuelle 96 Priming 92, 94ff., 98, 103, 105 affektives 95 konzeptionelles 95 prozedurales 95 semantisches 95 Problemorientierung 61 Produkt-Marken-Audit 242 Produktpolitik 109, 117, 172 Profi-Marketing 74 Programmbreite 173 Programmevaluation 229 Programmtiefe 173 Programmtypen 176 Prokrastination 85, 98 pro-self nudges 99 pro-social nudges 99 Prozessorientierung 179 Prozesspolitik 179 Public Voice 206 Pull-Strategie 200 Push-Strategie 200 Qualität 180, 225 Qualitätsdimensionen 225 Qualitätsentwicklung 225 Qualitätsführerschaft 187 Qualitätssicherung 225 Qualitätstransparenz 77 Qualitätsvorteile 147 RABE-Parameter 42 Random-Verfahren 124 Reaktanz 72 Reason Why 134 Recency-Effekt 97 Reduktionsmarketing 70 Reichtum 58 Reihenfolgepositionseffekt 97 Rekrutierung, aktive und passive 158 Reputation 213f. Einzelreputation 213 Reputationsrisiken 217 Responsequote 121 Risiko-Chancen-Analyse 129 291 Register <?page no="292"?> Risikofaktoren 23, 42 Risikopersonenstrategie 157 Roadshow 158 Rubikonmodell 80 Rückfall 183 Rückfallprophylaxe 55, 183 RUMBA-Regel 140 Salutogenese 20 Schönheitsideale 159 Second-to-Market-Strategy 149 Segmentierung 136 Segmentierungsmodelle 204 Sekundärdaten 119 Sekundärforschung 118 Sekundärprävention 46 Selbstmanagement 161 Selbsttest 54 Selbstwirksamkeit 41, 78, 81 selektive Prävention 46 serieller Positionseffekt 97 Serious Games 54 SERVQUAL-Ansatz 180 Setting, gesundheitsfördernd 164 Settingansatz 164 Settingsinterventionen 164 Sinus-Milieus 203 Situationsanalyse 129 SMART-Prinzip 139 Social Media 54 Sozialdatenschutz 111 Sozialgeheimnis 111 Sozialmarketing 69 Spät-Folger-Strategie 149 Standards 46 Stärken-Schwächen-Analyse 129 Statistiken 24 stellvertretende Erfahrungen 203 Stichprobe 124 Stimlierungsstrategie 200 stimmungskonkruente Erinnerung 96 Stimulierungsmarketing 70 Strategic-Fit-Analyse 129 Stress 42 Survey 24, 119 SWOT-Analyse 131 Tabakkonsum 78 Target Marketing 136 Teilnahmeanreiz 208 Teilnehmerbindung 184 Teilnehmerfluktuation 236 Teilnehmergewinnung 182 Teilnehmergruppen 199 Teilnehmerlebenszyklus 133 Teilnehmerzufriedenheit 238 Termination 182 Tertiärprävention 46 Testimonial 208 Top-down-Prinzip 41 Tracking-Apps 54 Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (TTM) 182 Überrechtfertigungseffekt 81 Umfeldanalyse 129 Umweltanalyse 129 Ungleichheiten, gesundheitliche 58 Unique Advertising Propostion (UAP) 135 Unique Communcation Proposition (UCP) 135 Unique Marketing Proposition (UMP) 135 Unique Selling Propositon (USP) 134 universelle Prävention 46 292 Register <?page no="293"?> Unlustvermeidung 62 Unque Passion Proposition (UPP) 135 Ursachen-Wirkungs-Kette 159 Variety-Seeking 61 Verbundenheit 185 Verdrängungseffekt 81 Verhaltensänderung 182 Verhaltensbarrieren 198 Verhaltenskampagnen 71 Verhaltensprävention 162 Verstärker, materielle 178 Victim Blaming 59 Volition 81 Vorbereitung 182 Vorsätze, gute 188 Wechselanreize 77 Wechselbarriere 77 Wenn-Dann-Pläne 85 Werbeslogan 90 Wertekampagnen 71 Wettbewerbsanalyse 129 Wirtschaftlichkeit 234 Zentrale Prüfstelle für Prävention 43 Ziele Annäherungsziele 62 Unternehmensziele 212, 238 Vermeidungsziele 62 Zielgrößen 139 Zielgruppenbedürfnisse 215 Zielgruppenorientierung 89 Zielprioritäten 176 Zufallsauswahl 124 Zufriedenheit 238 Zusatzleistungen 174 Zusatzmedum 155 zweiter Gesundheitsmarkt 37 293 Register <?page no="294"?> BUCHTIPP Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch, Friedrich Schorb Soziologie der Gesundheit 1. Auflage 2018, 288 Seiten €[D] 28,90 ISBN 978-3-8252-4741-6 eISBN 978-3-8385-4741-1 Haben Sie sich auch schon gefragt, warum Gesundheit heute eine so große Rolle spielt? Welche Ängste, Wünsche, Interessen und Machtverhältnisse hinter dem Bedeutungsgewinn von Gesundheit stehen? Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb regen zum Nachdenken an: Sie skizzieren, wie Gesundheit zur Wissenschaft wurde und wie soziale und gesundheitliche Ungleichheit zusammenhängen. Sie fragen, welche Folgen es hat, wenn immer mehr Phänomene zu Krankheiten erklärt werden und wenn die Frage „gesund oder ungesund“ zur moralischen Leitfrage wird. Darüber hinaus beschreiben sie, welche Auswirkungen Normen und Werte auf unser Verständnis von Gesundheit haben und wie unsere Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit die Wahrnehmung von Gesundheit und Körperempfinden beeinflusst. Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Gesundheitswissenschaften und Public Health sowie der Medizin und der Soziologie. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="295"?> BUCHTIPP Reinhard Strametz Grundwissen Medizin für Nichtmediziner in Studium und Praxis 5., überarbeitete Auflage 2021, ca. 270 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-5774-3 eISBN 978-3-8385-5774-8 Reinhard Strametz stellt medizinisches Grundwissen fundiert und leicht verständlich vor und führt kundig in Fachtermini ein. In den Mittelpunkt stellt er u.a. den Ablauf des medizinischen Behandlungsprozesses von der Anamnese bis zur Therapie sowie wichtige Methoden und Ansätze der Medizin, etwa die Evidenzbasierte Medizin und die Prävention. Auf Krankheitsbilder, wie etwa Adipositas, Diabetes mellitus, Schlaganfall und Krebs, geht er ebenso ein, wie auf Pandemien und das Coronavirus SARS-CoV-2 (Covid-19). Auch Spannungsfelder der Medizin, die sich aus der Ökonomisierung und Digitalisierung (z.B. Künstliche Intelligenz, Apps) ergeben, finden Beachtung. Die 5. Auflage wurde komplett überarbeitet und in den Bereichen Diabetes, Covid-19 und Regelungen zum assistierten Suizid überarbeitet und erweitert. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="296"?> ISBN 978-3-8252-5901-3 Gesundheitsverhalten positiv beeinflussen Rauchen, Bewegungsmangel, falsche Ernährung und Stress, aber auch medizinische Vorsorge, Impfungen und die AHA-Regel: Prävention und Gesundheitsförderung gewinnen zunehmend an Bedeutung. Viviane Scherenberg beleuchtet praxisorientiert die Hintergründe, Möglichkeiten und Anwendungsfelder des Präventionsmarketings - angefangen bei der zielgruppenspezifischen Konzeption bis hin zur Evaluation. Das Buch richtet sich sowohl an Studierende der Gesundheitswissenschaften und des Marketings als auch an Praktiker: innen aus dem Gesundheitswesen und der betrieblichen Gesundheitsförderung. Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Gesundheitswissenschaften, Pflegewissenschaften, Marketing