Einführung in die Angewandte Ethik
1017
2022
978-3-8385-5902-5
978-3-8252-5902-0
UTB
Dagmar Fenner
10.36198/9783838559025
Der Bedarf an ethischer Orientierung ist durch den enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert stark gestiegen. Die noch junge philosophische Disziplin der Angewandten Ethik versucht, mittels einer kritischen Analyse der Positionen und Argumente zur Lösung aktueller moralischer Konflikte in der Gesellschaft beizutragen.
Dieser Band führt mit vielen Anschauungsbeispielen in die Grundlagen und die wichtigsten Bereichsethiken der Angewandten Ethik ein: Medizinethik, Naturethik (Umwelt- und Tierethik), Wissenschaftsethik, Technikethik, Medienethik und Wirtschaftsethik. Die völlig überarbeitete Zweitauflage berücksichtigt neue Entwicklungen in den verschiedenen Handlungsbereichen. So wurde z.B. ein neues Kapitel zur Robotik eingefügt (Wissenschaftsethik), und Internetethik (Medienethik) und Tierethik ( Naturethik) wurden erheblich ausgebaut.
Stimmen zum Buch
"Die Autorin hat ein Werk vorgelegt, das überaus geeignet erscheint zum Standardwerk hinsichtlich der Angewandten Ethik zu werden. Es überzeugt durch seinen profunden Kenntnisreichtum und die starke Praxisorientierung." (socialnet.de)
"[A]ls zuverlässige Übersicht über die gängigen Positionen der Angewandten Ethik unbedingt zu empfehlen." (tier-im-focus.ch)
<?page no="0"?> Dagmar Fenner Einführung in die Angewandte Ethik 2. Auflage <?page no="1"?> utb 3364 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 UTB (M) Impressum_03_22.indd 1 23.03.2022 10: 23: 51 23.03.2022 10: 23: 51 <?page no="2"?> Prof. Dr. Dagmar Fenner ist Titularprofessorin am Departement Künste, Medien, Philosophie der Universität Basel und Lehrbeauftragte für Ethik an verschiedenen deutschen Universitäten und Hochschulen. Sie ist Autorin zahlreicher philoso‐ phischer Bücher, die sich auch an ein größeres Publikum richten. Als utb erschienen sind von ihr bereits „Selbstoptimierung und Enhancement. Ein ethischer Grundriss“ (2019) und „Ethik. Wie soll ich handeln? “ (Zweitauflage 2020). <?page no="3"?> Dagmar Fenner Einführung in die Angewandte Ethik 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2022 1. Auflage 2010 DOI: https: / / www.doi.org/ 10.36198/ 9783838559025 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 3364 ISBN 978-3-8252-5902-0 (Print) ISBN 978-3-8385-5902-5 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5902-0 (ePub) Umschlagabbildung: Chirurgen diskutieren am Tisch im Sitzungsraum © Nomad/ iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 1 11 1.1 12 1.2 23 1.3 41 1.4 50 2 57 2.1 69 2.2 77 2.3 94 2.4 121 2.5 130 3 137 3.1 146 3.1.1 147 3.1.2 154 3.1.3 162 3.2 166 3.2.1 170 3.2.2 176 3.2.3 183 3.3 192 4 203 4.1 210 4.2 218 4.3 239 4.4 245 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Angewandte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen . . . . . . . . . . . . . . Bereichsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterbehilfe und Suizidbeihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin . . . Organtransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechtigkeit im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturethik (Umwelt- und Tierethik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumentelle Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eudaimonistische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralpädagogisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathozentrismus und Sentientismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökozentrismus und Holismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsfall: Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos . . . . . . . . . . . . Externe Verantwortung: Folgenverantwortung . . . . . . . . . . Humanexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tierversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 5 255 5.1 270 5.2 277 5.3 284 5.4 299 6 313 6.1 324 6.1.1 331 6.1.2 345 6.1.3 364 6.2 368 6.2.1 370 6.2.2 373 6.3 375 7 397 7.1 416 7.1.1 418 7.1.2 436 7.1.3 442 7.2 446 7.3 459 8 469 475 505 511 Technikethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermeintliche Neutralität der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . Techniksteuerung und Verantwortungsteilung . . . . . . . . . . Anwendungsfall 1: Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsfall 2: Robotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produzentenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachrichten und Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezipientenethik (Publikums-/ Nutzungsethik) . . . . . . . . . . Individualethische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialethische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetethik (Prosumentenethik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftsliberalismus: Freie Marktwirtschaft . . . . . . . . . Planwirtschaftlicher Sozialismus: Zentralplanwirtschaft . . Bürgerliberalismus: Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . Mesoebene: Unternehmensethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mikroebene: Mitarbeiter-, Führungs- und Konsumentenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Diese Einführung in die anwendungsorientierte oder „Angewandte Ethik“ gibt einen Überblick über die wichtigsten Anwendungsbereiche der Ethik mit den maßgeblichen aktuellen Diskussionsthemen, Positionen und Argu‐ menten. Grundkenntnisse in der begründungsorientierten, normbegründ‐ enden „Allgemeinen Ethik“ sind für die Lektüre von Vorteil, aber nicht Voraussetzung. Für ein vertiefendes Studium der theoretischen Grundlagen eignet sich meine UTBbasics-Einführung Ethik. Wie soll ich handeln? , die einen systematischen Überblick über die wichtigsten ethischen Theorien und Begründungsmethoden bietet. Wo im Text auf diesen 2020 neu aufge‐ legten Band verwiesen wird, steht statt Autorenname und Jahreszahl wie bei den anderen Literaturverweisen lediglich das Kürzel: Ethik. Die nun vorliegende vollständig überarbeitete und aktualisierte Zweitauf‐ lage der Einführung in die Angewandte Ethik berücksichtigt nicht nur neuere Entwicklungen in bestimmten Bereichsethiken wie z. B. der Tier-, Technik- oder Internetethik und entsprechende neue Regelungen und Normen. Sie stellt vielmehr auch in sprachlicher und struktureller Hinsicht in großen Teilen einen neuen Text dar. Die Kapitel zu den einzelnen Themenfeldern oder „Bereichsethiken“ wie Medizin-, Medien- oder Wirtschaftsethik sind so konzipiert, dass sie je nach Interessenlage auch einzeln gelesen werden können. Dank einer schlichten, unkomplizierten Sprache und zahlreichen konkreten Diskussionsbeispielen aus der moralischen Alltagspraxis ent‐ stand ein gut lesbarer, anschaulicher und spannender Text, der sich nicht nur an Studierende und Dozierende richtet, sondern an alle ethisch interes‐ sierten Bürger und Entscheidungsträger. (Obgleich der Einfachheit halber nur das generische Maskulinum verwendet wird, sind stets alle möglichen Geschlechtsidentitäten mitgemeint.) Eine Einführung in die Angewandte Ethik ist deswegen ein äußerst schwieriges Unterfangen, weil ein kompetentes ethisches Urteil in den verschiedenen Handlungsbereichen jeweils ein erhebliches Fach- und Fak‐ tenwissen erfordert. Den ganzen aktuellen Forschungsstand in sämtlichen Handlungsfeldern lückenlos aufzuarbeiten und zusammenzufassen, ist an‐ gesichts der immensen Fülle an Literatur schlechterdings unmöglich. Als außerordentlich hilfreich erwiesen sich Einführungen und v. a. Handbü‐ cher zu den einzelnen Themenfeldern mit Artikeln von verschiedenen <?page no="8"?> ausgewiesenen Wissenschaftlern, die sich allerdings ausschließlich an ein akademisches Fachpublikum richten. Inspirierend und lehrreich waren für mich auch die intensiven Diskussionen in meinen regelmäßigen transdiszi‐ plinären Seminaren und Workshops an den Universitäten Basel, Tübingen, Kassel und Frankfurt zur Medizin-, Medien- und Wissenschaftsethik sowie den Blockseminaren „Ethisches Argumentieren in der Praxis. Bausteine zur begründeten Entscheidungsfindung“ an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg. Um die Korrektheit der Darlegun‐ gen bestmöglich sicherzustellen, war darüber hinaus der Austausch mit Spezialisten unverzichtbar. Mein großer Dank gilt folgenden namhaften Professoren und Experten für die einzelnen Bereichsethiken, die sich bereit erklärten, die entsprechenden Kapitel der Erstauflage sorgfältig durchzuse‐ hen und kritisch zu kommentieren: Medizinethik: (Kap. 2) Prof. Dr. med. Georg Marckmann, (Ludwig-Maximili‐ ans-Universität München) Naturethik: (Kap. 3) Prof. em. Dr. phil. Dieter Birnbacher (Universität Düssel‐ dorf) Wissenschaftsethik: (Kap. 4) Prof. em. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Hans Lenk (Universität Karlsruhe) Technikethik: (Kap. 5) Prof. em. Dr. Ing. Günter Ropohl (Universität Frankfurt) Medienethik: (Kap. 6) Prof. em. Dr. Rüdiger Funiok (Hochschule für Philoso‐ phie in München) Wirtschaftsethik: (Kap. 7) Prof. em. Dr. rer. Pol. Peter Ulrich (Institut für Wirt‐ schaftsethik der Universität St. Gallen) Einen außerordentlichen Zuwachs an Aufmerksamkeit erfuhr im letzten Jahrzehnt der sich als immer problematischer erweisende Umgang mit der außermenschlichen Natur. In der Angewandten Ethik wird der Teilbe‐ reich der „Naturethik“ heute meist weiter unterteilt in eine Umwelt- und Tierethik. Für die Lektüre, die vielen Anregungen und Diskussionen des entsprechenden Kapitels der Neuauflage danke ich ganz herzlich der Tübin‐ ger Umweltethikerin Uta Eser und dem Ethikdozenten und Mitarbeiter der Pharmazeutischen Biologie der Universität Tübingen Wolfgang Kornberger. 8 Vorwort <?page no="9"?> Im Zuge der Digitalisierung kam es zwischenzeitlich auch zu erheblichen Veränderungen im Gegenstandsbereich der Medien- und Technikethik. Die neu geschriebenen bzw. stark überarbeiteten Kapitel zur Robotik (Kap. 5.4) und zur Medienethik, insbesondere der Internetethik (Kap. 6.3), wurden dan‐ kenswerterweise begutachtet von PD Dr. Jessica Heesen, Medienethikerin an der Universität Tübingen, und Prof. Karoline Reinhardt, Juniorprofesso‐ rin für Angewandte Ethik an der Universität Passau. 9 Vorwort <?page no="11"?> 1 Einleitung Die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik eröff‐ net den Menschen viele neue Handlungsmöglichkeiten. Sie sind teilweise mit erheblichen ethischen Schwierigkeiten und Konflikten verknüpft, die durch die bestehenden Rechtsnormen und traditionellen moralischen Nor‐ men nicht geregelt werden. Viele neue ethische Fragestellungen beziehen sich auf Handlungsbereiche, die erst seit wenigen Jahren oder Jahrzehnten überhaupt offenstehen oder die erst jetzt als ethisch relevant betrachtet werden: Sollen neue Biotechnologien wie z. B. die Gentechnik für Mani‐ pulationen am Erbgut von Embryonen oder Erwachsenen mittels einer Genschere angewandt werden, obgleich die Risiken schwer abschätzbar sind und die Würde der Lebewesen verletzt werden könnte? Kommt es durch immer einfachere Möglichkeiten der pränatalen und Präimplanta‐ tionsdiagnostik nicht zu einer vorgeburtlichen „Qualitätsprüfung“ und gezielten Selektion der Embryonen? Fördert die egalitäre interaktive Struktur und emanzipatorische Kraft des Internets die Demokratie mit öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen oder führt sie ganz im Gegenteil zum Zerfall der Öffentlichkeit in Filterblasen und Blogs mit Radikalisierungstendenzen und sinkender moralischer Hemmschwelle? Dürfen weiterhin Autoabgase und Kohlendioxide aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre entlassen werden, die den fort‐ schreitenden Klimawandel mit weltweiten verheerenden Folgen verstär‐ ken? Ist der Fleischkonsum noch zu verantworten angesichts der desas‐ trösen Öko-Bilanz und der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Tiere in der industriellen Massentierhaltung infolge der zunehmen‐ den Technisierung? Wie ist der Einzug von künstlicher Intelligenz in immer mehr Lebensbereiche wie z. B. beim Autonomen Fahren oder beim Einsatz von Pflegerobotern in einer alternden Gesellschaft zu bewerten? Ist es ethisch vertretbar, im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft die Handelsware Tausende von Kilometern weit von einem Land ins andere zu transportieren, um höhere Gewinne zu erzielen? Alle diese gegenwartsdringlichen Fragen zeigen komplexe gesellschaft‐ liche Problemfelder auf. Sie lassen sich letztlich alle auf die Grundfrage der philosophischen Ethik zurückführen: „Wie sollen wir handeln? “ bzw. „Welches Handeln ist gut oder richtig? “. Gerade angesichts der <?page no="12"?> hohen Risiken der in Frage stehenden Handlungsweisen müssen in der Praxis oft rasch konkrete Lösungen und Regelungen gefunden werden. Infolge des gestiegenen praktischen Orientierungsbedarfs setzen viele in der Politik und in der Öffentlichkeit ihre Hoffnung auf die Ethik und insbesondere die noch junge Angewandte Ethik. Überall werden Ethik-Kommissionen, Ethik-Räte und Gremien ins Leben gerufen und in‐ stitutionalisiert, sodass bisweilen von einem Ethik-Boom die Rede ist. Nur wenige der zur Diskussion stehenden Probleme sind dabei ausschließlich eine Sache der privaten Lebensführung, des persönlichen guten Lebens. Es geht meist nicht oder nicht allein um das Wohl Einzelner, sondern das Wohl der Gemeinschaft und oft sogar die natürliche Lebensgrundlage aller Lebewesen. Die Probleme sprengen aber auch insofern den privaten Entscheidungsbereich von Individuen, als nach Handlungsorientierungen für eine ganze Gemeinschaft gesucht wird: Es handelt sich um öffentliche Angelegenheiten, die allgemeine ethische Richtlinien erfordern. Daher entfachen sie breite und lebhafte öffentliche Debatten, die allzu oft sehr emotional ausgetragen werden. Das vorliegende Buch möchte einen Bei‐ trag zur Versachlichung dieser Diskussionen leisten, indem es die Stand‐ punkte und Argumentationen bezüglich der verschiedenen Streitfragen systematisch dargelegt und sachlich analysiert. Die verschiedenen Beur‐ teilungsperspektiven werden freigelegt und auf ihre Voraussetzungen oder Hintergrundannahmen hin geprüft. Es wird gezeigt, wie sich die Stichhaltigkeit von Begründungen und Positionen kritisch hinterfragen und die Pro- und Kontra-Argumente gegeneinander abwägen lassen. Ziel ist es, die Leser für die drängenden ethischen Probleme unserer Gesellschaft zu sensibilisieren, ihr persönliches ethisches Urteilsvermögen zu schärfen und ihnen eine eigene klare und begründete Stellungnahme zu aktuellen ethischen Fragen zu ermöglichen. 1.1 Ethik und Angewandte Ethik Die Ethik versucht ganz generell die Frage zu beantworten, wie die Menschen handeln sollen. Anders als die theologische Ethik setzt die philosophische säkulare Ethik bei der Beantwortung dieser Frage keinen Glauben an eine bestimmte Religion voraus. Sie verzichtet auf jeden Rückgriff auf heilige Texte oder einen göttlichen Willen und appelliert ausschließlich an die kritische Vernunft der Menschen. Die philosophi‐ 12 1 Einleitung <?page no="13"?> sche Ethik ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipen oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln zu begründen sucht (vgl. Ethik, 18). Im Unterschied zur theoretischen Philosophie, die sich dem „Sein“, also dem, was ist, widmet, beschäftigt sich die praktische Philosophie mit dem „Sollen“, d. h. den Empfehlungen oder Vorschriften bezüglich des Handelns. Sie zielt nicht wie jene auf theoretisches Wissen und auf das Ideal der Wahrheit ab, sondern auf praktische Orientierung und die Idee des Guten oder normativ Richtigen. Ihre Grundfrage lautet nicht „Was kann ich wissen? “ oder „Was kann ich erkennen? “, sondern „Was soll ich tun? “ bzw. „Warum ist es gut, dies oder jenes zu tun? “. Diese ethische Grundfrage lässt sich entweder mit Blick auf die persönliche Lebensführung und die Eigeninteressen der handelnden Person stellen (prudentielle Perspektive) oder aber hinsichtlich dessen, was mit Blick auf die Gemeinschaft als Ganze oder die Interessen aller Betroffenen das Beste wäre (moralische Perspektive). Wo es um das für das Individuum Gute, um sein persönliches Glück oder gutes Leben geht, spricht man von Individual- oder Strebensethik oder auch von Ethik des guten Lebens. Steht hingegen das für die Gemeinschaft Gute oder Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen im Zentrum, nimmt man die Perspektive der Sozialethik, Sollensethik oder Moralphilosophie ein. Es werden für diese beiden grundlegenden Perspektiven oder Dimensionen in der Ethik auch die Attribute „prudentiell“ und „moralisch“ verwendet (vgl. Ethik, 21 f.). Es soll noch angemerkt werden, dass mit dieser Ethik-Definition genau genommen die normative Ethik bestimmt worden ist. Neben einer „nor‐ mativen Ethik“ gibt es nämlich auch noch die „deskriptive“ sowie eine „Metaethik“ (vgl. ebd., 19 f.): Die deskriptive Ethik beschreibt lediglich, welche Wertvorstellungen und Normen in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft tatsächlich galten oder gelten. Man stellt also beispiels‐ weise fest, dass in christlichen Gemeinschaften die Selbsttötung verboten ist oder bei gewissen Völkern der Innuit alte, schwache Menschen in den Tod geschickt wurden. Solche deskriptiven Aussagen gehören eher zum Aufgabenbereich eines empirisch arbeitenden Soziologen oder Ethnolo‐ gen als eines Philosophen. Demgegenüber analysiert die Metaethik als Wissenschaftstheorie der Ethik die ethischen Grundbegriffe und Begrün‐ dungsmethoden, etwa die Termini „sollen“ oder „gut“. Wer normative Ethik betreibt, kommt um wenigstens rudimentäre metaethische Erwä‐ 13 1.1 Ethik und Angewandte Ethik <?page no="14"?> gungen nicht herum. Denn die Klärung der sprachlichen Grundlagen und der Möglichkeiten ethischer Begründung ist für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Ethik unverzichtbar. Wenn im Folgenden von „Ethik“ die Rede ist, soll aber in erster Linie die normative Ethik als Kernbereich dieser Disziplin gemeint sein. Unter Moral versteht man in der Neuzeit meist die Gesamtheit der Normen zur Regelung des Zusammenlebens, die in einer Gemeinschaft gelten oder gelten sollen (vgl. Steigleder 2006, 16). Normen sind Handlungs‐ regeln in Form von Geboten oder Verboten wie etwa „Du sollst nicht lügen! “, „Du sollst Notleidenden helfen! “ oder „Du sollst nicht töten! “. Anspruch einer Moral ist es, die Interessen der potentiell vom Handeln Betroffenen zu schützen und eine gerechte Form des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft zu ermöglichen. Sie teilt mit der Sozialethik also das moralische Anliegen des richtigen oder verantwortungsvollen Umgangs miteinander. Im Unterschied zu solchen situationsspezifischen Normen der Moral gibt die Sozialethik oder Moralphilosophie aber keine direkten Handlungsanleitungen für konkrete Einzelhandlungen vor. Sie entwickelt vielmehr auf einer allgemeineren Ebene Prinzipien oder Kriterien, um konkrete Handlungen oder faktisch geltende Normen zu beurteilen. Auf dieser abstrakten Ebene geht es etwa um die Begründung von Prinzipien wie „Menschenwürde“, „Autonomie“ oder „Gerechtigkeit“. Neben solchen inhaltlichen Prinzipien suchte man in der Philosophiegeschichte stets auch nach höchsten Moralprinzipien wie z. B. dem Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, aus denen man sämtliche Prinzipien und Normen für das menschliche Handeln ableiten kann. Die Ethik bzw. Moralphilosophie befindet sich also auf einer höheren Reflexionsebene als die gelebte Moral und hinterfragt und prüft anhand solcher Prinzipien, welche in einer Ge‐ meinschaft anerkannten oder neu einzuführenden moralischen Normen den Anspruch auf ethische Legitimität erheben können. Die Moralphilosophie bzw. Sozialethik lässt sich auch aufgrund ihres höheren methodischen Anspruchs z. B. an das rationale Argumentieren als „Wissenschaft der Moral“ bezeichnen (vgl. Ethik, 19). 14 1 Einleitung <?page no="15"?> Ethik: Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipien oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage zu begründen sucht, wie man handeln soll Individual-/ Strebensethik/ Ethik des guten Lebens Sozial-/ Sollensethik/ Moralphiloso‐ phie Theorie des Glücks bzw. des guten Le‐ bens der Einzelindividuen Theorie der Moral bzw. des gerechten Zusammenlebens in der Gemeinschaft prudentielle Perspektive: gut für das handelnde Individuum; Blick auf persönliche Interessen moralische Perspektive: gut für die Gemeinschaft als Ganze; Rücksicht auf die Interessen anderer Ratschläge und Empfehlungen für die je eigene Lebensgestaltung allgemeine Sollensforderungen (Ge‐ bote, Verbote) zum Schutz aller vom Handeln Betroffenen z.B. Wenn Du glücklich sein willst, kümmere Dich um Deine Gesundheit! z.B. Du sollst in der Gegenwart von Nichtrauchern nicht rauchen! Moralische Perspektive Da die meisten Probleme der Angewandten Ethik das Wohl der Gesellschaft bzw. Weltgemeinschaft oder deren Lebensgrundlage betreffen, erfordert ihre Beantwortung die Einnahme der moralischen Perspektive. Während die Individualethik lediglich Empfehlungen für die je eigene Lebensgestaltung gibt, zielt die Sollensethik auf allgemeingültige Sollensforderungen ab. Kennzeichnend für moralisches Denken und Handeln ist daher zum einen das formale Kriterium der Allgemeinheit und kategorischen Gültigkeit, das sich auch als formales Universalisierungsprinzip oder Gleichheitsgebot formulieren lässt: Was in einer bestimmten Situation geboten oder verboten ist, muss für jede Person in einer vergleichbaren Situation unter ähnlichen Umständen geboten oder verboten sein (vgl. Ethik, 14). Als materiales Kennzeichen moralischen Denkens und Handelns fungiert die Einnahme des typischen „objektiven“ oder „unparteiischen Standpunktes der Moral“: Während aus der prudentiellen Perspektive nur die eigenen Bedürfnisse und Wünsche ins Blickfeld treten, gilt es aus moralischer Sicht diesen subjektiven Standpunkt des privaten Glücksstrebens gerade zu transzendie‐ ren. Ungeachtet persönlicher Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen müssen von einer höheren Warte aus alle berechtigten, d. h. argumentativ rechtfertigbaren Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln Betroffenen gleich und unparteiisch berücksichtigt werden. Keine Beachtung dürfen 15 1.1 Ethik und Angewandte Ethik <?page no="16"?> dabei rein egoistische und asoziale Interessen finden, etwa der Wunsch nach dem Tod des persönlichen Erzfeindes oder nach dem Eigentum des wohlhabenden Nachbarn. Die moralische Rücksichtnahme beschränkt sich hingegen nicht nur auf Menschen, sondern erstreckt sich in der Angewand‐ ten Ethik auch auf Tiere oder die gesamte Natur. Der Begriff „Sozialethik“ erweist sich insofern als zu eng, wie im Kapitel 3 zur „Naturethik“ deutlich wird. Moral: Gesamtheit der geltenden Normen zur Regelung des menschlichen Zu‐ sammenlebens bzw. zum Schutz aller potentiell vom Handeln Betroffenen formales Kennzeichen moralischer Normen: Allgemeinheit, Universalisierbarkeit Was für eine Person moralisch richtig ist, muss für jede andere Person in einer vergleichbaren Situation auch moralisch richtig sein. materiales Kennzeichen moralischer Normen: unparteiischer, objektiver Standpunkt Moralisch richtig ist eine Handlung oder eine Norm, wenn dabei von einem unparteiischen Standpunkt aus die berechtigten Interessen oder das Wohl aller Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt wurden. Akteurs- und Institutionenethik In der Angewandten Ethik wird der „Individualethik“ häufig nicht die „So‐ zialethik“, sondern die „Institutionenethik“ entgegengesetzt, die teilweise als Synonym zu „Sozialethik“ verwendet wird (vgl. Kettner 1994, 247; Göbel, 42 f.): Während es bei der individualethischen Betrachtungsweise um das Handeln, die ethische Grundhaltung oder das Berufsethos einzelner Personen geht, beziehe sich die sozialethische Perspektive auf die organisa‐ torischen bzw. institutionellen Zusammenhänge (vgl. Funiok 2002, 47). Eine Institutionenethik soll hier als ein Teilbereich der Sozialethik verstanden werden, der sich mit der Klärung der Legitimität von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen oder rechtlichen Institutionen sowie der Frage nach einer kollektiven Verantwortung beschäftigt. Institutionen sind gene‐ rell ethisch wünschbar, wenn sie als eine geeignete Rahmenordnung das moralische Handeln der beteiligten Akteure begünstigen und der Verwirk‐ lichung des moralischen Ideals eines gerechten Zusammenlebens dienen. Sie können zwar nicht wie handelnde Personen Verantwortungssubjekte 16 1 Einleitung <?page no="17"?> sein, sehr wohl aber Verantwortungsträger, die im Fall negativer Folgen für Um- oder Mitwelt die Verantwortung übernehmen müssen. Im Gegensatz zur individuellen Verantwortung einzelner Handlungssubjekte spricht man beim kollektiven Handeln z. B. in Unternehmen oder Forschungsgruppen von einer kollektiven oder institutionellen Verantwortung. Diese Ver‐ antwortung von Institutionen oder Korporationen ist stets zurückgebunden an die individuelle Verantwortung von Personen, z. B. durch ein Sanktio‐ nensystem oder Mechanismen einer internen Verantwortungsverteilung (vgl. Werner, 545). In der Ethik geht es letztlich immer um Handlungen von Personen, auch wenn diese hochgradig koordiniert und aggregiert sind (vgl. Kettner 1994, 247). Um der begrifflichen Klarheit willen wird hier der Institutionenethik als Teiltheorie der Sozialethik nicht die Individualethik, sondern die sich an einzelne Akteure oder Handlungssubjekte richtende Akteursethik entgegengesetzt. Akteursethik Institutionenethik Handlungssubjekte Institutionen (Unternehmen, For‐ schungsgruppen, etc.) Verantwortung für die Folgen des in‐ dividuellen Handelns und die persönli‐ che Handlungsabsicht beim kollektiven Handeln ↓ Verantwortung für die Folgen des kol‐ lektiven Handelns ↓ individuelle Verantwortung kollektive/ institutionelle Verant‐ wortung Institutionen sind ethisch wünschbar, wenn sie: - das moralische Handeln der Einzelnen begünstigen - dem Ideal des gerechten Zusammenlebens dienen Moral und Recht Da viele gegenwartsdringliche moralische Konflikte Folgen kollektiven Handelns darstellen und menschliche Handlungsverflechtungen im Zuge der Globalisierung immer vielfältiger und weitreichender geworden sind, er‐ fordern die meisten auch politische und rechtliche Maßnahmen. Im Idealfall ergänzen sich moralische und rechtliche Normen, also Moral und Recht. Der grundlegendste Unterschied zwischen moralischen und rechtlichen Re‐ geln besteht darin, dass die rechtlichen Regeln schriftlich fixiert sind und prinzipiell für alle Menschen einsehbar sind. Sie steuern primär das äußere 17 1.1 Ethik und Angewandte Ethik <?page no="18"?> Verhalten der Menschen. Wer sich an die Gesetze hält und beispielsweise fremdes Eigentum unangetastet lässt, handelt juristisch betrachtet richtig. Gleichgültig ist hingegen, welche Gesinnung hinter seinem Verhalten steht, ob er es also beispielsweise zähneknirschend oder aus Überzeugung tut (vgl. Thurnherr, 87 f.). Anders verhält es sich bei moralischen Normen, die nicht in allgemeingültigen Gesetzestexten niedergeschrieben sind und so lange gelten, wie sie von einer Gruppe von Menschen anerkannt werden. Sie stellen grundsätzlich innere Regulierungsformen dar, die auf die Einsicht der Menschen, auf ihre Selbstverpflichtung und Selbstregulation setzen. Anders als Rechtsverletzungen sind sie nicht einklagbar, und Verstöße werden nicht mit institutionalisierten juristischen Sanktionen wie Buße und Gefängnisstrafen geahndet. Neben den inneren Sanktionen wie Scham oder schlechtes Gewissen stehen ihnen nur soziale Sanktionsmöglichkeiten wie Verachtung, Tadel oder Ausgrenzung zur Verfügung. Da moralische Normen auf Einsicht und Freiwilligkeit der Menschen bauen, sind sie in vielen Hand‐ lungsbereichen zu schwach und müssen durch rechtliche Regulierungen unterstützt werden. Andererseits können sie im Unterschied zum schriftlich fixierten Recht viel flexibler auf gesellschaftliche Veränderungen oder neue moralische Probleme reagieren. Rechtliche Normen Moralische Normen Geltung durch Autorität des schriftli‐ chen Gesetzes Geltung durch Einsicht und Anerken‐ nung Steuerung des äußeren Verhaltens Steuerung der inneren Gesinnung juristische Sanktionen wie Bußen oder Gefängnisstrafen moralische Sanktionen wie Scham, schlechtes Gewissen, Tadel, Ausgren‐ zung Allgemeine und Angewandte Ethik Die Bezeichnung Angewandte Ethik ist nicht unumstritten. Wenn Ethik eine Disziplin der praktischen Philosophie darstellt und „angewandt“ so viel wie „praktisch“ bedeutet, wäre die „Angewandte Ethik“ eine „praktische prak‐ tische Philosophie“, was tautologisch klingt (vgl. Vieth, 19; Stoecker u. a., 3). Noch viel offenkundiger liegt ein Pleonasmus vor bei terminologischen Alternativen wie „praktische Ethik“ bzw. „practical ethics“ (vgl. Kettner 1992, 9; Beauchamp u.a., 4). Denn im Unterschied zur theoretischen Philo‐ sophie bemüht sich die praktische Philosophie seit ihren Anfängen nicht 18 1 Einleitung <?page no="19"?> nur um theoretisches Wissen, sondern um die Orientierung der Menschen im Handeln (vgl. Aristoteles: NE, 1103, 27b). Die Anwendungsdimension ist also ein Zielpunkt jeder ethischen Reflexion, und nicht nur ein nachträglich der Theorie hinzugefügtes Anhängsel (vgl. Düwell 2011, 243). Nun hat sich aber die neuzeitliche Ethik seit Immanuel Kant immer stärker auf die schwierige Problematik einer rationalen Begründung allgemeiner Moralprinzipien konzentriert, wodurch der Anwendungsbezug in den Hintergrund rückte. Paradebeispiel für diese Einseitigkeit ist Kants Ver‐ nunftethik, bei der das höchste Moralprinzip des Kategorischen Imperativ rein durch vernünftige Überlegungen hergeleitet wird: Gemäß dem forma‐ len Kennzeichen der Moral kann ein Handeln nur universelle Gültigkeit und moralische Richtigkeit beanspruchen, wenn sich die ihm zugrundeliegende Handlungsregel als allgemeines Gesetz denken lässt (vgl. GMS, BA 52; Ethik, 257). Kant hat zwar das Verfahren zur Prüfung der Verallgemeinerbarkeit von Handlungsregeln anhand von vier Anschauungsbeispielen erläutert, um deren richtige Interpretation in der Sekundärliteratur bis heute gestritten wird (vgl. ebd., BA 53-56). Die Beispiele dienen aber an dieser Stelle nur als Mittel zur Illustration der ethischen Theorie, sodass die Anwendung bei Kant nebensächlich bleibt. Eine weitere, insbesondere im angelsächsi‐ schen Sprachraum verbreitete Strömung führt von der Anwendung weg, indem sie sich ganz auf metaethische Fragestellungen konzentriert (vgl. Düwell 2011, 244). Dabei wird teilweise radikal an der Begründbarkeit moralischer Normen und damit an der Möglichkeit einer normativen Ethik gezweifelt. Diese Fokussierung der akademischen praktischen Philosophie auf Grundsatzfragen führte zu einer Vernachlässigung und Abwertung des Anwendungsproblems (vgl. Bayertz 1991, 13). In den 1960er Jahren traten aber die negativen Folgen des wissenschaft‐ lich-technischen Fortschritts immer deutlicher zutage, allen voran die öko‐ logischen Krisen wie Waldsterben und Ozonloch (vgl. Düwell 2011 244; Stoecker u. a., 4). Auch wuchs die öffentliche Kritik an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wie z. B. der Rassendiskriminierung, dem Vietnamkrieg oder der Unterstützung diktatorischer Regime. Angesichts dieser enormen gesellschaftlichen Herausforderungen wurde der Ruf nach mehr konkreter Orientierung durch die Ethik in der Öffentlichkeit lauter. Immer mehr jüngere Philosophen begannen sich für die Rehabilitierung des Anwen‐ dungsbezugs einzusetzen, um den Menschen Hilfestellungen beim Lösen der konkreten Probleme geben zu können. Die normative Ethik spaltete sich auf in eine „begründungsorientierte“ und eine „anwendungsorientierte“ 19 1.1 Ethik und Angewandte Ethik <?page no="20"?> oder „problembezogene“ Ethik bzw. in eine Allgemeine Ethik und eine Angewandte Ethik (vgl. Bayertz 1991, 23). Trotz aller Vorbehalte gegen‐ über dem Begriff einer Angewandten oder anwendungsbezogenen Ethik bringt er treffend zum Ausdruck, dass die Beschäftigung mit Ethik aus dem praktischen Interesse an bestimmten Anwendungen bzw. konkreten Problemen hervorgeht (vgl. Stoecker u. a., 5). Diese dienen anders als in der Allgemeinen Ethik nicht nur als Anschauungsmaterial, sondern bilden vielmehr den Ausgangspunkt genauso wie den Zielpunkt anwendungsbezo‐ gener ethischer Reflexionen: Angewandte Ethik versucht den Menschen Hilfestellungen zur richtigen moralischen Entscheidungsfindung zu geben in Situationen, in denen Unklarheit über das moralisch Richtige vorliegt (vgl. ebd., 4). Wie in Kapitel 1.4 zu zeigen sein wird, hat sich die Angewandte Ethik in den letzten Jahrzehnten in verschiedene Anwendungsbereiche ausdifferenziert. Angewandte Ethik wird daher häufig rein extensional definiert als Summe der einzelnen sogenannten Bereichsethiken. Ethik normative Ethik Metaethik deskriptive Ethik begründungsorientierte Ethik anwendungsorientierte/ problembezogene Ethik = Angewandte Ethik Top down- und Bottom up-Modelle Angewandter Ethik Die Angewandte Ethik wird durchaus unterschiedlich definiert, je nach‐ dem wie der Anwendungsbezug näher konkretisiert wird. Zunächst liegt ein deduktives Modell oder Top down-Modell nahe, bei dem die in der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzipien auf die prakti‐ schen Probleme angewendet werden (vgl. Stoecker u. a., 5). Analog zum Hempel-Oppenheim-Schema wird in diesem Modell davon ausgegangen, dass sich aus den gegebenen allgemeinen Prinzipien und den konkreten situativen Umständen die richtige Handlungsweise ableiten, d. h. „dedu‐ zieren“ lässt. Als grundlegende Prinzipien bei diesem Vorgehen bieten sich beispielsweise Kants Kategorischer Imperativ oder das utilitaristische Moralprinzip an. Definiert wird die Angewandte Ethik bei diesem Verständ‐ nis als „philosophische Disziplin“, die eine „systematische Anwendung 20 1 Einleitung <?page no="21"?> normativ-ethischer Prinzipien auf Handlungsräume, Berufsfelder und Sach‐ gebiete“ leistet (Thurnherr, 14). Es handelt sich dann um eine „angewandte Wissenschaft“, die genauso wie die begründungsorientierte Allgemeine Ethik von akademischen Philosophen betrieben wird (Pieper 2001, 78). Von dieser soll sie sich lediglich durch ihre Spezialisierung auf medizinische, ökologische, medienspezifische o. ä. Probleme unterscheiden. Demgegenüber werden in einem induktiven Modell oder Bottom up-Modell Angewandter Ethik generelle Prinzipien nicht abgeleitet, son‐ dern aus den gesammelten Erfahrungen mit ähnlichen Problemfällen her‐ geleitet oder „induziert“. Im Gegensatz zum deduktiven Modell stehen hier nicht ethische Theorien, sondern kontextgebundene Einzelurteile, fallbezogene Erfahrungen und persönliche Wertvorstellungen im Zentrum. Wo nicht gänzlich auf allgemeine Regeln oder Prinzipien verzichtet wird, sind sie höchstens nachträgliche Systematisierungen partikularer Urteile ohne eigene Begründungsfunktion (vgl. Schöne-Seifert, 25). Angewandte Ethik stellt aus dieser Warte ein Gegenmodell zu den Ansprüchen der neuzeitlichen Ethik auf Universalität und Unparteilichkeit dar (vgl. Vieth, 14). Ein durch akute Schwierigkeiten ausgelöstes Klärungsbedürfnis erfor‐ dere keineswegs die Ethik als wissenschaftliche Disziplin der Philosophie, da diese vielmehr selbst Gegenstand der Kritik sei (vgl. Kaminsky, 144). Folglich ließe sich Angewandte Ethik weder als philosophische Disziplin noch über ihren Anwendungscharakter definieren. Sie wird statt als „reine Wissenschaft“ als Tätigkeit des demokratischen Sich-Beratens aufgefasst, die zwischen Wissenschaft und Politik vermittelt (vgl. ebd., 149; Kettner 2000, 398). So wird etwa die Bioethik in der Öffentlichkeit weniger als akademischer wissenschaftlicher Diskurs von Philosophie und Theologie verstanden, sondern als öffentliche Debatte und „Aktivität auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ (Düwell 2011, 245). 21 1.1 Ethik und Angewandte Ethik <?page no="22"?> Top down-Modell: deduktiv Definition (1) Angewandter Ethik Bottom up-Modell: induktiv Definition (2) Angewandter Ethik Disziplin der normativen Ethik, die all‐ gemeine Prinzipien oder Beurteilungs‐ kriterien auf spezifische Handlungsbe‐ reiche anwendet Handlungsanweisungen werden aus universellen Prinzipien abgeleitet („de‐ duziert“) Tätigkeit des öffentlichen Sich-Bera‐ tens mit dem Ziel, Probleme in konkre‐ ten Situationen zu lösen Allgemeine Prinzipien oder Beurtei‐ lungskriterien werden aus praktischen Erfahrungen hergeleitet („induziert“) primär: ethische Theorie Begründung von Moralprinzipien z.B.: Kants Kategorischer Imperativ ↓ ethische Theorie: fehlt daraus abgeleitete Prinzipien z.B.: Verbot des falschen Versprechens ↓ daraus hergeleitete Prinzipien z.B.: Verbot des falschen Versprechens ↑ sekundär: daraus abgeleitete mora‐ lische Einzelurteile z.B.: Du sollst in dieser Situation kein falsches Versprechen ablegen! primär: Erfahrungen und Urteile in Einzelfällen des praktischen Alltags z.B.: Falsches Versprechen wird von den meisten Menschen verurteilt. Wenn von der „Entstehung“ der Angewandten Ethik in den 1960er Jahren die Rede ist, hat man dabei primär die Institutionalisierung der Angewandten Ethik als einer neuen philosophischen Disziplin im Sinne der Definition (1) im Auge (vgl. Stoecker u. a., 4 f.). Während Angewandte Ethik als „practical ethics“ in den USA bereits in den 1970er Jahren einen spektakulären Boom erlebte, schwappte dieser erst mit einiger Verspätung auf die Alte Welt über (vgl. Kettner 1992, 9): Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden an deutschen Universitäten die ersten Lehrstühle für Angewandte Ethik einge‐ richtet, und es werden immer mehr weiterbildende Masterstudiengänge zur Erlangung eines „Master of Advanced Studies in Applied Ethics“ angeboten. Es entstanden beispielsweise „Akademien für Ethik in der Medizin“, und Medizinethik hat seit 2003 einen festen Platz im Lehrplan des Medizinstu‐ diums. Neben neuen Lehrstühlen gab es immer mehr Forschungsinstitute, Fachvereinigungen und Fachzeitschriften wie etwa Ethik in der Medizin oder Ethics and the Environment, sodass die Bedingungen für ein neues wissen‐ schaftliches Paradigma erfüllt sind. Wird Angewandte Ethik demgegenüber allgemeiner im Sinne (2) einer Beschäftigung mit konkreten praktischen Problemen verstanden, hat sie eine lange Tradition z. B. im Standesethos 22 1 Einleitung <?page no="23"?> der Ärzte oder in der Kasuistik des 17. Jahrhunderts (vgl. Düwell 2011, 244; vgl. Kap. 1.2). Je größer das Themenspektrum der Angewandte Ethik und die gesell‐ schaftliche Bedeutung der verhandelten Themen ab den 1960er Jahren wurde, veränderte sich auch das Profil der Angewandten Ethik: Insbeson‐ dere in den USA ist eine starke Tendenz der Angewandten Ethik zu erken‐ nen, sich institutionell und professionell von der philosophischen Ethik abzukoppeln (vgl. Friesen u. a., 19). Auf der einen Seite (1) hat sich also die Angewandte Ethik eindeutig als neue philosophische Disziplin an den Universitäten etablieren können. Dabei kommt sie nicht um die interdis‐ ziplinäre Arbeitsweise herum, weil je nach Art der konkreten Probleme sehr viel empirisches Fachwissen aus den jeweiligen Handlungsfeldern er‐ forderlich ist (vgl. Kap. 1.3). Auf der anderen Seite (2) treibt die Angewandte Ethik über die Grenzen der akademischen Philosophie hinaus und wird von vielen Vertretern als transakademisches Engagement in Ethikkommis‐ sionen, Gremien und in der Politikberatung verstanden (vgl. Bayertz 2004, 54). Es drohen dann allerdings die Grenzen zu verwischen zwischen der Politik, in der es um Mehrheitsverhältnisse zwischen verschiedenen welt‐ anschaulichen und Interessengruppen geht, und der Ethik, die moralische Argumentationen einer Prüfung und Kritik unterzieht (vgl. Düwell 2011, 245). Eine weite Begriffsverwendung scheint nur so lange legitim zu sein, als zumindest die philosophischen Methoden der Begriffsanalyse und kritischen Prüfung von Argumenten auf ihre logische Folgerichtigkeit und ungenannten Voraussetzungen hin „angewendet“ werden (vgl. Kap. 1.3). Angewandte Ethik: sowohl eine an Universitäten etablierte interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin (1) als auch eine transakademische Beratertätigkeit in Kommissionen und Gremien (2), die mit philosophischen Mitteln der Begriffsana‐ lyse und kritischen Prüfung von Argumenten öffentliche Entscheidungsprozesse bezüglich drängender gesellschaftlicher Zeitfragen voranzubringen versuchen. 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis Wie im vorangegangenen Kapitel bereits anklang, wird das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Angewandten Ethik sehr unterschiedlich beurteilt. Die meisten wissenschaftlichen Beiträge von Philosophen beschäftigen sich mit abstrakten ethischen Konzepten und theoretischen Überlegungen, die 23 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="24"?> sie im Sinne des Top down-Modells für die Orientierung in der Praxis fruchtbar machen wollen. Bottom up-Modelle hingegen bekamen Ende des 20. Jahrhunderts Auftrieb durch die Renaissance der Kasuistik in der Medizinethik, ausgelöst durch die Abhandlung The Abuse of Casuistry: A history of moral reasoning (1988) der beiden Philosophen Albert Jonsen und Stephen Toulmin. Bei der Kasuistik, abgeleitet von lateinisch „casus“: „Fall, Vorkommen“ steht die Einzelfallbetrachtung im Zentrum. Die in der Biomedizin angewandte reine Kasuistik versucht, durch eine sorgfältige Beschreibung konkreter Probleme oder zusätzlich noch durch Vergleiche und Analogien mit ähnlichen Fällen oder Präzedenzfällen zu moralischen Entscheidungen zu gelangen (vgl. Stoecker u. a., 8; Schöne-Seifert, 25). Bei ihrer Tätigkeit in Ethikkommissionen machten Jonsen und Toulmin die Erfahrung, dass sich ein Konsens in moralischen Konfliktfällen wie z. B. über einen konkreten Schwangerschaftsabbruch niemals auf der Ebene abstrakter Prinzipien wie „Recht auf Leben“ des Embryos und „Recht auf Selbstbestimmung“ der Frau herstellen lasse ( Jonsen u. a., 5). Einigkeit finde man immer nur „in einer geteilten Wahrnehmung dessen, was in ganz bestimmten menschlichen Situationen spezifisch auf dem Spiel steht“ (ebd., 18). Es gehe darum, in der jeweiligen konkreten Situation ein gerech‐ tes Gleichgewicht zwischen Situationswahrnehmungen und -deutungen, Befürchtungen und Interessen, Wertvorstellungen und -intuitionen der Beteiligten zu finden (vgl. Vieth, 8; 20). „Moral ernstnehmen heißt zualler‐ erst, Menschen ernstnehmen“ (Kymlicka 2000, 205). Die Rede ist auch von evaluativen Erfahrungen als einer Art und Weise, wie Personen sich und Situationen bewertend erfahren: In der Ethikberatung beschreibt und bewertet man eine Situation, einen Fall oder auch mehr generelle Aspekte des Handelns. Beschreibung und Bewertung gehen Hand in Hand und folgen zunächst keinen anderen Regeln als denen, nach denen Personen gewohnt sind, sich und ihr Umfeld wertend (also evaluativ) zu erfahren. (Vieth, 51) Kritik an theoriefeindlichen Bottom up-Modellen Insbesondere transakademisch engagierte Anhänger des Bottom up-Modells (2) legen bisweilen eine beträchtliche Theoriefeindlichkeit an den Tag. Eine theoriefreie, rein praxisbezogene Angewandte Ethik hat aber mit eini‐ gen konzeptuellen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wie präzise und sensibel auch immer eine konkrete Handlungssituation beschrieben wird, ergeben sich aus deskriptiven Schilderungen keinerlei Hinweise auf normative Handlungsorientierungen. Schließt man vom faktischen Sein, d. h. von 24 1 Einleitung <?page no="25"?> wahrgenommenen Einzelfällen auf normative Aussagen, begeht man den in der philosophischen Ethik verpönten Sein-Sollen-Fehlschluss (vgl. Ethik, 120 f.). Wird von „evaluativen Erfahrungen“ gesprochen, werden die Diffe‐ renzen zwischen Beschreibungen und Bewertungen absichtlich verwischt, die angeblich „Hand in Hand“ gehen (vgl. Vieth, 51). Hinsichtlich eines Schwangerschaftsabbruchs lässt sich aber beispielsweise im frühen mensch‐ lichen Embryo ein bloßer Zellhaufen sehen und daraus die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs herleiten. Oder aber man nimmt ein menschli‐ ches Leben wahr, dem Würde zukommt und das daher nicht getötet werden darf. Solche moralischen Intuitionen, Einzelfallurteile und Überzeugungen der beteiligten Personen können irrtümlich oder falsch sein, indem sie z. B. auf Unwissen, Vorurteilen, unreflektierten Prägungen durch Erziehung und Sozialisation oder irrationalen Ängsten und Hoffnungen basieren. Damit Einzelfallurteile nicht dezisionistisch, d. h. willkürlich sind, muss angegeben werden, welche Merkmale in einer vorliegenden Handlungssituation z. B. für den Beginn menschlichen Lebens oder die Zuschreibung von Würde entscheidend sind (vgl. Bayertz 1991, 19). Erforderlich sind allgemeine Gesichtspunkte oder Kriterien, die sich für alle nachvollziehbar begründen lassen. Auch bei Analogien und Verweisen auf Präzedenzfälle braucht es den Bezug auf generelle Prinzipien, um Ähnlichkeiten und deren ethische Relevanz aufzuweisen (vgl. Stoecker u. a., 8). Angesichts des frühen Embryos lässt sich nämlich ebenso eine Analogie herstellen zu einer ethisch zulässi‐ gen Verhütung einer Schwangerschaft durch nidationshemmende Mittel als auch zu einem Neugeborenen, dessen Tötung nach allgemeinem Konsens verboten ist. Sofern sich in aktuellen Handlungssituationen keine Übereinstimmung in den Einzelfallbetrachtungen einstellt und auch keine Analogie zu einem bereits gelösten Präzedenzfall weiterhilft, stoßen Bottom up-Modelle an ihre Grenzen. In der Angewandten Ethik werden jedoch meist moralische Konflikte erörtert, die sich häufig erst seit der Möglichkeit neuer Handlungs‐ alternativen stellen. Empfohlen wird in Bottom up-Modellen dann oft ein kohärentistischer Begründungsansatz, bei dem es mehr auf „Stimmig‐ keit“ als auf logische Schlüssigkeit ankommt: „Man stellt eine Balance her zwischen relevanten Gesichtspunkten und gewichtet alle Faktoren so lange immer wieder neu, bis sich ein klares Bild ergibt“ (Vieth, 51). Wie unter‐ schiedliche Sichtweisen und Werthaltungen sich ins Gleichgewicht bringen lassen, bleibt aber unklar. Wenn exemplarisch die Enkelin das Ableben der Großmutter als menschenunwürdig erlebt, für den behandelnden Arzt aber 25 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="26"?> jedes biologische Am-Leben-Sein lebenswert ist, lässt sich schwerlich eine einzelfallbezogene Balance erzielen. Ob aus der Suche nach Kohärenz und Übereinstimmung überhaupt ein moralisch richtiges Urteil hervorgehen kann, ist ohnehin fraglich, wenn dabei sämtliche Interessen, Wertvorstellun‐ gen und Überzeugungen gleich gewichtet werden. Auch falsche moralische Intuitionen und irrtümliche Überzeugungen können nämlich in ein kohä‐ rentes System gebracht werden, wie etwa der lange Zeit bestehende Konsens über die Legitimität der Sklaverei zeigt. Sowohl individuelle Einzelfallurteile als auch angebliche Präzedenzfälle müssten deswegen kritisch hinterfragt und ethische Entscheidungen allgemein nachvollziehbar begründet werden. Statt von „induktiven“ Modellen wird manchmal in einer abgeschwächten Form von „rekonstruktiven Modellen“ gesprochen, wenn anders als bei ei‐ nem rein empirischen induktiven Vorgehen die vorgefundenen moralischen Überzeugungen immerhin von logischen Unzulänglichkeiten befreit und systematisiert werden (vgl. Birnbacher 2006, 35; Stoecker u. a., 8). Wenn radikale Vertreter von Bottom up-Modellen sämtliche allgemeinen Kategorien zurückweisen, müsste konsequenterweise in jedem Fall stets situativ neu entschieden werden. Einzelfalldarstellungen werden den meisten Problemen Angewandter Ethik aber auch deswegen nicht gerecht, weil es nur selten um isolierbare Einzelsituationen oder individuelle Entscheidungen geht. Weder das Problem der Abtreibung noch das der Sterbehilfe lässt sich auf die individualethische Fragestellung reduzieren, ob die Abtreibung für eine be‐ stimmte schwangere Frau oder der Tod für eine sterbewillige Person in ihren je spezifischen Lebenssituationen vernünftig und ratsam seien. Die meisten mo‐ ralischen Konflikte weisen vielmehr eine gesellschaftliche und politische Di‐ mension auf: Zu diskutieren ist die sozialethische Frage, ob die institutionellen Rahmenbedingungen für bestimmte Handlungsweisen wie Abtreibung oder Sterbehilfe geschaffen werden dürfen. In demokratischen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen muss geklärt werden, ob diese Handlungsweisen als legitime institutionalisierte Praxis zugelassen werden sollen. Da sich Angewandte Ethik in der Regel mit öffentlichen Institutionen und politischen Handlungsoptionen zu befassen hat, ist eine „Fall-zu-Fall“-Ethik unzureichend (vgl. Bayertz 1991, 23). Ob eine Handlungsweise im Prinzip zulässig oder unzulässig ist, erfordert eine öffentliche Entscheidung und kann nicht durch Einzelfallabwägungen begründet werden. Um einen Dezisionismus zu ver‐ meiden, müssen Vertreter des Bottom up-Modells die Ebene einzelner Fälle verlassen und sich auf einen grundsätzlichen argumentativen Diskurs über Gründe einlassen. 26 1 Einleitung <?page no="27"?> Kritik am Bottom up-Modell Angewandter Ethik kohärentistische Begründung: In-Zusammenhang-Bringen von persönlichen Erfahrungen, Situationsdeutungen, Wertvorstellungen, moralischen Intuitionen und Interessen der Beteiligten Kritik 1: Ergebnis hängt von ungeprüften Voraussetzungen ab: Basis ethischer Entscheidungen Einwände - Situationswahrnehmungen und Er‐ fahrungen mit Einzelfällen - Befürchtungen, Interessen - Wertvorstellungen und -intuitionen (evaluative Erfahrungen) - Sein-Sollen-Fehlschluss (Tatsachenaussagen → normative Aussagen) - Abwägung in Konfliktfällen unklar - Kriterien für berechtigte Interessen und für Güte der Wertvorstellungen und Intuitionen notwendig Kritik 2: dezisionistische Fall-zu-Fall-Entscheidungen sind unzureichend: - Entscheidungen müssen auf der Basis von Gründen nachvollziehbar sein - gesellschaftliche Lösungen für institutionalisierte Praxis erforderlich Kritik an kontextunsensiblen Top down-Modellen Klassische Ansätze der philosophischen Ethik erscheinen für Problemlösun‐ gen in der moralischen Alltagspraxis als hinderlich oder irrelevant, weil sie von den konkreten evaluativen Erfahrungen, moralischen Überzeugungen, Ansprüchen und Interessen der Beteiligten in bestimmten Problemsituationen ablenken (vgl. Vieth, 45 f.). Die traditionelle moralphilosophische Perspektive der Universalität und Unparteilichkeit, die einzunehmen insbesondere etwa Kants Ethik des Kategorischen Imperativ auffordert, verhindert aus Sicht der Theorieskeptiker kontextsensible Situationswahrnehmungen. Je größer aber die Distanz zur Praxis und den Alltagserfahrungen der Betroffenen sei, desto weniger wahrscheinlich werde die Lösungsfindung bezüglich eines akuten Konfliktfalls (vgl. Kaminsky, 145 f.). Häufig lehnen Vertreter des Bottom up-Modells genau aus diesem Grund schon den Begriff der „Angewandten Ethik“ ab, weil er eine technische Anwendung philosophischer Theorien oder allgemeiner Prinzipien auf konkrete praktische Probleme im Sinne des Top down-Modells nahelegt. Die meisten Konfliktfälle in der moralischen Alltagspraxis sind aber zweifellos viel zu komplex, als dass eine simple, quasi-mechanische Anwendung allgemeiner Gesetze oder Normen zu ange‐ messenen Lösungen führen würden (vgl. Hesse, 10 f.). Obgleich die Grundzüge dieser Kritik zutreffend sind, erweisen sich ei‐ nige Pauschalisierungen bei näherer Betrachtung als überzogen. So ist es 27 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="28"?> schwerlich korrekt, dass theoretisches Wissen und allgemeine Prinzipien automatisch die sensible Wahrnehmung des Einzelfalls vereiteln und von der Besonderheit einer spezifischen Situation ablenken. Dank allgemeiner Kriterien oder Prinzipien kann vielmehr die Aufmerksamkeit auf diejenigen Aspekte gelenkt werden, die in der jeweiligen Entscheidungssituation rele‐ vant sind. Allgemeine Gesichtspunkte oder Grundsätze regen also bestenfalls die ethische Reflexion an und weisen auf wichtige beondere Merkmale hin (vgl. Kymlicka 1997, 231). Unangemessen ist aber in der Angewand‐ ten Ethik zweifellos die Vorstellung eines rein instrumentell-technischen Mitteleinsatzes und einer simplen Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine. Mit dem missverständlichen Begriff der „Anwendung“ kann nur eine hermeneutische Applikation oder ein Aktualisieren theoretischer philosophischer Erkenntnisse in verschiedenen lebenspraktischen Kontexten gemeint sein (vgl. Ott 2004, 173; Düwell 2011, 243). Meist geht es weniger um das Subsumieren des Einzelfalls unter generelle Normen als um eine „normenbildende Anwendung“ (vgl. Bayertz 1991, 36 f.): Die in der allgemei‐ nen Ethik begründeten Prinzipien müssen inhaltlich fortgeschrieben und mit Blick auf bestimmte Handlungsfelder neu interpretiert, konkretisiert und weiterentwickelt werden. Wenn sich beispielsweise in der Abtreibungsfrage die abstrakten Prinzipien „Selbstbestimmung“ der Frau und „Recht auf Leben“ des Embryos scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, müssen beide in der jeweiligen Handlungssituation inhaltlich präzisiert und miteinander vermit‐ telt werden. Dieses Vorgehen wird in der Medizinethik und den anderen Bereichsethiken anhand von Beispielfällen näher erläutert (vgl. Kap. 2.3). Gegen das Top down-Modell wird außerdem immer wieder eingewandt, es gebe in der Ethik gar keine gesicherten Erkenntnisse, von denen ähnlich wie in der Angewandten Mathematik auf das moralisch richtige Handeln geschlossen werden könnte (vgl. Stoecker u. a., 6). Tatsächlich wurden in der 2000jährigen Geschichte der Ethik ganz unterschiedliche und sich teilweise widersprechende allgemeine Moralprinzipien begründet. Als Paradebeispiel gilt der Gegensatz zwischen Kantianismus, der zur Universalisierung der in Erwägung gezogenen Handlungsregel im eigenen Kopf aufruft, und Utilitaris‐ mus, der auf die größtmögliche Erfüllung der empirischen Bedürfnisse oder In‐ teressen abzielt. In vielen Einführungen in die Angewandte Ethik werden die wichtigsten Theorietypen kurz charakterisiert (vgl. etwa Düwell 2008, 60-99; Nida-Rümelin 2005, 7-37, Beauchamp u.a. 47-110). Obschon die methodische Offenheit für verschiedene Theorien grundsätzlich zu begrüßen ist, werden die einzelnen Ansätze häufig einer so vernichtenden Kritik unterzogen und 28 1 Einleitung <?page no="29"?> die Gegensätze zwischen ihnen derart hervorgehoben, dass der Wert ethischer Theoriebildung überhaupt bezweifelt werden muss. Wird hinsichtlich einer möglichen Anwendung dieser Theorien lediglich konditional angegeben, wie ein konkretes Problem aus Sicht des Kantianismus, Utilitarismus etc. gelöst werden könnte, wenn die entsprechende Theorie richtig wäre, ist dies zynisch und für die Angewandte Ethik wenig hilfreich (vgl. Beauchamp u. a., 44; Kettner 1992, 19). Trotz des Fehlens einer logisch zwingenden einheitlichen Theorie haben doch viele Philosophen beachtenswerte Aspekte, Perspektiven, Beurteilungskriterien und Argumente geliefert für die Beantwortung der Frage „Wie soll ich handeln? “. Ziel müsste es sein, alle kritikresistenten Theorieelemente zu einer umfassenderen normativ-ethischen Theorie als Grundlage Angewandter Ethik zu integrieren (vgl. Ethik, Kap. 9). Auch lassen sich durchaus Kriterien für eine gute ethische Theorie nennen wie z. B. Einfachheit (1), Klarheit (2), Widerspruchsfreiheit (3), Relevanz für möglichst viele Praxisfelder (4), die Übereinstimmung mit wissenschaftlichen und moralischen Grundüberzeugungen (5) und ein einleuchtendes Begrün‐ dungsverfahren (6) (Ott 1996, 75 ff.). Eine rationale Theoriewahl stellt bereits einen Teil der Angewandten Ethik dar (vgl. ebd., 79). Kritik am Top down-Modell Angewandter Ethik Kritik 1: Mechanistische „Anwendung“ von Theorien/ Prinzipien verhindert kontextsensible Situationswahrnehmung und lenkt von Alltagserfahrungen und Wertvorstellungen der Betroffenen ab. Einwand: „Anwendung“ meint „hermeneutische Applikation“/ „Aktualisieren“ theoretischer (philosophischer) Erkenntnisse in lebenspraktischen Kontexten. → Konkretisierung und Weiterentwicklung ethischer Prinzipien Kritik 2: widersprechende Prinzipien/ Kriterien in der philosophischen Ethik Einwände: - Kombinierbarkeit kritikresistenter Theorieelemente - Kriterien für gute ethische Theorie: 1. Einfachheit 2. Klarheit 3. Widerspruchsfreiheit 4. Relevanz für möglichst viele Praxisfelder 5. Übereinstimmung mit wissenschaftlichen/ moralischen Überzeugungen 6. einleuchtendes Begründungsverfahren 29 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="30"?> Diskursethik Besonders gut schneidet bei der Prüfung nach den erwähnten Kriterien die Diskursethik ab, die im 20. Jahrhundert von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas begründet wurde (vgl. ebd., 79). Das diskursethische Moral‐ prinzip lautet (vgl. Habermas 1996, 103): Eine Norm ist ethisch legitim, wenn sie von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte). Während bei Kant das einzelne Handlungssubjekt monologisch im eigenen Kopf die Universalisierbarkeit der Handlungsregeln testen kann, setzt die Diskursethik eine reale Kom‐ munikationsgemeinschaft voraus (vgl. Apel, 220; Habermas 1996, 77 f.). In einem realen praktischen Diskurs werden die strittigen Handlungsregeln auf ihre normative Richtigkeit hin geprüft, um einen rationalen, von allen Teilnehmern einsehbaren Konsens über Normen zu erzielen. Als rational und begründet gilt ein Konsens, wenn bestimmte Gesprächsbedingungen erfüllt sind und sich alle Beteiligten an grundlegende Diskursregeln halten: So muss grundsätzlich jedes sprach- und handlungsfähige Wesen am Dis‐ kurs teilnehmen und seine Bedürfnisse, Wünsche und Interessen äußern dürfen. Alle Gesprächsteilnehmer werden als gleichberechtigte, vernünftige Gesprächspartner anerkannt, müssen ihre Ansprüche und Positionen mit Argumenten und Gründen rechtfertigen und auf einen gemeinsamen Kon‐ sens hinarbeiten. In einer solchen „idealen Sprechsituation“ darf es keine inneren oder äußeren Zwänge geben, sondern nur den Zwang des besseren Arguments (vgl. Habermas 1996, 96 ff.). Dabei leiten die Diskursregeln nicht nur zu einer qualifizierten Konsensfindung an, sondern sichern auch den unparteiischen oder objektiven Standpunkt der Moral (vgl. Habermas 1992, 13). Denn alle Gesprächsteilnehmer sind dazu aufgefordert, ihre eigenen Argumente und Standpunkte kritisch zu hinterfragen und sich auf die Standpunkte der anderen zu stellen. Sie müssen sich gegebenenfalls dem Zwang des besseren Arguments beugen und ihren eigenen Standpunkt aufgeben. Können alle Betroffenen einer Norm zustimmen, darf von einer angemessenen Berücksichtigung der berechtigten Bedürfnisse und Interes‐ sen aller Beteiligten ausgegangen werden. 30 1 Einleitung <?page no="31"?> Diskursethisches Moralprinzip: Ethisch legitim ist eine Norm, wenn sie von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (oder finden könnte). Diskursregeln: - Jedes sprach- und handlungsfähige Wesen darf am Diskurs teilnehmen und seine Bedürfnisse und Interessen äußern. - Alle Gesprächsteilnehmer werden als zurechnungsfähige, wahrhaftige und vernünftige Gesprächspartner anerkannt. - Es wird kommunikativ statt strategisch gehandelt: Alle Ansprüche müssen argumentativ gerechtfertigt werden und Ziel des Diskurses ist der Konsens. - Jede Verzerrung der Sprechsituation durch innere oder äußere Zwänge ist ausgeschlossen. Es herrscht allein der Zwang des besseren Arguments. → sichern unparteiischen Standpunkt der Gesprächsteilnehmer und leiten zu qualifizierter Konsensfindung an Ziel des praktischen Diskurses: rationaler, begründeter Konsens über Normen Mit ihrem Moralprinzip scheint die Diskursethik den formalen Kriterien Einfachheit (1), Klarheit (2) und Widerspruchsfreiheit (3) gerecht zu werden. Bezüglich des Kriteriums der Praxisrelevanz (4) wird gegen die Diskursethik jedoch häufig eingewendet, ein zwangfreier und prinzipiell unbegrenzter Diskurs sei völlig unrealistisch. Gerade gegenwartsdringliche Fragen der Angewandten Ethik müssen meist in zeitlich engem Rahmen geklärt werden und in einer politischen Entscheidungsfindung münden. Die ideale Sprechsituation liegt aber auch deswegen häufig nicht vor, weil sich meist nicht alle Gesprächspartner an die Diskursregeln halten. Nichtsdesto‐ trotz müssen alle immer schon kontrafaktisch eine ideale Sprechsituation unterstellen, wenn sie sich zur Klärung strittiger moralischer Forderungen oder Gebote an einem gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Aus Sicht der Diskursethiker tragen zudem alle eine Mitverantwortung dafür, dass bessere Gesprächsbedingungen institutionalisiert werden (vgl. Apel, 429 ff.). Immer wieder wird aber auch auf das Problem hingewiesen, dass in Praxisfeldern wie Tier- oder Pflanzenethik die Betroffenen gar keine diskursfähigen Wesen sind. Diskursethiker halten dem entgegen, Tiere oder Naturobjekte könnten genauso wie Föten, Komatöse oder zukünftige Generationen in einem „advokatorischen“, d. h. stellvertretenden Diskurs repräsentiert werden (vgl. Habermas 1996, 104). Mit Blick auf das Ökosystems wird zwar nicht über seine Interessen oder Ansprüche diskutiert, sondern über seine Schutzwürdigkeit (vgl. Ott 1996, 97). Der Miteinbezug von Lebewesen oder der Natur insgesamt dürfte allerdings die Konsensfindung im realen Diskurs 31 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="32"?> erheblich erschweren. Denn es ist unklar, wer überhaupt als Advokat für wen oder was auftreten kann, und unter den Advokaten dürfte über Art und Ausmaß der Schutzwürdigkeiten nicht von vornherein Einigkeit herrschen (vgl. Kap. 3). Grundsätzlich ist die Diskursethik aber dank dieser methodischen Erweiterung durch einen advokatorischen Diskurs auch für den Umgang mit nichtdiskursfähigen Entitäten relevant. Gemäß der Forderung in Kriterium (5) liegt beim diskursethischen Konzept zudem eine Übereinstimmung mit den moralischen Grund‐ überzeugungen in pluralistischen demokratischen Gesellschaften vor: Die meisten gegenwärtigen Ethiker und eine breite Öffentlichkeit sind sich einig darüber, dass sich allgemeingültige Normen heute nur noch auf dem Weg gemeinsamer Argumentation finden lassen. Bezüglich des letzten Kriteriums eines einleuchtenden Begründungsverfahrens (6) liegt bei der Diskursethik eine konstruktivistische bzw. reflexive Begründungs‐ methode vor (vgl. Ethik, 134 f.): Bei diesem Begründungsverfahren wird auf die unhintergehbaren Grundlagen der moralischen Alltagspraxis reflektiert, um die notwendigen kognitiven, sprachlichen, pragmatischen oder sozialen Bedingungen moralischen Urteilens und Handelns aufzudecken. Mit Blick auf diese notwendigen Voraussetzungen der Moral lassen sich dann höchste Moralprinzipien formulieren. Wer in gesellschaftlichen Diskussionen für oder gegen eine bestimmte Norm argumentiert, hat den Diskursethikern zufolge immer schon die erwähnten Diskursregeln akzeptiert. Wenn Teil‐ nehmer an ethischen Debatten die Geltung der Diskursregeln bestreiten, begehen sie einen performativen Selbstwiderspruch, d. h. einen Wider‐ spruch zwischen dem, was sie sagen, also dem Bestreiten der Diskursregeln, und dem, was sie tun, nämlich dem Argumentieren nach den Diskursregeln (vgl. Habermas 1996, 90-105). Die Diskursregeln enthalten aber implizit das diskursethische Moralprinzip, nur diejenige Norm als moralisch richtig gel‐ ten zu lassen, die von allen im praktischen Diskurs akzeptiert werden kann. Dieses reflexive Begründungsverfahren weist deutliche Vorteile gegenüber alternativen kohärentistischen und linearen Begründungsmodellen auf (vgl. Düwell u. a., 14): Bei einer linearen oder deduktiven Begründung wird ein normatives Urteil durch den Verweis auf ein anderes normatives Urteil oder Prinzip begründet. Es kann dann aber immer wieder erneut nach einer Begründung des zur Begründung Herangezogenen gefragt werden. Es ergibt sich das sogenannte „Münchhausen-Trilemma“ mit der Wahl zwischen einem infiniten Regress, einem Zirkelschluss und einem dogmatischen Abbruch des Verfahrens (vgl. Albert, 15). 32 1 Einleitung <?page no="33"?> Bezüglich der Praxisrelevanz einer ethischen Theorie (4) und des erwähnten Problems der praktischen Umsetzung der Diskursethik gibt es aber noch fol‐ gende weitere Bedenken: Selbst, wenn sich tatsächlich alle Gesprächsteilnehmer um einen rationalen Konsens bemühen und ihre Interessen und Wertvorstel‐ lungen argumentativ rechtfertigen, divergieren diese erfahrungsgemäß oft so stark, dass häufig kein Konsens gefunden wird. Diskursethisch gesehen sind zwar nur diejenigen Ansprüche ethisch relevant und verdienen Anerkennung, die interpersonal gerechtfertigt werden können. Dabei geben die Diskursethiker aber keine vorausliegenden Kriterien für die Beurteilung der subjektiven Inter‐ essen oder die Qualität von Gründen und Argumenten ihrer Verteidigungen. Diese müssen sich erst im realen praktischen Diskurs selbst zeigen (vgl. Habermas 1992, 165). Es sind alle Argumentationsformen und normativen Überzeugungen zugelassen, also utilitaristische Argumente genauso wie solche, die auf moralische Gefühle oder Intuitionen verweisen. Wichtig ist nur, dass die aufgeführten Gründe aus der Perspektive aller Beteiligten nachvollzogen werden können. Die Diskursethik stellt damit nur eine Art „Rahmenethik“ für die Diskussion unterschiedlicher moralischer Prinzipien und Überzeugungen dar. Ein solches offenes Konzept einer normativen Ethik allein scheint daher eine zu dürftige theoretische Grundlage für die Tätigkeit Angewandter Ethik zu sein. Erforderlich wäre zusätzlich eine Argumentationstheorie, die den Umgang mit heterogenen Gründen und Argumenten klärt (vgl. Ott 2005a, 194). Es seien hier wenigstens einige Argumentationstypen vorgestellt, die in den Diskussionen zur Angewandten Ethik eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn in der philosophischen Ethik meist suggeriert wird, man müsse sich für die oppositionellen Theorietypen des Konsequentialismus (Utilitarismus) oder der Deontologie (Kantianismus) entscheiden, lassen sich die verschiedenen Perspektiven und Beurteilungskriterien mit Blick auf konkrete Fragestellungen durchaus als Argumentationsformen miteinander kombinieren und gegenein‐ ander abwägen (vgl. Ethik, Kap. 6.4). Sie können wie optische Linsen eingesetzt werden, dank derer verschiedene normative Gesichtspunkte eines komplexen moralischen Problems in den Fokus rücken. Konsequentialistische Argumentationsformen Von erheblicher Bedeutung in den aktuellen Debatten sind konsequentialisti‐ sche und darunter vornehmlich utilitaristische Prinzipien und Überlegungen. Bei konsequentialistischen Argumentationsformen bemisst sich der Wert einer Handlung an den „Konsequenzen“, d. h. an den Handlungsfol‐ gen. Für ein verantwortungsvolles moralisches Denken und Handeln ist es 33 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="34"?> zweifellos unverzichtbar, die Folgen des Handelns für alle Betroffenen zu bedenken. Denn eine zentrale Funktion moralischer Sollensforderungen ist es, Menschen, Tiere und Pflanzen vor den schädlichen Folgen rücksichtslosen Handelns zu bewahren. Am Ursprung der Moral trifft man auf den Umstand, dass Menschen von den Handlungsfolgen anderer in ihrem Wohlergehen betroffen sein können. Bei einer konsequentialistischen Argumentation stellt sich stets die empirische Frage, welche konkreten Folgen ein bestimmtes Handeln aller Wahrscheinlichkeit nach haben wird. Darüber hinaus ist die normative Frage zu klären, nach welchen Wertmaßstäben diese Folgen beurteilt werden sollen (vgl. Ethik, Kap. 6.1). Im Utilitarismus als der bedeutendsten konsequentialistischen Theorie kommt es grundsätzlich auf den „Nutzen“ (lateinisch „utilitas“) der Handlungsfolgen an, der allerdings unterschiedlich definiert werden kann, z. B. als Vermeidung von Leid, Ver‐ mehrung von Lust oder Erfüllung von Präferenzen (vgl. Ethik, Kap. 4.2). Als ethisch richtig gilt diejenige Handlung, die den größtmöglichen Gesamtnut‐ zen für alle Betroffenen erwarten lässt. Solche utilitaristischen Argumente dürfen aber keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen. Denn bei einer ausschließlichen Orientierung an der allgemeinen Nutzenmaximierung läuft man Gefahr, die einzelnen Betroffenen zu instrumentalisieren. Im Zeichen eines totalitaristischen Kollektivismus wird keine Rücksicht genommen auf die Würde und moralischen Rechte der Individuen wie z. B. die Rechte auf Leben und Selbstbestimmung oder auf moralische Prinzipien der Gleichheit oder Gerechtigkeit. Der Zweck heiligt dann buchstäblich die Mittel (vgl. Ethik, Kap. 6.1). Es kann aber vom unparteiischen objektiven Standpunkt der Moral aus gesehen nicht richtig sein, einer Minderheit große Übel zuzumuten, nur um den Nutzen für die Mehrheit zu steigern. Deontologische Argumentationsformen Daneben genießen auch deontologische Argumentationsformen einen hohen Stellenwert in praktischen Diskursen. Während konsequentialistische Ansätze den Wert einer Handlung ausschließlich an den Handlungsfolgen bemessen, gibt es in deontologischen Ethikmodellen Handlungen, die unge‐ achtet ihrer Folgen und situativen Bedingungen an sich gut oder schlecht sind. Eine Handlung ist deontologisch gesehen ethisch richtig, wenn die handelnde Person eine gute Absicht hat und sich an kategorischen Sollensforderungen orientiert (griechisch „to deon“: „was man tun soll“). Dies sind Verbote, Gebote oder allgemeine Prinzipien, zu denen man sich um ihrer selbst willen verpflich‐ tet. Beim Befolgen solcher Sollensforderungen geht es nicht um erwartete 34 1 Einleitung <?page no="35"?> positive Folgen des Handelns, sondern um etwas, das moralisch selbständigen Wert hat wie Menschenwürde, Freiheit, gegenseitige Achtung oder Gleichbe‐ handlung aller Menschen. Anders als im Konsequentialismus sind moralische Rechte der Menschen unbedingt zu achten, sodass Betroffene niemals zu einem noch so guten Ziel instrumentalisiert werden dürfen (vgl. Kap. 6.2). Die höchsten deontologischen Moralprinzipien klassischer ethischer Theorien wie Kants Kategorischer Imperativ oder das diskursethische Moralprinzip werden unabhängig von Folgenüberlegungen anhand reflexiver Verfahren begründet. Genauso wie die konsequentialistische Forderung einer Orientierung an den Handlungsfolgen scheint auch die deontologische Kernthese grundsätzlich richtig zu sein, da es moralisch inakzeptable Handlungen wie Töten oder Foltern gibt und grundlegende Menschenrechte geachtet werden müssen (vgl. Kap. 6.4). Bei einer Verpflichtung zu bestimmten Geboten oder Verboten kann es allerdings leicht passieren, dass man die konkreten spezifischen Handlungskontexte ausblendet. Ein blindes Befolgen absoluter Prinzipien und ein rigoroses Pochen auf die Einhaltung bestimmter Pflichten und Rechte ohne Rücksicht auf die Handlungsfolgen wäre verantwortungslos. Denn wie es ein Sprichwort sagt, ist „gut gemeint oft das Gegenteil von gut“. Um für eine kontextsensible Abwägung im Einzelfall offen zu bleiben, wäre nicht von einer absoluten, sondern nur von einer relativen Ausnahmslosigkeit der Sollensforderungen auszugehen. Abzulehnen ist ein deontologischer Rigoris‐ mus, bei dem die ethische Urteilskraft verkümmert und die Verantwortung für möglicherweise schlimme Folgen ausgeblendet wird. konsequentialistische Ethik deontologische Ethik moralisch richtig ist die Handlungsal‐ ternative mit den bestmöglichen Folgen moralisch richtig ist ein Handeln aus Pflicht (Sollensforderungen befolgen) Problem: Instrumentalisierung von Indi‐ viduen für Nutzenmaximierung Problem: Rigorismus und Ausblenden der Handlungsfolgen Theorie mittlerer Prinzipien Angesichts der Vielzahl verschiedener ethischer Theorien gibt es auch Versuche, auf einer mittleren Ebene zwischen allgemeinen ethischen Theorien und den konkreten ethischen Urteilen konsensfähige mittlere Prinzipien zu formulieren. Großen Einfluss in der Angewandten Ethik und insbesondere in der Bioethik hat der von Tom Beauchamp und James Childress begründete „Principlism“, den sie in ihrem erstmals 1979 erschienenen Lehrbuch Principles of Biomedical Ethics 35 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="36"?> entwickelten. Er wird im Deutschen meist irreführenderweise als „Prinzipien‐ ethik“ übersetzt. Da aber die meisten traditionellen Ethikkonzeptionen oberste Moralprinzipien wie z. B. den Kategorischen Imperativ bei Kant vorgeschlagen und begründet haben, müsste man im Deutschen präziser von einer Theorie mittlerer Prinzipen sprechen: Die „principles“, „mittleren Prinzipien“ oder „Prinzipien mittlerer Reichweite“ befinden sich auf einer mittleren Ebene zwischen den höchsten Moralprinzipien auf der Theorieebene und praktischen Handlungsregeln im je spezifischen Einzelfall. Die beiden Autoren führen folgende vier Prinzipien auf: 1. Autonomie, 2. Nichtschaden, 3. Wohltun, 4. Gerechtigkeit (vgl. Kap 2-5). Diese Prinzipien haben den Vorteil, dass sie im Sinne des fünften Kriteriums (5) mit einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz rechnen können und auch mit verschiedenen Moraltheorien vereinbar sind. Bemängelt wird allerdings die Beschränkung auf genau diese vier Prinzipien, weil andere relevante moralische Gesichtspunkte wie z. B. Wert des Lebens oder Menschenwürde nicht berücksichtigt werden (vgl. Stoecker, 178). Ein an‐ deres, dem biomedizinischen Beratungskontext entstammendes Modell schlägt alternativ dazu sieben Prinzipien für den Umgang mit den neuen Reprodukti‐ onstechnologien vor (Kymlicka 2000, 207): 1. Autonomie, 2. Verantwortlichkeit, 3. Achtung menschlichen Lebens, 4. Gleichheit, 5. angemessene Nutzung von Mitteln, 6. Nicht-Kommerzialisierung der Fortpflanzung, 7. Schutz der besten Interessen des Kindes und anderer besonders verletzlicher Parteien. Principlism (Theorie mittlerer Prinzipien) Der ethische Wert einer Handlung bemisst sich an Prinzipien mittlerer Reichweite (zwischen obersten Moralprinzipien und konkreten Handlungsregeln). z.B. vier Prinzipen von Beauchamp/ Childress: Autonomie, Nichtschaden, Wohl‐ tun und Gerechtigkeit Problem: Auswahl der Prinzipien unklar (z. B. Wert des Lebens, Menschenwürde etc. fehlen) Auch bezüglich der Kriterien Einfachheit (1), Klarheit (2) und Relevanz für möglichst viele Handlungsfelder (4) scheint ein Werkzeugkasten mit vielseitig einsetzbaren Prinzipien auf den ersten Blick gut abzuschneiden. Von den Autoren und einigen Interpreten wird es durchaus als Stärke betrachtet, dass die generellen Leitlinien viel Interpretationsspielraum bei der Beurteilung des je besonderen Einzelfalls offenlassen (vgl. Beauchamp u.a., 38; Marckmann u. a., 33f.). Gleichwohl verhindert es natürlich die einfache Handhabbarkeit (1), wenn sich z. B. der genaue Inhalt des Prinzips Gerechtigkeit erst in 36 1 Einleitung <?page no="37"?> Auseinandersetzung mit zahlreichen, sich teilweise widerprechenden Gerech‐ tigkeitstheorien genauer bestimmen lässt (vgl. Düwell 2011, 246). Hinsichtlich des dritten Kriteriums der Widerspruchsfreiheit (3) ist außerdem ein Konflikt zwischen den verschiedenen Prinzipien voraussehbar, die in keiner Hierarchie zueinander stehen (vgl. ebd.). Zu denken ist an einen Arzt, der nach dem Prinzip des Wohltuns um das Wohl eines Patienten besorgt ist, der aber gleich‐ zeitig gemäß Autonomieprinzip dessen autonomen Wunsch nach Sterbehilfe respektieren möchte. Ein Standardvorwurf richtet sich schließlich gegen das unzulängliche schwache Begründungsverfahren (6), weil die Prinzipien selbst nicht nochmals mittels einer bestimmten ethischen Theorie begründet werden (vgl. Düwell 2008, 92; Stoecker, 178). Die beiden Autoren haben in späteren Auflagen auf diese Kritik reagiert, indem sie sich auf den kohärentistischen Begründungsansatz beriefen: Alternativ zu einem induktiven oder deduktiven linearen Begründungsmodell werden im Kohärentismus alltägliche Moralvor‐ stellungen, Einzelfallbewertungen und philosophische Theorien in ein „Überle‐ gungsgleichgewicht“ („reflective equilibrium“) gebracht, wie es John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit schildert (vgl. Rawls, 38). Das Problem bei einem kohärentistisch-rekonstruktiven Vorgehen besteht aber wie erwähnt darin, dass ein faktischer Konsens keine ethische Legitimität von Normen verbürgt, wenn die Qualität der Meinungen oder Argumente nicht eingehend geprüft wurde und es sich nicht um einen begründeten, rationalen Konsens handelt. Argumente gegen die Theorie mitt‐ lerer Prinzipien Relativierungen der Einwände - Konflikte zwischen Prinzipien - erheblicher Interpretationsspiel‐ raum - „schwache“ kohärentistisch-rekonstruktive Begründung } Hinwendung zur konkreten Hand‐ lungssituation und zu persönlichen Erfahrungen und Wertvorstellun‐ gen notwendig - „starke“ rationale Begründung prin‐ zipiell möglich Gerechtigkeitstheorien Wie gesehen verlangt der objektive und unparteiische Standpunkt der Moral, ungeachtet persönlicher Freundschafts- oder Feindschaftsbeziehungen, alle Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen in gleicher Weise zu berücksich‐ tigen (vgl. Kap. 1.1). Wer unparteiisch gleichsam von einer höheren Warte eines neutralen Beobachters aus urteilt und entscheidet, handelt moralisch und in einem allgemeinen Sinn auch gerecht: Er hat wie die Göttin der 37 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="38"?> Gerechtigkeit, die „Justitia“, die Augen verbunden und sieht nicht, wer welche Interessen vertritt. Was genau und nach welchen Beurteilungskriterien oder -hinsichten mit der Waage in ihrer Hand gegeneinander abgewogen werden soll, darüber gibt es allerdings unterschiedliche Intuitionen und Theorien. Bei einer personenbezogen-inegalitären Gerechtigkeit soll jeder Einzelne das bekommen, was ihm aufgrund seiner konkreten Bedürfnisse, Verdienste oder Ansprüche nach absoluten Maßstäben zusteht (vgl. Ethik, 219f.). So soll beispielsweise jeder Mensch genügend Nahrung oder eine passende Therapie bekommen, damit er ein menschenwürdiges Leben führen kann. Bei diesem Gerechtigkeitsmodell spielt der Vergleich mit anderen Menschen keine Rolle, weil nur das Wohl der einzelnen Person an sich betrachtet zählt. Obgleich dieser Ansatz mit dem Fokus auf den betroffenen Einzelnen grund‐ sätzlich überzeugend ist, kommt man bei vielen Gerechtigkeitsfragen in der Praxis um einen interpersonalen Vergleich nicht herum. Dies gilt v. a. für soziale Verteilungssituationen, in denen nur eine begrenzte Zahl von Gütern oder Ressourcen wie z. B. Studienplätzen oder Intensivbetten zur Verfügung steht. Im Gegensatz zum personenbezogen-inegalitären Modell stellt das inter‐ personal-egalitäre Gerechtigkeitsmodell die in den philosophischen und alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen dominierende Idee der Gleichheit ins Zentrum (vgl. Ethik, 213f.): Gleiche sollen gleich und Ungleiche ungleich behandelt werden (vgl. Aristoteles, NE, 1130bff.). Zwischen Menschen mit gleichen Merkmalen oder in vergleichbaren Situationen dürfen also keine willkürlichen Unterschiede gemacht werden. Welche Gesichtspunkte bei der Beurteilung von Gleichheit oder Ungleichheit der Betroffenen relevant sind, kann aber je nach Handlungsbereich und Verteilungsform unterschiedlich sein. Entscheidend für eine gerechte Verteilung von Nutzen und Schaden bzw. Vorteilen und Lasten ist, dass die Verteilungskriterien für alle Menschen gleich gelten und mit Blick auf den institutionellen Kontext allgemein nachvollzieh‐ bar begründet werden können (vgl. Ethik, 217f.). Nicht-willkürliche Kriterien könnten z. B. bei der Stipendienvergabe Motivation, Vorwissen und Eignung für einen bestimmten Studiengang sein, wohingegen Hautfarbe oder Religion als irrelevante Kriterien keine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Im Kontrast zu diesen beiden Modellen ist es das Ziel einer schützenden Gerechtigkeit, schwächere Mitglieder der Gesellschaft sowie nicht-sprachfähige Wesen oder Naturobjekte zu schützen (vgl. Zude, 112). 38 1 Einleitung <?page no="39"?> interpersonal-egalitäre Gerechtig‐ keit personenbezogene-inegalitäre Ge‐ rechtigkeit angemessene Gleichheit in einem in‐ terpersonalen Vergleich (nach allgemei‐ nen begründeten Kriterien) Erfüllung absoluter personenbezogener Standards (ohne Vergleich mit anderen Menschen) Dialektische Denkbewegung zwischen oben und unten Bei diesem Versuch einer Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis ist zutage getreten: Eine Polarisierung zwischen Theoriezentriertheit und Pra‐ xisorientierung ist problematisch und kontraproduktiv. Das oppositionelle Lagerdenken zwischen Anhängern des Top down- und Bottom up-Modells verhindert eine differenzierte und angemessene Beschreibung dessen, was Angewandte Ethik leisten kann und soll. Auf der einen Seite lässt sich von einer ethischen Theorie nicht sinnvollerweise erwarten, dass sie konkrete Handlungsregeln für die Lösung aktueller Konfliktfälle liefert. Die Idee einer rein technischen oder mechanischen Anwendung von Theorien auf praktische Einzelfälle erwies sich als verfehlt. Gleichwohl ist die theoreti‐ sche Reflexion auch in der Angewandten Ethik unverzichtbar, weil ethi‐ sche Begriffe, Beurteilungskriterien und Prinzipien kritisch hinterfragt und durch ethische Theorien legitimiert werden müssen. Auf der anderen Seite bilden wie gesehen nicht ethische Theorien, sondern konkrete praktische Problemlagen den Ausgangspunkt angewandt-ethischer Reflexionen. Aus der erforderlichen genauen Beschreibung des konkreten Einzelfalls oder den Interessen, moralischen Intuitionen oder Überzeugungen der beteiligten Personen allein lassen sich jedoch keine moralisch richtigen Handlungs‐ regeln ableiten. Es muss vielmehr benannt werden, welche allgemeinen Gesichtspunkte und ethischen Prinzipien für die Beurteilung des konkreten Einzelfalls relevant sind. Denkprozesse in der Angewandten Ethik können daher weder eine deduktive Einbahnstraße von oben nach unten noch von unten nach oben darstellen. Vielmehr geht es um eine dialektische Denkbewegung zwischen ethischer Theoriebildung und Erfahrung wie im Kohärentismus (vgl. Beauchamp u.a., 23). Für ein adäquates Verständnis des Theorie-Praxis-Verhältnisses ist es hilfreich, verschiedene Abstrak‐ tionsgrade ethischer Argumentationen zu unterscheiden (vgl. Bayertz 1991, 12). Hat man das unten skizzierte Stufenmodell mit verschiedenen Graduierungen an Abstraktheit und Allgemeinheit normativer Handlungs‐ orientierungen vor Augen, lösen sich viele scheinbare Gegensätze zwischen Theorie und Praxis auf. Auch in den verschiedenen Bereichsethiken der 39 1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis <?page no="40"?> Angewandten Ethik lässt sich entsprechend eine Grundlagen- und eine Anwendungsebene unterscheiden (vgl. Düwell 2011, 246). Ebene der ethischen Theorien: Begründung höchster Moralprinzipien Diskursethik als Rahmentheorie reflexive Begründung: Ableitung des diskursethischen Moralprinzips aus unab‐ dingbaren sprachpragmatischen Voraussetzungen des Miteinander-Diskutierens Ziel: rationaler, begründeter Konsens über moralische Normen Problem: keine Kriterien für Güte der Argumente im praktischen Diskurs zur Ergänzung: 1) Argumentationstheorie a) Konsequentialistische Argumentationsformen: Orientierung an Handlungsfolgen z.B. Utilitarismus: Maximierung des Gesamtnutzens aller Betroffenen a) deontologische Argumentationsformen: Verpflichtung zu kategorischen Sollensforderungen z.B. Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativ: Respekt vor Würde 2) Gerechtigkeitstheorien - interpersonal-egalitäre Gerechtigkeit: Gleiche gleich, Ungleiche ungleich behandeln - personenbezogen-inegalitäre Gerechtigkeit: Jeder bekommt das ihm Zu‐ stehende - schützende Gerechtigkeit: Schutz schwächerer Mitglieder oder nicht sprachfähiger Entitäten Ebene der ethischen Prinzipien Principlism/ Theorie mittlerer Prinzipien z.B. Autonomie, Nichtschaden, Wohltun und Gerechtigkeit kohärentistische Begründung: Übereinstimmung mit Moraltheorien und all‐ täglichen moralischen Intuitionen Probleme: - großer Interpretationsspielraum und Prinzipienkollision - faktisches Überzeugtsein von Prinzipien begründet nicht normative Richtigkeit Ebene der ethischen Normen und Urteile Normenbildende Anwendung der Prinzipien: z.B. Präzisierung der Prinzipien Autonomie und Fürsorge bezüglich Suizidbeihilfe: Suizidbeihilfe ist ethisch legitim, wenn der Suizidwunsch autonom und rational ist und das Leid durch keine mitmenschliche Fürsorge beseitigt werden kann. 40 1 Einleitung <?page no="41"?> Ebene der singulären Urteile z.B. Handlungsregel bezüglich Suizidbeihilfe im konkreten Einzelfall: Einem 90-Jährigen mit einer aggressiven Krebserkrankung und kaum zu lindernden Schmerzen darf bei wiederholt geäußertem Suizidwunsch Beihilfe geleistet wer‐ den. 1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen Entsprechend den in Kapitel 1.1 erläuterten unterschiedlichen Begriffsbe‐ stimmungen und Konzepten Angewandter Ethik erhält man auch auf die Frage nach „Experten“ abweichende Antworten. Kann es im Bereich Ange‐ wandter Ethik überhaupt so etwas geben wie Ethik-Experten? Oder ist in Sachen Angewandter Ethik jede urteilsfähige Person Experte? Definiert man „Angewandte Ethik“ als eine „Disziplin der normativen Ethik“ im Sinne der ersten Definition (1), kämen als „Experten“ von vornherein nur akademisch ausgebildete Philosophen in Frage, vornehmlich die Inhaber einer Professur im Bereich Angewandte Ethik. Versteht man jedoch wie in der zweiten Definition (2) Angewandte Ethik als „Engagement“, als „Tätigkeit des öf‐ fentlichen Beratens“, wird ein solches Monopol philosophischer Ethiker infrage gestellt. Es ist dann nämlich keineswegs ersichtlich, wieso nicht auch philosophische Laien Ethikexperten sein sollen. Geht man schließlich nicht von theoretischen Definitionen, sondern von der gängigen Praxis aus, lässt sich feststellen: Bei der Beratertätigkeit in Ethikkommissionen als einer der wichtigsten Tätigkeiten Angewandter Ethiker sind faktisch oft nur wenige bis gar keine Mitglieder ausgebildete Philosophen (vgl. unten). Viele philosophische Ethiker scheinen dies durchaus zu billigen. Denn „Philosophen besäßen weder eine Sonderkompetenz für singuläre moralische Überzeugungen (moralische Einzelintuitionen) noch gar für eine umfassende oder resümierende wertende Stellungnahme zu einzelnen Szenarien“ (Nida-Rümelin 1999, 265). Bernard Williams und Arthur Caplan vertreten dezidiert die Ansicht, dass es keine Ethikexperten mit einem überlegenen Wissen oder Sachverstand geben könne (vgl. Schaber, 140; Birnbacher 1999b, 269). Insbesondere die Vorstellung, Philosophen könnten auf ihre besondere ethische Autorität pochen und den anderen Menschen vorschreiben, wie sie handeln sollen, erzeugt fast durchgängig Unbehagen. 41 1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen <?page no="42"?> Doch macht man sich dabei nicht ein falsches Bild von einem „Expertentum“ in der Ethik? A Materiale Kompetenzen Um feststellen zu können, wem man am ehesten den Expertenstatus im Bereich Angewandter Ethik attestieren kann, gilt es sorgfältig zu prüfen, über welche Qualifikationen solche Experten überhaupt verfügen müs‐ sen. Das deutsche Wort „Experte“ ist eine Übertragung des französischen „expert“, das so viel meint wie „erfahren, sachkundig“ und auf das latei‐ nische „expertus“: „erprobt, bewährt“ zurückgeht. Ein Experte ist also jemand, der auf einem bestimmten Gebiet besonders Bescheid weiß, ein Sachverständiger oder Kenner. Von einem Experten der Angewandten Ethik müsste man 1. erwarten, dass er sich in dem zur Diskussion stehenden Praxisfeld wie Medizin (Medizinethik), Wirtschaft (Wirtschaftsethik) oder Medien (Medienethik) auskennt. Gefragt sind ein inhaltliches empirisches Fachwissen und systematisierte, wissenschaftlich reflektierte Erfahrungen. Diesbezüglich sind natürlich die entsprechenden Fachwissenschaftler, also etwa Mediziner, Wirtschafts- oder Medienwissenschaftler am kompetentes‐ ten. Philosophen hingegen müssen gute Autodidakten sein und über viel Fleiß verfügen, um sich die nötigen Kenntnisse anzueignen. Über dieses empirische Fachwissen hinaus benötigt ein Experte in Angewandter Ethik 2. auch die Kenntnis ethischer Theorien, ethischer Problemstellungen und entsprechender Lösungsmodelle. Diesbezüglich sind nun die Philosophen unbestritten die Sachverständigen. Ihr Ziel kann es aber sicherlich nicht sein, im Rahmen eines öffentlichen Beratungsprozesses die Gesprächspartner von der Richtigkeit einer bestimmten Moraltheorie wie Diskursethik, Kanti‐ anismus oder Utilitarismus zu überzeugen. Auch wenn vertiefte Kenntnisse über moralphilosophische Wissensbestände unabdingbar sind, gehört die Vermittlung oder gar das Aufoktroyieren dieses Wissens nicht zu den Aufgaben eines Ethik-Experten. Er sollte nicht über ethische Grundbegriffe und Theorien dozieren, sondern sie auf aktuelle Fallbeispiele anwenden können (vgl. Birnbacher 1999b, 270). Das theoretische Wissen kann ihm helfen, in der Praxis zu erkennen, welche Gesichtspunkte und impliziten Wertvorstellungen von Vertretern verschiedener Moralauffassungen in be‐ stimmten Entscheidungssituationen geltend gemacht werden. Hinsichtlich der materialen Fachkompetenzen ist also sowohl ein inhaltliches Wissen bezüglich empirischer Sachverhalte sowie ein Überblick über die Typen ethischer Theorien und Argumentationen erforderlich. Ein Idealfall sind 42 1 Einleitung <?page no="43"?> Angewandte Ethiker mit einem Doppelstudium z. B. in Medizin und Philo‐ sophie. B Formale Fachkompetenzen Ein „Experte“ muss aber neben solchen materialen auch noch formale Fachkompetenzen vorweisen können: So kommt es 3. auf die bereits angesprochene Fähigkeit an, die verschiedenen ethischen Standpunkte in einem moralischen Konflikt erkennen und nachvollziehen zu können. Er soll aber nicht nur die Werthaltungen und Moralauffassungen der Beteilig‐ ten identifizieren, sondern sich auch in die Lage insbesondere der direkt Betroffenen hineinversetzen können. Denn gemäß der Grundidee des un‐ parteiischen oder objektiven Standpunktes der Moral sollen die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen aller Beteiligter gleichermaßen berücksichtigt werden. Daher muss sich der Experte sowohl vom eigenen subjektiven Standpunkt als auch von allen wissenschaftlich ausgewiesenen Positionen distanzieren, um die Interessen und Ansprüche der Gesprächsteilnehmer ernst zu nehmen. Er muss sich vorstellen und nachempfinden können, wie das Leben oder die Grundeinstellung zum Leben dieser Personen durch die fragliche Handlungsweise betroffen wäre. Die Einnahme eines solchen unparteiischen Standpunktes erfordert ein hohes Maß an Selbstdistanz und innerer Gelassenheit (vgl. Birnbacher 1999b, 270). Da die akademischen Philosophen während ihres Studiums gelernt haben, in verschiedensten philosophisch-weltanschaulichen Systemen zu denken, dürfte ihnen diese reflexive Distanzierung von den eigenen Meinungen und Interessen beson‐ ders gut gelingen. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass auch andere Wissenschaftler oder Laien über diese Kompetenz verfügen kön‐ nen. Im Unterschied zu denjenigen, die im alltäglichen Arbeitsprozess in eingespielten Praktiken und Entscheidungsmustern gefangen sind, dürften Philosophen aber über deutlich mehr Muße und Unvoreingenommenheit verfügen. Auch haben sie keine Interessen eines Berufsstandes oder einer Gruppe durchzusetzen, die sie repräsentieren. Nun reicht es nicht aus, wenn ein ethischer Experte aufgrund einer ausgeprägten Selbstdistanz habituell, d. h. gewohnheitsmäßig die Stand‐ punkte und Sichtweisen der am Gespräch beteiligten Personen einnimmt. Er soll vielmehr 4. zu den fremden Interessen wie auch zu seinen eigenen kritisch Stellung beziehen. Dabei kann er sie unter verschiedenen Aspekten einer Prüfung unterziehen: Viele Standpunkte erweisen sich bei näherer Analyse als widersprüchlich oder unklar, gekennzeichnet von vorschnellen 43 1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen <?page no="44"?> Polarisierungen, Übergeneralisierungen oder falschen Schlussfolgerungen. Solche unterlaufen v. a. da gerne, wo starke Emotionen ins Spiel kommen, wie es bei vielen Konflikten der Angewandten Ethik der Fall ist. Oft sind auch die einer Position zugrunde liegenden Hintergrundannahmen problematisch oder nicht verallgemeinerungsfähig, sodass sie rekonstruiert und korrigiert werden müssen. Der Experte hätte sodann auf eine begrün‐ dete Rechtfertigung der Standpunkte zu drängen und die Reichweite der einzelnen Argumente zu klären. Er kann Gegenargumente oder außer Acht gelassene Gesichtspunkte aufführen und kontraintuitive Konsequenzen aufzeigen, die sich aus einer Position ergeben. Es ist kaum zu leugnen, dass Philosophen Spezialisten sind im systematischen Denken, und dass sie die wichtigsten Argumentationstypen und Begründungsformen kennen (vgl. A oben). Aufgrund ihrer Kompetenz zur Selbstdistanz und zur Einnahme des unparteiischen Standpunktes dürfte es ihnen leichter fallen, Argumente andersdenkender Personen unvoreingenommen zu prüfen, d. h. unabhängig davon, ob sie ihnen sympathisch sind oder nicht. Sie können also einerseits die verschiedenen Argumente der Meinungsvertreter zum Zweck einer Klä‐ rung zurückführen auf bestehende Argumentationstypen und andererseits die Diskussion erweitern „durch einen Fundus von potentiell relevanten Argumenten“ (Vieth, 40). Von einem Experten in Angewandter Ethik wäre 5. zu wünschen, dass er über besondere Fähigkeiten im Führen oder Moderieren von Gesprächen verfügt. Er hat die Diskussion zu strukturieren und auf eine normativ-ethi‐ sche Begründungsebene hinzuführen (vgl. Thurnherr, 31). Damit eine ver‐ nünftige, für alle akzeptable Lösung für ethische Probleme gefunden werden kann, muss zwischen den gegensätzlichen Sichtweisen vermittelt werden. Als Gesprächsleiter hätte er zudem die Einhaltung bestimmter Diskursre‐ geln zu überwachen: dass etwa a) jeder Teilnehmer sich verständlich äußert und seine Position begründet; b) er alle anderen als vernünftige und gleich‐ berechtigte Gesprächspartner ernst nimmt; c) keiner versucht, die anderen im Sinne seiner persönlichen Interessen strategisch zu beeinflussen oder vernünftige Argumente und gute Gründe abzuweisen, nur weil sie seine eigene Position infrage stellen; d) alle Beteiligten sich ausschließlich von der Vernunft, nicht von persönlichen Interessen leiten und einzig den Zwang des besseren Arguments gelten lassen; e) das oberste Ziel die Konsensfindung und die gemeinsame Lösung moralischer Konflikte darstellt. Nun vollzieht sich die Philosophie seit ihren Anfängen in der Antike wesentlich im Gespräch: Sie entsteht und bewährt sich zugleich in der argumentativen Ver‐ 44 1 Einleitung <?page no="45"?> ständigung. Darüber hinaus haben namhafte Philosophen Argumentations- und Diskurstheorien entworfen. Die in Kapitel 1.2 erläuterte Diskursethik eignet sich besonders gut als Theorierahmen für das diskursive, konsensori‐ entierte Argumentieren in Ethikkomitees (vgl. Kettner 2005, 10 f.). Daneben verdient die Methode des „sokratischen Gesprächs“ Erwähnung: Sie geht zurück auf Sokrates, den Vater der philosophischen Ethik, der als erster das Argument (den „logos“) zum Instrument der Konsensfindung erhob. Die sogenannten „Neosokratiker“ Leonard Nelson und Gustav Heckmann haben den typischen sokratischen Dialog zum Gruppengespräch mit zehn Teilnehmern erweitert. Der philosophisch gebildete Gesprächsleiter hat für das allseitige Befolgen ähnlicher Regeln wie die genannten (a-e) zu sorgen (vgl. Fenner 2005, 163 f.). Philosophen scheinen damit prädisponiert zu sein für die Rolle eines Moderators von diskursiven Beratungsprozessen. Viele erhoffen sich von Ethik-Experten nicht nur die Gesprächsführung und die Klärung der Argumente, sondern auch die „richtige Antwort“: Wer den Prozess des gemeinsamen Reflektierens und Abwägens über ein bestimmtes ethisches Problem unterstützen könne, müsse auch fähig sein, selbst die bestmögliche Lösung zu präsentieren. Obgleich der Schluss logisch zwingend zu sein scheint, wird doch gerade dies von den meisten ethischen Beratern verneint. Weder erlaube ihnen die ethische Fachkompetenz die normativ richtige Stellungnahme noch dürfen sie anderen Personen die Verantwortung für ethische Entscheidungen abnehmen (vgl. Willigenburg, 286). Beides sollte allerdings klar voneinander unterschieden werden: Be‐ züglich der ersten Behauptung sind die meisten Probleme Angewandter Ethik zweifellos zu komplex, als dass Lösungen „aus einer Warte und sozusagen im denkerischen Alleingang entworfen werden könnten“ (Thurn‐ herr, 27). Indem der Experte Angewandter Ethik sich aber leichter ein umfassendes Bild der verschiedenen Standpunkte erwirbt und deren Stärken und Schwächen durchschaut, dürfte er tatsächlich zu einem kompetenteren Urteil gelangen. Allerdings ist seine Stellungnahme dann nicht mehr durch seinen Expertenstatus oder durch sein akademisches Studium „gedeckt“, und sein Expertenstatus verleiht ihm keine ethische Autorität bezüglich aktueller moralischer Konflikte (Birnbacher 1999b, 274). Obwohl er bei der Urteilsfindung von seinen materialen und formalen Fachkompetenzen profitieren kann, handelt es sich immer noch um sein ganz persönliches Urteil. Würden die am Konflikt beteiligten Personen seinem Rat folgen, nur weil er eine Autorität darstellt, wäre ihre Autonomie unterwandert. Der Experte nähme ihnen dann gemäß der zweiten Behauptung die ethische 45 1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen <?page no="46"?> Verantwortung ab, die man aber prinzipiell nicht delegieren kann. Ist jedoch nicht die Autorität der Person ausschlaggebend, sondern die Kraft seiner Argumente, scheint das Pochen auf die „ethische Neutralität“ des Ethik-Experten überzogen zu sein. Der Kartograph der Landkarte aller mög‐ lichen ethischen Positionen und Argumente kann schwerlich eine „neutrale“ Bewertung der Standpunkte aufzeigen, ohne selbst Stellung zu beziehen (vgl. Willigenburg, 290 ff.). Mit Blick auf das Argumentieren und die Einnahme des unparteiischen Standpunktes kann der Experte den anderen ein Vorbild sein, sofern ihnen seine begründeten Stellungnahmen einleuchten. Abschließend gilt es festzuhalten: Niemand hat ein Privileg zur Auffin‐ dung der richtigen Antworten auf ethische Streitfragen. Prinzipiell ist jeder urteilsfähige Mensch imstande, einen konstruktiven Beitrag zur ethischen Entscheidungsfindung zu leisten. Angesichts der meisten gegenwärtigen moralischen Problemlagen sind aber ein spezifisches (beispielsweise me‐ dizinisches, ökonomisches oder medientheoretisches) Fachwissen sowie Erfahrungen in der Praxis nötig, die sich Laien erst erarbeiten müssen. Sie sind also auf den Austausch mit Wissenschaftlern und Praktikern angewiesen. Während die Betroffenen (Patienten und Angehörige) gleich wie die beteiligten Fachkräfte (Mediziner und Pflegepersonen) ihre Wer‐ tungen jeweils aus einer partikularen Perspektive vornehmen, vermögen Philosophen aus einiger Distanz die Komplexität des Problems mit all seinen ethisch relevanten Aspekten unvoreingenommener wahrzunehmen. Als Spezialisten des systematischen Reflektierens und Begründens können sie alle Beteiligten beim Rechtfertigen und kritischen Prüfen ihrer Standpunkte unterstützen. In ihrer Funktion als Moderatoren können sie die Durchset‐ zung der Berufs- oder persönlichen Interessen der einzelnen Gesprächsteil‐ nehmern verhindern und sie dazu anhalten, sich vom Zwang des besseren Arguments leiten zu lassen. So könnte eine Funktionalisierung der Diskurse durch Lobbying verhindert werden. In Bezug auf ihre Reflexions- und Argumentationskompetenzen sowie auf die Prädisposition zur Gesprächs‐ leitung dürfen Philosophen als Experten in Angewandter Ethik gelten. Angewandte Ethiker stellen aber grundsätzlich keine Autoritäten dar, die den anderen Personen die Urteilsfindung und persönliche Verantwortung abnehmen könnten. Sie vermögen lediglich, die rationale Konsensfindung voranzutreiben und mit ihren eigenen wohlbegründeten Stellungnahmen den anderen ein Vorbild zu sein. Dies ist auch der Anspruch der in diesem Buch normativen Urteile und Positionierungen. 46 1 Einleitung <?page no="47"?> Qualifikationen eines Ethik-Experten A Materiale Kompetenzen: 1) empirische Fachkenntnisse 2) Kenntnis ethischer Theorien und Lösungsmodelle B Formale Kompetenzen: 3) Selbstdistanz und Einnahme des unparteiischen Standpunktes 4) Klärung und Prüfung von Argumentationen, Einbringen zusätzlicher rele‐ vanter Argumente 5) Gesprächsleitung: Diskussionen strukturieren, Positionen vermitteln und Einhaltung der Diskursregeln überwachen 6) Vorbildfunktion im ethischen Argumentieren und Urteilen Eine wichtige Tätigkeit von Angewandten Ethikern ist wie erwähnt die Arbeit in Ethikkommissionen oder -komitees, in denen konkrete moralische Probleme mit dem Ziel einer Konsensfindung abgehandelt werden. Solche Kommissionen werden einberufen, um die moralische Unsicherheit in der Praxis zu reduzieren (vgl. Kettner 2005, 6). Zur Charakterisierung ihrer Aufgaben sind nationale bzw. internationale von lokalen Ethikkommissio‐ nen zu unterscheiden (vgl. Vieth, 22 f.): Nationale und internationale Beratungsgremien werden meist von politischen Instanzen ins Leben gerufen und zielen auf die Entwicklung von Richtlinien und Gesetzen ab. Sie werden entweder ad hoc von einer Regierung im Vorfeld einer politischen Entscheidung eingesetzt oder aber als fester Bestandteil des Politikbetriebs institutionalisiert. Ständige Gremien wären etwa die „Natio‐ nale Ethikkommission für Humanmedizin (NEK)“ der Schweiz oder der „Deutsche Ethikrat“, welche die öffentlichen Diskussionen fördern und Empfehlungen für die Politik abgeben sollen (vgl. unten). Daneben gibt es auch themenspezifisch eingegrenzte ständige Kommissionen wie die „Zentrale Ethikkommission bei der deutschen Bundesärztekammer“ (ZEKO) für ethische Fragen in der modernen Biomedizin oder die zentralen Ethik‐ kommissionen der Schweizerischen Akademien der Naturwissenschaften oder der medizinischen Wissenschaften, in denen allgemeine ethische Richtlinien für die naturwissenschaftliche bzw. medizinische Forschung und Praxis erarbeitet werden. Lokale Ethikkommissionen hingegen sind an einzelne Institutionen wie Forschungseinrichtungen oder Kliniken gebunden und haben die Aufgabe, diese mit Blick auf bereits bestehende Gesetze und Richtlinien zu beraten und weitere Empfehlungen zu erarbei‐ ten (vgl. ebd., 23 ff.): Ethikkommissionen an Forschungseinrichtungen 47 1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen <?page no="48"?> wie Universitäten, Universitätskliniken oder Max-Planck-Instituten beraten die Forschenden hinsichtlich der ethisch oder rechtlich problematischen Aspekte ihrer Projekte, z. B. im Fall von Tierversuchen oder Humanexpe‐ rimenten. Ethikkomitees in Kliniken und Krankenhäusern hingegen besprechen strittige Fälle des Klinikalltags wie z. B. die Frage, wie mit dem Sterbewunsch eines Patienten umgegangen werden soll (vgl. Kap. 2.2). Ethikkommissionen nationale/ internationale lokale Entwicklung von allgemeinen Richtlinien und Gesetzen ethische Orientierung des Handelns in Institutionen Forschungseinrichtungen Kliniken/ Krankenhäuser Beurteilung von Forschungsprojekten Beratung über strittige Fälle des Klinikalltags Bezüglich der personellen Zusammensetzung solcher Ethikkommissionen handelt es sich fast durchgängig um interdisziplinäre Expertenkommis‐ sionen bestehend aus Fachvertretern verschiedener wissenschaftlicher Richtungen: Philosophen, Theologen, Juristen, Sozialwissenschaftler, Öko‐ nomen, Mediziner, Naturwissenschaftler. Sie sind jeweils für bestimmte Aspekte des Problems Experten, etwa für die Struktur von Argumenten, für theologische, juristische oder rein sachlich-deskriptive Aspekte. Auf den Gebieten der anderen sind sie hingegen Laien. Seit sich die Angewandte Ethik auch an Universitäten immer mehr etabliert, ist eine steigende Zahl von Angewandten Ethikern mit Doppelqualifikationen zu verzeichnen. In klinischen Ethikkommissionen treten zu den wissenschaftlichen Fachleuten noch Pflegepersonen hinzu. Je nach den Schwerpunkten einer Institution dominieren häufig die entsprechenden Fachvertreter, also etwa die Medi‐ ziner in medizinethischen Kommissionen. Auch wenn medizinethische Beratung natürlich nicht ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten möglich ist, muss diese Dominanz doch als problematisch eingestuft werden. Es ist laut Düwell „nicht ersichtlich“, warum Mediziner eine besondere Kompetenz für medizinethische Probleme haben sollen (vgl. 2000, 105). Die Gefahr scheint groß, dass Mediziner bei der Bewertung medizinischer 48 1 Einleitung <?page no="49"?> Forschungsprojekte oder des Einsatzes neuer Interventionsmöglichkeiten die ethischen Probleme herunterspielen. Ganz generell wird immer wieder der Verdacht laut, die Einrichtung von Ethikkommissionen stelle eine rein symbolische Handlung dar: Politiker oder Ärzte würden durch solche Kommissionen in ihrer Verantwortung entlastet und könnten demonstrie‐ ren, dass sie den ethischen Bedenken der Öffentlichkeit Raum gelassen haben (vgl. Rippe 2000, 140). Andere monieren, moralische Empfehlungen solcher Expertengremien dienten allzu oft als Diskussionsabschluss statt als Diskussionsbeitrag zu moralisch strittigen Fragen (vgl. Düwell 2000, 105). Öffentliche und rechtliche Entscheidungen würden durch sie häufig präjudiziert, d. h. es werde dem demokratischen Willensbildungsprozess vorgegriffen. Moderne Gesellschaften seien aber keineswegs mehr bereit, Streitfragen an irgendwelche unter dem Deckmantel der „Ethik“ operieren‐ den Experten zu delegieren. Insbesondere bei Ethikkommissionen auf nationaler oder internationaler Ebene kommt es zweifellos auf eine optimale Interaktion zwischen den Kom‐ missionen und den Parlamenten bzw. der Öffentlichkeit an. So übernimmt der „Deutsche Ethikrat“ eine doppelte Funktion als Dialogforum und als Be‐ ratungsgremium (vgl. http: / / www.ethikrat.org, 30.6.2022): Als Dialogforum einerseits soll er die wissenschaftlichen Spezialdiskurse zusammenführen, mit Nationalen Ethikräten anderer Staaten sowie internationalen Organi‐ sationen kooperieren, die Öffentlichkeit informieren und die gesellschaftli‐ chen Diskussionen fördern. Zu diesem Zweck werden regelmäßig öffentli‐ che Veranstaltungen, Anhörungen und öffentliche Sitzungen durchgeführt. Als Beratungsgremium andererseits hat er auf eigenen Entschluss oder im Auftrag der Regierung Stellungnahmen und Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln zu erarbeiten. Es geht also mitnichten darum, die ethische Urteilsfindung der Politikverantwortlichen oder der Öffentlichkeit zu beschneiden oder jemandem die Verantwortung für seine Entscheidungen abzunehmen. Statt den demokratischen Willensbildungs‐ prozess mit einer normativ-ethischen Expertise entbehrlich zu machen, sollten die Ethikkommissionen in diesen Beratungsprozess eingebunden sein. Indem sie ihr großes Potential an Reflexions- und Argumentations‐ kompetenzen kontinuierlich in die aktuelle Diskussion einfließen lassen, können sie zu einer Rationalisierung der öffentlichen oder politischen Diskussion um ethische Fragen beitragen. Ihre Aufgabe sollte sich nicht darauf beschränken, vernünftig darüber zu urteilen, was ethisch erlaubt oder verboten ist, und entsprechende Empfehlungen zu unterbreiten. Sie müssten 49 1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen <?page no="50"?> sich darüber hinaus auch überlegen, wie man Individuen bzw. Kollektive dazu bringt, rationale Entscheidungen zu treffen (vgl. Campagna, 301). Kettner formuliert als zentrale Ziele von Ethikkomitees die „Kultivierung von Debatten über politisch relevante Moralfragen in der staatsbürgerlichen Öffentlichkeit“ und die „Schulung moralischer Urteilskraft innerhalb des Mitgliederkreises einer Institution“ (Kettner 2005, 5). Ethikkommissionen personelle Zusammensetzung: interdisziplinär genereller Auftrag: Behandeln konkreter moralischer Probleme mit dem Ziel eines rationalen Konsenses - Auftrag auf nationaler/ internationaler Ebene: a) Dialogforum für interdisziplinäre wissenschaftliche sowie öffentliche Diskussionen und für internationale Zusammenarbeit b) Beratungsgremium mit Stellungnahmen und Empfehlungen für Politik und Recht - Auftrag auf lokaler Ebene: Schulung der ethischen Urteilskompetenz des Mitgliederkreises einer Institution 1.4 Bereichsethiken Wie bei den Begriffsbestimmungen zur Angewandten Ethik in Kapitel 1.1 bereits erwähnt, wird „Angewandte Ethik“ häufig rein extensional als Oberbegriff für verschiedene Bereichsethiken definiert (vgl. Stoecker u. a., 3). So schlägt etwa Julian Nida-Rümelin vor, statt von „angewandter Ethik mit ihren unterschiedlichen Fokussierungen“ von „Bereichsethiken“ zu sprechen (2005, 63). Dies scheint insbesondere dann sinnvoll zu sein, wenn man „Angewandte Ethik“ wie in Definition (1) als Anwendung allgemeiner normativer Prinzipien oder Beurteilungskriterien auf spezifi‐ sche Handlungsbereiche bestimmt. Sie wäre dann nichts anderes als die Gesamtheit aller bereichsspezifischen Versuche einer Aktualisierung ethi‐ scher Prinzipien. Tatsächlich hat sich die Angewandte Ethik in den letzten Jahrzehnten in eine Reihe von Subdisziplinen ausdifferenziert, die institu‐ tionell und personell deutlich voneinander abgegrenzt sind. So betreibt heute in der Praxis kaum jemand „Angewandte Ethik“, sondern die meisten Beteiligten treten als Spezialisten für eine bestimmte Bereichsethik auf: Man definiert sich beispielsweise als Medizinethiker, Wirtschaftsethiker 50 1 Einleitung <?page no="51"?> oder Medienethiker. Zumindest im Bereich der akademischen Philosophie scheint eine solche Spezialisierung unumgänglich zu sein, weil in jedem Handlungsbereich vertiefte Fachkenntnisse vorausgesetzt werden. Die „Ge‐ neralisten“ Angewandter Ethik werden aufgrund ihres notgedrungen in die Breite statt in die Tiefe gehenden Überblickswissens eher belächelt (vgl. Ott 1996, 65). Gleichwohl scheint es unangemessen zu sein, Angewandte Ethik lediglich als Sammelbezeichnung verschiedener Bereichsethiken auf‐ zufassen, sodass sie regelrecht in eine Medizinethik, Wirtschaftsethik, Medienethik etc. „zerfiele“. Denn wie gezeigt gibt es eine übergreifende inhaltliche Zielvorstellung, nämlich mit den Mitteln der Ethik den Menschen in konkreten Handlungssituationen Orientierung zu bieten (vgl. Stoecker u. a., 3). Es gibt keineswegs eine je spezifische Ethik mit unterschiedlichen moralischen Prinzipien für die einzelnen Bereiche, weil die skizzierten ethischen Grundlagen im Großen und Ganzen dieselben sind. Schwierigkeiten wirft jedoch die Frage auf, wie viele und welche Bereich‐ sethiken die Angewandte Ethik genau umfasst. In Sammelbänden und gene‐ ralistischen Einführungen schwanken Anzahl und Benennungen beträcht‐ lich. Dabei entstammen die verschiedenen Bereichsethiken teilweise sehr unterschiedlichen Entstehungskontexten. Die Aufteilung der Bereichsethi‐ ken folgt somit faktisch keinem einheitlichen Prinzip (vgl. Düwell 2011, 246). In systematischer Absicht lassen sie sich gleichwohl dadurch legitimieren, dass man auf prägnante Handlungskomplexe verweist, die sich innerhalb der menschlichen Praxis abzeichnen. Menschliche Handlungsfelder sind allerdings in der Realität vielfältig miteinander verflochten, sodass die Grenzen zwischen ihnen nicht exakt bestimmbar sind und unterschiedlich eng oder weit gezogen werden können. So beschäftigt sich zum Beispiel die „Bioethik“ mit moralischen Problemen im Umgang mit dem Lebendigen, die sich etwa durch die neuen Biotechnologien wie z. B. gentechnische Verfahren eröffneten. Auf diesen begrenzten technischen Anwendungsbe‐ reich bezieht sich denn auch die „Genethik“, die man als Teilbereich der „Bioethik“, aber auch als Anwendungsfeld der „Technikethik“ oder sogar als eigenständige Bereichsethik auffassen kann (vgl. Düwell 2011, Kap. III, 3; Kap. 5.4). Das Lebendige als Gegenstand der „Bioethik“ lässt sich aber noch weiter unterteilen in menschliches, tierliches und pflanzliches Leben. Während sich dem menschlichen Leben die „Medizinethik“ widmet, befasst sich mit dem tierlichen Leben die „Tierethik“, mit dem pflanzlichen die „Pflanzenethik“. Die „Tier-“ und „Pflanzenethik“ lassen sich als zwei eng verwandte Bereiche unter dem Begriff „Naturethik“ zusammenfassen 51 1.4 Bereichsethiken <?page no="52"?> und gegen den davon wesentlich verschiedenen bioethischen Teilbereich „Medizinethik“ mit anderen relevanten Prinzipien abgrenzen (vgl. Kap. 3). Die „Naturethik“ bezieht allerdings die unbelebte Natur mit Gestein, Gewässer und Luft mit ein, sodass sie eindeutig den Bereich der „Bioethik“ sprengt. Die Auswahl der verschiedenen „Bereiche“ ist also offensichtlich nicht eindeutig durch voneinander isolierbare Praxisbereiche determiniert, die sich exakt gegeneinander abgrenzen lassen. Dieser Umstand bedeutet aber keineswegs, dass nun jede Einteilung kontingent oder willkürlich und als ein „bloßes Konstrukt“ zu verabschieden sei. Wichtig ist, dass man die jeweiligen spezifischen Charakteristika und Problemfelder eines typi‐ schen Handlungsbereichs der einzelnen Bereichsethiken klar benennt und gegebenenfalls auf Überschneidungen oder alternative Begrifflichkeiten hinweist. In dieser Einführung wird auf allzu vage übergeordnete Begriffe wie „Bioethik“ oder „Sozialethik“ verzichtet, weil die entsprechenden Hand‐ lungsfelder zu weit gefasst oder nicht hinlänglich von anderen abtrennbar sind. Um diese Einführung überschaubar zu gestalten, wird aber auch dem gegenwärtigen Trend zu immer spezialistischeren Bereichsethiken wie etwa einer „Lebensmittelethik“ oder „journalistischen Ethik“ nicht Folge geleistet. Auch die häufig gesondert voneinander thematisierte „Tier-“ und „Umweltethik“ werden aufgrund einer großen Schnittmenge der ethischen Argumentationsformen in Kapitel 3 zur „Naturethik“ gemeinsam behandelt. Ausgewählt werden sechs zentrale und bereits gut etablierte „klassische“ Bereichsethiken, die größere Teilsysteme menschlichen Handelns betref‐ fen. Infolge der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen kam es in diesen Handlungsfeldern zu einer Erweiterung der menschlichen Hand‐ lungsmöglichkeiten, die zu neuen moralischen Konflikten und Problemen oder doch zu einer Verschärfung der bereits bekannten führten: In der Medizinethik, Naturethik, Wissenschaftsethik, Technikethik, Medienethik und Wirtschaftsethik werden hochbrisante aktuelle moralische Streitfragen thematisiert. Die dazugehörigen Handlungsbereiche und moralischen Kon‐ flikte lassen sich wie folgt beschreiben: 52 1 Einleitung <?page no="53"?> Bereichsethik Handlungsbereich moralische Konflikte Medizinethik (Kap. 2) Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesund‐ heitswesen neue Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten dank medizinisch-techni‐ schen Fortschritts Naturethik (Kap. 3) Umgang mit der außer‐ menschlichen Natur neue Dimensionen der Um‐ weltzerstörung und der Massentierhaltung Wissenschafts‐ ethik (Kap. 4) Gewinnung und Verwen‐ dung wissenschaftlicher Er‐ kenntnisse viel weitreichendere Konse‐ quenzen der Forschungser‐ gebnisse Technikethik (Kap. 5) Herstellung, Nutzung und Entsorgung von Technik immer risikoreichere und folgenschwerere technische Neuerungen Medienethik (Kap. 6) Produktion, Bereitstellung und Rezeption medialer In‐ halte zunehmende Durchdrin‐ gung der Lebenswelt von medientechnologischen In‐ novationen Wirtschaftsethik (Kap. 7) Herstellung und Verteilung von (materiellen) Gütern neue Dimensionen einer globalisierten Wirtschaft Man mag bei dieser Liste einige gängige Bereichsethiken vermissen, bei‐ spielsweise die bereits erwähnte „Sozialethik“ oder die „feministische Ethik“. Beide beziehen sich aber nicht auf einen bestimmten Handlungsbereich, sondern eher auf eine methodische Zugangsweise zu moralischen Fragestel‐ lungen (vgl. Düwell u. a., 21): Feministische Ethik, auch Gender-Ethik genannt, richtet die Aufmerksamkeit auf die männlichen Denkstereotype in der traditionellen Ethik und in den gegenwärtig herrschenden Moralauffas‐ sungen (vgl. Pieper 1998, 338-359). Der unparteiische objektive Standpunkt der Moral und die gleichfalls von persönlichen Bindungen abstrahierenden Prinzipien Gleichheit und Gerechtigkeit werden als typisch männliche ethische Beurteilungsmuster entlarvt. Demgegenüber sollen die von Frauen bevorzugten ethischen Prinzipien der Fürsorge, der Verantwortungsüber‐ nahme und des Mitgefühls in persönlichen zwischenmenschlichen Bezie‐ hungen als gleichberechtigt anerkannt werden. Es scheint sich hier um Grundlagenreflexionen über heterogene Beurteilungskriterien im Rahmen einer begründungsorientierten normativen Ethik zu handeln. Natürlich können diese grundlegenden ethischen Perspektiven dann auch in der 53 1.4 Bereichsethiken <?page no="54"?> Angewandten Ethik aktualisiert werden. So soll die unterschiedliche Ge‐ wichtung ethischer Prinzipien anlässlich der Abtreibungsfrage dazu führen, dass Männer im Zeichen des Gerechtigkeitsprinzips das Recht auf Leben des Fötus betonen, Frauen hingegen für ein Recht auf Abtreibung plädieren, wenn die Frau aufgrund des privaten oder sozialen Umfeldes keine lebens‐ lange Verantwortung für das Kind übernehmen kann (vgl. ebd., 356). Weil sie aber nicht einem spezifischen Praxisfeld gewidmet ist, sondern für einen bestimmten methodischen Ansatz steht, wird die feministische Ethik im vorliegenden Band nicht als Bereichsethik aufgeführt. Während die feministische Ethik die weibliche Sichtweise in der Ethik akzentuiert, hebt die Sozialethik die soziale Dimension der verschiede‐ nen menschlichen Praxisfelder hervor. Sie wird daher bisweilen als eine Bereichsethik definiert, die das zwischenmenschliche Handeln unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit reflektiert (vgl. Thurnherr, 68). Gemäß der Begriffsdefinitionen in Kapitel 1.1 handelt es sich bei der „Sozi‐ alethik“ oder „Moralphilosophie“ aber um eine grundlegende Perspektive der normativen Ethik. Sie ergänzt als Theorie der Moral bzw. des gerechten Zusammenlebens die „Individual-“ oder „Strebensethik“, die sich dem Glück oder guten Leben der Einzelnen widmet. Beide Betrachtungsweisen lassen sowohl begründungsorientierte als auch anwendungsorientierte Reflexio‐ nen zu. Um Doppeldeutigkeiten zu vermeiden, scheidet „Sozialethik“ daher als Bezeichnung für eine eigene Bereichsethik aus. Daneben fungiert „Sozi‐ alethik“ in der Angewandten Ethik auch als Oberbegriff für verschiedene Bereichsethiken, in denen es um das gesellschaftliche Zusammenleben geht: Ähnlich wie „Bioethik“, welche die Bereichsethiken „Medizinethik“, „Tier‐ ethik“ und „Pflanzenethik“ umfasst, ordnet man der „Sozialethik“ analog die „Rechtsethik“, „Politische Ethik“, „Wirtschaftsethik“ und „Medienethik“ zu (vgl. Pieper u. a., 9). Wenn allerdings die Sozialethik in einem eigenen Kapitel zwischen „Rechtsethik“ und „Politischer Ethik“ abgehandelt wird (vgl. ebd., 156-175), geht dieser systematische Zusammenhang schnell wieder verloren. Auch als Ordnungsbegriff soll „Sozialethik“ in dieser Einführung keine Verwendung finden. In einigen Einführungen in die Angewandte Ethik fungieren die Politi‐ sche Ethik und die Rechtsethik als eigenständige Bereichsethiken (vgl. Thurnherr; Nida-Rümelin 2005; Stoecker u. a. 2011). Es ist aber nicht klar, inwiefern die beiden Disziplinen „Politische Ethik“ und „Rechtsethik“ zu den Bereichsethiken der jungen Disziplin der Angewandten Ethik zählen sollen. Zwar lassen sich die meisten gegenwartsdringlichen moralischen Probleme 54 1 Einleitung <?page no="55"?> nicht auf der Akteursebene lösen, sondern erfordern institutionenethische Überlegungen und Maßnahmen (vgl. Kap. 1.1). Von besonderer Bedeutung sind dabei zweifellos politische Institutionen und die Institution des Rechts. Mit ihnen befassen sich aber traditionell die „Politische Philosophie“ und die „Rechtsphilosophie“, die auf eine 2000-jährige Geschichte zurückblicken können. Die Fokussierung auf die Frage nach der ethischen Legitimität dieser Institutionen scheint die neuen Bezeichnungen „Politische Ethik“ und „Rechtsethik“ nicht zu rechtfertigen. Denn man beschäftigt sich un‐ ter diesen Überschriften keineswegs mit neuen ethischen Problemen und Konflikten, die sich infolge der erweiterten Handlungsmöglichkeiten dank wissenschaftlich-technischer Errungenschaften ergeben haben. Vielmehr werden beispielsweise unter der Bereichsethik „Politische Ethik“ hauptsäch‐ lich die wichtigen Theorien der abendländischen Politischen Philosophie von Platon über Kant bis zu Rawls (vgl. Brenner 2011, 279 ff.) oder die philosophischen Grundsatzdebatten zwischen Liberalismus und Kommuni‐ tarismus diskutiert (vgl. Thurnherr, 81). Es geht also um die politischen und rechtlichen Voraussetzungen für die praktische Lösung der aktuellen moralischen Probleme, nicht aber um die ethische Reflexion dieser Probleme selbst. Auch „Politische Ethik“ und „Rechtsethik“ wird man in dieser Ein‐ führung daher nicht als eigene Bereichsethiken finden. Es wird jedoch in den einzelnen Bereichsethiken immer wieder auf die institutionenethische Ebene der Politik und des Rechts verwiesen. 55 1.4 Bereichsethiken <?page no="57"?> 2 Medizinethik Medizinethik ist die Bereichsethik mit der längsten Tradition: Sie ist so alt wie die Medizin selbst. Denn diese wird seit jeher begleitet von ethischen Reflexionen über das richtige Handeln der ausübenden Mediziner. Dabei stand nicht die Regulierung ethisch zulässiger oder unzulässiger Praktiken im Vordergrund, sondern die richtige innere Haltung (Tugend), das Selbstverständnis des Arztes. Man bezeichnet eine solche standesrecht‐ liche Selbstregulierung als ärztliches Ethos oder Standesethos der Ärzte. Griechisch „Ethos“ meint allgemein eine durch Erziehung und Gewöhnung erworbene, in der Persönlichkeit verankerte charakterliche Grundhaltung eines Menschen oder einer sozialen Gruppe mit bestimmten verinnerlichten Idealen, Prinzipien oder Lebensgrundsätzen, die dazu verhilft, in allen Situationen auf das Gute ausgerichtet zu sein. Das älteste Dokument für ein ärztliches Rollenverständnis ist der Eid des Hippokrates aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert (vgl. die untenstehende Tabelle). Allerdings geht die Forschung heute davon aus, dass der Eid gar nicht vom Namensge‐ ber, dem Arzt Hippokrates stammt, und dass er in der Antike höchstens von einer Minderheit der Ärzte geschworen und befolgt wurde (vgl. Wiesing 2020, 38 ff.). Gleichwohl gilt er vielen Ärzten noch heute als maßgebliche Charakterisierung des Arztethos und wird gern als Autorität zitiert. Zumeist wird darunter die humane Grundhaltung der Ärzte verstanden, die immer nach bestem Wissen und fachlichem Können dem Wohl der Patienten dienen und ihnen niemals Schaden zufügen. Einzelne Forderungen des Gelöbnisses wie die Verpflichtung zur Fürsorge, das Schweigegebot oder das Verbot sexueller Übergriffe sind auch für heutige Ärzte zweifellos noch bindend. Andere wie das Verbot zum Entfernen von Blasensteinen oder zum Abbruch von Schwangerschaften verdanken sich historisch-kulturellen Wissensho‐ rizonten und Moralvorstellungen und sind heute überholt oder umstritten. In direkter Tradition zum hippokratischen Eid steht das Genfer Gelöbnis des Weltärztebundes mit dem französischen Untertitel „Serment (Schwur) d’Hippocrate“, das 1948 als Reaktion auf die Mittäterschaft vieler Ärzte an den Verbrechen in der NS-Zeit verabschiedet wurde und seither für Mediziner in der BRD und anderen Ländern verpflichtend ist. <?page no="58"?> Eid des Hippokrates (4. Jh. v. Chr.): Genfer Gelöbnis des Weltärztebun‐ des (1948) „… Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden. Auch werde ich nieman‐ dem ein tödliches Mittel geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und werde auch niemanden dabei bera‐ ten; auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben. (…) In alle Häuser, in die ich komme, werde ich zum Nutzen der Kranken hineingehen, frei von jedem bewussten Unrecht und jeder Übeltat, besonders von jedem ge‐ schlechtlichen Missbrauch an Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung oder auch au‐ ßerhalb meiner Praxis im Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschwei‐ gen und als Geheimnis bewahren…“ „Bei meiner Aufnahme in den ärztli‐ chen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Mensch‐ lichkeit zu stellen. (…) Ich werde mei‐ nen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir an‐ vertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. (…) Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfes‐ sion, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zuge‐ hörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden…“ Die „medizinische Ethik“ oder „Medizinethik“ fällt aber keineswegs zusam‐ men mit der ärztlichen Ethik, die sich mit der richtigen Einstellung und dem richtigen Handeln der praktizierenden Mediziner befasst. Denn viele gegenwärtige Probleme wie etwa Abtreibung, Sterbehilfe oder die gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen sprengen eindeutig den Zuständigkeitsbereich der Ärzte. Medizinethik hat daher nicht nur das Handeln der Ärzte zu reflektieren, sondern beispielsweise auch dasjenige der Patienten, der Pflegepersonen und der Gesundheitspolitiker. Themen sind dabei etwa der selbstverantwortliche Umgang der Menschen mit Ge‐ sundheitsrisiken oder bereits vorhandenen Krankheiten, die medizinische Versorgung und die Organisation des Gesundheitswesens oder die Richtli‐ nien medizinischer Forschung. So fällt es nicht leicht, diese vielfältigen Handlungsweisen als einen einheitlichen Tätigkeitsbereich zu bestimmen. Da die Medizin als Wissenschaft und Praxis wesentlich auf Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit bzw. auf Schmerzlinderung abzielt, kann man den Gegenstandsbereich der Medizinethik als „Umgang mit mensch‐ licher Krankheit oder Gesundheit“ oder noch weiter als „verantwortungs‐ 58 2 Medizinethik <?page no="59"?> voller Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen“ umreißen (vgl. Schöne-Seifert 2007, 10; Wiesemann u. a. 2005, 15). Denn es geht nicht in allen medizinethischen Fragestellungen unmittelbar um Krankheit oder Gesundheit. Zu denken ist beispielsweise an die medizini‐ schen Möglichkeiten der Abtreibung und der künstlichen Befruchtung. Immer mehr Aufmerksamkeit gewinnt im 21. Jahrhundert auch die Enhancement-Medizin, die sich nicht wie die traditionelle „kurative Medizin“ der Heilung und Prävention von Krankheit widmet, sondern als „wunscherfüllende Medizin“ die Wünsche von gesunden Kunden zu erfüllen sucht (vgl. Schöne-Seifert 2007, 99; Wiesing 2020, Kap. 16; Fenner 2019, 19; 31 f.). Ein biomedizinisches „Enhancement“ (englisch: „Erhöhung, Steigerung“) meint Verbesserungen menschlicher Eigenschaften oder Fä‐ higkeiten mit pharmakologischen, chirurgischen oder biotechnologischen Mitteln. Dazu zählen z. B. das pharmakologische Neuroenhancement zur Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung und Schönheitsoperatio‐ nen zur Erreichung gewünschter ästhetischer Korrekturen. In diesem neuen Gegenstandsbereich medizinischer Behandlung stellen sich andersartige ethische Fragen wie z.B.: Müssen Psychopharmaka mit möglicherweise negativen Langzeitwirkungen verboten werden, solange diese bei Gesunden noch unzureichend erforscht sind? Führen teure neue Biotechnologien zu ungleichen Zugangschancen und damit zu verschärfter gesellschaftlicher Ungerechtigkeit? Sind Schönheitsoperationen mit dem ärztlichen Ethos vereinbar? Teilweise als eigenständiger Bereich neben der „Arztethik“ behandelt oder aber als Teilbereich in die Medizinethik integriert erstarkt auch eine Pflegeethik, die sich mit ethischen Problemen in der beruflichen Pflege von kranken, behinderten, älteren oder sterbenden Menschen befasst (vgl. Boppert; Maio, Kap. VI; Körtner). Aufgrund einer im Vergleich zum Arzt-Patient-Verhältnis oft noch größeren Asymmetrie im Verhältnis der Pflegenden zu den Pflegebedürftigen verschärfen sich einige Fragen wie etwa die nach den Grenzen der Pflicht zur Hilfeleistung, z. B. angesichts sexueller Wünsche der Patienten, nach der Wahrung ihrer Würde bei un‐ vermeidbaren intimen Kontakten oder Gerechtigkeit bei der Verteilung der knappen Zeit und Aufmerksamkeit. Da in dieser Einführung nur ein grober Überblick über die zentralen Fragestellungen und Probleme innerhalb einer Bereichsethik gegeben werden kann, finden speziellere Teildisziplinen wie „Pflegeethik“, „Psychiatrieethik“ oder „Kinder- und Jugendmedizin“ hier keine Berücksichtigung. Teilfragen etwa zur Forschungsethik wie die nach 59 2 Medizinethik <?page no="60"?> der Legitimität von Tier- und Humanexperimenten oder nach den Gefahren der Humangenetik kommen in anderen Kapiteln zur Wissenschaftsethik (Kap. 4) bzw. zur Technikethik (Kap. 5) zur Sprache. Medizinethik: Bereichsethik, die sich mit ethischen Problemen beim Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst Einflussfaktoren in der neueren Medizingeschichte Insbesondere in medizinethischen Debatten in der BRD wirkt bis heute der Schock darüber nach, dass viele Mediziner während des Nationalsozialismus menschlich versagten und das Hippokratische Ethos keine Gültigkeit mehr hatte. Auch führende Vertreter der Ärzteschaft beteiligten sich an Zwangs‐ sterilisationen von über dreihunderttausend Menschen, der Ermordung von über hunderttausend Psychiatriepatienten und einigen tausend schwer kranken Kindern sowie an oft tödlich verlaufenden Forschungsexperimen‐ ten an wehrlosen Insassen von Konzentrationslagern (vgl. Bormuth, 45; Stoecker, 176; Noack u. a., 130 ff.). Den ideologischen Hintergrund dieser Verbrechen bildeten die damals weit verbreiteten Theorien des Sozialdar‐ winismus und der Rassenhygiene mit dem Ziel, die reine arische Rasse heranzuzüchten und alle „lebensunwerten“ Varianten durch Vernichtung oder Zwangssterilisation am Fortpflanzen zu hindern. Wie wichtig das Wissen um diese verhängnisvollen Zusammenhänge für eine kritische Wachsamkeit auch ist, wäre doch eine vorschnelle Tabuisierung bestimmter Themenkreise wie v. a. der Sterbehilfe und der Reproduktionsmedizin unangemessen. Die Verfehlungen der NS-Medizin sollten nicht Diskursblo‐ ckaden nach sich ziehen, sondern die Öffentlichkeit vielmehr zu dringend erforderlichen sachlichen medizinethischen Diskussion ermahnen. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zu einem sprunghaften Fortschritt in der modernen Medizin, der das Profil der Medizinethik beträchtlich verän‐ derte. Denn durch einen enormen Kenntniszuwachs und technische Errun‐ genschaften ergaben sich viele neue moralische Konflikte und Probleme. So stellen sich die Fragen nach der ethischen Legitimität der Organentnahme bei hirntoten Menschen erst seit der Möglichkeit von Organtransplantatio‐ nen (Kap. 2.4), diejenigen im Bereich der Reproduktionsmedizin erst seit den Möglichkeiten künstlicher Befruchtung oder des Klonens (Kap. 2.3). Angesichts der gesteigerten Möglichkeiten künstlicher Lebensverlängerung erreichte die Debatte um die Sterbehilfe neue Dimensionen (Kap. 2.2). Durch die neu eröffneten Interventionsmöglichkeiten der Ärzte hat sich zudem das 60 2 Medizinethik <?page no="61"?> Arzt-Patient-Verhältnis kompliziert, weil zwangsläufig die Abhängigkeit der Patienten von der Ärzteschaft zunimmt (Kap. 2.1). Nicht zuletzt verschärfte sich angesichts des immer kostspieligeren medizintechnisch Machbaren das Problem der Güterknappheit im Gesundheitswesen (Kap. 2.5). In den 1960er Jahren wurde die Entwicklung der Medizinethik beein‐ flusst von den Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen, die in den Industriestaaten zu einem weiteren Individualisierungsschub führten. Im Zuge dieser Autonomiebestrebungen geriet das traditionelle paternalisti‐ sche Arzt-Patient-Verhältnis in Konflikt mit dem neuen Selbstverständnis der Menschen, und die Ärzte und medizinischen Forscher verloren ihre bis dahin unangefochtene Autorität (vgl. Stoecker, 176 f.). Auch im medizi‐ nischen Bereich wurde auf das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Integrität gepocht, sodass das Prinzip der Patientenautonomie Einzug in die Medizinethik hielt (vgl. unten, Theorien und Prinzipien der Medizinethik). Aber auch bei klassischen Problemen der Abtreibung oder Sterbehilfe waren Betroffene, Angehörige und die Öffentlichkeit nicht länger bereit, die ethische Normierung einfach der ärztlichen Zunft zu überlassen. Institutionalisierung Von allen Bereichsethiken hat sich die Medizinethik bislang am weitestge‐ henden institutionalisiert. Bereits infolge der Aufdeckung der Gräueltaten in der NS-Zeit wurden in Deutschland u. a. der „Nürnberger Kodex“ (1947), die „Deklaration von Helsinki“ (1984) und ärztliche Berufsordnungen ver‐ abschiedet. In den USA wurden 1970 das Hastings Center und das Kennedy Institute of Ethics als bis heute einflussreichste Forschungseinrichtungen aufgebaut (vgl. Stoecker, 177). Etwas später erst, in den 1980er Jahren wurde in Deutschland die Akademie für Ethik in der Medizin mit der Fachzeitschrift Ethik in der Medizin gegründet, und an den medizinischen Fakultäten wurden immer mehr Professuren für Medizinethik besetzt. Seit 2003 ist „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ in Deutschland ein prüfungsrelevantes Ausbildungsfach des Medizinstudiums. Außerdem wurden zwei Enquetekommissionen zur Bioethik am Deutschen Bundestag einberufen und der „Nationale“ bzw. später „Deutsche Ethikrat“ geschaffen. Bei den medizinischen Ethikkommissionen sind grundsätzlich For‐ schungs-Ethikkommissionen zur Beurteilung von ethisch und rechtlich problematischen Aspekten der Forschung am Menschen von klinischen Ethikkomitees zu unterscheiden, in denen über strittige Fälle des Klinik‐ alltags wie einen Behandlungsabbruch oder eine Rationierungsmaßnahme 61 2 Medizinethik <?page no="62"?> beraten wird. Während Forschungskommissionen seit 1995 an allen deut‐ schen medizinischen Fakultäten und Landesärztekammern obligatorisch sind, wurden klinische Ethikkomitees in Kliniken und Krankenhäusern bislang nur in den USA gesetzlich vorgeschrieben, befinden sich aber in Europa auf freiwilliger Basis im Aufbau (vgl. Körtner, 147). Um das technisch Machbare mit dem gesellschaftlich Erwünschten in Einklang zu bringen, wurde der medizinische Handlungsspielraum zudem schon früh durch zahlreiche juristische Richtlinien und Gesetze eingeschränkt. So haben beispielsweise deutsche Gerichte vor über hundert Jahren verfügt, dass keine Versuche an Menschen ohne vorgängige Information und Einwilli‐ gung der Versuchspersonen durchgeführt werden dürfen (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 15). Viele moralische Probleme im Gesundheitswesen werden aber nicht durch rechtliche Normen geregelt, sodass medizinethische Prinzipien erforderlich sind. Theorien und Prinzipien der Medizinethik Ähnlich wie in den anderen Bereichsethiken hat sich in der Medizinethik nicht eine einzige ethische Theorie als allgemein anerkannte Entschei‐ dungsgrundlage durchsetzen können. Einführungen in die Medizinethik beginnen daher oft mit einer mehr oder weniger ausführlichen Übersicht über die verschiedenen ethischen Theorien von deontologischen und utili‐ taristischen Ansätzen über Gerechtigkeitstheorien bis hin zur Fürsorge- und Tugendethik (vgl. Steigleder 2006, Kap. 2; Noack u. a., 4 f.; Marckmann u. a., 25-30). Gemäß den Ausführungen in Kapitel 1.2 spricht grundsätz‐ lich nichts dagegen, die überzeugendsten Theorieelemente miteinander zu kombinieren, sofern die Auswahl begründet wird. Auf der obersten Abs‐ traktionsebene ethischer Theorien haben auch Medizinethiker angesichts der zahlreichen Wert- und Interessenkonflikte im Gesundheitswesen die Bedeutung der Diskursethik als Rahmentheorie erkannt (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 16 f.). Im gemeinsamen praktischen Diskurs mit dem Ziel eines rationalen Konsenses über normative Handlungsorientierungen können die „mittleren Prinzipien“ helfen, unterschiedliche Ansprüche oder Pflichten zu erkennen und zu klären (vgl. ebd., 17 f.; Schöne-Seifert 2007, 32 ff.). Am einflussreichsten in der Medizinethik ist der Principlism (Theorie mitt‐ lerer Prinzipien), der von Tom Beauchamp und James Childress in ihrem Standardwerk Principles of Biomedical Ethics begründet wurde (vgl. Kap. 1.2). Die vier in der untenstehenden Tabelle näher erläuterten Prinzipien „Re‐ spekt der Autonomie“, „Nichtschaden“, „Wohltun“ und „Gerechtigkeit“ sind 62 2 Medizinethik <?page no="63"?> weitgehend unbestritten und finden sich in anderer Formulierung auch in der Berufsordnung für Ärzte wieder (vgl. Engels u. a., 400). Wie erwähnt bieten sie aber nur eine sehr allgemeine ethische Orientierung und müssen in den jeweiligen Handlungssituationen näher bestimmt werden. So ist im Einzelfall oft unklar, was genau einem Patienten am meisten nützt, und es kann außerdem zu einem Konflikt zwischen verschiedenen Prinzipien wie z. B. zwischen dem Wohltun und der Autonomie des Patienten kommen, sodass eine Abwägung nötig ist. In gemeinsamen Beratungsgesprächen von Beteiligten oder Ethikkommitees müssen dann die Handlungsregeln konkretisiert werden. Zu erwähnen sind noch zwei weitere ethische Modelle, die im Gegensatz zu einer rationalistischen Prinzipien- oder Regelethik die Notwendigkeit einer Verankerung der Ethik in der Persönlichkeit, in der Charakterhaltung und Gefühlseinstellung der Menschen betonen: Bezüglich der bereits er‐ wähnten und etwa von den amerikanischen Ethikern Edmund Pellegrino und David Thomasma vertretenen Tugendethik werden als zentrale ärztli‐ che Tugenden u. a. Wohlwollen, Mitleid, Gewissenhaftigkeit und Aufmerk‐ samkeit genannt (vgl. Pellegrino, 61; Maio, 37). Ohne konkretes fachspezifi‐ sches und medizinethisches Wissen darüber, wer welche Hilfe benötigt und welche (Patienten)Rechte und ärztliche Pflichten im Einzelfall relevant sind, bieten solche Tugenden allerdings keine hinreichenden Handlungsorientie‐ rungen. Es fehlen der Tugendethik allgemeine Kriterien für die Beurteilung dessen, was in medizinischen Konfliktfällen wie z. B. Abtreibung oder Sterbehilfe moralisch richtig ist (vgl. Marckmann u. a., 30; Thurnherr, 39). Ähnliches gilt für die Fürsorgeethik oder Care-Ethik, die dem Kontext der in Kapitel 1.4 erläuterten feministischen Ethik entstammt: Es handelt sich um eine Ethik der persönlichen Beziehungen, die die Verantwortung und Fürsorge insbesondere in asymmetrischen Beziehungen wie Eltern-Kind oder Arzt-Patient in den Mittelgrund rückt. Dank der Zuwendung zu konkreten Bedürftigen und der Gefühle persönlicher Anteilnahme und Em‐ pathie sollen sie dem Anderen sensibel begegnen und das ethisch Richtige tun. Beide Ansätze können aber eine vernunftorientierte Prinzipien- oder Regelethik nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, weil für eine begründete Entscheidung allgemeine Kriterien oder Prinzipien erforderlich sind. 63 2 Medizinethik <?page no="64"?> Ebene der ethischen Theorien Diskursethik als medizinethische Rahmentheorie Ebene der ethischen Prinzipien Prinzipienorientierte Medizinethik (Principlism) 1) Prinzip der Autonomie („autonomy“): Rücksichtnahme des Arztes auf selbstbestimmte Entscheidungen des Patienten negativ: Freiheit von äußerem Zwang und Manipulation positiv: Unterstützung des Entscheidungsprozesses des Patienten durch sorg‐ fältige Aufklärung → Prinzip menschlicher Würde 2) Prinzip des Nichtschadens („nonmaleficence“): Der Arzt soll dem Patien‐ ten keinen Schaden zufügen. 3) Prinzip des Wohltuns („beneficence“): negativ: Verhinderung oder Beseitigung von Krankheiten, Lindern von Schmerzen positiv: Beförderung von Gesundheit und Wohlbefinden 4) Prinzip der Gerechtigkeit („justice“): Die Ressourcen im Gesundheitswe‐ sen sollen gerecht verteilt werden. Problem: Im Einzelfall ist eine Konkretisierung und Abwägung der interpretati‐ onsoffenen und u. U. miteinander kollidierenden Prinzipien notwendig. → rationaler praktischer Diskurs aller Beteiligten erforderlich Verankerung in der Persönlichkeit (Einstellungsweise) Tugendethik: Charakterhaltungen wie Wohlwollen und Mitleid Care-Ethik: Fürsorge und Verantwortung in persönlichen Beziehungen Prinzipien Freiheit und Würde Ein besonders hoher Stellenwert kommt in gegenwärtigen medizinethi‐ schen Debatten dem „Prinzip Autonomie“ zu, weil Autonomie in westlichen individualistischen liberalen Gesellschaften als wichtigster Wert und als Grundrecht gilt. Obgleich „Autonomie“ im Principlism lediglich als ein mittleres Prinzip unter anderen aufgeführt wird, kommt diesem systema‐ tisch gesehen eine hierarchisch übergeordnete Rolle zu. Autonomie ist gleichbedeutend mit Selbstbestimmung oder Willensfreiheit und meint die mentale Fähigkeit, sich selbst Ziele setzen und sein Leben danach ausrichten zu können (griechisch „autonomos“: „nach eigenen Gesetzen lebend“): Autonom oder selbstbestimmt ist, wer in einer gegebenen Situation die zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen auf seine persönlichen Ideale und Wertvorstellungen hin beurteilt und aufgrund vernünftiger Über‐ legungen eine bewusste Wahl trifft (vgl. Ethik, 205 f.). Ethisch begründen 64 2 Medizinethik <?page no="65"?> lässt sich das Recht auf Autonomie oder Willensfreiheit mithilfe reflexiver Begründungsmethoden, vornehmlich des handlungsreflexiven Ansatzes von Alan Gewirth und Klaus Steigleder. Denn die Autonomie eines Men‐ schen ist die wohl grundlegendste Voraussetzung für Handlungsfähigkeit und ethisches Handeln (vgl. Steigleder 1999, 51): Wären die Menschen physisch oder psychisch determiniert, könnten sie nicht nach rational begründbaren ethischen Kriterien handeln, und es würden sich sämtliche ethischen Reflexionen, Theorien und Prinzipien erübrigen. Im medizinischen Kontext entscheidet ein Patient nicht bereits dann autonom, wenn er im negativen Sinn frei ist von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme seitens der Angehörigen oder der Ärzte. Viel‐ mehr setzt eine autonome Entscheidung im positiven Sinn eine umfassende Aufklärung und Beratung über alle Behandlungsmöglichkeiten, -risiken und -chancen durch den kompetenten Arzt voraus. Fehlt bei einem Patienten die mentale Fähigkeit, die Tragweite und Bedeutung eines Eingriffs zu ver‐ stehen und sich ein eigenständiges Urteil zu bilden, kann er nicht autonom entscheiden. Man spricht in der Medizin dann von der „Entscheidungsunfä‐ higkeit“ eines Patienten (vgl. Kap. 2.1). Wird die Autonomie eines Menschen durch mangelhafte Aufklärung, physischen Zwang oder psychischen Druck durch andere eingeschränkt, stellt dies eine schwerwiegende Verletzung des Rechts auf Autonomie dar. Die mentale Fähigkeit, eigenständig zu denken und hinsichtlich selbst‐ gesetzter normativer Orientierungen autonome Entscheidungen treffen zu können, begründet in der kantischen Lesart die inhärente oder innere Würde eines Menschen. Ähnlich wie „Autonomie“ ist auch „Würde“ in medizinethischen Diskussionen ein sehr bedeutsames Konzept. Es handelt sich bei der Würde um eine normative Leitvorstellung, die ihren Trägern einen bestimmten moralischen Status oder Wert zuschreibt (vgl. Düwell 2008, Kap. 2.3). Einem Wesen kommt generell dann ein moralischer Status zu, wenn es „für sich genommen moralisch zählt bzw. moralisch zu berücksichtigen ist“ (Steigleder 2006, 316). Aus dem formalen normativen Leitprinzip der Würde werden konkrete Menschenrechte abgeleitet, die individuelle Ansprüche auf eine bestimmte Art der Behandlung seitens des Staates oder Drittpersonen gebieten wie z. B. ein Instrumentalisie‐ rungsverbot. Es herrscht aber Uneinigkeit bezüglich der Gründe für die Würdezuschreibung sowie auch der sogenannten Extensionsproblema‐ tik: Gemeint ist die Frage, wem genau Menschenwürde zuzuerkennen ist, ob allen Menschen oder nur bestimmten, ob nur Menschen oder auch 65 2 Medizinethik <?page no="66"?> nichtmenschlichen Lebewesen. Während bei der Gattungsbetrachtung der Menschenwürde allen Mitgliedern der Gattung Mensch eine unbedingte und nicht graduierbare Würde zugesprochen wird, gesteht man im Rahmen einer individualisierenden Betrachtung nur Menschen mit bestimmten Qualitäten oder Fähigkeiten eine graduierbare Würde zu (vgl. dazu Höffe, 73). Menschenwürde: normative Leitvorstellung, die den Würdeträgern einen be‐ sonderen moralischen Status zuspricht, aus dem bestimmte Menschenrechte abgeleitet werden. Extensionsproblematik: Wem kommt Menschenwürde zu? Gattungsbetrachtung: individualisierende Betrachtung: allen Mitgliedern der Gattung Mensch kommt unbedingte, nichtgraduierbare Würde zu Würde ist graduierbar und kommt nur Menschen mit bestimmten Eigenschaf‐ ten zu Begründet man die menschliche Würde allein mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung oder „Spezies“ Mensch, setzt man sich Peter Singers prominenter Speziesismus-Kritik aus (vgl. 1994, 82 ff.). Der Begriff Speziesismus ist den Ausdrücken „Rassismus“ und „Sexismus“ nachgebildet und meint einen Egoismus der eigenen Art: Genauso willkür‐ lich und unbegründet, wie die Rassisten die Interessen der Mitglieder der eigenen Rasse höher bewerten als die Interessen anderer Rassenangehöriger, behandeln die Speziesisten die Mitglieder der eigenen Art „homo sapiens“ bevorzugt. Beide Male liegt eine ethisch inakzeptable Diskriminierung der nicht zur eigenen Art oder Gruppe Gehörenden vor. Um einen Spezi‐ esismus zu vermeiden, müssten moralisch relevante Eigenschaften oder Charakteristika angegeben werden, die eine Würde-Zuschreibung an alle Mitglieder der Gattung Mensch rechtfertigen. Biologische Eigenschaften wie ein spezifischer Chromosomensatz können eine solche Begründung jedoch nicht leisten (vgl. Steigleder 2006, 326). Ein auch in medizinethischen Debatten häufig gehörtes theologisches Argument lautet, der Grund für die menschliche Würde sei die Ebenbild‐ lichkeit des Menschen zu Gott. Das Argument kann allerdings all jene nicht überzeugen, die nicht an die Existenz eines persönlichen Gottes glauben. Im säkularen Kontext wird demgegenüber im Anschluss an Immanuel Kant die innere Würde meist an die typisch menschlichen Fähigkeiten 66 2 Medizinethik <?page no="67"?> der Vernunftbegabung, vernünftigen Selbstbestimmung oder Autonomie gekoppelt, aufgrund derer alle Menschen als Selbstzwecke zu behandeln sind (vgl. Kant, GMS, BA 67). Es wäre dabei einerseits nicht ausgeschlossen, dass auch höheren Tierarten wie z. B. Menschenaffen Würde zukäme. In einer individualisierenden Betrachtung der Menschenwürde müsste andererseits aber Embryonen, Kleinkindern, geistig schwer Behinderten, Demenzkran‐ ken, Komapatienten und Hirntoten Würde abgesprochen werden, weil ihnen die mentale Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung offenkun‐ dig fehlt. Für die Gattungsbetrachtung menschlicher Würde scheint jedoch das Potentialitätsargument zu sprechen, demzufolge alle Mitglieder der Gattung „Mensch“ potentiell zur Selbstbestimmung fähig sind. Der Grund für die Würdezuschreibung wäre dann die Zugehörigkeit zu einer Spezies, in der die genannten mentalen Eigenschaften normalerweise auftreten. Damit wäre der Speziesismus-Vorwurf abgewendet. Die normative Kraft dieses Potentialitätsarguments ist allerdings umstritten, und der ethisch und juristisch garantierte Würdeschutz bezieht sich im Prinzip nur auf Menschen von der Geburt bis zum Tod (vgl. Knoepffler 2010, 77). Wie noch gezeigt werden soll, wird in der Medizinethik kontrovers darüber debattiert, ob vorgeburtlichem menschlichem Leben Würde zukommt und ab wann ein Mensch tot ist (vgl. Kap. 2.3 und 2.4). Speziesismus-Vorwurf: Die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung Mensch ist kein hinreichender Grund für die Zuschreibung von Würde bzw. besonderem moralischem Status und für eine bevorzugte Behandlung. → Diskriminierung nichtmenschlicher Lebewesen besonderer moralischer Status Kritik - theologische Begründung: Eben‐ bildlichkeit Gottes - säkulare Begründung: gleiche „Natur“ oder „Bestimmung“ - theologisches Argument nur für Gläubige überzeugend - verschiedene Arten von „Potentiali‐ tät“ sind moralisch relevant Von einer durch Autonomie oder Willensfreiheit begründeten inneren Würde lässt sich eine (äußere) Würde-Darstellung als gelingende Selbst‐ darstellung unterscheiden, die vom Ausmaß an „Handlungsfreiheit“ ab‐ hängt und offensichtlich graduierbar ist (vgl. Jaber, 59). Menschen kann es nämlich aufgrund von materiellen, körperlichen, sozialen oder institu‐ tionellen Bedingungen besser oder schlechter gelingen, ihre persönlichen 67 2 Medizinethik <?page no="68"?> Ziele oder Ideale in die Realität umzusetzen. Es können ihnen z. B. durch schwere Krankheiten, fehlende Ausbildung oder ausbeuterische Arbeitsbe‐ dingungen wichtige Handlungsoptionen verschlossen sein. Eingeschränkt ist dann nicht ihre Willensfreiheit, sondern die Handlungsfreiheit oder Hindernisfreiheit als Abwesenheit von inneren oder äußeren Handlungs‐ schranken wie Naturgesetzen, Krankheiten, gesellschaftliche Normen oder Bürgerkriege (vgl. Fenner 2019, 87 ff.). Wiederum lässt sich ein Recht auf Handlungsfreiheit und Würde-Darstellung mithilfe des handlungsre‐ flexiven Ansatzes begründen, demzufolge die Handlungsfähigkeit anderer Menschen nicht grundlos eingeschränkt werden darf (vgl. Steigleder, 123). Zu schützen sind dabei nicht nur die negativen Rechte, von anderen Menschen nicht bei der Darstellung seiner Würde behindert zu werden, sondern durchaus auch positive Rechte auf Unterstützung durch andere (vgl. Steigleder, Kap. 5): Menschenrechte wie das Recht auf Existenzminimum, Bildung oder Gesundheit sollen menschenwürdige Lebensbedingungen für alle schaffen, d. h. die Voraussetzungen, um Würde ausbilden oder verkörpern zu können. So heißt es in der Präambel der Weltgesundheitsor‐ ganisation (WHO): „Den höchstmöglichen Gesundheitszustand zu genießen ist eines der fundamentalen Rechte jedes Menschen unabhängig von Rasse […], ökonomischem oder sozialem Rang.“ Gesundheit zählt insofern zu den „transzendentalen“ oder „konditionalen Gütern“, als solche Güter zwar „nicht alles sind, aber ohne sie alles nichts ist“ (Kersting, 302): Erfahrungs‐ gemäß kann ein Mensch von seinen Leiden und Gebrechen derart geplagt werden, dass seine Bewegungsfreiheit drastisch reduziert und sein Hand‐ lungsspielraum auf das Bekämpfen oder Erträglichmachen dieser Beschwer‐ den eingeschränkt ist. Es ist daher ein Gebot der Gerechtigkeit, allen Menschen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung zu verschaffen und sozial bedingte Unterschiede im Gesundheitszustand aus‐ zugleichen (vgl. Kap. 2.5). Es gilt grundsätzlich zu differenzieren zwischen dem ungleichen Besitz an Würde einerseits und dem gleichen Recht auf Schutz der Würde bzw. auf aktive Unterstützung bei der Würde-Darstellung durch Herstellung gleicher Lebenschancen andererseits. 68 2 Medizinethik <?page no="69"?> Autonomie / Selbstbestim‐ mung / Willensfreiheit Handlungsfreiheit / Hindernisfrei‐ heit / Wahlfreiheit mentale Fähigkeit, sich mit Blick auf persönliche Wertvorstellungen und Ideale für eine mögliche Handlungsal‐ ternative entscheiden zu können negativ: keine physische Gewalt, psy‐ chischer Druck oder Manipulation positiv: umfassende Aufklärung über situative Umstände Abwesenheit von Handlungsschranken oder Hindernissen; Verfügenkönnen über (unendlich) viele Handlungsalter‐ nativen negativ: keine grundlose Einschrän‐ kung der Handlungsfreiheit positiv: Sicherung eines minimalen Handlungsspielraums für eine selbstbe‐ stimmte Lebensführung innere Würde Würde-Darstellung Autonomie, vernünftige Selbstbestim‐ mung ↓ unbedingtes Recht auf Autonomie oder innere Würde konkret: Recht auf vollständige Auf‐ klärung, Instrumentalisierungs-, Täu‐ schungs- und Manipulationsverbot individuelle, materielle, soziale, institu‐ tionelle Bedingungen für das Realisie‐ ren eines selbstbestimmten Lebens ↓ Recht auf Minimum an Handlungs‐ freiheit und Würde-Darstellung konkret: Menschenrechte wie Recht auf Nahrung, Bildung, Gesundheit etc. 2.1 Arzt-Patient-Beziehung Anschauungsbeispiel 1: Der 50-jährige Herr Zuberbühler wird aufgrund einer Alkoholvergif‐ tung in der internistischen Station eines Krankenhauses behandelt. Er ist stark abgemagert und macht einen sehr verwahrlosten Eindruck. Aufgrund eigentümlicher Aussagen vermuten die Ärzte zudem eine psychische Störung. Sie wollen ihn im Krankenhaus behalten, damit er körperlich wieder zu Kräften kommt und man ihn auch einer umfassen‐ den psychiatrischen Untersuchung unterziehen kann. Herr Zuberbühler lehnt aber alle pflegerischen und therapeutischen Angebote ab und nimmt auch keine Medikamente ein. Er besteht vielmehr beharrlich auf seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, weil er nicht krank sei. (nach Noack u. a., 27 f.) Was sollen die Ärzte tun? 69 2.1 Arzt-Patient-Beziehung <?page no="70"?> Anschauungsbeispiel 2: Eine Zeugin Jehovas lehnt aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion ab. Dies macht sie vor einer bevorstehenden Operation auch den be‐ handelnden Ärzten deutlich. Bei der Operation treten aber schwere Komplikationen auf, die eine Bluttransfusion unumgänglich machen. Ohne eine solche Transfusion würden die Heilungschancen nach Ein‐ schätzung der Ärzte auf Null sinken. (nach Wiesemann u. a. 2005, 13) Was ist zu tun? Anschauungsbeispiel 3: Bei einem Mann mittleren Alters wird eine seltene Krebsart festgestellt, die zurzeit noch nicht behandelt werden kann. Da sie sehr aggressiv ist und sich in einem fortgeschrittenen Stadium befindet, prognostizieren die Ärzte eine durchschnittliche Überlebenszeit von wenigen Monaten. Als sie dies zuerst seiner Ehefrau mitteilen, bittet diese die Ärzte inständig, ihrem Mann nichts von seiner Krankheit zu erzählen. Denn dieser würde sich sonst wie sein Vater vor 10 Jahren in derselben Situation das Leben nehmen. (nach ebd.) Sollen die Ärzte schweigen? Ein zentrales Element der medizinischen Praxis ist das Verhältnis des Arztes zu seinen Patienten. Diese Beziehung ist grundlegend geprägt durch eine Asymmetrie, weil die Patienten dem Arzt häufig als Hilfesuchende in einer existenziellen Notlage begegnen und deswegen sehr verletzlich und vom Arzt abhängig sind (vgl. Marckmann u. a., 95 f.). In der Medizinethik werden drei bis fünf unterschiedliche Modelle der Arzt-Patient-Beziehung gegeneinander abgegrenzt, die teilweise mit verschiedenen Bezeichnungen versehen werden. Im Folgenden sollen 1) das „paternalistische“, 2) das „Autonomie-“ oder „Kundenmodell“ und 3) das „Partnerschafts-“ oder „Be‐ ratungsmodell“ kurz vorgestellt werden (vgl. Engels u. a., 400; Krones u. a., 97-106; Schöne-Seifert, 88 f.). 1) Paternalistisches Modell Im traditionellen „hippokratischen“ oder paternalistischen Modell (ab‐ geleitet von lateinisch „pater“: „Vater“) entscheidet der Arzt fürsorglich und autoritär über medizinische Maßnahmen, die im ärztlich definierten 70 2 Medizinethik <?page no="71"?> Interesse des Patienten durchzuführen sind. Gemäß der traditionellen medi‐ zinischen Deontologie muss der Arzt nach den Sollensforderungen handeln, zu denen er sich im hippokratischen Eid verpflichtet hat, v. a. nach dem höchsten deontologischen Prinzip „salus aegroti suprema lex“: „Das Wohl des Kranken ist das höchste Gesetz“ (vgl. Noack, 29). Er ist sowohl Vater und Vormund der Patienten als auch Experte, der als einziger nach allgemein geltenden objektiven Kriterien bestimmen kann, was das Patientenwohl ist und was für einen Patienten in seiner jeweiligen Lage das Beste ist. Voraus‐ gesetzt wird bei diesem Fürsorge-Ethos ein objektiver Krankheitsbegriff, der vom subjektiven Wohlbefinden des Patienten absieht (vgl. Krones u. a., 97): Krankheit im objektiven naturwissenschaftlichen Sinn wird als Zustand unwillkürlich gestörter Lebensfunktionen eines Organismus verstanden, welche vom Arzt so gut wie möglich repariert werden sollen. In dieser stark asymmetrischen Beziehung zwischen einem fürsorgenden aktiven Arzt und einem abhängigen passiven Patienten spielt das Selbstbe‐ stimmungsrecht der Patienten kaum eine Rolle. Noch um 1900 waren die Ärzte der Ansicht, dass Kranke auch gegen ihren Willen operiert werden dürfen, wenn es medizinisch indiziert ist (vgl. Noack u. a., 29). Nach paterna‐ listischer Tradition müssten also die behandelnden Ärzte in den Fällen 1 und 2 ohne Rücksicht auf den Patientenwillen das medizinisch „Richtige“ tun. Im Anschauungsbeispiel 3 wäre eine sogenannte „barmherzige Lüge“, d. h. das Vorenthalten von Informationen gegenüber einem Patienten mit einem ungünstigen Befund oder einer schlechten Prognose ethisch erlaubt. Sie wäre sogar ein Gebot der Fürsorge, weil sie den Patienten beruhigt und seinem Wohl dient. Aus paternalistischer Sicht wird häufig argumentiert, man dürfe einem Patienten nie seine Hoffnung nehmen (vgl. Schöne-Seifert, 52). Paternalismus meint allgemein jedes Bestreben, das Wohlergehen ande‐ rer Menschen ohne ihre Einwilligung oder im Extremfall sogar gegen ihren Willen herzustellen. In der medizinischen Paternalismus-Debatte wird zwi‐ schen einem „schwachen“ oder „weichen“ und einem „starken Paternalis‐ mus“ unterschieden (vgl. Schöne-Seifert, 50 f.; Engels u. a., 400; Maio, 214 f.). Bisweilen wird zu einer sehr schwachen Form des Paternalismus auch eine ehrliche und uneigennützige argumentative Überzeugungsarbeit gezählt, bei der z. B. mit einer eindringlichen Schilderung der aus medizinischer Sicht vernünftigen Behandlungsoption sanfter Druck auf Patienten ausgeübt wird. Diese Art der Einflussnahme gilt aber zu Recht als unproblematisch. Ethisch legitim ist auch die klassische Form des schwachen Paternalismus in Fällen, in denen die Autonomie oder Einwilligungsfähigkeit der Patienten 71 2.1 Arzt-Patient-Beziehung <?page no="72"?> fraglich oder offenkundig eingeschränkt ist. „Einwilligungsunfähig“ ist ein Patient, wenn er nach ausführlicher Aufklärung seine aktuelle Situation und die Chancen und Risiken einer Behandlung nicht verstehen und keine Ent‐ scheidungen nach eigenen Wertvorstellungen treffen kann. Zulässig wäre auch ein sogenannter Odysseus-Paternalismus auf ausdrückliche Bitte der Patienten an ihre Ärzte hin, eigene spätere Behandlungspräferenzen im Fall einer Einwilligungsfähigkeit oder -unfähigkeit nicht zu berücksichtigen (vgl. Schöne-Seifert, 50 f.). Der Ausdruck bezieht sich auf die Bitte des Odysseus an seine Gefährten in der griechischen Mythologie, ihn auf See an den Masten festzubinden, damit er dem betörenden Gesang der Sirenen nicht nachgibt. Ethisch höchst problematisch ist jedoch ein starker Paternalismus, bei dem Ärzte hinlänglich autonome Entscheidungen der Patienten ohne eine solche vorgängige Bitte nicht berücksichtigen. Diese Form des Paternalismus kann höchstens in ganz speziellen Situationen gerechtfertigt werden, z. B. wenn es keine Alternative zur Abwendung eines gravierenden Schadens gibt und der Eingriff in die Autonomie im Vergleich zu den positiven Folgen des paternalistischen Aktes sehr gering ausfällt (vgl. Maio, 215; Engels u. a., 400). Je mehr das Prinzip Autonomie in den westlichen Industriegesellschaf‐ ten an Bedeutung gewann, geriet das paternalistische traditionelle Arztethos unter Druck. Der liberale Jurist Richard Kessler definierte den medizinischen Eingriff 1884 wegweisend als „Körperverletzung“ (vgl. Noack, 35 f.). Seither gilt ein medizinischer Eingriff sowohl juristisch als auch ethisch nur dann als legitim, wenn der Patient den Maßnahmen ausdrücklich zustimmt. Das Prinzip der Patientenautonomie bzw. das juristische Konzept des informed consent („informiertes Einverständnis“) bildet die Grundlage der modernen Medizinethik. Bisweilen wird aber versucht, eine paternalistische ärztliche Fürsorge mit dem Verweis auf die Asymmetrie im Arzt-Patient-Verhältnis zu rechtfertigen: Aufgrund seiner krankheitsbedingten Hilfsbedürftigkeit, seiner Ängste und Schmerzen sei der Patient gar nicht fähig oder willens, rational und selbstverantwortlich zu entscheiden. In der existentiellen Not und als medizinischer Laie befinde er sich in einer so schwachen Position, dass er sich am liebsten ganz dem Arzt mit dem nötigen Fachwissen anver‐ traue (vgl. Marckmann u. a., 91 f.). Solche Argumente unterschätzen aber den zeitgenössischen mündigen Patienten, der dem Arzt mit einem durch‐ schnittlich deutlich höheren Informationsstand und einem ausgeprägten Gesundheits- und Selbstbewusstsein begegnet (vgl. Wolff, 190). Er verlangt 72 2 Medizinethik <?page no="73"?> nach einer immer stärkeren Beteiligung am medizinischen Wissen und an den zu treffenden Entscheidungen. 2) Autonomie- oder Kundenmodell Ein radikaler Gegenentwurf zum paternalistischen Modell ist das Autono‐ mie- oder Kundenmodell, das dem Patienten größtmögliche Autonomie zubilligt. Es wird auch „liberales“ oder „Informationsmodell“ genannt und stellt eine autonomistische Variante des „Vertragsmodells“ dar (vgl. Krones u. a., 103 ff.; Engels u. a., 400 f.). Der Arzt ist hier kein Vater, sondern lediglich ein Experte und Dienstleister, der dem Patienten als Kunden oder Konsumenten alle relevanten Informationen über Krankheitszustand und Behandlungsmöglichkeiten liefert. Er kennt die Präferenzen seiner Kunden nicht, enthält sich jeder Einflussnahme, macht keinerlei Empfehlungen und überlässt seinen Klienten ganz allein die Entscheidungsgewalt. Diese erwarten vom Arzt ausschließlich kompetente fachliche Aufklärung und Dienstleistungen und treffen aufgrund ihrer persönlichen Lebensentwürfe und Wertvorstellungen eine Wahl, für die sie die alleinige Verantwortung tragen. Ohne Frage müssten die Ärzte in diesem liberalen Modell in An‐ schauungsbeispiel 1 den auf seiner Entlassung pochenden Patienten trotz seines objektiven desolaten Zustandes gehen lassen, und in Anschauungs‐ beispiel 2 hätten sie sich ohne weitere Nachfragen an die von der Zeugin Jehovas geäußerte Ablehnung der Bluttransfusion zu halten. Kritisch lässt sich gegen dieses Modell mit größtmöglicher Entschei‐ dungsmacht der Kunden einwenden, dass hier im Zeichen eines radikal‐ liberalen „Autonomismus“ das Autonomieprinzip überzogen wird. Zum einen fehlt eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung und eine verant‐ wortungsbewusste, fürsorgliche Haltung des Arztes, der gegenüber der Gesundheit seiner Patienten eine Verpflichtung hat. Die Respektierung der Patientenautonomie seitens des Arztes kann als Deckmantel für die Flucht in die Verantwortungslosigkeit dienen, die dem professionellen Selbstver‐ ständnis entgegensteht (vgl. Krones u. a., 106). Zum anderen wird der Patient mit seiner Entscheidung allein gelassen und könnte die fehlende vertrauens‐ volle Arzt-Patient-Beziehung als „Verlassenwerden“ empfinden (ebd.). Zu‐ dem scheint die Autonomie des Patienten mit subjektiver Wunscherfüllung verwechselt zu werden. Statt einfach nur selbstbestimmt nach augenblickli‐ chen subjektiven Wünschen zu handeln, wollen die Menschen in aller Regel auch vernünftig entscheiden. Die Entscheidungen von Patienten können aber auf unreflektierten, weitgehend unbewussten Wertüberzeugungen 73 2.1 Arzt-Patient-Beziehung <?page no="74"?> oder unrealistischen Vorstellungen von Lebensqualität und Gesundheit basieren. Auch kann es mit Blick auf die konkrete Entscheidungssituation zu einem Konflikt zwischen ihren Idealen und langfristigen Zielvorstellungen kommen. 3) Partnerschafts- oder Beratungsmodell Einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremformen bietet das „part‐ nerschaftliche“ bzw. Partnerschafsmodell oder das „deliberative“ bzw. Beratungsmodell mit Nähe zu einem „interpretativen Modell“ (vgl. Engels u. a., 400 f.; Krones u. a., 103 ff.; Schöne-Seifert, 89). Es wird davon ausge‐ gangen, dass die eigenen persönlichen Wertvorstellungen der Patienten teilweise noch unbewusst oder nicht genau festgelegt sind oder in Konflikt miteinander stehen, sodass sie erst aufgedeckt und interpretiert werden müssen. Der Arzt überprüft als Freund oder „Partner“ gemeinsam mit dem Patienten dessen Wertvorstellungen und gesundheitlichen Ziele und legt seine eigene Position argumentativ dar (vgl. Emanuel u. a., 108 f.). Arzt und Patient erarbeiteten zusammen ein ganzheitliches Gesundheits- und Krankheitskonzept (vgl. Krones u. a., 99 f.). Durch ein solches partnerschaft‐ liches Erwägen (lateinisch: „deliberare“) wird die Autonomie des Patienten keineswegs geschwächt, sondern gerade gestärkt: Ziel der ärztlichen Für‐ sorge ist die verantwortete vernünftige Autonomie des Patienten. Anders als im Vertragsmodell trägt der behandelnde Arzt hier die Mitverantwortung für eine möglichst vernünftige, angemessene Patientenentscheidung, sodass beide Prinzipien der Autonomie und Fürsorge berücksichtigt werden. Der Arzt darf dabei durchaus den Patienten für oder gegen bestimmte Werte oder Gesundheitsziele zu überzeugen versuchen, solange dies mit Argumenten und nicht durch Druck oder rhetorische Manipulation geschieht. So wäre es sogar ethisch legitim, auf die Folgen der gewünschten Behandlung oder Nicht-Behandlung für die Angehörigen oder die (Solidar-)Gemeinschaft hinzuweisen. Der Arzt in Anschauungsbeispiel 3 müsste also die Zeugin Jehovas an ihre Fürsorgepflicht gegenüber etwaigen Kindern erinnern, die sie bei ihrem Entschluss gegen eine Bluttransfusion bedenken sollte. Auch wenn Patienten sehr kostspielige, von den Ärzten als „nutzlos“ eingestufte und in der „futility“-Debatte verhandelte medizinische Maßnahmen wün‐ schen, ist die moralisch gebotene Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl ein gutes Gegenargument (vgl. Schöne-Seifert, 714 f.). Sowohl wegen diesen theoretisch-konzeptuellen Vorzügen einer Versöh‐ nung der beiden zentralen medizinethischen Prinzipien der Autonomie 74 2 Medizinethik <?page no="75"?> und Fürsorge als auch aus praktischen Gründen hat sich das deliberative Modell in der Medizinethik durchgesetzt: Studien zur autonomiefördernden deliberativen und fürsorglichen paternalistischen Arzt-Patient-Beziehung ergaben, dass erstere einen positiven Einfluss auf das Patientenwohl und die Zufriedenheit sowohl der Patienten als auch der Ärzte ausübt (vgl. Krones u. a., 111 f.). Große Bedeutung erlangten in diesem Zusammenhang die Konzepte des Informed Consent („aufgeklärte Zustimmung“) und des Shared Decision Making (SDM), d. h. der „partizipativen Entscheidungs‐ findung“ (PEF). Während beim Teilmodell Informed Consent der Arzt die Autonomie des Patienten durch möglichst umfassende Aufklärung fördern soll, stellt das PEF-Modell die Interaktionen zwischen Arzt und Patient in einem gemeinsamen Beratungsprozess in den Vordergrund (vgl. Noack u. a., 29). Alle diese Ansätze lassen sich auf die diskursethische Grundidee der rationalen Konsensfindung zwischen autonomen, sich gegenseitig anerken‐ nenden Gesprächspartnern zurückführen. Kritisch lässt sich gegen dieses anspruchsvolle Modell einwenden, dass der hohe Zeitaufwand für solche gemeinsamen argumentativen Entschei‐ dungsfindungsprozesse in der Praxis völlig unrealistisch ist und die Dis‐ kussionen die Ärzte überfordern würden. Von den Ärzten wird hier ein hohes Niveau an kommunikativen Fähigkeiten erwartet, die aber weder im Medizinstudium noch in Weiterbildungen vermittelt werden (vgl. Krones, 110). Allerdings kommen die analytisch unterschiedenen Modelle in der Praxis ohnehin kaum in Reinform vor und es gibt auch Vorschläge zu einer Kombinationslösung, bei der je nach Umständen, Schweregrad der Krankheit, Selbständigkeit des Patienten und Intensität und Dauer der Beziehung die Modelle mit ihren Vorzügen und Schattenseiten verschieden kombiniert werden können (vgl. Stoecker, 178): Während bei der Versor‐ gung einer Platzwunde das paternalistische Expertenmodell ausreichend ist, wäre bei einer schweren lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankung eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung erforderlich. Abschließend soll versucht werden, die Erkenntnisse aus der Diskussion der drei Modelle auf die obigen Anschauungsbeispiele anzuwenden: In Anschauungsbeispiel 1 müsste abgeklärt werden, ob Herr Zuberbühlers Einwilligungsfähigkeit nicht durch eine psychische Störung beeinträchtigt wird und ob es vielleicht eine Betreuungsperson gibt. Die religiös begrün‐ dete Entscheidung der Zeugin Jehovas in Anschauungsbeispiel 2 müsste nach Aufklärung über die möglichen negativen Konsequenzen des Unter‐ lassens der Bluttransfusion respektiert werden. Eine barmherzige Lüge bei 75 2.1 Arzt-Patient-Beziehung <?page no="76"?> schlechten Befunden wie in Anschauungsbeispiel 3 ist ethisch problema‐ tisch, weil der Respekt vor der Autonomie des Patienten hier wichtiger ist als eine Beruhigung mit einer Diagnoselüge. Nur eine Minderheit der Ärzte und Medizinethiker erachtet das Vorenthalten von Informationen in Einzelfällen schwerer gesundheitlicher Folgen für den Patienten oder eines erheblich gefährdeten Therapieerfolgs als gerechtfertigt (vgl. Engels u. a., 399; Schöne-Seifert, 52; Marckmann u. a., 99). Die Begrenzung der Aufklärungspflicht kann also nur eine seltene und begründungsbedürftige Ausnahme mit Blick auf das Wohl der Patienten sein. Zulässig scheinen eine paternalistische Fürsorge und das Vorenthalten von relevanten Informatio‐ nen auch dann zu sein, wenn ein Patient dies im Sinne eines Odysseus-Pa‐ ternalismus ausdrücklich wünscht. Natürlich hängt die ethische Bewertung des Einzelfalls zusätzlich noch von der Art und Weise ab, wie die Diagnose einem Patienten mitgeteilt wird. So könnten die Ärzte z. B. sofort Kontakt herstellen zu Psychotherapeuten oder Selbsthilfegruppen von und mit Krebskranken, die trotz ähnlich düsterer Prognose ihre Krankheit besiegten. 1) Paternalistisches Modell 2) Autonomie- oder Kundenmodell 3) Partnerschafts- oder Beratungsmodell objektive Kriterien für Patientenwohl ausschließlich subjektive Kriterien für Patienten‐ wohl gemeinsam entwickelte Kriterien für Patienten‐ wohl objektiver (naturwissen‐ schaftlicher) Krankheits‐ begriff subjektiver Gesundheits‐ begriff ganzheitliches, gemeinsam erarbeitetes Gesund‐ heitsmodell Arzt = Vormund/ Vater des Patienten Arzt = Dienstleister für seine Kunden Arzt = Freund/ Partner des Patienten alleinige Verantwortung des Arztes alleinige Verantwortung des Patienten geteilte Verantwortung für gemeinsame Ent‐ scheidungen Prinzip Fürsorge Prinzip Autonomie Versöhnung von Prinzip Fürsorge/ Autonomie Kritik: Autonomie des Patienten missachtet Kritik: keine Verantwor‐ tung des Arztes; Autono‐ mieprinzip überzogen Kritik: großer Aufwand 76 2 Medizinethik <?page no="77"?> 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe Anschauungsbeispiel 1: Eine 70-jährige Diabetes-Patientin befindet sich seit zwei Jahren in Dialyse. Seit einem Jahr ist sie bettlägerig. Jetzt bilden sich an beiden Füßen Nekrosen. Eine eigentlich angezeigte Amputation der Gliedma‐ ßen ist aufgrund des desolaten Gesamtzustandes der Patientin aber ausgeschlossen. Diese wünscht ausdrücklich eine Beendigung der Dia‐ lysebehandlung und wehrt sich auch körperlich gegen sie. (nach Kreß, 165 f.) Was sollen die Ärzte tun? Anschauungsbeispiel 2: Ein 70-jähriger Mann liegt nach einem Herzinfarkt aufgrund eines Hirnschadens im Wachkoma. Er wird durch eine Magensonde künstlich ernährt. Sein Sohn bittet die Ärzte um das Einstellen der künstlichen Lebensverlängerung. Denn dies sei nicht im Sinne seines Vaters, der sich mehrfach gegen solche Maßnahmen ausgesprochen habe. Müssen die Ärzte der Bitte des Sohnes Folge leisten? Anschauungsbeispiel 3: Nach jahrelangen Qualen bat Sigmund Freud im terminalen Stadium eines unheilbaren Gaumenkrebses seinen Arzt und Freund Max Schnur, ihm wie schon lange verabredet das erlösende Gift zu verabreichen. Dieser teilte die Unterredung wie von Freud gewünscht dessen Tochter Anna mit. Als wieder schreckliche Schmerzen aufkamen, gab er Freud zweimal eine Morphium-Injektion, woraufhin er in ein Koma fiel und nach zwei Tagen verstarb. (nach Kreß, 172) Hat der Arzt richtig gehandelt? Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich der Sterbeprozess infolge eines sozialen Strukturwandels und des Fortschritts in der Intensivmedizin stark verändert: Enge familiäre Lebensformen lösen sich zunehmend auf und das Sterben wird aus den Familien verdrängt, sodass es sich heute überwiegend 77 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="78"?> in Krankenhäusern und Spitälern ereignet. Dank der intensivmedizinischen Betreuung kann der Sterbeprozess in den meisten Fällen aufgehalten oder zumindest verzögert werden. Während die Menschen noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein größtenteils einen raschen Tod beispielsweise durch Infektionen oder ein Lungenödem erlitten, vollzieht sich das Sterben heute oft langsam und geht mit chronischen Krankheitsverläufen und allmäh‐ lichem Verfall der geistigen und körperlichen Kräfte einher (vgl. Kreß, 170). Auch wenn den Kranken dadurch zusätzliche Lebensjahre geschenkt werden, geraten sie häufig in eine Intensiv- und Apparatemedizin, die das Sterben durch Überfrachtung mit Medikamenten und technischen Geräten entstellt. Für viele rückt das Ideal eines „würdevollen Sterbens“ auf diese Weise in weite Ferne. Dabei kann mit einem würdigen Tod im Sinne einer äußeren Würde-Darstellung ein schneller, schmerzloser Tod im Kreis der Angehörigen ohne Siechtum und Einsamkeit gemeint sein, oder ein Tod, der im Sinne der inneren Würde oder Autonomie des Sterbenden mit dessen Vorstellungen von einem guten und sinnvollen Leben übereinstimmt (vgl. Ach u.a. 2020, 244; Schöne-Seifert 2007, 109). Mit dem Ziel, das Sterben wieder menschlicher zu gestalten, breitete sich nach dem zweiten Weltkrieg von England her die Hospizbewegung in Europa aus und führte später zum Erstarken der Palliativmedizin und der Palliative Care: Ein multidisziplinäres Team aus Ärzten, Krankenpflegern, Seelsorgern, Psychologen und Sozialarbeitern bietet eine professionelle Sterbebegleitung an, die weit über die Schmerzbekämpfung hinausgeht. Durch umfassende menschliche Fürsorge soll die Lebensqualität der unheil‐ bar Kranken und ihrer Angehörigen entweder stationär oder ambulant in ihrem eigenen Zuhause verbessert werden. Obwohl die Zahlen der Hospiz- und Palliative-Care-Einrichtungen steigen, stirbt allerdings die Mehrheit der Menschen immer noch in Krankenhäusern, Alten- oder Pflegeheimen. Auch kann die bestmögliche Schmerztherapie nicht alle Schmerzen lindern oder nur auf Kosten des Bewusstseins, und eine professionelle Rundum‐ versorgung kann niemals enge Freundschaftsbeziehungen und erfüllende Handlungs- und Lebensmöglichkeiten wettmachen. Viele Menschen erleben den fortschreitenden Verlust der Selbstkontrolle, Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit und das vollständige Angewiesensein auf andere als entwürdigend. Obwohl der Ausbau der palliativen und hospizlichen Versorgung ethisch höchst begrüßenswert ist, wird er daher den Ruf nach mehr Selbstbestimmung am Lebensende nicht zum Verstummen bringen (vgl. Schöne-Seifert 2007, 110; May, 450). Er stellt keine Alternative dar 78 2 Medizinethik <?page no="79"?> zur Suizidbeihilfe oder aktiven Sterbehilfe und macht die Diskussion dar‐ über nicht überflüssig, wie von der Hospiz- und Palliativbewegung, von Politikern, Kirchen, Ärzten und Pflegeverbänden vielfach unterstellt wird. Erforderlich ist deshalb eine sorgfältige Analyse der Argumente für und ge‐ gen die ethische Legitimität und gesellschaftliche Legalisierung bestimmter Formen von Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe. Bevor die normativen Fragen nach der Zulässigkeit verschiedener Möglichkeiten der Gestaltung des eigenen Sterbens diskutiert werden, müssen aber auf einer deskriptiven Ebene zunächst die begrifflichen Unterscheidungen vorgestellt und auf ihre Angemessenheit hin geprüft werden (vgl. Ach u.a. 2020, 236). Begriffsklärungen: Sterbebegleitung und Sterbehilfe Der Begriff „Sterbehilfe“ ist unscharf und vieldeutig und weist inhaltliche Überschneidungen mit dem Begriff der „Sterbebegleitung“ auf (vgl. Sahm, 282; May, 446). Sterbebegleitung meint in einem engen Sinn die Hilfe im oder beim Sterben und umfasst alle Tätigkeiten und Maßnahmen zur Unterstützung eines sterbenden Menschen in seiner letzten Lebensphase, die den Todeszeitpunkt nicht beeinflussen. Dazu zählen z. B. eine Basisver‐ sorgung mit ausreichender Flüssigkeit und Nahrung sowie Schmerzbekämp‐ fung auf einer körperlichen Ebene, aber auch alle Formen mitmenschlicher Zuwendung und Hilfe im psychischen, sozialen und seelsorgerischen Be‐ reich, wie sie von der Hospizarbeit und Palliative Care angeboten werden. Demgegenüber meint Sterbehilfe in einem engen Sinn die Hilfe zum Sterben und umfasst sämtliche Handlungen oder Unterlassungen, die den Tod eines anderen Menschen herbeiführen können oder beschleunigen sollen (vgl. Ach u.a. 2020, 236; Schöne-Seifert 2007, 111). Bisweilen wird „Sterbehilfe“ als Synonym für „Euthanasie“ (griechisch: „guter Tod“) ver‐ wendet, der aber von den Nazis als euphemistische Umschreibung der eugenisch und rassistisch motivierten unfreiwilligen Tötungen von Behin‐ derten missbraucht wurde. Aufgrund dieser historischen Vorbelastungen sollte der Begriff „Euthanasie“ in medizinethischen Debatten keine Ver‐ wendung finden (vgl. Schöne-Seifert, 119). Sowohl Befürworter als auch Gegner der Sterbehilfe gehen bei ihren Argumentationen in aller Regel von einer freiwilligen Sterbehilfe auf Wunsch der Betroffenen bzw. einem mutmaßlichen Willen von nichteinwilligungsfähigen Patienten aus. Auch im Folgenden werden Formen unfreiwilliger Sterbehilfe wie z. B. das Sterbenlassen schwerstbehinderter Neugeborener oder Mitleidstötungen durch selbsternannte „Todesengel“ nicht zur Diskussion stehen. 79 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="80"?> Passive und aktive Sterbehilfe Bei der hier im Zentrum stehenden Sterbehilfe werden traditionell eine passive und (direkte und indirekte) aktive Sterbehilfe unterschieden. Diese herkömmliche Standardterminologie wird heute allerdings aus verschiede‐ nen konzeptuellen Gründen und Anwendungsproblemen in der Praxis zunehmend in Frage gestellt (vgl. Schöne-Seifert 2007, 114 f.; Sahm, 284). Unter passiver Sterbehilfe versteht man das bewusste Unterlassen oder Beenden von lebensverlängernden Maßnahmen, sodass ein unabhängig vom medizinischen Handeln eingesetzter natürlicher Sterbeprozess bloß zugelassen wird. Zu begrifflichen Verwirrungen führen in der Sterbehilfede‐ batte aber regelmäßig Situation, in denen der Verzicht auf lebenserhaltende Behandlungsmethoden erst beschlossen wird, nachdem solche Maßnahmen bereits aufgenommen wurden. Denn das Abstellen von Beatmungsgeräten durch die Ärzte stellt isoliert betrachtet ein zielgerichtetes aktives Handeln, nicht ein passives Unterlassen bzw. Zulassen dar. Im Kontext betrachtet hebt man aber mit dem Einstellen der Behandlung lediglich die zuvor eingelei‐ teten lebensverlängernden Maßnahmen auf und macht damit den aktiven Handlungsschritt des Anstellens der Beatmungsgeräte wieder rückgängig. Um diese Unklarheiten beim irreführenden Ausdruck „passive Sterbehilfe“ zu vermeiden, wird heute meist die Umschreibung „Sterbenlassen“ oder auch „Unterlassung oder Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen“ bevor‐ zugt (vgl. Ach u.a. 2020, 237). Anders als die „passive Sterbehilfe“ meint die aktive Sterbehilfe das Verursachen des Todes durch Verabreichung von Medikamenten. Dabei wurden traditionell nochmals eine „direkte“ und „indirekte aktive Sterbe‐ hilfe“ aufgrund unterschiedlicher Intentionen der Ärzte voneinander abge‐ grenzt: Bei der direkten aktiven Sterbehilfe werden dem Sterbewilligen tödliche Medikamente (meist Barbiturate) mit dem klaren Ziel verabreicht, unmittelbar einen raschen Tod herbeizuführen. Im Gegensatz dazu werden bei der indirekten aktiven Sterbehilfe lediglich durch schmerzstillende Medikamente (zumeist Morphium) die Schmerzen gelindert, wobei die Verkürzung des Sterbeprozesses nur billigend in Kauf genommen wird. In der Praxis scheint es nicht leicht zu sein, bei der gleichbleibenden Intention der Schmerzstillung, etwa im Fall einer immer höheren notwendigen Medi‐ kamentendosis, klar zwischen „Sterbebegleitung“ und „indirekter aktiver Sterbehilfe“ bzw. zwischen „Hilfe beim Sterben“ und „Hilfe zum Sterben“ zu unterscheiden. Ob letztere Variante vorliegt, hängt unter Umständen nur vom Faktum eines rasch eintretenden Todes ab. Dank der Fortschritte 80 2 Medizinethik <?page no="81"?> in der Palliativmedizin soll eine Dosierung und auch eine sogenannte palliative oder terminale Sedierung zwar in nahezu allen Fällen zu einer Leidminderung ohne Lebensverkürzung führen (vgl. Sahm, 284; Stoecker, 225; Kreß, 164). Auf einer deskriptiven Ebene stellt die Seltenheit von Aus‐ nahmefällen in der Praxis aber keinen hinreichenden Grund gegen die theo‐ retische Analysekategorie der indirekten aktiven Sterbehilfe dar. Von medi‐ zinisch-pflegerischer Seite wird der Begriff „indirekte (aktive) Sterbehilfe“ meist aus normativ-ethischen Gründen abgelehnt, um jede konzeptuelle Nähe zum „Töten“ zu vermeiden. Stattdessen wird von „Schmerzlinderung“ gesprochen oder z. B. vom Nationalen Ethikrat der BRD ganz allgemein von einer „Therapie am Lebensende“, zu der sämtliche medizinischen und palliativmedizinischen Maßnahmen zum Ziel der Lebensverlängerung oder Leidminderung zählen (vgl. Ach u.a. 2020, 237; Schöne-Seifert 2007, 115). „Direkte (aktive) Sterbehilfe“ wird hingegen nicht mehr zur ärztlich gebo‐ tenen Hilfe hinsichtlich der Selbstbestimmung am Lebensende gezählt, sondern als „Töten auf Verlangen“ diskreditiert. Im medizinischen Kontext gibt es sogar die Tendenz, „Sterbebegleitung“ als Oberbegriff auch für Formen von passiver und indirekter aktiver Sterbe‐ hilfe zu verwenden, nicht aber für „aktive Sterbehilfe“ bzw. „Tötungen auf Verlangen“ (vgl. Schöne-Seifert 2007, 111). Aus praktischer ärztlicher und pflegerischer Sicht mag diese Ausschließung der von vornherein als ethisch verwerflich abgelehnten aktiven Form der „Hilfe zum Sterben“ sinnvoll sein. Es dürfte damit auch die Hoffnung verbunden sein, der Emotionalisierung des Umgangs mit Sterben und Tod entgegenzuwirken. Wenn aber sogar ein vom Patienten gewünschter Behandlungsabbruch etwa von der Bundes‐ ärztekammer als „Änderung des Therapieziels“ beschrieben wird, scheint diese begriffliche Entdifferenzierung eine notwendige sachliche Diskussion eher zu erschweren (vgl. ebd., 111; 115; zur Verteidigung Sahm, 284). Klar von der „Sterbehilfe“ unterscheidbar ist des Weiteren eindeutig die „Suizid‐ beihilfe“: Beim medizinisch assistierten Suizid oder der Suizidbeihilfe verschreiben Ärzte den sterbewilligen Personen lediglich ein Rezept oder stellen ihnen das tödliche Mittel (meist Barbiturate) zur Verfügung. Das wesentliche Unterscheidungskriterium zur Sterbehilfe ist also der Umstand der Tatherrschaft, weil der Akt des Tötens von der sterbewilligen Person selbst ausgeführt wird. 81 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="82"?> Sterbebegleitung Handlungen, mit denen das Sterben durch die gute Betreuung erleichtert, aber nicht verkürzt wird ↔ Sterbehilfe Handlungen oder Unterlassungen, die den Tod eines Sterbewilligen herbeiführen passive Zulassen des natürlichen Sterbeprozesses durch Unterlassen oder Beenden lebensverlängernder Maßnahmen aktive Verursachen des Todes durch Verabreichen von Medikamenten ↔ Suizidbeihilfe der Akt des Tötens wird von der sterbewilligen Person selbst ausgeführt, Ärzte oder andere Personen stellen lediglich das tödliche Mittel bereit indirekte aktive Schmerzlinderung beabsichtigt, Lebensverkürzung in Kauf genommen direkte aktive absichtliche Lebensverkürzung, gezielte Tötung Ethische Grundprinzipien: Selbstbestimmung und Fürsorge Hinsichtlich der ethischen Bewertung dieser verschiedenen Arten von Ster‐ behilfe sowie der Suizidbeihilfe betonen die Befürworter in aller Regel das Recht auf Selbstbestimmung oder Autonomie über den eigenen Körper, über das eigene Leben und die Art und den Zeitpunkt des eigenen Todes (vgl. NEK, 43). Aus einer extrem liberalen Warte müsste jedem Menschen jederzeit ein selbstbestimmtes Ausscheiden aus dem Leben ermöglicht werden. Wie in der Einleitung zu Kapitel 2 gezeigt, lässt sich das Recht auf Autonomie handlungsreflexiv begründen und gilt in den westlichen Gesellschaften als unantastbar. Wird gegen dieses Recht auf Autonomie verstoßen, verletzt man zugleich das Recht auf innere Würde der Person, das auch gesetzlich geschützt ist. Demgegenüber machen die Gegner der Sterbehilfe und Suizidbeihilfe, insbesondere Mediziner, Pflegepersonen und Sozialarbeiter das Prinzip der Fürsorge oder des Wohltuns geltend, das zu den mittleren Prinzipien der Medizinethik zählt und sich aus der gebotenen Unterstützung bei der Verkörperung oder Darstellung menschlicher Würde herleiten lässt (vgl. ebd., 44; vgl. Einleitung, S. 67 f.): Aufgabe der Gesellschaft sei es nicht, Sterbehilfe oder gar Suizidbeihilfe zu leisten, sondern für 82 2 Medizinethik <?page no="83"?> alle Menschen menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen. Plädiert wird v. a. für eine bessere palliativmedizinische Versorgung und die Über‐ windung des Pflegenotstands in Spitälern und Heimen. Eine Legalisierung der Sterbehilfe könne dagegen ein falsches Signal setzen und zu einer Verantwortungsreduktion und Entlastung im sozialen Umfeld führen. Die ethischen Diskussionen spiegeln oft dieses Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien Autonomie und Fürsorge wider. Für eine differenzierte ethische Stellungnahme sind die verschiedenen Arten von Sterbehilfe jedoch getrennt zu behandeln. Passive Sterbehilfe (Sterbenlassen) Die ethische Legitimität passiver Sterbehilfe ist heute weitgehend unum‐ stritten, weil eine ärztliche Behandlung ohne die ausdrückliche Zustimmung eines Patienten illegitim ist und als Körperverletzung gilt (vgl. Kap. 2.1): Nicht die Ablehnung oder der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme muss gerechtfertigt werden, sondern vielmehr deren Aufnahme bzw. Fort‐ setzung (vgl. Simon, 472). Hinter der moralischen Pflicht zum Sterbenlassen auf Wunsch der Patienten steht also das Recht auf Selbstbestimmung oder Autonomie der Patienten. Sie kann aber auch ein Gebot der Fürsorge und mitmenschlicher Hilfe sein, wo beispielsweise ein Patient vor den Nebenwirkungen aggressiver medizinischer Rettungsversuche verschont werden soll (vgl. Stoecker, 224). In Anschauungsbeispiel 1 hätten die Ärzte entsprechend dem Wunsch der Dialysepatientin nach Behandlungsabbruch nachzugeben. Vorausgesetzt wird dabei stets, dass die Basisversorgung der Sterbebegleitung, d. h. Schmerzlinderung und soziale Zuwendung, Hygie‐ nevorkehrungen und das Stillen von Hunger und Durst, auch nach dem Therapieabbruch gewährleistet bleibt. Schwieriger ist die Lage jedoch bei sterbenden Patienten, die nicht mehr entscheidungsfähig sind und also keine Sterbewünsche mehr äußern können. Grundsätzlich gilt es aber auch im Fall der Entscheidungsunfä‐ higkeit, das Recht auf Selbstbestimmung der Patienten zu respektieren (vgl. Engels u. a., 401). Wo ein aktueller, tatsächlich bekundeter Patientenwille fehlt, müssen sich die Ärzte an dem im Voraus verfügten oder mutmaßlichen Willen des Kranken orientieren. In einer schriftlichen Patientenverfügung kann im Voraus genau festgelegt werden, welche medizinischen oder pflegerischen Maßnahmen jemand in bestimmten Behandlungssituationen wünscht. Allgemeine Formeln wie „Ermöglichung eines würdigen Sterbens“ oder „Verzicht auf Intensivmedizin“ lassen demgegenüber zu viel Spielraum 83 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="84"?> (vgl. Schöne-Seifert 2007, 61). Gegen eine solche Vorausverfügung wird zwar immer wieder eingewendet, ein gesunder Mensch könne gar nicht im Voraus wissen, wie subjektiv lebenswert auch ein vermeintlich miserables Leben als Pflegefall oder mit schwerer Demenz sein könne (vgl. dazu Schöne-Seifert 2005, 719). Trotz dieser unleugbaren prognostischen Unsicherheiten lässt sich aber wohl wie bei anderen irreversiblen Entscheidungen im Leben auch ein autonomer, selbstverantwortlicher Entschluss treffen. Sonst wäre z. B. auch die Entscheidung einer Frau unverantwortlich, ein erstes Kind zur Welt zu bringen, weil sie nicht „von innen“ her weiß, wie es ist, Mutter zu sein. Wo keine schriftlichen Dokumente vorhanden sind, müssen die Ärzte auf Stellvertreter, Bevollmächtigte oder Betreuer der Patienten oder auf Angehörige zurückgreifen, mit denen sie zusammen dialogisch den Willen des Patienten zu rekonstruieren versuchen (vgl. Engels u. a., 401). Beim mutmaßlichen Willen kommt es auf frühere schriftliche oder mündliche Äußerungen oder auf persönliche Wertüberzeugungen und die Lebensein‐ stellungen der Patienten an, über die am besten Angehörige oder Vertraute Auskunft geben können. Dabei müssen diese allerdings von den eigenen Interessen abstrahieren können. In Anschauungsbeispiel 2 wäre es der Sohn, der die Ärzte über die selbstbestimmte Entscheidung seines Vaters zu einem früheren Zeitpunkt in Kenntnis setzen kann. Die Ärzte sind ethisch und rechtlich verpflichtet, diesen Patientenwillen zu berücksichtigen. Um Problemen und Unsicherheiten bei einer einmalig festgehaltenen Patien‐ tenverfügung zu begegnen, wurden in den letzten Jahren neue Formen der Vorausplanung wie das „Advance Care Planning“, ein fortlaufender, professionell begleiteter Beratungs- und Dokumentationsprozess f, entwi‐ ckelt (vgl. Ach u.a. 2020, 242). Indirekte (aktive) Sterbehilfe (Therapie am Lebensende) Weithin ethisch akzeptiert ist auch die Vergabe von Opiaten oder anderer Schmerzmittel zur Leidensminderung, auch wenn sie im Falle schwerer Er‐ krankungen lebensverkürzend wirken können. Zur ethischen Begründung der Zulässigkeit der indirekten aktiven Sterbehilfe wird meist das Prinzip der Doppelwirkung aus der katholischen Moraltheologie herangezogen (vgl. Ethik, 43 f.): Ethisch erlaubt sind ihm zufolge Handlungen mit negativen Folgen (Lebensverkürzung) dann, wenn die Handlung selbst (Medikamen‐ tenverabreichung) ethisch gut oder neutral ist und nur die guten Folgen (Schmerzlinderung) beabsichtigt werden. Zudem müssen die guten Folgen die schlechten überwiegen, und die schlechten (Lebensverkürzung) dürfen 84 2 Medizinethik <?page no="85"?> nicht als Mittel zur Erreichung eines guten Ziels eingesetzt werden (vgl. Simon, 471; Ach u.a. 2020, 237). Bei der indirekten Sterbehilfe liegt dieser Fall vor, weil das intendierte gute Ziel die Schmerzlinderung ist und die in Kauf genommene Verkürzung des Lebens nicht als Mittel eingesetzt wird, um hierdurch Schmerzen zu lindern. Der ethisch relevante Unterschied zur direkten aktiven Sterbehilfe besteht also darin, dass die „schlechte Wirkung“ der Lebensverkürzung hier nicht beabsichtigt wird, sondern eine nichtbeabsichtigte Nebenfolge darstellt. Obwohl diese Argumentation nicht unumstritten ist, gilt selbst nach katholischer Lehre die Gabe von Schmerzmitteln unter diesen Bedingungen als erlaubt (vgl. Papst Pius XII). Uneinigkeit herrscht nur über die Angemessenheit der Terminologie und darüber, ob solche Fälle einer billigend in Kauf genommenen Lebensverkür‐ zung in der modernen Palliativmedizin überhaupt noch vorkommen (vgl. Abschnitt „Passive und aktive Sterbehilfe“). Aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) Bei der direkten aktiven Sterbehilfe ist eine ethische Beurteilung grundsätz‐ lich komplizierter, weil sich aus dem Recht auf Autonomie oder innere Würde unmittelbar nur das Recht auf einen Behandlungsabbruch, nicht aber der Anspruch auf gezielte Lebensverkürzung durch den behandelnden Arzt ableiten lässt. Zudem stellt das aktive Töten auf Verlangen anders als das passive Sterbenlassen eine Tötungshandlung dar, sodass es im Konflikt zum ethischen und juristischen Tötungsverbot steht. Sie ist aus diesem Grund in allen entwickelten Ländern bis auf die Benelux-Staaten Niederlande, Belgien und Luxemburg sowie seit 2020 auch Spanien als viertem Land Europas verboten und wird von den nationalen Ärzteschaften abgelehnt. Genaugenommen missachtet aber ein Arzt beim Töten auf Verlangen nicht das ethische und juristische Recht auf Leben des Patienten, wie immer wieder behauptet wird. Denn dieses Recht ist ein Abwehrrecht gegenüber Drittpersonen. Gemeint ist das Recht, von anderen nicht getötet zu werden. Möchte aber jemand nicht mehr leben und wünscht ausdrücklich, von einer anderen Person getötet zu werden, gibt er seinen Anspruch auf Lebensschutz dieser Person gegenüber auf (vgl. Simon, 473). Für die ethische Legitimität der aktiven Sterbehilfe bzw. der Tötung auf Verlangen werden häufig Konsistenz-Argumente aufgeführt, die auf die Inkonsistenz einer unterschiedlichen Bewertung von passiver, indirek‐ ter aktiver und aktiver Sterbehilfe unter gleichen Rahmenbedingungen hinweisen (vgl. Schöne 2007, 122/ Stoecker, 225). Dabei versteht man unter 85 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="86"?> „gleichen Rahmenbedingungen“ a) das gleich große Leid der Patienten und b) die gleiche Intention des Arztes, den Patienten zu helfen und sie auf ihren Wunsch hin von ihrem Leid zu befreien. James Rachels hat als Erster dahingehend argumentiert, dass es ein moralisch irrelevanter Zufall sei, ob das Leben von schwer leidenden und kranken Patienten unmittelbar von bestimmten medizinischen Behandlungsmaßnahmen abhängig ist und da‐ her passive Sterbehilfe geleistet werden kann oder nicht (vgl. Rachels, 260). Außerdem scheint die aktive, schnell wirksame Sterbehilfe selbst dann ein Gebot der Fürsorge und ein Akt der Humanität zu sein, wenn sich ein Patient zwar bereits im terminalen Stadium befindet, er aber beim „natürlichen“ Sterbenlassen noch tage- oder wochenlang leiden müsste (vgl. ebd., 255). Zur Veranschaulichung kann Fallbeispiel 3 dienen, in dem Sigmund Freud vom Arzt seines Vertrauens im terminalen Stadium seines äußerst schmerzhaften Gaumenkrebses die ausdrücklich erbetene Morphium-Injektion erhält und von seinem Zustand erlöst wird. Die normative Richtigkeit der im Gespräch mit dem Patienten getroffenen ärztlichen Entscheidungen hängt weniger von der handlungstheoretischen Differenz zwischen „aktiver“ und „passiver Sterbehilfe“ als von den Kriterien und Gründen für diese Entscheidung ab. Die normative Verantwortung der Ärzte beim Handeln und Unterlassen ist vergleichbar groß (vgl. Ethik, 58 f.). Seit das Prinzip der Autonomie in der Medizinethik immer höher gewich‐ tet wird, erhalten außerdem Argumente rund um Lebensqualitätsbewertun‐ gen stärkere Beachtung in Diskussionen über Sterbehilfe. Infolge schwerer Krankheiten können Bewegungsfreiheit und kognitive Fähigkeiten des Den‐ kens und Kommunizierens irreversibel schwinden und zu sozialer Isolation und zum Verlust der Selbstkontrolle und der Identität führen, wodurch wichtige Bedingungen für eine Würde-Darstellung abhandenkommen. Die Gesamtheit der individuellen, materiellen, sozialen, institutionellen und Umweltbedingungen, die für die innere Würde und äußere Würde-Darstel‐ lung essenziell sind, wird unter dem Begriff der Lebensqualität zusammen‐ gefasst. Es handelt sich um ein normatives Konzept, also um ein soziales Konstrukt in einer Gemeinschaft. Wenn jemand sein Leben als wertvoll und qualitativ hochrangig einschätzt, orientiert er sich bewusst oder unbewusst an solchen intersubjektiv gültigen, kulturell geprägten Kriterien. Natürlich hängt es teilweise auch von der subjektiven Empfindsamkeit sowie den persönlichen Lebenszielen ab, ob jemand starke Schmerzen gerade noch als erträglich oder eine krankheitsbedingte Einschränkung der Bewegungsfrei‐ heit als tolerabel einschätzt: Ein Sportler wird jede Einschränkung aufgrund 86 2 Medizinethik <?page no="87"?> seiner sportlichen Ambitionen als gravierender erleben als ein Philosoph. Gleichwohl lassen sich allgemeine intersubjektive Kriterien oder Lebens‐ aspekte angeben, die alle rationalen Subjekte vernünftigerweise wählen würden und die ihre Einschätzung der eigenen Lebensqualität in hohem Maße mitbestimmen (vgl. Hoerster 1999, 293; Quante, 34). Gegen solche Kriterien einer Lebensqualitäts-Bewertung wird jedoch eingewandt, dass das menschliche Leben als solches, ganz unabhängig von seiner Qualität und Beschaffenheit einen absoluten und unantastbaren Wert darstelle: Gemäß der theologischen Lehre von der Heiligkeit und Unverfügbarkeit des Lebens ist das Leben heilig als ein Geschenk Gottes, das die Menschen bewahren und fruchtbar machen müssen (vgl. Kuhse, 75; Aquin, 165). Diese Argumentation basiert aber auf den starken, von Nichtgläubigen schwerlich geteilten Prämissen, dass es einen persönlichen Gott gibt, dass alles Leben von Gott kommt und nur dieser über Leben und Tod verfügen darf. Die Analogie zu einem Geschenk ist zudem deswe‐ gen unpassend, weil ein Geschenk definitionsgemäß in das Eigentum des Beschenkten übergeht und dieser daher frei darüber verfügen kann. Aus liberaler säkularer Sicht wäre es ethisch problematisch, wenn aus einem religiös begründeten absoluten Wert des Lebens nicht nur ein allgemeiner Lebensschutz, sondern eine unbedingte Lebenspflicht für alle Menschen abgeleitet würde. Auch in den Augen vieler Ärzte ist jedes biologische Am-Leben-Sein wertvoll und unantastbar, und zwar aufgrund eines ihm innewohnenden, nicht weiter begründeten Vitalwertes (vgl. Ethik, Kap. 7.1). Obwohl das rein biologische Leben als Grundvoraussetzung für menschliche Würde und Handlungsfähigkeit zu Recht als ein hoher Wert geachtet wird und sich beispielsweise auch diskursethisch oder handlungsreflexiv begründen lässt, ist es doch nicht der einzige Wert. Damit der einzelne Mensch sein Leben als wertvoll und als ein „gutes Leben“ erleben kann, muss es noch eine Vielzahl anderer Werte enthalten, z. B. Geborgenheit und Liebe, Sicherheit, soziale Anerkennung und Gesundheit. Aufgrund negativer Zusatzwerte wie unermessliche Schmerzen oder soziale Isolation kann der Vitalwert des Lebens gleichsam „überstimmt“ und ein subjektiv akzeptables Maß an Lebensqualität unterschritten werden (vgl. Wolf 1991, 244). Das rein biologische Leben hat für die meisten Menschen nicht an sich schon einen absoluten Wert, denn zur Quantität des Lebens muss noch die Qualität des Lebens hinzutreten. Im Zeichen der Fürsorge müssten Ärzte daher im oben bevorzugten deliberativen Modell der Arzt-Patient-Beziehung bereit 87 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="88"?> sein, die zu erwartende Lebensqualität gegen das rein biologische Am-Le‐ ben-Sein abzuwägen. Dabei kann auf die Erkenntnisse der noch jungen Lebensqualitätsforschung mit Checklisten, Fragebögen und der Anleitung zur Berechnung der qualitätskorrigierten Lebensjahre („quality adjusted life years“: QALYS) zurückgegriffen werden. Am Ende ist es aber der entschei‐ dungsfähige Patient selbst, der die Lebensqualitätsbewertung vornehmen muss. Argumentiert man gegen die aktive Sterbehilfe mit dem Hinweis auf das Verbot im Hippokratischen Eid, wird dieses historische Dokument aus der Antike mit einem zeitlos gültigen Gesetz verwechselt. Das ärztliche Ethos muss aber immer wieder vor dem jeweils aktuellen historisch-kulturellen Hintergrund neu interpretiert werden (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 15). Dieses und weitere Argumente gegen aktive Sterbehilfe sind auch gegen Suizid‐ beihilfe anwendbar, weshalb sie erst im nächsten Abschnitt ausführlich diskutiert werden. Leben: normative Leitvorstellung (Wert) → ethisches Prinzip: „Du sollst nicht töten! “ → ethisches und juristisches Recht auf Leben (= Abwehrrecht, nicht getötet zu werden) Quantität des Lebens Lebensqualität rein biologisches Am-Leben-Sein; normativer Wert als notwendige biolo‐ gische Grundvoraussetzung für Hand‐ lungsfähigkeit und ein menschliches Leben in Würde normatives Konzept, das die für menschliche Würde(-Darstellung) not‐ wendigen individuellen, sozialen, insti‐ tutionellen und Umweltbedingungen bestimmt → im Fall des Sterbewunsches der Patienten: ethische Abwägung notwendig bei irreversibel abnehmender Lebensqualität Suizidbeihilfe (ärztlich assistierter Suizid) Suizidbeihilfe oder ein ärztlich assistierter Suizid ist in der Schweiz, den Benelux-Staaten und seit 2021 auch in Spanien sowie in den US-ameri‐ kanischen Bundesstaaten Oregon und Washington und in Kanada straf‐ frei. Im Sonderfall der Schweiz sind Sterbehilfeorganisationen wie EXIT oder Dignitas zugelassen, sofern sie nicht selbstsüchtige Motive verfolgen. Nichtärztliche Freitodbegleiter helfen bei der unmittelbaren Erfüllung des Sterbewunsches, wohingegen von Ärzten lediglich das Rezept ausgestellt wird. In Deutschland wurde zwar 2015 die „geschäftsmäßige Suizidbeihilfe“ 88 2 Medizinethik <?page no="89"?> unter Strafe gestellt, wobei „geschäftsmäßig“ nicht nur eine „kommerzielle“, sondern bereits jede „auf Wiederholung angelegte“ Unterstützung meint. Im Februar 2020 wurde der entsprechende Paragraph im Strafgesetzbuch aber vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt. Die Begründung der Karlsruher Richter lautete, dass das damit praktisch verhängte Verbot von Sterbehilfeorganisationen der Autonomie des Menschen in Fragen von Leben und Tod widerspreche. Ähnlich wie bei der aktiven Sterbe‐ hilfe lässt sich aber aus dem Recht auf Selbstbestimmung kein positives Anspruchsrecht des Individuums gegenüber dem Staat auf Suizidbeihilfe ableiten, sondern nur ein Abwehrrecht und ein moralisches „Recht auf Suizid“ im Sinne der moralischen Zulässigkeit (vgl. Fenner 2020, 407). Ein negatives Freiheitsrecht als Freiheit von staatlichen Hindernissen bei einer Selbsttötung kann etwa durch ein gezieltes „Austrocknen“ der gängigen Suizidmethoden verletzt werden, weil dann faktisch nur noch privilegierte Personen wie das medizinische Fachpersonal von ihrem Freiheitsrecht Gebrauch machen können. Auch das Verbot von Sterbehilfeorganisationen hindert Suizidwillige daran, ihrem Leben entsprechend ihrem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen. Suizidbeihilfe in gleicher Weise wie direkte aktive Sterbehilfe können aber auf keinen Fall ohne weitere Einschränkungen als legitime institutio‐ nalisierte Praxis zugelassen werden, weil der Adressatenkreis hier äußerst breit und heterogen ist: Während bei passiver Sterbehilfe ein natürlicher Sterbeprozess in Gang sein muss und bei indirekter aktiver Sterbehilfe sehr starke und anhaltende physische Schmerzen Voraussetzung für die Verab‐ reichung lebensverkürzender Schmerzmittel sind, könnte prinzipiell jeder Mensch Anspruch auf direkte aktive Sterbehilfe bzw. Suizidbeihilfe erheben. Ein Sterbewunsch könnte jedoch beispielsweise aus einer vorübergehenden depressiven Verstimmung wegen krisenhafter Ereignisse oder unter dem Druck von Angehörigen geäußert werden, die ihn beerben wollen oder denen er zur Last fällt. Statt die Betroffenen auf ihren Wunsch hin zu töten, verlangt das Prinzip Fürsorge in diesen Fällen eindeutig Beratung, Un‐ terstützung oder Therapie des Patienten bzw. ein Zur-Rede-Stellen der An‐ gehörigen. Um unmoralische Tötungshandlungen auszuschließen, wären also bestimmte einschränkende Bedingungen für aktive Sterbehilfe sowie Suizidbeihilfe zu formulieren (vgl. Simon, 473; Schöne-Seifert 2005, 757). Solche Mindestvoraussetzungen wären a) eine ausweglose Situation, b) ein schweres und unstillbares Leiden, c) Urteilsfähigkeit und d) ein wieder‐ 89 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="90"?> holt geäußerter und frei gefasster Todesentschluss. Eine hoffnungslose oder ausweglose Situation läge vor, wenn sich eine Lebenssituation auch vom neutralen Beobachterstandpunkt aus unaufhaltsam und irreversibel verengt und mit einem auch langfristig gesehen unstillbaren physischen Schmerz oder psychischen Leidensdruck einhergeht. Um seine Fürsorgepflicht zu erfüllen, müsste der Arzt den Sterbe‐ wunsch seiner Patienten in einem eingehenden, sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Beratungsgespräch sorgfältig abklären (SAMW, 25 f.). Noch besser geeignet für solche Klärungsprozesse scheinen neutrale Beratungsstellen zu sein, in denen in einem interdisziplinären Team alle mitmenschlichen Hilfs- und Unterstützungsangebote zur Verbesserung der Lebenssituation ausgeschöpft werden. Von Staat und Gesellschaft verlangt das Fürsorgeprinzip alle möglichen Maßnahmen zur Steigerung der Le‐ bensqualität der Bevölkerung, um das Aufkommen von Suizidwünschen überhaupt zu verhindern. Dazu gehören etwa sie Förderung der physischen und psychischen Gesundheit der Bevölkerung, die Aufstockung der Pallia‐ tivmedizin und die Überwindung des Pflegenotstands in Spitälern und Heimen. Wenn es nicht gelingt, die Lebensumstände so zu verändern, dass der Sterbewillige eine zumutbare, menschenwürdige Zukunft vor sich hat und der Sterbewunsch verschwindet, wäre eine schmerz- und risikofreie Suizidbeihilfe ein Gebot der Fürsorge. Dabei sind insbesondere jene Sterbe‐ willigen auf fremde Hilfe angewiesen, die vollständig ans Bett gefesselt sind. Verwechselt man Autonomie nicht mit subjektiver Wunscherfüllung, stärkt eine partnerschaftlich-deliberative Prüfung des Sterbewunsches in vertrauensvollem Klima zugleich die Autonomie der Sterbewilligen (vgl. Kap. 2.1). Denn die Beratung kann verhindern, dass ihre Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist und sie sich über die Ausweglosigkeit ihrer Lebenssitua‐ tion und ihre Zukunftsperspektiven täuschen. Nur wenn Urteilsfähigkeit und ein wohl überlegter, langanhaltender Sterbewunsch vorliegen, wären direkte aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe ethisch zulässig. Eindeutig rational oder wohlerwogen ist ein Suizidentscheid nur, wenn die Probleme der Betroffenen nicht anders gelöst werden können und eine hoffnungslose Situation vorliegt. Werden sie anwendungsbezogen konkretisiert, lassen sich die Prinzipien Fürsorge und Autonomie auch hier versöhnen. 90 2 Medizinethik <?page no="91"?> aktive direkte Sterbehilfe und Suizidbeihilfe ethisch legitim nur nach eingängigem Beratungsgespräch mit den Sterbewilli‐ gen und unter bestimmten Voraussetzungen Mindestvoraussetzungen: a) eine ausweglose Situation b) ein schweres und unstillbares Leiden c) Urteilsfähigkeit d) ein wiederholt geäußerter, frei gefasster und wohlerwogener Todesent‐ schluss Moralpragmatische Argumente gegen Suizidbeihilfe (und aktive Sterbehilfe) Gegen die gesellschaftliche Legitimation und staatliche Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gleich wie der Suizidbeihilfe werden jedoch oft übergeord‐ nete soziale oder moralpragmatische Argumente angeführt, bei denen es gar nicht um die ethische Bewertung einzelner Handlungen geht (vgl. Schöne-Seifert 2007, 125; Stoecker, 225): Zur Diskussion stehen nicht die guten oder schlechten Absichten der Ärzte in konkreten Einzelfällen, sondern die möglichen negativen Folgen einer kollektiven ärztlichen Praxis. Man macht im Sinne des Konsequentialismus auf unerwünschte Sekundärfolgen aufmerksam, die sich angeblich beim Etablieren dieser Praktiken ergeben. Die meisten sind sogenannte Dammbruchargumente oder Argumente der schiefen Ebene (Slippery-Slope-Argumente): Es wird prognostiziert, dass die einmal gesetz‐ ten Grenzen und Sorgfaltsbedingungen schrittweise ausgedehnt bzw. gelockert werden. Wenn man aktive Sterbehilfe in Ausnahmefällen Schwerstkranker oder Sterbender zulasse, würden dieser Argumentation zufolge allmählich immer mehr Ausnahmen gemacht, das Lebensrecht der Menschen zunehmend in Frage gestellt, bis schließlich sogar nichtentscheidungsfähige Personen oder bestimmte gesellschaftliche Randgruppen unfreiwillig getötet würden. Um solche schrecklichen Konsequenzen zu vermeiden, müsse bereits vor dem ersten Schritt Halt gemacht werden und die aktive Sterbehilfe sowie Suizidbei‐ hilfe strikt verboten bleiben. Das Problem bei Dammbruchargumenten besteht generell darin, dass solche Zukunftsprognosen äußerst unsicher sind und die Wahrscheinlichkeit zu prüfen wäre, mit der aus dem einen Schritt der nächste folgt (vgl. Ethik, 72f.). Auch müssten Maßnahmen in Betracht gezogen werden, die eine unkontrollierte Ausweitung beispielsweise der Sterbehilfe durch klare Kriterien, hohe Sicherheitsstandards und strenge staatliche Kontrollen verhindern könnten. 91 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="92"?> Ein weiteres Dammbruchargument besagt, dass die Legalisierung aktiver Sterbehilfe zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung gegenüber alten und kranken Menschen führe: Statt in die palliativmedizinische Forschung zu investieren und die Pflegenotstände in Heimen und Spitälern zu beseiti‐ gen, könnte der soziale Druck auf Kranke erhöht werden, bis sie freiwillig aus dem Leben scheiden. Auch dieser Gefahr müsste man selbstverständlich gegensteuern, indem man Toleranz und Verantwortungsbewusstsein in der Gesellschaft fördert und die Lebensbedingungen alter und kranker Menschen tatkräftig verbessert. Auch wenn intersubjektive Kriterien der Lebensqualität öffentlich zur Diskussion stehen, dürfen diese nicht zu einer Diskriminierung oder Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen. Sie sollten der Gesellschaft ausschließlich als positive Orientierungs‐ hilfen dienen, um allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Aufgrund der unantastbaren Rechte auf Leben und auf Autonomie darf prinzipiell niemand ohne ausdrücklichen Wunsch getötet werden, auch wenn anhand bestimmter Kriterien von außen eine niedrige Lebensqualität festgestellt wird. Wer sein Leben aus religiösen oder anderen Gründen trotzdem als wertvoll erlebt, verdient genauso Respekt wie jemand, der sich begründeterweise für seine Beendigung entschließt. Ein anderes Dammbruchargument warnt davor, dass im Fall der Zulas‐ sung der aktiven Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe als Teil der ärztlichen Tätig‐ keit die Integrität des Arztberufes bezweifelt und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient durch Ärzte unterwandert werden könnte. Doch solange die aktive Tötungshandlung oder Suizidbeihilfe auf einem ausdrücklichen und informierten Wunsch der sterbewilligen Personen nach eingehender Besprechung basiert, scheint auch dieses Argument abwegig zu sein. Denn wenn die Patienten mit ihrem Arzt auch über die Gestaltung der letzten Lebensphase und ihre Sterbewünsche sprechen können, bedeu‐ tete dies vermutlich eher einen Vertrauensgewinn (vgl. Vieth, 105). Bemer‐ kenswert ist in dieser Hinsicht der allmähliche Wandel der Haltung der Schweizerischen Akademien der medizinischen Wissenschaften (SAMW) zum ärztlich assistierten Suizid, wie sie in den regelmäßig veröffentlichten Richtlinien zum Ausdruck kommt (vgl. Maio, 449): Während die Suizidbei‐ hilfe lange Zeit als unärztliche Praxis strikt ausgeschlossen wurde, fand der Wille des Patienten ab 1995 stärkere Beachtung. Nach der neusten Richtlinie aus dem Jahre 2018 dürfen nun Ärzte „aufgrund eines persönlich verantworteten Entscheids“ Suizidbeihilfe leisten, sofern bestimmte Krite‐ rien wie die oben erwähnten und weitere wie z. B. Krankheitssysmptome 92 2 Medizinethik <?page no="93"?> oder Funktionseinschränkungen als Ursache des unerträglichen Leids ein‐ gehalten werden (vgl. SAMW, 26). Ebenso hat der Deutsche Ärztetag nach dem erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2021 das Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe aus der Berufsordnung gestrichen. Die Eintrittswahrscheinlichkeit der behaupteten Dammbrüche lässt sich letztlich nur dadurch beweisen, dass die befürchteten Kausalmechanismen bereits im Kleinen nachweisbar sind oder in der Vergangenheit schon einmal vorkamen (vgl. Schöne-Seifert, 86). Eine beliebte Strategie v. a. gegen die aktive Sterbehilfe sind daher Verweise auf die Verbrechen der Nationalsozia‐ listen, bei denen unter dem Deckmantel „Euthanasie“ geistig und körperlich Behinderte unfreiwillig getötet wurden (vgl. Abschnitt „Begriffserklärungen: Sterbebegleitung und Sterbehilfe“). Auch da habe es mit „Mitleidstötungen“ auf Verlangen angefangen und nach und nach wären die Schleusen des Respekts vor menschlichem Leben gebrochen worden. Gegen diese Nazi-Analogie ist aber einzuwenden, dass der Beginn keineswegs harmlos war, sondern die Ärzte von Anfang an das Autonomieprinzip der Getöteten missachteten und somit schon die Einzelhandlungen der Ärzte schlecht waren. Warnungen vor einem Rückfall zu den nationalsozialistischen Praktiken dienen daher eher als Totschlagargumente denn als ernst zu nehmende Dammbruchargumente und zeitigen einen einseitigen Diskussionsabbruch. Als abschreckendes Exempel aus der Praxis wird jedoch auch die Neurege‐ lung der Niederlande zitiert, wo die Ärzte unter bestimmten Bedingungen trotz geleisteter aktiver Sterbehilfe seit 2002 straffrei bleiben: Der Patient muss seinen Arzt in einer medizinisch ausweglosen Situation und einem als unerträglich empfundenen Leiden um Sterbehilfe ersuchen, so dass obiger Kriterienkatalog erfüllt wäre. Nach dem Tod des Patienten hat der Arzt die genaue Dokumentation einer regionalen Prüfungskommission vorzulegen. In wissenschaftlichen Begleituntersuchungen sollen aber 1000 Fälle sogenannter unfreiwilliger Euthanasie aufgedeckt worden sein (vgl. Sahm, 286). Auch wenn zahlreiche niederländische Ärzte v. a. zu Beginn bei den Patientengesprächen und den Aufzeichnungen die verlangten Sorgfaltspflichten sträflich vernach‐ lässigten und teilweise aktive Sterbehilfe ohne ausdrücklichen Wunsch der Patienten vornahmen, scheint der Missbrauch eher rückläufig zu sein (vgl. Vieth, 105). Zudem fehlen zuverlässige Zahlen über solche Missbräuche aus der Zeit vor der Gesetzeslockerung, so dass keine empirische Grundlage für die These einer schiefen Ebene vorhanden ist (vgl. Gillon, 257). Grundsätzlich scheint die Missbrauchgefahr bei der Suizidbeihilfe gerin‐ ger zu sein als bei der aktiven Sterbehilfe. Denn das eigenhändige Einneh‐ 93 2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe <?page no="94"?> men des tödlichen Giftes stellt eine eindeutigere Willensbekundung dar als mancher vage geäußerte Sterbewunsch eines Schwerstkranken. Wo eine sterbewillige Person also noch körperlich dazu in der Lage ist, selbst den finalen Akt auszuführen, sollte dieser Hilfe zum Sterben der Vorzug gegeben werden. Zusätzliche Sicherheit verschafft auch das Schweizer Modell einer Aufgabenteilung zwischen Ärzten, die lediglich die Urteilsfähigkeit, die körperliche Beeinträchtigung und Leidenssituation prüfen, und Sterbehil‐ feorganisationen, die mit der Begleitung des letzten Aktes betraut sind. Insgesamt stellen alle Dammbruchargumente keine prinzipiellen Einwände gegen Suizidbeihilfe dar, sondern nur gegen eine willkürliche, unsorgfältige oder zu wenig staatlich kontrollierte Praxis. ethische Bewer‐ tung Recht/ Anspruch Begründung passive Sterbehilfe ethisch erlaubt Anspruch auf Be‐ handlungsabbruch gegenüber den Ärz‐ ten „innere Würde“: Pa‐ tientenautonomie indirekte aktive Sterbehilfe ethisch erlaubt Anspruch auf hin‐ längliche Schmerz‐ behandlung „Würde“-Darstel‐ lung kann durch un‐ erträgliche Schmer‐ zen vereitelt werden direkte aktive Sterbehilfe; Suizidbei‐ hilfe nur unter strengen Erfüllungskriterien erlaubt bedingter An‐ spruch: in aus‐ wegloser Lebens‐ situation mit unstillbarem Leid „Würde“/ „Lebens‐ qualität“ können ein subjektiv erträg‐ liches Maß unter‐ schreiten 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin Anschauungsbeispiel 1: Die 21-jährige Petra F. kommt in ein Krankenhaus, um einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch zu vereinbaren. Sie ist in der 15. Woche schwanger, weiß dies aber erst seit einigen Tagen. Das Ausbleiben der Regelblutung ist ihr erst aufgefallen, als sie an Gewicht zunahm. Sie möchte später gern Kinder haben, fühlt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber 94 2 Medizinethik <?page no="95"?> noch zu jung und befindet sich zudem mitten im Studium. Auch ihr Freund, mit dem sie seit zwei Jahren zusammen ist, studiert noch und unterstützt Petra bei ihrem Entschluss zur Abtreibung. (nach Noack u. a., 56) Sollen die Ärzte die Abtreibung vornehmen? Anschauungsbeispiel 2: Frau Roth ist schwanger und bittet ihren Arzt um genetische Pränatal‐ diagnostik. Denn ihr Vater litt an der vererbbaren Chorea Huntington, die zu schweren Bewegungsstörungen, Demenz und zu einem frühen Tod führt. Aus Furcht vor der Diagnose hat sie sich selbst nie testen lassen. Beim Kind liegt das Risiko, das Gen vom Großvater geerbt zu haben, bei 25%. Sie möchte auf keinen Fall, dass ihr Kind vom gleichen Schicksal betroffen ist. Falls sich das Krankheitsgen nachweisen lässt, will sie das Kind abtreiben. (nach Wiesemann u. a. 2005, 29) Ist das ethisch legitim? Anschauungsbeispiel 3: Ein Ehepaar ist seit langer Zeit in einer reproduktionsmedizinischen Klinik in Behandlung, weil es sich ein zweites Kind wünscht. Nun erfährt es, dass ihr erstes, ebenfalls in vitro gezeugte Mädchen an einer schweren Beeinträchtigung des Knochenmarks leidet und für sein Überleben dringend eine Knochenmarkzellspende braucht. Die Eltern bitten die Ärzte, einen Embryo auszuwählen, der seiner Schwester genetisch so ähnlich ist, dass er als Zellspender in Frage kommt. Die benötigten Zellen könnten aus dem Nabelschnurblut des Neugeborenen gewonnen werden. (nach Wiesemann u. a. 2005, 29) Sollen die Ärzte auf die Bitte eingehen? Die frühe Phase des menschlichen Lebens hat die Ärzte seit jeher mit schwerwiegenden ethischen Konflikten konfrontiert. Uralt ist die Frage nach der ethischen Legitimität des Schwangerschaftsabbruchs. Der Hippo‐ kratische Eid aus der Antike etwa untersagt den Ärzten strikt, einer Frau ein Abtreibungsmittel zu geben (vgl. S. 58). In den letzten Jahrzehnten haben sich die medizinisch-technischen Eingriffsmöglichkeiten vor und 95 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="96"?> während der Schwangerschaft stark erweitert. Insbesondere die Methode der pränatalen Diagnostik führte zu einer erheblichen Verschärfung der moralischen Problematik des Schwangerschaftsabbruchs. Die anhaltenden Debatten gestalteten sich teilweise sehr emotional und werden in den USA sogar mit Waffengewalt ausgetragen (vgl. Ach 2020, 159). Die ethi‐ sche Beurteilung der Abtreibung ist geradezu zum „Probierstein der Leis‐ tungsfähigkeit angewandter Ethik avanciert“ (ebd.). Zentrale Themen der Fortpflanzungs- oder Reproduktionsmedizin sind außerdem die Reproduk‐ tionsverfahren der In-vitro-Fertilisation mit der dabei einsetzbaren Präim‐ plantationsdiagnostik, Samen- und Eizellspenden und das Social Freezing, die Menschen mit Kinderwunsch mehr reproduktive Freiheit versprechen. 1979 wurde in England das erste „Retortenbaby“ geboren, also das erste künstlich und außerkörperlich erzeugte Kind. Bei Sterilitätsproblemen von Frauen oder Männern ist die Befruchtung im Reagenzglas (lateinisch „in vitro“) inzwischen längst eine Routinebehandlung. Allein in der BRD wird sie mehr als 100.000-mal im Jahr durchgeführt. Seit einigen Jahren erregt darüber hinaus die embryonale Stammzellenforschung die Gemüter in öffentlichen, politischen und fachphilosophischen Diskussionen. Darauf wird aber erst in Kapitel 4.1 zur Wissenschaftsethik zurückzukommen sein. Höchst umstritten ist bei all diesen verschiedenen Fragestellungen, wann das menschliche Leben beginnt und welcher moralische Status den vorgeburtlichen Formen menschlichen Lebens zukommt. Häufig divergie‐ ren bereits die Beschreibungen der ethischen Konfliktsituation. Auch die für die Praxis unabdingbaren politischen Kompromisse können über tiefe Differenzen nicht hinwegtäuschen. Schwangerschaftsabbruch Um zu einem angemessenen Verständnis der Diskussion um den Schwan‐ gerschaftsabbruch zu gelangen, müssen folgende zwei Fragestellungen auseinandergehalten werden (vgl. Ach 2020, 164): 1. die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens einerseits und 2. die Frage nach dem Beginn der moralischen Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens andererseits. Diese Fragen erfordern zwei grundlegend verschiedene Typen von Antworten: Für die Beantwortung der ersten Frage sind biologische, empirisch beobachtbare Aspekte zentral. Die zweite Frage nach der moralischen Schutzwürdigkeit, der Würde oder dem moralischen Status des sich entwickelnden mensch‐ lichen Lebens hingegen lässt sich nicht durch das Anführen empirischer 96 2 Medizinethik <?page no="97"?> Fakten allein beantworten. Unverzichtbar ist vielmehr eine rationale Be‐ gründung mittels ethischer Argumente, bei der spezifische Eigenschaften oder Fähigkeiten der Embryonen als moralisch relevant ausgezeichnet werden. Eine Antwort auf die erste Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens reicht also prinzipiell nicht aus für eine ethische Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch. Für die Bewertung der ethischen Legitimität von Abtreibungen kommt es vielmehr entscheidend auf die Beantwortung der zweiten Frage nach der Schutzwürdigkeit von Embryonen oder Föten an. Grob betrachtet stehen sich in dieser medizinethischen Debatte die beiden Lager „pro life“ und „pro choice“, also für das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes bzw. für das Recht auf Autonomie der Frau gegenüber (vgl. Ach 2020, 165 ff.). Etwas genauer lassen sich drei Grundposi‐ tionen schematisch voneinander abgrenzen (vgl. Steigleder 2006, 328): A die konservative, die das Recht auf Leben des Kindes in den Vordergrund rückt, B die radikalliberale, die demgegenüber auf das Recht auf Autonomie der Frau pocht, und C eine gemäßigte, gradualistisch-liberale Zwischenposition. A Konservative Position: Recht auf Leben des Embryos Vertreter der konservativen Position argumentieren häufig so, als fiele die Frage 2 nach der moralischen Schutzwürdigkeit der Embryonen mit der Frage 1 nach dem Beginn des menschlichen Lebens zusammen (vgl. Ach 2020, 165). Die konservativen Grundthesen lauten: 1. Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzellen, bei der es sich um die einzige „willkürfreie“ und klar feststellbare Zäsur handle. 2. Vom Zeitpunkt der Befruchtung an komme dem Embryo ein unantastbares Recht auf Leben und absolute Schutzwürdigkeit zu, weil menschliches Leben als solches ungeachtet irgendwelcher Eigenschaften moralisch zählt. Um zu begründen, dass ein Embryo oder Fetus denselben maximalen moralischen Status wie ein erwachsener Mensch besitzt, setzt man gerne Ausweitungsstrategien oder Ausdehnungsargumente ein. Mit ihrer Hilfe versucht man, den vollen moralischen Status und die Schutzwürdigkeit von erwachsenen Menschen auf Embryonen und Feten „auszudehnen“ (vgl. Steigleder 2006, 322 f.; Vieth, 86 f.): Das Kontinuitäts-Argument (a) besagt, dass die Entwicklung von der Zygote bis zum erwachsenen Menschen kontinuierlich verlaufe, ohne dass sich moralisch relevante Zäsuren angeben ließen. Man könne keinen Zeitpunkt festmachen, an dem sich beispielsweise die Empfindungsfähigkeit entwickle oder die Vernunftfähigkeit aktualisiere. Eng verwandt mit dem 97 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="98"?> Kontinuitäts-Argument ist das Identitäts-Argument (b): Zwischen der befruchteten Eizelle und dem erwachsenen Menschen, zu dem sie sich entwickelt, bestehe eine Identität. Denn beide haben dieselbe „Natur“ oder dasselbe individuelle menschliche Genom und beide Lebewesen verdien‐ ten aufgrund dieser Identität denselben Schutz. Anstelle der Identität des Genmaterials wird beim Potentialitätsargument (c) das Potential der befruchteten Eizelle betont, d. h., dass in ihr liegende Vermögen, sich zu einem erwachsenen Menschen zu entwickeln. Auch wenn der Embryo beispielsweise noch nicht empfindungsfähig oder vernunftbegabt ist, sei er doch potentiell ein empfindungsfähiges und vernunftbegabtes Wesen. Aus all diesen Argumenten ziehen die Vertreter der konservativen Sichtweise den Schluss: Da nach allgemein akzeptierten ethischen Normen ein neuge‐ borenes Kind nicht getötet werden darf, dürfe auch ein Embryo nicht getötet werden. Abtreibungen wären also in jedem Fall verboten. Diese konservative Position gibt zwar auf die Frage nach dem Beginn sowie der Entwicklung menschlichen Lebens eine zumindest teilweise überzeugende Antwort - obwohl genau besehen auch der scheinbar einfach biologische Befund der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle durchaus deutungsoffen ist (vgl. Knoepffler, 77). Wie bereits betont ist aber mit diesen Thesen über biologische Fakten die Frage nach der moralischen Schutzwürdigkeit des beginnenden menschlichen Lebens noch keineswegs entschieden (vgl. Ach 2020, 164). Der scheinbar mühelose Übergang von den biologischen Fakten zu ethischen Normen bei der Ausweitungsstrategie ist daher zu Recht auf Kritik gestoßen: Bezüglich des Identitäts-Arguments (b) ist es zweifellos so, dass das genetisch angelegte Programm bereits in der befruchteten Eizelle dasselbe ist wie im erwachsenen Menschen. Rein naturwissenschaftlich gesprochen läge damit auch dieselbe „Natur“ vor. Allerdings kann sich die Zygote noch bis zur Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut in mehrere Embryonen aufspalten und zur Mehrlingsbildung führen, sodass erst nach der Nidation eine Identität in der Entwicklung zur Person vorläge (vgl. Düwell 2008, 109; Knoepffler, 81). Abgesehen davon ist ein autonomer Mensch mit einer individuellen Biographie unendlich viel mehr als genetisches Material. Ihn mit diesem identifizieren zu wollen, wäre reduktionistisch und unhaltbar (vgl. Vieth, 90). Richtig ist auch das Potentialitätsargument (c), soweit es lediglich feststellt, dass im Embryo die Anlagen für die weitere Entwicklung eines Menschen schon vorhanden sind und lediglich entfaltet werden müssen. Es ist aber keineswegs klar, ob Anlagen und potentielle Fähigkeiten 98 2 Medizinethik <?page no="99"?> oder Eigenschaften genauso berücksichtigt werden müssen wie aktuelle. Dagegen macht das auf Peter Singer zurückgehende Prinz-Charles-Argu‐ ment geltend, dass ein Prinz wie der britische Prinz Charles als potentieller König keineswegs die gleichen Kompetenzen und Rechte hat wie die aktuelle Königin (vgl. Singer 1994, 199). Korrekt ist in gleicher Weise die daran anknüpfende Kontinuitätsthese (a), die diese Entwicklung von der Eizelle bis zum erwachsenen Menschen als einen kontinuierlichen Prozess beschreibt. Allerdings läuft bereits der Vorgang vor und während der Befruchtung kontinuierlich ab, sodass kon‐ sequenterweise schon die Unterbrechung dieser Entwicklung z. B. durch ein Kondom verboten werden müsste (vgl. Knoepffler, 81). Eventuell könnte mithilfe des Potentialitätsarguments dargelegt werden, wieso nicht bereits das Potential von Ei- und Samenzellen zu schützen und der Beginn des eigentlichen Kontinuums später anzusetzen ist. Dessen ungeachtet steht außer Zweifel, dass eine befruchtete Eizelle bei den ersten Zellteilungen nichts empfindet und sich die Intelligenz erst beim Kind stufenweise entwickelt. Auch wenn sich ein menschliches Wesen grundsätzlich kon‐ tinuierlich heranbildet und in gewisser Hinsicht mit sich selbst identisch bleibt, unterliegt es doch tiefgreifenden Veränderungen. Wie bei anderen graduellen Begriffen wie z. B. „groß“ und „klein“ oder „hell“ und „dunkel“ beginge man einen Sorites-Fehlschluss, wenn man aus dem Fehlen einer exakten Grenze oder eines scharfen Umschlagpunktes schließen würde, es lägen keine Unterschiede vor und die begrifflichen Differenzierungen würden sich erübrigen (vgl. Schöne-Seifert 2007, 159; Rothaar, 427). Zu klären ist aber wie erwähnt die Frage, ob diese Unterschiede auch ethisch relevant sind und eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Ein Blick auf die moralische Alltagspraxis zeigt, dass sich aus der biologischen Kontinuität und Identität jedenfalls nicht umstandslos eine Norm der Gleichbehandlung ableiten lässt. So wird es allgemein für richtig und gerecht gehalten, dass Kinder nicht wählen dürfen oder für dieselben verwerflichen Taten milder bestraft werden als Erwachsene. Trotz biologischer Kontinuität, gleichem genetischem Programm und Potential zur Entwicklung eines erwachsenen Menschen kann also eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein. 99 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="100"?> A Konservative Position These 1 (biologisch): Menschliches Leben beginnt mit der Befruchtung einer Eizelle. These 2 (normativ): Jedem menschlichen Leben kommt absolute Schutzwürdig‐ keit vom Zeitpunkt der Befruchtung an zu. → ethisches Gebot: absolutes Verbot der Abtreibung Ausdehnungsargumente: Ausdehnung der Schutzwürdigkeit von Erwachsenen auf Embryonen Argumente auf biologischer Ebene Kritik a) Kontinuitäts-Argument: Die Entwicklung zum erwachsenen Menschen verläuft kontinuierlich. b) Identitäts-Argument: Zwischen befruchteten Eizellen und erwachse‐ nen Menschen besteht Identität. c) Potentialitätsargument: Die be‐ fruchtete Eizelle ist potentiell ein erwachsener Mensch. a) Es gibt tiefgreifende Veränderun‐ gen in einer grundsätzlich konti‐ nuierlichen Entwicklung. b) Ein autonomes Individuum kann nicht auf ein genetisches Pro‐ gramm reduziert werden. c) Potentielle und aktuelle Eigen‐ schaften rechtfertigen nicht den gleichen Schutz. → Prinz Charles-Argument Kritik: kein Schluss aus diesen biologischen Thesen auf die normative These (2). Zu den in der medizinethischen Debatte über den Schwangerschaftsabbruch so genannten SKIP-Argumenten zählt neben diesen drei Ausdehnungs‐ argumenten: Kontinuitäts- (K), Identitäts- (I) und Potentialitätsargument (P) noch das Spezies-Argument (S): Es besagt, dass allen menschlichen Lebewesen ohne jeden Bezug auf potentielle oder aktuelle Eigenschaften al‐ lein aufgrund ihres Menschseins Menschenwürde und Menschenrechte zukommen (vgl. Rothaar, 427; Schöne-Seifert 2007, 157 f.). Nicht nur läuft das Potentialitätsargument eindeutig auf dieses Spezies-Argument hinaus, es bildet auch gleichsam den ungenannten Hintergrund oder Rahmen sämtlicher Lebensschutz-Argumente. Nach der konservativen Darstellung etwa von Robert Spaemann verbietet es sich, menschliche Würde und Menschenrechte von bestimmten zwangsläufig willkürlichen Eigenschaften abhängig zu machen und beliebig zu- oder abzuerkennen (vgl. Spaemann, 219 ff.; Schweidler 2018, 104). Liberale Kritiker dieser konservativen Posi‐ tion wenden jedoch dagegen ein, dass die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle keineswegs die einzige willkürfreie Zäsur darstelle (vgl. unten; Schöne-Seifert 2007, 158 f.). Aus ihrer Sicht handelt es sich um einen reinen Dezisionismus bzw. Speziesismus, wenn keine für die Spezies Mensch 100 2 Medizinethik <?page no="101"?> typischen und moralisch relevanten Eigenschaften benannt werden (vgl. Singer 1994, 42 ff.; Düwell 2008, 108). Christliche Vertreter der konservativen Position begründen die Men‐ schenwürde wie gesehen mit der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott, wobei aber der Glaube an einen personalen Gott vorausgesetzt wird (vgl. S. 67). Andere Konservative nennen als Grund für die Würde-Zuschreibung die für die menschliche Spezies typische vernünftige Selbstbestimmung. Sie verweisen darauf, dass auch während des Schlafs oder im temporären Koma Menschen nicht aktuell selbstbestimmt seien, sodass auch ihnen konsequenterweise genauso wie Embryonen Menschenwürde und -rechte abgesprochen werden müssten (vgl. Rothaar, 427; Schweidler 2018, 113). Diese Argumentation erweist sich aber als absurd, wenn im Anschluss an die aristotelische Akt-Potenz-Theorie zwischen verschiedenen Arten von Potentialität differenziert wird (vgl. Steigleder 2006, 328): Bei Embryonen liegt lediglich eine schwache 1. Potenz oder Anlage vor, vergleichbar z. B. mit den biologischen Anlagen zum Sprachenerwerb. Die wesentliche Veränderung stellt der Übergang zur 2. Potenz (1. Akt) oder dem Habitus dar, indem ein Mensch z. B. eine Fremdsprache erlernt - auch wenn er diese dann nicht ständig anwendet wie im dritten Stadium der Ausübung (2. Akt). Während bei Embryonen nur die Anlage zur vernünftigen Selbst‐ bestimmung vorliegt, verfügen schlafende Personen grundsätzlich über die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung, auch wenn sie diese nur temporär ausüben. Dies scheint einen ethisch relevanten Unterschied darzustellen. B radikalliberale Position: Recht auf Selbstbestimmung der Frau Für Vertreter einer radikalliberalen „Pro choice“-Position zählt ausschließ‐ lich das Recht auf Selbstbestimmung der Schwangeren. Ein Schwan‐ gerschaftsabbruch ist immer dann moralisch richtig, wenn er der selbstbe‐ stimmten Wahl der Frau entspricht (vgl. Graumann, 421). Menschliche Wesen haben aus dieser Sicht vor der Geburt keinen oder nur einen geringen moralischen Status und kein Recht auf Leben, weil ihnen wesent‐ liche menschliche Eigenschaften fehlen. Vertreter einer radikalliberalen Position sind beispielsweise Präferenzutilitaristen, denen zufolge dieje‐ nige Handlung ethisch richtig ist, durch die maximal viele Interessen oder „Präferenzen“ („Vorlieben“) aller Beteiligten erfüllt werden (vgl. Ethik, Kap. 4.2). Wie gesehen erfordert es der moralische Standpunkt, die berechtigten Interessen oder das Wohl aller vom Handeln Betroffenen unparteiisch zu 101 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="102"?> berücksichtigen (vgl. Kap. 1.1). Im Fall eines Schwangerschaftskonflikts wären daher die Interessen der Frau gegen diejenigen des Fötus abzuwägen. Der Präferenzutilitarist Peter Singer unterscheidet dabei zwei Arten von Interessen, die einen unterschiedlichen moralischen Status von Lebewesen begründen sollen (vgl. Singer 1994, 197): Ein Interesse an Schmerzver‐ meidung kommt allen empfindungsfähigen Wesen zu, also den mehr als dreimonatigen Föten genauso wie Hühnern und Schweinen. Das Gebot besonderer moralischer Rücksichtnahme auf empfindungsfähige Wesen be‐ deute aber nicht, dass diesen ein Lebensrecht und absolute Schutzwürdigkeit zugesprochen werden muss. Denn es wäre durchaus ethisch erlaubt, solche Wesen zu töten, sofern man nur eine schmerzlose Methode wählt. Die Empfindungsfähigkeit ist also nach Singer noch kein ausreichender Grund gegen eine Abtreibung. Größeres Gewicht sei hingegen dem Interesse am Weiterleben und anderen zukunftsbezogenen Interessen wie beispielsweise dem Interesse an einer beruflichen Karriere oder dem Heranwachsen der eigenen Kinder beizumessen (vgl. ebd., 128 f.). Solche Interessen setzen erheblich mehr Fähigkeiten voraus als Bewusstsein und Empfindungsfähigkeit: allen voran Rationalität, Selbst- und Zeitbewusstsein. Ein Wesen müsste sich folglich seiner selbst und seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit bewusst sein und zu‐ kunftsgerichtete Wünsche in Bezug auf sich selbst ausbilden können. Diese Voraussetzungen fehlen Embryonen genauso wie Hühnern und Schweinen. Singer schließt daraus, dass die ernsthaften Interessen der Frau jederzeit Vorrang haben vor den rudimentären Interessen des Fötus (vgl. ebd., 197). Wünscht sich eine Frau einen Schwangerschaftsabbruch, weil ein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Lebenspläne durchkreuzen würde (wie in Anschauungsbeispiel 1) oder weil sie sich ein gesundes Kind wünscht (wie in Anschauungsbeispiel 2), wäre die Abtreibung aufgrund dieser zukunftsbezogenen Interessen ethisch legitim. Da dem empfindungsfähigen Fötus möglicherweise Leid zugefügt werden könnte, dürfe allerdings eine Spätabtreibung „nicht leichtgenommen werden“ (ebd.). Die offenkundige Schwierigkeit beim Ausgang vom ethisch relevanten Interessen-Kriterium besteht jedoch darin, dass ein menschliches Wesen Rationalität und Selbstbewusstsein erst Jahre nach der Geburt erlangt. Da Kinder erst sehr spät ein Interesse am Weiterleben entwickeln und dieser Position zufolge daher kein Recht auf Leben haben, müsste man auch Kindstötungen für ethisch unbedenklich erklären. Konsequenterweise billigt Singer selbst tatsächlich die Tötung von Säuglingen, womit er eine 102 2 Medizinethik <?page no="103"?> Schockwelle ausgelöst hat (vgl. ebd., 220 ff.). Sofern nicht noch weitere ethisch relevante Kriterien wie z. B. dasjenige der Geburt zur Interessen‐ abwägung Berücksichtigung finden, scheint diese Extremposition daher unhaltbar zu sein (vgl. Graumann, 421). Eine radikalliberale Position wird aber v. a. auch von Feministinnen und Frauenrechtlerinnen vertreten, die ein Recht auf totale Selbstbestimmung schwangerer Frauen über ihren Körper fordern. Mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir! “ demonstrierten sie in den 1960er und 70er Jahren für sexuelle Selbstbestimmung und für die Legalisierung des Schwangerschafts‐ abbruchs. Dabei bedienen sie sich häufig eines Umgehungsarguments, d. h. sie versuchen die schwierige Frage nach dem moralischen Status des Embryos zu „umgehen“. Sie tun dies, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Innenperspektive und die sehr enge Verbundenheit von Mutter und Kind lenken. Aus ihrer Warte erscheint es als unangemessen, wenn in ethischen Debatten über Schwangerschaftsabbrüche die Lebensinteressen der Föten einerseits und die Interessen der Frau andererseits identifiziert und gegeneinander abgewogen werden. Denn diese Beschreibung stelle eine reduktionistische „Isolation“ des Embryos aus einer leiblichen und biographischen Einheit dar (vgl. Ach 2020, 161). Solange das Kind sich im Bauch der Mutter aufhalte, liege gar kein zwischenmenschlicher oder interpersoneller Konflikt vor, sondern vielmehr ein intrapersoneller Konflikt, der also in der Person selbst stattfindet. Aufgrund der besonde‐ ren biologisch-psychosozialen Einheit und des asymmetrischen Abhängig‐ keitsverhältnisses könne niemand anders als die Frau selbst eine ethische Entscheidung bezüglich einer Fortsetzung oder eines Abbruchs der Schwan‐ gerschaft treffen (vgl. Kindl, 206 f.). Liberale Positionen wenden gegen radikal konservative „Pro Life“-Po‐ sitionen ein, dass ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs schwangere Frauen in jedem Fall zur Fortsetzung der Schwangerschaft zwingen wür‐ den. Eine solche weitgehende Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Frau ist aber schwerlich ethisch vertretbar, auch wenn man dem ungeborenen Lebewesen ein Lebensrecht zugesteht. Judith Thomson hat anhand eines Gedankenexperiments aufzuzeigen versucht, dass niemand gegen seinen Willen genötigt werden darf, seinen Körper einem anderen Menschen zu „leihen“, damit dieser nicht stirbt (vgl. Thomson, 176 ff.): Man stelle sich vor, man sei gekidnappt und betäubt worden, um im Kranken‐ haus an einen berühmten Geiger mit Nierenversagen angeschlossen zu werden. Darf jemand dazu gezwungen werden, jemand anderem für neun 103 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="104"?> Monate die Benutzung der eigenen Nieren zu gestatten, nur weil dieser ein Recht auf Leben besitzt und ohne fremde Niere sterben würde? Eine Frau, die aufgrund einer Vergewaltigung oder infolge von Unwissen oder Nachlässigkeit schwanger wurde, sei analog dazu nicht ethisch verpflich‐ tet, dem Fötus neun Monate lang ihren Körper zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der Lebensferne der fiktiven Situation vermochte Thomsons Argumentation jedoch die Vertreter der radikalen Lebensschutzposition nicht zu überzeugen (vgl. Graumann, 421). Gegen die radikale „Pro choice“-Position kann jedoch allgemein einge‐ wendet werden, dass hier das zentrale Prinzip des Rechts auf Selbstbestim‐ mung der schwangeren Frau überzogen wird. Deutlich wird dies in Singers Beispiel einer Frau, der ihre ungeplante Schwangerschaft ungelegen kommt, weil sie sich gerade für eine Bergsteigerexpedition angemeldet hat. Sie möchte zwar in einem Jahr ein Kind, will aber keinesfalls auf die Tour verzichten (vgl. Singer 1994, 201). Verlangt eine Frau eine Abtreibung, weil die Schwangerschaft ihre Urlaubspläne durchkreuzt, darf man solche Gründe wohl als „frivol“ bis „skandalös“ bewerten (vgl. Steigleder 2006, 329; Höffe, 90). B Radikalliberale Position Lebensrecht des Embryos: Der Embryo hat keinen oder einen geringen mo‐ ralischen Status und kein Recht auf Leben, weil ihm wesentliche menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten fehlen. Selbstbestimmungsrecht der Frau: Da aufgrund der biologisch-psychosozialen Einheit kein interpersonaler, sondern ein intrapersonaler Konflikt zwischen den Interessen des Embryos und der Frau besteht, zählt ausschließlich das Selbstbe‐ stimmungsrecht der Frau. → Umgehungsargument: Frage nach moralischem Status des Embryos entfällt → ethisches Gebot: Ethisch richtig ist ein Schwangerschaftsabbruch immer dann, wenn er der selbstbestimmten Wahl der Frau entspricht. Kritik: Überziehen des Arguments des Selbstbestimmungsrechts der Frau C Gemäßigte liberale Position Genauso wie Radikalliberale verabschieden auch gemäßigte Liberale im Gegensatz zu Konservativen die Idee eines maximalen moralischen Status und einer unantastbaren absoluten Schutzwürdigkeit des Embryos. Gleichzeitig lehnen sie aber die radikalliberale Verabsolutierung des Selbstbestimmungs‐ rechts der schwangeren Frau ab und gestehen dem Embryo einen moralisch 104 2 Medizinethik <?page no="105"?> bedeutsamen Status zu. Bei dieser gemäßigten und vermittelnden Position werden sowohl das Recht auf Leben des Embryos als auch das Selbst‐ bestimmungsrecht der Frau relativiert und gegeneinander abgewogen. Typisch ist eine gradualistische Position, bei der sich die Gewichtung der Interessen des Embryos und der Frau im Laufe der Schwangerschaft verschiebt (vgl. Steigleder 2006, 328 f.). Denn der moralische Status bzw. die Würde menschlichen Lebens werden an bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten gekoppelt, die ein Embryo erst allmählich erwirbt. Damit lädt man sich die schwere Last auf, argumentativ zu begründen, welche Eigenschaften ethisch relevant sind. Die häufigsten und aussichtsreichsten Vorschläge sind: die Nidation, das Hirnleben, die Empfindungsfähigkeit, die Lebensfähigkeit außerhalb der Gebärmutter oder die Geburt bzw. das Geborensein. Von dieser normativen Frage (2) zu unterscheiden ist wiederum die rein deskriptive naturwissenschaftliche Frage (1), von welchem Entwicklungs‐ schritt oder -einschnitt an einem Embryo die entsprechenden Fähigkeiten wie Hirnleben oder Empfindungsfähigkeit zugesprochen werden können. Diese Frage lässt sich nur mittels biomedizinischer Erkenntnisse beantwor‐ ten und kann hier nicht im Zentrum stehen. Wie bei der obigen Diskussion des Kontinuitäts-Arguments gesehen, werden die Eigenschaften selbst in Graden erworben und es ist nicht immer möglich, diesbezüglich einen exakten Zeitpunkt anzugeben. Aus der Tatsache, dass die Entwicklung graduell verläuft, lässt sich aber nicht schließen, dass der Embryo fragliche Eigenschaften wie Hirnleben oder Empfindungsfähigkeit schon immer besessen hat und ihm von Anfang an in gleichem Maß menschliche Würde zukommt (vgl. oben; Ach 1993, 87). Wie beim Ansetzen der Volljährigkeit zwischen 16 und 19 sind Grenzziehungen zwar grundsätzlich nie rein naturgegeben, sondern immer auch konventionell. Solange man aber ethisch relevante Gründe für solche Festlegungen aufführen kann, sind sie gleich‐ wohl nicht willkürlich (vgl. Vieth, 89). Welche Gründe in einer Gemeinschaft letztlich als ethisch relevant anerkannt werden, ist nie ganz unabhängig von kulturellen Erfahrungen und Wertvorstellungen. Die Nidation, d. h. die Einnistung des Embryos in die Gebärmutterschleim‐ haut ist der erste diskutierte Einschnitt in der Embryonalentwicklung. Be‐ reits am 5. oder 6. Tag des Eisprungs findet eine erste Kontaktaufnahme statt. Entwicklungsbiologisch gesehen ist diese Phase der Einnistung und Positionierung des Embryos in der Uterusschleimhaut entscheidend, weil der menschliche Keim nur im Erfolgsfall überlebensfähig ist. Erst dann besitzt er die Fähigkeit, sich nach der aristotelischen Entelechie-Konzeption aus sich 105 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="106"?> selbst heraus zu einem erwachsenen Menschen zu entwickeln (vgl. Rothaar, 426). Das auch von Konservativen bemühte Potentialitäts-Argument weist zwar zu Recht auf die Bedeutung des Potenzials für den moralischen Status eines menschlichen Lebewesens hin, dieses liegt aber strenggenommen nicht wie behauptet schon bei einer befruchteten Eizelle vor. Darüber hinaus ist die Ausbildung von Mehrlingen erst nach erfolgreicher Einnistung ausgeschlos‐ sen, sodass die Identität erst dann festgelegt ist. Während Identität und Individualität bei geborenen handlungsfähigen Menschen von entscheidender ethischer Bedeutung ist, um eine Person für ihre Taten überhaupt verantwort‐ lich machen zu können, ist die Relevanz des Identitäts-Arguments bei Embryonen nicht in gleicher Weise evident. In einem allgemeinen Sinn ist die numerische Identität aber Voraussetzung für die Zuschreibung von Rechten. In Großbritannien gilt die etwa am 14. Tag abgeschlossene Nidation aus diesen Gründen seit der sogenannten Warnock-Kommission unter der Leitung der Philosophin Mary Warnock als eigentlicher Beginn der Schwangerschaft und entscheidender Entwicklungsschritt für die Zuschreibung eines moralischen Status (vgl. Schöne-Seifert 2007, 161). Mit dem beginnenden Hirnleben hofften Michael Lockwood und Hans-Martin Sass ein Pendant zum „Hirntod“-Kriterium gefunden zu haben. Bei der ethischen Bewertung des beginnenden menschlichen Lebens hätte es für die Abtreibungsproblematik eine ebenso große Rolle spielen sollen wie der Hirntod bezüglich des Lebensendes in der Debatte um die Organtrans‐ plantation (vgl. Kap. 2.4). Nach der Einnistung in die Uterus-Schleimhaut bildet sich beim Embryo der Primitvstreifen aus mit der Anlage einer Neuralplatte, aber erst etwa von der 10. Schwangerschaftswoche an lassen sich hirnorganspezifische Funktionen nachweisen (vgl. Sass, 103; Knopeff‐ ler, 82). Da der Grund der Zuschreibung menschlicher Würde und eines bestimmten moralischen Status in der Rationalität und vernünftigen Selbst‐ bestimmung liegt, steht zwar die ethische Relevanz der Denktätigkeit außer Frage. Es wird aber nicht wirklich deutlich, inwiefern bereits rudimentären embryonalen Gehirnaktivitäten ethische Relevanz zukommen soll. Da sie den Fötus keineswegs zu Denkleistungen, vernünftiger Selbstbestimmung oder Autonomie befähigen, machen Liberale auch hier wieder das Potenti‐ alitätsargument geltend. Die beginnende Bewusstseinsfähigkeit ist jedoch unmittelbar relevant bezüglich der Empfindungsfähigkeit des Embryos, von der gleich zu sprechen sein wird. Im Unterschied zum Hirntod-Kriterium hat sich das Hirnleben- Kriterium nicht durchsetzen können. 106 2 Medizinethik <?page no="107"?> Erst mit dem Beginn der Hirntätigkeit sind die organischen Grundvoraus‐ setzungen für Empfindungsfähigkeit gegeben, die beim Embryo etwa ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel vorliegt und im Unterschied zu den vor‐ angegangenen Argumenten unstreitig von unmittelbarer ethischer Relevanz ist (vgl. Schöne-Seifert 2005, 775; Ach 1993, 90ff.). Denn wenn ein Wesen Schmerzen und Freude empfinden kann, ist ihm gegenüber eine ganz andere ethische Rücksichtnahme gefordert. Man kann ihm nämlich in einem tieferen und vielfältigeren Sinn Schaden zufügen oder nützen als beispielsweise einem empfindungs- und leblosen Stein. Es liegt daher nahe, empfindungsfähige Wesen unter stärkeren Schutz zu stellen. Dem Utilitaristen Peter Singer zufolge ist ein Schwangerschaftsabbruch ethisch überhaupt völlig unbedenk‐ lich, solange der Fötus noch nicht über die Fähigkeit verfügt, Schmerzen zu empfinden (vgl. Singer 1994, 197). Wer ohne Skrupel das Fleisch von viel weiter entwickelten und schmerzempfindlichen Hühnern oder Schweinen verspeist, dürfte nichts gegen die Abtreibung von empfindungslosen Föten unter drei Monaten einwenden. Denn hinsichtlich der ethisch relevanten Eigenschaft der Empfindungsfähigkeit haben ein Huhn oder Schwein dem menschlichen Fötus einiges voraus. Obwohl Singer mit dieser Analogie viele Kritiker provoziert hat, ist die Argumentation schlüssig, sofern Empfindungsfähigkeit als das einzig relevante Beurteilungskriterium betrachtet wird. Da jedoch der moralische Status des Embryos aufgrund der stärker werdenden Empfindungsfähigkeit steigt, sind spätere, mit zunehmenden Schmerzen verbundene Abtreibungen ethisch kaum mehr zu rechtfertigen. Der klar erkennbare Einschnitt der Geburt schließlich gilt ethisch und rechtlich weithin als hinreichendes Kriterium für einen vollen moralischen Status. Denn während der Embryo bis dahin vollständig auf den mütter‐ lichen Organismus angewiesen war, ist die Asymmetrie jetzt deutlich reduziert. Mit der Geburt ist der wichtigste Schritt in der Entwicklung zum unabhängigen Menschsein getan. Das Neugeborene ist ein eigenständiges, von der Mutter abgetrenntes menschliches Wesen mit eigenen, von den Interessen und Wünschen der Mutter unabhängigen Interessen. Es tritt als ein selbständiger Teil in eine Gemeinschaft ein (vgl. Heinemann u. a., 215). Allerdings unterscheidet sich ein Fötus kurze Zeit vor der Geburt von der biologischen Entwicklung her keineswegs von einem Frühgeborenen, weshalb viele den Aufenthaltsort des Kindes als Unterscheidungskriterium ablehnen (vgl. Ach 1993, 85 f.; Singer 1994, 182 f.). Es scheint willkürlich zu sein, das Frühgeborene anders zu behandeln als den viel weiter entwickelten Fötus, der sich nach neuen Monaten immer noch im Mutterleib befindet. 107 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="108"?> Nicht der Ort, wo sich das Kind befindet, sondern höchstens der Beginn der Lebensfähigkeit außerhalb der Gebärmutter käme so gesehen als ethisch relevantes Kriterium in Frage. Dem ist jedoch entgegenzuhalten: Solange das Kind sich im Bauch der Mutter befindet, bildet es wie gezeigt eine unauflösliche biologisch-psychosoziale Einheit mit ihr und es fehlt ihm leibliche Eigenständigkeit oder biologische Autarkie. Es mag zwar auch moralisch relevant sein, dass der Embryo theoretisch schon zu einem früheren Zeitpunkt außerhalb der Gebärmutter hätte überleben können. Wie gesehen sind aber verschiedene Arten von Potentialitäten durchaus moralisch relevant. Erst wenn das Kind geboren und damit auch ein eigen‐ ständiges soziales Wesen ist, scheint ihm genauso wie jedem erwachsenen Menschen ein Recht auf Leben zuzukommen. Gemäßigte liberale Position C These 1 (biologisch): Der Embryo erwirbt im Laufe der Schwangerschaft be‐ stimmte Eigenschaften und Fähigkeiten, die bedeutende Entwicklungsschritte darstellen. These 2 (moralisch): Die Schutzwürdigkeit des Embryos ist an moralisch relevante Eigenschaften oder Fähigkeiten gekoppelt und nimmt im Laufe der Schwangerschaft zu. → ethisches Gebot: Abwägung zwischen der Schutzwürdigkeit des Embryos und dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren vorgeschlagene Kriterien ethische Relevanz - Nidation - Hirnleben - Empfindungsfähigkeit - Geburt (bzw. Lebensfähigkeit außer‐ halb der Gebärmutter) - Potential, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln - Potential zu Rationalität und ver‐ nünftiger Selbstbestimmung - erforderliche Rücksichtnahme auf Schmerzempfindlichkeit - eigenständiges, vom Mutterleib ab‐ getrenntes Wesen Kritik: Zäsuren zeitlich nicht exakt angebbar. Die gemäßigte Zwischenposition findet in der medizinethischen Literatur großen Zuspruch und verdient den Vorzug vor einer konservativen Extrem‐ position, die bereits der befruchteten Eizelle eine absolute Schutzwürdigkeit zuspricht und Schwangerschaftsabbrüche verbietet (vgl. Schöne-Seifert 2007, 162). Wenn der Schwangerschaftsabbruch gleich wie eine „gewöhnli‐ che“ Tötungshandlung beurteilt wird, übersieht man nämlich den wichtigen 108 2 Medizinethik <?page no="109"?> Umstand der leiblichen Verbundenheit und vollständigen Abhängigkeit des Embryos vom Mutterleib (vgl. Graumann, 422; Maio, 323). Eine Lebenser‐ haltungspflicht, die auch Frauen nach Vergewaltigungen oder ungewollter Schwangerschaft trotz Pilleneinnahme zum Austragen des Kindes nötigen würde, wäre unmenschlich und eine zu große Verletzung des Selbstbestim‐ mungsrechts der Frau. Gegen die radikalliberale Position spricht jedoch, dass eine Verabsolutierung des Selbstbestimmungsrechts der Frau die Gefahr einer Verantwortungsreduktion mit sich bringt. Denn es gibt gute Gründe wie z. B. das Potentialitätsargument und das Argument der Empfindungsfä‐ higkeit, die einen abgestuften moralischen Status des Embryos rechtfertigen. Nach der gemäßigten liberalen Position dominiert im ersten Drittel der Schwangerschaft das Selbstbestimmungsrecht der Frau, wohingegen im letzten Drittel dem Lebensrecht des Embryos großes moralisches Gewicht zukommt (vgl. Zude, 124). Der Embryo besäße am Ende der Schwangerschaft fast denselben moralischen Status wie ein Neugeborenes. Wegen dieser prinzipiellen moralischen Schutzwürdigkeit des Embryos sollten nach Ansicht gemäßigter Liberaler ungewollte Schwangerschaf‐ ten durch verantwortungsvolles Verhalten ganz vermieden werden. Statt in Schwangerschaftskonflikten die Autonomie der Frau mit subjektiver Wunscherfüllung zu verwechseln, wäre sie als vernünftige und verant‐ wortbare Selbstbestimmung zu präzisieren. Im Falle einer ungewollten Schwangerschaft kommt es daher bei der Interessenabwägung entscheidend auf die guten Gründe oder berechtigten Interessen der Frau an. Diese graduelle Schutzposition scheint auch in den Kompromisslösungen zur rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in westlichen Staaten zum Ausdruck zu kommen (vgl. Schöne-Seifert 2007, 162). So ist nach der Fristenregelung in der BRD ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche, also im ersten Schwangerschaftsdrittel straffrei. Um zu verhindern, dass Abtreibungen zu einer „normalen“, ethisch un‐ bedenklichen Praxis werden, sind die Frauen aber gesetzlich zu einer Schwangerschaftsberatung und einer dreitägigen Bedenkfrist verpflichtet. Zu einem späteren Zeitpunkt gelten dann nur noch die kriminologische Indikation, d. h. eine Vergewaltigung, oder eine medizinische Indika‐ tion, d. h. eine Gefahr für das Leben oder eine schwere Beeinträchtigung des physischen oder psychischen Gesundheitszustands der Schwangeren, als legitime Rechtfertigungsgründe für eine Abtreibung. Mit diesem Beratungs‐ modell wurde ein Kompromiss gefunden zwischen der liberalen Forderung 109 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="110"?> nach dem uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem konservativen Anliegen des absoluten Lebensschutzes des Embryos. Pränatale Diagnostik (PND) Vor etwa 40 Jahren wurde die pränatale Diagnostik (PND) eingeführt, d. h. verschiedene Verfahren zum vorgeburtlichen Erkennen von Schäden am Embryo. Mithilfe von Fruchtwasseruntersuchungen oder Gewebeentnahmen am Mutterkuchen können Chromosomenstörungen oder genetische Risiken festgestellt werden. Daneben gibt es zahlreiche nicht-invasive Pränataltests wie Ultraschall oder seit neuerer Zeit auch leicht handhabbare Bluttests ohne Risiken für Mutter und Kind. Da es jetzt nicht mehr nur um den Gesundheitszustand oder die persönliche Lebenssituation der Schwangeren, sondern darüber hinaus um den Gesundheitszustand des Embryos geht, gibt es noch mehr Gründe für eine Abtreibung. Schwangere Frauen, die sich eigentlich ein Kind wünschen, entscheiden sich jetzt häufig aufgrund einer diagnostizierten Krankheit oder Behinderung wie z. B. des Down-Syndroms gegen das Kind. Obwohl die große Mehrheit der Schwangerschaftsabbrüche nicht-selektiv ist und die konkreten Eigenschaften des zukünftigen Kindes bei der Begründung also keine Rolle spielen, wirft die mehr und mehr routinemäßig durchgeführte Pränataldiagnostik viele ethische Fragen auf wie z. B.: Wird durch eine selektive Abtreibung nicht das Leben kranker oder behinderter Kinder in unzulässiger Weise abgewertet und ist der Wunsch nach einem gesunden Kind überhaupt berechtigt? Vertreter einer konservativen Position sprechen von einer Tendenz zur „vorgeburtlichen Qualitätsprüfung menschlichen Lebens“ und lehnen diese entschieden ab (Kölner Manifest). In ihren Augen wird der Embryo auf diese Weise instrumentalisiert und seiner Würde beraubt (vgl. Kreß, 128 f.). Zudem erleben viele Frauen die „Schwangerschaft auf Probe“ bis zum Vorliegen des Testergebnisses als große Belastung (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 31). Hinzu kommt, dass genetische Testverfahren zur Feststellung genetischer Krankheiten oft erst im zweiten Schwangerschaftsdrittel eingesetzt werden können und mit einem geringen Abortrisiko von wenigen Prozenten behaftet sind. Da sich wohl alle Eltern möglichst gute Ausgangsbedingungen für ihr Kind erhoffen, erscheint der Wunsch nach einem gesunden Kind menschlich nahelie‐ gend. Als Ausdruck der Sorge um das künftige Wohl des Kindes ist er ethisch unbedenklich, solange er nicht in einen vermeintlichen „Anspruch“ auf ein ge‐ sundes Kind umschlägt (vgl. Kreß, 135). Es ist kaum zu bestreiten, dass ein Mensch ohne Gliedmaßen oder mit anderen stark beeinträchtigenden Behinderungen 110 2 Medizinethik <?page no="111"?> oder Krankheiten im Leben mit viel mehr realen Hindernissen zu kämpfen hat als ein gesunder. Im Gegensatz zum früheren, in der BRD 1974 eingeführten „Indikationenmodell“ wurde 1995 allerdings die sich auf den Gesundheitszustand des Kindes beziehende embryopathische Indikation abgeschafft. Von da an war nur noch die medizinische Indikation zulässig, die aber einen großen Be‐ urteilungsspielraum offenlässt und z. B. auch depressive oder psychosomatische Symptome der Frau aufgrund der Diagnose eines kranken oder behinderten Kin‐ des mit Blick auf ihre schwierige zukünftige Lebenssituation umfassen kann. Der Gesundheitszustand des Kindes spielt heute also nur noch indirekt oder verdeckt eine Rolle bei der Begründung eines Schwangerschaftsabbruchs. Ohne Zweifel verlangt ein schwer krankes oder behindertes Kind von der Familie in einem ganz anderen Ausmaß intensive Pflege und Betreuung als ein gesundes. Wenn sich ein Paar möglicherweise diese große Belastung und die hohe Verantwortung einfach nicht zutraut, könnte eine „ehrliche Kapitulation“ zu Beginn der Schwangerschaft für alle Beteiligten besser sein. In der Schwangerschaftskonfliktberatung sollten die Eltern aber umfassend über öffentliche Betreuungsangebote und Therapie‐ möglichkeiten informiert werden, damit kein Embryo ohne schwerwiegenden Grund abgetrieben wird. Viele Kritiker der pränatalen Diagnostik warnen vor einem sich bis zur Eugenik steigernden Anspruchsdenken der Eltern. Diese könnten so lange einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, bis die Kinder über das gewünschte Geschlecht und einen optimalen Genpool verfügen (vgl. Maio, 330). Gleichzeitig könnten die Eltern dabei auch immer stärker unter sozialen Druck geraten, weil die Gemeinschaft an einer Kostenreduktion im Gesundheitswesen interessiert ist (vgl. Noack u. a., 124). Man prophezeit mit solchen Dammbruchargumenten, dass das routinemäßige Durchführen der pränatalen Diagnostik zu unaufhaltsamen negativen Veränderungen der gesellschaftlichen Einstellungen führe. Da solche Zukunftsprognosen prinzipiell unsicher sind, handelt es sich zwar nur um schwache Argumente. Gleichwohl müsste man aber alle möglichen Gefahren einzudämmen su‐ chen, wenn man Abtreibungen auf der Grundlage pränataler Diagnostik billigt. Zur Verhinderung eines elterlichen Anspruchsdenkens müssen in der Schwangerschaftskonfliktberatung alle eugenischen Hintergedanken aufgedeckt und kritisiert werden. Zudem gilt klarzustellen, dass mittels pränataler Diagnostik nur ein Bruchteil möglicher Behinderungen erfasst werden kann, und dass die meisten Behinderungen bei der Geburt oder im Laufe des späteren Lebens entstehen (vgl. Kreß, 138). Ein „Recht auf ein gesundes Kind“ kann medizinisch also in keiner Weise garantiert 111 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="112"?> werden. Hingegen ist die „reproduktive Selbstbestimmung“ der Paare immer untrennbar verknüpft mit der Bereitschaft zur Übernahme der Elternverant‐ wortung (vgl. Nationaler Ethikrat, 384 f.). Diese beinhaltet die Bereitschaft, die eigenen Interessen und Lebenspläne zugunsten der Fürsorge für das Kind zurückzustellen. Zur Diskussion sollen in der Schwangerschaftsberatung überhaupt nur Erbkrankheiten oder Missbildungen stehen, die mit größter Wahrscheinlichkeit zu dauerhaften und schweren Beeinträchtigungen der Lebensqualität des Kindes führen würden. Wenn Eltern ihre Kinder aber nach den eigenen Wünschen modellieren wollen, werden diese eindeutig instrumentalisiert. Kaum zu vermeiden dürfte allerdings der soziale Druck und die zusätz‐ liche Verantwortung der werdenden Eltern sein, die auf ihnen seit der technischen Errungenschaften der pränatalen Diagnostik lasten. Sie müssen sowohl die Inanspruchnahme als auch die Nichtinanspruchnahme dieser neuen Methoden vor Bekannten und gegebenenfalls auch den eigenen Kindern rechtfertigen können. Wie bei der Verbreitung neuer Technologien üblich, ergibt sich aus der neuen Entscheidungsmöglichkeit und dem Zwang zur reflexiven Auseinandersetzung mit den neuen Handlungsoptionen eine Entscheidungszumutung. Statt diagnostische Tests in der gynäkologischen Praxis routinemäßig und unkritisch durchzuführen, müssten die Paare vorher aber gründlich darüber aufgeklärt werden, dass nur ein Bruchteil möglicher Behinderungen pränatal diagnostiziert werden kann und nur bei ganz wenigen von diesen eine frühzeitige Therapie möglich ist (vgl. Maio, 319; Wiesemann u. a. 2005, 31). Wer seine Elternverantwortung sehr ernst nimmt oder aus religiösen oder anderen Gründen eine Abtreibung generell ablehnt, verdient Respekt statt vorwurfsvoller Blicke. Auch dürfen niemals gesundheitsökonomische Argumente in medizinethischen gesell‐ schaftlichen Debatten ausschlaggebend sein. Ein weiterer bereits genannter Einwand lautet, die ethische Legitima‐ tion der Abtreibung von Embryonen mit schweren Missbildungen oder Erbkrankheiten bedeute eine Abwertung und Diskriminierung von be‐ hindertem und krankem Leben. Selbst die radikalsten Abtreibungsgegner würden aber wohl kaum bestreiten, dass ein gesundes Leben besser ist als ein krankes, ein Leben mit Gliedmaßen besser als eines ohne Gliedmaßen. Anders könnte man es sich kaum erklären, wieso schwangere Frauen neun Monate lang auf jeden Genuss von Alkohol und Zigaretten verzichten, wieso man das Leben der vielen Contergan-geschädigten Kinder ohne Arme und Beine als menschliche Tragödie empfand, oder wieso die Medizin alles 112 2 Medizinethik <?page no="113"?> daransetzt, Krankheiten zu heilen. Wie bereits darlegt, stehen hinter solchen Bewertungen intersubjektive normative Konzepte wie „Lebensqualität“ oder „Würde-Darstellung“, die diskursiv und auf der Grundlage von Erfah‐ rungen die Bedingungen für ein selbstbestimmtes gutes Leben rekonstruie‐ ren (vgl. Einleitung; Kap. 2.2, S. 88). Ein solcher objektiv-intersubjektiver Kriterienkatalog schließt aber keineswegs aus, dass einzelne Menschen trotz ungünstiger Startbedingungen bei einer subjektrelativen Betrachtung zu einer positiven Selbsteinschätzung gelangen. So kann es jemandem mit einer starken Behinderung gelingen, mit viel Begabung und Geschick ein weitgehend selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen. Besonders beeindruckend ist das Beispiel des contergangeschädigten weltberühmten Sängers Thomas Quasthoff. In Fallbeispiel 2 hingegen bittet eine schwangere Frau ihren Arzt um pränatale Diagnostik, weil sie aus einer durch eine schwere Erbkrankheit belasteten Familie stammt. Obwohl die vererbbare, mit schweren Bewegungsstörungen und Demenz einhergehende Chorea Huntington bei ihr selbst (noch) nicht ausgebrochen ist, hat sie das grau‐ same Schicksal ihres kranken Vaters hautnah miterlebt. Frau Roth möchte aufgrund dieser Erfahrungen ihrem Kind ein solches Leben ersparen. Ethisch verwerflich sind grundsätzlich nicht die Wertkonzepte wie Lebensqualität oder gesellschaftliche Ideale wie Fitness oder Mobilität als solche, sondern immer nur bestimmte Umgangsweisen mit ihnen. Höchst bedenklich wäre es zweifellos, übergewichtige oder behinderte Menschen aufgrund ihrer mangelnden Fitness bzw. ihrer körperlichen Beeinträchtigungen zu verachten oder zu diskriminieren. Ethisch erlaubt bzw. sogar höchst begrüßenswert sind sie nur, soweit sie als positive Orientierungshilfen benutzt werden, um deren Lebensqualität z. B. mit Fitness-Angeboten oder behindertengerechtem Bauen zu verbessern. Lässt man die Abtreibung schwerst geschädigter Embryonen zu, bedeutet dies keineswegs, dass man nicht alles daransetzen soll, um mit Betreuungs‐ angeboten und Unterstützungshilfen Paaren das Aufziehen behinderter Kinder zu erleichtern (vgl. Ach 2004, 395). Mit der Legitimation solcher Abtreibungen wird auch nicht zwangsläufig das Lebensrecht Kranker oder Behinderter in Frage gestellt, wie immer wieder behauptet wird. Denn wie gezeigt besteht eine erhebliche Differenz im moralischen Status zwischen einem Embryo und einem geborenen Menschen. Das ethische und juristi‐ sche Recht auf Leben aller geborenen Menschen gilt unabhängig von irgendwelchen Checklisten für „objektive“ Lebensqualität oder der sub‐ jektiven Bewertung des eigenen Lebens. Da man allen Menschen zutrauen 113 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="114"?> darf, zwischen einem unentwickelten Embryo und einem erwachsenen Menschen unterscheiden zu können, geht mit dem Schwangerschaftsab‐ bruch aufgrund einer schweren genetischen Krankheit nicht automatisch die Diskriminierung lebender Kranker oder Behinderter einher (vgl. Schöne-Seifert 2007, 170; Wiesemann u. a. 2005, 32). Frau Roth hat ihren geliebten Vater bis zum Tod mit größtem Respekt begleitet und ist weit davon entfernt, kranke Menschen zu stigmatisieren. Sie könnte es aber nicht verkraften, ihr Kind demselben grausamen Schicksal ausgeliefert zu sehen. Wird der Schwangerschaftsabbruch statt mit der embryopathischen mit einer solchen quasi-medizinischen Indikation begründet, umgeht man die als problematisch angesehene Lebensqualitätsbewertung. Pränatale Diagnostik: Verfahren zum vorgeburtlichen Erkennen von Schäden am Embryo pro: - Sorge um den Gesundheitszustand und die Lebensqualität der zukünftigen Kinder - psychische Schwierigkeiten z. B. aufgrund der zukünftig zu leistenden, viel intensiveren Pflege und Betreuung schwer kranker oder behinderter Kinder kontra: a) bezüglich der schwangeren Frauen (bzw. der Paare): - „Schwangerschaft auf Probe“ große Belastung - große individuelle Verantwortung und Rechtfertigungszwang b) bezüglich des Embryos: - führt oft zu schmerzhaften Spätabtreibungen - Abortrisiko c) bezüglich der Gesellschaft: Dammbruchargumente mögliche Eindämmung - gesteigertes Anspruchsdenken bis hin zur Eugenik - Abwertung und Diskriminierung geborener Kranker und Behinderter - nur schwere Beeinträchtigungen (Krankheiten, Behinderungen) be‐ rücksichtigen - Achtung und Unterstützung Kran‐ ker und Behinderter fördern - unantastbares Lebensrecht aller geborener Menschen wahren → ethische Gebote: - Töten nur im frühen Embryostadium erlaubt - Abwägung der Gründe pro/ kontra in der Schwangerschaftskonfliktberatung - Dammbrüchen einen Riegel vorschieben 114 2 Medizinethik <?page no="115"?> Reproduktionsmedizin In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik (PID) Die neuen Versprechen der modernen Fortpflanzungsbzw. Reprodukti‐ onsmedizin oder Assistierten Reproduktion wie die In-vitro-Fertilisa‐ tion, Ei- und Samenspende oder Klonierung waren nicht nur von Anfang an mit vielen Hoffnungen von kinderlosen Paaren verbunden, sondern auch mit vielen Befürchtungen (vgl. Ach, 391; Schöne-Seifert 2007, 162). Für die neuen medizinischen Möglichkeiten sprechen starke Argumente wie die Zunahme der reproduktionellen Autonomie der kinderlosen Eltern und die Erschaffung von Leben. Konservative Kritiker lehnen jedoch die Assistierte Reproduktion häufig ab, weil sie für eine immer weitergehende Technisie‐ rung menschlichen Daseins steht und einen unzulässigen Eingriff in die Schöpfung bzw. Naturordnung darstelle (vgl. Ach 2004, 291; Knoepffler, 225). Indem der Mensch gezielt Kinder „produziere“ oder „herstelle“, spiele er Gott und verletze die Würde der Fortpflanzung. Die In-vitro-Fertilisation beraubt im Wortlaut der katholischen Kongregation für die Glaubenslehre den Akt der ehelichen Vereinigung um ihren „Zielpunkt“ und ihre „Frucht“ (405). Die dabei vorausgesetzten Lehren von natürlichen Zwecken oder der göttlichen Schöpfungsordnung sind aber keineswegs konsensfähig. Weil wir mit unserer voraussehenden und planenden Vernunft fast bei allen unseren Tätigkeiten gegen die natürliche oder göttliche Zweckordnung verstoßen, lassen sich Natürlichkeits-Argumente leicht ad absurdum führen (vgl. Ethik, Kap. 5.1): Wir rasieren Bärte, bauen künstliche Betten und Staudämme für Flüsse und bekämpfen tödliche Krankheiten mit modernsten Techniken. Zudem wird eine künstliche Befruchtung im Reagenzglas („in vitro“) in aller Regel bei Paaren durchgeführt, bei denen der „natürliche“ Zweck des Geschlechtsaktes aufgrund dauerhafter Unfruchtbarkeit vereitelt ist. Heute spielen diese ursprünglichen ethischen Vorbehalte kaum mehr eine Rolle, und die In-Vitro-Fertilisation ist als Standardverfahren weitgehend akzeptiert (vgl. Stoecker, 180; Maio, 336). In vielen Ländern ist sie inzwischen nicht mehr nur für verheiratete heterosexuelle Paare, sondern auch für homosexuelle Paare in einer Lebensgemeinschaft oder sogar für alleinste‐ hende Frauen zulässig, wird allerdings nicht an allen Kinderwunschkliniken durchgeführt oder nicht von den Krankenkassen bezuschusst. Gewichtig sind jedoch zahlreiche medizinische Einwände gegen die In-vitro-Fertilisation: So soll nach neueren Untersuchungen das Fehlbil‐ dungsrisiko der Neugeborenen nach einer solchen künstlichen Befruchtung 115 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="116"?> doppelt so hoch sein wie bei „natürlich“ erzeugten Kindern (vgl. Kreß, 132). Zudem ist das Verfahren auch nach 40 Jahren noch sehr ineffektiv, weil in den allermeisten Fällen eine Vielzahl von Versuchen notwendig sind und über die Hälfte der Paare mit Kinderwunsch auch nach drei Zyklen kinderlos bleiben (vgl. Maio, 336). Die mit jedem Versuch wiederkehren‐ den Hoffnungen und Enttäuschungen stellen für die Paare eine enorme psychische Belastung dar, und die für die Eizellgewinnung erforderliche hormonelle Stimulation bringt für die Frauen auch körperliche Risiken mit sich (vgl. Rothaar, 429). Ethisch geboten ist bei kinderlosen Paaren folglich eine umfassende Aufklärung über die Erfolgsaussichten, Risiken und Belastungen dieses Verfahrens. Da dem Wohl des Kindes höchste Priorität zukommt, sollten alle Alternativen wie Adoption oder Behandlung der Ursachen der Unfruchtbarkeit wie z. B. Stress etc. in Erwägung gezogen werden (vgl. Ach 2004, 393 f.). Höchst umstritten ist aber insbesondere auch das Verfahren der Präim‐ plantationsdiagnostik (PID), weil mit der Erzeugung mehrerer Embryo‐ nen in vitro und ihrer Testung vor der Einpflanzung in die Gebärmutter noch viel stärkere Bedenken gegenüber einer „Qualitätsprüfung“ und gezielten Selektion der Embryonen aufkommen (vgl. Maio, 328 f.). Um diese ethischen Probleme zu entschärfen, schreibt das Embryonenschutzgesetz der BRD seit 1991 vor, maximal drei Embryonen zu erzeugen und alle zu transfe‐ rieren. Zudem wurde 2011 die Präimplantationsdiagnostik grundsätzlich verboten und nur in Ausnahmefällen für zulässig erklärt, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwerwiegende Erbkrankheit oder eine Fehl- oder Todgeburt besteht. Selbst bei dieser im Vergleich zu anderen Staa‐ ten strengen Regelung verbleiben Dammbruchargumente, die vor einer schrittweisen Ausdehnung dieser beschränkten Zulassung der PID bis hin zur Menschenzüchtung warnen (vgl. Maio, 332 f.). Ethisch inakzeptabel ist grundsätzlich jede Selektion der Embryonen nach äußeren, nicht mit ihrem eigenen Wohl in Zusammenhang stehenden Kriterien. Wenn Embryonen bloß als Mittel zur Erfüllung persönlicher Wünsche der Eltern oder zur Erreichung bestimmter gesellschaftlicher Zwecke erzeugt und ausgewählt werden, würden zwar nicht die Embryonen, aber die zukünftigen geborenen Kinder um ihre Autonomie und Würde beraubt. So wird die menschliche Würde eines Kindes z. B. verletzt, wenn man dieses nur zum Zweck einer Organspende oder zur Gewinnung von Gewebe für Drittpersonen erzeugt, ohne es um seiner selbst willen zu wollen und zu lieben. In Anschauungs‐ beispiel 3 scheinen die Eltern sich jedoch unabhängig von der dringend 116 2 Medizinethik <?page no="117"?> benötigten genetisch ähnlichen Knochenmarkspende ein zweites Kind zu wünschen. Denn die Krankheit ihres ersten Kindes wurde erst diagnosti‐ ziert, als das Paar bereits seit Längerem in einer reproduktionsmedizinischen Klinik in Behandlung war. Auch wenn die Eltern die Ärzte jetzt bitten, einen der Schwester genetisch möglichst ähnlichen Embryo („Retterbaby“) auszuwählen, wird das zweite Kind also nicht „bloß“ als Mittel behandelt und damit entwürdigt. In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik pro: Behandlung von Unfruchtbarkeit bei Paaren, die unter Kinderlosigkeit leiden kontra: - geringe Erfolgschancen, hohes Gesundheitsrisiko für Embryo, große psychi‐ sche Belastung für Eltern - Verstoß gegen natürliche oder göttliche Ordnung (↔ Argumentum ad absurdum: ständiger Verstoß gegen natürliche/ göttliche Ordnung) - Dammbruchargumente mögliche Eindämmung - Züchtung von Menschen mit ge‐ wünschten Eigenschaften - Verletzung der Menschenwürde durch Instrumentalisierung - nur stark beeinträchtigende Krank‐ heiten und Behinderungen dürfen berücksichtigt werden - keine äußeren Selektionskriterien, die nicht das Kindeswohl betreffen → ethische Gebote: - umfassende Beratung der kinderlosen Paare mit Erwägung aller Alternativen - das Wohl bzw. die Lebensqualität des künftigen Kindes hat oberste Priorität - Dammbrüchen einen Riegel vorschieben. 117 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="118"?> Ei- und Samenspende, Leihmutterschaft und Social Freezing Ein weiterer Problemkomplex entsteht bei der Verwendung von Ei- oder Samenzellen von fremden Spendern oder bei einer Leihmutterschaft, weil es dadurch zu einer gespaltenen Elternschaft kommt. Konservative Kritiker sehen dadurch die Integrität der Ehe und traditionelle Ideale von Familie und Beziehungen in Gefahr, besonders wenn diese Mittel der assistierten Reproduktion auch für unverheiratete und homosexuelle Paare oder Alleinstehende zugelassen werden. Zu erwarten sind außerdem Interessenkonflikte zwischen genetischen, biologischen (austragenden) und sozialen Müttern und Vätern (vgl. Schöne-Seifert 2007, 164 f.; Rothaar, 429 f.). Bereits die auch in Deutschland erlaubte freiwillige Samenspende wird kritisch gesehen, weil es sich um eine bezahlte Dienstleistung handelt und die genetischen Väter zumeist keine elterliche Verantwortung übernehmen (vgl. Maio, 344 f.). Schwerer wiegen die Einwände gegen die in Deutschland, Italien und der Schweiz verbotene, aber in den meisten anderen Ländern nicht geregelte oder erlaubte Eizellspende und insbesondere die Leihmut‐ terschaft, die außer in Russland, Thailand, Indien und den USA höchstens in altruistischer Form zugelassen ist. Denn bei einer Kommerzialisierung dieser beiden Praktiken können Frauen in prekären Lebenslagen leicht aus‐ genutzt werden, zumal sie meist nur wenig verdienen im Vergleich zu den Vermittlungsagenturen (vgl. ebd., 349). Zur Vermeidung von Ausbeutung braucht es internationale rechtliche Regelungen. Ethisch problematisch sind aber auch egoistische Elternwünsche z. B. bei einer postmenopausalen Mutterschaft wie im Fall der Berliner Grundschullehrerin, die 2015 mit 67 Jahren Vierlinge zur Welt brachte (vgl. ebd., 352). Hier wie beim Social Freezing, d. h. dem Einfrieren von Eizellen, stellt sich das Problem, dass der Altersabstand zwischen der Frau mitsamt ihrem sozialen Umfeld und ihrem Kind immer größer wird und im erwähnten Extrembeispiel quasi eine Generation übersprungen wird. Nicht zuletzt gibt es viele ethische Bedenken, die sich auf das zukünftige Wohl der Kinder beziehen: So sei es ein menschliches Grundbedürfnis, von Menschen gezeugt zu werden, die sich kannten und liebten, statt rein technisch „gemacht“ zu werden (vgl. ebd., 345). Zudem könnte das zukünftige Kind Identitätsprobleme bekommen, weil es verschiedene Väter und Mütter hat und nicht alle Teil seiner Lebens‐ welt sind. Solange dazu empirische Studien fehlen, handelt es sich allerdings lediglich um Vermutungen. Mindestbedingungen für die soziale Praxis der gespaltenen Elternschaft wären eine klare familienrechtliche Regelung für Konfliktfälle und eine Kontrolle oder ein Verbot der Kommerzialisierung, 118 2 Medizinethik <?page no="119"?> das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner genetischen Herkunft und eine frühe Einweihung darüber. Ei- und Samenspende, Leihmutterschaft und Social Freezing pro: Erweiterung der reproduktionellen Autonomie kontra: a) Eltern/ Familie: - Interessenkonflikt zwischen genetischen, biologischen und sozialen Eltern - egoistische Elternwünsche (z. B. in hohem Alter/ bestimmte Eigenschaften) - reine Dienstleistungen ohne elterliche Verantwortungsübernahme b) Wohl des Kindes: - psychische Probleme bei Identitätsentwicklung wegen Wissen um technische Erzeugung und abwesender Väter bzw. Mütter → ethische Gebote: - internationale Regelungen des Familienrechts und der Kommerzialisierung - Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft und frühe Einweihung Klonen Beim reproduktiven Klonen wird eine identische genetische Kopie eines Menschen hergestellt, indem das Erbmaterial einer Körperzelle in eine entkernte Eizelle eingebracht wird. Seit dem ersten geklonten Schaf „Dolly“ 1996 werden heute die verschiedensten Tierarten wie z. B. Hunde und Pferde in größerem Umfang erfolgreich geklont. Nicht nur wegen der bei Menschen als unverantwortlich geltenden hohen Zahl an misslungenen Versuchen und hohen gesundheitlichen Risiken, sondern auch aus ethischen Gründen ist das Klonieren von lebenden oder verstorbenen Menschen jedoch verboten. Eine durchaus sinnvolle Anwendungsmöglichkeit wäre zwar die bereits er‐ wähnte Erzeugung eines „Rettergeschwisters“ als optimaler Organspender für ein erkranktes Kind. Auch könnte die Kopie eines früh verstorbenen Kin‐ des den Eltern bei der Überwindung des Schmerzes helfen (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 36). Schließlich könnten die Klone besonders herausragender Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Nelson Mandela oder Mutter Theresa willkommene Beiträge zur geistigen und kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft leisten. Kritiker rufen aber zum Schutz der Rechte auf Identität und Würde des Kindes auf. Bezüglich des Rechts auf Identität lassen sich die Befürchtungen allerdings dämpfen mit dem Hinweis auf eineiige Zwillinge. Denn diese 119 2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin <?page no="120"?> entwickeln sich in der Regel physisch und psychisch zu einmaligen und unverwechselbaren Persönlichkeiten. Folglich gibt es auch keine Garantie dafür, mit dem Klon von Einstein einen ebenso begnadeten Wissenschaftler zu erzeugen oder mit demjenigen von Boris Becker einen neuen Wimble‐ don-Sieger (vgl. Düwell 2008, 210). Erst bei einer ganzen Gruppe geklonter Individuen stünden die Identitätsrechte in Gefahr. Auch eine Verletzung des Rechts auf Würde läge nur dann vor, wenn ein Klon ausschließlich für einen gewünschten Zweck hergestellt wird und er z. B. als Klon von Einstein oder Becker unter einem hohen Erwartungsdruck stünde. Wüchse das Kind jedoch in einem wertschätzenden Umfeld ohne Druck auf oder müsste beispielsweise nur einmal einem Familienangehörigen ein regeneratives Gewebe spenden, ließe sich in einem personalen oder individualisierenden Sinn kaum von einem Würdeverlust sprechen. Nur in einem vorpersonalen oder Gattungssinn läge eine „Verdinglichung“ und Missachtung der wesensmäßigen menschlichen Selbstweckhaftigkeit vor, weil Klone in ihrer ganzen genetischen Konstitution auf die Bedürfnisse anderer Menschen oder der Gesellschaft zugeschnitten werden (vgl. Siep 2004, 420). Häufig wird daher ein Recht auf Ungeplantheit oder Unab‐ hängigkeit des Genoms gefordert (vgl. Siep 2004, 420; Schöne-Seifert 2007, 168). Reproduktives Klonen: Verdoppelung einer gewünschten genetischen Anlage pro: - herausragende Persönlichkeiten vermehren - verstorbene geliebte Menschen wiedererwecken - passende Spender für Organe oder Körpersubstanzen kontra: - zu große Risiken für das Kind - Recht auf Identität des Kindes in Gefahr (→ Zahl der Klone limitieren) - Recht auf Unabhängigkeit des Genoms von anderen Menschen verletzt - Menschenwürde im Gattungssinn verletzt (Menschenzüchtung) → ethisches Verbot: reproduktives Klonen unzulässig 120 2 Medizinethik <?page no="121"?> 2.4 Organtransplantation Anschauungsbeispiel: Der Vater von vier kleinen Kindern wird nach einem Autounfall mit schweren Kopfverletzungen ins Spital gebracht. In seiner Brieftasche findet man einen Organspendeausweis. Die Ehefrau ist einem psychi‐ schen Zusammenbruch nahe, weil ihr Mann in Lebensgefahr schwebt. Sie will am nächsten Tag mit ihren Kindern vorbeikommen, um sich von ihm zu verabschieden. Die Ärzte nehmen sich vor, sie dann auf die Möglichkeit einer Organspende anzusprechen. Die Pflegepersonen opponieren, weil eine solche Anfrage für die total überforderte Frau eine Zumutung darstelle. (nach Wiesemann u. a. 2005, 59) Wie soll man hier vorgehen? Seit den 1960er Jahren ist es medizintechnisch möglich, Organe zu trans‐ plantieren und damit das Leben vieler kranker Menschen zu retten oder deren Lebensqualität erheblich zu verbessern. Die Zahl der Organtransplan‐ tationen stieg dank immer besserer Transplantationsverfahren und einer effektiveren Immunsuppression exponentiell an. Es werden heute routine‐ mäßig und mit steigender Erfolgsrate Augenhornhäute, Nieren, Lebern, Herze und Lungen in fremde Körper verpflanzt. Die meisten Organe werden verstorbenen Menschen entnommen (vgl. Ach u.a. 2020, 323). Eine Lebend‐ spende kommt nur bei regenerierbarem Gewebe wie Knochenmark, paarig vorkommenden Organen wie den Nieren oder bei teilweise übertragbaren Organen wie der Leber in Frage. Mit der Organentnahme bei Toten sind andere ethische Probleme verknüpft als mit der Lebendspende, weshalb diese beiden Möglichkeiten der Organspende getrennt voneinander behan‐ delt werden müssen. Heute wird zwar kaum mehr über die grundsätzliche ethische Legitimität von Organtransplantationen gestritten. Bei Debatten zur Transplantationsmedizin rückt stattdessen immer mehr die Frage ins Zentrum, wie sich der große Mangel an dringend benötigten Organen auf ethisch akzeptable Weise beseitigen lässt (vgl. Schöne-Seifert 2007, 137). Leichenspende Bezüglich der Leichenspende gibt es v. a. eine anhaltende Kontroverse über den Zeitpunkt, von dem an die Ärzte einem Sterbenden legitimerweise die Organe entnehmen dürfen. Wie sich in Kapitel 2.3 anlässlich der Abtrei‐ 121 2.4 Organtransplantation <?page no="122"?> bungsdebatte zeigte, müssen dabei zwei Fragestellungen auseinandergehal‐ ten werden: Auf einer deskriptiven Ebene lassen sich bestimmte Stufen oder Einschnitte des beginnenden genauso wie des sterbenden Lebens feststellen. Auf einer normativen Ebene wäre hingegen zu überlegen und zu begründen, welche dieser Einschnitte ethisch relevant sind. Auf einer deskriptiven Ebene ist nochmals zwischen einem rein mit naturwis‐ senschaftlich-medizinischen Mitteln zu diagnostizierenden Kriterium zur Feststellung des Todes und einer philosophisch-anthropologischen Defini‐ tion des Todes bzw. einem Todes-Konzept zu unterscheiden (vgl. Maio, 428; Brenner 2015, 483 f.). Definitionen können grundsätzlich weder wahr noch falsch sein, sondern nur mehr oder weniger angemessen oder plausibel (vgl. Ach u.a., 331). Zudem spielen bei der hier zur Diskussion stehenden Todesdefinition implizit oft bereits normative Vorstellungen über das mo‐ ralisch Schützenswerte bzw. über den moralischen Status des Menschen mit hinein (vgl. Stoecker, 461). Gemäß dem traditionellen Herztod-Konzept gilt ein Mensch als tot, wenn die Vitalfunktionen der Atmung und des Blutkreislaufs irreversibel zum Erliegen gekommen sind. Ein solcher Herzstillstand war immer un‐ trennbar verknüpft mit dem Ausfall der Hirnfunktion, bis man in den 1960er Jahren den Herz-Lungenkreislauf mit intensivmedizinischen Maßnahmen auch nach dem Absterben des Gehirns aufrechterhalten konnte. Die Irrita‐ tion der Ärzte war eine doppelte: Sie wussten einerseits nicht, wann sie die künstliche Verlängerung des Herzschlags und der Atmung beenden dürfen. Andererseits waren sie unsicher, ob man diesen Patienten die Organe entnehmen darf. Man beauftragte eine Ad-hoc-Kommission der Harvard Medical School, klare Kriterien für die Feststellung des Todes vorzulegen. Die Harvard-Mediziner identifizierten den biologischen Tod des Menschen mit dem Hirntod, d. h. dem vollständigen und irreversiblen Ausfall aller messbarer Hirnfunktionen. Da die Ärzte nun optimale Bedingungen für die Entnahme qualitativ hochwertiger Organe hatten, sprachen Kritiker wie Hans Jonas von Anfang an von einer „pragmatischen Umdefinierung“ des Todesbegriffs (vgl. Jonas 2020, 369). Es wäre allerdings ein genetischer Fehl‐ schluss, wenn von einer zweifelhaften Genese einer Definition oder eines Urteils auf dessen unhaltbaren Geltungsanspruch geschlossen würde (vgl. Ach u.a. 2020, 360). Genaugenommen schlug die Harvard-Kommission auch lediglich Kriterien zur Feststellung des Todes vor, nicht aber eine explizite Todesdefinition. Ganz unabhängig von den Entstehungsbedingungen der Hirntoddebatte und den darin involvierten starken Interessen sollen hier 122 2 Medizinethik <?page no="123"?> die Gründe geprüft werden, die sich für die Rechtfertigung verschiedener Todeskonzepte aufführen lassen. Eine naheliegende und weithin geteilte Auffassung besagt, dass mit „Tod“ beim Menschen wie bei allen anderen Lebewesen auch das Ende des biologischen Lebens und der Tod des Organismus als Ganzes gemeint ist (vgl. Stoecker, 460 f.; Ach u.a. 2020, 361). Ein solcher Zusammenbruch des gesamten Organismus tritt ein, wenn dem Lebewesen die Fähigkeit zur Integration des komplexen Organismus in Wechselwirkung mit der Umwelt abhandenkommt. Auf der deskriptiven Ebene dreht sich die kontroverse Hirntoddebatte nun hauptsächlich um die Frage, wie viel Integrationsleis‐ tung erforderlich ist, um noch von einem lebenden Menschen sprechen zu können (vgl. Maio, 430). Vertreter des Herztodkonzeptes halten eine Integration der vegetativen Selbststeuerung für ausreichend, die erst mit dem irreversiblen Ausfall des Herz-Kreislauf-Systems verloren geht (vgl. Brenner 2015, 496). Für diese körperbiologische Position spricht, dass die meisten Lebewesen diese Integrationsleistung ohne Gehirn erbringen und dass die vegetativen Funktionen bei hirntoten Menschen mit medizini‐ schen Maßnahmen über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden können, während der sie phänomenale Merkmale der Lebendigkeit wie Wärme, Puls oder Körperwachstum aufweisen (vgl. ebd., 487; Stoecker, 460 f.). Verfechter des Hirntodkonzeptes wie die Harvard-Professoren und die deutsche Bundesärztekammer halten jedoch das Gehirn als Zentral‐ organ für unverzichtbar, um die Integration des Gesamtorganismus zu gewährleisten (vgl. Ach u. a., 2020, 364 f.; Birnbacher 2004, 345). Für diese hirnbiologische Position spricht, dass einzelne punktuelle vegetative Funktionen oder Teilsysteme wie z. B. Wundheilung oder Immunabwehr keine Rückschlüsse auf eine funktionelle Einheit des gesamten Organismus erlauben und beim hirntoten Menschen die zentrale Aufrechterhaltung von Atmung und Kreislauf eben nicht mehr vom Organismus selbst bewirkt wird (vgl. Schöne-Seifert 2007, 133; Maio, 430). Neuere Forschungen z. B. des Neurologen Alan Shewmon wiesen allerdings nach, dass es auch unterhalb des Gehirns neuronale Netzwerke mit Steuerungsfunktionen gibt und es deswegen bei Hirntoten nicht innerhalb kurzer Zeit zu einer völligen Desintegration kommt und z. B. noch eine Schwangerschaft ausgetragen werden kann (vgl. Jox, 86 f.; Maio, 429; Ach u. a. 2020, 359). Gegen diese vorherrschende Definition des Todes als Ende des biolo‐ gischen Lebens bzw. Tod des Organismus wird in der Hirntod-Debatte jedoch teilweise eingewendet, dass beim Menschen der Tod anders als 123 2.4 Organtransplantation <?page no="124"?> bei weniger entwickelten Lebewesen nicht das Ende des biologischen Organismus, sondern das Ende des personalen Lebens bzw. den Tod des Menschen als Person meine (vgl. Ach u.a. 2020, 362; Stoecker, 460 f.). Ein spezifisch menschliches personales Leben setzt aber nicht nur eine wie auch immer geartete biologische Integration voraus, sondern eine mentale Integration durch ein Zentrum im Gehirn. Denn erst diese ermöglicht die für personales Leben konstitutiven Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Identität, vernünftige Selbstbestimmung und Lebensgestaltung und führt zu einer „qualifizierten organismischen Ganzheit“ (Schaupp, 109 ff.). Da der Tod der Person nicht mit dem Tod des Organismus zusammenfällt, könnte der biologische Organismus danach durchaus noch als Funktionsganzes weiterexistieren. Der Tod träte aber nicht erst mit dem Absterben des Ganzhirns, also dem Ganzhirntod ein, sondern es reichte der Teiltod oder genauer der Großhirntod aus, d. h. der Verlust der für das Bewusstsein notwendigen Hirnteile. Für dieses Personargument spricht, dass einem Hirntoten ohne Denk- und Empfindungsfähigkeit die für den Menschen typischen Merkmale fehlen (vgl. Schaupp, 100 f.). Unplausibel ist diese Todesdefinition hingegen insofern, als dann auch schwerstbehinderte Neu‐ geborene oder gewisse Wachkomapatienten für tot erklärt werden müssten. Auf der normativen Ebene scheint der Tod des Menschen für die Frage nach der Legitimität der Organtransplantation so entscheidend zu sein, weil sich beim Tod der moralische Status eines Menschen radikal ändert. Denn die meisten moralischen Rechte und die Menschenwürde können nur lebenden Menschen zugesprochen werden (vgl. Stoecker, 226; Knoepffler, 87). Würde man einem sterbenden, aber noch nicht toten Menschen Organe entnehmen und damit seinen Tod herbeiführen, bedeutete dies eine Vivisektion oder Tö‐ tung. Genauso wie am Lebensanfang lassen sich jedoch auch am Lebensende verschiedene Stufen und Einschnitte differenzieren, weil es auch hier anstelle eines plötzlichen einmaligen Umschwungs eine meist längerdauernde letzte Phase verschiedener Verluste gibt. Genauso wie beim Schwangerschaftsab‐ bruch ist es eine ethische Aufgabe zu erwägen, ob der moralische Status möglicherweise im Laufe dieses Sterbeprozesses stufenweise abnimmt. Ohne Zweifel ist der Großhirntod als Ende der Empfindungs- und Denkfähigkeit moralisch relevant, denn innere Würde als vernünftige Selbstbestimmung kommt dem Sterbenden danach höchstens noch im Sinne der schwachen 1. Potenz zu (vgl. Kap. 2.3; Knoepffler, 90). Ebenso ist aber auch der biologische Tod aus den genannten Gründen ethisch relevant, der im Fall einer medizini‐ schen Lebensverlängerung erst zu einem späteren Zeitpunkt eintritt. Obgleich 124 2 Medizinethik <?page no="125"?> ein Hirntoter zwar über einen höheren moralischen Status als eine Leiche verfügt, hat der Mensch zu diesem Zeitpunkt irreversibel das Bewusstsein und die Empfindungsfähigkeit verloren und der Sterbeprozess ist unumkehrbar. Da sich auf der deskriptiven Ebene des Todeskriteriums das Absterben des Ge‐ samthirns sicherer diagnostizieren lässt, empfiehlt sich allerdings anstelle des Großhirnkriteriums aus Sicherheitsgründen (tutioristische Position) das in vielen Ländern geltende (Ganz-)Hirntodkriterium als Zäsur (vgl. Schöne-Sei‐ fert 2007, 134). Immer mehr Stimmen plädieren für die ethische Zulässigkeit eines freiwilligen „Sterbens durch Organspende“ und eine aktive Sterbehilfe der Ärzte unter der Bedingung, dass die Betroffenen zuvor bewusst in eine Organentnahme in diesem unumkehrbaren Stadium leiblichen Vegetierens eingewilligt haben (vgl. Stoecker, 426; Jox, 93; Schaupp, 99). Die meisten in Kapitel 2.2 diskutierten ethischen Argumente gegen aktive Sterbehilfe treffen auf diese spezielle Situation des irreversiblen Sterbeprozesses nicht zu, und Dammbrüche sind bei den bereits vorliegenden klaren Diagnosekriterien und hinreichender ärztlicher Sorgfaltspflicht und Kontrolle kaum möglich. Leichenspende: Bedeutende Einschnitte im Sterbeprozess Todeskriterien und -definitionen ethische Relevanz Tod = Ende des personalen Lebens Teiltodkriterium: Ausfall des Großhirns Ende der Denk- und Empfindungsfähig‐ keit Tod = Ende des biologischen Lebens a) (Ganz)Hirntod-Kriterium: Ausfall des ganzen Hirns b) Herztod-Kriterium: Ausfall der Herztätigkeit statt integrative nur noch vegetative Selbststeuerung Leichnam ohne Würde und Rechte von Lebenden Zwischen moralischer Hilfspflicht und Recht auf Selbstbestimmung Allgemein wird davon ausgegangen, dass sich der moralische Status eines biologisch toten Menschen immer noch von einer Sache oder einem leblosen Stein unterscheidet, weil der Tote zu Lebzeiten Interessen an den Umständen des eigenen Sterbens und einer allfälligen Organentnahme hatte. Solche postmortalen Interessen, Persönlichkeitsrechte und das Recht auf Selbstbestimmung wirken über den Tod hinaus fort, sodass z. B. auch testamentarische Anordnungen ausgeführt werden müssen (vgl. Ach 2003, 277 f.). Angesichts der dramatischen Organknappheit stellt sich allerdings 125 2.4 Organtransplantation <?page no="126"?> die Frage, ob die Interessen potentieller Organempfänger am Überleben oder am Zuwachs von Lebensqualität nicht höher zu bewerten sind als das Recht der potentiellen Spender auf Selbstbestimmung über ihren Leichnam. Nur aus Sicht von Utilitaristen wie Norbert Hoerster ist eine postmortale Organentnahme auch ohne Einwilligung oder sogar gegen den Willen der Verstorbenen ethisch legitim (vgl. Kliemt, 466). Der Haupteinwand gegen den Utilitarismus lautet aber gerade, dass dem Prinzip der Nutzenmaximie‐ rung persönliche Rechte und Würde der einzelnen Menschen zum Opfer fallen (vgl. Ethik, 101 f.). Dieter Birnbacher hingegen spricht von einer „genuinen moralischen Verpflichtung“ der Menschen zur Organspende, sodass zumindest ein moralischer Druck ethisch gerechtfertigt wäre (vgl. 2004, 314). Denn der potentielle Organspender beabsichtige zwar mit einer Verweigerung nicht den Tod des potentiellen Empfängers, nehme ihn aber billigend in Kauf. Auch wenn diese Darstellung einer Inkaufnahme des Todes unbekannter potentieller Organempfänger überzeichnet scheint und eine umstrittene universelle Hilfspflicht voraussetzt, haben die Bürger eines Staates doch ein gemeinsames Interesse an einem effektiven Ge‐ sundheitssystem, das jedem Kranken die bestmögliche Therapieform bzw. das passende Organ bereitstellt. Diesem gemeinsamen Interesse stehen jedoch die privaten entgegen, selbst nicht spenden zu müssen. Nach einer repräsentativen Studie der Bundeszentrale für gesundheitlich Aufklärung aus dem Jahr 2014 wären zwar 70% der Deutschen prinzipiell mit einer postmortalen Organ- oder Gewebespende einverstanden (vgl. BzgA, 32). Trotzdem hatten nur 35% einen Organspendeausweis, weil sie sich zu wenig mit dem Thema auseinandergesetzt haben oder unentschlossen sind, aus Bequemlichkeit oder weil sie es „unsympathisch“ finden, nach dem Tod auf‐ geschnitten zu werden (vgl. ebd., 17; Birnbacher 2004, 314 f.). Solche Gründe erscheinen als sehr schwach, wenn ohne jedes Risiko Leben gerettet werden könnte. 2012 sank die Spendebereitschaft außerdem wegen einigen bekannt gewordenen Organspendeskandalen in deutschen Transplantationszentren, die das Vertrauen in das System untergruben. Diese ethischen Reflexionen fanden ihren Niederschlag in den in ver‐ schiedenen Ländern diskutierten oder bereits geltenden Spenderegelungen, die entweder das ethische Prinzip der Hilfeleistung oder das Recht auf Selbstbestimmung in den Vordergrund rücken. Kaum jemand vertritt die radikale Sozialpflichtregelung, derzufolge das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen über den eigenen Körper mit seinem Tod endet, sodass ihm dann seine Organe entnommen und an transplantationsbedürftige Patienten 126 2 Medizinethik <?page no="127"?> weitergegeben werden dürften (vgl. dazu Schöne-Seifert 2007, 142). Am anderen Extrempol eines maximalen Schutzes des Selbstbestimmungsrechts käme hingegen nur eine enge Zustimmungslösung in Frage, bei der eine Organentnahme ausschließlich erlaubt ist bei ausdrücklicher Einwilligung des Spendewilligen zu Lebzeiten. Etwas weniger streng ist die erweiterte Zustimmungslösung, die eine Organentnahme auch bei Hinweisen auf ei‐ nen mutmaßlichen Willen durch die Angehörigen erlaubt. Dabei ergibt sich allerdings für das Krankenhauspersonal das im obigen Anschauungsbeispiel geschilderte Problem, die trauernden oder verzweifelten Angehörigen be‐ hutsam mit dem Thema Organspende zu konfrontieren. In Deutschland ist dieses Modell 2012 durch dasjenige der Entscheidungslösung ersetzt wor‐ den, bei dem Bürger ab 16 Jahren regelmäßig z. B. beim Erwerb des Führer‐ scheins oder Abschluss einer Krankenversicherung zur Auseinandersetzung mit der Möglichkeit der Organspende aufgefordert werden. Anders wird im Rahmen der inzwischen in den meisten europäischen Ländern geltenden Widerspruchslösung automatisch von der Einwilligung zur Organspende ausgegangen, wo kein ausdrücklich dokumentierter Widerspruch vorliegt. Für dieses Modell spricht die erwähnte Diskrepanz zwischen der grundsätz‐ lichen Spendebereitschaft und der Passivität und Verdrängung des Themas. Ethisch legitim kann es allerdings nur unter der Voraussetzung sein, dass alle Bürger hinlänglich über den akuten Organmangel und die Geltung der Widerspruchslösung aufgeklärt werden. Angesichts des viel zu geringen Spendeaufkommens wird zusätzlich vorgeschlagen, es den Einzelnen nicht zu leicht zu machen mit einem Widerspruch: Gemäß dem Reziprozitäts- oder Clubmodell sollen diejenigen Personen bei der Zuteilung der knappen Organe bevorzugt werden, die ihre Spendebereitschaft dokumentiert haben (vgl. Breyer, 347 f.; Schöne-Seifert 2007, 147). ethische Pflichten potentieller Organspender Begründung: gemeinsames Interesse aller Bürger an einem funktionierenden Organtransplantationssystem → persönliche Verantwortung für solidarisch organisiertes Gesundheitssystem notwendige Voraussetzung: öffentliche Aufklärung über Organknappheit und Not der Betroffenen 127 2.4 Organtransplantation <?page no="128"?> Lebendspende In Erwägung gezogen wird auch, ob angesichts der Organknappheit nicht vermehrt an die Lebendspende appelliert werden müsste. Da hier im Voraus eine gründlichere Selektion und Planung möglich ist, werden damit insge‐ samt bessere Ergebnisse erzielt. Die Entnahme eines Organs von einem lebenden Spender stellt aber eine Körperverletzung dar und ist mit erhebli‐ chen ethischen Problemen verbunden: 1. Im Gegensatz zur Leichenspende birgt die Lebendspende gewisse Risiken wie chronische Schmerzen oder psychische Belastungen. Ein Spender muss daher individuell eingehend über alle akuten und fernliegenden Risiken informiert werden. 2. Selbst wenn je‐ mand einer Lebendorganspende gut informiert zustimmt, besteht die Gefahr, dass die Entscheidung unter psychischem Druck und damit nicht freiwillig gefällt wurde. Insbesondere ein naher Verwandter des Empfängers könnte von der ganzen Familie zur Spende gedrängt worden sein oder aus Furcht vor Ausgrenzung oder Benachteiligung einwilligen. Der Organempfänger hingegen könnte durch die „Tyrannei des Geschenks“ in ein fragwürdiges Abhängigkeitsverhältnis zum Spender hineingeraten (vgl. Gründel, 316 f.). Spenden unter Verwandten dürfen daher nur erlaubt werden nach einer ein‐ gehenden Einzelfallprüfung durch eine Kommission, wie sie in westlichen Ländern Pflicht ist (vgl. Schöne-Seifert 2007, 148). 3. Weitere Gefahren erge‐ ben sich bei einem kommerziellen Organhandel, bei dem Organe gegen Geld an Fremde gespendet werden. Da bislang die Spende nur unter Verwandten, Eheleuten und Lebenspartnern allenfalls übers Kreuz bei zwei geeigneten Spender-Empfänger-Paaren („cross over“-Spende) zulässig sind, hat sich weltweit längst ein regelrechter „Transplantationstourismus“ etabliert: Pa‐ tienten aus reichen Ländern reisen meist mitsamt ihren Transplanteuren in arme Länder, um dort eine Niere zu erwerben (vgl. Steigleder 2006, 429). Ethisch problematisch erscheint dies, weil Menschen in materieller Not durch finanzielle Anreize dazu gebracht werden könnten, ihre körperliche Unversehrtheit zu opfern. Gegen den Vorwurf schamloser Ausbeutung wird zwar eingewendet, es handle sich um ein legitimes Tauschgeschäft, bei dem beide Seiten profitierten. So gäbe es schließlich auch viele hochriskante Berufsgruppen wie Bergwerksarbeiter, Polizisten oder Bodyguards, die man ohne Skrupel gegen Bezahlung arbeiten lasse (vgl. Breyer, 354 f.). Ihre für das Überleben oder die Lebensqualität anderer Menschen notwendigen Dienste werden mit einer „Gefahrenzulage“ belohnt. Da gemäß empirischen Untersuchungen in Indien das durchschnittliche Familieneinkommen nach 128 2 Medizinethik <?page no="129"?> einem Nierenverkauf gesunken ist, sind jedoch Zweifel an einer solchen Deutung als „Win-win-Situation“ angebracht (vgl. Steigleder 2006, 431). Sämtliche Argumente gegen die Käuflichkeit von Organspenden gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sich der Organhandel aufgrund der geltenden Rechtslage weiterhin auf dem Schwarzmarkt abspielt. Angesichts des akuten Organmangels wird aber immer stärker gefordert, die bisherige Einschränkung auf altruistische Spenden unter Angehörigen aufzugeben und weitere Rechtsregeln für die Lebendspende einzuführen (vgl. Kliemt, 465 f.; Maio, 432 f.). Ethisch diskutabel sind dabei nur Modelle mit einer zentralen internationalen Regulierung, die für Transparenz, Zugangsge‐ rechtigkeit und angemessene Kompensation sorgt (vgl. Schöne-Seifert 2007, 152). Nicht anders als bei der Verwandtenspende wären Freiwilligkeit und Wohlerwogenheit des Entschlusses zur Lebendspende in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen. Der äußere Druck bei anonymen Spendern dürfte in vielen Fällen nicht größer sein als der soziale Druck in persönlichen Beziehungen, wenn z. B. ein Familienmitglied eine Niere verloren hat (vgl. Kliemt, 465). Über eine bestimmte Wartefrist hinaus könnten etwa noch eine obligatorische Aufklärung über die Risiken und ein Mindestalter für Spender festgelegt werden (vgl. Breyer, 355). Um weniger bemittelte Organempfänger nicht gegenüber wohlhabenden zu benachteiligen, wäre die Chance zum Organempfang von der individuellen Zahlungsfähigkeit zu entkoppeln, z. B. durch Preisbindung und Rückerstattung durch Kranken‐ versicherungen. Durchgeführt werden müssten die medizinischen Eingriffe von internationalen Transplantationszentren, die auch eine beidseitige medizinische Nachbetreuung sicherstellen. Lebendspende ethisch legitim unter folgenden Bedingungen: 1) individuelle Beratung des Spenders bezüglich aller Risiken 2) in persönlichen Beziehungen: kein psychischer Druck seitens der Ange‐ hörigen 3) bei anonymer Spende: - nur über internationale Transplantationszentren - angemessene Fixpreise - gerechte Verteilung der Organe - beidseitige medizinische Nachbetreuung 129 2.4 Organtransplantation <?page no="130"?> 2.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen Wenn über die Frage nach Gerechtigkeit im Gesundheitswesen diskutiert wird, geht es fast immer um die gerechte Verteilung knapper Ressourcen in einem staatlich regulierten Gesundheitssystem (vgl. Schöne-Seifert, 177; Marckmann 2006, 183; Thurnherr, 36). Dabei wird vorausgesetzt, dass die Gesundheitsversorgung durch ein zentral organisiertes öffentliches Gesundheitswesen sichergestellt wird. Die Gesundheitsgüter könnten aber alternativ dazu auch auf einem freien Markt verteilt werden. Als gerecht gilt in der liberalen Marktwirtschaft eine marktförmige Verteilung der medizi‐ nischen Produkte und Dienstleistungen, die sich im freien Wettbewerb der Marktteilnehmer ergibt. Es handelt sich um eine Verfahrens- und Tausch‐ gerechtigkeit, weil für alle Marktteilnehmer die gleichen Regeln gelten und der Tausch nur zustande kommt, wenn beide über den Wert des Eingetausch‐ ten übereinkommen. Gegen dieses libertäre Gerechtigkeitsverständnis ist aber einzuwenden, dass die ungleichen Zugangschancen zum Wettbewerb von Wohlhabenden und Unterprivilegierten nicht berücksichtigt werden, und die ungleiche Zahlungsfähigkeit zu einer ungerechten Verteilung von Gesundheitsgütern führt (vgl. Marckmann 2011, 408). Im Gegensatz zu ande‐ ren Gütern handelt es sich bei der Gesundheit wie erwähnt um ein besonders fundamentales Gut, weil Krankheiten die Handlungsfähigkeit oder sogar die Existenz der Menschen bedrohen. Da Gesundheit die Voraussetzung für die Verwirklichung sämtlicher persönlicher Lebenspläne darstellt, muss eine ge‐ rechte Gesundheitsversorgung nach der Forderung des Bioethikers Norman Daniels allen Menschen ein faires Spektrum an Lebenschancen ermöglichen (vgl. Daniels, 33 f.; 42 f.). Es ist daher gerechter, sämtlichen Bürgern einen begrenzten Zugang zu wichtigen Gesundheitsleistungen zu ermöglichen als einem wohlhabenden Teil der Bevölkerung einen unbegrenzten (vgl. Marckmann, 2011, 409). Eine gerechte Grundversorgung verlangt also, sich auf der Systemebene für ein zentral organisiertes öffentliches Gesundheitswesen zu entscheiden. Angesichts anhaltend steigender Gesundheitsausgaben sind aber fast alle westlichen Industrienationen mit anhaltend steigenden Gesundheitskos‐ ten konfrontiert (vgl. Marckmann 2006, 183). Denn zum einen kommt es infolge eines rasanten medizinisch-technischen Fortschritts zu immer neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, die meistens nicht nur besser, sondern auch kostspieliger als die bisher üblichen Leistungen sind. Zum andern verdankt sich die wachsende Nachfrage auch der demographischen 130 2 Medizinethik <?page no="131"?> Entwicklung hin zu einem immer größeren Anteil an älteren Menschen mit steigender Lebenserwartung und häufig chronisch-degenerativen Er‐ krankungen. Auf einer Makroebene der sozialstaatlichen Verteilung der Gesundheitsgüter konkurriert das Gesundheitswesen zusammen mit vielen anderen Bereichen wie Bildung, Umweltschutz oder Bekämpfung von Ar‐ mut und Arbeitslosigkeit um die begrenzten öffentlichen Ressourcen. Es stellt sich also allererst die Frage, wie viel der Gesellschaft die Gesundheit gegenüber anderen Gütern wie Bildung oder Umweltschutz wert ist. Die Festsetzung des Anteils des Gesundheitssektors am Bruttosozialprodukt schafft die finanziellen Ausgangsbedingungen für die gerechte Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen: Je größer der ins Gesundheitssystem fließende Anteil der Staatseinnahmen ist, desto größer ist das für die Verteilung zur Verfügung stehende Gesamtbudget. Geht man aber einmal von einem bestimmten feststehenden Gesamtbud‐ get aus, lassen sich bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit nochmals zwei Ebenen unterscheiden: die Mesoebene und die Mikroebene. Auf der Meso‐ ebene werden die gesundheitspolitischen Schwerpunkte hinsichtlich der verschiedenen Teilbereiche im medizinischen Versorgungssystem gesetzt. So hat man in Deutschland beispielsweise beschlossen, den Akzent von der kurativen (heilenden) Medizin hin zur palliativen und präventiven Medizin zu verschieben. Oder man diskutiert, ob nicht bei der sogenannten High-tech-Medizin zugunsten der medizinischen Grundversorgung Abstri‐ che zu machen sind. Auf der Mikroebene hingegen muss über die konkre‐ ten Gesundheitsleistungen entschieden werden, die eine bestimmte Patien‐ tengruppe erhalten soll. In den Krankenhäusern und Arztpraxen, in denen auf dieser untersten Ebene direkte Leistungen an die Patienten erbracht werden, kann man entweder zu Rationalisierungs- oder Rationierungsmaß‐ nahmen greifen (vgl. Marckmann 2006, 191 ff.): Bei der Rationalisierung sollen Effizienz und Preis-Leistungsverhältnis gesteigert werden, um mit weniger diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen die gleichen Verbesserungen des Gesundheitszustands zu erreichen. Solche Effizienzstei‐ gerungen sind ethisch unproblematisch und sollten die ethisch bevorzugte Strategie im Umgang mit Mittelknappheit sein. Rationierung hingegen bedeutet schlicht die Kürzung von Leistungen, wenn das Budget für einen an sich sinnvollen Eingriff nicht ausreicht. Solche Rationierungsmaßnahmen stellen den Arzt vor das moralische Dilemma, wie sich das Vorenthalten medizinisch nützlicher Leistungen mit seiner Verpflichtung zum Prinzip des Wohltuns vereinbaren lässt. 131 2.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen <?page no="132"?> Makro‐ ebene Verteilung der öffentlichen Gelder auf Gesundheitswesen, Bil‐ dung, Umweltschutz etc. Mesoebene Verteilung des Gesamtbudgets auf medizinische Teilbereiche wie Prävention, Reproduktionsmedizin, Intensivmedizin etc. Mikro‐ ebene Verteilung des Budgets eines Teilbereichs auf Patientengruppen mit bestimmten Krankheitsbildern Gerechtigkeitsmodelle In einem personenbezogenen inegalitären Gerechtigkeitsmodell wird jede Person unter einem absoluten Maßstab betrachtet und es kommt ihr diejenige Gesundheitsversorgung zu, die ihrer individuellen medizini‐ schen Bedürftigkeit entspricht. Gemäß dem inegalitaristischen Schwel‐ lenprinzip wird ein bestimmtes unteres Niveau einer medizinischen Grundversorgung definiert, die jeder Mensch aufgrund seines Rechts auf Gesundheit überschreiten können soll: Gerecht wäre es, jedem Kranken die Therapie anzubieten, die aufgrund seines Krankheitszustandes „indi‐ ziert“ („angezeigt“) ist, damit er möglichst schnell genesen oder doch ohne große Schmerzen leben kann. Zur gleichen Forderung gelangt man letzt‐ lich aber auch beim interpersonalen egalitären Gerechtigkeitsmo‐ dell, bei dem die Menschen anders als beim personenbezogen-inegalitären miteinander verglichen werden (daher: „interpersonal“) und Gerechtigkeit im Kern Gleichheit („Egalität“) der Menschen meint. Genaugenommen geht es um angemessene Gleichheit, denn es gilt der aristotelische Grundsatz: Gleiche sind gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln (vgl. Aristoteles, NE 1130bff.). Im solidarisch finanzierten Medizinsystem bedeutete Gerechtigkeit entsprechend eine Gleichheit in der Gesundheits‐ versorgung bzw. allgemeiner die Gleichheit an Handlungsfähigkeit oder Lebenschancen: Es wäre ein Gebot der Gerechtigkeit, Patienten in ver‐ gleichbarem Krankheitszustand gleich zu behandeln, bei verschiedenem Schweregrad der Krankheit und verschiedener Dringlichkeit einer Be‐ handlung aber verschieden. Formale und materiale Kriterien für gerechte Verteilung Das interpersonal-egalitäre Gerechtigkeitsmodell eignet sich besser für die Beurteilung sozialer Verteilungssituationen unter Bedingungen der Knappheit von Gütern, wie sie infolge der eingangs geschilderten Ent‐ wicklungen im Gesundheitssystem leider Realität sind: Angesichts knap‐ per Ressourcen muss geklärt werden, bei welchem Krankheitsbild welche 132 2 Medizinethik <?page no="133"?> medizinische Behandlung sinnvoll und ökonomisch vertretbar ist und an welchen Stellen Leistungsbegrenzungen oder Rationierungsmaßnahmen ethisch verantwortbar sind. In Anbetracht des Gebots angemessener Gleichheit wäre es ethisch kaum vertretbar, wenn Leistungen nach in‐ transparenten und subjektiven, von Arzt zu Arzt und von Patient zu Patient wechselnden Kriterien vorenthalten würden. Dieses Vorgehen wäre nicht nur willkürlich, sondern könnte leicht zu einer Benachteiligung der schwächeren Gesellschaftsmitglieder führen (vgl. Marckmann 2006, 198). Zudem erlaubt es keine Kostenkontrolle, sodass es auch medizinisch gesehen wenig sinnvoll wäre. Gerechtigkeit in institutionellen Kontexten wie im Medizinsystem verlangt in formaler Hinsicht Verteilungsstan‐ dards, die a) allgemein gelten und b) für alle Beteiligten (auch Patienten) transparent sind (vgl. Ethik, 217 f.). Nur wenn von vornherein feststeht, welche Gesundheitsleistung bei welcher Gesundheitsstörung erbracht werden soll, werden die Patienten in vergleichbaren Situationen auch wirklich gleich behandelt (vgl. ders. 2008, 892). Ausgeschlossen werden müssen jedoch alle gesundheitsfremden allgemeinen Kriterien wie z. B. Einkommen, sozialer Status oder Religion. Alle Verteilungsfragen im Gesundheitswesen sowohl auf der Makroals auch auf der Meso- und Mikroebene können keineswegs allein von Ärzten oder medizinischen Expertenkommissionen beantwortet werden. Nicht anders als die Frage nach der gerechten Verteilung der öffentlichen Ressourcen auf der Makroebene sprengen die Schwerpunktsetzungen auf der Mesoebene und die Rationierungsmaßnahmen auf der Mikroebene den Verantwortungsbereich der Mediziner. Letztlich können sie nur mit Bezugnahme auf historische, soziokulturelle Vorstellungen von einem guten menschlichen Leben (c) beantwortet werden. Die Konkretisierung solcher Vorstellungen hinsichtlich verschiedener Krankheitsbilder erfordert einen breiten gesellschaftlichen Diskurs mit Partizipationsmöglichkeiten für Bürger und Patienten (d). In ihm kann entschieden werden, wo eine umfassende Versorgung vordringlich und wo Leistungsbegrenzungen mög‐ lich sind. Verteilungsentscheidungen müssen stets auf nachvollziehbaren Begründungen basieren und dürfen nur durch demokratisch legitimierte Institutionen erfolgen (vgl. Marckmann 2011, 412). Nach Rawls’ Gerech‐ tigkeitstheorie müssten sich die Diskursteilnehmer bei der gemeinsamen Bestimmung materialer Verteilungskriterien hinter einen „Schleier des Nichtwissens“ begeben. Sie wüssten also nichts über ihren Gesundheitszu‐ stand, ihr Alter und ihre eventuelle Krankheitsgeschichte (vgl. Kersting, 133 2.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen <?page no="134"?> 303 f.). Unter diesen Bedingungen würde man sich wohl auf folgende materiale Kriterien oder Gerechtigkeitsgrundsätze für das gesundheitliche Versorgungssystem einigen (vgl. Marckmann 2008, 893): 1. Gemäß dem Kriterium der individuellen medizinischen Bedürftig‐ keit sollen diejenigen Patienten Priorität genießen, die nach der Dring‐ lichkeit einer Behandlung und dem Schweregrad ihrer Erkrankung am meisten der medizinischen Hilfe bedürfen. Bei Behandlungen von Krankheiten, die unmittelbar zum Tod oder zu einer drastisch verrin‐ gerten Lebensqualität führen, sollte also zuletzt gespart werden. 2. Das Kriterium des medizinischen Nutzens verlangt Leistungsbegren‐ zungen zuerst bei denjenigen Maßnahmen und Indikationen anzuset‐ zen, die für die Patienten nur einen geringen individuellen Nutzen erwarten lassen. 3. Das Kriterium des Kosten-Nutzen-Verhältnisses verlangt unter Knappheitsbedingungen auch das Verhältnis von Ressourcenaufwand zum erwarteten medizinischen Nutzen zu berücksichtigen. Konkret ließe sich beispielsweise über ineffiziente, hochaufwändige In-vitro-Fer‐ tilisationen diskutieren, oder in Ausnahmesituationen wie während der Corona-Pandemie könnten Menschen mit besseren Überlebenschancen und hoher Lebenserwartung bei der Vergabe knapper Beatmungsgeräte oder Intensivbetten bevorzugt werden. Nur wenn Ärzte in akuten Notfällen nicht allen Patienten helfen können und keinen Einfluss auf den Versorgungsnotstand haben, ist ein Handeln nach konsequentialis‐ tischen Prinzipien wie etwa dem der „Triage“ ethisch legitim. Wie bei allen allgemeinen Prinzipien oder Beurteilungskriterien in der Angewandten Ethik müssen die Versorgungsstandards hinsichtlich des jeweiligen Einzelfalls spezifiziert und gegeneinander abgewogen werden. Dem Arzt bleibt somit ausreichend Beurteilungsspielraum, um der je indi‐ viduellen Lebenssituation seiner Patienten gerecht werden zu können (vgl. Marckmann 2006, 197). 134 2 Medizinethik <?page no="135"?> Prinzip der geometrischen Gerechtigkeit: Jeder Patient bekommt die Behand‐ lung, die er gemäß seinem Krankheitsbild braucht, um möglichst schnell zu genesen. → Jedem das Seine bei Mittelknappheit: Es muss kriteriell bestimmt werden, bei welchen Krank‐ heitsbildern welche Behandlung ökonomisch sinnvoll ist. formale Bedingungen für Kriterien a) allgemein gültig b) transparent c) durch gesellschaftliche Vorstellungen vom guten Leben begründet d) durch einen demokratischen Meinungsbildungsprozess legitimiert materiale Verteilungskriterien 1) individuelle medizinische Bedürftigkeit: Priorität hat die Behandlung von Krankheiten mit hohem Schweregrad und großer Dringlichkeit. 2) medizinischer Nutzen: Zu begrenzen sind zuerst diejenigen Maßnahmen, die den Patienten nur geringen individuellen Nutzen bringen. 3) Kosten-Nutzen-Verhältnis: Priorität haben diejenigen Maßnahmen, die bei geringem medizinischem Leistungsaufwand zu großen und langanhal‐ tenden Wirkungen seitens der Patienten führen. Public Health Der Gesundheitszustand eines Menschen hängt allerdings nicht nur von der medizinischen Versorgung ab, sondern noch von vielen anderen in‐ ternen und externen Einflussfaktoren. Unter Public Health fasst man sämtliche Ansätze zusammen, die mit dem Ziel der Gesundheitsförderung, Prävention und Krankheitsbekämpfung in der Bevölkerung solche gesund‐ heitsrelevanten Bezugsgrößen analysieren (vgl. Marckmann 2006, 209). Zu den externen gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren gehören alle gesundheitsrelevanten Ungleichheiten, die nicht aus der „natürlichen Lotte‐ rie“, d. h. einer genetischen Veranlagung resultieren, und die durch politische Maßnahmen beeinflussbar sind. Das können Umweltrisiken sein wie das lokale Vorhandensein von Schadstoffen, Strahlen oder Chemikalien. Im Zentrum stehen aber soziale Ungleichheiten wie Bildung, Einkommen und beruflicher Status, die nach verschiedenen Studien einen großen Einfluss haben auf den Gesundheitszustand und die Lebenschancen der Menschen (vgl. Marckmann 2011, 407). So nimmt z. B. die Sterblichkeit bei ungünstigem sozioökonomischem Status zu und ist bei leitenden Beamten geringer als bei Angestellten. Ethische Gebote der Gerechtigkeit sind zum einen ein ein‐ kommensunahhängiger Zugang zur medizinischen Grundversorgung ohne 135 2.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen <?page no="136"?> die weithin etablierte ethisch problematische Trennung in gesetzliche und private Krankenkassen (vgl. ebd., 407). Zum anderen braucht es aber auch bevölkerungsbezogene Maßnahmen zur Reduktion sozialer Ungleichheiten und Benachteiligungen wie z. B. Frühförderung der Kinder, Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder Ausgleich der Einkommensverteilung (vgl. Marckmann 2006, 214). Zu den internen individuellen Bestimmungs‐ faktoren gehören gesundheitsrelevante Verhaltensweisen wie körperliche Aktivität, ausgewogene Ernährung und das Vermeiden von Risikofaktoren wie z. B. übermäßiger Konsum von Genussmitteln. Ethisch geboten sind gesundheitspolitische Maßnahmen wie umfassende gesundheitliche Auf‐ klärung oder Präventionsangebote zur Stärkung der individuellen Gesund‐ heitsverantwortung (vgl. ebd., 221). Nur unter dieser Voraussetzung kann es ethisch erwägenswert sein, im Fall von Engpässen bei der medizinischen Versorgung vermeidbare individuelle Risiken zu berücksichtigen und z. B. bei der Transplantation von Lungen Nichtraucher zu bevorzugen. 136 2 Medizinethik <?page no="137"?> 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) Anschauungsbeispiel 1: Der Einzelne befindet sich ständig in Handlungssituationen, in denen er sich für mehr oder weniger CO 2 -Emissionen entscheiden kann. So überlegt sich Fritz beispielsweise gerade, ob er mit dem Flugzeug, dem Auto oder der Bahn in den Urlaub fahren soll. Dabei interessieren ihn v. a. Reisezeit und Kostenpunkt. Überdies wurde ihm vorgerech‐ net, durch gute Isolierung seines Altstadthauses und ein modernes Heizungssystem könne man den CO 2 - Ausstoß halbieren. Fritz ist aber der Meinung, ein teurer klimaverträglicher Lebensstil nütze dem Klima nichts, weil das korrekte Handeln Einzelner nichts ausrichten kann. Die Verantwortung für Anstrengungen beim Klima- und Umweltschutz liege in erster Linie bei der Industrie und der Politik. Teilen Sie die Haltung von Fritz? Wer trägt die Verantwortung für den Treibhauseffekt und den Klimawandel? Welcher Verzicht ist moralisch geboten und welcher kann dem Einzelnen zugemutet werden? Anschauungsbeispiel 2: In Naturschutzdebatten wird gerne auf Erkenntnisse der naturwissen‐ schaftlichen Disziplin der Ökologie Bezug genommen. Als zentrale Ziele gelten etwa das Bewahren der Integrität, Stabilität und des Gleichge‐ wichts von Ökosystemen. Dahinter stehen häufig die Annahmen, dass die Natur einen Eigenwert hat, alles am besten weiß und der Mensch sich als Störenfried mit seiner Technik allzu weit aus ihr entfernt hat. Ohne Wölfe beispielsweise würde der Wildbestand überhandnehmen, es käme zu einer Überweidung und einer Bodenerosion mit schlimmen Folgen für Landschaft, Wolf und Wild. Begeht man mit dem Pochen auf den Eigenwert der Natur, von Ökosys‐ temen oder der Biodiversität nicht einen naturalistischen Fehlschluss? Inwiefern sind Bezugnahmen auf die naturwissenschaftliche Ökologie und die geläufigen Ausdrücke „ökologisch gut“ oder „ökologisch schlecht“ problematisch? Ist das „Gleichgewicht“ bestimmter Ökosysteme, z. B. mit reißerischen Wölfen, automatisch auch gut für die Menschen? <?page no="138"?> Anschauungsbeispiel 3: Eigentlich findet Franziska Legebatterien genauso abstoßend wie tage‐ lange Tiertransporte quer durch Europa. Doch im Supermarkt, in dem man sich am heißen Samstagnachmittag durch all die Kauflustigen regelrecht durchboxen muss, sind die abschreckenden Bilder von der tierquälerischen Käfighaltung aus ihrem Kopf verschwunden. Mit einem flüchtigen Blick streift sie lediglich die Preisschilder oberhalb der Eiabla‐ geflächen, ohne den Ziffern für die Haltungssysteme und den Länderco‐ des auf den Schachteln Beachtung zu schenken. In ihrem Einkaufswagen landen neben dem Billig-Importfleisch die Eier aus Käfighaltung, weil sie fast halb so teuer sind wie die Eier aus Freilandhaltung. Wie ist Franziskas Handeln ethisch zu bewerten? Welche moralischen Pflichten haben wir gegenüber Tieren? Ist ein Vegetarismus oder gar Veganismus moralisch geboten? Einen enormen Aufschwung erlebten in den letzten Jahrzehnten die Be‐ reichsethiken, die sich mit dem richtigen menschlichen Umgang mit der außermenschlichen Natur beschäftigen. Denn es trat immer stärker ins öffentliche Bewusstsein, dass dieser Umgang höchst problematisch ist und einer grundlegenden Revision bedarf. In der Vergangenheit konzentrierte sich die Beziehung der Menschen zur Natur darauf, überleben bzw. einiger‐ maßen sicher vor ihr leben zu können (vgl. Ott 2021, 24 f.). Abgesehen von vereinzelten Klagen, z. B. über Abholzung seit Platon, kam es erst im Industriezeitalter zu augenfälligen Umweltproblemen wie Smog oder verschmutzten Gewässern. Zivilisations- und technikkritisch eingestellt war insbesondere die im 19. Jahrhundert aufkommende Heimat- und Natur‐ schutzbewegung. Alarmismus machte sich in den 1960er Jahren angesichts der globalen „ökologischen Krise“ breit, die in zahlreichen Berichten wie Rachel Carsons Silent Spring (1962) oder internationalen Studien des Club of Rome oder des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) do‐ kumentiert wurden. Die Angst griff um sich, dass die Menschen zunehmend ihre eigene Lebensgrundlage zerstören. Während einige Warnprognosen wie die weitere Ausdehnung des Ozonlochs oder die schleichende Vergif‐ tung durch Pestizide sich nicht bewahrheiteten, weil die sie verursachenden Gase oder Chemikalien rechtzeitig verboten bzw. reduziert wurden, geht das „Waldsterben“ weiter. Dabei sind die voranschreitenden Waldverluste hauptsächlich auf die Umwandlung von Wald in Ackerfläche insbesondere 138 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="139"?> in den Tropen sowie zunehmende Trockenheit und Schadstoffbelastun‐ gen zurückzuführen. Aufgrund schrumpfender Lebensräume und anderer menschlicher Einflüsse wie z. B. Überfischung ist ein massives Artensterben zu verzeichnen. Seit 2018 macht die internationale Bewegung „Fridays for Future“ mit Schulstreiks und Demonstrationen medienwirksam auf die Klimakrise aufmerksam. Nach Übereinstimmung der Mehrheit der Wissen‐ schaftler sind die vom Menschen in die Atmosphäre entlassenen Treibhaus‐ gase wie CO 2 , Methan- und Lachgase Hauptgrund für den Klimawandel und die weltweit steigende Durchschnittstemperatur, indem sie den Treibhaus‐ effekt verstärken. In der Folge kommt es zu immer extremeren Wetterlagen, zur Eisschmelze und dem Anstieg des Wasserspiegels mit Landverlusten in Küstenregionen. Die zahlreichen wissenschaftlichen Expertisen zur Erder‐ wärmung, zum Artensterben und dem Raubbau an endlichen natürlichen Ressourcen haben breite umweltethische Diskussionen entfacht und einen öffentlichen Bewusstseinswandel eingeleitet. Für die um 1970 entstandene Bereichsethik, die sich mit ethischen Proble‐ men im Umgang mit der außermenschlichen Natur beschäftigt, legt sich der Begriff Naturethik nahe (vgl. Krebs, 8). Natur meint alles, was nicht vom Menschen gemacht wurde, d. h. alle Organismen und Naturausschnitte wie Atmosphäre, Gewässer, Landschaften und Ökosysteme (vgl. Potthast 2011, 292; Eser u. a., 14). Dazu gehört auch die unbelebte Natur z. B. mit Felsen, Wolken und Sternen. Nicht dazu zählen Artefakte, sehr wohl aber Zucht‐ tiere, Stauseen und Kunstgärten, bei denen das „Natürliche“ vom Menschen überformt oder überzüchtet wurde. Der Untersuchungsgegenstand der „Naturethik“ ist einerseits enger als derjenige der „Bioethik“, der zusätzlich noch die „Medizinethik“ umfasst. Andererseits bezieht sich „Bioethik“ nur auf das Lebendige und ist insofern enger als „Naturethik“. In der akademi‐ schen Debatte kursieren allerdings noch andere Bezeichnungen für diese Bereichsethik wie ökologische Ethik oder Umweltethik als Übersetzung zum englischen „environmental ethics“, die weitgehend synonym verwen‐ det werden (vgl. Ott 2021, 8; Ott u. a., 8; Potthast 2011, 292). Ein Vorteil dieser alternativen Begriffe ist, dass ganz anders geartete medizinethische Fragestellungen zur spezifisch menschlichen Natur wie Schwangerschafts‐ abbruch oder Sterbehilfe dann bereits terminologisch ausgeschlossen sind. Ein Nachteil der weit verbreiteten Bezeichnung „Umweltethik“ ist jedoch, dass zur „Umwelt“ auch nichtnatürliche Umgebungen wie Fabriken und Städte zählen. Zudem scheint er eine anthropozentrische Sichtweise na‐ hezulegen, weil die Natur nicht als Mitwelt betrachtet wird (vgl. Krebs, 139 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="140"?> 341). Eine Natur-, aber auch eine Umweltethik in einem allgemeinen und umfassenden Sinn enthalten die Tierethik als Teilbereich (vgl. Krebs, 8; Ott u. a., 6; Knoepffler 2010, Kap. 12). Häufig wird aber die Tierethik, die sich mit dem Umgang des Menschen mit Tieren befasst, in Überblicks‐ darstellungen als eigene Bereichsethik behandelt (vgl. Nida-Rümelin 2005; Ach 2011; Baranzke). Dies ist wahrscheinlich der gestiegenen Bedeutung der Tierethik geschuldet sowie dem Umstand, dass die hauptsächlich zur Diskussion stehenden domestizierten Tiere weniger klar der Umwelt zu‐ gerechnet werden (vgl. Ott u. a., 6). Da bei Fragen des Umweltschutzes ganz ähnliche Argumentationsformen anzutreffen sind wie in der Tier- und Pflanzenethik, werden aber sämtliche moralischen Probleme bezüglich der außermenschlichen Organismen und Naturausschnitte hier in einem Kapitel erörtert. Naturethik/ Umweltethik/ ökologische Ethik: Bereichsethik, die sich mit ethi‐ schen Problemen im Umgang mit der außermenschlichen Natur befasst Natur: alles, was nicht vom Menschen gemacht wurde, sondern aus sich selbst heraus entstanden ist (belebte und unbelebte Natur) konkret: alle (nichtmenschlichen) Organismen und sämtliche Naturausschnitte wie z. B. natürliche Ressourcen (Wasser, Boden, Klima), Arten, Landschaften und Ökosysteme außermenschliche Natur belebte Natur unbelebte Natur (Berge, Wüsten, Wolken) Tiere (→ Tierethik) Pflanzen (→ Pflanzenethik) 140 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="141"?> Moral agents und moral patients Die Umweltethik bewegt sich zwischen den beiden Polen Engagement und Grundlagenreflexion (vgl. Ott u. a., 7). Sie versucht durchaus, ange‐ sichts der oben geschilderten praktischen Probleme wie etwa Klimawandel oder Artensterben Orientierungshilfen zu geben in der Politikberatung und in öffentlichen Debatten. Aus den in der Umweltethik begründeten allgemeinen Beurteilungskriterien oder Prinzipien für das individuelle oder kollektive Handeln lassen sich allerdings selten direkte Naturschutzziele oder konkrete Problemlösungen ableiten. Zur Enttäuschung vieler Natur- und Umweltschützer stehen im Zentrum vielmehr Grundsatzfragen wie diejenige, warum die Natur insgesamt oder ihre Teile überhaupt moralisch relevant und schützenswert sind (vgl. Ott u. a., 8 ff.). In der traditionellen Ethik wie etwa bei Kant oder in der Vertragstheorie wurde die moralische Gemeinschaft fast durchgängig auf Menschen beschränkt, die zu mora‐ lischem Denken und Handeln fähig sind. Solange Rechte als Kehrseite von Pflichten verstanden werden, können nur moralische Subjekte auch moralische Objekte sein - nach dem Motto: „Wer Gerechtigkeit üben kann, dem ist man Gerechtigkeit schuldig“ (Rawls, 116). In der gegenwärtigen Umweltethik hat sich jedoch William Frankenas Unterscheidung zwischen moral agents und moral patients, d. h. zwischen moralischen Subjekten oder Akteuren und moralischen Objekten oder Empfängern durchgesetzt (vgl. Frankena, 273): Obgleich nur vernunftbegabte menschliche Personen moralfähige Wesen und damit moralische Subjekte sein können, lassen sich dann auch moralische Objekte wie Föten, Komatöse, Tiere oder Pflanzen in den Kreis der moralisch zu berücksichtigenden „Entitäten“ (d. h. allem Seienden bzw. allem was ist) aufnehmen. Sofern es sich um ihrer selbst willen zu schützende moralische Objekte und damit Schutzgüter handelt, werden auch sie in die Moralgemeinschaft („moral community“) aufgenommen. Ob ein Wesen moralischen Selbstwert hat und Menschen ihm gegenüber direkte Pflichten haben, hängt von der Frage nach dem moralischen Status der Entitäten ab. Wie bei den medizinethischen Diskussionen über Schwan‐ gerschaftsabbrüche und Organtransplantationen muss auch in umweltethi‐ schen Debatten gezeigt werden, aufgrund welcher moralisch relevanter Eigenschaften eine Entität um ihrer selbst willen respektiert werden soll, eine (allenfalls abgestufte) Schutzwürdigkeit genießt und möglicherweise auch (gewisse) Rechte hat (vgl. Kap. 2.3). 141 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="142"?> Moralische Gemeinschaft („moral community“) moral agents (moralische Akteure/ Subjekte) moral patients (moralische Empfänger/ Objekte) zu moralischem Denken und Handeln sowie zu moralischer Rücksichtnahme fähig selbst nicht zu moralischer Rücksicht‐ nahme fähig, aber moralisch um ihrer selbst willen schützenswert z. B. geistig gesunde Erwachsene z. B. Komatöse, Föten, Pflanzen Anthropozentrismus und Physiozentrismus Bezüglich der Fragen nach dem Grund der moralischen Schutzwürdigkeit und der Ausdehnung direkter Pflichten auf nichtmenschliche Entitäten lassen sich eine anthropozentrische und physiozentrische Grundhaltung unterscheiden: Seit ihren Anfängen in der Antike ist die Ethik anthropozentrisch, insofern es immer nur um das individuelle Wohlergehen von Menschen (Individualethik) bzw. den Schutz grundlegender menschlicher Interessen (Sozialethik) ging. Anthropozentrisch nennt man alle Argumente oder Positionen, die den Menschen (griechisch „anthropos“) in den Mittelpunkt stellen und ihn zum Maß aller Dinge machen. Aus Sicht einer anthropozentrischen Umweltethik haben Menschen nur indirekte Pflichten gegenüber der Natur und sollen diese schützen, weil und insofern sie für den Menschen wertvoll ist (vgl. Ott u. a., 11). Angesichts der akuten Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlage wird an die Menschen appelliert, schonungsvoller mit der Natur umzugehen. Von der entgegengesetzten physiozentrischen Warte aus wird jedoch die Natur (griechisch „physis“) ins Zentrum gerückt und ein radikaler Bewusst‐ seinswandel gefordert: Statt die Natur wie bisher vornehmlich als Mittel zum Zweck zu betrachten, müsse man ihren Selbstwert erkennen und gewisse nichtmenschliche natürliche Entitäten als „moral patients“ in die moralische Gemeinschaft aufnehmen (vgl. ebd., 12; Ott 2021, 11). In den beiden folgenden Kapiteln wird ein Überblick gegeben über die wichtigsten Positionen und Argumente der beiden gegensätzlichen Grund‐ haltungen: Beim Anthropozentrismus (Kap. 3.1) sind es instrumentelle (Kap. 3.1.1), eudaimonistische (Kap. 3.1.2) und moralpädagogische Ar‐ gumente (Kap. 3.1.3), seitens des Physiozentrismus (Kap. 3.2) die Positionen des Pathozentrismus und Sentientismus (Kap. 3.2.1), Biozentrismus (Kap. 3.2.2), Ökozentrismus und Holismus (Kap. 3.2.3). In den oft sehr emotional geführten umweltethischen Debatten wird meist übersehen, dass gemäßigte Formen eines anthropozentrischen und physiozentrischen 142 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="143"?> Denkens durchaus miteinander verträglich sind. So können etwa die vielen Gemeinsamkeiten des Menschen mit anderen Naturwesen betont und als Gründe für deren Selbstwert anerkannt werden, wenngleich man dem Menschen eine gewisse Vorrangstellung einräumt. Entsprechend lassen sich im umweltethischen Diskurs ohne Widerspruch anthropozentrische und physiozentrische Argumente miteinander kombinieren (vgl. Ott u. a., 12). Außerdem werden häufig von ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen aus die gleichen Naturschutzziele und -maßnahmen begründet, sodass die Opposition zwischen beiden Lagern insbesondere auch aus praktischer Sicht als unfruchtbar erscheint (vgl. Eser u. a., 63). Anthropozentrismus (Kap. 3.1) Physiozentrismus (Kap. 3.2) Der Mensch („anthropos“) steht im Zentrum und ist das Maß aller Dinge. Die Natur („physis“) steht im Zentrum und hat einen eigenständigen morali‐ schen Wert. Natur: wertvoll für Menschen Natur: unabhängig vom Menschen wertvoll ethische Forderung: schonungsvoller Umgang mit der Natur im Interesse des Menschen ethische Forderung: radikales Um‐ denken, Erkenntnis des Selbstwerts der Natur und Schutz um ihrer selbst willen Argumente: instrumentelle (3.1.1), eu‐ daimonistische (3.1.2) und moralpäda‐ gogische (3.1.3) Argumente: pathozentristische/ senti‐ entistische (3.2.1), biozentrische (3.2.2) und ökozentrische/ holistische (3.2.3) Unterschiedliche ethische Theorien Hinter den verschiedenen anthropozentrischen und physiozentrischen Be‐ gründungen und Positionen in der Umweltethik stehen ganz unterschiedli‐ che ethische Theorien wie z. B. Utilitarismus, Kantianismus, Tugendethik, Neoaristotelismus, Naturrechtstheorien oder die Theorie mittlerer Prinzi‐ pien mit dem Gebot der Nichtschädigung. Wie in den anderen Bereichse‐ thiken vermochte sich auch in der Umweltethik keine bestimmte Theorie durchzusetzen. Positionen wie Holismus oder Ökozentrismus lassen sich häufig keinem Theorietyp klar zuordnen, und einige bedeutsame umwelt‐ ethische Bücher wurden von Nichtphilosophen wie beispielsweise dem ame‐ rikanischen Forstwissenschaftler Aldo Leopold verfasst (vgl. Brenner 2014, 130). Der Professor für Umweltethik Konrad Ott hat angesichts der Vielfalt von Gründen und Argumenten in der Umweltethik als Rahmentheorie eine Theorie des kommunikativen Handelns oder Diskurstheorie vorgeschlagen 143 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="144"?> (vgl. Ott 2021, 14). Obwohl der Diskursethik häufig eine anthropozentri‐ sche Sichtweise und Lösung des Selbstwertproblems vorgeworfen wird, sind im praktischen Diskurs alle Gründe zulässig, also auch physiozentrische Argumente zur Begründung eines moralischen Eigenwerts oder Selbstwerts der Natur (vgl. ebd., 118). Zudem sind für „moral patients“ wie gesehen advo‐ katorische Diskurse vorgesehen (vgl. Kap. 1.2). Allerdings haben Advokaten im Diskurs keine privilegierte Sprecherrolle, und es steht nicht von vorn‐ herein fest, wer oder was überhaupt Anspruch auf einen Advokaten hat (vgl. ders. 1996, 67; Kap. 1.2). Strenggenommen muss noch unterschieden werden zwischen einem „epistemischen“ und „inhaltlichen Anthropozentrismus“: Letztlich sind nämlich alle in der Umweltethik von Menschen vertretenen Positionen und Argumente epistemisch anthropozentrisch, insofern sie von Menschen für andere Menschen formuliert werden (vgl. Ott u. a., 11). Inhaltlich ist damit aber noch nichts entschieden hinsichtlich des Eigen- oder Selbstwerts der Natur oder ihrer Teile. Auch in der Umweltethik lassen sich ethische Normen im Bereich des Tier- und Umweltschutzes im Grunde nicht anders als auf dem Weg gemeinsamer Argumentation begründen. Rahmentheorie für Naturethik: Diskursethik (mit advokatorischen Diskursen) weitere Theorien/ Argumentationsformen: Kantianismus, Utilitarismus, Mit‐ leidsethik, Naturrechtstheorie, moralischer Realismus, Principlism Verantwortung Inmitten der Vielfalt an Ansätzen und Theorien in der Umweltethik kann das Prinzip der Verantwortung als umweltethische „Zentralkategorie“ aus‐ gemacht werden (vgl. Brenner 1998, 44 f.). Dem Verantwortungs-Prinzip kommt sowohl eine bedeutende Rolle in klassischen Theorien wie z. B. Diskurs und Verantwortung (1988) des Diskursethikers Karl-Otto Apel als auch im Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung (1979) von Hans Jonas zu. Dieser wendet sich darin gegen die traditionelle anthropozentrische Ethik und vertritt einen biozentrischen Ansatz (vgl. Kap. 3.2.2). Die Übernahme von Verantwortung ist insbesondere in asymmetrischen Beziehungen von großer Wichtigkeit, in denen die schwächeren Parteien ihre Interessen nicht selbst artikulieren oder durchsetzen können. Zu diesen wehrlosen Entitäten gehören die „moral patients“ der außermenschlichen Natur. Dazu zählen aber auch zukünftige Menschengenerationen, die noch gar nicht geboren sind und daher ihre Stimme nicht erheben können. Im Zuge der Industria‐ 144 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="145"?> lisierung und der wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert sind die Folgen des Handelns von Einzelpersonen viel weitreichender geworden und führen häufig erst lange danach und im Zusammenwirken mit dem Handeln zahlreicher weiterer Akteure zu negativen Folgen (vgl. Kap. 4 und 5). Grundsätzlich sind wir nicht nur für die unmittelbar beabsichtigten Handlungsfolgen, sondern auch für alle in Kauf genommenen und sämtliche mit großer Wahrscheinlichkeit voraussehbaren Spätfolgen verantwortlich (vgl. Ethik, Kap. 2.3). Obgleich das unmittelbare Handlungsziel von Fritz aus Anschauungsbeispiel 1 lediglich das schnellst‐ mögliche Erreichen des Urlaubsorts mit geringstmöglichen Ausgaben ist, trägt er im Fall einer Entscheidung für einen Billigflug zur Klimaerwärmung bei. Seit das Wissen über die Verstärkung des Treibhauseffekts durch CO 2 über die Medien und die schulische Umweltkunde allgemein zugänglich ist, kann sich niemand mehr durch den Verweis auf seine Unwissenheit aus der Verantwortung ziehen. Denn es handelt sich nicht um ein entlas‐ tendes prinzipielles Wissensdefizit, das dem begrenzten Kenntnisstand einer bestimmten Zeit geschuldet ist. Vielmehr liegt ein individuelles Wissensdefizit vor, das grundsätzlich vermeidbar gewesen wäre und damit selbstverschuldet ist (vgl. Ethik, Kap. 2.2). Es bringt deswegen auch keine Entlastung von der individuellen Verantwortung. Wäre Fritz nur einer von wenigen Umweltsündern auf der Erde, hätte sein Handeln freilich keine negativen Folgen und wäre zumindest konse‐ quentialistisch gesehen irrelevant. Für den Umweltbereich sind Kumula‐ tionsprobleme typisch, bei denen nicht schon die unmittelbaren Folgen der Einzelhandlung negativ sind: Erst beim unkoordinierten Handeln zahl‐ reicher Akteure und dem „Kumulieren“ der Folgen des Einzelhandelns kommt es zu katastrophalen (Spät)Folgen (vgl. Ethik, Kap. 9). Gegen das Problem des Trittbrettfahrertums könnte man mithilfe des konsequentialis‐ tischen Verallgemeinerungsprinzips ankämpfen, indem an das Verant‐ wortungsbewusstsein des Einzelnen appelliert wird: „Stell Dir vor, was passieren würde, wenn alle Menschen so handeln würden wie Du! “. In der Umweltethik braucht es einen erweiterten Verantwortungsbegriff und eine Verantwortungsübernahme im Sinne einer „prospektiven Verantwortung“ auch dann, wenn noch gar kein Schaden entstanden ist (vgl. Brenner 1998, 45 f.; Kap. 4.2). Erforderlich ist zudem eine Kollektivorientierung, damit sich niemand in die Verantwortungslosigkeit eines anonymen Handelns zurückzieht. Auch die kollektive Verantwortungsübernahme setzt aber ein prinzipielles Wissen z. B. über den langfristigen Einfluss der vom Menschen 145 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="146"?> verursachten Emissionen auf das Klima voraus, das frühestens 1990 mit dem Erscheinen des ersten IPCC-Berichts vorlag (vgl. Brenner 2016, 232). Fragwürdig ist hingegen, ob im Sinne einer „retrospektiven Verantwortung“ den heutigen Bürgern eine Kollektivschuld bezüglich Umweltsünden voran‐ gegangener Generationen gegeben werden darf. Da Fritz insofern Recht hat, als sein Verzicht auf das Fliegen und den Umstieg auf erneuerbare Energien den Treibhauseffekt nicht stoppen könnte, reicht ein individualethischer Appell an die Bürger im Umweltbereich nicht aus. Vielmehr muss die in diesem Kapitel im Zentrum stehende Akteursethik ergänzt werden durch eine Institutionenethik, die mittels geeigneter politischer und rechtlicher Maßnahmen wie z. B. die international vereinbarten Klimaziele des Pariser Abkommens das Handeln der Einzelnen und der Wirtschaftsunternehmen so lenkt und koordiniert, dass negative (Spät)Folgen ausbleiben. Staatliche Regulationsmechanismen nehmen den Bürgern meist nicht die Verantwor‐ tung für Anstrengungen beim Umweltschutz ab, unterstützen aber die Übernahme ihrer individuellen Verantwortung z. B. durch Subventionen. Kumulationsproblem im Umweltbereich: Als Folge eines nicht-koordinierten Handelns zahlreicher Akteure ergeben sich gravierende Umweltprobleme. Akteursethik: moralischer Appell an das Verantwortungsbewusstsein der Bürger Verallgemeinerungsprinzip: „Wo kä‐ men wir hin, wenn jeder das täte? “ Institutionenethik (Ergänzung): poli‐ tische und rechtliche Maßnahmen zur Koordination des Einzelhandelns → Erleichterung der individuellen Ver‐ antwortungsübernahme 3.1 Anthropozentrismus Als anthropozentrisch bezeichnet man wie erwähnt eine Sichtweise, bei welcher der Mensch im Mittelpunkt steht und eine Vorrangstellung genießt. Eine radikal anthropozentrische Ethik erkennt als einzigen Maßstab ethisch richtigen Handelns den Menschen an. Ethische Begründungen müssen sich dann auf die menschliche Würde, die „conditio humana“ oder grundlegende menschliche Bedürfnisse oder Interessen beziehen. Nur Menschen, zukünftige Generationen eingeschlossen, haben moralischen Wert und einen eigenständigen moralischen Status, sodass es nur ihnen gegenüber direkte moralische Pflichten geben kann. Eine anthropozentri‐ sche Umweltethik begründet die moralische Relevanz der Natur dement‐ 146 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="147"?> sprechend mit ihrer Bedeutung für die Menschen. Der Natur kommt also nur eine mittelbare oder indirekte moralische Relevanz zu, und Menschen haben ihr gegenüber nur indirekte Pflichten. Es liegt ein Wertanthropo‐ zentrismus und ein anthropogenes Wertkonzept vor, weil Normen und Werte allein durch menschliche Zuschreibungen entstehen (vgl. Krebs, 343; Potthast 2011, 294). Dabei kann der Natur aus anthropozentrischer Sicht aber auf zweierlei Weisen Wert zugesprochen werden (vgl. Eser u. a., 102): Insoweit die Natur oder ihre Teile bestimmten konkreten Zwecken von Menschen dienen, gebührt ihr ein instrumenteller Wert. Zu den bedeu‐ tendsten instrumentellen Argumenten zählen „Angewiesenheits“- oder „Grundbedürfnis-Argumente“, die auf einen lebensnotwendigen Nutzen der Natur hinweisen (Kap. 3.1.1). Obgleich die Natur anthropozentrisch betrachtet keinen Selbstwert oder intrinsischen Wert hat, können Menschen sie darüber hinaus „um ihrer selbst willen“ wertschätzen und ihr einen Eigenwert oder inhärenten Wert beimessen: Dieser erwächst aus nicht-in‐ strumentellen Beziehungen des Menschen zur Natur, bei denen kein direkter Nutzen im Vordergrund steht. Die darauf abzielenden anthropozentrischen Argumente werden als eudaimonistische Argumente bezeichnet, weil es dabei nicht um das Überleben, sondern ein gutes und glückliches Leben (griechisch „eudaimonia“) geht (Kap. 3.1.2). Anthropozentrische Naturethik: Der außermenschlichen Natur wird nur indirekt, in Bezug auf die Bedeutung für die Menschen moralische Relevanz zugesprochen. - instrumenteller Wert (Gebrauchswert): Natur ist wertvoll, sofern sie menschlichen Zwecken dient - inhärenter Wert (Eigenwert): Natur ist wertvoll, sofern Menschen sie um ihrer selbst willen wertschätzen ↔ Physiozentrische Naturethik: Natur hat intrinsischen Wert (Selbstwert) 3.1.1 Instrumentelle Argumente Instrumentelle Argumente machen auf den instrumentellen Wert der Na‐ tur aufmerksam, wobei in der Umweltethik die Angewiesenheits-Argu‐ mente oder Grundbedürfnis-(„Basic needs“)-Argumente dominieren (vgl. Krebs, 364; Ott 2021, 82 f.; Eser 2016, 242). Ihnen zufolge sind Menschen auf die Natur oder bestimmte Teile angewiesen, um überhaupt überleben zu können. Es ist weithin unumstritten, dass die zuverlässige Stillung ihrer 147 3.1 Anthropozentrismus <?page no="148"?> grundlegenden physiologischen Bedürfnisse etwa nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff und gemäßigten Temperaturen hinreichend intakte und günstige Umweltbedingungen voraussetzen. Die Natur hat insofern einen instru‐ mentellen oder Gebrauchswert, als sie diesen Zwecken dient. Ebenso unübersehbar ist auch, dass durch ein Zusammenwirken verschiedener ge‐ sellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen wie z. B. Bevölkerungs‐ wachstum, Urbanisierung, bestimmte Konsummuster, technologischer Wan‐ del und schädliche Emissionen immer mehr lebensnotwendige natürliche Ressourcen gefährdet sind. So degradieren vielerorts die für den Anbau unabdingbaren fruchtbaren Böden durch Abholzung, Überweidung, intensive Bewirtschaftung mit Monokulturen und einem Übermaß an Pestiziden, sodass gemäß internationalem Weltumweltbericht GEO-6 der UNEP (2019) die weltweite Ernährung nicht mehr sichergestellt werden kann (vgl. Umwelt Bundesamt, Kap. 3.1.3). Außerdem nimmt das weltweit verfügbare Süßwasser in Flüssen und Seen infolge der Wasserentnahmen v. a. für die Landwirtschaft ab und die Qualität des Süßwassers verringert sich wegen Verschmutzungen mit Plastik, Antibiotika, Schwermetallen und Chemikalien (vgl. ebd., Kap. 3.1.5). Antibiotikaresistente Erreger als Folge des Antibiotikaeinsatzes in der industriellen Tierhaltung könnten bis 2050 zur weltweiten Haupttodesursache aufsteigen (vgl. Kap. 3.1.5). Die massive Luftverschmutzung insbesondere in Städten durch gesundheitlich höchst problematischen Feinstaub und Stickoxide aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe verursacht 6-7 Mio. frühzeitige Todesfälle (vgl. Kap. 3.1.1). In der Summe sollen pro Jahr 9 Mio. frühzeitige Todesfälle auf Umweltverschmutzung und menschengemachte Umweltveränderungen zurückgehen (vgl. ebd.). Nicht alle instrumentellen Argumente sind Angewiesenheits-Argumente. Es können auch andere nicht direkt lebensnotwendige Ökosystem-Dienst‐ leistungen geltend gemacht werden wie beispielsweise das Liefern von Rohstoffen für die industrielle Produktion. Grundbedürfnis-Argumente sind aber sicherlich die stärksten und scheinen allein schon hinlänglich eine indirekte moralische Pflicht zu einem wirksamen Naturschutz zu begründen. Wenn ihnen faktisch gleichwohl die normative Kraft fehlt, liegt dies an folgendem Umstand: Bei solchen Schilderungen lebensbedrohlicher Umweltschäden handelt es sich meist um globale Betrachtungen, die geo‐ graphische Besonderheiten weitgehend außer Acht lassen. Die Gefährdung durch Umweltverschmutzung und die Folgen des Klimawandels sind aber sehr ungleich verteilt. Gemäß zahlreichen wissenschaftlichen Studien wie beispielsweise den WHO-Berichten „Preventing disease trough healthy 148 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="149"?> environments“ (2006/ 2016) leiden Menschen in Entwicklungsländern und Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen deutlich stärker unter den zunehmenden Belastungen. Dies liegt zum einen daran, dass Entwick‐ lungsländer häufig tropische Trockengebiete sind, in denen die Menschen hauptsächlich von der landwirtschaftlichen Nutzung leben und dadurch viel stärker auf die Natur angewiesen sind. Die fruchtbaren Böden in den Küstenregionen hingegen sind vom ansteigenden Meeresspiegel bedroht. Zum anderen fehlen den Menschen in ärmeren Regionen finanzielle Mit‐ tel, Personal und Know-how bezüglich Reparaturtechnologien („coun‐ tertechnologies“) wie etwa dem Bau von Staudämmen oder gentechnisch veränderten robusteren Tier- und Pflanzensorten. Deswegen gelingt es ihnen weit weniger als Menschen in politisch und ökonomisch privilegierten Ländern, sich an Klimaveränderungen anzupassen. Im Unterschied etwa zu den Niederlanden können sich ärmere Länder wie z. B. Bangladesh mit einer langen Küstenregion keine Schutzmaßnahmen leisten. Hinsichtlich der Luftverschmutzung nimmt diese insbesondere in Asien aufgrund gestie‐ gener Emissionen stark zu, während sie in Nordamerika und Europa leicht zurückging (vgl. Umwelt Bundesamt, Kap. 3.1.1). Dies könnte damit im Zusammenhang stehen, dass die industrielle Produktion mehr und mehr in ärmere Länder ausgelagert wird (vgl. GEO-4). Wohlhabende Menschen wie z. B. Fabrikbesitzer, die sich um die Schadstoffemissionen ihrer städtischen Anlagen wenig kümmern, können sich leicht auf eine ferne Insel oder unberührte Höhenregion zurückziehen. Von den negativen Auswirkungen des umweltschädigenden Verhaltens sind aber nicht nur die gegenwärtig lebenden Menschen je nach Region und sozioökonomischem Status sehr unterschiedlich betroffen. Darüber hinaus werden viele Spätfolgen erst für kommende Generationen im gan‐ zen Ausmaß zu spüren sein. Deswegen gehen die Schüler und Studenten von „Fridays for Future“ für ihr Recht auf Zukunft auf die Straßen. Das umweltschädigende Handeln der einen Menschen, häufig der maßgeblichen Verursacher, gefährdet also die Existenzmöglichkeiten anderer, häufig un‐ schuldiger Menschen in entfernten Weltregionen oder in der Zukunft. Aus diesen Gründen vermögen Basic-needs-Argumente bei privilegierten ratio‐ nalen Egoisten wenig auszurichten, für die der einzige Maßstab ethischen Handelns die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und Interessen bildet (vgl. Ethik, Kap. 4.1). Während in der Öffentlichkeit kaum jemand offen eine solche egoistische Extremposition vertritt, stehen beispielsweise Automo‐ bilindustrie, Bergbaufirmen, Kohlekraftwerkbetreiber oder Staaten wie die 149 3.1 Anthropozentrismus <?page no="150"?> USA unter Expräsident Donald Trump in Umwelt- und Klimadebatten unverhohlen für ihre gruppenegoistischen wirtschaftlichen Interessen ein. Wenn jemand nur seine eigenen Bedürfnisse oder die Interessen der eigenen Firma, seiner Nation oder Generation im Auge hat und ohne Rücksicht auf Betroffene außerhalb dieser klar begrenzten Personengruppe handelt, liegt ein egoistischer Anthropozentrismus vor. Aus ethischer Perspektive ist diese egozentrische Einschränkung des Anthropozentrismus eindeutig zu verurteilen. Denn der objektive Standpunkt der Moral verlangt, alle vom Handeln betroffenen Menschen unparteiisch und in angemessener Weise zu berücksichtigen (vgl. Kap. 1.1). Wer seinen eigenen subjektiven Interes‐ sen und die seiner Gruppe transzendiert und alle gegenwärtig und auch in Zukunft lebenden Menschen als moralisch gleich relevant betrachtet, gelangt zu einem universalistischen Anthropozentrismus, der in der Umweltethik erwünscht ist (vgl. Ott 1996, 139 ff.). Trotz aller theoretischer Dispute über Rechte Ungeborener mit noch unbekannten Bedürfnissen kann mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die physiologischen Grundbedürfnisse kommender Generationen z. B. nach einer gesicherten Wasser- und Nahrungsversorgung und einem gemäßigten Klima weitge‐ hend die gleichen sein werden. egoistischer Anthropozentrismus universalistischer Anthropozentrismus Nur die individuellen Interessen oder diejenigen der eigenen Firma, Nation, Gemeinschaft, Kultur oder Generation werden berücksichtigt. Die Interessen aller Menschen auf der Welt sowie diejenigen zukünftiger Ge‐ nerationen werden gleich berücksich‐ tigt. prudentielle Perspektive: Sorge um das eigene Überleben bzw. die Erfüllung der Selbstinteressen moralische Perspektive: Überleben bzw. Stillung der Grundbedürfnisse al‐ ler (auch zukünftiger) Menschen si‐ chern Nun kann allerdings ein Egoist und Amoralist fragen, wieso er denn eigentlich im Zeichen des universalistischen Anthropozentrismus den unparteiischen Standpunkt der Moral einnehmen soll. Es handelt sich dabei um die in der Allgemeinen Ethik diskutierte individualethische Frage „Warum überhaupt moralisch sein? “, die sich viele Menschen beim egozentrischen Streben nach ihrem persönlichen Glück oder guten Leben nicht nur im Umweltbereich stellen. Daraufhin kann man einem Amora‐ 150 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="151"?> listen nur „schwache“ individualethische Gründe nennen, die für eine angemessene Antwort eigentlich unzulänglich sind (vgl. Ethik, Kap. 1.3): Wer egoistisch handelt, hat zum einen mit moralischen Sanktionen wie Ausgrenzung oder Tadel durch die Gemeinschaft zu rechnen. Zum andern stellt ein Leben in einer Gesellschaft mit minimalem moralischem Konsens eine bessere Grundlage für das persönliche gute Leben dar als eine Welt, in der alle einander morden, bestehlen und betrügen. Für Sicherheit sorgende moralische Regeln liegen also im langfristigen aufgeklärten In‐ teresse des rationalen Egoisten, sodass er zumindest nicht offen egoistisch argumentieren und handeln sollte. Wer es in der moralischen Erziehung gelernt hat, die eigene egoistische Perspektive zu transzendieren und auf persönliche Vorteile zu verzichten, der braucht freilich keine solchen „schwachen Gründe“ mehr für moralisches Handeln: Er wählt stets dieje‐ nige Handlungsalternative, die für alle Betroffenen am besten ist, auch wenn es ihm keinen persönlichen Vorteil bringt. „Starke“ moralische Gründe für die Einnahme des universellen Anthropozentrismus basieren auf der Erkenntnis, dass alle Menschen gleich und gleichberechtigt sind und daher gleichermaßen moralische Rücksichtnahme verdienen. Das von John Rawls im Rahmen seiner Theorie der Gerechtigkeit entwickelte Schleier-Argument könnte rationalen Egoisten helfen, den Standpunkt der Moral einzunehmen (vgl. Rawls, 159 ff.): In einem Gedankenexperi‐ ment sollen sie sich hinter den „Schleier des Nichtwissens“ begeben, hinter dem sie z. B. nichts darüber wissen, in welchem Erdteil und in welcher Generation sie leben. Unter den Bedingungen dieses Nichtwissens sollen sie sich überlegen, ob sie das zur Diskussion stehende umweltschädigende Verhalten gutheißen könnten. Allerdings scheint es sich lediglich um einen argumentativen Kunstgriff zu handeln, solange die moralische Einsicht in die starken Gründe fehlt. Frage: Warum soll man überhaupt moralisch sein? „schwache“ individualethische Gründe „starke“ moralische Gründe - weil man sonst mit moralischen Sanktionen rechnen muss - weil moralische Normen minimale soziale Sicherheit garantieren - alle Menschen sind gleich und gleichberechtigt und erfordern glei‐ che moralische Rücksichtnahme 151 3.1 Anthropozentrismus <?page no="152"?> Globale und intergenerationelle Gerechtigkeit Ein universeller Anthropozentrismus verlangt eine gerechte Verteilung der Güter und Lasten bezüglich der Umweltprobleme. Es widerspricht dem Gebot einer globalen Gerechtigkeit, wenn die privilegierten Hauptverursacher in westlichen Industrienationen und Schwellenländern weniger unter den negativen Folgen der Klimaveränderung leiden als Menschen in ärmeren Re‐ gionen. Den reichen Staaten kommt daher eine Wiedergutmachungspflicht gegenüber den Entwicklungsländern zu (vgl. Leist 2005, 447ff.). So lassen sich beispielsweise die Kosten des Klimawandels in betroffenen Regionen abmildern durch den Bau von Staudämmen oder einen Wissenstransfer neuer Technologien z. B. zur Gewinnung von Süßwasser oder Solarenergie. Neben konkreten Kompensationsleistungen steht auch die weltweite Aufteilung von Verschmutzungsrechten zur Diskussion, bei der die maximale Verschmutzung festgelegt, aber der Verkauf von Emissions- oder Umweltzertifikaten erlaubt wird (vgl. Brenner 2016, 232). Die intergenerationelle Gerechtigkeit richtet sich demgegenüber gegen das Unrecht, dass die Vorteile der gegenwärtigen Generationen mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch und den verursachten Umweltschäden auf Kosten des Lebens oder der Lebensqualität zukünftiger Generationen geht (vgl. Leist 2005, 453ff.). Seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro von 1992 setzte sich das umweltethische und -politische Konzept der Nachhaltigkeit weltweit durch und fand Eingang in unzähligen Dokumenten und Absichtserklärungen. Durch diese Erfolgsge‐ schichte kam es allerdings zu einem inflationären Gebrauch dieses Leitbegriffs, sodass er seine klaren Konturen verlor und von verschiedenen Akteuren strategisch im Sinne der eigenen Interessen eingesetzt wird (vgl. Ott 2021, 164ff.). Konkrete Regeln eines Nachhaltigkeitsprogramms könnten aber etwa lauten (vgl. Knoepffler 2006, 85ff.): 1. Der Abbau erneuerbarer Ressourcen darf nur in dem Maß stattfinden, wie eine Regeneration möglich ist (Regene‐ rationsregel). 2. Der Abbau erschöpfbarer Ressourcen wie z. B. Erdöl soll nur in dem Maße vorangetrieben werden, wie er durch technische Innovationen wie z. B. Solarenergie ersetzt werden kann (Substitutionsregel). 3. Sämtliche Eingriffe in die Natur sollen so gestaltet sein, dass zukünftige Generationen die Möglichkeit haben, sie rückgängig zu machen (Reversibilitätsregel). 4. Für alle negativen Folgen bezüglich anderer Menschen wie etwa durch Schadstoff‐ ausstoß muss der Schadensverursacher einen angemessenen Schadensersatz leisten (Gesamtkostenregel). Paradoxerweise gibt es auch noch anthropozentrische Argumente, die zum Schutz der universellen menschlichen Interessen an einer intakten 152 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="153"?> Umwelt eine physiozentrische Sichtweise empfehlen. Denn obgleich alle Menschen den hohen instrumentellen Wert der Natur vernunftmäßig ein‐ sehen, fehlt den Angewiesenheits-Argumenten offenkundig die nötige nor‐ mative Kraft zur Begründung eines umfassenden Naturschutzes. Faktisch greift der egoistische Anthropozentrismus um sich, bei dem man sich um die Umweltschäden außerhalb des eigenen Gesichtskreises wenig schert. Die Motivation zu einem naturschonenden Verhalten wäre vermutlich größer, wenn man der Natur wie beim Physiozentrismus moralischen Selbstwert zuschreibt (vgl. Birnbacher 2006, 128 f.). Weil Anthropozentriker aber immer nur so tun können, als ob die Natur an sich wertvoll wäre, spricht man von einem funktionalen Argument. Es soll die Funktion erfüllen, zu einem schonungsvollen Umgang mit der Natur zu motivieren. Wer allerdings die physiozentrische Sicht als theoretisch unhaltbar einstuft und gleichwohl aus pragmatischen Gründen für diese Position plädiert, gäbe seine Vernunft und den diskursiven Anspruch auf intersubjektive Begründbarkeit moralischer Normen auf. Will man nicht sich selbst, sondern andere Menschen mit solchen funktionalen Argumenten zum Umweltschutz bewegen, würde man die Mitmenschen indoktrinieren und entmündigen. Eine solche gezielte Irreführung ist zweifellos ethisch verwerflich. Selbst wenn funktionale Argumente Umweltsünder zu einem ökologischen Bewusstsein „überreden“ könnten, darf das Produzieren von Als-ob-Konstruktionen daher nicht zum seriösen Geschäft von Philosophen gehören (vgl. ebd., 142; Krebs, 367). Instrumenteller Wert der Natur - als Lebensgrundlage in Form von Nahrungsmitteln, Flüssigkeit, gemäßigten Temperaturen oder Sauerstoff - als Rohstofflieferant - als Quelle für Erholung und Freizeit - als Auffanglager für Schadstoffe Angewiesenheits-/ Basic-needs-Argumente: Menschen sind zur Stillung der physiologischen Grundbedürfnisse auf eine weitgehend intakte Umwelt angewie‐ sen. → Die Natur ist wertvoll, weil sie bestimmten menschlichen Zwecken dient. instrumenteller oder Gebrauchswert der Natur Problem: häufig egoistischer Anthropozentrismus anstelle eines ethisch wünsch‐ baren universellen Anthropozentrismus 153 3.1 Anthropozentrismus <?page no="154"?> funktionales Argument: Man soll sich so verhalten, als ob der Natur morali‐ scher Eigenwert zukäme (physiozentrische Position), ohne davon überzeugt zu sein. Kritik: - keine intellektuelle Redlichkeit - gezielte Irreführung anderer Personen 3.1.2 Eudaimonistische Argumente Eine zweite Gruppe von anthropozentrischen Argumenten macht nicht auf die Notwendigkeit natürlicher Ressourcen und klimatischer Bedingungen für das Überleben der Menschen aufmerksam, sondern auf den wichtigen Beitrag der Natur für ein gutes, gelingendes oder glückliches Leben. Sie werden als eudaimonistische Argumente bezeichnet nach dem griechi‐ schen Ausdruck „eudaimonia“, der im Deutschen mit „Glück, Glückseligkeit“ oder mit dem in der Philosophie eingeführten künstlichen Terminus „gutes Leben“ übersetzt wird (vgl. Fenner 2007, 16; Eser 2016, 242 f.; Ott 2021, 82). Obwohl in Angewiesenheitsargumenten häufig ein drohender ökologischer Kollaps und eine kollektive Lebensgefahr heraufbeschworen werden, geht es nicht immer um das Überleben der Art oder das Verhindern eines vorzeitigen Todes der Menschen. Meist möchte man vielmehr einen Verlust an Lebensqualität oder an Chancen auf ein gutes Leben vermeiden. Auch wenn Menschen beispielsweise eine hohe Luftverschmutzung mithilfe guter Sauerstoffmasken überleben könnten, würden sie dadurch einen Großteil an Lebensqualität einbüßen. Die Grenzen zwischen den beiden Argumentati‐ onsformen sind diesbezüglich also nicht trennscharf, zumal die „Fähigkeit, ein menschliches Leben von normaler Länge zu leben“ und „nicht vorzeitig zu sterben“ bei Nussbaum die erste Bedingung für ein gutes menschliches Leben ist (Nussbaum, 200). Ein grundlegender Unterschied besteht jedoch darin, dass bei eudaimonistischen Argumenten der Natur nicht lediglich ein „instrumenteller Wert“ wie bei den Angewiesenheits-Argumenten zu‐ gesprochen wird, sondern ein Eigenwert oder inhärenter Wert (vgl. Eser 2016, 242 f.; Eser u. a., 102). Diese Wertschätzung der Natur gründet in einer besonderen, nicht auf einen unmittelbaren Nutzen abzielenden Beziehung der Menschen zu ihr oder ihren Teilen. So können Menschen z. B. in ästhetischen Erfahrungen die Naturschönheit erleben oder beim Spazieren im Wald eine tiefe Ruhe und Erholung finden. Während zumindest 154 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="155"?> die physiologischen Grundbedürfnisse als anthropologische Konstanten gelten können, sind angesichts der großen Vielfalt an Vorstellungen eines glücklichen oder guten Lebens die einzelnen konkreten Inhalte weniger gut verallgemeinerbar. Gerne wird aber in der Naturschutzethik auf philosophi‐ sche Objektive-Liste-Theorien des guten Lebens wie die erwähnte von Nussbaum zurückgegriffen. In dieser ist unter Punkt 8 auch die menschliche Grundfähigkeit aufgeführt, „in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und sie pfleglich zu behandeln“ (Nussbaum, 201). Zu den wichtigsten eudaimonistischen Argumenten zählen ohne Anspruch auf Vollständigkeit a) Gesundheits- und Wohlbefindens-Argumente, b) naturä‐ sthetische Argumente und c) das Heimat- und das Differenz-Argument (vgl. Ott u. a., 11; Ott 2021, 18). Eudaimonistische Argumente: Naturverbundenheit und gelingende Beziehun‐ gen zur Natur sind wichtig für ein gutes menschliches Leben. → Die Natur ist wertvoll, weil sie um ihrer selbst willen von Menschen wertge‐ schätzt wird. eudaimonistischer Eigenwert oder inhärenter Wert der Natur ↔ im Gegensatz zum moralischen Selbstwert oder intrinsischen Wert der Natur a) Gesundheits- und Wohlbefindens-Argument b) naturästhetisches Argument c) Heimat- und Differenz-Argument a) Gesundheits- und Wohlbefindens-Argument Gesundheitsbezogene oder Gesundheits-Argumente lassen sich streng‐ genommen sowohl den instrumentellen als auch den eudaimonistischen Argumenten zuordnen (vgl. Ott 2021, 62). Zum einen stellt Gesundheit als Abwesenheit schwerwiegender Krankheiten ein notwendiges Mittel dar, um überleben, körperlich und geistig leistungsfähig zu bleiben und seine Lebensziele realisieren zu können. Zum anderen handelt es sich aber auch um ein intrinsisches Gut, insofern man sich seiner Gesundheit erfreut und diesen Zustand um seiner selbst willen schätzt. Eng verwandt mit einer physischen und psychischen Gesundheit ist zudem das Wohlbefinden als subjektive Dimension der „Lebensqualität“ neben den objektiven Lebensbe‐ dingungen wie Einkommen, Familienstand oder sozialer Status: Während das physische Wohlbefinden Beschwerdefreiheit und positive körperliche Empfindungen umfasst, meint das psychische Wohlbefinden Lebensfreude 155 3.1 Anthropozentrismus <?page no="156"?> und ein überdauerndes Gefühl von Glücklichsein (vgl. Eikmann, 137). Wenn Menschen berichten, dass ihnen Aufenthalte in der Natur „guttun“, lassen sich die heilsamen Wirkungen bezüglich Gesundheit und Wohlbefinden nur teilweise objektivieren und messen. Unstrittig fördern alle physischen Aktivitäten wie Wandern, Schwimmen oder Sport in der freien Natur die physische Gesundheit und das physische Wohlbefinden. Wiederholt wurde auch belegt, dass natürliche Landschaftsräume physiologische Parameter wie z. B. Herzaktivität und Muskeltonus positiv beeinflussen und negative Befindlichkeiten wie Angst oder Traurigkeit dämpfen (vgl. ebd., 139). Neben dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Zugang bietet sich aber auch die phänomenologische Methode des leiblichen Nachspürens an (vgl. Ott 2021, 85): Von Erholung als einem Prozess des Auftankens wird insbesondere beim Waldbaden, im Sand am Meer oder in Gebirgshöhen mit klarer Luft und weiter Sicht berichtet (vgl. ebd.; Eikmann, 138). Hier kann übermäßiger Stress abgebaut und das physische und psychische Aktivitätsniveau wiedererlangt werden. Grünflächen scheinen generell das subjektive Wohlbefinden zu steigern, weshalb insbesondere der Frühling mit den keimenden Sprossen vielen Menschen neue Lebenskraft bringt (vgl. ebd.). Gegenwärtig entdecken v. a. Großstädter im Rahmen ökologischer Projekte wie Selbsterntegärten oder Bürgerinitiativen zur Stadtbegrünung die intrinsische Naturbeziehung beim Gärtnern, bei der kreatives Gestalten, meditative Betrachtung, Arbeit und Erholung einhergehen bzw. sich abwechseln. Gesundheit und Wohlbefinden der Mitmenschen gelten allgemein als grundlegende Hinsichten moralischer Rücksichtnahme. b) naturästhetisches Argument Ästhetische Erfahrungen gelten als Musterbeispiele für naturbezogene Wert‐ schätzungen (vgl. Ott 2021, 87). Die meisten Menschen haben schon gestaunt über die Schönheit der Natur, z. B. über ein verschneites Alpenpanorama, über das Spiel der Wellen im Meer, den Gesang der Vögel oder die Blumenpracht im eigenen Garten. Die Voraussetzung dafür, etwas als „schön“ erleben zu können, ist eine spezifische Einstellung zum Gegenstand der Betrachtung: Die typische nicht-instrumentelle ästhetische Einstellung ist ein innerlich distanziertes, von subjektiven Interessen losgelöstes, selbstzweckhaftes und vollzugsorientiertes Wahrnehmen (vgl. Fenner 2000, 22 f.). Sowohl das wahr‐ nehmende Subjekt als auch das wahrgenommene Objekt werden dabei aus den alltäglichen Kausal- und Interessenzusammenhängen herausgelöst, sodass das Subjekt kein Interesse am Besitzen, Verändern oder Konsumieren des 156 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="157"?> Objekts hat. Ein Objekt der Natur oder der Kunst wird dann als „schön“ bezeichnet, wenn es zu einer solchen ästhetischen Kontemplation einlädt und wenn diese von einem spezifischen ästhetischen Wohlgefallen begleitet wird. Im Unterschied zu einem rein sinnlichen Genuss durch die angenehme Reizung von Sinnesorganen etwa beim Riechen an einer Rose oder beim Verzehr eines Apfels, basiert das ästhetische Wohlgefallen auf dem ästheti‐ schen Urteil „Das ist schön“. Beurteilt wird dabei die Form oder Struktur des Gegenstandes und das Zusammenspiel seiner einzelnen Komponenten. Das schöne Objekt reizt also nicht nur die Sinnesorgane, sondern regt auch die Tätigkeiten von Phantasie und Verstand an. Während sich der rein sinnliche Genuss beim Hineinbeißen in den Apfel ohne weiteres Nachdenken einstellt, erfordert das ästhetische Urteil kognitive Prozesse des Bewertens. Auch wenn bei der ästhetischen Einstellung meist auch die rein sinnliche Augenlust nicht fehlt, stellt das für sie charakteristische ästhetische Wohlgefallen ein Gefühl dar. Anders als kausal induzierte, von Genuss begleitete „Sinnesempfindun‐ gen“ basieren zumindest komplexe „Gefühle“ auf geistigen Akten und sind intentional strukturiert, d. h. auf die zu bewertenden Objekte gerichtet (vgl. Fenner 2007, 36). Ästhetische Einstellung: innerlich distanziertes, selbstzweckhaftes und voll‐ zugsorientiertes Wahrnehmen Ästhetisches Urteil: Beurteilung der Form oder Struktur eines Gegenstandes unter Beteiligung von Phantasie und Verstand („Das ist schön“) Ästhetisches Wohlgefallen: Gefühl, das den Beurteilungsprozess begleitet Gemäß dem naturästhetischen Argument kommt der Natur ein ästheti‐ scher Wert zu, der im Unterschied zu einem instrumentellen Wert einen Eigenwert darstellt. Ästhetischer Eigenwert ist aber kein moralischer Ei‐ genwert, sodass damit allein die Schutzwürdigkeit der Natur noch nicht hinlänglich begründet ist. Damit daraus indirekte moralische Pflichten der Menschen gegenüber der Natur abgeleitet werden könnten, wäre zu zeigen, dass die ästhetische Praxis für ein gutes und glückliches menschliches Leben unverzichtbar oder doch wesentlich ist. Martin Seel, ein Spezialist für Ästhetik genauso wie für Individual- oder Strebensethik, hält die Gegen‐ wart von Naturschönheit für eine bedeutsame Komponente eines guten menschlichen Lebens bzw. eines übergreifenden Glücks: „Das Naturschöne ist ein Ort erfüllter Zeit. Schöne Natur, heißt das, ist kein Mittel zum 157 3.1 Anthropozentrismus <?page no="158"?> Glück, sie ist eine Form des Glücks“ (Seel 1997, 316). Infolgedessen sei es ein Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme, den anderen Menschen diese Entfaltungsmöglichkeit nicht mutwillig zu zerstören (vgl. ebd., 320 f.). Ihm zufolge trägt die ästhetische Praxis deswegen zu einem gelingenden Leben bei, weil sie vollzugsorientiert und selbstzweckhaft ist. Bereits Aristoteles hat mit Blick auf das gute Leben dem selbstzweckhaften Handeln, das sein Ziel in sich selbst trägt („praxis“), klar den Vorzug vor dem instrumentellen, auf äußere Folgen ausgerichteten Handeln („poiesis“) gegeben (NE, 1094a, 12 ff.). Da es sich bei den meisten äußerlichen Zielen wie Besitzgütern oder Reichtum nämlich selbst wieder um instrumentelle Ziele handelt, wird das menschliche Streben auf diese Weise niemals Erfüllung finden. Stellen solche Ziele doch immer nur Zwischenziele dar, mit denen man wieder etwas anderes erreichen will. So ist Reichtum nur ein Mittel, um sich etwas Bestimmtes leisten zu können. Allerdings gibt es neben der ästhetischen Betrachtung noch viele andere selbstzweckhafte Tätigkeiten, Aristoteles zufolge etwa das Denken (Philosophieren) und tugendhafte Handeln, in einem weiteren Sinn auch das Spazieren und Musizieren (vgl. Fenner 2007, 175 ff.). Die ästhetische Kontemplation ließe sich also durch andere selbstzweckhafte Tätigkeiten ersetzen. Selbst wenn die ästhetische Betrachtung sich als unverzichtbarer Bestand‐ teil eines guten menschlichen Lebens entpuppte, ließe sich immer noch auf die Möglichkeit ästhetischer Erfahrungen im Kunstbereich verweisen. Um Menschen die Möglichkeit ästhetischer Praxis zur Verfügung zu stellen, müsste also nicht zwangsläufig die außermenschliche Natur geschützt, sondern es könnten z. B. Theater, Museen oder Orchester gefördert werden. Beim naturästhetischen Argument wäre also zusätzlich noch zu zeigen, dass die ästhetische Einstellung nur oder doch besonders gut in der Ge‐ genwart intakter Natur zustande kommt. Angelika Krebs hat folgende drei Unterschiede zwischen dem „Kunstschönen“ und dem „Naturschönen“ herausgearbeitet, um die generellen Vorzüge naturästhetischer Erfahrungen darzulegen (vgl. 372 f.): 1. Die Natur spricht in der Regel alle Sinne an, wohingegen Kunstwerke sich meist an einen bestimmten Sinn richten und insbesondere den Tastsinn vernachlässigen. Dagegen ließe sich einwenden, dass ästhetische Erfah‐ rungen im Kunstbereich nicht auf rezeptive Formen der Kontemplation begrenzt sind, sondern im erweiterten Sinn einer „ästhetischen Praxis“ auch bei aktiven künstlerischen Betätigungen wie Modellieren oder Malen zustande kommen (vgl. Fenner 2013, 44). Außerdem sprechen Kunstwerke 158 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="159"?> der modernen Performance-Kunst wie z. B. Hermann Nitschs Orgien-Myste‐ rien-Theater durchaus alle Sinne der Zuschauer an (vgl. ebd., 97). Grundsätz‐ lich ist aber schon die Hintergrundannahme zweifelhaft, dass die Qualität und Intensität ästhetischer Erfahrungen von der Anzahl der angesproche‐ nen Sinne abhängen soll. 2. Nach Krebs lädt die Natur die Betrachter eher zur Einnahme einer nicht-funktionalen ästhetischen Wahrnehmung ein, weil sie anders als die Kunst „keine Spuren menschlicher Zwecksetzung“ aufweist (372). Dabei wird nicht klar, von welchen Zwecksetzungen hier genau die Rede ist. Cha‐ rakteristisch für Kunstwerke ist gerade ihre Zwecklosigkeit, da sie weder einem praktischen Gebrauch noch einer moralischen Indoktrination dienen (vgl. Fenner 2013, 23). „Zwecklosigkeit“ könnte vielleicht im allgemeinen Sinne von „Absichtslosigkeit“ verstanden werden, weil jeder Künstler zu‐ mindest die Absicht hat, ein Kunstwerk hervorzubringen. Auch besitzen alle Kunstwerke die allgemeine interne Funktion, in den Rezipienten ästhetische Erfahrungen auszulösen - und anders als Naturphänomene darüber hinaus noch erfüllende Reflexionen über menschliche Welt- und Selbstbezüge (vgl. ebd., 73). Wo Kunst allerdings als Waffe gegen bestimmte gesellschaftliche oder politische Verhältnisse eingesetzt wird, liegt auch ästhetisch gesehen eine problematische Instrumentalisierung vor (vgl. ebd., 141). 3. Am stärksten scheint daher das dritte Argument zu sein, das auf das Er‐ habene in der Natur aufmerksam macht: Auf Kant geht die Unterscheidung zurück zwischen einem „mathematisch Erhabenen“, das aufgrund seiner Größe und Unendlichkeit etwa eines Meeres oder Gebirges beeindruckt, und dem „dynamisch Erhabenen“, bei dem die gewaltige Kraft etwa eines Wasserfalls oder Gewitters Furcht einflößt (vgl. Kant, KU, §23-29). Ob deren filmische 3D-Darstellungen auf großen Kinoleinwänden nicht auch einen solchen Schauer des Erhabenen hervorzurufen vermögen, bleibe hier dahingestellt. Nach Konrad Otts Beurteilung kann die umweltethische Bedeutung natur‐ ästhetischer Erfahrung „kaum überschätzt werden“ (2010, 92). In einer auch von Gernot Böhme eingeforderten Koalition von Ökologie und Ästhetik müsste es dann ein umweltethisches Anliegen sein, den naturästhetischen Geschmack zu kultivieren. Genau besehen ist aber die Reichweite solcher ästhetischen Argumente für einen schonungsvollen Umgang mit der Umwelt doch sehr beschränkt: Er gilt nur für die Naturgebiete, die Menschen prin‐ zipiell zugänglich sind und tatsächlich zu ästhetischer Betrachtung Anlass geben. Viele Naturausschnitte sind aber weder schön noch erhaben, und viele 159 3.1 Anthropozentrismus <?page no="160"?> Umweltsünden hinterlassen zumindest keine unmittelbar sichtbaren Folgen. Zu denken ist etwa an Mikroplastik oder auch das Versenken von Giftmüll weit draußen im Meer, in dessen Folge das gesamte Leben am Meeresgrund abstirbt. Da die Schönheit der Meerestiere und -pflanzen dem menschlichen Auge gewöhnlich verborgen bleibt, können ästhetische Argumente hier wenig ausrichten. In den Anfängen des Tierschutzes soll man Tierquälerei tatsäch‐ lich bisweilen aus ästhetischen Gründen abgelehnt haben: Der Anblick von solchen Grausamkeiten gegen Tiere sei höchst unerfreulich und solle daher unterlassen werden (vgl. Wolf 1999, 32). Aus ästhetischen Gründen müsste aber nur die öffentliche Tierquälerei verboten werden, wohingegen diejenige im Verborgenen erlaubt wäre. Auch hohe Schadstoffwerte in der Luft sind kaum sichtbar, und Trockengebiete und Wüsten infolge des Klimawandels können genauso viel ästhetischen Eigenwert besitzen wie ein blühender Regenwald. Naturästhetische Argumente können also keinen umfassenden Naturschutz begründen, sondern allenfalls sichtbare Schäden an ästhetisch ansprechenden Teilen der Natur verhindern. Naturästhetisches Argument These: Die Natur ist ein bevorzugter Gegenstand ästhetischer Kontemplation. → nicht-instrumenteller ästhetischer Eigenwert der Natur Problem: ästhetischer Wert ≠ moralischer Wert Zusatzargument: Ästhetische Kontemplation ist eine allgemein zugängliche, wesentliche Option guten menschlichen Lebens. → Schutz der Natur = moralisches Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme Kritik: - ästhetische Kontemplation ist grundsätzlich ersetzbar durch andere selbst‐ zweckhafte Tätigkeiten - ästhetische Praxis ist auch in Gegenwart von Kunst möglich prinzipiell begrenzte Reichweite ästhetischer Argumente: Nur sichtbare Schäden an denjenigen Teilen der Natur müssen vermieden werden, die zur ästhetischen Praxis einladen. c) Heimat- und Differenz-Argument Ohne dass die Liste damit abgeschloßen wäre, seien hier noch zwei weitere Argumentationsweisen erwähnt: Gemäß dem etwa von Hermann Lübbe und Klaus Meyer-Abich vertretenen Heimat-Argument sollen die Natur bzw. bestimmte Ausschnitte der Natur geschützt werden, weil sie für Menschen Heimat bedeuten (vgl. Krebs, 374; Kallhoff, 74). Solche Argumente spielten 160 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="161"?> insbesondere im frühen deutschen Naturschutz eine große Rolle (vgl. Ott 2021, 93). Da „Heimat“ aber immer wieder in Verbindung mit einem Lokal- oder Nationalchauvinismus geriet, waren derartige Naturschutzkonzepte nach 1945 lange Zeit tabu. „Heimat“ kann jedoch auch gereinigt von Bodenständigkeits-Ideologien ganz allgemein als Ort verstanden werden, wo sich Menschen geborgen fühlen: Es ist die enge Umgebung der Ver‐ trautheit, Verlässlichkeit und Beständigkeit (vgl. ebd., 94; Krebs, 374). Viele Menschen assoziieren „Heimat“ mit bestimmten Landschaften, die nicht am Geburtsort liegen müssen, sondern häufig erst später zur Wahlheimat wur‐ den. Entsprechende Naturausschnitte können einen Teil der individuellen Identität ausmachen und gehören dann zum Kern eines guten menschlichen Lebens. Insofern kommt ihnen ein eudaimonistischer Eigenwert zu, der die Menschen zu einem Engagement im Naturschutz motivieren kann. Die für ein gutes Leben relevante „Heimat“ muss aber nicht zwangsläufig über eine natürliche Umgebung definiert werden, sondern kann alternativ dazu etwa auch an einen bestimmten kulturellen Kontext oder ein soziales Umfeld gekoppelt sein. Zudem sind landschaftliche Verbundenheits- oder Heimatgefühle nicht immer Teil der menschlichen Identität (vgl. Krebs 1997, 375). Es handelt sich also nicht um einen wesentlichen oder gar unverzichtbaren Bestandteil eines guten menschlichen Lebens. Ähnlichkeiten sowohl mit dem Heimat-Argument als auch dem natur‐ ästhetischen Argument weist das Differenz-Argument auf, bei dem die Natur als wohltuender Zufluchtsort zu den schwer erträglichen viel‐ fältigen Zwängen des alltäglichen Lebens in der urbanen Zivilisation herausgestellt wird (vgl. Ott u. a., 11 f.): Es wird der Kontrast bzw. die „Differenz“ betont zum sozialen Erwartungsdruck, der strengen Disziplin und ständigen Zeitnot, den Konkurrenzzwängen, Quantifizierungen und Kalkulationen in der modernen Arbeits- und Lebenswelt. Das Natürliche wird als emotional unverzichtbarer Gegensatz zu einer Welt der Artefakte, Technologien und medialer Bilderwelten gepriesen. Während in urbanen Räumen der Zivilisation alles von Menschen und für Menschen gemacht wurde und bestimmten Zwecken dient, soll der Kontakt mit dem Natürli‐ chen, Leibhaften, Spontanen, Wilden und Anderen ein vertieftes, weniger dünkelhaftes menschliches Selbstverständnis eröffnen. Damit rückt das Differenz-Argument in die Nähe des transformative-value-Argument, demzufolge Naturerfahrungen existierende Werthaltungen der Menschen in eine moralisch wünschenswerte Richtung verändern bzw. „transformieren“ können (vgl. Ott u. a., 11). Diese letztgenannten Argumente sind zwar in 161 3.1 Anthropozentrismus <?page no="162"?> ihrer pauschalisierend-plakativen und suggestiven Art nur schwach und in ihrer Reichweite begrenzt, können aber gleichwohl zur Erhaltung von Landschaften oder zur Verbesserung der Erlebnisqualität in natürlichen Gegenden herangezogen werden. Heimat-Argument Bestimmte Naturausschnitte bedeuten für viele Menschen „Heimat“ und können einen Teil ihrer Identität ausmachen. Differenz-Argument Die Natur stellt einen wohltuenden Zufluchtsort im Kontrast zu den Zwängen und der Zweckhaf‐ tigkeit urbaner Zivilisationen dar. Kritik: - keine unverzichtbaren oder wesentlichen Bestandteile im menschlichen Leben - eingeschränkt auf bestimmte Naturausschnitte 3.1.3 Moralpädagogisches Argument Bei einem weiteren Argument rückt die Natur weder als überlebensnotwen‐ dige Basis noch als wichtiger Beitrag zu einem guten menschlichen Leben in den Blick. Hier interessiert vielmehr die Bedeutung der Natur für das mo‐ ralische Verhalten zwischen den Menschen. Es geht also nicht mehr um die individualethische Frage nach dem glücklichen oder guten Leben von Ein‐ zelpersonen, sondern um die sozialethische Problematik des respektvollen und gerechten zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Grob vereinfacht lautet das (moral)pädagogische Argument, das neben Immanuel Kant auch etwa von Ernst Tugendhat verwendet wird und in der Umweltethik unter der Bezeichnung Verrohungs-Argument bekannter ist (vgl. Krebs, 375; Ott 2021, 128): Wie sich ein Mensch der Natur gegenüber verhält, so verhält er sich auch gegenüber Menschen. Die Aktivitäten eines Menschen in der Natur sollen also unmittelbare oder langfristige Folgen für seine ethische Einstellung und den Umgang mit seinen Mitmenschen haben. Das von Kant in seiner Metaphysik der Sitten entwickelte Argument lässt sich entsprechend der unterschiedlichen Wirkungen positiv oder negativ formu‐ lieren: Wer negativ betrachtet einen rücksichtslosen Umgang mit der Natur pflege, also beispielsweise Pflanzen, Gewässer oder Böden zerstört und Tiere quält, dessen moralischer Charakter soll abstumpfen und verrohen (vgl. Kant, MS II, § 17). Positiv gewendet hingegen trage ein schonungsvoller Umgang mit den Pflanzen und ein dankbares und mitfühlendes Benehmen 162 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="163"?> gegenüber Tieren zu einer moralischen Festigung bei (vgl. ebd.). Anstelle eines instrumentellen Werts oder eudaimonistischen Eigenwerts kommt der Natur bei diesem Argument ein moralpädagogischer Wert zu. Ein Mensch hat ihm zufolge die indirekte Pflicht, behutsam mit der außermenschlichen Natur umzugehen, um seinen eigenen moralischen Charakter zu fördern. Kant begründet den behaupteten Wirkzusammenhang mit der ethischen Relevanz von Mitleid und Mitfreude (vgl. ebd., § 35): Genauso, wie das Mitgefühl als natürliche Quelle moralischen Urteilens und Handelns beim Schädigen von Tieren verkümmere, soll es durch einen bewussten, rück‐ sichtsvollen Umgang mit tierlichen Lebewesen gefördert werden (vgl. § 17). Die hier zugrunde gelegten psychologischen Thesen müssten aber empirisch überprüft werden. Kant scheint davon auszugehen, dass das Mitgefühl mit sämtlichen Lebewesen eine Fähigkeit bzw. Tugend ist, die je nach Erziehung oder Gewöhnung als Ganze zu- oder abnimmt. Die berechtigte Kritik an jeder auf Mitleid oder Wohlwollen basierenden Gefühlsethik lautet aber, solche Mitgefühle seien faktisch sehr unterschiedlich und willkürlich auf verschiedene Adressatengruppen verteilt (vgl. Ethik, Kap. 8.3). So empfindet man naturgemäß viel weniger Mitleid mit Unbekannten als mit seinen nächsten Angehörigen. Analog dazu könnte jemand im Tierreich von Kinds‐ beinen an Hunde verabscheuen und regelmäßig mit Stöcken traktieren, wohingegen er sich Katzen sehr verbunden fühlt und diese entsprechend vorzüglich behandelt. Genauso denkbar wäre ein sehr hilfsbereiter und einfühlsamer Stadtmensch, dem jeder Bezug zu außermenschlichen Wesen abgeht, oder umgekehrt ein äußerst tierliebender Misanthrop, der nur gegenüber bestimmten (eigenen) Tieren Gefühle zeigt. Man könnte das empirische Argument bereits durch den konkreten historischen Fall von Rudolf Höss als falsifiziert betrachten, der Kommandant von Auschwitz war, aber seine Pferde mit größter Sorgfalt behandelte (vgl. Düwell 2008, 232). Ein abgestumpftes Betragen gegenüber bestimmten oder allen tierlichen Wesen scheint somit nicht zwangsläufig an die Verrohung des moralischen Charakters gekoppelt zu sein, genauso wenig wie sich aus der Liebe und dem Mitgefühl gegenüber den eigenen Haustieren zwangsläufig eine universelle Sympathie oder ein generelles Mitleid ergibt (vgl. dazu Kap. 3.2.1). Häufig wird gegen das moralpädagogische Argument eingewendet, es sei doch viel besser, wenn Menschen ihre Aggressionen in der Natur statt gegenüber anderen Menschen auslebten (vgl. dazu Krebs, 375). Auch diesem Gegenargument liegen aber empirische Annahmen zugrunde, die keineswegs als gesichert gelten können. Es lassen sich zwei gegensätzliche 163 3.1 Anthropozentrismus <?page no="164"?> psychologische Theorien zur Entstehung und Entladung von Aggressio‐ nen finden (vgl. Lück, 98 f.): Gemäß der auf Aristoteles zurückgehenden Katharsis-Theorie kann man Aggressionspotentiale tatsächlich durch eine starke Identifikation mit Gewalt in Filmen oder gesellschaftlich gebilligte Aktivitäten wie Sport entladen oder „abreagieren“. Wie im Kapitel zur Medienethik ausgeführt, gilt die Theorie einer Aggressionskatharsis heute aber als widerlegt, weil in psychologischen Studien die gemessene Gewaltbereitschaft der Versuchspersonen nicht zurückging (vgl. Kap. 6.1.2). Ein gezielter ersatzweiser Aggressionsabbau im Sinne einer mechanischen Ventilwirkung ist also zweifelhaft. Die zweite Theorie, die sozial-kogni‐ tive Lerntheorie, besagt ganz im Gegenteil: Bei aggressivem Verhalten in bestimmter anerkannter Form werde keineswegs „Dampf abgelassen“, sondern solche Verhaltensweisen würden dabei erst recht „eingeübt“. Durch wiederholtes aggressives Handeln oder medialen Gewaltkonsum prägten sich nämlich die entsprechenden Denk- und Verhaltensmuster im Gehirn ein (vgl. ebd.). Hinsichtlich des allgemeinen Aggressionspotentials eines Menschen scheint also die empirisch gut belegte Lerntheorie das moralpä‐ dagogische Argument eher zu stützen. Auch wenn ein negativer Einfluss eines rücksichtslosen Umgangs mit der Natur als wahrscheinlich erscheint, lassen sich daraus keine kategorischen Pflichten ableiten. Zudem ist der Anwendungsbereich des moralpädagogi‐ schen Arguments sehr begrenzt. Denn in den meisten Fällen fügen wir der außermenschlichen Natur nur indirekt Schaden zu, d. h. ohne dass wir unmittelbar Bäume abholzen oder Tiere misshandeln. Die Schädigung des Waldes oder die Tierquälerei geschieht größtenteils indirekt, im Verborge‐ nen, schleichend und unbemerkt: Viele fahren mit dem Auto zur Arbeit, weil dies am schnellsten und bequemsten ist, oder kaufen im Supermarkt die Eier, die am preiswertesten sind. Aggression, Gewalt oder Rücksichtslosigkeit, die zu einer Verrohung des moralischen Charakters führen könnten, sind bei solchen Handlungsweisen nicht zu erkennen. So ist es in Anschauungs‐ beispiel 2 nicht der Fall, dass Franziska Hühner in Käfigen malträtiert und damit ihren eigenen moralischen Charakter in Gefahr bringt. Auch wenn sie schon einmal etwas von den verschiedenen Haltungsformen bei Legehen‐ nen gehört hat, vergegenwärtigt sie sich aber wohl beim eilig getätigten Einkauf nicht die Lebensbedingungen der betroffenen Hühner. Insofern wären die gegenwärtigen Forderungen moralpädagogisch sinnvoll, dass Menschen, die tierische Produkte konsumieren, ihre Tiere selbst schlachten müssten oder sich zumindest die Lebensbedingungen von Tieren in der 164 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="165"?> Massentierhaltung mit eigenen Augen - besser real als virtuell - anschauen. Sollte sich auch dann noch kein Mitleid in ihnen regen, wäre dies aber wohl eher ein Ausdruck von, nicht aber die Ursache für einen unmoralischen Charakter bzw. eine Untugend. Ein achtsamer und pfleglicher Umgang der Menschen mit der Natur und den Tieren in ihrer unmittelbaren Umgebung müssten zweifellos schon in einer frühkindlichen moralischen Erziehung eingeübt werden, um sich zu einer Tugend verfestigen zu können. Pädagogischer Wert der Natur Natur als Einübungsfeld für zwischenmenschliches moralisches Verhalten positiv: rücksichtsvoller, mitfühlender Umgang mit der Natur → rücksichtsvolles, einfühlsames Verhalten unter Menschen negativ: rücksichtsloser, gefühlloser Umgang mit der Natur → Verrohrung des moralischen Charakters Gegenargumente: - Mitgefühle sind sehr unterschiedlich auf Adressaten verteilt, je nach subjek‐ tiven Vorlieben, zufälliger Nähe oder Ferne - kontroverse psychologische Theorien zu aggresivem Verhalten (Kathar‐ sis-Theorie gilt als widerlegt, Lerntheorie stützt das Argument) Prinzipiell begrenzte Reichweite moralpädagogischer Argumente: zutref‐ fend nur für direkte Interaktionen in der Natur, nicht für die viel häufigeren Schädigungen im Verborgenen (Abgase, Massentierhaltung etc.) 165 3.1 Anthropozentrismus <?page no="166"?> 3.2 Physiozentrismus Unter dem Eindruck der ökologischen Krise in den 1970er Jahren gerieten anthropozentrische Ansätze in der Umweltethik zunehmend in die Kritik. Viele sehen in der fortschreitenden Naturzerstörung die Folge einer fatalen Selbstermächtigung des Menschen und der Degradierung der Natur zu bloßem Material für die menschliche Gestaltung, die durch eine anthro‐ pozentrische Ethik begünstigt wurden (vgl. dazu Eser 2003, 344 f.). Es wird dem Anthropozentrismus insofern eine große Verwandtschaft zum Egoismus unterstellt, als die Motivation zum Naturschutz aus der eigenen Interessenlage der Menschen resultiert (vgl. Brenner 2016, 133): Selbst wenn anthropozentrische Argumente für die gleichen Naturschutzmaßnahmen sprechen wie physiozentrische, erscheint das anthropozentrische Urteilen und Handeln moralisch weniger wertvoll zu sein. Dies zeige sich darin, dass sich der Naturschutz aus anthropozentrischer Perspektive erübrigen würde, sobald genügend technologische Innovationen oder Reparaturtechnologien vorhanden wären (vgl. ebd., 136). Könnten beispielsweise die durch grüne Blätter geleistete CO 2 -Regeneration synthetisch bewerkstelligt oder naturä‐ sthetische Erlebnisse ohne Abstriche digital vermittelt werden, würde das Interesse von Anthropozentrikern an der Natur erlöschen. Im Gegensatz dazu verlangt eine physiozentrische Ethik (von grie‐ chisch „physis“: „Natur“), sich vom Menschen ab- und der Natur zuzuwen‐ den und diese um ihrer selbst willen zu schützen. Der Natur komme nicht nur ein instrumenteller Wert oder eudaimonistischer Eigenwert, sondern ein intrinsischer oder Selbstwert zu. Wieso sollen eigentlich nur Menschen, nicht aber beispielsweise auch Tiere oder Pflanzen um ihrer selbst willen moralische Rücksichtnahme verdienen? Große Wellen schlug der Speziesismus-Vorwurf von Peter Singer, der sich ganz grundsätzlich gegen die moralische Sonderstellung des Menschen richtet (vgl. Singer 1994, 82 ff.): Die Grenze zwischen der biologischen Spezies „Mensch“ und der Spezies „Tier“ oder „Pflanze“ stellt aus dieser Sicht keine moralisch relevante Grenze dar und rechtfertigt keine bevorzugte Behandlung der Menschen. Ein solcher „Speziesismus“ sei genauso willkürlich wie „Rassismus“ oder „Sexismus“, die ohne relevanten Grund entweder einer bestimmten Rasse oder einem Geschlecht einen Sonderstatus einräumen. Nach weitgehender Übereinstimmung gegenwärtiger Philosophen lassen sich Unterschiede im moralischen Status nur dadurch begründen, dass man ethisch relevante Eigenschaften oder Fähigkeiten eruiert, die nicht allen Arten oder Rassen in 166 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="167"?> gleicher Weise zukommen (vgl. Düwell 2011, 436). Argumentativ unzurei‐ chend wäre es, die moralische Sonderstellung des Menschen als unhinter‐ fragbare Tatsache vorauszusetzen oder nur auf die Gattungszugehörigkeit zu verweisen. Speziesismus: ethisch unzulässige Diskriminierung zugunsten einer Gattung („Spezies“) Speziesismus-Vorwurf gegen den ethischen Anthropozentrismus: Diskriminierung der außermenschlichen Natur durch moralische Bevorzugung der Spezies Mensch → moralische Sonderstellung des Menschen müsste sich durch Angabe ethisch relevanter Eigenschaften rechtfertigen lassen Moralischer Sonderstatus des Menschen? Anthropozentriker machen in der Regel die Eigenschaften der Vernunft und Selbstbestimmung bzw. Autonomie geltend, die Menschen als Moralsubjekte auszeichnen. Wer über die Fähigkeit verfügt, zukunftsbezogene Interessen und Vorstellungen von einem guten Leben zu entwickeln und nach persön‐ lichen Wertüberzeugungen und Zielen zu handeln, scheint eine andere moralische Rücksichtnahme zu erfordern als Entitäten ohne diese Fähigkeit. Anthropozentriker haben dann aber mit dem Einwand zu kämpfen, dass faktisch a) nicht alle Mitglieder der Gattung Mensch über diese Eigen‐ schaften verfügen, b) sehr wohl aber gewisse Tiere. Beim ersten sogenann‐ ten Marginal cases-Argument (a) verweisen Kritiker auf Embryonen, Kleinkinder, Menschen mit geistiger Schwerbehinderung oder Komatöse. Bezüglich Embryonen und Kleinkinder können Anthropozentriker jedoch das Potentialitätsargument vorbringen, da diese in absehbarer Zeit über fragliche Eigenschaften verfügen werden (vgl. Kap. 2.3). Komatöse hingegen waren ihr ganzes Leben im Besitz derselben und könnten sie möglicherweise wiedererlangen. Auch Personen mit geistiger Schwerbehinderung wären moralische Subjekte, wenn nicht Komplikationen bei der Zeugung oder Geburt aufgetreten wären. Sie sind also unverschuldeter Weise weniger gut ausgestattet mit den natürlichen menschlichen Grundgütern der Intelligenz und Freiheit. Einem Tier mit demselben Intelligenzgrad würden diese nicht im gleichen Sinn „fehlen“. Weil das potentielle Vorliegen bestimmter Eigenschaften allerdings nicht dasselbe ist wie ein aktuelles, lässt sich auf diese Weise nicht derselbe moralische Status eines gesunden erwachsenen Menschen begründen (Prinz Charles-Argument). Das anthropozentrische 167 3.2 Physiozentrismus <?page no="168"?> Ähnlichkeits- oder Familienargument weist demgegenüber darauf hin, dass Neugeborene oder geistig Behinderte uns äußerlich viel ähnlicher sind als Tiere und dass mindestens die Angehörigen ihnen gegenüber starke Gefühle der Liebe und Verbundenheit empfinden. Mit äußerlichen Ähnlichkeiten lassen sich aber keine moralischen Unterschiede begründen, sondern es schleicht sich nur ein unzulässiger Speziesismus „durch die Hintertür“ ein (vgl. dazu Ach 1999, 136 ff.). Ausdehnungs-Argumente Physiozentriker können zudem mit Argument b) gegen den menschlichen Sonderstatus vorbringen, dass auch außermenschliche Wesen wie Men‐ schenaffen oder Delphine über ähnliche kognitive Kompetenzen verfügen und ihnen damit der gleiche moralische Status zukommen müsste. Darüber hinaus lässt sich aber noch auf viele weitere Eigenschaften wie z. B. Schmerzempfindlichkeit verweisen, die bei Menschen als starke Gründe für moralische Schutzwürdigkeit gelten. Viele Physiozentriker gehen diesen argumentativen Weg von innen nach außen und setzen bei den allgemein anerkannten Mitgliedern der Moralgemeinschaft mit ihren moralisch rele‐ vanten Eigenschaften an (vgl. Ott u. a., 13). In einem zweiten Schritt wird gefragt, ob es nicht plausible Gründe für die Aufnahme nichtmoralischer En‐ titäten in diesen Kreis gibt. Es handelt sich um Ausdehnungsargumente, wenn ausgehend von der zwischenmenschlichen Moral immer weitere Gruppen der außermenschlichen Natur zum Bereich des moralisch Relevan‐ ten dazugerechnet werden (vgl. Krebs, 346; Kap. 2.3). So sollen Menschen beispielsweise auch gegenüber Tieren mit Schmerzempfindlichkeit und Leidensfähigkeit (Pathozentrismus, Kap. 3.2.1) oder gegenüber Pflanzen aufgrund ihres zweckgerichteten Gedeihens und Wohlergehens (Biozent‐ rismus, Kap. 3.2.2) direkte moralische Pflichten haben. Auch diese als moralisch relevant geltenden Eigenschaften scheinen einen eigenständigen moralischen Status und eine genuine moralische Schutzwürdigkeit begrün‐ den zu können. Leidensfähige Tiere oder verletzliche Pflanzen verdienen dann unabhängig von menschlichen Bedürfnissen und Interessen um ihrer selbst willen moralische Rücksichtnahme. Diese Argumentationsstrategie basiert insofern auf einem anthropogenen Wertkonzept, als es Menschen sind, die den Lebewesen oder nicht lebendigen Objekten der Natur Werte oder einen moralischen Status zuschreiben (vgl. Potthast 2011, 294; Krebs, 343): Menschliche Moralsubjekte versuchen mit Argumenten darzulegen, aufgrund welcher moralisch relevanter Eigenschaften bestimmten Entitäten 168 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="169"?> moralischer Wert zukommt. Es liegt dann ein Wertanthropozentrismus, genauer ein epistemisch-anthropozentrischer Physiozentrismus vor. Wertphysiozentrismus Viele Physiozentriker schlagen aber den entgegengesetzten Weg von außen nach innen ein und erkennen in einem ersten Schritt sämtliche Entitäten als mögliche Mitglieder der Moralgemeinschaft an (vgl. Ott u. a., 13). Gefragt wird daraufhin, aus welchen Gründen bestimmte Wesen aus dieser Moralge‐ meinschaft überhaupt ausgeschlossen werden dürfen. Argumentativ wird die Schutzwürdigkeit aller Entitäten häufig durch eine absolute Wertordnung in der Natur begründet, weshalb Krebs von „absoluten Argumenten“ spricht (vgl. 347): Im Gegensatz zum Wertanthropozentrismus gehen physiogene Wertkonzepte bzw. Wertphysiozentriker von absoluten Werten in der Natur aus, die von der wertenden und argumentierenden Tätigkeit von Menschen völlig unabhängig sind. Gemäß der Position eines ethischen oder moralischen Realismus ist eine normative Aussage dann wahr, wenn sie mit bestimmten moralisch relevanten Tatsachen übereinstimmt (vgl. Ethik, Kap. 5.2). Dabei wird meist ein Intuitionismus vorausgesetzt, weil von der Möglichkeit einer intuitiven menschlichen Erkenntnis der real existierenden Werthaftigkeit in der Welt ausgegangen wird. Eine solche Haltung trifft man bei Vertretern des Biozentrismus und vor allem bei der radikalsten physiozentrischen Posi‐ tion des Holismus (3.2.3) an, derzufolge auch alles leblos Existierende wie Felsen oder Gewässer moralisch zu berücksichtigen ist. Statt vom Kern einer zwischenmenschlichen Moral zur Peripherie einer umfassenden Naturethik vorzustoßen, soll beim umgekehrten Weg von außen nach innen also die erkennbare Wertordnung der Natur dem menschlichen Handeln einen Ori‐ entierungsrahmen vorgeben. Angesichts der akuten Bedrohung zukünftigen menschlichen Lebens auf der Erde und der gesteigerten Belastungen für Tiere in der industriellen Massentierhaltung scheint sich die Beweislast allmählich von der ersten zur zweiten Sicht- und Herangehensweise zu verschieben: Nicht mehr diejenigen tragen die Beweislast, die eine Veränderung wollen und die Anerkennung des Selbstwerts der Natur fordern, sondern diejenigen, die auf dem traditionellen anthropozentrischen Standpunkt verharren (vgl. H. Grimm u. a., 111). 169 3.2 Physiozentrismus <?page no="170"?> Physiozentrische Naturethik: Die außermenschliche Natur ist „an sich“ wert‐ voll und hat unabhängig vom Menschen einen eigenständigen moralischen Wert. → Die Natur hat intrinsischen Wert oder Selbstwert. moralisch relevante Eigenschaften im Anthropozentrismus moralisch relevante Eigenschaften im Physiozentrismus - Vernunft und Selbstbestimmung Problem: - auch Tiere verfügen über diese Ei‐ genschaften → Speziezismus-Vorwurf - nicht alle Menschen verfügen dar‐ über (Marginal cases-Argument) - Schmerz-/ Leidensfähigkeit → Pathozentrismus (Kap. 3.2.1) - Leben → Biozentrismus (Kap. 3.2.2) - Existenz → Holismus (Kap. 3.2.3) Wertanthropo‐ zentrismus Wertphysiozent‐ rismus Menschen spre‐ chen der Natur Wert zu Existenz absoluter Werte in der Natur (=moralischer Realismus) 3.2.1 Pathozentrismus und Sentientismus Die moderateste Variante des Physiozentrismus ist der Pathozentrismus (von griechisch „pathos“: „Schmerz, Leid“), der in der Schmerz- oder Lei‐ densfähigkeit die entscheidende moralisch relevante Eigenschaft erblickt. Es ist in der philosophischen Ethik weitgehend unbestritten, dass Menschen die negative Pflicht haben, niemandem zu schaden und insbesondere niemandem Leid zuzufügen (vgl. Ethik, 221 f.). Ein Wesen, das Leid oder Schmerzen empfinden kann, muss daher um seiner selbst willen moralisch berücksichtigt werden und hat einen eigenständigen moralischen Status und Selbstwert. Re‐ volutionär und für die moderne Tierethik wegbereitend waren die Reflexionen des Utilitaristen Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert in Bezug auf Tiere: „Die Frage ist nicht: können sie denken? Oder können sie sprechen? , sondern können sie leiden? “ (Bentham: Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, Kap. 17, § 1, zitiert nach Singer 1994, 84). Wenn nicht nur Men‐ schen, sondern auch Tiere oder sogar Pflanzen Leid oder Schmerz empfinden können, gibt es keinen rationalen Grund, die empfindungsfähige Natur aus der moralischen Gemeinschaft auszuschließen. In Peter Singers Worten: „Wenn 170 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="171"?> ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich zu weigern, diese Leiden zu berücksichtigen“ (Singer 1994, 85). Während die anthropozentrische Ethik das Trennende zwischen Menschen und Tieren in den Vordergrund rückt, betonen Pathozentriker also das Gemeinsame zwischen ihnen. Fast alle Pathozentriker wählen diese epistemisch-anthropo‐ zentrische Ausdehnungsstrategie, auch Extensionsmodell genannt (vgl. H. Grimm u. a., 52). Dieses wird meist kombiniert mit einem moralischen Individualismus, bei dem nicht allen Angehörigen einer Art der gleiche moralische Status zugesprochen wird, sondern die einzelnen Individuen einer Art auf moralisch relevante Eigenschaften geprüft werden (vgl. ebd.). Unter dem Aspekt der Leidensfähigkeit sind die Unterschiede zwischen einem Menschen und einem Affen viel geringer als diejenigen zwischen einem Affen und einer Bakterie. Pathozentrismus: Alle leidensfähigen Lebewesen haben einen moralischen Status und Selbstwert. moralisch relevante Eigenschaft: Schmerz- und Leidensfähigkeit Ausdehnungsargument (Extensionsmodell): Wenn bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten wie die Leidensfähigkeit den moralischen Status der bisherigen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft begründen, müssen alle Wesen mit vergleichbaren Eigenschaften ebenfalls in diese aufgenommen werden. moralischer Individualismus: Die Zuschreibung des moralischen Status erfolgt an einzelne Individuen einer Art, sofern diese bestimmte moralisch relevante Eigenschaften besitzen. Bezüglich der genauen Ausweitung des Kreises der moralischen Gemeinschaft gibt es keine Einigkeit unter Pathozentrikern. Sie hängt teilweise von empi‐ rischen Fragen über das Vorliegen der Voraussetzungen für Schmerz- und Leidensfähigkeit bei einzelnen Tierarten ab, die in den Naturwissenschaften noch nicht hinlänglich geklärt sind. Die meisten Pathozentriker haben v. a. Wirbeltiere mit ihrem hochkomplexen Gehirn oder allenfalls noch Kopffüßer wie Tintenfische im Auge, die auch im Deutschen Tierschutzgesetz teilweise besonders geschützt werden (vgl. Ach 2018, 29). Auf einer neurophysiologischen Ebene setzt Schmerzfähigkeit ein zentrales Nervensystem und spezialisierte Schmerzzellen voraus, die nach einer erlittenen Verletzung Signale an das Ge‐ hirn weiterleiten (vgl. Wild, 38). Nur wenige primitive Tierarten besitzen keine Nervenzellen und kein Nervensystem. Insekten und Würmer beispielsweise haben ein Gehirn, aber kein ausgebildetes Zentralnervensystem wie Wirbeltiere. 171 3.2 Physiozentrismus <?page no="172"?> Bezüglich Fischen und Gliederfüßer wie Krabben steht aufgrund neuerer Forschungen inzwischen fest, dass diese trotz eines ganz anders gestalteten und weniger komplexen Gehirns als bei Säugetieren gleichfalls Schmerzen empfinden können (vgl. ebd., 38f.). Höherentwickelte schmerzempfindliche Tiere können über physische Schmerzen hinaus noch psychische Leidenszu‐ stände wie Angst oder Stress empfinden, wenn sie sich beispielsweise vor etwas fürchten oder sich unfähig fühlen, eine Situation zu bewältigen. Aufgrund der großen Übereinstimmung in der physiologischen Ausstattung lässt ein bestimmtes tierliches Ausdrucksverhalten dann zweifellos den Analogieschluss von menschlichen auf tierliche Schmerzempfindungen zu: Auch Tiere schreien, zittern, haben Schweißausbrüche oder versuchen zu fliehen wie Menschen, wenn ihnen Schmerz zugefügt wird. Aber sogar Pflanzen rücken in jüngerer Zeit als Kandidaten einer pathozentrischen Ethik ins Blickfeld, obgleich die Reize hier ohne Nervensystem auf (photo)chemische Weise weitergeleitet werden (vgl. Brenner 2014, 138). Statt von „Pathozentrismus“ wird manchmal auch von „Sentientismus“ gesprochen, zu lateinisch „sentire“: „fühlen“. Strenggenommen handelt sich aber nicht um Synonyme, weil im Sentientismus neben negativen auch positive Empfindungen berücksichtigt werden (vgl. Meyer, 483; H. Grimm u. a., 72). Dadurch ergibt sich eine konzeptuelle Nähe zum Utilitarismus mit seinem moralischen Prinzip, Lust oder Freude zu maximieren und Leid zu minimieren (vgl. Ethik, 93). Der Sentientismus ist also insofern die anspruchs‐ vollere Variante, als sie nicht wie der Pathozentrismus von Menschen lediglich erwartet, bestimmte schmerzverursachende Handlungen gegenüber Tieren zu unterlassen, sondern darüber hinaus aktiv etwas für die Vermehrung ihres Wohlbefindens zu tun: Über negative Pflichten gegenüber leidensfähigen Tie‐ ren gemäß dem Prinzip der Schadensbegrenzung („non-maleficence“) hinaus werden Menschen noch positive Pflichten zur Förderung ihres Wohls gemäß dem Prinzip des Wohltuns („beneficence“) auferlegt (vgl. Ach 2018, 29). In der Ethik ganz allgemein sind zwar im Gegensatz zu negativen Unterlassungs‐ pflichten die Grenzen positiver Hilfspflichten umstritten, sofern diese über das aktive Befreien aus existentiellen Notlagen hinausgehen (vgl. Ethik, 222). Dem Pathozentrismus wird aber in tierethischen Debatten häufig die Verengung auf das tierliche Interesse an Schmerzvermeidung vorgeworfen. Denn deren Leben kann offensichtlich noch auf ganz andere Weise beeinträchtigt werden (vgl. Kalhoff u. a., 415). Zumindest gegenüber domestizierten Tieren haben Menschen daher nach weithin geteilter Auffassung auch positive Pflichten v. a. bezüglich der Haltungsbedingungen (vgl. Ach 2018, 29; Kap. 3.3). Beim 172 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="173"?> Umgang mit Wildtieren hingegen ist es höchst umstritten, ob Menschen Beutetiere vor einer grausamen Behandlung durch Raubtiere schützen oder ihnen institutionalisierte Krankendienste anbieten sollten (vgl. Krebs, 351; Kap. 3.3). Pathozentrismus Sentientismus moralisch relevant: Leid und Schmerz moralisch relevant: Freude und Leid negative Pflichten: keinen Schaden zufügen zusätzlich positive Pflichten: Wohlbefinden fördern Offenheit für verschiedene Theorien Der Pathozentrismus muss sich bisweilen den Vorwurf eines Sein-Sol‐ len-Fehlschlusses gefallen lassen, weil scheinbar aus der empirisch-deskrip‐ tiven Tatsache der Leidensfähigkeit die ethische Norm der Vermeidung von Schmerz abgeleitet wird (vgl. Mayr, 96 f.). Nach der vorherrschenden Begriffsverwendung ist ein Schmerz aber als Empfindung definiert, die anders als z. B. eine bloße Wahrnehmung mit einer negativen Bewertung und einem negativen Gefühl des Widerwillens einhergeht (vgl. Ach 2018, 30; Krebs, 348). Solche Missempfindungen gehören in dem Sinn zur „Natur“ des Menschen, als man sie nicht unterdrücken oder als angenehm erleben kann. Sie gehen meist nicht auf einen Entschluss in der Vergangenheit zurück und sind auch selten anerzogen, sondern haben in diesem Sinn einen „Widerfahrnischarakter“ (vgl. Krebs, ebd.). Schmerz und Leid beein‐ trächtigen die physische Integrität und stellen damit ein Übel dar für die betroffenen Lebewesen. Es handelt sich genauso um deskriptiv-evaluative Doppelbegriffe (zu „evaluativ“: „wertend“) wie bei „Krankheit“. Direkte Pflichten gegenüber empfindungsfähigen Lebewesen lassen sich sowohl utilitaristisch als auch deontologisch oder im Rahmen einer Mitleidsethik begründen. Obwohl viele Vertreter des Pathozentrismus oder Sentientismus Utilitaristen sind, liegt eine Offenheit für verschiedene Moraltheorien vor (vgl. Ach 2018, 31). Für die Kantianerin Christine Korsgaard beispielsweise sind alle Lebewesen „Zwecke an sich selbst“ und haben einen inhärenten Wert, weil ihr Leben für sie bedeutsam bzw. ein Gut ist (vgl. Korsgaard, 90 f.). Mit Bezug auf Aristoteles beschreibt sie Lust und Schmerz als wertgebun‐ dene, an diesem Guten orientierte Reaktionen (vgl. ebd., 206 f.; 211 f.). Der Utilitarist und Sentientist Peter Singer hingegen, der mit seinem Buch Animal Liberation (1975) die moderne Tierethik begründete, vertritt einen 173 3.2 Physiozentrismus <?page no="174"?> interessenorientierten Ansatz, den sogenannten Präferenzutilitarismus, bei dem nicht wie im klassischen Utilitarismus Empfindungen, sondern stabile Interessenlagen oder „Präferenzen“ ins Nutzenkalkül einfließen. Genauso wie Menschen haben auch Tiere ein wesentliches und elementares Interesse an Leidensfreiheit, das daher in gleicher Weise zu beachten ist (vgl. Singer 1994, 85). Da aber nur vergleichbare Leidenszustände gleich zu be‐ rücksichtigen sind, bedeutet dies nicht automatisch eine Gleichbehandlung von Menschen und Tieren. Denn Menschen können aufgrund ihrer Reflexi‐ onsfähigkeit oder ihrer zukunftsbezogenen Interessen z. B. bei bestimmten Experimenten mehr leiden als Tiere (vgl. ebd., 87). Singers moralischer Indi‐ vidualismus führt aber insofern zu problematischen Konsequenzen, als nicht nur Tiere wie Affen mit Rationalität und Bewusstsein moralisch gleich zu behandeln sind wie Menschen, sondern Menschen ohne Empfindungen wie Komatöse nicht anders als empfindungslose Lebewesen (vgl. ebd., 97). Ein weiterer, den Utilitarismus insgesamt betreffender Kritikpunkt lautet, dass Freude und Leid verschiedener Lebewesen miteinander verrechnet werden können und die Einzelnen durch das utilitaristische Moralprinzip somit nicht vor Leidzufügungen geschützt sind (vgl. Wolf 1999, 48; Korsgaard, 208). Einen nochmals anderen Zugang zum Pathozentrismus wählt die Mit‐ leidsethik, die auf das Mitgefühl mit dem Leid anderer Menschen oder Tiere setzt. Nach Arthur Schopenhauer ist die Anteilnahme an negativen Gefühlen anderer Lebewesen die einzige echte moralische Triebfeder des Menschen (Schopenhauer, §16). Er sah es als klaren Vorzug seiner Mitleids‐ ethik an, dass sie „auch die Tiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den anderen europäischen Moralystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist“ (§19). Anders als beim utilitaristischen Nutzenkalkül zählt hier jedes Individuum als solches. Außerdem können nicht nur Schmerzen eines Tieres, sondern auch schlechte Lebensbedingungen Mitleid erregen und so direkt zum Handlungsmotiv werden. Genauso wie gegen jede andere Form einer Gefühlsethik richtet sich die Hauptkritik aber darauf, dass das faktisch vorhandene Mitgefühl unzuverlässig, parteiisch und subjektiv ist (vgl. Ethik, 246; Kap. 3.1.3). Schopenhauer weist selbst darauf hin, dass das Ausmaß an Mitleid charakterbedingt und angeboren ist (vgl. §20). Zudem scheint es bei knuddeligen oder exotischen Tierexemplaren größer zu sein. Nach Schopenhauer kommt es aber genau besehen weniger auf das einzelne faktische Gefühl an als darauf, durch Überlegung eine andauernde Haltung des Mitleids auszubilden (vgl. § 17). Daran knüpft im 20. Jahrhundert Ursula Wolf in ihrer tierethischen Studie Das Tier in der 174 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="175"?> Moral an und spricht von einem generalisierten oder universalisierten Mitleid (vgl. Wolf 1999, 75; 85). Das natürliche Mitleid, das man mit ähnlichen Wesen verspürt, bildet nur die „motivationale Basis, die auf alle Wesen ausgedehnt wird, die leiden können“ (97). Daraus entwickle sich die allgemeine Haltung und Norm, auf das Leid der Tiere Rücksicht zu nehmen (vgl. ebd., 51 f.). Aus begründungslogischer Sicht wird kritisiert, dass es keinen sukzessiven Übergang von einem faktischen Gefühl durch „Ausdehnung“ zu einem universellen Sollen gibt und man „dem Mitleid die Universalität nicht einfach aufpfropfen kann“ (Tugendhat, 186). Ein qualitativer „Sprung“ scheint letztlich durch eine intellektuelle Leistung und die Einsicht ermöglicht zu werden, dass Leiden für alle Lebewesen schlecht ist. Eine weitere Vertreterin in der modernen Tierethik, Josephine Donovan, stellt ins Zentrum ihrer Mitleids- und Fürsorgeethik das Mitgefühl, das im philosophischen Verständnis ein Mitempfinden sowohl negativer als auch positiver psychischer Zustände anderer umfasst. Sie charakterisiert es als emotionale und intellektuelle Leistung, die sich universalisieren lässt und zu einer dauerhaften moralischen Einstellung führt (vgl. Donovan, 113 f.). Deontologische Ethik: Alle Lebewesen sind „Zwecke an sich selbst“ und haben einen intrinsischen Wert, weil ihr Leben für sie bedeutsam ist. Utilitarismus: Diejenige Handlung ist ethisch richtig, die den größtmöglichen Nutzen für alle Betroffenen (Tiere genauso wie Menschen) verspricht. Klassischer Utilitarismus: Nutzen = Maximum an Lust, Minimum an Leid Präferenz-Utilitarismus: Nutzen = Erfüllung von Präferenzen Problem: es zählt nur der Gesamtnutzen, kein Schutz der einzelnen Leidenden vor Schadenszufügung → Einzelne können für das Gesamtwohl „geopfert“ werden Mitleidsethik: Diejenige Handlung ist ethisch richtig, die dem Mitleid entspringt. Problem: natürliches, faktisch vorhandenes Mitleid ist zufällig, subjektiv und parteiisch universalisiertes Mitleid: Ausweitung des spontan vorhandenen Mitleids auf eine andauernde Haltung des Mitleids mit sämtlichen schmerzempfindlichen Wesen Problem: Übergang vom faktischen zum generalisierten Mitleid unklar 175 3.2 Physiozentrismus <?page no="176"?> 3.2.2 Biozentrismus Wie der griechische Begriff „bios“ („Leben“) bereits anzeigt, stellt der Biozentrismus als das entscheidende Kriterium für moralische Berück‐ sichtigung das Leben ins Zentrum (vgl. Engels, 161; Kallhoff, 85). Der Kreis der moralischen Objekte wird somit auf alle Lebewesen ausgeweitet. Aufgrund ihrer Eigenschaft, lebendig zu sein, haben Tiere, Pilze, Pflanzen und Bakterien aus biozentrischer Sicht einen inhärenten oder intrinsi‐ schen Wert und sind daher um ihrer selbst willen schützenswert. Einer der bekanntesten frühen Biozentriker, der Theologe und Philosoph Albert Schweitzer, beschreibt die Erkenntnis von der Werthaftigkeit allen Lebens wie eine göttliche Offenbarung und versteht seine Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben als Wiederholung der Botschaft des Heiligen Franz von Assisi (vgl. Schweitzer, 33 f; 27). Da nach dieser Position absolute Werte in der Natur vorgegeben sind und von Menschen intuitiv erkannt werden können, handelt es sich um einen Wertphysiozentrismus und Intuitionismus (vgl. S. 169). Aus philosophisch-wissenschaftlicher Sicht sind Schweitzers mysti‐ fizierende, auf starken metaphysischen Prämissen basierende Vorstellungen vom Leben „kaum akzeptabel“ (Birnbacher 2006, 226). Demgegenüber fällt es von der Warte eines Wertanthropozentrismus aus mit Blick auf Pflanzen weit schwerer als beim Pathozentrismus in Bezug auf leidensfähige Tiere, genau anzugeben, aufgrund welcher moralisch relevanter Eigenschaften alles Lebendige um seiner selbst willen zu berücksichtigen ist. Wenn in der Biologie das Leben durch Merkmale wie Stoffwechsel, Selbstregulation (z. B. Selbstreperatur bei Beschädigung), Selbstreproduktion, Wachstum und Reizbarkeit charakterisiert wird, mag es als willkürlich erscheinen, wieso ge‐ nau diese Kriterien einen besonderen moralischen Status begründen sollen und nicht z. B. Komplexität und Effizienz, die auch Artefakten zukommen (vgl. Krebs, 355 f.). Vertreter biozentrischer Positionen führen aber häufig noch weitere Eigenschaften auf, die dem Leben einen intrinsischen Wert verleihen: allen voran etwa Zielgerichtetheit, subjektives Wohl, Interessen oder gutes Leben, die im Folgenden diskutiert werden (vgl. Ott u. a., 12; Brenner 2016, 217; Kallhoff, 85). Biozentrische Naturethik: Alle Lebewesen haben einen eigenständigen mora‐ lischen Wert. moralisch relevante Eigenschaft: Leben als solches oder bestimmte Merkmale wie Zielgerichtetheit, Interessen, Wohl oder gutes Leben 176 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="177"?> Teleologische Argumente Einige Biozentriker wie Hans Jonas sehen einen Grund für die gegenwär‐ tige ökologische Krise im heute vorherrschenden naturwissenschaftlichen objektivierenden Naturverständnis, weshalb sie eine Rehabilitation von Metaphysik und Teleologie fordern (vgl. 1979, 94; 141). Dabei geht es allerdings nicht um eine transzendente Teleologie als umfassende, auf einen letzten unbewegten Beweger zurückgehende teleologische Ordnung, die mit einem naturwissenschaftlichen Weltbild unvereinbar ist. Gemeint ist lediglich eine schon von Aristoteles postulierte immanente Teleologie (zu griechisch „telos“: „Ziel“) im Sinne inhärenter Entwicklungsziele in der belebten Natur. Die Ethik soll sich nicht auf eine göttliche Autorität gründen, sondern „durch ein in der Natur der Dinge entdeckbares Prinzip begründet werden“ ( Jonas 1973, 342). Zumindest ein schwacher Begriff einer immanenten Teleologie von Lebewesen lässt sich naturwissenschaftlich mit Verweis auf den Stoffwechselhaushalt stützen, den auch Tiere und Pflanzen zugunsten der Selbsterhaltung und der Entfaltung ihrer Eigenschaften modifizieren können (vgl. Kallhoff, 93; Jonas 1979, 173 f.). Es handelt sich dann aber strenggenommen um eine „Teleonomie“ als beobachtbare innere Zweckmäßigkeit ohne Verfolgung höherer Zwecke. Für Jonas steht fest, „dass die Natur Werte hegt, da sie Zwecke hegt und daher alles andere als wertfrei ist.“ ( Jonas, 150) Hier liegt ein Wertphysiozentrismus vor, weil lebende Organismen im Vollzug des Lebendigseins Werte setzen. Auch nach Holmes Rolston generieren lebende Organismen Werte, indem sie selektiv auf Umweltreize reagieren: „ein x ist werthaft, wenn x fähig ist, Werte zu erzeugen“ (Rolston 1997, 267). Problematisch wird dieser methodische Weg von außen nach innen, wenn es sich dabei um absolute Werte handelt, die direkte moralische Pflichten der Menschen gegenüber der Natur begründen sollen. Bei Jonas’ starkem Begriff von Naturteleologie fällt das faktische „Ist“ mit einem „Sollen“, d. h. einem moralischen Anspruch zusammen. Dieser sei wie z. B. beim Anblick des bloßen Atmens eines Babys direkt ablesbar, also intuitiv erkennbar: „Sieh hin und du weißt“ (1979, 235 f.). Kritisch lässt sich gegen dieses Beispiel einwenden, dass hier nur ein elementarer Bruttrieb des Menschen zum Ausdruck kommt. Aus anthropozentrischer Sicht kann es absolute moralische Werte in der Natur grundsätzlich nicht geben, wenn dafür nicht klare Kriterien angegeben werden und der Mensch aus seiner Wertperspektive „böse“ oder „ungerechte“ Werte zurückweisen kann (vgl. Krebs, 359). 177 3.2 Physiozentrismus <?page no="178"?> Das biozentrische teleologische Argument lässt sich aber auch auf dem Weg von innen nach außen als Ausdehnungsargument rekonstruieren (vgl. Krebs, 352): In der anthropozentrischen Ethik gelten wie gesehen die In‐ teressen und das Wohl der vom Handeln Betroffenen als die entscheidenden moralischen Hinsichten (vgl. Kap. 1.1). Für das menschliche Wohlergehen wird es allgemein als wichtig erachtet, das eigene Leben gemäß den eigenen Zielen oder Zwecken leben zu können. In Paul Taylors Darstellung sind sämtliche Organismen, also auch Pflanzen, „teleological centres of life“ (1989, 12). Moralisch relevant ist ihm zufolge aber nicht das Leben mit seiner teleologischen Struktur, sondern die Fähigkeit aller Lebewesen, ein eigenes „Wohl“ haben zu können, das befördert oder behindert werden kann. Ein Wohl liege bei einem nichtmenschlichen individuellen Organismus in dem Maß vor, als es stark und gesund ist und seine biologischen Funktionen auf artspezifische Weise entfaltet (vgl. 1997, 114). Als Orientierungsmaßstab dient dabei die jeweilige Spezies mit den verschiedenen Stadien eines normalen Lebenszyklus. Auch nach Robin Attfield kommt Lebewesen mit einem eigenen Wohlergehen ein moralischer Status zu (vgl. Attfield, 124). Gegenüber der Bezeichnung „Wohl“ hat der eng verwandte Begriff des „Gedeihens“ den Vorzug, dass er anders als jener nicht auf einen Zustand, sondern eine Entwicklung Bezug nimmt (vgl. Kallhoff, 22 f.): Gemäß Angela Kallhoff ist das Gedeihen („flourishing“) das gute Leben einer Pflanze, wodurch die Nähe zu gegenwärtigen naturalistischen, neoaristotelischen Theorien des guten menschlichen Lebens hervortritt (vgl. ebd., 22 f.). Wäh‐ rend das Wohl oder Wohlergehen von Tieren sich durch artgerechte Haltung fördern lässt, hängt das Wohl oder Gedeihen von Pflanzen von Bewässerung und Nährstoffzufuhr, Licht- und Temperaturverhältnissen ab. Wenn Tiere oder Pflanzen in stressarmer Umgebung artgemäß gefördert werden, ent‐ wickeln sie sich zu reifen, starken und gesunden Organismen, die erfolgreich mit ihrer Umwelt zurechtkommen (vgl. Taylor 1997, 114). Nach Taylor werden Werte aber nicht von den Lebewesen selbst in den Lebensprozessen hervorgebracht, sondern müssen ihnen im Sinne des Wertanthropozent‐ rismus von Menschen zugesprochen werden. Gleichwohl handelt es sich um inhärente Werte, weil die Verwirklichung ihres Wohls unabhängig von menschlichen Interessen als gut eingeschätzt wird (vgl. 1989, 75). Die in der biozentrischen Ethik beliebten Begriffe wie „Wohl“ oder „Gedeihen“ weisen einen deskriptiv-evaluativen Doppelcharakter auf (vgl. Vieth, 168; Kallhoff, 13). Man hofft, auf diese Weise den Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses abwenden zu können Der Haupteinwand 178 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="179"?> gegen diese Ausdehnungsstrategie lautet aber, dass es wesentliche Unter‐ schiede zwischen dem „Wohlergehen“, dem „guten Leben“ oder „Zwecken“ von Menschen und Pflanzen gibt und die Analogie daher irreführend ist. Krebs unterscheidet zwischen subjektiven oder praktischen Zwecken zur Orientierung des menschlichen Handelns und funktionalen Zwecken eines ereignishaften Geschehens z. B. bei einem Thermostat oder selbstlern‐ enden Computer (vgl. Krebs, 353 f.). Nur praktische Zwecke seien moralisch relevant und erforderten Respekt vor dem, woran anderen liegt. Um sich selbst Ziele setzen zu können, sind aber mentale Fähigkeiten und ein Selbst‐ bewusstsein erforderlich, die nur Menschen und höhere Tiere besitzen. Bei Pflanzen erfolgen die Strategien der Anpassung an die Umweltbedingungen zum Zweck des Gedeihens nicht über eine reflektierte Steuerung, sondern über genetisch festgelegte Programme, die durch eine chemische Signaler‐ kennung von Umweltreizen aktiviert werden (vgl. Kallhoff, 68 ff.). Indem bei Pflanzen kein intentionales Streben nach der Verwirklichung eines guten Le‐ bens und kein bewusstes Bewerten ihres Lebens vorliegt, ist das pflanzliche „Wohl“ zweifellos ein anderes als das menschliche. Häufig wird die Analogie aber über die Umweltbedingungen hergestellt, weil Pflanzen genauso wie Menschen offenkundig durch anthropogene Einflüsse Schaden nehmen können. Menschen können allerdings auch Dingen oder Maschinen mit funktionalen Zwecken erheblichen Schaden zufügen. Dennoch schreiben wir Autos oder Computern keinen moralischen Status zu und respektieren sie nicht um ihrer selbst willen, wenn sie unseren Zwecken zuwiderlaufen (vgl. Krebs, 354). Die Art der Schädigung könnte gleichwohl eine andere sein, wenn Autos dringend Benzin oder eine Wäsche benötigen, als wenn Pflan‐ zen dringend Wasser brauchen. Nur bei Zielgerichtetheit kann ein „Wohl“ im abgeschwächten Sinn geschädigt werden, nicht aber bei PKWs mit einem bloß von Menschen vorgegebenen (Verwendungs-)Zweck. Die Unterschiede zwischen selbstgewählten praktischen Zwecken, genetisch vorgegebenen immanenten Zwecken und von außen festgesetzten funktionalen Zwecken scheinen moralisch relevant zu sein. Interessenorientierter Ansatz Bei der Frage nach der moralischen Relevanz von Zwecken macht es aber auch einen Unterschied, ob einer Entität wie einem Auto oder einer Pflanze innerlich „an etwas liegt“ oder nicht. Dies führt direkt zum Problem eines biozentrischen interessenorientierten Moralkonzeptes: Wie erwähnt bezieht sich die zweite relevante Hinsicht moralischen Handelns neben 179 3.2 Physiozentrismus <?page no="180"?> dem Wohl der Betroffenen auf deren Interessen. Dem Pathozentrismus gelingt die Ausweitung des Kreises der moralischen Gemeinschaft auf Tiere, indem auf ihre Interessen an Schmerzfreiheit hingewiesen wird. Nach Joel Feinbergs Interesse-Prinzip kann man einem Ding oder Lebewesen ohne Interessen aber weder Leid zufügen noch Gutes tun (vgl. Feinberg, 151). Da Pflanzen und wenig entwickelte Tiere kein (konzentriertes) Nervensystem und kein Bewusstsein haben, können sie weder Freude noch Schmerz empfinden. So gesehen wäre es einer Zimmerpflanze egal, wenn man sie im Sommerurlaub verkümmern lässt (vgl. ebd., 153). Aus Feinbergs Sicht hat sie kein Recht bzw. keinen moralischen Anspruch, begossen zu werden (vgl. 151). Biozentriker wie Taylor wenden dagegen ein, Menschen könnten sehr wohl „im Interesse eines Wesens oder gegen sein Interesse handeln, ohne dass es selbst ein Interesse dafür“ aufbringen muss (1997, 114). Wenn Pflanzen Interessen zugesprochen werden und dies mehr als eine metaphorische Redeweise sein soll, müsste jedoch ein subjektiver von einem objektiven Interessenbegriff unterschieden werden (vgl. Vieth, 166; Ott u. a., 13): Im Gegensatz zu bewussten „subjektiven“ oder „starken Interessen“ liegt ein objektives oder schwaches Interesse an etwas schon vor, wenn etwas objektiv betrachtet „im Interesse“ der jeweiligen Entität ist. Diese Zuschreibung setzt Entitäten voraus, die in irgendeiner Form und von innen heraus nach etwas streben wie z. B. Wohl, Schmerz- oder Stressfreiheit. Auch der Begriff Stress wird allerdings im biologischen Zu‐ sammenhang in einem schwächeren, nichtpsychologischen Sinn verwendet und als „außergewöhnlicher, zeitlich begrenzter Belastungszustand eines biologischen Systems“ definiert (Kallhoff, 55). Inwiefern auch bei Pflanzen Sensitivität oder gar absichtsvolles Verhalten vorliegen, wird in Biologie noch erforscht (vgl. dazu Brenner 2014, 212 f.). Sicherlich sind „Stress“ und „Interessen“ von Pflanzen in einem biologischen oder schwachen Sinn aber etwas anderes als psychische Leidensfähigkeit und starke Interessen von Menschen und Tieren, sodass sie kaum den gleichen moralischen Status begründen können. 180 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="181"?> Biozentrismus als Wertanthropozentrismus Moralischer Standpunkt: Ethisch richtig ist diejenige Handlung, bei der die Interessen oder das Wohl aller Betroffenen angemessen berücksichtigt werden. → Rücksicht auf Wohl, Gedeihen, objektive Interessen aller Lebewesen Problem: relevante Unterschiede Menschen, höhere Tiere Pflanzen, niedere Tiere Wohl/ gutes Leben: Erfüllung selbst‐ gesetzter Ziele Wohl/ Gedeihen: Entfaltung biologi‐ scher Fähigkeiten nach genetischem Programm Subjektive Interessen mit bewussten Bewertungen und Empfindungen Objektive Interessen: etwas liegt ob‐ jektiv gesehen im Interesse einer Entität ohne Bewusstsein Hierarchischer und egalitärer Biozentrismus Die biozentrische Position scheint am überzeugendsten, wo nicht das Leben als solches, sondern das Wohl oder zweckgerichtete Gedeihen der Lebewe‐ sen als moralisch relevante Eigenschaft betrachtet wird. Eine Ausweitung des Kreises moralischer Objekte über die Menschen hinaus lässt sich mit dem Ausdehnungsargument begründen. Es besagt, dass das Verfolgen von Zwecken und das Wohlergehen auch bei nichtmenschlichen Lebewesen moralisch zu berücksichtigen ist. Das pflanzliche Wohl oder Gedeihen stellt einen inhärenten Wert dar und kann durch menschliche Einflüsse gefördert oder behindert werden, sodass es Gegenstand einer ethischen Beurteilung sein muss (vgl. Kallhoff, 125). Da es aber wie gesehen durchaus moralisch relevante Unterschiede zwischen einem bewussten Wohl/ subjektiven Inter‐ essen von Menschen/ höheren Tieren und einem bewusstseinsunabhängigen Wohl/ objektiven Interessen von Pflanzen/ niedrigen Tieren gibt, muss der moralische Status nicht gleich sein. Gemäß der Position des hierarchischen Biozentrismus haben zwar alle Lebewesen einen intrinsischen Wert oder Selbstwert, aber dieser ist von vornherein abgestuft (vgl. Engels 161; Kall‐ hoff, 128). Vertreter einer solchen Position sind explizit Attfield, implizit aber auch Jonas (vgl. Attfield, 130 ff.; Jonas 1979, 156). Im egalitären Biozentrismus hingegen haben alle Lebewesen den gleichen Selbstwert und moralischen Status, sodass das Wohl z. B. von Sträuchern, Ameisen und Menschen in gleichem Maße zu berücksichtigen ist. Ein solcher Standpunkt wird etwa von Schweitzer und Taylor vertreten (vgl. Taylor 1979, 156). Den 181 3.2 Physiozentrismus <?page no="182"?> Hauptkritikpunkt am egalitären Biozentrismus, dass er gar nicht lebbar ist, hat aber Schweitzer selbst in folgender Passage veranschaulicht: Du gehst auf einem Waldpfad, die Vögel singen; tausend Insekten summen froh in der Luft. Aber dein Weg, ohne dass du etwas dafürkannst, ist Tod. Da quält sich eine Ameise, die du zertreten, dort ein Käferchen, das du zerquetscht, dort windet sich ein Wurm, über den dein Fuß gegangen. (Schweitzer, 35) Es ist also in pragmatischer Hinsicht unmöglich, in biozentrischem Respekt vor allen Lebewesen zu leben und kein nichtmenschliches Leben zu ver‐ letzen. Schon bei elementaren menschlichen Lebensvollzügen wie bei der Fortbewegung oder der Behandlung von Infektionskrankheiten sind wir gezwungen, Lebewesen zu töten. Weil in der Ethik ein verpflichtendes normatives „Sollen“ immer ein faktisches „Können“ voraussetzt, wäre das Gebot eines umfassenden Lebensschutzes auch theoretisch unbefriedigend (vgl. Eser 2003, 347; Ethik, 256). Angesichts dieser praktischen Schwierigkeiten formulieren egalitäre Bio‐ zentriker typischerweise nur vage „Prima facie“-Prinzipien wie Achtung oder Ehrfurcht vor dem Leben. Solche Prima-facie-Pflichten gelten „auf den ersten Blick“ (lat. „prima facie“) und nur so lange, bis ein rationaler Grund für eine andere moralische Verpflichtung auftaucht. Auch Schweitzer und Taylor sind sehr vorsichtig bei der Zuschreibung von Rechten an Pflanzen und Tieren und bei der Bestimmung konkreter Normen (vgl. Taylor 1989, 226-255). Damit der „Egalitarismus“ (von „Egalität“: „Gleichheit“) angesichts der ständigen Konfliktfälle in der Praxis nicht zum Scheitern verurteilt ist, werden auf einer Anwendungsebene Richtlinien für die unvermeidliche Güterabwägung im Umgang mit Pflanzen und Tieren entwickelt. So ergänzt etwa Taylor seine generellen bioethischen Prinzipien der Nichtschädigung und der Nichteinmischung durch folgende fünf Prioritätenregeln (vgl. ebd., 172ff.): Das Prinzip der Selbstverteidigung (1) erlaubt das Vorgehen gegen schäd‐ liche oder gefährliche Organismen wie Malariamücken oder Schimmelpilz, die unmittelbar das Leben oder die Gesundheit der Menschen bedrohen (264f.). Gemäß dem Prinzip der Unverhältnismäßigkeit (2) ist es illegitim, zur Gewinnung von Luxusgütern schöne Pflanzen zu pflücken, Tiere für ihre Felle oder Hörner zu töten oder als Freizeitbeschäftigung zu jagen (274). Schwieriger zu beurteilen sind Fälle wie das Bauen von Häusern und Flughäfen oder das Stauen von Flüssen zur Energiegewinnung, bei denen es zwar nicht um elementare menschliche Interessen, aber um die Aufrechterhaltung eines hohen Standards der Zivilisation geht (283). Hier verlangt nach Taylor das 182 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="183"?> Prinzip des kleinstmöglichen Schadens (3), möglichst wenige Lebewesen zu verletzen und nach Handlungsalternativen wie z. B. naturschonendem Bauen oder anderen Energiequellen zu suchen (282f.). Ziel der letzten beiden Prinzipien der ausgleichenden und der Verteilungs-Gerechtigkeit (4 und 5) ist eine gerechte Lastenverteilung beim Aufeinandertreffen basaler Interessen (293). Das Töten wildlebender Tiere ist ihm zufolge nur an Orten erlaubt, wo Menschen keine andere Möglichkeit zu überleben haben. Solche Prioritätenregeln setzen allerdings eine klare Hierarchie der Lebewesen voraus, sodass der egalitäre Biozentrismus begründungslogisch inkonsistent ist (vgl. Eser 2003, 347). Zudem erscheint eine Ethik als absurd, die letztlich auch die vegetarische Ernährung nur im Sinne einer permanenten Notwehr zulässt (vgl. Vieth, 169). hierarchischer Biozen‐ trismus egalitärer Biozentrismus abgestufter moralischer Status je nach Komplexität der Fähigkeiten eines Lebe‐ wesens: Mensch | höher und nied‐ rig entwickelte Tiere | höher und nied‐ rig entwickelte Pflanzen - gleicher moralischer Status aller Lebewesen - Prioritätsregeln für Güterabwägungen in der Praxis: 1) Prinzip der Selbstverteidigung: Schädigen von Tieren und Pflanzen erlaubt, wenn das Leben oder die Gesundheit von Men‐ schen unmittelbar bedroht ist 2) Prinzip der Verhältnismäßigkeit: kein Schädigen von Tieren oder Pflanzen für das Gewinnen von Luxusgütern oder zum Zweck von Freizeitvergnügen 3) Prinzip des kleinstmöglichen Schadens: geringstmögliche Schädigung möglichst weni‐ ger Tiere oder Pflanzen 4) Prinzip der Gerechtigkeit: gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen 3.2.3 Ökozentrismus und Holismus Setzt man die Ausdehnungsstrategie fort und berücksichtigt nicht wie bislang nur Lebewesen, gelangt man zum „Ökozentrismus“ und zum „Holismus“. Beim häufig naturwissenschaftlich orientierten Ökozentrismus haben primär Ganzheiten wie Ökosysteme, Landschaften oder Arten intrinsischen Wert und stehen im Zentrum direkter moralische Rücksichtnahme (vgl. Dierks, 169). Unter „Ökosystemen“ versteht man ein Beziehungs- und Wirkungsgefüge 183 3.2 Physiozentrismus <?page no="184"?> von lebenden Organismen untereinander und mit ihrem abiotischen Lebens‐ raum. Der Holismus (von griechisch „holos“: „ganz“) basiert demgegenüber oft auf metaphysischen Prämissen und denkt vom Ganzen und den vielfälti‐ gen Beziehungen zwischen all seinen Teilen her gemäß dem Wahlspruch: „Alles hängt mit allem zusammen“ (vgl. Brenner 2014, 123; Dierks, 177f.). Neben systemischen Einheiten wie beim Ökozentrismus finden auch einzelne Entitäten wie Menschen, Tiere, Berge oder Wasserfälle direkte moralische Berücksichtigung und Schutz, sodass hier der Gegensatz von Anthropozent‐ rismus und Physiozentrismus überwunden ist und eine „Zentrierung“ fehlt. Im konzentrischen Zwiebelschalenmodell der umweltethischen Theorien um‐ greift der Holismus daher alle anderen umweltethischen Grundtypen (vgl. Ott u. a., 12). Holistische Strömungen wie die „deep ecology“, ökofeministische oder New-age-Bewegungen stellen dem typisch westlichen, auf Descartes zurückgehenden dualistischen Denken und der Entgegensetzung von Mensch und Natur ein mystisches, weibliches oder systemtheoretisches ganzheitliches Denken gegenüber (vgl. dazu Krebs, 361f.). Allerdings wird der Mensch in das große Ganze der Natur zurückgestellt und ist Teil der biotischen Gemeinschaft oder „Physis“. Daher lässt sich der Holismus durchaus als radikalste Form des Physiozentrismus interpretieren, bei der die ganze Natur sowie alle natürlichen Entitäten und Einheiten um ihrer selbst willen zu berücksichtigen sind (vgl. ebd., 345; Potthast 2011, 294; Ott u. a., 12). „Ökozentrismus“ als der engere Begriff lässt sich hingegen als „monistischer Holismus“ bezeichnen, weil natürlichen Ganzheiten klar der Vorzug vor einzelnen Lebewesen gegeben wird (vgl. Dierks, 178). Das Gemeinsame beider Positionen und das Neue gegenüber den bislang diskutierten individualistischen Ansätzen des Patho‐ zentrismus und Biozentrismus sind die Orientierung an Systemganzheiten statt nur an Einzelindividuen und die Ausweitung des Kreises der moralischen Gemeinschaft auf die unbelebte Natur. Ökozentrismus: Ganzheiten wie Ökosysteme, Landschaften oder Arten haben einen eigenständigen moralischen Wert. Holismus: Die Natur als Ganze und in all ihren belebten und unbelebten Teilen hat einen eigenständigen moralischen Wert. Anliegen vieler holistischer Bewegungen: Aufhebung des Gegensatzes zwi‐ schen Anthropozentrismus und Physiozentrismus alternative Deutung: radikalste Form des Physiozentrismus, bei dem Menschen als Teil der Natur mitberücksichtigt werden. 184 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="185"?> Angesichts der erheblichen Überschneidungen zwischen Ökozentrismus und Holismus fällt es nicht immer leicht, die Vertreter klar einem Grund‐ typen zuzuordnen. Viele gehen den Weg von außen nach innen und zählen sämtliche Entitäten oder Einheiten zur „moral community“. Entwe‐ der werden dann gar keine notwendigen Kriterien für diese Zugehörigkeit angeführt oder dasjenige der Existenz (vgl. Ott u. a., 12; Vieth, 170). Nach der Darstellung des Holisten Martin Gorke muss man von einem unparteiischen Standpunkt der Moral aus konsequenterweise alles mora‐ lisch berücksichtigen, was existiert - obwohl keineswegs alles gleichbehan‐ delt werden muss (vgl. Gorke, 254). Wer bestimmte Entitäten von der Moralgemeinschaft ausschließen möchte, müsse dies mit nichtwillkürlichen Kriterien begründen. Ihm zufolge gibt es jedoch keine moralisch relevanten empirischen Eigenschaften, die einen Ausschluss zwingend rechtfertigen (vgl. ebd., 255). Technische Artefakte bzw. alles vom Menschen Gemachte zählen aber offensichtlich nicht zur moralischen Gemeinschaft, sondern nur das geschichtlich Gewordene und Vorgefundene wie Menschen, Ökosysteme oder Felsformationen (vgl. ebd., 251). Der Natur wird eine Würde zugeschrieben, sodass der Adressatenkreis der Würde nochmals deutlich erweitert wird gegenüber der 1992 in der Schweizer Bundesverfas‐ sung unter Schutz gestellten „Würde der Kreatur“ von Tieren und Pflan‐ zen. Gorkes Vorgehen scheint aber unfair zu sein und unterwandert die allgemeine Anforderung einer diskursethischen Umweltethik, sämtliche Selbstwertzuschreibungen argumentativ im Diskurs zu begründen (vgl. Ott 2021, 134 ff.): Zuerst verschiebt er die Beweislast auf diejenigen, die den Kreis moralischer Berücksichtigung begrenzen möchten, um dann alle für einen moralischen Status angeführten Kriterien als „willkürlich“ zurückzuweisen. Obwohl Argumente für die moralische Relevanz bestimmter Eigenschaften natürlich nie logisch zwingend sind, sprechen zweifellos gute Gründe für Kandidaten wie Empfindungsfähigkeit oder Zielgerichtetheit (vgl. Dierks, 179; 181). Wenn Gorke das Gemeinsame des Selbstwerts oder der Würde von Menschen, Landschaften oder Meeren bildlich zu umschreiben sucht mit der „Erfahrung einer ‚endgültigen Unverfügbarkeit‘ allen Seienden“, ist diese Begründung moralischer Schutzwürdigkeit argumentativ sicherlich schwächer als die pathozentrische und biozentrische. Die theologische Formel von der „Würde der Kreatur“ ist problematisch, weil sie den Glauben an einen Schöpfer voraussetzt, der allem Gewordenen Wert verleiht (vgl. Düwell 2008, 112 ff.). 185 3.2 Physiozentrismus <?page no="186"?> Die meisten Holisten und Ökozentriker vertreten wie Hans Jonas einen epistemischen Wertphysiozentrismus und einen moralischen Realis‐ mus, demzufolge der Selbstwert der Natur etwas real in der Wirklichkeit Vorgefundenes ist (vgl. Kap. 3.2.2). Namhafte Holisten greifen auf wertende Naturkonzepte der Antike zurück, die den Menschen einen verbindlichen Handlungsrahmen vorgeben. Ludwig Siep beispielsweise revitalisiert die antike Kosmosvorstellung, geht dabei aber nicht mehr von einer dauerhaften stabilen Weltordnung aus. Als grobe Orientierung für das menschliche Handeln dient die traditionelle „scala naturae“ mit vier Stufen der Natur vom Erhalt des Unbelebten bis zum zwischenmenschlichen Respekt (vgl. Siep 1998, 27 f.; Kallhoff, 101 ff.). Andere wie Klaus Meyer-Abich gehen von der Beseelung natürlicher Entitäten und Einheiten inklusive der vier Elemente aus und betrachten die Natur selbst als gewaltiges beseeltes Lebewesen (vgl. Meyer-Abich, 98 ff.). Auch in der einflussreichen, von Aldo Leopold be‐ gründeten und von Baird Callicott fortgeführten Land-Ethik wird die Erde als lebendiger und beseelter Gesamtorganismus oder Superorganismus bezeichnet (vgl. Leopold, 173; Callicott, 230). Diese inhärenten psychischen Eigenschaften stünden auf einer Stufe mit Vernunft und Empfindungsver‐ mögen, weshalb auch sie ein plausibles Kriterium für einen Eigenwert und moralische Berücksichtigungswürdigkeit darstellten (vgl. Callicott, 231). Ähnlich wird auch in der etwa von Lynn Margulis und James Lovelock vertretenen Gaia-Theorie die ganze Erde als ein Superorganismus bzw. zielgerichtetes Lebewesen betrachtet, das sich über Feedbackmechanismen selbst reguliert (vgl. Lovelock, 31; Brenner 2014, 148). Kritisch ist gegen solche frühen umweltethischen Konzepte einzuwenden, dass die Thesen einer kosmischen Ordnung, der Allbeseelung, bestimmter psychischer Ei‐ genschaften oder einer Zielgerichtetheit des Superorganismus Erde kaum intersubjektiv überprüfbar sind und auf Intuitionen oder spekulativen me‐ taphysischen Prämissen basieren. Sie werden daher fast nur noch innerhalb der physiozentrischen Denkbewegung der Tiefen-Ökologie vertreten, die traditionelle Naturschutzmaßnahmen als „oberflächlich“ bezeichnet und ein tiefgreifend neues, intuitives und spirituelles Naturverständnis fordert (vgl. Brenner 2014, 145 ff.; Naess, 188 f.). Die Vorstellung der Erde oder der Biosphäre als Superorganismus wird auch von naturwissenschaftlicher Seite aus überwiegend kritisch bis ablehnend betrachtet und heute kaum noch vertreten (vgl. Dierks, 174; unten). 186 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="187"?> Holismus als epistemischer Wertphysiozentrismus moralischer Realismus: Es gibt moralische Werte/ Wertordnungen in der Natur mit Verpflichtungscharakter. Natur als - Kosmos (absolute Wertordnung) - beseeltes Lebewesen (mit Würde) - zielgerichteter Gesamt-/ Superorganismus Probleme: - metaphysische Prämissen subjektunabhängiger moralischer Tatsachen - intuitive Erkenntnis dieser Wertordnungen vorausgesetzt (Intuitionismus) - keine argumentative Begründung im praktischen Diskurs möglich Ökologie und Ökozentrismus Leopolds bereits erwähnte „Land-Ethik“ gilt als Fundament des Ökozent‐ rismus, weil das von ihm mit „Land“ oder „biotische Gemeinschaft“ Bezeichnete große Ähnlichkeiten aufweist mit den gegenwärtig viel dis‐ kutierten Ökosystemen. Seine moralische Grundregel ist für viele Natur‐ schützer immer noch maßgeblich: „Eine Handlung ist richtig, wenn sie dazu beiträgt, die Integrität, Stabilität und Schönheit der Natur (‚biotic community‘) zu erhalten. Sie ist falsch, wenn sie das Gegenteil bewirkt.“ (Leopold, 174) Die Vorsilbe „Öko-“ in Ökozentrismus kann nicht nur auf Ökosysteme, sondern auch auf die „Ökologie“ und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse über Ökosysteme bezogen werden (vgl. Dierks, 169). Damit wird unterschwellig suggeriert, dass es sich um eine naturwissenschaftlich fundierte Sichtweise handelt. In der Ökologie als naturwissenschaftlicher Teildisziplin der Biologie werden sowohl die Beziehungen zwischen le‐ benden Organismen als auch die mit ihrer abiotischen Umwelt untersucht. Ökologisch betrachtet ist aber bereits unklar, wie die genaue Abgrenzung eines Ökosystems gegenüber seiner Umwelt erfolgen soll (vgl. Ott 2021, 139). Während kleine Ökosysteme wie ein Teich oder ein Komposthaufen relativ gut eingrenzbar sind, ist bei komplexeren wie Mooren oder dem globalen Ökosystem der Biosphäre eine größere menschliche Abstrakti‐ onsleistung erforderlich. Für eine ökozentrische Umweltethik kommen aber nur Kandidaten als moralische Objekte in Frage, die eine beobach‐ terunabhängige, eigenständige Existenz haben (vgl. Kirchhoff, 205). Zu beachten gilt auch, dass die Ökologie als naturwissenschaftliche Disziplin lediglich Fakten beschreibt und außerstande ist zu bewerten, welche 187 3.2 Physiozentrismus <?page no="188"?> ökologischen Zustände besser sind und erhalten bzw. wiederhergestellt werden müssten. Beim Engagement für den Naturschutz werden die Begriffe „ökologisch“ und „unökologisch“ aber meist unreflektiert in einem normativen Sinn verwendet (vgl. Gorke 1999, 61 f.). Dabei steht „ökologisch“ oft für einen harmonischen oder paradiesischen Idealzustand der Natur, in dem alles im Gleichgewicht ist und allseitiges Wohlergehen herrscht. Ein solches für alle Arten geltendes „ökologisch Gutes“ scheint es aber schon deswegen nicht geben zu können, weil beispielsweise für Cholerabazillen, Stubenfliegen und Menschen ein jeweils anderes ökologisches System „gut“ oder „intakt“ ist (vgl. ebd., 62). Um einen naturalistischen Fehlschluss zu vermeiden, muss der Selbst‐ wert von Ökosystemen argumentativ begründet werden. Bis in die 1980er Jahre wurden Ökosysteme gerne kybernetisch oder systemtheoretisch als funktional eng integrierte, sich selbst regulierende, nach Selbsterhaltung oder einem Gleichgewichtszustand strebende organismenähnliche Einhei‐ ten gedacht (vgl. Kirchhoff; Potthast 2004, 203). Aufgrund der Analogie zu einem lebendigen Organismus schreibt etwa Lawrence Johnson genauso wie Pflanzen auch Ökosystemen schwache Interessen zu, die eine direkte moralische Berücksichtigung erfordern (vgl. Dierks, 173; Ott 2021, 139 f.). Anders als individuelle Organismen weisen aber Ökosysteme nicht nur unscharfe Grenzen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht auf, sondern auch weder Stoffwechsel noch Fortpflanzung und nicht die gleiche funk‐ tionale Einheit: Anstelle einer Selbstorganisation bei einem Organismus aus wechselseitig einander hervorbringenden und voneinander abhängigen Teilen sind die Populationen verschiedener Arten in Ökosystemen zwar teils symbiotisch, teils aber auch nur lose miteinander verbunden oder konkurrieren miteinander um Ressourcen (vgl. Kirchhoff, 204). Nach einem Paradigmenwechsel in der modernen Ökologie entsprechen viele in um‐ weltethischen Debatten in normativer Absicht verwendete Konzepte wie „Integrität“, „Stabilität“ oder „Gleichgewicht“ eines Ökosystems nicht mehr dem Erkenntnisstand der naturwissenschaftlichen Ökologie (vgl. Dierks, 173; Kirchhoff, 205). Denn Ökosysteme erwiesen sich als grundsätzlich of‐ fene, dynamische und wandelbare Systeme. Sie sind keineswegs nur anthro‐ pogenen Einflüssen ausgesetzt, sondern ständig auch inneren „Störungen“ des Gleichgewichts etwa durch umstürzende Bäume, Überschwemmungen oder natürliche Massenvermehrungen sowie extraterrestrischen wie z. B. Meteoriteneinschlägen oder klimatische Veränderungen wie periodische Eis- und Warmzeiten (vgl. Gorke, 67 f.). „Ökosystemintegrität“ bedeutet da‐ 188 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="189"?> her weniger Unberührtheit oder die Fähigkeit zur unveränderten Aufrecht‐ erhaltung einer bestimmten Struktur und Artenzusammensetzung trotz Störungen, sondern eher die vorübergehende oder dauerhafte Veränderung und funktionelle Anpassung an sich wandelnde Umweltbedingungen (vgl. Kirchhoff, 200). Naturwissenschaftlich-deskriptiv ist nicht einmal das „Zu‐ sammenbrechen“ bzw. der Strukturwandel und Übergang eines Ökosystems in ein neues System an sich schlecht, sondern führt oft zu Evolutionsschüben und Vorteilen für bestimmte Arten. Die „Natur“ an sich ist so gesehen moralisch neutral. Nicht bestätigen ließ sich auch die frühere Annahme, die Artenvielfalt sei für die Stabilität von Ökosystemen bzw. das Verhindern ihres Zusammen‐ bruchs unter dem Druck äußerer Veränderungen wichtig (vgl. Bayertz 1991, 308; Gorke, 76 f.; 141). Wenn in gegenwärtigen Naturschutzdebatten uner‐ müdlich für die Biodiversität als genetische Vielfalt innerhalb von Arten sowie von Arten im Ökosystem geworben wird, liegt gleichfalls meist eine normative Verwendung des Begriffs vor. Artenvielfalt gilt dann als Wert an sich (vgl. Eser 2016, 46). Ein grundsätzliches Problem bei der Zuschreibung von moralischem Selbstwert und einer direkten moralischen Schutzwürdig‐ keit an Arten mehr noch als an Ökosysteme liegt aber darin, dass es sich nicht um klar abgrenzbare biologische Einheiten, sondern um theoretische Konstrukte handelt (vgl. Brenner 2014, 227; Ott 2021, 139). Besonders die Rede von - wie auch immer abgeschwächten - Rechten an Tierarten, Böden oder Wasser wie etwa bei Callicott irritiert, weil der Rechtsbegriff üblicherweise auf Individuen zugeschnitten ist (vgl. Callicott, 237 f.). Ein Eigenwert und der unterschiedslose Schutz aller Arten lassen sich weder aus ökologischer noch ökozentrischer Sicht begründen, sondern erfordern eine holistische Betrachtungsweise. Bei vielen der vom Aussterben bedrohten Arten hat ihr Verschwinden nämlich keinen Einfluss auf das entsprechende Ökosystem, sondern der Artenwandel scheint vielmehr ein Motor zu sein für notwendige adaptive Anpassungsprozesse (vgl. Dierks, 175; Potthast 2004, 208 f.). Am überzeugendsten lässt sich für den Artenschutz aus biozentri‐ scher Sicht argumentieren, dass es um den Lebenserhalt oder das Wohl der letzten Exemplare einer Art geht. Auch lassen sich aus anthropozent‐ rischer Sicht Gründe wie die Schönheit oder die Bedeutung bestimmter Arten oder Ökosysteme für das menschliche Überleben oder sogenannte Ökosystemdienstleistungen anführen. Ein Blick auf konkrete Maßnah‐ men des Naturschutzes macht denn auch deutlich, dass nicht alle Arten als gleich schutzwürdig erachtet werden. Vielmehr wird klar unterschieden 189 3.2 Physiozentrismus <?page no="190"?> zwischen erwünschten und unerwünschten Arten, wobei zu letzteren etwa invasive gebietsfremde Arten oder Krankheitserreger wie Corona-Viren zählen (vgl. Eser 2016, 46). Auf der Ebene der Biosphäre als globalem Ökosystem gebietet ein universeller Anthropozentrismus in Verbindung mit einer „Heuristik der Furcht“ ( Jonas) sehr wohl, den weltweiten rasanten Rückgang der Artenvielfalt zu stoppen. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass kommenden Generationen grundlegende Systemfunktionen fehlen werden (vgl. Brenner 2014, 227). Ökologischer Naturalismus und Ökofaschismus Zusammenfassend besteht bei radikalen physiozentrischen Positionen und in außerakademischen Naturschutzbewegungen die Tendenz, natura‐ listisch zu argumentieren und sich einen „ökologischen Naturalismus“ zuschulden kommen zu lassen (vgl. Eser 2016, 46; Potthast 2004, 216). Auch wird die Natur leicht zur Projektionsfläche für naturmetaphysische oder romantische Vorstellungen einer harmonischen Ordnung, die von Menschen mit ihrer sich weit davon entfernenden Zivilisation und Tech‐ nik gestört wird: Gemäß dem Nature-knows-best-Argument muss sich der Mensch von der Selbstüberschätzung seines technischen Könnens verabschieden und sich wieder in diese ökologischen Zusammenhänge eingliedern (vgl. dazu Krebs, 366 f.). Die Natur ist aber schwerlich ein unveränderlicher Bezugspunkt, weil sie sich in ständiger evolutiver Verän‐ derung befindet, und es lässt sich keine lineare teleologische Entwicklung auf einen guten Gesamtzustand hin erkennen (vgl. Kallhoff, 101). Anstelle einer stabilen, harmonischen und gerechten Ordnung gibt es vielmehr ein ständiges Auf und Ab und ein „Gleichgewicht des Schreckens“, bei dem die Arten miteinander konkurrieren (vgl. Birnbacher 1991, 289). „Die Natur lehrt grausigen Egoismus“, stellt sogar Schweitzer fest, und „ihre Grausamkeit ist so sinnlos! “ (33). Ein intrinsischer Wert der Natur oder all ihrer Teile lässt sich wie gesehen schwer begründen. Auch weitere noch nicht diskutierte Merkmale wie Alter oder Ursprünglichkeit von Bäumen oder Felsen sind moralisch kaum relevant (vgl. Krebs, 171). Selbst wenn sich sinnvollerweise von einem „Guten“ einer ohne mensch‐ liche Einflüsse gedeihenden Natur sprechen ließe, wäre dies keineswegs automatisch auch gut für den Menschen (vgl. ebd., 367). Die ethische Höherbewertung von ganzheitlichen (Öko)Systemen vor (menschlichen) Individuen hat radikalen Holisten und Ökozentrikern daher immer wieder den Vorwurf des Ökofaschismus eingebracht (vgl. Dierks, 178). Kaum 190 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="191"?> vertretbar scheint ein misanthroper Physiozentrismus zu sein, bei dem die Interessen der (menschlichen) Individuen ökologischen Belangen geopfert werden (vgl. ebd., 171 f.). Anstelle einer absoluten Pflicht zur Rücksicht‐ nahme auf alles Existierende wie auch Viren oder Tsunamis können wie beim Biozentrismus nur Prima-Facie-Pflichten geboten sein. Diese müssen ergänzt werden durch eine hierarchische Stufenordnung oder konkrete Kriterienkataloge für Pflichtenkollisionen wie z. B. bei Gorke, wodurch sich allerdings der gleiche bereits erwähnte konzeptuelle Widerspruch ergibt (vgl. ebd., 181; Gorke, Kap. 31; Kap. 3.2.2). Eigenschaften in der Natur Kritik an ihrer moralischen Relevanz natürliche Existenz setzt absolute Wertordnung (moralischer Realis‐ mus) oder Allbeseelung (Pantheismus) voraus Artenvielfalt (Biodiversität) Aussterben vieler Arten ohne Einfluss auf Öko‐ system (aber: weltweites Artensterben bedroht zukünftiges Leben) Ordnung/ teleologische Struktur Es liegt keine gerechte, harmonische Ordnung oder Entwicklung auf guten Endzustand vor. Schönheit ästhetischer Wert aus anthropozentrischer Sicht Alter/ Ursprünglichkeit kein moralisch relevantes Merkmal Kritik am Ökozentrismus/ Holismus - ökologischer Naturalismus: naturalistische Argumente, naturromantische Vorstellungen einer stabilen, gerechten Ordnung - Ökofaschismus: Vorrang ganzheitlicher (Öko)Systeme vor (menschlichen) Individuen 191 3.2 Physiozentrismus <?page no="192"?> 3.3 Anwendungsfall: Tierethik Tiere und Pflanzen gehören eindeutig zur außermenschlichen Natur, sodass sowohl die Tierals auch die Pflanzenethik als Teil der Naturethik und auch einer weit verstandenen Umweltethik aufgefasst werden kön‐ nen. Während eine Pflanzenethik noch kaum entwickelt ist, gibt es zu tierethischen Fragestellungen eine stetig ansteigende Zahl an Publikatio‐ nen, Medienberichten und öffentlichen Diskussionsrunden. Als sich mit dem Aufkommen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert Praktiken wie Massentierhaltung, -schlachtung und Tierversuche ausweiteten, ver‐ schlechterte sich die Lage der Tiere beträchtlich und es formierten sich die frühsten Tierrechtsbewegungen. Um die Kosten zu minimieren und die Erträge zu maximieren, wurden die Tiere auf immer weniger Raum zusammengepfercht, wegen aggressivem Verhalten kastriert, gestutzt oder kupiert, unter unhygienischen Bedingungen mit Antibiotika am Leben er‐ halten und häufig genetisch manipuliert, damit sie z. B. in möglichst wenig Zeit das gewünschte Gewicht erlangen und geschlachtet werden können. Die Tierethik hat wie gesehen Wurzeln im Utilitarismus des 18. Jahrhun‐ derts und vermochte sich dann ab etwa 2015 im akademischen Betrieb als eigenständige Bereichsethik zu etablieren (vgl. Brenner 2014, 160 ff.; Bode 14). Im bereits erläuterten Pathozentrismus bzw. Sentientismus (Kap. 3.2.1) wird der erste wichtige Schritt über eine anthropozentrische Ethik hinaus vollzogen, und weitere tierethische Argumente entstammen dem Biozent‐ rismus (Kap. 3.2.2). Eine Ausgliederung der Tierethik und eine getrennte Diskussion der beiden Bereichsethiken Umwelt- und Tierethik wäre daher sehr ineffizient (vgl. Krebs, 8). Die Tier- und Pflanzenethik lassen sich insofern als Spezial- oder Anwendungsfälle der Umweltethik bezeichnen, als die allgemeinen umweltethischen Reflexionen auf das konkrete Handeln von Menschen im Umgang mit Tieren oder Pflanzen angewendet wird (vgl. Brenner 2014, 159). Die Grundfrage der Tierethik lautet entsprechend: „Was dürfen wir mit Tieren tun? “. Über die dahinterstehenden theoretischen Fragen nach der moralischen Schutzwürdigkeit, dem moralischen Status und den Rechten von Tieren gibt es allerdings keinen Konsens unter Tier‐ ethikern. Grob vereinfacht steht der gemäßigten konsequentialistischen utilitaristischen Position (1), die offen ist für Abwägungen bei Fragen der Tiernutzung, die deontologische Tierrechte-Position (2) entgegen, die den Gebrauch von Tieren für menschliche Zwecke meist grundsätzlich ablehnt. 192 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="193"?> 1) Utilitarismus: Nutzen-Abwägung Auf die anwendungsbezogene Frage, was wir mit Tieren tun dürfen, antworten Utilitaristen mit ihrem allgemeinen Moralprinzip: Moralisch richtig ist diejenige Handlung, die den größtmöglichen Nutzen für alle Betroffenen verspricht (vgl. Ethik, 93). Sowohl im klassischen als auch im Präferenzutilitarismus bildet die Leidensbzw. Empfindungsfähigkeit das fundamentalste Kriterium bei der Nutzenabwägung. Nach Singer stellt sie die Grundvoraussetzung dafür dar, überhaupt von „Interessen“ sprechen zu können (vgl. Singer 1994, 85). Da die tierlichen Interessen an Leidvermeidung genauso zählen wie die menschlichen, muss ihr Leid im Konfliktfall vom Standpunkt eines unparteiischen Beobachters aus gegen den zu erwartenden Nutzen für die Menschen abgewogen werden (vgl. ebd., 28). Tierversuche beispielsweise wären utilitaristisch gesehen gerechtfertigt, wenn ein Tier oder auch ein Dutzend Tiere in Experimenten leiden, um in der Folge Tausende von Menschen retten zu können (vgl. 96). Laut Singer spricht aber gegen eine Großzahl von Tierversuchen, dass die Versuchsleiter häufig keine unparteiische Schaden-Nutzen-Analyse vornehmen, sondern den ungewissen zukünftigen Nutzen überhöhen. Auch bezüglich der Nutzung von Tieren als Nahrung weist er auf das große Leid der Tiere in der industriellen Landwirtschaft hin, dem der menschli‐ che Konsum von Fleisch als reinem Luxusgut gegenübersteht (vgl. 91). Dabei macht es aus präferenzutilitaristischer Sicht einen Unterschied, ob die betroffenen Tiere zusätzlich zum Interesse an Leidfreiheit noch ein Interesse am Weiterleben haben: Nichtvernunftbegabte und nicht‐ selbstbewusste Lebewesen dürften auf schmerzlose Weise getötet werden, weil bei ihnen keine zukunftsbezogenen Präferenzen zunichte gemacht werden können (vgl. 173). Da die Tiere vor der Schlachtung gefangen und transportiert werden und dabei teilweise Todesängste zu haben scheinen, stellt das Töten ohne Leidzufügung aber vielleicht nur eine „Idealisierung“ dar (vgl. Wolf 1999, 119). Anders sieht es aus bei Menschenaffen, Walen und Delphinen und eventuell weiteren Säugetieren wie etwa Hunden, Katzen oder Schweinen mit einem Zeit- und Selbstbewusstsein, die ähnlich wie Menschen noch Interessen an zukünftigen eigenen Zuständen oder Aktivitäten entwickeln können und daher ebenso wie diese nicht getötet werden dürfen. Wenn Eichhörnchen hingegen Wintervorräte sammeln und sich in ihrem Verhalten scheinbar von zukünftigen Ereignissen leiten lassen, werden sie dabei womöglich nur von Instinkten geleitet (vgl. 193 3.3 Anwendungsfall: Tierethik <?page no="194"?> Hoerster 2004, 72). Wie weit welche Tierarten über ein rudimentäres Den‐ ken oder gar Intentionalität verfügen, erfordert noch weitere Forschungen. Nach Singers präferenzutilitaristischer Sicht ist also nicht jede Tiernut‐ zung ausgeschlossen, sondern es ist eine Abwägung der Interessen im Einzelfall erforderlich. Egalitaristisch ist die utilitaristische Grundhaltung insofern, als die Empfindungen oder Interessen aller Betroffenen gleich be‐ rücksichtigt werden. Da aber Unterschiede je nach Zeit- und Selbstbewusst‐ sein gemacht werden, handelt es sich im Resultat um eine hierarchische Position (vgl. H. Grimm u. a., 73 f.). Viel kritisiert wird das utilitaristische Aggregationsprinzip, weil bei der Interessen-Abwägung positive und negative Konsequenzen zusammengerechnet („aggregiert“) werden und individuelle Präferenzen durch genügend viele entgegenstehende Interes‐ sen überboten werden können. So haben Tiere und Menschen zwar die gleiche direkte moralische Schutzwürdigkeit, aber keinen effektiven Schutz. Grundsätzlich tendiert der Utilitarismus mit seinem Ziel der Vermehrung des Wohls zu einem Welfarismus (zu engl. „welfare“: „Wohlergehen“), demzufolge das Wohl der Tiere bei der Tiernutzung, konkret ihre Lebensbe‐ dingungen und der menschliche Umgang mit ihnen, schrittweise verbessert werden sollen (vgl. ebd., 45). Bei einem solchen ethischen Tierschutz wird anders als beim noch zu erläuternden Tierrechte-Ansatz nicht der Nutzungsanspruch des Menschen gegenüber den Tieren grundlegend in Frage gestellt, sondern das „Tierwohl“ oder die Lebensqualität der Tiere ge‐ schützt. In diesem Zusammenhang ist häufig die Rede von der artgerechten Tierhaltung, die bestmöglich an die natürlichen Lebensbedingungen der jeweiligen Tierart angepasst ist und unnötiges Leid und Umweltbelastungen vermeidet. Die jeweiligen arttypischen Bedürfnisse hinsichtlich Ernährung, Bewegung, Beschäftigungen und Sozialkontakten lassen sich aus den Ver‐ haltensweisen in naturnaher Umgebung bzw. indirekt aus Verhaltensstö‐ rungen aufgrund frustrierter Bedürfnisse erschließen. Minimalbedingungen für eine tiergerechte Haltung von Nutztieren sind: 1. ausreichend Raum und Bewegungsmöglichkeiten; 2. räumliche Trennung von Ruhezonen, Futterplätzen und Betätigungen; 3. strukturierte Umgebung mit Gelegenheit zu artspezifischen Beschäftigungen wie Suhlen, Sandbaden oder Schaben an Bäumen bzw. Massagegeräten sowie bestimmtem Gruppenverhalten; 4. Licht, Luft und Einstreu; 5. keine Veränderung der Erbanlagen einer Art, die das Wohl der Tiere beeinträchtigen wie z. B. das Ausschalten des Sätti‐ gungszentrums im Gehirn von Masthähnchen, damit sie bis zum Umfallen fressen. Für die Konsumenten können Tierwohl-Labels oder die Ziffern 194 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="195"?> für verschiedene Haltungssysteme bei Eiern eine Orientierung bieten (vgl. Anschauungsbeispiel 2). 2) Tierrechte-Position: Abolitionismus Der deontologische Tierrechte-Ansatz wendet sich gegen die Nutzenkal‐ kulation und das Aggregationsprinzip im Utilitarismus, weil dabei grund‐ legende Rechte der Tiere missachtet werden. Aus dieser Sicht sind mo‐ ralische Rechte wie Trumpfkarten, die gegen sämtliche egozentrischen Wünsche von Menschen ausgespielt werden können und den Tieren unbe‐ dingten Schutz gewähren. Sie werden gewissen Tieren von der Gesellschaft aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten zugesprochen, die ihren moralischen Status rechtfertigen sollen. Welche Rechte Tiere genau haben, wie sie begründet werden und welche Tiere sie besitzen, darüber sind sich Tierrechtstheoretiker nicht einig (vgl. Petrus, 83). Wichtige Vertreter sind Tom Regan, David DeGrazia und Gary Francione. Diskutiert wird etwa ein Recht auf Freiheit von Tieren. Kritiker wenden dagegen ein, ein solches Recht komme nur Lebewesen zu, die ein selbstbestimmtes, autonomes Leben führen können (vgl. dazu ebd., 85). Bezüglich des Rechts auf Leben lehnen Tierrechtsethiker die nicht nur unter Utilitaristen weit verbreitete Meinung ab, ein solches besäßen nur Lebewesen mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein oder das Hegen zukunftsbe‐ zogener Wünsche. In seinem Schlüsselwerk zur Tierrechtsdebatte The Case for Animal Rights (1983) und vielen nachfolgenden Publikationen hat Tom Regan dargelegt, dass zumindest alle empfindungsfähigen Tiere ein Recht auf Leben und Achtung besitzen. Denn sie haben ihm zufolge ähnlich wie Menschen Wünsche, Absichten und einen gewissen Zukunftsbezug und nehmen sich selbst als „Subjekte ihres Lebens“ wahr (vgl. Regan, 243). Da sie beim Erfüllen ihrer Wünsche Wohlbefinden, Freude und Lust empfinden können, seien sie bewusste Kreaturen mit einem individuellen Wohl (vgl. ebd., 116 ff.). Aufgrund dieser fundamentalen Gemeinsamkeit mit dem Men‐ schen besäßen auch sie einen inhärenten Wert und eine Würde. Von einem „inhärenten“ und nicht einem „intrinsischen“ Wert spricht er, weil dieser einem Individuum unabhängig von intrinsisch wertvollen Erfahrungen wie Lust oder Freude zukommt. Der inhärente Wert ist mit grundlegenden Rechten verbunden, die auch bei Lebewesen mit einem mehr von Leid als von intrinsischen Gütern geprägten Leben unverändert bleiben. Bei einer egalitaristischen Position kommt dieser auch allen empfindungsfähigen 195 3.3 Anwendungsfall: Tierethik <?page no="196"?> Lebewesen gleichermaßen zu, woraus sich weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit Tieren ergeben (vgl. Petrus, 85). Analog zur bereits erläuterten Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten wird auch zwischen negativen und positiven Rechten unterschieden: Während positive Rechte Ansprüche auf Hilfeleistung dar‐ stellen, bestehen negative Rechte lediglich in Abwehrrechten, von anderen nicht geschädigt bzw. von etwas Negativem verschont zu bleiben (vgl. Petrus, 84). In der tierethischen Debatte ist auch über den Pathozentrismus und Tierrechte-Ansatz hinaus weitgehend unbestritten, dass Tiere im Sinne negativer Abwehrrechte ein Recht auf Leidfreiheit bzw. Leidensminderung haben. Diese gehen seitens der Menschen mit negativen Pflichten, den sogenannten Unterlassungspflichten einher (vgl. Kap. 3.2.1). Im Gegensatz zu Welfaristen und Utilitaristen setzen sich viele Tierrechtler darüber hinaus aber nicht für positive Pflichten und Rechte ein, um das Tierwohl zu verbessern und eine Neugestaltung der Beziehung zwischen Menschen und Nutztieren zu erreichen. Denn aus ihrer Sicht ist bereits die Domestikation von Tieren und jede Form von Tiernutzung respektlos und ausbeuterisch. So treten etwa Regan und Francione ein für die Abschaffung jeder land‐ wirtschaftlichen Nutzung von Tieren für die Lebensmittelproduktion, von Tierversuchen und der Verwendung von Tieren im Sport oder zur Unter‐ haltung, weshalb sich für diese Position in der Tierethik die Bezeichnung Abolitionismus (zu engl. „abolition“: „Abschaffung“) eingebürgert hat (vgl. ebd., 85; H. Grimm u. a., 79). Teilweise wird sogar das Halten von Haustieren abgelehnt. Dahinter steht letztlich das allgemeine Recht der Tiere, niemandes Eigentum zu sein, als Selbstzwecke behandelt und nicht als Ressource für Menschen benutzt zu werden (vgl. Francione, 172; Korsgaard, 226). Eine schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen der Tiere im Sinne des Tierschutzes führt nach den Verteidigern der Tierrechte lediglich zu einer Beruhigung des Gewissens der Bevölkerung. Der Abolitionismus und die damit verbundene Aufforderung zum Veganismus wird vielfach als zu radikal und unrealistisch abgelehnt (vgl. Petrus, 87). Auf argumentativer Ebene wird etwa das zu unspezifische Verständnis von „Würde“ und einer „Instrumentalisierung“ von Lebewesen kritisiert (vgl. Birnbacher 2013, 219 f.): Selbst nach Kant liegt eine Instrumentalisierung eines Menschen nur dann vor, wenn man einen anderen Menschen bloß als Mittel gebraucht und nicht zugleich noch als Zweck an sich (vgl. Ethik, 143). Entsprechend würde die moralische Zulässigkeit der Tiernutzung auch wesentlich davon 196 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="197"?> abhängen, wie ein Tier abgesehen von der von ihm zu erfüllenden Funktion konkret behandelt wird. Tierethik: Bereichsethik (Teilbereich der Umweltethik im weiten Sinn), die sich mit den ethischen Problemen im Umgang des Menschen mit Tieren beschäftigt. 1) Präferenzutilitarismus (Peter Singer) konsequentialistisches Prinzip: Maximierung des Nutzens im Sinne der Erfül‐ lung von Präferenzen (= stabile Interessenlagen, Neigungen) - Interesse an Leidvermeidung bei empfindungsfähigen Tieren - Interesse am Weiterleben bei vernunftbegabten und selbstbewussten Tieren Vorteil: flexible Nutzenabwägung im Einzelfall und sukzessive Verbesserung des Tierwohls (Welfarismus) Problem: Nur der Gesamtnutzen zählt, sodass individuelle Interessen überstimmt werden können (Aggregationsprinzip). 2) Tierrechte-Position (Tom Regan, Gary Francione) Deontologisches Prinzip: Pflicht, Rechte von Tieren unbedingt zu achten und sie nicht zu instrumentalisieren - Recht auf Leben bei allen Tieren, die „Subjekte ihres Lebens“ sind - Recht, niemandes Eigentum zu sein Vorteil: Jedem Tier wird unbedingter moralischer Schutz gewährt, sodass eine „Verrechnung“ nicht zulässig ist. Problem: - Instrumentalisierungsverbot sehr weit ausgelegt - Radikalposition des Abolitionismus: Abschaffung jeglicher Tiernutzung und -haltung (auch Rettungs-, Blindenhunde und Heimtiere) 197 3.3 Anwendungsfall: Tierethik <?page no="198"?> Ethischer Vegetarismus und Veganismus In der Gegenwart ist ein gesellschaftlicher Trend zum Vegetarismus mit dem Verzicht auf Fleisch und verstärkt auch zur radikaleren Form des Veganismus zu erkennen, bei dem auf Nahrungsmittel tierlicher Herkunft vollständig verzichtet wird. Ein Vorstoß der Grünen, einen wöchentlichen „Veggieday“ für Kommunen und Einrichtungen politisch durchzusetzen, wurde zwar im Jahr 2013 mehrheitlich wegen Bevormundung abgelehnt. Es wächst aber der moralische Druck auf Fleischkonsumenten, die zunehmend unter Rechtfertigungszwang geraten. Angesichts der vielen gewichtigen Ar‐ gumente gegen den Fleischkonsum wird im Essen von Tieren philosophisch bisweilen ein Fall von Willensschwäche vermutet (vgl. H. Grimm u. a., 209). Aus einer individualethischen Perspektive werden v. a. gesundheitsbezo‐ gene Argumente geltend gemacht: Zahlreiche Studien belegen direkte negative gesundheitliche Folgen zumindest eines übermäßigen Fleischkon‐ sums. So besteht ein höheres Risiko für Übergewicht, Bluthochdruck, Diabe‐ tes sowie Gallen- und Nierenstein, und auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine Reihe von Krebsarten scheinen bei Vegetariern bzw. Veganern seltener aufzutreten (vgl. Ach 2018, 346). Hinzu kommt das indirekte gesundheitsbezogene Problem des massiven Einsatzes von Antibiotika in der industriellen Tierhaltung, die zu Resistenzen gegen Krankheitserreger führen kann. Sozialethisch gewichtig ist das Argument der Welternäh‐ rung, weil die Nahrungsgewinnung durch Mästen und Töten von Tieren im Vergleich zur vegetarischen Ernährung höchst ineffizient ist: Werden Getreide und Soja nicht direkt verzehrt, sondern den Tieren verfüttert, gehen etwa 90% der Kalorien verloren (vgl. ebd., 347). Angesichts der prekären Welternährungssituation und einer wachsenden Weltbevölkerung scheinen solche verschwenderischen Ernährungsgewohnheiten unverant‐ wortlich zu sein, wo nicht aus geographischen Gründen ein Überleben ohne tierliche Nahrung unmöglich ist. Die ökologischen Argumente weisen darüber hinaus auf die negativen Folgen einer exzessiven Tierhaltung für die Umwelt hin (vgl. ebd., 346 f.). Denn sie geht mit einem immensen Verbrauch an Energie und Wasser einher und trägt erheblich zur Verunreinigung von Trinkwasser etwa durch Ausscheidung der Tiere und Medikamente bei. Etwa ein Drittel der weltweiten Ackerfläche wird für den Anbau von Tierfutter genutzt, und die Landgewinnung für die Viehzucht ist eine Hauptursache der Abholzung des Regenwaldes. Nicht zuletzt ist die Nutztierhaltung nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschafts‐ organisation der Vereinten Nationen (FAO) für etwa 18% der anthropogenen 198 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="199"?> Treibhausgasemissionen verantwortlich und trägt damit zum Klimawandel bei (vgl. ebd.; Korsgaard, 283). Unter den tierethischen Argumenten werden v. a. folgende zwei diskutiert, die bereits verschiedentlich zur Sprache kamen: Gemäß dem allgemein akzeptierten Argument der Leidvermeidung (1) ist es mora‐ lisch falsch, Tieren ohne guten Grund Schmerzen zuzufügen (vgl. Ach 2018, 346). Unter den Bedingungen der industriellen Landwirtschaft werden Tiere aber bei der Aufzucht, Haltung und Tötung großen Belastungen ausgesetzt und oftmals nur noch als verwertbare Ressource behandelt. Obgleich Fleisch eine reichhaltige Proteinquelle und sehr nahrhaft ist und für viele Menschen einen hohen geschmacklichen und kulturellen Wert hat, sind dies kaum gute Gründe für eine Schädigung von Tieren. Für die Stillung dieser Luxusbedürfnisse stehen auch immer mehr Alternativen wie Fleischersatz („Veggie-Wurst“), Produkte aus schmerzunempfindlichen Tieren wie Insekten oder In-vitro-Fleisch zur Verfügung. Umstrittener ist das Argument des Tötungsverbots (2), dass die Tötung selbst für das Tier einen Schaden darstelle und an sich moralisch falsch ist (vgl. ebd., 348). Von der Warte deontologischer Tierrechtstheoretiker aus handelt es sich um ein Übel, weil die Tiere ein Recht auf Leben haben. Zur Stützung des Arguments wird zudem das Vorenthaltungs-Argument (2a) angeführt, demzufolge es moralisch falsch ist, einem Lebewesen die Möglichkeiten zu‐ künftiger positiver Erfahrungen vorzuenthalten (vgl. ebd., 348). Allerdings greift das Argument nur, wenn das bisherige Leben des Tieres gut war und auch für die Zukunft weiteres Wohlergehen zu erwarten ist. Gemäß dem Frustrations-Argument (2b) schadet der Tod genau dann einem Lebewesen, wenn durch dieses Ende seine Präferenzen jäh durchkreuzt bzw. „frustriert“ werden. Wie erwähnt wird aber unterschiedlich beurteilt, ob und welche Tiere (z. B. männliche Küken) überhaupt zukunftsbezogene Interessen haben können. Gegen beide Argumentationsweisen kontern Singer und andere Utilitaristen mit dem Ersetzbarkeits-Argument: Der durch die Tötung eines nicht vernunftbegabten und selbstbewussten Tieres entstandene Schaden lasse sich kompensieren durch ein anderes Tier, das in die Existenz gebracht wird und an dessen Stelle positive Erfahrungen machen kann (vgl. Singer 1994, 174). Damit ließen sich gängige Praktiken rechtfertigen wie das Schlachten von Masthähnchen nach 35-40 Tagen. Das Argument setzt aber eine „Totalansicht“ voraus, bei der es lediglich um die aggregierte Gesamtsumme an Wohlergehen statt um das Wohl der einzelnen Individuen wie bei der „Vorherige-Existenz-Ansicht“ geht (vgl. ebd., 160). 199 3.3 Anwendungsfall: Tierethik <?page no="200"?> Argumente für ethischen Vegetarismus/ Veganismus gesundheitsbezogene Argumente: höheres Risiko für viele Krankheiten Argument der Welternährung: höchst ineffiziente Nahrungsgewinnung → Welthungerproblem verschärft ökologische Argumente: - großer Energie- und Wasserverbrauch - Treibhausgasemissionen → Klimawandel tierethische Argumente: 1) Argument der Leidvermeidung: nur Stillung von Luxusbedürfnissen 2) Argument des Tötungsverbots: Töten selbst ist moralisch falsch a) Vorenthaltungs-Argument: Vorenthalten positiver Erfahrungen b) Frustrations-Argument: Präferenzen des Tieres werden frustriert ethische Gebote: - Tierwohl schützen (z. B. durch Tierwohl-Label) - Fleischkonsum minimieren oder ganz verzichten Wildtierethik Bezüglich des Umgangs der Menschen mit Tieren scheinen nicht allein die moralisch relevanten Eigenschaften der Tiere eine Rolle zu spielen, sondern auch die unterschiedlichen Formen von Beziehungen der Menschen zu ihnen. So tragen Menschen gegenüber domestizierten Tieren sicherlich eine ganz andere Verantwortung z. B. hinsichtlich Fütterung und Versorgung als gegenüber Wildtieren (vgl. H. Grimm u. a., 170 f.). Weitgehend unbestritten sind negative Pflichten, die Menschen gegenüber Wildtieren genauso ha‐ ben wie gegenüber domestizierten Tieren. Das noch sehr junge Forschungs‐ gebiet der Wildtierethik beschäftigt sich mit der Frage, ob Menschen ihnen gegenüber auch positive Pflichten haben und worin genau diese bestehen (vgl. Martin, 283). Extreme Interventionspflicht-Ansätze pochen auf die positiven Pflichten der Menschen, das Leid empfindungsfähiger Wildtiere zu vermeiden oder zu vermindern, und zwar ganz unabhängig davon, wer oder was für dieses Leid verantwortlich ist und in welcher Beziehung oder räumlicher Nähe Menschen zu den betroffenen Tieren stehen (vgl. ebd., 285 f.). Anhänger wie Steve Sapontzis und Jeff McMahan plädieren dafür, die Beutejagd wildlebender Tiere zu verhindern und je nach Möglichkeit eine Gazelle vor einem Löwen zu retten. Dabei wird das Wohlergehen einzelner Individuen höher bewertet als der Schutz bestimmter Raubtierarten oder 200 3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik) <?page no="201"?> das ökologische Gleichgewicht. Diskutiert wird auch die Frage, ob nicht alle Tiere domestiziert und so vor Raubtieren, Parasiten, Krankheiten und Naturwidrigkeiten geschützt werden sollten (vgl. Korsgaard, 233). Kritiker machen gegen diese radikale Position den Policing-Nature-Einwand geltend, das „Polizei spielen“ des Menschen führe zu absurden und proble‐ matischen Eingriffen in die Natur (vgl. Krebs, 351): Zahlreiche Raubtierarten müssten vernichtet werden, und die Störungen verschiedener ökologischer Kreisläufe seien unverantwortlich. Vertreter von Laissez-faire-Ansätzen wie Peter Singer und Tom Regan fordern daher die generelle Nichteinmi‐ schung in das Leben wildlebender Tiere, weil diese insgesamt gut ohne Menschen für sich sorgen können und die negativen Konsequenzen gravie‐ render Eingriffe wohl gesamthaft die positiven überwögen (vgl. Martin, 283). Am überzeugendsten scheint eine mittlere, gemäßigte Position zu sein, bei der nur in Ausnahmefällen eine Pflicht zur Intervention besteht (vgl. ebd., 284 f.): Nach John Hadley sind dies etwa Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Dürre, nach Claire Palmer nur vom Menschen verursachte Zustände wie z. B. die Einschränkung eines Habitats durch einen Straßen- oder Siedlungsbau. Wildtierethik: beschäftigt sich mit der Frage, ob Menschen auch Wildtieren gegenüber positive Pflichten haben Interventionspflicht-Ansätze: positive Pflicht, auch nicht selbstverursachtes Leid von Wildtieren (z. B. durch Raubtiere) zu verhindern oder vermindern → Policy-Nature-Einwand: absurde Konsequenzen, zu starke Eingriffe in die Natur Laissez-Faire-Ansätze: generelles Nichteinmischungsgebot gemäßigte Ansätze: positive Pflicht zum Eingreifen in Ausnahmefällen (z. B. nach Naturkatastrophen, menschlichem Siedlungs- und Straßenbau) 201 3.3 Anwendungsfall: Tierethik <?page no="203"?> 4 Wissenschaftsethik Anschauungsbeispiel 1: Der theoretische Physiker Robert Oppenheimer war Leiter des ameri‐ kanischen Manhattan-Projekts mit dem Ziel, die erste Atombombe vor den Nazis herzustellen. Nach dem Abwurf der Bombe und angesichts der verheerenden Folgen leugnete er jede Verantwortung. Er habe lediglich „Forschungsarbeit“ geleistet. Es ging in seinen eigenen Worten nicht um „die Entwicklung einer Waffe“. Vielmehr sei das Projekt ein „Versuch“ gewesen, „herauszufinden, was überhaupt machbar sei“. Der Bau der Atombombe sei aus der „freien Forschung“ hervorgegangen, so dass er sich darüber wunderte, wie andere Kernphysiker sich auf eine „selt‐ same Weise dafür verantwortlich fühlten“, am Bau der Bombe beteiligt gewesen zu sein. In einer späteren Lebensphase hat Oppenheimer dann durchaus eine selbstkritischere Position eingenommen. (Zitate aus den Anhörungsprotokollen von Robert Oppenheimer, nach Lenk 1991, 9) Kann man sogenannte Grundlagenforschung betreiben, ohne für die spätere Anwendung der Forschungsergebnisse Verantwortung über‐ nehmen zu müssen? Anschauungsbeispiel 2: Bei den berühmt gewordenen Milgram-Experimenten wurden per Zei‐ tungsannonce Freiwillige für ein angebliches psychologisches Lern- und Gedächtnisexperiment gesucht. In Wirklichkeit handelte es sich aber um Grundlagenforschung zur sozialen Beeinflussbarkeit und Ge‐ horsamkeitsbereitschaft anhand willkürlich ausgewählter Personen. Der Versuchsleiter, der als professioneller Schauspieler seine Rolle als Experimentator nur spielt, erläutert den ausgewählten Versuchsperso‐ nen das angebliche Erkenntnisziel: Man wolle herausfinden, wie sich das Belohnen und Bestrafen auf das Lernen und das Erinnerungsver‐ mögen des Menschen auswirke. Durch eine fingierte Losung wird ein weiterer Schauspieler zum „Schüler“, eine Versuchsperson zum „Lehrer“ bestimmt. Der „Schüler“ wird auf einen elektrischen Stuhl festgeschnallt und der „Lehrer“ muss wie in einem typischen Lernexpe‐ <?page no="204"?> riment Wortreihen vorlesen, bei denen der Schüler Wortpaare erkennen soll. Bei jeder falschen Antwort hat der Lehrer auf Anleitung des Expe‐ rimentators dem Schüler mit einem Schalthebel einen Stromstoß von zunehmender Stärke zu versetzen, bis weit über die tödliche Höchststufe hinaus. Obwohl der „Schüler“ de facto keine Stromstöße bekommt, gibt der Schauspieler wie einstudiert immer qualvollere Schreie, heftige Proteste und die Aufforderung zum Aufhören von sich. Weil aber der wissenschaftliche Versuchsleiter immer wieder ruhig versichert, die Elektroschocks seien nur schmerzhaft, nicht gefährlich, und das Experiment erfordere die Fortführung, machten 65% aller Teilnehmer bis zur höchsten Schockstufe weiter. Bei Nachfolgeuntersuchungen in Deutschland waren es sogar noch 10-15% mehr. Am Ende wurden die Probanden über den wahren Sinn des Experiments aufgeklärt: Man wollte ermitteln, wie weit sich Versuchspersonen den Anweisungen einer wissenschaftlichen Autorität beugen und einen unschuldigen und hilflosen Menschen quälen. Viele Versuchspersonen reagierten darauf schockartig oder verzweifelt. (nach Bierbrauer, 15 ff.; Lenk 1997, 116 ff.) Sind solche Forschungsexperimente mit Menschen ethisch zulässig? Anschauungsbeispiel 3: Seit im Jahr 2014 Tierschützer heimlich gedrehte Aufnahmen aus Nikos Logothetis Tierversuchslabor am Tübinger Max-Planck-Institut für bio‐ logische Kybernetik veröffentlichten, zogen Tierversuchsgegner immer wieder demonstrierend durch die Stadt. Zu sehen waren verstörende Bilder von Makaken-Affen, die sich unaufhörlich um die eigene Achse drehten oder aus deren frisch operiertem Kopf mit großem herausra‐ gendem Implantat rotes Wundserum fliesst. In dieser neurobiologischen Grundlagenforschung sollte untersucht werden, wie die Strukturen des Gehirns miteinander kommunizieren, um langfristig neurologische Erkrankungen wie Parkinson und Demenz heilen zu können. Welche ethischen Kriterien sind bei der Beurteilung solcher Tierversu‐ che relevant? Solange die Wissenschaft sich am antiken Ideal des reinen Wissens, der theoria (griech.: „Anschauen, Betrachten, Kontemplation“) orientierte, 204 4 Wissenschaftsethik <?page no="205"?> brauchte es keine Wissenschaftsethik. Denn solches Wissen wird um seiner selbst willen erlangt, und die Gegenstände der Erkenntnis erfahren dabei keine Veränderung. Charakterisiert wird der Ursprung der Wissenschaften bei den Griechen gern durch das Schlagwort „vom Mythos zum Logos“. Er fällt zusammen mit dem Ursprung der Philosophie, die als Königin der Wissenschaften zunächst sämtliche Wissenszweige umfasste. Während man sich bislang Geschichten vom Handeln der Götter erzählte („mythos“: „Er‐ zählung“), versuchten die frühen Naturphilosophen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts das kosmische Werden und Vergehen anhand unpersönlicher objektiver Prinzipien zu erklären („logos“: „Wort, Grund“). Sie wollten mit ihren Erkenntnissen nicht die Welt verändern, sondern nur ihr Wesen ver‐ stehen. Eine solche rein kontemplative Haltung konnte man laut Aristoteles historisch gesehen erst einnehmen, sobald alles vorhanden war, was über die Existenzsicherung hinaus „der Erleichterung und einem gehobenen Leben dient“ (Met., 982b). Andererseits bedeutete das Wissenschaftsideal der „Betrachtung“ aber nicht, dass solches Wissen keinerlei Einfluss auf die individuelle Praxis hatte. Nicht nur bei Platon und Aristoteles, sondern in der Antike insgesamt beinhaltet dieses Wissensideal immer zugleich eine ideale Lebensweise (vgl. Hadot, 256): Am meisten Glück soll dem Einzelnen nämlich die „theoretische“, ganz der Betrachtung gewidmete Lebensform versprechen (vgl. Aristoteles: NE, 1177a,17-b,14). Während des christlich geprägten Mittelalters gab es abgesehen von vereinzelten gelehrten Mönchen und Nonnen wie Albertus Magnus oder Hildegard von Bingen kaum wissenschaftlichen Fortschritt, weil sämtliche Wissenschaften der Theologie und der kirchlichen Autorität unterstanden und der Glaube Vorrang vor dem Wissen genoss. In der Renaissance und der frühen Neuzeit begann sich aber ein neues Wissenschaftsideal durchzusetzen: Die „reine“ oder „freie Wissenschaft“ zum Zweck der Wahrheitsfindung bzw. der Naturerkenntnis um ihrer selbst willen wurde abgelöst durch eine anwendungsbezogene Forschung, die den subjektiven Zwecken der Menschen dienen soll. In den Vorder‐ grund rückte eine instrumentelle Vernunft oder Mittel-Zweck-Ratio‐ nalität, die zur Erreichung beliebiger Ziele die optimalen Mittel oder Instrumente auswählt. Francis Bacons Slogan Wissen ist Macht wurde Programm. Ziel war es, dank der Erkenntnis der Naturgesetze die Natur immer besser beherrschen und über sie verfügen zu lernen. Neue Entde‐ ckungen und Erfindungen sollen den Wohlstand der Gesellschaft und das Glück der Menschen vermehren. Im Zeichen eines ausgeprägten Macht- 205 4 Wissenschaftsethik <?page no="206"?> und Machbarkeitsdenkens glaubte der frühneuzeitliche „homo faber“ sein Glück mit Entschlossenheit und Tatkraft durchsetzen zu können (vgl. Fenner 2003, 63). Damit sich bahnbrechende wissenschaftlich-technische Erfolge zur Herrschaft über die Natur erzielen ließen, tat in erster Linie eine neue Methode Not (vgl. Bacon, 87): Sich von der im Mittelalter gültigen aristotelischen Deduktion aus Prämissen befreiend, verhalfen v. a. Bacon und Galileo Galilei der induktiven Methode der Beobachtung und des Experiments zum Durchbruch. Statt staunend aus Distanz die Natur zu betrachten, sollten ihr mit gezielten Versuchsanordnungen und aktiv eingreifend ihre kausalen Gesetzmäßigkeiten entlockt werden. Noch wa‐ ren diese frühen experimentellen „Naturwissenschaftler“ allerdings nicht organisiert, sondern betrieben ihre Forschungen fern der Universitäten als private „Hobbys“. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts formierten sich wissenschaftliche Gesellschaften wie die „Royal Society of London“, bei deren Treffen Forscher wie Isaac Newton, ihr späterer Vorsteher, untereinander ihre Entdeckungen austauschten. Im 18. Jahrhundert war der Erfolg der Naturwissenschaften bereits derart beeindruckend, dass Kant sich für die Philosophie eine Revolution nach dem Vorbild der Mathematik und der Naturwissenschaften wünschte. Nur auf diese Weise könne sie auf den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ gebracht werden (vgl. KrV, BXVI). Erst recht zum Inbegriff für Wissenschaftlichkeit avancierten die Natur- und Ingenieurswissenschaften im 19. Jahrhundert, als das strenge Experiment zum methodischen Standard erhoben wurden. „Fakten statt Spekulationen! “ lautete der Schlachtruf der Positivisten, die sich von der ausschließlichen Orientierung an den „positiven“ Tatsachen den größten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt erhofften (vgl. Comte, 5-23). Als sich die einzelnen Wissenschaften langsam in fest‐ gefügte arbeitsteilige Organisationsformen wie Universitäten, Hochschulen u. a. Forschungseinrichtungen etablierten, hatten die sich mit dem „geistigen Leben“ der Menschen befassenden Geisteswissenschaften einen erschwer‐ ten Stand. Während die Naturwissenschaften die Natur zu erklären und vermessen versuchen, geht es in den Geisteswissenschaften um ein Verstehen und Bewerten der kulturellen Welt- und Daseinsdeutungen, Ordnungsformen und Produkte des menschlichen Geistes wie Sprache, Kunst, Normen etc. Dazu stehen ihnen aber keine exakten und objektivier‐ baren Methoden wie den „harten“ Naturwissenschaften zur Verfügung, sondern nur die Prinzipien der Hermeneutik und des rationalen Diskurses. Statt das zweckrationale „Verfügungswissen“ über das Positive in Natur 206 4 Wissenschaftsethik <?page no="207"?> und Gesellschaft zu vermehren, wollen sie als Anwalt des Humanen das normative, handlungsleitende „Orientierungswissen“ fördern, verstehen und systematisieren (vgl. Mittelstrass, 16). Gemäß dem humboldtschen Bildungsideal sollen Wissenschaften durchaus eine ethische Dimension aufweisen und zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen beitragen. Als „Gegengründung“ gegen die exakten Naturwissenschaften kommt den Human- oder Geisteswissenschaften zudem die Aufgabe zu, Zweck und Richtung des wissenschaftlich-technischen „Fortschritts“ zu bestimmen und zu messen. Neben der instrumentellen Rationalität gewinnt somit die Zielrationalität an Gewicht, die subjektive Zwecksetzungen rational überprüft und korrigiert bzw. rechtfertigt. Der Siegeszug der Naturwissenschaften und der Technik hat dazu geführt, dass die Macht des Menschen über die Natur und über andere Menschen immer mehr zunahm. Der Möglichkeitsraum und die Reichweite menschli‐ chen Handelns haben sich vervielfacht. So reicht beispielsweise ein kleiner Teil der vorhandenen Atomwaffen aus, um das gesamte Leben auf der Welt zu vernichten. Der blinde Optimismus bezüglich dieses immensen wissen‐ schaftlich-technischen Fortschritts schwächte sich im 20. Jahrhundert erheblich ab. Gedämpft wurde er v. a. durch die beiden Weltkriege mit über 60 Millionen Toten allein im Zweiten Weltkrieg, durch die systematische Vergasung missliebiger Minderheiten durch das Naziregime und durch ökologische Krisen wie Waldsterben oder Ozonloch, aber auch durch neue biomedizinische Techniken wie etwa der künstlichen Lebensverlängerung. Es wuchsen angesichts dessen die Zweifel daran, ob der Fortschritt an Macht und technischen Möglichkeiten wirklich automatisch ein Fortschritt hinsichtlich des Glücks der Menschen bedeute. Immer stärker trat das wissenschaftlich-technische Zerstörungspotential in die öffentliche Wahr‐ nehmung. Zentrale Werte wie Leben, Lebensqualität oder Menschenwürde schienen bedroht. Man erkannte zunehmend, dass die gesteigerte Wirkungs‐ macht der Wissenschaften mit einer besonderen Verantwortung verbunden ist. Es wurden Forderungen nach der Korrektur der bereits eingetretenen negativen Wirkungen und nach einer strikten Überprüfung der Forschungs‐ ziele laut (vgl. Ströker, 9 f.). Unter Wissenschaftlern und in der kritischen Öffentlichkeit machte sich ein geschärftes ethisches Problembewusstsein bemerkbar. In den 1970er Jahren etablierte sich dann die Bezeichnung „Ethik der Wissenschaften“ oder „Wissenschaftsethik“ als eigenständiges Gebiet normativer Reflexion. Einer der ersten und schonungslosesten Wis‐ senschaftskritiker unter den Philosophen war Hans Jonas, der mit großer 207 4 Wissenschaftsethik <?page no="208"?> Breitenwirkung an der Grundlegung einer solchen Wissenschaftsethik arbeitete (vgl. Schweidler 2006, 307 f.). Wissenschaftsethik ist die Bereichsethik, die sich mit den ethischen Problemen bei der Gewinnung und Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse befasst (vgl. Düwell 2000, 78). Im Fokus steht die Ver‐ antwortung beim wissenschaftlichen Forschen und beim Umgang mit wissenschaftlichen Innovationen (vgl. Reydon, 12 f.). Träger solcher Ver‐ antwortung sind natürlich in erster Linie die einzelnen Wissenschaftler selbst, dann aber auch das Kollektiv der Forschergemeinschaften und schließlich die privaten oder politischen Institutionen, die über Art und Umfang der Forschungsförderung sowie die Anwendung der Ergebnisse entscheiden. Verantwortung ist grundsätzlich ein mehrstelliger Relati‐ onsbegriff, wobei in den verschiedenen Verantwortungsmodellen nicht immer gleich viele Stellen differenziert werden (vgl. Lenk 1997, 90): Ein Verantwortungssubjekt (Person oder Korporation) ist für bestimmte Handlungen oder Aufgaben gegenüber den Betroffenen oder einer Sankt‐ ionsbzw. Urteilsinstanz in Bezug auf bestimmte normative Standards verantwortlich. Man unterscheidet zudem eine große Zahl von Verant‐ wortungs-Typen, von denen für die Wissenschaftsethik folgende zwei relevant sind (vgl. ebd., 83): Die Rollenverantwortung zum ersten ist an bestimmte Rollen oder Aufgaben geknüpft, die man beispielsweise als Mutter oder Professorin im sozialen oder beruflichen Leben übernimmt. Im Sinne einer solchen Rollenverantwortung trägt der Wissenschaftler gegenüber seiner Zunft eine innerwissenschaftliche oder interne Verant‐ wortung (vgl. Lenk u. a. 2008, 5 f.). Sie soll in Kapitel 4.1 näher beleuchtet werden. Bei der Kausalhandlungsverantwortung zum zweiten ist man für die durch das eigene Handeln verursachten Folgen verantwortlich. Da ein Wissenschaftler für kausale Folgen oder Auswirkungen nicht nur gegenüber der eigenen Forschungsgemeinschaft, sondern gegenüber Außenstehenden, der Gesellschaft insgesamt oder der Natur Verantwor‐ tung übernehmen muss, spricht man hier von externer Verantwortung. Wie sich in Kapitel 4.2 zeigen wird, streiten allerdings Verfechter der sogenannten Neutralitätsthese eine solche externe Verantwortlichkeit der einzelnen Wissenschaftler ab. Können diese denn dafür verantwortlich gemacht werden, was andere mit ihren Forschungsergebnissen tun? 208 4 Wissenschaftsethik <?page no="209"?> Prinzip Verantwortung mehrstellige Relation der Verantwortung wer trägt Verant‐ wortung? wofür? vor wem? bezüglich welcher normativer Standards? Verantwortungs‐ subjekte (Perso‐ nen/ Korporation) für bestimmte Handlungen und Aufgaben vor Betroffenen oder einer Sanktionsinstanz ethische Werte, Normen, Prinzi‐ pien zwei relevante Typen von Verantwortung eines Wissenschaftlers Rollenverantwortung Kausalhandlungsverantwortung interne Verantwortung im Rahmen von Rollenpflichten (Kap. 4.1) externe Verantwortung für die kausalen Folgen seines Tuns (Kap. 4.2) Um sich der unbequemen Frage nach der Verantwortung zu entledigen, könnte man von vornherein leugnen, dass die Wissenschaft überhaupt ein Gegenstand der Ethik sein kann. Begründen ließe sich dies mit der gängigs‐ ten Bedeutung von Wissenschaft als einem zusammenhängenden System von Thesen, Theorien und Modellen, das einer strengen Prüfung unterzogen wurde und den Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit erhebt (1). Der Be‐ griff „Wissenschaft“ steht aber keineswegs ausschließlich für die Resultate der Forschung, sondern auch für den Prozess selbst (vgl. Nida-Rümelin 2005, 843 f.; Fuchs, 41): Wissenschaft meint ebenso das methodische Forschen und Bemühen um intersubjektiv überprüfbares und nachvollziehbares, gesichertes Wissen (2). So verstanden als wissenschaftliche Praxis oder Forschungspraxis, kann Wissenschaft Veränderungen in der Wirklichkeit hervorrufen, für die es Verantwortung zu übernehmen gilt. In einem dritten Sinn schließlich ist Wissenschaft auch ein gesellschaftliches Subsystem mit Beschäftigten in den verschiedensten Berufsfeldern, Bürokratien und Institutionen, die öffentliche Mittel beantragen oder bewilligen (3). Als ein solches Subsystem zu Forschungszwecken beschäftigt die Wissenschaft einen großen Teil der Bevölkerung in hochindustrialisierten Gesellschaften und leistet einen erheblichen Beitrag zur wirtschaftlichen Produktivität. Wissenschaft als Teil des gesamtgesellschaftlichen Systems setzt eine positive Grundhaltung der Gesellschaft zur Wissenschaft und eine rationa‐ listische Weltorientierung voraus (vgl. Düwell 2015, 74). Es lassen sich 209 4 Wissenschaftsethik <?page no="210"?> gute Gründe angeben, wieso einem intersubjektiv nachvollziehbaren, be‐ gründeten Wissen der Vorzug z. B. vor einem religiösen Glauben gegeben wird: Seit der Aufklärung machten die Menschen die Erfahrung, dass sich wissenschaftlich geprüftes Wissen sowohl bei der Erklärung der Welt als auch bei der Lösung praktischer Probleme als überlegen erweist. So verlor beispielsweise die katholische Kirche den Kampf für das biblische geozent‐ rische Weltbild und gegen das von Galileo Galilei vertretene heliozentrische Weltbild. Bei der Bekämpfung von Viren hilft ein medizinischer Wirkstoff besser als Beten, und in einer Großstadt wird man einen gewünschten Zielort schneller mithilfe eines Navigationssystems auffinden als im Ver‐ trauen auf das eigene Bauchgefühl. Moderne westliche Gesellschaften bauen auf Wissenschaft auf, weil diese das Leben der Menschen sicherer und besser machen, und eine komplexe Gesellschaft nur mithilfe von Experten funktionieren kann (vgl. ebd., 72). Die Wissenschaft hat somit „handlungs‐ leitende Bedeutung“ und stellt ein Handlungssystem dar, das mannigfaltige Aktivitäten reguliert (Schweidler 2006, 307). Wissenschaftsethik: Bereichsethik, die sich mit den ethischen Problemen bei der Gewinnung und Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse befasst zentrale Werte: Leben, Lebensqualität, Menschenwürde Wissenschaft: 1) zusammenhängendes System von methodisch geprüfter Theorien/ Modelle 2) Forschungspraxis, die zu Veränderungen in der Wirklichkeit führen kann 3) gesellschaftliches Subsystem zu Forschungszwecken mit Beschäftigten 4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos Innerwissenschaftliche oder interne Verantwortung trägt ein Wissen‐ schaftler entweder speziell gegenüber seiner Zunft, also beispielsweise ein Mediziner gegenüber der medizinischen Forschergemeinde, oder gegenüber der ganzen Forschergemeinschaft („Scientific Community“). Mit der Rolle als Wissenschaftler übernehmen die Einzelnen spezifische Aufgaben und Pflichten und eine damit verbundene Rollenverantwortung. Genauso wie Angehörige anderer Berufsgruppen wie z. B. Ärzte sind auch Wissenschaft‐ ler zu einem bestimmten „Standesethos“ verpflichtet, und es wurden v. a. in den Naturwissenschaften schon Eidesverpflichtungen analog zum hip‐ 210 4 Wissenschaftsethik <?page no="211"?> pokratischen Eid vorgeschlagen (vgl. Fuchs, 45 f.; Maring, 167). Auch von ihnen erwartet man bestimmte Tugenden, in diesem Fall die Identifikation mit spezifischen Idealen und Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens. Inhaltlich gesprochen umfasst diese wissenschaftsinterne Verantwortung im Wesentlichen die Verpflichtung auf den höchsten Wert der Wahrheit, die Beachtung der Regeln sauberen wissenschaftlichen Arbeitens und faire Konkurrenz (vgl. Lenk 1991, 56). Manchmal wird dieser Teil der Wissen‐ schaftsethik als Forschungsethik bezeichnet, die sich in einem engen Sinn verstanden allein mit dem wissenschaftlichen Entdeckungszusammenhang, nicht aber dem Anwendungszusammenhang wissenschaftlicher Erkennt‐ nisse befasst (vgl. Maring, 165). Auch die „Forschungsethik“ sollte sich aber beiden ethischen Dimensionen einer internen und externen Verantwortung widmen, sodass der Begriff in seiner weiten Bedeutung als Synonym zu „Wissenschaftsethik“ verwendet werden kann (vgl. Graumann 2011a, 253). Obgleich die Grundprinzipien sauberen wissenschaftlichen Arbeitens unter den Forschern seit jeher unausgesprochen akzeptiert waren, begann man erst Mitte des 20. Jahrhunderts, konkrete Verhaltensregeln explizit zu benennen und zu systematisieren. Viel zitiert sind diesbezüglich die frühen theoretischen Konzepte von Robert Merton, André Cornand und Hans Mohr, die bei der nachfolgenden Zusammenstellung der wichtigsten Prinzipien berücksichtigt werden (vgl. Lenk u. a. 2008, 494). Heute finden sich Regeln guter wissenschaftlicher Praxis fast in allen Richtlinien von Wissenschaftsinstitutionen, also von Zeitschriften, Akademien, Hochschu‐ len und Förderorganisationen: z. B. die Regeln der Zeitschrift für Praktische Philosophie gemäß den Empfehlungen des „Komitees für Publikationsethik“ („Committee on Publication Ethics“) oder des Hochsschullehrerverbands, oder die Empfehlungen der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissen‐ schaft“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) (vgl. Grotefeld, 50). Verhaltenskodizes erstellen auch wissenschaftliche Gesellschaften wie z. B. die Max-Planck-Gesellschaft, Deutsche Physikalische Gesellschaft oder Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Neben Eiden und Verhaltenskodizes gibt es noch organisatorische Formen der Institutionalisierung wie Ethikbe‐ auftragte, Ethikkomitees oder Ethikräte wie etwa der Deutsche Ethikrat, der die Regierung bei Fragen der Lebenswissenschaften berät. 211 4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos <?page no="212"?> 1) Wahrheit und Wahrhaftigkeit Als Höchstwert und oberstes Prinzip wissenschaftlicher Tätigkeit gilt die Wahrheitssuche und -sicherung (vgl. Lenk u. a. 2008, 494; Schweidler 2006, 311). Anlässlich meiner Promotion in Basel musste ich in einem vor‐ formulierten Gelübde versprechen, „die wissenschaftliche Erforschung der Wahrheit immer als eine ernste und notwendige Aufgabe zu betrachten“. Ethisch verwerflich sind entsprechend das Lügen und Betrügen, wobei unter „Wissenschaftsbetrug“ jede Form täuschenden Verhaltens in der Forschung verstanden wird (vgl. Völger, 30). Dazu zählen allen voran die zwei häufigsten Arten wissenschaftlichen Fehlverhaltens: die Fälschung oder Erfindung von Forschungsergebnissen und die Veröffentlichung fremder Forschungsergeb‐ nisse unter eigenem Namen (Plagiat), aber auch unzureichende Angaben be‐ züglich Quellen oder Finanzierungsressourcen. In den empirisch arbeitenden Natur- und Sozialwissenschaften lassen sich beim Umgang mit Datensätzen noch weitere Unterteilungen vornehmen: Während bei einer Extremform der Fälschung eine freie Erfindung von Datensätzen oder empirischen Belegen für Behauptungen vorliegt („Fabrication“), können bei bloßen Verfälschun‐ gen („Falsification“) entweder Daten beschnitten werden, die zu weit vom Mittelwert des gesamten Satzes abweichen, um eine größere Genauigkeit vor‐ zutäuschen („Trimming“), oder im Sinne einer „selektiven Berichterstattung“ nur die zur Hypothese bzw. dem gewünschten Ergebnis passenden Beobach‐ tungsdaten in den Forschungsbericht aufgenommen werden („Cooking“) (vgl. Reydon, 104 ff.). Nicht immer sind Betrugsfälle so skandalös und medienwirk‐ sam wie bei der Forschergruppe um den koreanischen Klonforscher Hwang Woo-Suk, dessen spektakuläre Ergebnisse beim Klonen von elf menschlichen Stammzellen 2005 im Wissenschaftsjournal „Science“ veröffentlicht wurden, sich aber größtenteils als frei erfunden erwisen. Einen entscheidenden Anstoß zur Institutionalisierung der wissenschaftlichen Selbstkontrolle gab jedoch schon der im Jahr 1998 aufgeflogene Fall der renommierten Ulmer Krebs‐ forscher Friedhelm Herrmann und Marion Brach, die mithilfe gefälschter Forschungsergebnisse umfangreiche Drittmittel bei der DFG einwarben und wissenschaftlich Karriere machten (vgl. Hesse, 7). In den Geisteswissenschaften, die keine empirischen Datensätze erheben, steht hingegen meist ein unzulänglicher Umgang mit Quellen und Voraus‐ setzungen der publizierten Erkenntnisse am Pranger: Wo sprachliche Über‐ nahmen nicht als Zitate kenntlich gemacht und Urheber eines Gedankens nicht genannt werden, spricht man von Plagiat, d. h. einem Raub von geistigem Eigentum. Für große Aufmerksamkeit sorgten die Plagiate in den 212 4 Wissenschaftsethik <?page no="213"?> Dissertationen der beiden Politiker Karl zu Guttenberg (2011) und Annette Schawan (2012), die aufgrund dieser Unredlichkeiten und des anfänglichen Abstreitens der fremden Urheberschaft ihre Posten räumen mussten. Solche Plagiate untergraben nicht nur die Glaubwürdigkeit der Personen selbst, die sich unehrlicherweise die Autorschaft von Gedanken oder Ideen anderer zueigen machen. Bezüglich der Pflicht zur Wahrheitssuche zerschneiden sie das Band zwischen den Erkenntnissen und seinem Urheber: Die Quellen des Wissens sind nicht rekonstruierbar und es ist niemand mehr da, der für die Wahrheit oder Richtigkeit der Forschungsergebnisse einsteht (vgl. Reydon, 70 f.). Im Gegensatz zu den auf positive Tatsachen gerichteten Naturwissen‐ schaften mit dem Ziel eines Verfügungswissens ist das höchste Ideal der Geisteswissenschaften jedoch strenggenommen nicht „Wahrheit“ im Sinne der Übereinstimmung von Vorstellungen oder Aussagen des Subjekts mit objektiven Tatsachen. Auch für geisteswissenschaftliche Bemühungen um ein praktisches Orientierungswissen oder normative Richtigkeit gilt aber das grundlegendere Gebot der intellektuellen Redlichkeit oder Wahr‐ haftigkeit, das zur Übereinstimmung der wissenschaftlichen Aussagen mit den persönlichen Überzeugungen verpflichtet. Gemäß einer 2005 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie gaben ein Drittel von 3200 befragten Wissenschaftlern zu, in den letzten drei Jahren mindestens einmal gelogen oder betrogen zu haben (vgl. Fangerau, 283). Motive rei‐ chen von dem akademischen Druck, möglichst viel zu publizieren, bis hin zu finanziellen Anreizen seitens der Sponsoren. In gegenwärtigen wissen‐ schaftsethischen Diskussionen wird v. a. in den USA häufig die sogenannte FFP-Definition für „Fabrication“ (erfinden), „Falsification“ (verfälschen) und „Plagiarism“ (Plagiat) verwendet (vgl. Reydon, 106 f.). 2) Objektivität und Unvoreingenommenheit Eng verwandt mit dem Prinzip der Wahrheitssuche oder der Wahrhaftigkeit ist die immer wieder erhobene Forderung nach Objektivität, Unvoreinge‐ nommenheit und Uneigennützigkeit (vgl. Balzert u. a., 18; Merton, 96). Objektivität meint in seiner allgemeinen Bedeutung die Unabhängigkeit von subjektiven Gefühlen, Vorlieben, Interessen, Überzeugungen und Wert‐ vorstellungen. In der Wissenschaft können aber nicht nur persönliche Interessen und egoistisches Karrieredenken, sondern auch die Interessen von Sponsoren oder Auftraggebern in Politik und Wirtschaft sowie natio‐ nalistische, rassistische oder naturalistische Geisteshaltungen die gebotene Objektivität behindern oder unmöglich machen. Durch ein Netzwerk aus 213 4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos <?page no="214"?> Wissenschaftlern und Tabakindustrie sollen beispielsweise lange Zeit For‐ schungsprojekte über den Zusammenhang zwischen Rauchen und öffentli‐ cher Gesundheit gesteuert worden sein (vgl. Fangerau, 293). Wo Objektivität fehlt, liegen weder Unvoreingenommenheit der Wissenschaftler im Sinne der Freiheit von Vorurteilen, Hoffnungen und Ressentiments vor noch auch Uneigennützigkeit als persönliche Nichtinteressengebundenheit (vgl. Ma‐ ring, 166). Im Extremfall kennen Wissenschaftler das Endergebnis ihrer Forschung schon detailgenau, bevor sie sich überhaupt an die gründliche Recherche der Literatur oder die Erhebung der Daten machen. Konkret zeigt sich eine voreingenommene wissenschaftliche Praxis insbesondere etwa in einem selektiven Vorgehen, bei dem sämtliche dem gewünschten Resultat widerstreitenden Argumente, Thesen, Quellen, Beobachtungen oder Expertisen einfach ignoriert werden (vgl. Balzert u. a., 18 f.). In den empirisch arbeitenden Natur- und Sozialwissenschaften setzen Objektivität und Unvoreingenommenheit strenge Sachorientierung und eine möglichst objektive Datengewinnung voraus (vgl. Graumann, 254). Bezüglich dieser empirischen Forschungspraxis ist Max Webers Forderung nach Wertfrei‐ heit angemessen, die eine klare Trennung zwischen Feststellung von Tat‐ sachen und Bewertung dieser Tatsachen fordert (vgl. Weber 1988, 490). In den Geisteswissenschaften verlangen Objektivität und Unvoreinge‐ nommenheit abweichend von den Naturwissenschaften eine ernsthafte Auseinandersetzung mit allen vorhandenen widersprechenden historischen Quellen, Meinungen und Bewertungen und eine konsistente und kohärente Begründung der eigenen Position (vgl. Graumann, 254). Insbesondere für Disziplinen wie Ethik und Recht kann „Objektivität“ weder Sachorientie‐ rung noch Wertfreiheit meinen. Sinnvoll und wichtig sind hingegen Forde‐ rungen nach Willkürfreiheit und Verallgemeinerbarkeit (Merton: „Uni‐ versalismus“) oder allgemeiner Verbindlichkeit von Geltungsansprüchen (Merton, 90). Würde man das Objektivitätsideal vom Forschungsprozess auch auf die Bestimmung der Forschungsziele ausweiten, müssten auch diese im Rückgriff auf allgemein anerkannte moralische Prinzipien oder ver‐ allgemeinerbare außerwissenschaftliche Interessen legitimiert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bzw. in den 60er Jahren wurden in der deutschen Soziologie ein Werturteils- und Positivismusstreit ausgetragen zwischen der traditionellen Theorie mit ihrem Ideal einer objektiven, wertfreien soziolo‐ gischen Forschung und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die mit ihrem wertenden Engagement für eine bessere Gesellschaft eintritt. Am Ende der Auseinandersetzung konnte folgende verbale „Lösung“ gefun‐ 214 4 Wissenschaftsethik <?page no="215"?> den werden: Es dürfen zwar bei der Auswahl der Forschungspraxis oder Fragestellungen Interessen der Wissenschaftler oder der Gemeinschaft eine Rolle spielen, nicht aber bei der Gewinnung der Erkenntnisse. Über die Uneigennützigkeit oder „persönliche Nichtinteressengebundenheit“ („Des‐ interessiertheit“) hinaus verlangen einige Ethiker von Wissenschaftlern sogar einen „commonalism“ oder eine „öffentliche Gemeinschaftsorientie‐ rung“ (vgl. Lenk u. a. 2008, 494). Damit ginge es allerdings nicht mehr nur um interne Verantwortung, sondern es wäre die Dimension externer Verantwortung erreicht (vgl. Kap. 4.2). Zusammenfassend liegt Objektivität in den Wissenschaften ganz allgemein dann vor, wenn im Prinzip auch jede andere Person aufgrund der gleichen Basis aller relevanter Daten bzw. erwägenswerter Argumente und mithilfe von logischen Schlussfolgerungen zu den gleichen Ergebnissen gelangen würde (vgl. Balzert u. a., 20). 3) Intersubjektive Überprüfbarkeit und systematisierter Zweifel Eng verknüpft mit der wissenschaftsethischen Forderung nach Objektivität der wissenschaftlichen Praxis ist diejenige nach intersubjektiver Nach‐ vollziehbarkeit und Überprüfbarkeit, die genauso wie Objektivität zu‐ gleich ein zentrales wissenschaftliches Qualitätskriterium bildet. Ihr zufolge ist das methodische Vorgehen offenzulegen, und alle Thesen sind verständ‐ lich zu formulieren und hinlänglich zu belegen: Während Theorien in den Naturwissenschaften mit empirischen Belegen bewiesen werden sollen, lassen sie sich in den Geisteswissenschaften lediglich mit guten Argumenten begründen. Was sich nicht intersubjektiv überprüfen und sich damit nicht widerlegen („falsifizieren“) oder bestätigen („verifizieren“) lässt, gilt als nicht-wissenschaftlich oder spekulativ (vgl. Balzert, 22). Dazu gehören z. B. Behauptungen wie die, dass jede Genesung eines Patienten einem guten Ein‐ fluss der Sterne zu verdanken ist. In den empirisch arbeitenden Natur- und Sozialwissenschaften werden Reliabilität und Validität gefordert (vgl. ebd., 27 ff.): Eine hohe Reliabilität liegt dann vor, wenn die Messinstrumente zuverlässig sind und deswegen bei einer Wiederholung der Messung zu den gleichen Messergebnissen führen. Die Validität hingegen gibt den Grad der Genauigkeit an, mit der ein Verfahren das misst, was gemessen werden soll. Aber auch die exakten Naturwissenschaften liefern niemals absolut sicheres Wissen oder absolute Wahrheiten, sondern nur größtmögliche zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichbare Sicherheit oder Gewissheit. Denn jeder‐ zeit können neue, die Theorie falsifizierende Erfahrungen gemacht bzw. neue Gegenargumente gefunden werden. Grundlegende Voraussetzung für 215 4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos <?page no="216"?> gute wissenschaftliche Praxis ist daher seitens der einzelnen Wissenschaft‐ ler eine hohe Selbstkontrolle und eine kritische Haltung gegenüber den eigenen Forschungsergebnissen sowie die Bereitschaft, seine Forschung dem kritischen Blick der Fachkollegen auszusetzen. Auf der Ebene der Wis‐ senschaftsgemeinschaft braucht es einen systematisierten Zweifel oder in Mertons Worten einen organisierten Skeptizismus, der sämtliche Urteile und Überzeugungen einer kritischen Prüfung unterzieht (vgl. Lenk u. a. 2008, 494; Merton, 99). Wissenschaft ist ein ständiger Prozess des Zweifelns und Verbesserns angesichts der grundsätzlichen Fallibilität der Erkenntnisse. 4) Fairness und Gemeinbesitz Vom Wissenschaftler erwartet man schließlich Fairness gegenüber seinen Kollegen oder Konkurrenten in einer „konkurrenzorientierten Kooperation“ (Merton, 94). Da sich wissenschaftliches Arbeiten wesentlich im (interdis‐ ziplinären) Austausch in Zusammenarbeit und weltweiter Kooperation vollzieht, ist „Fair Play“ in den Wissenschaften unerlässlich. Dazu zählen die Tugenden der Ehrlichkeit, des gegenseitigen Respekts und der unpar‐ teiischen Anerkennung der Verdienste anderer (vgl. Balzert u. a., 45). In hohem Masse unfair wäre z. B. die Ablehnung einer Forschungsarbeit durch einen Gutachter ohne sachlich relevanten Grund, nur um eine eigene Arbeit auf dem gleichen Gebiet früher veröffentlichen zu können (vgl. Knoepffler, 161). Plagiate sind besonders dann schwerwiegend, wenn dadurch die Plagiatsopfer z. B. aufgrund der entgangenen Anerkennung durch die wis‐ senschaftliche Gemeinschaft oder vereitelter Karrierechancen geschädigt werden. Im Rahmen einer Publikationsethik ist auch das Aufführen von Co-Autoren problematisch, die nicht substanziell, sondern höchstens in technischer Hinsicht z. B. durch Korrekturlesen mitgewirkt haben (vgl. Schnell, 20; Fangerau, 297 f.). Häufig wird von wissenschaftlichen Mitarbei‐ tern erwartet, ihre Vorgesetzten in die Autorenliste aufzunehmen, oder Wissenschaftler zu Beginn ihrer Karriere vergeben aus eigenem Antrieb sogenannte Ehren- oder Geisterautorenschaften an renommierte Wissen‐ schaftler, um die Publikationschance der eigenen Forschungsergebnisse in angesehenen Zeitschriften zu erhöhen (vgl. Fangerau, 298). Mertons Prinzip „communism“: „Kommunalismus“, im Deutschen meist missverständlich als „Kommunismus“ übersetzt, meint im allgemeinen Sinn den gemeinsamen Besitz von Gütern bzw. Wissen und verlangt vom Wis‐ senschaftler, die eigenen Forschungsergebnisse zu veröffentlichen (vgl. Merton, 93 ff.). Diese Pflicht zur Publikation lässt sich damit begründen, 216 4 Wissenschaftsethik <?page no="217"?> dass sich Thesen und Theorien im wissenschaftlichen Prozess gegenseitiger Kontrolle bewähren müssen. Die Ansprüche auf den „Besitz“ geistigen Eigentums beschränken sich ihm zufolge auf Anerkennung und Ansehen. Wenn in neuerer Zeit diese Forderung nach Uneigennützigkeit z. B. auf einen unentgeltlichen Zugriff auf Forschungsergebnisse im Internet („Open Access“) bezogen wird, ist dies für Beamte im akademischen Dienst oder für alle von öffentlicher Hand geförderten Studien unstrittig. In der freien Forschung jedoch scheinen Patentrechte oder Ansprüche auf Vergütungen von mündlichen und schriftlichen Beiträgen insbesondere innerhalb des akademischen Prekariats legitim zu sein. Damit es nicht zu einer Verzerrung im Erkenntnisprozess kommt, müssten aber entgegen der üblichen Praxis auch negative Ergebnisse z. B. von Arzneimittelstudien in wissenschaftli‐ chen Zeitschriften veröffentlicht werden (vgl. Graumann, 254; Reydon, 51). Interne Verantwortung: Rollenverantwortung gegenüber anderen Wissen‐ schaftlern, seiner Zunft oder der ganzen Forschergemeinschaft („Scientific Com‐ munity“) ethische Gebote: 1) Wahrheit und Wahrhaftigkeit 2) Objektivität und Unvoreingenommenheit 3) intersubjektive Überprüfbarkeit und systematisierter Zweifel 4) Fairness und Gemeinbesitz Manchmal wird bezweifelt, ob ein solcher Normenkodex für Wissenschaft‐ ler im engen Sinn „ethisch“ sei und ein entsprechendes „Standesethos“ überhaupt als „Ethik des Wissenschaftlers“ gelten könne (vgl. Lenk 1997, 113; Lenk u. a. 2008, 494). Es handle sich nicht um eine „Universalmoral des Wissenschaftlers“, weil sie nicht die „Unversehrtheit anderer Lebewesen“ betreffe (Lenk u. a., ebd.). Gebote wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit (1), Un‐ voreingenommenheit und Uneigennützigkeit (2) oder Fairness und Respekt (4) decken sich aber offensichtlich mit den universellen moralischen Nor‐ men, die auch außerhalb der Wissenschaften in unserer Gesellschaft weithin anerkannt sind und sich diskursethisch begründen lassen. Unparteiisch Rücksicht genommen wird zwar nicht auf die Unversehrtheit anderer Lebe‐ wesen, aber auf ihre Interessen, die bei der Einnahme des moralischen Stand‐ punktes zu berücksichtigen sind: Ein Wissenschaftler, der plagiiert, Daten erfindet oder sich auf unfaire Weise Vorteile verschafft, missachtet oder schädigt die Interessen seiner Konkurrenten, Förderer und aller Kollegen, 217 4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos <?page no="218"?> die sich vertrauensvoll auf seine Arbeiten stützen (vgl. Grotefeld, 48 f.). Im Rahmen der Tugendethik würde man von Tugenden der Wahrhaftigkeit, Fairness etc. sprechen (vgl. Fuchs, 48). Andere Normen wie die Forderung nach allgemeiner Verständlichkeit, intersubjektiver Überprüfbarkeit und erhöhter Selbstkontrolle machen das wissenschaftliche Ethos rationaler Kommunikation aus, das sich durch eine Theorie der Sprechakte oder Dis‐ kursethik theoretisch fundieren ließe (vgl. ebd., 48 f.). Ein Standesethos stellt zwar immer nur eine Berufsmoral und damit eine spezifische Moral für eine bestimmte Berufsgruppe dar und enthält teilweise auch eher technische Regeln. Diese gelten aber universell für alle Menschen in dieser beruflichen Funktion, ganz unabhängig von subjektiven Zielsetzungen. In Mertons Worten handelt es sich insofern „zugleich um moralische und technische Vorschriften“, als sie „für richtig und gut erachtet werden“ (90). Anders als Konventionen gelten sie nicht lediglich aufgrund langer Traditionen oder willkürlicher Vereinbarungen, sondern liegen im gemeinsamen Interesse aller Wissenschaftler am Erkenntnisfortschritt und einem funktionierenden Wissenschaftssystem und sind mit moralischen Gefühlen wie Scham oder Empörung verbunden (vgl. Ethik, 15 f.). 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung Außerwissenschaftliche oder externe Verantwortung trägt der Wissen‐ schaftler nicht gegenüber der Scientific Community, sondern gegenüber Außenstehenden, der Gesellschaft insgesamt oder der Natur. Im Kontrast zur „Rollenverantwortung“ bei der internen Verantwortung spricht man hier von Kausalhandlungsverantwortung oder Folgenverantwortung, weil das „Wofür“ dieses Verantwortungstyps die Folgen und Nebenwirkungen wissenschaftlicher Tätigkeiten sind. Häufig stehen Natur- und Ingenieur‐ wissenschaftler am Pranger, deren wissenschaftliche Praxis negative Folgen für Mit- und Umwelt zeitigten. Den verantwortlichen Wissenschaftlern wird dann in dem Sinn eine retrospektive Verantwortung zugesprochen, als sie sich für den angerichteten Schaden im Nachhinein bzw. rückblickend („retrospektiv“) rechtfertigen und dafür die Verantwortung übernehmen sollen. Ganz generell kann jemand aber nur deswegen retrospektiv zur Verantwortung gezogen werden, weil er schon zuvor eine prospektive Verantwortung innehatte, d. h. weil ihm bestimmte rollenspezifische Pflichten und Aufgaben zukamen und er für jemanden oder etwas voraus‐ 218 4 Wissenschaftsethik <?page no="219"?> schauend bzw. der Aussicht nach („prospektiv“) zuständig war. Es besteht also eine Korrespondenzbeziehung zwischen prospektiver, Aufgaben- oder Zuständigkeitsverantwortung und retrospektiver, Rechenschafts- oder Zu‐ rechnungsverantwortung. Die Frage nach der Verantwortung hängt folglich wesentlich von derjenigen ab, welche Aufgaben und Verpflichtungen ein Wissenschaftler gegenüber Gesellschaft und Umwelt hat. Viele Wissen‐ schaftler leugnen wie Robert Oppenheimer in den oben zitierten Äußerun‐ gen bis heute jede externe Verantwortung von Wissenschaftlern für die Ergebnisse ihrer Forschungen (vgl. Anschauungsbeispiel 1). Nach kontro‐ versen Debatten in ihren Anfängen herrscht aber in der Wissenschaftsethik heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Wissenschaftler über die interne Verantwortung hinaus auch eine externe tragen (vgl. Graumann 2011a, 261). Im Folgenden sollen die wichtigsten Argumente gegen eine Verantwortung der Wissenschaftler gegenüber Mit- und Umwelt vorgestellt und kritisch analysiert werden. Externe Verantwortung: Handlungsverantwortung für die Folgen der wissen‐ schaftlichen Tätigkeit gegenüber Außenstehenden, der Gesellschaft oder Natur prospektive Verantwortung (Aufgabenverantwortung): Verantwortung bezüglich rollenspezifi‐ scher Aufgaben und Pflichten retrospektive Verantwortung (Rechenschaftsverantwortung): Verantwortung für eingetretene nega‐ tive Handlungsfolgen 1) Harmlosigkeit und Folgenlosigkeit von Wissenschaft Wissenschaftliche Forschung wird oft als völlig harmlos dargestellt, weil ihr Produkt Wissen sei und sonst nichts (vgl. dazu Jonas 1991, 201). Gänzlich harmlose und folgenlose Forschungen dürften allerdings unter den naturwissenschaftlichen Disziplinen höchstens etwa in der Astronomie oder der Paläontologie anzutreffen sein (vgl. ebd.). In der ältesten kontemplativen Wissenschaft der Astrologie ging es um die „reine“ Betrachtung der Gestirne und Himmelskörper im Universum, und in der Naturphilosophie des 6. Jh. v. Chr. fragte man nach den metaphysischen Grundprinzipien der Welt, ohne sie durch Versuchsanordnungen zu verändern oder auf irgendwelche Nutzungspotentiale abzuzielen. Seit dem neuzeitlichen Slogan „Wissen ist Macht“ und dem enormen Erfolg der Naturwissenschaften im Verbund mit der Technik im 19. Jh. eröffnen aber Wissenschaften immer neue Handlungs‐ möglichkeiten, die immer weitreichendere und problematischere Folgen ha‐ ben können (vgl. Einleitung). Als viel harmloser werden im Gegensatz dazu 219 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="220"?> gewöhnlich die geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie etwa Philosophie, Literatur-, Kunst- und Geschichtswissenschaften eingeschätzt. Wenn ein Geschichtswissenschaftler aufgrund einer unzulänglichen Datenlage ein historisches Ereignis falsch rekonstruiert oder ein Literaturwissenschaftler die Mehrdeutigkeit eines Gedichtes undifferenziert analysiert, scheint dies keinerlei Folgen für die Gesellschaft zu haben (vgl. Luckner, 91 f.). So fristeten die Geisteswissenschaften lange Zeit ein stiefmütterliches Dasein innerhalb der Wissenschaftsethik und konnten im Windschatten anderer Disziplinen wie etwa Medizin und Biologie relativ ungestört forschen (vgl. Dietrich, 130). Im Folgenden werden die wichtigsten Probleme in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zusammengestellt. empirisch arbeitende Wissenschaf‐ ten Geisteswissenschaften z.B. Naturwissenschaften, Medizin, Psychologie, Soziologie z.B. Philososophie, Literatur-, Kunst- oder Geschichtswissenschaften Experimente mit Menschen und Tie‐ ren zur Erforschung der Natur Interpretation/ kritische Reflexion der Produkte des menschlichen Geistes (Sprachen, Normen, Kunstwerke etc.) → direkte Folgen für Menschen → keine direkt Betroffenen a) Unmittelbare Folgen bei empirisch arbeitenden Wissenschaften Kaum geleugnet werden kann die Verantwortung für unmittelbare Folgen der empirisch arbeitenden Wissenschaften, die sich im Forschungsprozess selbst in der direkten Interaktion mit Mit- und Umwelt ergeben. Sobald beispielsweise in der Medizin, Psychologie oder Soziologie mit lebendigen Versuchsobjekten experimentiert wird oder Freilandversuche durchgeführt werden, ist die Wissenschaft nicht mehr eine reine Anstrengung des Geistes. Viele Experimente sind alles andere als harmlos, es werden große Risiken eingegangen und es kommt immer wieder zu Schäden. Damit verstoßen die Wissenschaftler gegen die allgemeinmenschliche moralische Basisnorm und ihre implizite prospektive Verpflichtung, anderen Menschen und Tieren (sowie der Natur als ihrer Lebensgrundlage) mit ihrer Forschungspraxis keinen Schaden zuzufügen und deren fundamentalen Rechte nicht zu ver‐ letzen. Es liegt dann ein klarer kausaler Wirkzusammenhang und damit eine direkte Kausalhandlungsverantwortung der Wissenschaftler vor, über die sie retrospektiv Rechenschaft ablegen müssen. Eingehend erläutert werden 220 4 Wissenschaftsethik <?page no="221"?> in den nachfolgenden Kapiteln die am meisten problematisierten Human‐ experimente (Kap. 4.3) und Tierexperimente (vgl. Kap. 4.4). Gegenstand öffentlicher Debatten sind aber auch neue Biotechnologien mit direkten Auswirkungen auf das menschliche Leben wie z. B. die Gentechnik, die im Rahmen der Technikethik zur Sprache kommt (vgl. Kap. 5.3). Seit 2012 die neue biochemische CRISPR/ Cas-Methode zur Genomeditierung entwickelt und Ende 2018 einem chinesischen Forscher mit dieser Genschere bei einem Embryo die Immunisierung gegen Aids gelungen sein soll, werden solche Eingriffe in die Keimbahn stark diskutiert. Um fragwürdige Eltern-Wünsche nach Designer-Babys oder gar eugenischen staatlichen Programmen vorzu‐ beugen, braucht es klare internationale Richtlinien für die Forschungen zum genetischen Enhancement (vgl. Fenner 2019, Kap. 5). Bei der gleichfalls immer wieder auf dem Prüfstein stehenden verbrauchenden Embryonen‐ forschung sind größtenteils die gleichen ethischen Argumente relevant wie in der Abtreibungsdebatte und der Reproduktionsmedizin (vgl. Kap. 2.3): Während aus einer konservativen Position bereits dem Embryo absolute Schutzwürdigkeit zukommt und die Forschung an embryonalen Stammzel‐ len daher strikt abgelehnt wird, dürfen aus liberaler Sicht die Rechte auf Leben und Würde der Embryonen abgewogen werden gegen die Rechte auf Gesundheit der Patienten und auf Forschungsfreiheit der Wissenschaftler (vgl. Zude, 11; Heinemann, 156-170). Im Gegensatz zur problematischen Gewinnung embryonaler Stammzel‐ len aus menschlichen Embryonen ist das Ziel der Stammzellenforschung zweifellos hochrangig: Aus Stammzellen sollen Gewebeersatz oder ganze transplantierbare Organe hergestellt und damit zahlreiche schwere, bislang kaum therapierbare Krankheiten wie Diabetes, Parkinson oder Querschnitt‐ lähmung geheilt werden können. Den Befürwortern zufolge überwiegt das Potential der Stammzellenforschung für therapeutische Anwendungen die schwache Schutzwürdigkeit der Embryonen auch dann, wenn es nur halb so groß ist wie von den Forschern behauptet (vgl. Birnbacher 2006, 372). Andere tendieren vorsichtiger dazu, die Forschung an embryonalen Stamm‐ zellen vorerst auszusetzen und sich auf die adulten Stammzellen aus dem Nabelschnurblut von Neugeborenen, Knochenmark oder Blut von Erwach‐ senen zu konzentrieren (vgl. Marckmann u. a., 365). Der Würdeschutz von Embryonen scheint zu verlangen, dass es keine geeigneten Alternativen zum Erreichen der Forschungsziele gibt und dass konkret greifbare Heilerfolge mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden können (Heinemann u. a., 207). Als Alternativen kommen adulte Stammzellen mit geringerem 221 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="222"?> Entwicklungspotential, das therapeutische Klonen, das Reprogrammieren adulter Zellen in pluripotente Stammzellen oder die Transdifferenzierung von adulten Zellen in andere spezialisierte Zelltypen in Frage. Ethisch nicht vertretbar scheint insbesondere die kommerzielle Herstellung von Embryonen zur Gewinnung embryonaler Stammzellen z. B. durch repro‐ duktives Klonen zu sein, weil diese sich bei einer Implantation zu einem Menschen entwickeln könnten. Denn eine solche willentliche Erzeugung von Embryonen stellt eine so klare Instrumentalisierung zu ausschließlich fremden Zwecken dar, dass die ihnen wenigstens zustehende minimale Würde und moralische Schutzwürdigkeit eindeutig verletzt würde. Aus die‐ sem Grund verbietet das deutsche Embryonenschutzgesetz die Herstellung von Embryonen zu Forschungszecken ebenso wie die Verwendung von Embryonen zu einem nicht ihrem Erhalt dienenden Zweck, wohingegen in Großbritannien eine liberale Position vertreten wird und sowohl die Verwendung überzähliger Embryonen als auch die Herstellung embryonaler Stammzellen extra für die Forschung erlaubt ist. Stammzellenforschung Konservative Position: kontra Liberale Position: pro höchster moralischer Status, unan‐ tastbare Würde und absoluter Lebens‐ schutz menschlichen Lebens von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an - abgestufte moralische Schutz‐ würdigkeit der Embryonen - hochrangiges Forschungsziel: Therapie schwerer Krankheiten - Recht auf Gesundheit der Patien‐ ten → Stammzellenforschung unter allen Umständen ethisch verboten → notwendige Abwägung zwischen Schutzwürdigkeit der Embryonen und Forschungszielen Kritik: Unterscheidung von verschie‐ denen „Potentialitäten“ ethisch relevant (vgl. Kap. 2.3) Problem: Prognosen über zukünf‐ tige Anwendungen der Grundlagenfor‐ schungen äußerst ungewiss → ethische Forderungen: - keine kommerzielle Herstellung von Embryonen, kein therapeutisches Klo‐ nen - Forschung an möglichen Alternativen zu embryonalen Stammzellen intensi‐ vieren 222 4 Wissenschaftsethik <?page no="223"?> b) Krypto-Normativität und selbsterfüllende Prophezeiung in den Sozialwissenschaften Auch die Sozialwissenschaften, denen neben Soziologie und Politologie oft auch die Sozialpsychologie, Pädagogik und Wirtschaftswissenschaften zugerechnet werden, sind keineswegs harmlos, selbst wo sie keine oder ethisch unproblematische empirische Forschungen betreiben. Von beson‐ derer Relevanz sind folgende zwei Phänomene: die Krypto-Normativität und die selbsterfüllende Prophezeiung. Krypto-normativ sind sozialwis‐ senschaftliche Theorien oder Modelle dann, wenn sie unter dem Deck‐ mantel der Wertfreiheit normativ gehaltvoll sind. Paradebeispiele sind ökonomische Modelle wie das „Bruttosozialprodukt“ und die „ökonomi‐ sche Rationalität“. Bei einer Orientierung am Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandsprodukt lässt man nämlich die immer noch größtenteils von Frauen geleistete Haushaltstätigkeit außer Acht und geht von einem na‐ hezu kostenlosen Umweltverbrauch aus (vgl. Lenk u. a. 2008, 497). Eine Wohlstandsberechnung anhand dieses Modells verleitet also zu einer Aus‐ blendung dieser beiden Aspekte und der mit ihnen verbundenen Probleme. Bei dieser scheinbar neutralen Kalkulation spielen wissenschaftsexterne ökonomische und politische Interessen eine Rolle, die Beurteilung und Entwicklung der Wirtschaft beeinflussen (vgl. Maring, 168). Ein anderes Beispiel ist der ökonomische Rationalitätsbegriff, demzufolge nur derjenige Handelnde rational ist, der sich für Handlungsalternativen entscheidet, bei denen der persönliche Gewinn maximiert wird (vgl. Scherer, 15 f.). Wie im Wirtschaftsethik-Kapitel 7 noch deutlich werden wird, weist dieses Rationa‐ litätskonzept einen normativen Gehalt auf, weil es eine bestimmte (eben die ökonomische) Denkweise für die einzig richtige bzw. rationale erklärt. Beide Konzeptualisierungsweisen enthalten versteckte Wertungen und normative Handlungsorientierungen, die das kollektive oder individuelle Handeln be‐ einflussen und zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Realität führen können, wenn sie nicht kritisch reflektiert werden. Häufig dienen solche Modelle auch als Grundlage politischer Entscheidungsfindung. Negative Auswirkungen sozialwissenschaftlicher Modelle auf die gesell‐ schaftliche Realität basieren meist auf dem Phänomen der selbsterfüllen‐ den Prophezeiung („self-fulfilling prediction“). Im weitesten Sinn sind auch viele krypto-normative Theorien wie diejenigen der ökonomischen Rationalität Prophezeiungen, die das Denken der Menschen so beeinflussen, dass die ökonomische Denkweise mehr und mehr als die einzig rationale akzeptiert wird (vgl. Scherer, 16). Um Prophezeiungen im eigentlichen Sinn 223 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="224"?> handelt es sich insbesondere etwa bei sozialwissenschaftlichen Studien über den gesellschaftlichen Wandel einer Zeit. Weil die Objekte soziologischer Prophezeiungen einzelne Subjekte oder Gruppen sind, können diese auf die Prognosen reagieren. Nach dem Bekanntwerden der vorhergesehenen Ent‐ wicklung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen in der beschrie‐ benen Weise denken oder handeln, wodurch sich die Prognose bewahrheitet. Richard Sennett beispielsweise beschreibt in seiner Analyse zum Verfall und Ende des öffentlichen Lebens die zunehmende Konzentration auf das eigene Selbst und seine persönlichen Intimbeziehungen auf Kosten des öffentlichen Engagements. Auch hier wäre eine Verstärkung dieser Tendenz zu befürchten, wenn Sennett sie nicht im letzten Kapitel klar verurteilen und sogar gegensteuernde Maßnahmen vorschlagen würde (vgl. ebd., 427 ff.). Auf diese Weise regt er einen kritischen Diskurs über die gesellschaftliche Entwicklung an und verhindert eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ein aktuelleres Beispiel wären Studien zum gesellschaftlichen Trend der Selbst‐ optimierung als Fortsetzung dieser Individualisierungstendenz, wenn das „Zeitalter der Selbstoptimierung“ ausgerufen oder eine exponentielle Zu‐ nahme der Verbreitung biotechnologischer Hilfsmittel wie z. B. Hirndoping diagnostiziert wird (vgl. Fenner 2019, 10). Weder bei krypto-normativen Modellen noch bei Prophezeiungen gesellschaftlicher oder ökonomischer Entwicklungen bestehen allerdings direkte Kausalbeziehungen zu den ne‐ gativen Folgen. Denn diese entfalten ihre Wirkung erst mittelbar oder indirekt über kognitive Prozesse der Interpretation und Bewertung (vgl. Maring, 168). Gleichwohl liegt eine indirekte Handlungsverantwortung der Wissenschaftler vor, und sie sind für indirekte oder mittelbare negative Folgen zumindest mitverantwortlich. Externe Verantwortung der Sozialwissenschaften Krypto-Normativität: Unter dem Deckmantel der Wertfreiheit sind sozialwis‐ senschaftliche Theorien und Modelle normativ gehaltvoll. z.B. ökonomische Konzepte wie „Bruttosozialprodukt“ oder „ökonomische Ratio‐ nalität“ selbsterfüllende Prophezeiung: Prognosen über das individuelle oder kollek‐ tive Denken oder Handeln führen dazu, dass die Menschen tatsächlich so denken oder handeln. z.B. soziologische Analyse eines gesellschaftlichen „Trends“ wie z. B. des Selbst‐ optimierungstrends → ethische Forderung: kritische Reflexion und Konsequenzen bedenken 224 4 Wissenschaftsethik <?page no="225"?> c) Mittelbare oder indirekte Folgen in den Geisteswissenschaften Sogar bezüglich der Folgenverantwortung der für lange Zeit als völlig harmlos geltenden Geisteswissenschaften hat sich nicht zuletzt in der Ethik selbst eine heftige Kontroverse entzündet (vgl. Graumann 2011b, 255.). Die Verantwor‐ tungsbeziehungen zwischen den Geisteswissenschaftlern und eintretenden negativen Konsequenzen ihrer Begriffsklärungen oder Interpretationsbemü‐ hungen sind allerdings noch indirekter und schwieriger zu rekonstruierten als in den Sozialwissenschaften. So hat beispielsweise der Philosoph John Locke im 18. Jahrhundert die Unterscheidung von „Mensch“ und „Person“ eingeführt, wobei sich Personen durch Vernunft, Zeit- und Selbstbewusstsein auszeichnen (vgl. Dietrich, 133). In den gegenwärtigen Debatten zur Ange‐ wandten Ethik dient diese Unterscheidung dazu, ethische Rechte und Pflichten wie etwa das Lebensrecht auf Personen einzuschränken. Zu welchem Zweck Locke seinen Personenbegriff entwickelt hat, ist unklar (vgl. Ricken, 160). Dessen ungeachtet stellt sich aber die Frage, ob die Locke-Forscher jede Verantwortung an der erwähnten moralisch folgenschweren Eingrenzung moralischer Rechte bestimmter Menschengruppen von sich weisen dürfen. Analog zu Argumentationsstrategien der Naturwissenschaftler könnten sie darauf pochen, sie hätten lediglich eine moralisch neutrale Denkkategorie tradiert und weiterentwickelt und wären für später eintretende gesellschaft‐ liche Veränderungen in keiner Weise verantwortlich (vgl. dazu Dietrich, 134). Sicherlich ist es in vielen Fällen schwierig, die Anwendungsmöglichkeiten abstrakter philosophischer Begriffsdifferenzierungen oder Theorien in gesell‐ schaftlichen Debatten zu antizipieren. Auch Philosophen sind aber dazu ver‐ pflichtet, sich über die potentiellen Anwendungskontexte ihrer Theorien oder Standpunkte hinreichend zu informieren. Hinterfragt wird auch, ob sämtliche moralphilosophischen Positionen öffentlich zur Diskussion gestellt werden dürfen, selbst wenn sie für betroffene Personen unzumutbar erscheinen (vgl. Graumann 2011b, 256). Zu denken ist etwa an die Legitimierung des Tötens behinderter Neugeborener oder Föten, weil diese ethische Stellungnahme von behinderten Erwachsenen als Diskriminierung erlebt werden könnte. Hier scheint allerdings der wissenschaftsethische Grundsatz intersubjektiver Überprüfbarkeit zu fordern, dass ein Ethiker auch diese Bedenken antizipiert und seine Thesen zum Zweck einer möglichen Widerlegung der öffentlichen Kritik aussetzt. In der Geschichtswissenschaft und in den Literatur- und Kunstwissen‐ schaften geht es meist um menschliches Handeln bzw. um menschliche Handlungsmöglichkeiten, die eventuell nach persönlichen oder gesellschaftli‐ 225 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="226"?> chen Wertmaßstäben als schlecht bzw. normativ falsch zu beurteilen sind. Beispiele für solche problematischen Forschungsgegenstände wären etwa die Machenschaften der Nationalsozialisten oder literarische Darstellungen von Sklaverei oder Gewalt. Werden solche menschliche Entwurfsmöglichkeiten öffentlich zugänglich gemacht, könnten sie das Selbstverständnis, die Vorstel‐ lungswelt, das Handeln und Leben der Menschen auf negative Weise beeinflus‐ sen. Geschichts- oder Literaturwissenschaftler müssten bedenken, ob die durch ihre Forschungen öffentlich zugänglich gemachten Wertorientierungen und Interpretationsweisen menschlicher Erfahrungen nicht möglicherweise unan‐ gemessene Aggressionen, Ängste oder Hoffnungen schüren oder kollektive Phantasien in eine einseitige Richtung lenken (vgl. Düwell 2008, 53f.). Wenn his‐ torische bzw. in einem Kunstwerk repräsentierte Perspektiven die Komplexität von angesprochenen Problemen ausblenden und eine differenzierte Reflexion darüber verhindern, hätte der Wissenschaftler seine Forschungsergebnisse entsprechend zu kommentieren. Drohen seine Forschungen gesellschaftliche Konflikte oder gar Kriege zu provozieren, müsste er im Zeichen seiner externen Verantwortung ganz von seinem Forschungsvorhaben ablassen (vgl. Kühberger u. a., 68). Der Wissenschaftler muss also überlegen, auf welche Weise die gewonnenen Erkenntnisse über Handlungs- und Lebensorientierungen zur Lösung aktueller Probleme oder zur Beseitigung von Missständen in seiner Gesellschaft beitragen können (vgl. ebd., 108f.). Seit die Geisteswissenschaften nicht mehr einfach als „harmlos“ gelten und sich die Wissenschaftler selbst zunehmend Fragen der moralischen Verantwortung stellen, spricht man in den Literatur- und Geschichtswissenschaften von einem „ethical turn“ oder einer moralischen Wende (vgl. ebd., 37; Heinze, 265). Externe Verantwortung der Geisteswissenschaften („moralische Wende“) Einfluss auf Selbstverständnis und Vorstellungswelt der Menschen durch: - Begriffsdifferenzierungen, theoretische Konzepte (z.B. Personenbegriff) oder Wertmaßstäbe - thematisierte Handlungsmöglichkeiten oder Lebensformen (z. B. Gewaltver‐ herrlichung) - simplifizierende Problemdarstellungen, Lenkung der Phantasie in einseitige Richtung ethische Forderungen: - Informationen über mögliche Diskussions- und Anwendungskontexte einholen - kritische Kommentierung problematischer Handlungs- und Lebensorientie‐ rungen 226 4 Wissenschaftsethik <?page no="227"?> 2) Keine Verantwortung in der Grundlagenforschung Zu den Urmotiven wissenschaftsethischer Rechtfertigungsstrategien gehört die Unterscheidung zwischen theoretischer Forschung und praktischer Anwendung bzw. zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorien‐ tierter Forschung (vgl. Schweidler 2006, 307; Maring, 167). Auf dem Gebiet der Grundlagenforschung, so der Tenor, tragen Wissenschaftler überhaupt keine externe Verantwortung gegenüber Mit- und Umwelt. Dieser Argu‐ mentationsstrategie bedienten sich Forscherpersönlichkeiten wie Werner Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker genauso wie Robert Oppen‐ heimer und Edward Teller bei der Zurückweisung der Verantwortung für die Bomben: Nach Oppenheimers Darstellung ging es beim Bau der Atombombe nur um freie Forschungsarbeit, d. h. um Grundlagenforschung, nicht um die Entwicklung einer Waffe. Es sei ein Versuch gewesen „herauszufinden, was überhaupt möglich ist“ (vgl. Anschauungsbeispiel 1). Ebenso betonte der leitende Konstrukteur der amerikanischen Wasserstoffbombe Teller immer wieder, Wissenschaftler seien nur verantwortlich für das Wissen und dessen Erklärung, nicht aber dafür, „wie man es anwendet“ (zitiert nach Lenk 1991, 9). Die idealtypische Dichotomie zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung täuscht aber darüber hinweg, dass es zwischen den Extrempolen ein ganzes Spektrum von Zwischenstufen mit unterschiedlichen Graden an externer Verantwortung gibt (vgl. Maring 2011, 167): Volle Verantwortung tragen Wissenschaftler zweifellos bei anwen‐ dungsbezogener oder Angewandter Forschung am einen Ende des Spektrums, die auf eine ganz konkrete technische Umsetzung abzielt. Wo ein eindeutiger Verwendungszweck vorliegt, weisen solche Zwecke klar über die Wissenschaft hinaus und beeinflussen unmittelbar das Leben anderer Menschen oder der Menschheit insgesamt. Die Folgen von Erfindungen etwa in der angewandten Physik sind dann nicht nur prinzipiell vorherseh‐ bar, sondern wurden von den Forschern vorausgesehen und sogar beabsich‐ tigt. Dies ist klarerweise auch der Fall bei Auftragsforschung mit extern vor‐ gegebenen Zielen, also beispielsweise beim sogenannten Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe, initiiert vom damaligen US-Präsidenten Franklin Roosevelt. Bei diesem militärischen Forschungsprojekt ab 1942 unter der wissenschaftlichen Leitung des Physikers Oppenheimer gab es erstmalig keinen Schritt mehr zwischen der sogenannten Grundlagenforschung und der technischen Anwendung, weil es von Anbeginn an um die militärische 227 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="228"?> Nutzbarmachung der von Otto Hahn und Fritz Straßmann entdeckten Kernspaltung ging (vgl. Eigen, 25 f.). Am anderen Ende des Spektrums steht die „reine“ Grundlagenfor‐ schung, bei der die Erkenntnisgewinnung im Vordergrund steht und ein direkter Anwendungsbezug fehlt. Häufig möchten die Forscher eine neue Stoßrichtung in einer Disziplin etablieren. Da Nutzanwendungen zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielen, sind mögliche negative Folgen noch in keiner Weise absehbar. Anwendungsbezüge kristallisieren sich oft erst lange Zeit nach der Entdeckung und der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse heraus. Zur Grundlagenforschung zählen z. B. die großen Revolutionen der Physik wie Albert Einsteins Relativitätstheorie und Max Plancks Quantentheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit Blick auf Fragen der theoretischen Systematisierung und der Interpretation einzelner Beobachtungsanomalien durchgeführt wurden (vgl. Nida 2005, 849). Mit seinem Naturgesetz zur Bestimmung der Energie anhand von Masse und Lichtgeschwindigkeit schuf Einstein jedoch die theoretische Voraussetzung für die Entdeckung der nuklearen Kettenreaktion 1938 durch Otto Hahn und Fritz Straßmann. Auch bei deren Experimenten zur Spaltung des Atomkerns handelt es sich aber nach der von Weizsäcker in die Wissen‐ schaftsethik eingeführten begrifflichen Unterscheidung zwischen „Erfin‐ dung“ und „Entdeckung“ um bloße Entdeckungen, bei denen etwas schon Vorhandenes, aber noch nicht Bekanntes aufgefunden wird (vgl. Lenk 1991, 11). Weizsäcker zufolge können die Forscher rein definitionsgemäß vor der Entdeckung noch gar nichts über die Anwendungsmöglichkeiten wissen, und häufig erfolgen bahnbrechende Entdeckungen in vielen Schritten über mehrere Generationen hinweg. Erst die Entwicklung der Atombombe in der Forschergruppe um Oppenheimer oder der Bau der Wasserstoffbombe unter Tellers Leitung wären so gesehen zu den Erfindungen zu rechnen, d. h. zu den schöpferischen Leistungen zur Lösung eines bestimmten Problems oder zur Erreichung eines neuen Ziels. Nur die Erfinder, nicht aber die Entdecker trügen aus dieser Warte eine Mitverantwortung. Solange sich naturwissenschaftliche Forschung als ein „trial and er‐ ror“-Unternehmen vollzieht und die Forscher das ganze Spektrum mögli‐ cher positiver und negativer Folgen der erhofften Entdeckungen noch gar nicht überblicken können, scheinen Grundlagenforscher tatsächlich keine Verantwortung für unvorhergesehene Anwendungen späterer Ergebnisse zu tragen (vgl. Reydon, 81). Denn ethisch gesehen kann niemand verant‐ wortlich gemacht werden für Folgen z. B. von wissenschaftlichen Entde‐ 228 4 Wissenschaftsethik <?page no="229"?> ckungen, die zum jeweiligen Zeitpunkt prinzipiell noch gar nicht absehbar waren (vgl. Bschir; Ethik, 47 ff.). Retrospektiv zur Verantwortung gezogen werden können Wissenschaftler nur für negative Folgen, die sie durch das Herbeischaffen der relevanten Informationen und sorgfältige Analyse hätten voraussehen lassen. Aber auch die Abgrenzung von Entdeckung und Erfindung ist lediglich eine grob vereinfachende, idealtypische Unter‐ scheidung. In vielen Fällen gehen Grundlagenforschung und Angewandte Technikentwicklung fließend ineinander über bzw. sind eng miteinander verzahnt. Dies gilt wie erwähnt bezüglich der Kernenergie im Rahmen des Manhattan-Projekts, wo schon die Grundlagenforschung eindeutig anwendungsorientiert war und sich keineswegs im verantwortungsfreien Raum vollzog. Sachlich noch weniger trennbar sind Grundlagenforschung und technische Entwicklung im Bereich der Gentechnik und Genbiologie. Heute wird bei vielen Projekteingaben zur Grundlagenforschung ein praktischer Nutzen in Aussicht gestellt, um die Finanzierungschancen zu erhöhen (vgl. Lenk u. a. 2008, 498). Deswegen hat man den Begriff der Grundlagenforschung weiter ausdifferenziert in eine reine Grundlagen‐ forschung und eine anwendungsorientierte Grundlagenforschung, bei der die Grundlagenforschung nahtlos zur Anwendung führt (vgl. Maring, 167). Entsprechend gilt auch die einfache Gleichung als unhaltbar, derzufolge Entdecker und Grundlagenforscher im Gegensatz zu den Erfin‐ dern frei von jeder externen Verantwortung sind. In zahlreichen Fällen ist das Vorhersehen potentieller Folgen von Entdeckungen zwar schwierig, aber nicht unmöglich (vgl. Bschir). Aus wissenschaftsethischer Sicht ist daher zu fordern, dass auch Grundlagenforscher bereits bei der Konzeption und Planung eines neuen Forschungsprojekts über Ungewissheiten und Risiken nachdenken und während des Arbeitens Begleit- und Folgenfor‐ schung betreiben (vgl. Reydon, 95; Graumann 2011b, 255). Erforderlich ist eine Risiko-Ethik, auf die in Kapitel 5 zur Technikethik eingegangen wird. Bei der retrospektiven Verantwortungszuschreibung von außen an die Adresse der Wissenschaftler ist aber immer abzuklären, ob überhaupt von einer prinzipiellen Vorhersehbarkeit ausgegangen werden kann. 229 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="230"?> Unterscheidung von Grundlagenforschung und Angewandter Forschung reine Grundlagen‐ forschung mögliche Anwen‐ dungen und Fol‐ gen nicht voraus‐ sehbar - keine Folgever‐ antwortung - Pflicht zur Risi‐ koabschätzung z.B. Quantenfor‐ schung anwendungsorien‐ tierte Grundlagen‐ forschung fließender Über‐ gang zwischen Grundlagenfor‐ schung und An‐ wendung - Folgeverant‐ wortung für ne‐ gative Folgen - Pflicht zur Risi‐ koabschätzung z.B. Gentechnik Angewandte For‐ schung zielt auf konkrete Anwendung ab - Folgeverant‐ wortung für ne‐ gative Folgen z.B. Bau von Bomben 3) Wissenschaftler ohne Einfluss auf die Anwendung Ein weiteres, unmittelbar daran anknüpfendes Argument gegen die externe Verantwortung der Wissenschaftler lautet, diese hätten gar keinen Einfluss auf die Nutzung ihrer Forschungsergebnisse. Selbst wenn Wissenschaftler mögli‐ che negative Folgen oder eine unmoralische Verwendung ihrer Forschungs‐ ergebnisse mit katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt voraussehen könnten, stehe es doch nicht in ihrer Macht, diese zu verhindern. Spätestens wenn sie ihre Ergebnisse veröffentlichen, scheinen sie jeden Einfluss auf die Nutzanwendung zu verlieren. Gleichzeitig hätten sie aber auch keine Möglich‐ keit, ihre Entdeckungen zurückzuhalten (vgl. Eigen, 26). Im Theaterstück Die Physiker hat Friedrich Dürrenmatt diese Unmöglichkeit auf ironische Weise zur Darstellung gebracht: Sogar wenn die Wissenschaftler sich als psychisch krank ausgäben und ins Irrenhaus gingen, um ihr Wissen nicht der Menschheit preisgeben zu müssen, würde man es ihnen früher oder später entlocken. Häufig werden bereits die Forschungen im Auftrag von privaten oder öffent‐ lichen Geldgebern durchgeführt, die dann später über die Art der Veröffentli‐ chung und Nutzung der Ergebnisse bestimmen. Wenn aber Wissenschaftler prinzipiell keine Macht über die Anwendung ihrer Forschungsergebnisse haben, scheinen sie auch für einen schweren Missbrauch nicht verantwortlich gemacht werden zu können. Die Verantwortung für die Verwendung der Forschungsergebnisse zu bedenklichen Zwecken dürfte infolgedessen lediglich den Unternehmern, Politikern oder Ingenieuren zugesprochen werden, die eine bestimmte Nutzungsart beschließen (vgl. dazu Jonas 1991, 201). So ließe sich bezüglich Anschauungsbeispiel 1 nicht sagen, die am Manhattan-Projekt 230 4 Wissenschaftsethik <?page no="231"?> beteiligten Wissenschaftler oder Oppenheimer als ihr Leiter trügen die Ver‐ antwortung für den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima und die 80.000 Toten und 10.000 Verletzten. Denn die Entscheidung über ihren Einsatz wurde von Politikern gefällt und von Soldaten vorbereitet und vollzogen. Ist es also vor diesem Hintergrund richtig zu sagen, die Wissenschaftler würden entweder nur Wissen produzieren oder ein Können-Wissen mit bestimmten Handlungsoptionen bereitstellen, die von anderen wahrgenommen werden können oder auch nicht? Grundsätzlich gilt in der Ethik, dass man jemanden nicht für die Hand‐ lungen anderer, die er also nicht selbst begangen hat, verantwortlich machen kann (vgl. Bayertz 1991, 188). In den meisten Fällen dürften die Wissenschaftler wie beim Manhattan-Projekt keine unmittelbare und di‐ rekte Kausalhandlungsverantwortung für die Folgen ihrer Forschungen tragen. Diese Verantwortung kommt vielmehr den Entscheidungsträgern oder Gremien in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu, die über Art und Umfang der Ressourcen und der Nutzung der neuen Erkenntnisse verfügen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Wissenschaftler von jeder Verantwortung befreit sind. Aus einer wissenschaftsethischen Perspektive bleiben die wissenschaftlich tätigen Personen primäre und „unrelativier‐ bare Träger der Verantwortung für die Gewinnung und Verwendung der Forschungsergebnisse“ (Schweidler 2006, 308). Sie haben sehr wohl eine mittelbare oder indirekte Handlungsverantwortung, bei der wiederum die beiden Fragen nach dem Anwendungsbezug der Forschung und der Vorhersehbarkeit der mit der Anwendung verbundenen Schäden und Risi‐ ken von entscheidender Bedeutung sind. Atomphysiker wie Oppenheimer hätten in Zeiten des Krieges, als klar wurde, dass die Bombe zum Einsatz kommen würde, den Rücktritt aus dem Atomenergieprojekt erklären müs‐ sen. Oppenheimer trat aber erst angesichts der verheerenden Folgen des Bombenabwurfs über Japan von seinem Posten zurück. Auch mit der häufig gehörten Rechtfertigungsstrategie: „Wenn ich es nicht tue, tut es nur ein anderer! “ können sich Wissenschaftler schwerlich aus der Verantwortung stehlen. Denn hier greift wieder der allgemeine ethische Grundsatz, dass niemand für das Handeln anderer Personen verantwortlich ist, also auch die Aussteiger oder Verweigerer nicht für das Handeln ihrer Nachfolger. Da allerdings der einzelne Wissenschaftler tatsächlich in den meisten Fällen ersetzbar sein dürfte, müsste er zusätzlich zu seiner Arbeitsverweige‐ rung noch die Öffentlichkeit warnen. Oppenheimer hat immerhin später als Vorsitzender der Atomenergiekommission der Vereinigten Staaten viele 231 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="232"?> grundsätzliche Diskussionen über das Verhältnis von Wissenschaft und Staat oder Gesellschaft angestoßen und zahlreiche Abhandlungen darüber verfasst. Aufgrund ihrer besonderen Kompetenzen bezüglich der Möglichkei‐ ten und Gefahren der Nutzung ihrer Forschungsergebnisse gehört es zur Verantwortung der Wissenschaftler, die Entscheidungsgremien auf Risiken aufmerksam zu machen und der Gesellschaft eine informierte Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob sie ein Projekt überhaupt will (vgl. Reydon, 96). Auch wenn der Gang in die Öffentlichkeit die ungute Entwicklung nicht verhindern kann, haben die Wissenschaftler damit doch ihre Pflicht getan. So hatten deutsche Physiker, unter ihnen die „Göttinger Achtzehn“, jede Beteiligung an der Entwicklung von Kernwaffen verweigert und die Öffentlichkeit davor gewarnt, ohne aber deren Weiterentwicklung stoppen zu können (vgl. Bayertz 1991, 204). Anstelle der einseitigen Extrempositionen einer weitgehend individualisierten Verantwortung der Wissenschaftler und einer vollständigen Verantwortungsentlastung der Wissenschaftler durch eine externe politisch-gesellschaftliche Steuerung ist von einer komplexen Verantwortungsteilung auszugehen (vgl. Nida-Rümelin 2005, 843; 845). Verantwortung für Anwendung der Forschung Wissenschaftler externe Instanzen wie Auftragge‐ ber, Staat, Gesellschaft etc. - indirekte Handlungsverantwortung, (Mit-)Verantwortung - Pflicht zur Arbeitsverweigerung und Information im Fall vorherseh‐ barer Risiken direkte Kausalhandlungsverantwor‐ tung aber: bedeutet keine vollständige Verantwortungsentlastung der Wissen‐ schaftler! → ethisch erforderlich: Verantwortungsteilung 4) Verwässerung der Verantwortung in Großprojekten Ein weiteres Argument zur Entlastung der Wissenschaftler von ihrer externen Verantwortung lautet, der einzelne Wissenschaftler bilde nur ein winziges Rädchen im Getriebe von Großforschungsprojekten. Tradi‐ tionelle verantwortungsethische Fragestellungen gingen vom klassischen „Ein-Mann-Entdecker-Wissenschaftler“ vom Typ eines Galilei oder Newton aus, die „in Einsamkeit und Freiheit“ forschten. Im Laufe des 19. und 20. Jahr‐ hunderts hat sich aber die wissenschaftliche Tätigkeit stark verändert: An die Stelle der klassischen Privatgelehrten-Forschung traten gigantische wis‐ senschaftliche Institutionen und Big-Science-Projekte wie etwa das interna‐ 232 4 Wissenschaftsethik <?page no="233"?> tionale, aus öffentlichen Mitteln finanzierte „Human Genom“-Projekt von 1990-2003, die Hunderte oder gar Tausende von Mitarbeitern beschäftigen und eine starke Produktivkraft darstellen (vgl. Lenk u. a. 2008, 493; Maring, 167). Diese Institutionalisierung der Wissenschaften wurde einerseits durch die zunehmende Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaf‐ ten, andererseits durch den Anstieg an technischem Aufwand für die Laboratorien unumgänglich (vgl. Bayertz 1991, 185). Als einer von tausend Angestellten einer großen Firma oder einer staatlichen Institution können die Wissenschaftler natürlich Inhalt und Richtung ihrer Forschungstätigkeit nicht mehr selbst bestimmen wie beim klassischen individualistischen Wissenschaftsideal. Im Extremfall des Manhattan-Projekts mit über 125.000 Beschäftigten an verschiedensten Standorten wurden Mitarbeiter zwecks strenger Geheimhaltung teilweise sogar unter einer Legende engagiert und realisierten erst bei der Nachricht vom Bombenabwurf, woran sie jahrelang gearbeitet hatten. Oft können Wissenschaftler die komplexen Handlungsverflechtungen und anvisierten Nutzanwendungen des gesam‐ ten Forschungsprozesses gar nicht mehr durchschauen und gewinnen sub‐ jektiv den Eindruck, dass sich ihre individuelle Verantwortung reziprok zur Anzahl der Beteiligten reduziert. Dieses Phänomen ist auch in anderen Handlungskontexten als Verwässerungsproblem der Verantwortung oder Problem der organisierten Verantwortungslosigkeit bekannt (vgl. Ethik, 45). Als abhängig Beschäftigte begeben sich Wissenschaftler zudem in Auftrags- und Weisungsabhängigkeit und sind dadurch zur Ausführung der Anweisungen der Vorgesetzten verpflichtet. Sind sie damit nicht hinlänglich von jeder externen Verantwortung entlastet? Bezüglich der Weisungsabhängigkeit trägt jemand generell auch dann die Verantwortung für unmittelbare negative Folgen für Um- und Mitwelt, wenn er sie auf Anweisung „von oben“ ausführt. Der etwa von Nazi-Mit‐ läufern häufig geltend gemachte Befehlsnotstand liegt nur dann vor, wenn jemand unter Androhung des Todes zur Ausführung eines Befehls ge‐ zwungen wird. Aus wissenschaftsethischer Sicht wären aber institutionelle Strukturen zu fordern, die den weisungsabhängig Beschäftigten im Fall auf‐ gedeckter oder vermuteter Risiken oder negativer Folgen eine individuelle Verantwortungsübernahme ohne unzumutbare Opfer ermöglichen (vgl. Ethik, 45): Neben demokratischen Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeiter an der Zielbestimmung und Durchführung des Projekts braucht es Ombudsstellen oder „Ethics officer“, an die sich Wissenschaftler mit ihrem Verdacht anonym und geschützt wenden können, ohne wie die meisten 233 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="234"?> Whistleblower Mobbing und Karriereende in Kauf nehmen zu müssen. Auch in institutionellen Kontexten wie z. B. arbeitsteilig organisierten Großfor‐ schungseinrichtungen behält der einzelne Wissenschaftler die individuelle Verantwortung für seinen jeweiligen persönlichen Handlungsbeitrag. Es tritt aber noch ein neuer Verantwortungstyp einer institutionellen oder kollektiven Verantwortung hinzu, die mehr ist als die Summe der individuellen Verantwortung der einzelnen Beteiligten (vgl. ebd.): Falls negative Folgen für Gesellschaft oder Umwelt auftreten, müssen die wis‐ senschaftlichen Institutionen oder Korporationen in der Öffentlichkeit als Quasi-Subjekte die externe Verantwortung übernehmen (vgl. Lenk u. a. 2008, 492). Ohne dadurch von der individuellen Verantwortung entlastet zu werden, trägt jeder Mitarbeiter zusätzlich noch einen Teil an der kollektiven Verantwortung mit, und zwar nach Maßgabe seiner Aktivität, Stellung oder Bedeutung im jeweiligen kollektiven Handlungszusammenhang (vgl. Lenk 1997, 95; 115). Wie die individuelle ist aber auch die institutionelle Verantwortung nicht wie im Kuchenmodell teilbar, verringerbar und sub‐ stituierbar, sodass sich niemand aus der Verantwortung stehlen kann mit der Redewendung vom „winzigen Rädchen im Getriebe“. Verantwortungsteilung in arbeitsteiligen (Groß)Projekten individuelle Verantwortung für per‐ sönlichen Handlungsbeitrag Anteil an kollektiver Verantwortung je nach Stellung im kollektiven Hand‐ lungszusammenhang institutionenethische Forderung: Partizipations- und Beschwerdemöglichkei‐ ten (Ombudsstellen, „ethics officers“) für zumutbare Verantwortungsübernahme 5) Forschungsfreiheit und mangelnde ethische Kompetenz Wissenschaftler pochen häufig auf das Recht auf Wissenschafts- oder Forschungsfreiheit, das der Forderung einer langen philosophischen Tra‐ dition entspricht und in vielen Verfassungen als Grundrecht verankert ist (vgl. Lenk 1992, 8; Art. 5, Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes). Negativ gesprochen besagt dieses Recht, dass weder der Staat oder Einzelpersonen aus Politik oder Wirtschaft noch weltanschauliche Gruppen wie Religions‐ gemeinschaften sich in die Wahl der Fragestellung und Durchführung der Forschung oder Verbreitung der Ergebnisse einmischen dürfen. Niemandem steht es zu, den Wissenschaftlern vorzuschreiben, „was als Wahrheit zu gelten hat bzw. welche Forschungsmethode die beste ist, um in einem 234 4 Wissenschaftsethik <?page no="235"?> bestimmten Bereich zur Wahrheit zu gelangen“ (Campagna, 293). Viele Wissenschaftler fühlen sich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet und sind überzeugt, dass die Suche nach Wahrheit an sich gut sei (vgl. Reydon, 80; 84). Gemäß der Neutralitätsthese oder dem Neutralitätsargument geht es bei der Forschungspraxis lediglich um wissenschaftliche Werte wie Wahrheit und Objektivität, sodass sie sich nur unter den wissenschaft‐ simmanenten Kategorien „wahr“ und „falsch“, nicht aber unter externen ethischen Kategorien wie „gut“ und „böse“ beurteilen lasse: Sie entziehe sich einer ethischen Beurteilung und sei wertfrei (vgl. dazu Bayertz 1991, 173 f.). So gab Oppenheimer zu Protokoll, er habe lediglich gute Forschungsarbeit geleistet (vgl. Anschauungsbeispiel 1). Angesprochen auf negative Folgen seiner Forschung, antwortete ein berühmter Biochemiker: „Ich bin nicht Ethiker, ich bin Biologe“ (zitiert nach Lenk 1997, 127). Ein strukturelles Problem ist zweifellos die wachsende Diskrepanz zwischen der hochgra‐ digen Spezialisierung mit immer größerem Fach- und Verfügungswissen der einzelnen Wissenschaftler einerseits und der sukzessiven Erweiterung des Verantwortungsbereichs und des dafür notwendigen größeren Orien‐ tierungswissens andererseits. Zur Verteidigung der Wissenschaftler kann zudem angeführt werden, dass eine Übernahme einer weitgehenden exter‐ nen Verantwortung die Forschungsfreiheit zu stark einschränken und damit den wissenschaftlichen Fortschritt behindern würde (vgl. Bschir). Gegen diese Argumentationsstrategie ist zunächst einzuwenden, dass das Grundrecht auf Forschungsfreiheit keineswegs absolut gilt. Es findet seine Grenzen vielmehr da, wo die Grundrechte anderer Menschen direkt oder indi‐ rekt verletzt oder allgemeingültige Gesetze oder Normen übertreten werden. Wissenschaftler sind außerdem wie alle anderen erwachsenen Menschen auch für sämtliche beabsichtigten und nicht beabsichtigten, aber voraussehbaren Folgen ihres Handelns verantwortlich. Es braucht keine wissenschaftsethische Sondermoral und keine besonderen moralischen Kompetenzen, um Schäden an Menschen oder Tieren bei wissenschaftlichen Versuchen, das Töten tausender unschuldiger Menschen oder das Verseuchen von Landstrichen als moralisch verwerflich beurteilen zu können. Es gehört zu den grundlegendsten allgemein‐ moralischen Forderungen und negativen Pflichten eines jeden Menschen, die Rechte auf Leben und Würde aller Mitmenschen zu respektieren und auch das Wohlergehen der Tiere sowie die Natur als Lebensgrundlage nicht zu gefährden. Hans Jonas formulierte Immanuel Kants Kategorischen Imperativ folgendermaßen um: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträg‐ lich sind mit der Permanenz (dem Fortbestand) echten menschlichen Lebens 235 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="236"?> auf Erden.“ (Jonas 1979, 36) Retrospektiv scheinen sich denn auch bei den meisten Wissenschaftlern im Anblick des verursachten Schadens automatisch moralische Skrupel oder Gewissensbisse eingestellt zu haben. So haben in Oppenheimers Worten die beteiligten Atomphysiker durch den Bombenabwurf „eine Erfahrung der Sünde gemacht, die sie nie wieder verlassen kann“. Ähnlich schrieb Teller in einem Brief, er gebe jede Hoffnung auf, jemals „sein Gewissen läutern zu können“ (zitiert nach Lenk 1991, 9). Nur weil die Forscher aber bereits zuvor prospektiv die allgemeinmenschliche Pflicht hatten, niemandem Schaden zuzufügen, können sie retrospektiv zur Verantwortung gezogen werden (vgl. Einleitung Kap. 4.2). Wie weit Menschen über diese negativen Pflichten des Unterlassens von Schädigungen hinaus noch positive Pflichten haben, wird unterschiedlich diskutiert. Obwohl niemand einem Wissenschaftler von außen vorschreiben darf, wonach er forschen oder was als Wahrheit gelten soll, dürfen doch Forschungsziele und -folgen nach ethischen Kategorien mit Blick auf die Lebensqualität gegenwärtiger oder zukünftiger Menschen beurteilt werden. Kontra-Argumente Pro-Argumente 1) Harmlosigkeit und Folgenlo‐ sigkeit des Wissens unmittelbare Wirkung bei Experimen‐ ten, mittelbare bei theoretischen Kon‐ zepten 2) keine Verantwortung in der Grundlagenforschung selbst Grundlagenforschung ist oft an‐ wendungsorientiert 3) keinen Einfluss auf die Anwen‐ dung des Wissens bei hohen Risiken Pflicht zur Arbeits‐ verweigerung und Bekanntgabe 4) Verwässerungsproblem der Ver‐ antwortung in Großprojekten individuelle Verantwortung und Anteil an kollektiver Verantwortung 5) Forschungsfreiheit und man‐ gelnde ethische Kompetenz Forschungsfreiheit nicht absolut, alltäg‐ liche ethische Kompetenz reicht Metaverantwortung und Grenzen der Wertfreiheit Zusammenfassend sei nochmals hervorgehoben, dass in der wissenschaft‐ lichen Praxis Wertfreiheit im engen Sinn, d. h. Freiheit von Wertvor‐ stellungen, Vorurteilen oder Interessen der Forscher selbst genauso wie von Auftraggebern, Interessengruppen oder dem Staat ein zentrales Gebot darstellt. Wie im Rahmen des wissenschaftlichen Standesethos beschrieben, soll sich der Prozess des methodisch geleiteten Erkenntnisgewinns allein an wissenschaftsinternen Idealen oder Werten wie Wahrheit, Objektivität 236 4 Wissenschaftsethik <?page no="237"?> und Unvoreingenommenheit orientieren (vgl. Kap. 4.1). Zu weit geht aber das Postulat der Wertfreiheit im weiten Sinn der Neutralitätsthese, weil sich wissenschaftliche Forschung keineswegs vom gesellschaftlichen Le‐ benszusammenhang völlig abgekoppelt vollzieht und ihre Forschungsziele in vielen Fällen alles andere als moralisch indifferent sind (vgl. Fuchs, 117 f.). Wissenschaftler haben wie erwähnt genauso wie alle anderen erwachsenen Menschen zumindest negative Pflichten und sollen schädigende Eingriffe in das Leben anderer oder die Natur unterlassen. Es gibt darüber hinaus noch positive Pflichten, nach weitgehender Übereinstimmung mindestens das moralische Gebot zur Hilfeleistung in der Not durch aktive Unterstützung oder sogar die Pflicht zur Förderung der Freiheit und des Wohlergehens der Mitmenschen oder des Friedens und der Gerechtigkeit in der Gesellschaft (vgl. Ethik, 223 f.). Da die Wissenschaft als Subsystem begrenzte Ressourcen z. B. an Steuergeldern und Personal verbraucht und das Leben der Menschen positiv oder negativ beeinflussen kann, tragen Wissenschaftler eine Art Metaverantwortung hinsichtlich der Wahl ihrer Forschungsziele und voraussehbarer Folgen ihrer Forschung. Wissenschaftler sind keineswegs ausschließlich der Wahrheit verpflichtet, sondern sollen ihre Forschung in den Dienst der Menschheit stellen, „im besten Interesse der Gesellschaft und des Friedens“ forschen und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern (vgl. Lenk u. a. 1998, 297 f.; Reydon, 126). Dies wären also die Aufgaben oder Verpflichtungen der Wissenschaftler, die sie bei der prospektiven Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Umwelt implizit übernehmen. In den Naturwissenschaften, der Medizin und der Angewandten For‐ schung herrscht meist Einigkeit bezüglich „guter“ Forschungsziele. So ist offenkundig die medizinische Forschung nicht frei von moralischen Werten und außerwissenschaftlichen Interessen, weil das klare Ziel die Minimie‐ rung des Leidens im Interesse bestimmter Patientengruppen ist (vgl. Hesse, 16). Ebenso zielen Forschungen der Angewandten Wissenschaften wie z. B. der Agrarwissenschaften auf eine „bessere“ Erzeugung landwirtschaftlicher Produktion ab. Auf welche Weise die verschiedenen involvierten Werte und Interessen wie ökonomische Werte der Produzenten, Nahrungsmittel‐ sicherheit der Konsumenten oder Nachhaltigkeit bezüglich der Umwelt zu gewichten sind, muss in öffentlichen ethischen und gesellschaftlichen Debatten geklärt werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Diszipli‐ nen wird die geisteswissenschaftliche Forschung immer wieder mit der kritischen Frage konfrontiert, wozu die Geisteswissenschaften überhaupt 237 4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung <?page no="238"?> gut sein sollen. Sie wird in den eigenen Reihen meist mit dem Hinweis beantwortet, dass die Geisteswissenschaften die Pluralität vergangenen und gegenwärtigen Orientierungswissens aufarbeiten und den Menschen alternative Entwurfsmöglichkeiten aufzeigen (vgl. Ch. Rapp, 93; Luckner 95). Eine zweite Rechtfertigungsstrategie konzentriert sich auf die geistes‐ wissenschaftliche Aufgabe der Vermittlung von soft skills wie Reflexions-, Argumentations- und Dialogkompetenzen. Es gehe um Fähigkeiten, das Gewohnte methodisch in Frage zu stellen, selbständig zu denken und komplexe Fragestellungen auf systematische Weise zu bearbeiten (vgl. Langewiesche, 30 f.; Kluge, 67 f.; R. Schulz, 81). Es läge so betrachtet in der prospektiven Verantwortung der Geisteswissenschaftler, die Menschen aus ihrer Emotionalität und Kritiklosigkeit, kantisch gesprochen aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ herauszuführen. Forschungen über den „Gabentausch in der Südsee“, über „enzyklopädische Europareisen der politischen Funktionsträger des Alten Reichs“ oder über „semantische Variationsparameter der sekundären Prädikation im Deutschen, Englischen und Russischen“ bieten allerdings eher wenig Orientierungsmöglichkeiten oder Gelegenheiten zum Erwerb von „soft skills“ und tragen daher zum all‐ gemeinen Legitimationsproblem der Geisteswissenschaften bei (vgl. Kaube, 19; 25 f.). Bei der Forschungsförderung sind Prioritätensetzungen unumgänglich und legitim, sodass Projekte letztlich mit Blick auf Grundwerte wie Lebens‐ sicherung, Lebensqualität und Würde der Menschen gerechtfertigt werden müssten. Nach Alfred Nobels Wunsch sollen mit dem von ihm gestifteten Nobelpreis alljährlich diejenigen Wissenschaftler ausgezeichnet werden, die der Menschheit den größten Nutzen brachten. Da letztlich nur von der Gesellschaft selbst beurteilt werden kann, welche wissenschaftlichen Beiträge tatsächlich „im Dienst der Gesellschaft“ stehen, bleibt die wissen‐ schaftsethische Diskussion stets auf die kritische Öffentlichkeit verwiesen. In den westlichen demokratischen Gesellschaften hat sich bereits ein ge‐ sellschaftlicher Diskurs über legitime Ziele und Mittel der Wissenschaften etabliert, dem sich die Wissenschaftler stellen müssen. Es besteht ein „durch‐ aus heilsamer Zwang“, die Öffentlichkeit außerhalb der Universitäten und Forschungseinrichtungen „zu informieren und für zustimmendes Interesse ebenso wie für moralische Akzeptanz zu sorgen“ (Leist 2006, 8). Um den Diskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu verbessern, wünscht man sich zu Recht eine sachlichere und fundiertere Berichterstattung in den Medien und eine spezifischere Ressortausbildung für Wissenschafts‐ 238 4 Wissenschaftsethik <?page no="239"?> journalisten (vgl. Nida-Rümelin 2005, 846; Vermeulen, 116). Darüber hinaus braucht es aber auch eine Schärfung des moralischen Bewusstseins der Wissenschaftler selbst, die bereits in der Ausbildung oder im Rahmen konkreter anwendungsbezogener Projekte stattfinden könnte (vgl. Lenk 1992, 184). Mit dem Programm einer „Ethik in den Wissenschaften“ und den vermehrt angebotenen Wissenschafts-Workshops für Doktoranden und Postdocs zielt man darauf ab, die wissenschaftsethischen Reflexionen in den Wissenschaften selbst zu verankern (vgl. Düwell 2000, 88; Dietrich, 113 f.). Zu ergänzen wäre dieses Gebot einer Akteursethik freilich durch geeignete Maßnahmen einer Institutionenethik wie z. B. Ethikkommissionen als wissenschaftsbegleitende Beratungsgremien, einer zentralen bundesweiten Forschungskontrolle und -förderung oder sogar eines internationalen Wis‐ senschaftsgerichtshofs („Science Court“) (vgl. Nida-Rümelin 2005, 856; Lenk 1992, 184). Gebote bezüglich externer Verantwortung und Metaverantwortung nur Wertfreiheit im engen Sinn (interne Verantwortung) Erkenntnisgewinn muss frei sein von per‐ sönlichen oder externen Wertvorstellun‐ gen, Interessen etc. keine Wertfreiheit im weiten Sinn (Neutralitätsargument) Forschungsziele und -folgen nach ethi‐ schen Wertmaßstäben zu beurteilen allgemeinmoralische Gebote: negative Pflichten: Unterlassen von Schädigungen an Mensch und Natur positive Pflichten: Förderung von Würde, Lebensqualität und Frieden 4.3 Humanexperimente Ein zentrales Problem der Forschungsethik sind Humanexperimente, d. h. Versuche am und mit Menschen. Am meisten Raum nehmen Diskussionen über medizinische Humanexperimente (1) ein, die daher vorwiegend ge‐ meint sind bei der Rede von der „Forschung am Menschen“ (vgl. Graumann 2011b, 256; Groß, 414). Daneben gibt es aber auch sozial- und verhaltens‐ wissenschaftliche Humanexperimente in den Sozialwissenschaften und der Psychologie (2). Die Forschung am Menschen kann noch mehr als andere überhaupt nur in Erwägung gezogen werden, wenn die Forschungsziele ethisch hochrangig sind. Der Grundkonflikt bei der Durchführung besteht 239 4.3 Humanexperimente <?page no="240"?> darin, dass der Mensch zum Objekt einer Studie gemacht und damit gewis‐ sermaßen verdinglicht wird (vgl. Maio, 374). Dies steht in Widerspruch zur Selbstzweckhaftigkeit und Würde des Menschen, weshalb in der Wis‐ senschaftsethik gefordert wird: „Die Versuchsperson darf im Experiment nicht nur als zu manipulierender Gegenstand betrachtet, sondern muss stets zugleich auch als ‚Selbstzweck‘ im Sinne Kants behandelt werden“ (Lenk u. a. 1998, 291). An oberster Stelle steht bei Humanexperimenten daher das Gebot der freiwilligen und informierten Einwilligung. Während ein direkter Zwang zur Teilnahme höchstens in Unrechtsstaaten vorkommen dürfte, könnte die Freiwilligkeit z. B. durch befürchtete negative Konse‐ quenzen in einem bestehenden Arzt-Patient-Verhältnis oder durch eine hohe Aufwandsentschädigung untergraben werden (vgl. Fuchs, 70). Häufig ergibt sich aber auch das methodische Dilemma, dass eine umfassende Aufklärung über den Aufbau und das Erkenntnisziel des Experiments die Forschung behindern oder unmöglich machen würde (vgl. Graumann 2011b, 256; Schuler, 342). Eine Teilaufklärung kann dann als legitim gelten, wenn Versuchsteilnehmer ausdrücklich auf eine umfassende Vorinformation ver‐ zichten (vgl. unten, Punkt 1). Des Weiteren sind rechtliche Regulierungen des Datenschutzes zu beachten, die z. B. eine Veröffentlichung der erho‐ benen Daten in anonymisierter Form verlangen (vgl. Schnell, 74 ff.). Um persönlich identifizierbare Daten dauerhaft vor einem Missbrauch und vor ihrer Verwendung zum Nachteil der Betroffenen zu schützen, wären sie so zu codieren, dass nur dem Forscher selbst eine Zuordnung zu den Personen möglich ist (vgl. Schuler, 343). Zudem stellen sich Fragen nach dem ethisch und rechtlich geforderten Schutz der Privat- und Intimsphäre, sobald Daten aus diesem Bereich der persönlichen Lebensgestaltung erhoben werden. 1) Medizinische Humanexperimente Bereits im 19. Jahrhundert wurde eine ganze Reihe von missbräuchlichen Versuchen meist an armen und leidenserfahrenen Patienten bekannt wie z. B. im Neißer-Skandal, als ein Arzt acht jungen Patientinnen und Prosti‐ tuierten zu Forschungszwecken Syphiliserreger übertrug (vgl. Maio, 371). Einen Meilenstein im Umgang mit medizinischen Humanexperimenten stellte der Nürnberger Ärzteprozess von 1946-47 dar, bei dem es zur Verur‐ teilung der an den menschenverachtenden Versuchen an KZ-Häftlingen in der NS-Zeit beteiligten Ärzte kam. Schon im „Nürnberger Codex“ wurde das Prinzip der informierten Zustimmung verankert. Gleichwohl kam es zu 240 4 Wissenschaftsethik <?page no="241"?> weiteren Skandalen wie in der von 1932-1972 laufenden Tuskegee-Studie an 400 Afro-Amerikanern, an denen man den natürlichen Verlauf der Syphilis-Erkrankung studieren wollte und denen deswegen die inzwischen verfügbaren Medikamente vorenthalten wurden (vgl. ebd., 373). Es folg‐ ten 1964 die „Deklaration von Helsinki“ des Weltärztebundes und 1999 die „Biomedizin“- oder „Oviedo-Konvention“ des Europarates. In diesen neueren Versionen wurde die Unterscheidung eingeführt zwischen einer Heilbehandlung, d. h. der ärztlichen Standardtherapie, einer klinischen Forschung zur Prüfung der Wirksamkeit einer Heilbehandlung, einem Heilversuch als individueller Behandlung außerhalb der Standardthera‐ pie und einem Humanexperiment, das aus wissenschaftlichen Gründen des theoretischen Erkenntnisgewinns vorgenommen wird (vgl. ebd., 369; Groß, 415). Obschon bei Humanexperimenten die Heilbehandlung nicht direktes Ziel ist und teilweise grundlegende physiologische Mechanismen erforscht werden sollen, kann sich für die Teilnehmer gleichwohl ein direkter medizinischer Nutzen ergeben. So stellen z. B. klinische Studien zu neu auf den Markt kommenden Arzneimitteln oder Medizinprodukten fast immer Humanexperimente dar (vgl. Fuchs, 63). Es liegt dann nicht in der externen Verantwortung des Forschers, einem Probanden die bestmögliche Therapie zu garantieren, sondern die Effektivität eines neuen Medikaments zu testen. Die Verabreichung von Placebos zur Messung der Wirksamkeit eines Medikaments ist nur ethisch legitim, wenn die Studienteilnehmer über die Zufälligkeit des Erhalts des Medikaments bzw. des Placebos informiert werden und das neue Medikament tatsächlich wirksamer sein könnte als die bereits erprobten (vgl. ebd., 180 f.; Maio, 375). Neben dem obersten Prinzip der Autonomie oder Selbstbestimmung spielt das Prinzip des Nicht-Schadens aus der von Beauchamp und Child‐ ress entworfenen medizinethischen Theorie der mittleren Prinzipien die wichtigste Rolle (vgl. Fuchs, 72 f.; Kap. 2): Über die vollständige Aufklärung über sämtliche Risiken hinaus wird bei Humanexperimenten verlangt, eine mögliche Schädigung der psychophysischen Integrität der Probanden müsse „angemessen“ sein (vgl. Fuchs, 72 f). Eine absolute Grenze sei da zu ziehen, wo ein Experiment durch alternative, unproblematische Methoden ersetzt werden könnte oder wo es mit großer Wahrscheinlichkeit zu schweren oder dauerhaften Schäden des Probanden käme. Allerdings sind Begriffe wie ein „minimales“ oder „vertretbares Risiko“ definitorisch unterbestimmt und markieren keine klare absolute Grenze (vgl. Groß, 416). Vollends eine Frage der Abwägung ist das Ziehen der relativen Grenze, die als „ausgewogenes“ 241 4.3 Humanexperimente <?page no="242"?> oder „vertretbares“ Verhältnis der möglichen Schädigung zum erwarteten Nutzen umschrieben wird. Bei einer solchen Schaden-Nutzen-Abwägung oder Risiko-Nutzen-Bewertung kann es sowohl um einen Nutzen hin‐ sichtlich des allgemeinen Erkenntnisgewinns als auch einen direkten medi‐ zinischen Nutzen für Probanden gehen. Am einfachsten dürfte das Kalkül bei sogenannten eigennützigen Experimenten wie den erwähnten klinischen Studien fallen, wenn z. B. ein vielversprechendes neues Medikament an schwer erkrankten Patienten getestet wird und die erhoffte Besserung ein vergleichsweise hohes Risiko rechtfertigt. Bei ausschließlich fremdnütziger Forschung an meist gesunden Probanden hingegen ist eine höhere ethische Legitimierung notwendig. Sowohl ethisch als auch juristisch unzulässig ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung, bei der eine kleine Gruppe von Menschen hohen Gesundheitsrisiken ausgesetzt wird, um eine große Zahl von Kranken retten zu können (vgl. Nida-Rümelin 2005, 850). Besondere Sorgfalt und Zurückhaltung ist bei vulnerablen Personen angezeigt, d. h. bei besonders verletzlichen oder gefährdeten Personengruppen wie Kindern oder Men‐ schen mit geistiger Behinderung oder psychischen Störungen. Viele Ethiker lehnen fremdnützige Forschung insbesondere an nichteinwilligungsfähigen vulnerablen Personen strikt ab. Um nicht bestimmte Menschengruppen vom medizinischen Fortschritt auszuschließen, halten andere sie für ethisch vertretbar, sofern keine gleichwertigen Erkenntnisse über diese Gruppe auf andere Weise erzielt werden können und nur ein geringes Risiko besteht (vgl. dazu Groß, 416; Fangerau, 290 f.; Wiesemann u. a. 2005, 103 f.) 2) Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Humanexperimente Besonders groß ist das Spannungsverhältnis zwischen der Forderung nach umfassender Aufklärung und der unerwünschten Beeinflussung der For‐ schungsergebnisse durch diese Informationen in den Sozialwissenschaften und der Psychologie. Dort lässt es sich nicht immer so leicht auflösen wie durch eine Teilaufklärung bei der Vergabe von Placebos in der Medizin. Um möglichst „echte“ wirklichkeitsnahe Untersuchungsergebnisse in der (So‐ zial-)Psychologie zu erzielen, scheint man vielmehr die Versuchsanordnung in vielen Fällen tatsächlich bedeckt halten zu müssen. Vor dem Aufkommen der Wissenschaftsethik gab es unter Psychologen und insbesondere Sozial‐ psychologen einen regelrechten „Sport“, bei dem man um die raffinierteste Täuschung oder Desinformation der Versuchspersonen wetteiferte (vgl. Lenk 1997, 121; Schuler, 336). Entsprechend standen diese unmoralischen Methoden des Erkenntnisgewinns lange im Brennpunkt der Diskussionen 242 4 Wissenschaftsethik <?page no="243"?> zur Forschungsethik. Anhand des Paradebeispiels des Milgram-oder Ge‐ horsamkeitsexperiments kann das grundlegende Dilemma veranschau‐ licht werden: In den 1960er Jahren entwarf der amerikanische Sozialpsycho‐ loge Stanley Milgram ein Experiment im Rahmen der Grundlagenforschung, um wichtige Erkenntnisse über das soziale Phänomen des blinden Gehor‐ sams oder der Autoritätshörigkeit zu gewinnen. Er wollte mit seiner in Anschauungsbeispiel 2 geschilderten Versuchsanordnung herausfinden, wieso Menschen wie etwa der streng autoritär erzogene Funktionär Eich‐ mann unter der Naziherrschaft völlig unbekannten Menschen tödlichen Schaden zufügten (vgl. Bierbrauer, 20). Solche grundlegenden Einsichten in das menschliche Handeln unter sozialem Druck zu gewinnen, scheint grundsätzlich ein ethisch wertvolles Forschungsziel zu sein. Zu klären ist aber, ob dieser gute Zweck sämtliche Mittel heiligt. Der gravierendste wissenschaftsethische Einwand gegen die Milgram-Ex‐ perimente und ihre Nachfolge-Untersuchungen richtet sich gegen die vor‐ sätzliche Missinformation oder Täuschung der Versuchspersonen. Wären die Probanden über das wahre Forschungsziel und das Setting informiert gewesen, hätten sie wahrscheinlich gar nicht mitgemacht. Die Versuchsper‐ sonen werden aber über das wahre Forschungsziel getäuscht und glauben, es gehe um ein lernpsychologisches Experiment zur Erforschung des Einflus‐ ses von Belohnen und Bestrafen auf das menschliche Erinnerungsvermögen. Zudem wird ihnen gesagt, die Stromstöße seien nicht gefährlich. Im Ver‐ laufe des Experiments gewinnen sie allerdings den Eindruck, die Schreie kämen von der Schüler-Versuchsperson, der man tatsächlich schmerzhafte Stromstöße verpasse, obwohl sie nur von Schauspielern vorgetäuscht wer‐ den. Das ganze Versuchssetting muss der Lehrer-Versuchsperson ziemlich befremdlich und völlig unvertraut vorkommen (vgl. Bierbrauer, 144): die harmlos beginnenden, aber unaufhaltsam zunehmenden Schockstöße, deren Gefährlichkeit man schwer einschätzen kann und die heftigen Proteste und qualvollen Schreie bis hin zu einem erstickenden letzten Schrei der angeblichen Versuchsperson, im eklatanten Widerspruch zum Verhalten des Untersuchungsleiters stehend, der davon gänzlich unberührt bleibt und monoton zum Weitermachen auffordert. Im Milgram-Experiment fehlte aber eine Ansprechperson, an die sich die Versuchspersonen hätten wenden können. Da man den Versuchspersonen versicherte, die Versuchsreihe werde von einem anerkannten Wissenschaftler durchgeführt, gingen sie davon aus, dass die Versuchsanordnung sinnvoll, vernünftig und ethisch korrekt ist (vgl. Schuler, 349). Der Versuchsleiter führte die Versuchsperso‐ 243 4.3 Humanexperimente <?page no="244"?> nen bewusst in die Irre, indem er wiederholt bekräftigte, er trage nach wie vor die Verantwortung. Ähnlich wie Eichmann und viele andere in der Nazi-Diktatur meinten die Versuchspersonen infolgedessen irrtümlich, ihre persönliche Verantwortung beschränke sich fortan als interne Rollenverant‐ wortung darauf, die Aufträge der Autoritätsperson bestmöglich auszuführen (vgl. Bierbrauer, 22 f.). Zum Recht auf Selbstbestimmung gehört aber auch das explizite Angebot, das Experiment jederzeit ohne Angabe von Gründen beendigen zu können (vgl. Groß, 416). Wie bereits erläutert kommt es bei der ethischen Beurteilung eines Hu‐ manexperiments neben dem informierten Einverständnis auf das Ausmaß der Beeinträchtigung oder Gefährdung der Versuchspersonen an. In erster Linie ist an eine Schädigung des leiblichen und seelischen Wohls der Probanden zu denken wie z. B. Angst, Frustration, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, Scham etc. (vgl. Schuler, 338). Bei den Milgram-Experi‐ menten und ihren Nachfolgeexperimenten waren verschiedene Arten der Beeinträchtigungen zu verzeichnen. Sie ergaben sich zum einen aus den erwähnten inneren Konflikten und negativen, auflehnenden Gefühlen, die sich bei den meisten „Lehrern“ im Laufe des Experiments intensivierten. Zum anderen sollen einige der Teilnehmer schockartig auf die postexperi‐ mentelle Aufklärung reagiert haben. In Nachfolgeexperimenten hat man sogar Verzweiflungsreaktionen bis hin zum Suizidversuch beobachtet (vgl. Schuler, 334). Verstärkt wurden die Selbstzweifel noch durch die heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit und im privaten sozialen Umfeld, z. B. wenn die eigene Frau bemerkt: „Du kannst Dich jetzt Eichmann nennen! “ (zitiert nach ebd.). Dauertraumareaktionen wurden allerdings nicht diagnostiziert, als man 40 der Probanden der Milgram-Experimente ein Jahr später medizi‐ nisch und psychologisch untersuchte (vgl. Lenk 2007, 121). Da solche dauer‐ haften Beeinträchtigungen aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden konnten, war die leibliche und seelische Integrität der Probanden bei der Durchführung des Experiments nicht ausreichend geschützt. Die 4 $ pro Stunde als Entschädigung für die Teilnahme können schwerlich eine Kompensation für die Inkaufnahme solcher Risiken sein. Gemäß der oben gezogenen absoluten Grenze sind Forschungen am Menschen unzulässig, wenn sie mit erheblichen Risiken für die Versuchspersonen verbunden sind, wobei als Grundsatz gelten kann: „Keine Versuchsperson soll sich nach der Versuchsteilnahme schlechter fühlen als zuvor“ (vgl. ebd., 341). Trotz der gesellschaftspolitisch bedeutsamen sozialpsychologischen Erkenntnisse 244 4 Wissenschaftsethik <?page no="245"?> sind die Milgram-Experimente daher forschungsethisch betrachtet nicht akzeptabel (vgl. Graumann 2011b, 256). Gebote einer Ethik des Humanexperiments - umfassende oder Teilaufklärung und informiertes Einverständnis - höchstens minimale Risiken oder positive Risiko-Nutzen-Abwägung - bei vulnerablen Gruppen verschärfte Bedingungen - Schutz der Daten vor Missbrauch (z. B. durch Anonymisierung) - Schutz der Privat- und Intimsphäre konkrete Maßnahmen zur Umsetzung: - Ethikkommissionen zur begleitenden Kontrolle - ausführliche Forschungsprotokolle 4.4 Tierversuche Als sich in der frühen Neuzeit eine anwendungsbezogene Forschung an‐ hand von Experimenten durchzusetzen begann, gewannen die Versuche an lebenden Tieren an Bedeutung. Die Entdeckung des Blutkreislaufes durch William Harvey im 16. Jahrhundert basierte beispielsweise auf Ergebnissen von Tierversuchen (vgl. Vermeulen, 82). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die experimentelle Methodik für den Erkenntnisgewinn in der wis‐ senschaftlichen Medizin und Pharmakologie Standard, sodass die Forschung in diesen Bereichen kaum mehr ohne Tierversuche auskommt. Unter ei‐ nem Tierversuch versteht man nach deutschem Tierschutzgesetz „Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken an Tieren (bzw. ihrem Erbgut), wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere verbunden sein können“ (§7). In der Bundesrepublik Deutschland wurden im Jahr 2018 rund 2,8 Millionen Tiere für wissenschaftliche Zwecke verwendet, wovon rund 700´000 Tiere ohne Versuchseingriffe z. B. für die Gewinnung von Zellen für Zellkulturen getötet wurden (vgl. Tierschutzbericht des BMEL). Den größten Anteil der Versuchstiere bilden nach wie vor Mäuse (74,5%), Ratten (10,4%), Fische (8,1%) und Kaninchen (3%), wohingegen der prozentuale Anteil beispielsweise der Hunde (0,14%) oder Primaten (0,12%) sehr gering ist. Die große Zahl der Tierversuche dient entweder der biologischen Grundlagenforschung oder der Entwicklung und Erprobung neuer medizinischer Therapiemöglichkeiten. Häufig stellen Tiere wie bei Toxikationsprüfungen „Stellvertreter“ für Menschen oder „Modelle“ dar, 245 4.4 Tierversuche <?page no="246"?> anhand derer Krankheitsverläufe oder Funktionsweisen des menschlichen Organismus erforscht werden. Bei der Arzneimittelprüfung sind Tierversu‐ che gesetzlich vorgeschrieben und Voraussetzung für die Anwendung am Menschen. Nutzlosigkeit und Ersetzbarkeit von Tierversuchen Tierversuche sind deswegen ethisch problematisch und führen immer wieder zu heftigen emotionalen Diskussionen, weil sie definitionsgemäß mit Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere verbunden sind: Darf man Tieren Schaden zufügen, um Schädigungen von Menschen abzuwenden oder einen Nutzen für die Menschheit zu erzielen? Kritiker von Tierversuchen pochen häufig auf die Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit solcher „Tierquälereien“, weil die am Tier gewonnenen Erkenntnisse gar nicht auf den Menschen übertragbar seien (vgl. Vermeulen, 83 f.; Wiesemann u. a. 2005, 114): Organis‐ mus und Lebensweise von Menschen und Tieren seien viel zu verschieden, sodass sich z. B. die Verträglichkeit von Substanzen von Spezies zu Spezies stark unterscheiden und Tierversuche nur eine vermeintliche Sicherheit bieten. Während Tierversuchsgegner auf chemische Substanzen verweisen, die anders als bei Tieren beim Menschen schwerste bis tödliche Wirkungen zeitigten, geht die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) davon aus, dass die erwünschten und etwa 70% der unerwünschten Wirkungen auf den Men‐ schen vorhersagbar sind (vgl. DFG). Selbst dann stellt sich aber die Frage, ob angesichts dieser Prognosewahrscheinlichkeit das Leid oder sogar der Tod zahlreicher Tiere gerechtfertigt ist. Wo nicht die Nützlichkeit infrage gestellt wird, macht man häufig die Ersetzbarkeit von Tierversuchen geltend: Mit alternativen Forschungsmethoden wie z. B. dem Einsatz von Zellkulturen oder Computersimulationen ließen sich dieselben Erkenntnisse erzielen, ohne lebende Tiere Belastungen aussetzen zu müssen (vgl. Wolf 1997, 70; Wiesemann u. a. 2005, 115). Allerdings helfen In-vitro-Methoden kaum weiter, wenn es z. B. um die Erforschung komplexer Wechselwirkungen im Gesamtorganismus geht. Auch muss die Wirkung eines Medikaments am Ende immer „in vivo“ getestet werden, weil ein Organismus 200 unterschied‐ lich ausdifferenzierte Zelltypen enthält. Nutzen- und Ersetzbarkeitsfragen sind zwar keine ethischen, sondern empirische Fragen, haben aber großes Gewicht bei der Beurteilung der ethischen Legitimität von Tierversuchen. Obwohl diese Einwände kein generelles Tierversuchsverbot begründen kön‐ nen, ergibt sich daraus doch die Notwendigkeit einer sorgfältigen Prüfung im Einzelfall. 246 4 Wissenschaftsethik <?page no="247"?> Moralischer Status der Tiere Auch wenn sich bei der Einzelfallprüfung bestimmte Tierversuche in em‐ pirischer Hinsicht als nützlich und unersetzbar erweisen, ist damit noch keineswegs die Ausgangsfrage beantwortet: Kann es überhaupt ethisch legitim sein, Tiere zu Versuchsobjekten zu machen und sie Belastungen und Risiken auszusetzen, die man selbst Menschen nicht zumuten würde, die sich dafür freiwillig zur Verfügung stellen? Gegner und Befürworter von Tierversuchen haben meist unterschiedliche Vorstellungen vom mora‐ lischen Status von Tieren, d. h. vom grundsätzlichen Eigenwert und der moralischen Schutzwürdigkeit von Tieren. Gemäß einer Extremposition der radikalen Gegner sind Tierversuche generell unzulässig, weil Tiere den gleichen moralischen Status haben wie Menschen, d. h. in gleichem Maß moralisch „zählen“ bzw. von Belang sind und moralisch zu berücksich‐ tigen sind. Tom Regan begründet dies in seiner Tierrechtstheorie damit, dass auch Tiere „Subjekte ihres Lebens“ sind, d. h. über subjektiv erlebte Empfindungen und eine innere mentale Welt verfügen (vgl. Kap. 3; Regan, 243). Aufgrund dessen komme ihnen ein inhärenter Wert und das gleiche Recht wie Menschen zu, mit Respekt behandelt und nicht als Mittel für fremde Zwecke instrumentalisiert zu werden (vgl. ebd., 384 f.). Aus dieser Perspektive werden Tierversuche ungeachtet des Ausmaßes an Belastungen für die Tiere und des zu erwartenden Nutzens der Forschung für die Menschen genauso wie der Verzehr von Fleisch strikt als unmoralisch abgelehnt (vgl. 382): Was Menschen nicht angetan werden darf, verbietet sich auch bei Tieren. Kritisch betrachtet liegt hier jedoch ein fragwürdiger deontologischer Rigorismus vor, der auf dem kategorischen Einhalten von Rechten oder Pflichten pocht und die positiven und negativen Folgen eines Tuns außer Acht lässt (vgl. Ethik, 173). Gemäß der anderen, heute kaum mehr vertretenen Extremposition haben Tiere jedoch überhaupt keinen moralischen Status. Diese Auffassung basiert auf der inzwischen wider‐ legten, z. B. von René Descartes verbreiteten These, Tiere empfänden kein Leid und ihre Schmerzensschreie wären lediglich bewusstlose Reflexe (vgl. Vermeulen, 84). Bei vorzugswürdigen mittleren Positionen hingegen werden verschie‐ dene Beurteilungskriterien berücksichtigt und es braucht moralische Ur‐ teilskraft, um im jeweiligen konkreten Einzelfall eine ethische Abwägung vorzunehmen. Als zentrales Kriterium für die Zuschreibung des morali‐ schen Status gilt in der tierethischen Debatte weithin das Kriterium der (Schmerz)Empfindungsfähigkeit bzw. das Interesse an Schmerz- 247 4.4 Tierversuche <?page no="248"?> und Leidfreiheit der Tiere. Denn einem empfindungsfähigen Wesen, das Schmerzen und Freude erfährt, kann man in einem ganz anderen Ausmaß schaden oder nützen als einem empfindungslosen. Insbesondere der Pathozentrismus und die Mitleidsethik rücken die Pflichten in den Vordergrund, weder Menschen noch Tieren Leid zuzufügen. Für den mora‐ lischen Status eines Lebewesens sind aber zudem noch das Selbst- und Zeitbewusstsein und die darauf basierenden zukunftsbezogenen Wünsche und Überlebensinteressen von Bedeutung. Denn wer sich und sein Leben mittels seiner Vernunft selbst gestalten kann, ist im kantischen Sinn ein Selbstzweck, hat Würde und Anspruch auf Respekt vor der Freiheit. Er hat ein Bewusstsein des bevorstehenden Todes und ein Interesse, seinen sich auf das ganze Leben beziehenden Lebensplan zu realisieren (vgl. Patzig, 263). Die im Schweizer Tierschutzgesetz verankerte, teilweise sogar auf Pflanzen angewendete Formulierung „Würde der Kreatur“ ist theologisch inspiriert und konzeptuell wenig überzeugend, weil sie den Grund der Zuschreibung von Würde und moralischem Status und die daraus folgenden normativen Konsequenzen völlig offenlässt (vgl. Düwell 2008, 112). Ungeachtet dessen lässt sich eine größere moralische Rücksichtnahme gegenüber Menschen und höher entwickelten Tieren aber damit begründen, dass sie wegen ihrer Reflexionstätigkeit, ihrer Erinnerungsfähigkeit und ihrer Zukunftswünsche über eine viel breitere Palette an Leid und ein stärkeres Überlebensinteresse verfügen. Auch wenn man bezüglich der Tierversuche das gleiche Leid und gleiche Interessen prinzipiell gleich berücksichtigt, können Experimente mit weniger entwickelten Tierarten aufgrund dessen eher gerechtfertigt werden als mit Menschen (vgl. Brody, 271; Vermeulen, 88). Bisweilen wird aber ge‐ mäß der sogenannten Doppelstandardtheorie den Interessen oder dem Leid der Menschen von vornherein mehr Gewicht gegeben, weil der moralische Status des Menschen ein höherer sei. Wo es zur Konkurrenz menschlicher Interessen mit solchen von Tieren kommt, werden die menschlichen dann stärker gewichtet (vgl. Vermeulen, 87; Brody, 271). Ethisch legitime Zwecke für Leidzufügung Da Tiere also um ihrer selbst willen moralisch schützenswert sind und einen Anspruch haben, möglichst schmerz- und angstfrei zu existieren, ist eine willkürliche Tierquälerei moralisch inakzeptabel. In der allgemeinen Klausel zu Beginn des deutschen Tierschutzgesetzes heißt es daher: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ (§1) Doch welche Gründe für das Schädigen von Tieren dürfen 248 4 Wissenschaftsethik <?page no="249"?> als „vernünftig“ gelten? Grundsätzlich untersagt werden im deutschen Tierschutzgesetz Tierversuche für bestimmte Forschungszwecke wie z. B. „zur Entwicklung oder Erprobung von Waffen, Munition und dazugehörige Geräte“, aber auch „zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika“ (vgl. § 7a). Dieser Ausschluss wird im Gesetz selbst zwar nicht begründet. Während aber der Einsatz von Waffen statt Argumenten nur in unmittelbaren Bedrohungssituationen ethisch akzeptabel ist, dienen die Tabakerzeugnisse und Kosmetika menschlichen Luxusbedürfnissen und können daher das Leid der Tiere nicht rechtfertigen. Als ethisch legitimer Versuchszweck kann hingegen die Entwicklung neuer Therapiemethoden gelten, die auf längere Sicht das Leiden von vielen schwerkranken Menschen zu beseitigen oder zu mildern versprechen. Denn das Heilen stark beein‐ trächtigender Krankheiten betrifft keine Luxusbedürfnisse, sondern elemen‐ tare menschliche Bedürfnisse. Da die (bio)medizinischen Wissenschaftler einen gesellschaftlichen Auftrag zur Entwicklung neuer Therapiemethoden zur Leidbegrenzung übernommen haben, kommt ihnen eine besondere Rollenverantwortung hinsichtlich des Rechts auf Gesundheit der Bürger zu. Um diese Verantwortung wahrzunehmen, müssen sie alle medizinischen Handlungsoptionen in Betracht ziehen und auf ihre ethische Vertretbarkeit hin prüfen. Im deutschen Tierschutzgesetz sind über diesen unbestrittenen therapeutischen Zweck (1) hinaus noch weitere legitime Forschungsziele aufgeführt: 1) Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden; 2) Erkennen oder Beeinflussen physiologischer Zustände oder Funktionen bei Mensch und Tier; 3) Erkennen von Umweltgefährdungen; 4) Prüfen von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Mensch oder Tier; 5) Grundlagenforschung. Insbesondere über die ethische Zulässigkeit von Tierversuchen in der Grundlagenforschung (4) wird immer wieder heftig diskutiert. Da ein Anwendungsbezug häufig in keiner Weise absehbar ist, lassen sich die Tier‐ versuche dann nicht mit Verweis auf hochrangige Forschungszwecke recht‐ fertigen. Besonders umstritten sind Versuche an Primaten, die gemäß obigen Ausführungen aufgrund höherer kognitiver und emotionaler Fähigkeiten größere moralische Rücksichtnahme erfordern als weniger entwickelte Tierarten. Experimente mit Menschenaffen wie Schimpansen, Gorillas oder Orang-Utans sind in vielen Ländern wie Niederlanden, Österreich oder Schweden gesetzlich verboten und werden in Deutschland seit 1991 nicht mehr durchgeführt. Häufig werden aber für Grundlagenforschung Maka‐ 249 4.4 Tierversuche <?page no="250"?> ken-Affen verwendet wie z. B. bei den Tierversuchen an der Universität Bremen oder am Tübinger Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, die wegen Käfighaltung, Wasserentzug und Fixierung in Primatenstühlen in die Schlagzeilen gerieten (vgl. Anschauungsbeispiel 3). Tierversuche an Primaten scheinen aber zum einen bei Infektionskrankheiten wie z. B. HIV, Hepatitis C oder Ebola unverzichtbar, die ausschließlich bei Menschen und Primaten auftreten (vgl. www.tierversuche-verstehen.de, Abruf vom 05.05.2022). In der neurobiologischen Grundlagenforschung zum an‐ deren seien sie unverzichtbar, weil primatenspezifische Strukturen und kognitive Funktionen nur an Primaten z. B. durch Mikroelektroden im Gehirn erforscht werden können. Argumentiert wird, es gebe ein Konti‐ nuum zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung: Forscher könnten zwar nicht mit Sicherheit eine bestimmte Anwendungsmöglichkeit voraussagen, hätten aber auf lange Sicht Heilungsmethoden im Blick, die dann von anderen Spezialisten entwickelt werden müssten (vgl. ebd.). Ethisch legitimiert werden können aber Tierversuche strenggenommen auch in der Grundlagenforschung nur dann, wenn sie von Anfang an einen erkennbaren praktischen Nutzen aufweisen. Sobald sich herausstellt, dass die Versuche auch langfristig keinen Nutzen bringen, wären sie ethisch nicht mehr vertretbar. Dasselbe gilt für den Fall, dass sie durch alternative Methoden ohne Schädigung und Tötung von Affen ersetzt werden könnten. Gemäß der Studie „Nerv getroffen“ (2001) der Tierschutzakademie wurden beispielsweise mithilfe der Affenversuche der Universität Bremen lediglich biologische Detailergebnisse gewonnen, die sich auch mittels Kernspinto‐ mographen direkt am Menschen hätten erzielen lassen. Abwägung von Nutzen (für die Menschen) und Leid (von Tieren) Nur wenn zwischen Menschen und Tieren Unterschiede im moralischen Status gemacht werden, kann eine Abwägung zwischen dem zu erwartenden Leid der Tiere und dem erhofften Nutzen aus den Forschungsergebnissen überhaupt ethisch zulässig sein. Gemäß dem utilitaristischen Prinzip der Nutzenmaximierung wären Tierversuche immer dann moralisch erlaubt oder sogar geboten, wenn der durch sie erzielte Nutzen für eine große Zahl von Menschen das von den Versuchstieren ertragene Leid überwiegt. So erklärt Singer: „Wenn ein Tier oder auch ein Dutzend Tiere Experimente erleiden müssen, um Tausende zu retten, dann würde ich es im Hinblick auf die gleiche Interessenabwägung für richtig halten, dass sie leiden.“ (1994, 96) Ursula Wolf wendet gegen eine solche Leid-Nutzen-Ab‐ 250 4 Wissenschaftsethik <?page no="251"?> wägung ein, individuelle Leideszustände seien prinzipiell nicht über die Individuumsgrenze hinweg verrechenbar und austauschbar (vgl. 1997, 69). Diesem Einwand lässt sich aber entgegenhalten, dass wir im moralischen Alltag um die Abwägung von Leid und Freude zwischen verschiedenen Betroffenen kaum herumkommen. So wird beispielsweise der Bau eines neuen Flughafens als ethisch zulässig erachtet, wenn die Nachfrage nach einem neuen Flughafen so groß wird, dass die Interessen zu fliegen das Leiden der wenigen Bewohner unter dem Fluglärm in einer dünn besiedelten Umgebung bei Weitem übersteigt. Wolf macht außerdem darauf aufmerksam, dass das Leid der kranken Menschen ein nicht von Menschen gemachtes „natürliches“ sei, wohingegen die Menschen den Versuchstieren eigenhändig Leid zufügten (vgl. Wolf 1997, 69). Diese Naturgegebenheit eines Leids ändert aber nichts am Schweregrad des empfundenen Leids und kann keinen Grund darstellen, den Betroffenen nicht bei der Beseitigung ihres Leidens zu helfen. Weiter argumentiert sie, dass eine aktive Leidenszufügung nicht mit einem passiven Leidenlassen verglichen werden dürfe (vgl. ebd., 69). Die gezielte tierliche Leidenszufü‐ gung sei moralisch viel bedenklicher als ein bloßes Zulassen nicht selbstver‐ schuldeter Leiden von Schwerkranken. Dagegen ist allerdings zu Bedenken zu geben, dass die Verantwortung bei einem bloßen Zulassen eines Leids gleich groß sein kann wie bei einem aktiven Zufügen des Leids (vgl. Ethik, 58). Gerade wenn von einem Handlungssubjekt aufgrund der von ihm eingegangenen familiären oder beruflichen Verpflichtungen ein bestimmtes Handeln erwartet wird, trägt die betreffende Person für die negativen Folgen eines bewussten und willentlichen Unterlassens die normative Verantwor‐ tung. Wie erwähnt haben biomedizinische Wissenschaftler eine Pflicht zur therapeutischen Forschung und eine prospektive Verantwortung für die Entwicklung neuer Therapiemethoden. Im Fall der Tierversuche ist das Leid der Tiere aber nicht nur eine in Kauf genommene Folge, um das hohe Forschungsziel der Krankheitsheilung zu erlangen. Die Tiere werden vielmehr als Mittel zum Zweck eingesetzt, sodass das aus der Moraltheologie stammende „Prinzip der Doppelwirkung“ hier nicht als Rechtfertigung herangezogen werden kann (vgl. ebd., 43 f.; 184 f.). Schließlich verweist Wolf noch darauf, dass dem Leiden der Tiere in der gegebenen Situation gar nicht die Leiden der aktuell Kranken gegenüberstehen, sondern allenfalls das Leid der Kranken in einigen Jahren oder Jahrzehnten (vgl. 69 f.). Korrekt ist zwar die prinzipielle prognostische Unsicherheit, wohingegen aber die Verantwortung gegenüber gegenwärtig und zukünftig Leidenden ethisch 251 4.4 Tierversuche <?page no="252"?> gesehen gleich groß ist. Zu verlangen wäre, dass sich der Nutzen geplanter Tierversuche mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen lässt. Der Haupteinwand gegen jedes utilitaristische Kosten-Nutzen-Kal‐ kül lautet zu Recht, es zähle nur die Gesamtsumme, ohne dass die Verteilung von Nutzen und Lasten berücksichtigt wird (vgl. Ethik, 100 f.). So können wehrlose Einzelne oder Minderheiten von Menschen oder Tieren für das Wohl einer großen Zahl anderer Menschen grausam gequält und getötet werden, wobei ihre individuellen moralischen Rechte und berechtigten Interessen einfach missachtet werden. Demgegenüber macht das deutsche Tierschutzgesetz folgende Einschränkung: Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, „wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind“ (§7, Abs. 3). Der Ausdruck „ethisch vertretbar“ ist allerdings äußerst vage und bedarf einer Konkretisierung. Von verschiedenen Tier‐ schutzorganisationen und Forschergemeinschaften wie z. B. der DFG und Max-Planck-Gesellschaft wurden Beurteilungskriterien und Belastungska‐ taloge zusammengestellt, um den Schweregrad der Belastung für die Tiere genauer einschätzen zu können. (vgl. DFG, 36): Gering belastend sind Injektionen von Arzneimitteln und ein kurzfristiges Fixieren des Tieres. Mittelgradig belastend sind Eingriffe wie Operationen unter Vollnarkose, die nur geringe Folgebelastungen mit sich bringen. Als hoch bis sehr hoch belastend müssen Versuche bewertet werden, bei denen nach dem Eingriff starke bis unstillbare Schmerzen auftreten. Dies ist etwa der Fall bei Transplantationen von Organen oder tödlich verlaufenden Infektions- oder Krebskrankheiten. Für Nagetiere liegen noch detailliertere artspezifische Messkriterien vor (vgl. ebd.). Bei Versuchsreihen der dritten Gruppe mit schwerem, unstillbarem Leid der Tiere muss eine absolute Grenze gezogen werden, jenseits derer sich eine Güterabwägung verbietet. Analog kann im obigen Beispiel der Neubau eines Flughafens nicht ethisch legitim sein, wenn der Fluglärm für einzelne betroffene Anwohner gesundheitsschädi‐ gend ist. Als internationaler Standard im Umgang mit Tierversuchen hat sich das 3R-Prinzip durchgesetzt: Erforderlich sind „Replacement“, d. h. das Ersetzen der Tierversuche durch alternative Methoden wo immer möglich, „Reduction“, d. h. das Verringern der Anzahl der Tiere durch verbessertes statistisches Design der Studie, und „Refinement“, d. h. das Verfeinern des Versuchs z. B. durch Anästhesie, damit die Belastung für die Tiere möglichst gering ausfällt (vgl. Vermeulen, 94; Bode, 89). 252 4 Wissenschaftsethik <?page no="253"?> Tierversuche ethisch erlaubt: - bei schmerzunempfindlichen Tieren - bei schmerzempfindlichen Tieren nur unter folgenden Bedingungen: 1) Es sind keine Alternativmethoden zum Tierversuch bekannt. 2) Ein konkreter praktischer Nutzen bezüglich der Heilung kranker Menschen oder der Verminderung ihres Leids ist klar erkennbar. 3) Das Leid der Tiere ist gering bis mittelgradig und steht in angemessenem Verhältnis zur erwarteten Minimierung des menschlichen Leids. ethische Gebote gemäß 3R-Prinzip: „Reduction“ (Reduktion), „Refinement“ (Verfeinerung), „Replacement“ (Ersatz) 253 4.4 Tierversuche <?page no="255"?> 5 Technikethik Anschauungsbeispiel 1: Der Laubsauger ist ein staubsaugerähnliches Gerät, mit dessen Hilfe Kleingärtner im Herbst das Laub von ihren Grundstücken entfernen können. Das Gerät erfasst allerdings nicht nur das Laub, sondern auch für das Ökosystem wichtige Kleintiere wie Käfer und Würmer. Zudem erzeugt es einen hohen Geräuschpegel, der die Nachbarn stören und dem Verwender Hörschäden zufügen kann. (nach Ropohl 1998, 275 f.) Wer trägt die Verantwortung für diese negativen Folgen und Nebenwir‐ kungen der Techniknutzung, die Hersteller oder die Nutzer? Anschauungsbeispiel 2: Mittels des neuen technischen Verfahrens der Gentechnik kann das Erbmaterial von Menschen, Tieren und Pflanzen gezielt manipuliert werden. Im Bereich der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelproduk‐ tion hofft man, dank gentechnisch erzeugter, besonders nahrhafter, vitaminreicher oder schädlingsresistenter Pflanzen wie dem „Golden Rice“ das weltweite Hungerproblem lösen zu können. Die Gegner der Gentechnik sehen jedoch die „Würde der Kreatur“ verletzt und das ökologische Gleichgewicht in Gefahr. Sie glauben, dass die Entwick‐ lungsländer mit ihren althergebrachten landwirtschaftlichen Strukturen die großen Verlierer sein werden. Ist dieses technische Verfahren ambivalent? Kann es verantwortet werden? Anschauungsbeispiel 3: Einem autonomen Fahrzeug springen plötzlich drei spielende Kinder in die Fahrbahn. Der Bremsweg ist zu lang, um eine Kollision zu vermeiden. Bei einem Ausweichmanöver auf die gegnerische Fahrbahn würde jedoch eine ältere Fahrradfahrerin erfasst. Menschliche Fahrer haben in solchen kritischen Situationen zu wenig Zeit, um nachzudenken, und reagieren spontan und instinktiv. Selbstfahrende Autos müssten <?page no="256"?> jedoch weit im Vorfeld für sämtliche dilemmatischen Konstellationen programmiert werden. Dürfen Menschen überhaupt autonome Systeme herstellen und die Kontrolle an diese abgeben? Kann auch ein selbstfahrendes Auto ein moralisches Subjekt und Träger von Verantwortung sein? Technik ist ein Jahrtausende altes menschliches Phänomen. Die Werkzeug‐ herstellung wurde schon beim Homo habilis („geschickter Mensch“) vor über 2,5 Millionen Jahren nachgewiesen, der erstmals roh behauene Stein‐ werkzeuge benutzte. Es dauerte aber bis in die 70er Jahre des 20. Jahr‐ hunderts, bis dieses Phänomen öffentlich als ein moralisches Problem wahrgenommen wurde. Bis weit in die Antike zurück gab es allerdings immer wieder vereinzelte Technikkritiker. Einer der ersten Bedenkenträger und Warner dürfte Platon gewesen sein, der sich im Phaidros Gedanken über das technische Verfahren der Verschriftlichung machte: Im Mythos von Teuth wird das Bedenken laut, dass die Menschen lediglich meinen, durch die lesende Aneignung und im Vertrauen auf das Geschriebene über immer mehr Wissen zu verfügen. In Wahrheit vergessen sie aber das bloß Gelesene und nicht selbst Durchdachte schnell wieder und wissen immer weniger (vgl. Phaidros, 274e-275b). Zu Beginn der Neuzeit verschwisterte sich die Technik mit den Naturwissenschaften und geriet somit in den Sog des neuzeitlichen Macht- und Machbarkeitsdenkens (vgl. Kap. 4, Einleitung). Unter Francis Bacons Slogan „Wissen ist Macht“ ging es im 17. Jahrhundert vorrangig darum, das mathematisch-naturwissenschaftliche und technische Wissen für das gemeinsame Ziel der Naturbeherrschung und der Besei‐ tigung materieller Not zu nutzen. Eine Flut neuer Geräte bis hin zu ganzen Maschinen und Maschinenkomplexen wurde entwickelt, die den Menschen das Leben erleichterten. Dennoch gab es Skeptiker, die beispielsweise angesichts der Bergwerkstechnik die Frage aufwarfen, ob der Mensch nicht beim Eindringen in den „Bauch der Erde“ die Mutter Erde misshandle (vgl. Ott 2005b, 574). Selbst ein uns heute so unentbehrlich erscheinendes Gerät wie die Uhr wurde von einigen beargwöhnt, weil man mit ihr die Menschen kontrollieren und sie dazu zwingen könne, sich nach ihr zu richten. Im sogenannten Zeitalter der industriellen Revolution des ausgehenden 18. und v. a. 19. Jahrhunderts kam es erneut zu einer signifikanten Zunahme der Erfindungen. Technische Neuerungen wie die Dampfmaschine, die Spinnmaschine oder der mechanische Webstuhl führten zu einer Umwäl‐ 256 5 Technikethik <?page no="257"?> zung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen. Die Fabrik- und Fließbandarbeit wurde eingeführt, und immer mehr mit Anstrengung ver‐ bundene menschliche Tätigkeiten wurden durch unermüdlich und gleich‐ mäßig präzise arbeitende Maschinen ersetzt. Gegen diese zunehmende Maschinisierung der Arbeitswelt protestierten zwar in England, Deutsch‐ land und in anderen Staaten Gruppen sogenannter Maschinenstürmer, die ihren Lebensunterhalt bedroht sahen. Zudem gab es Technikkritiker, wie der prominenteste unter ihnen: Karl Marx, die auf die Ausbeutung und die sozialen Missstände der Arbeiter oder Proletarier in kapitalistischen Produktionsverhältnissen aufmerksam machten. Dennoch war das Zeital‐ ter insgesamt betrachtet grundsätzlich optimistisch gestimmt (vgl. Ott 2005b, 575). Die Vervielfältigung der menschlichen Möglichkeiten und die offenkundige Verbesserung der Lebensqualität dank technologischer Revolutionen wie Eisenbahn, Medizintechnik (z. B. Narkosetechniken) und Hygienetechniken (z. B. Kanalisationssystem der Abwässer) nährten einen allgemeinen Fortschrittsglauben. Wie zu Beginn von Kapitel 4 bereits skizziert, wurde der Optimismus bezüglich des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erst im 20. Jahr‐ hundert gedämpft. Anlass zur Frage nach der Verantwortung von Wissen‐ schaftlern und Ingenieuren gaben v. a. die beiden Weltkriege mit dem Einsatz von Maschinengewehren, Raketen und Atombomben und dem fabrikmäßigen Massenmord von Millionen von Menschen in Gaskammern. Diese modernen Techniken des „Tötens aus Distanz“ wurden von vielen als Entfesselung ungeheurer destruktiver Energien erfahren, durch welche die moderne Zivilisation „einer technisch hochgerüsteten Barbarei zusteuert“ (Ott 2005b, 581 f.). Neben einem solchen absichtlichen Missbrauch der Technik offenbarten sich aber auch immer mehr nicht intendierte Folgen und Nebenwirkungen für die natürliche Umwelt und das soziale Leben (vgl. Skorupinski, 179 f.; F. Rapp, 32 f.). Breit diskutierte ökologische Nebenfol‐ genprobleme der Technik ab den 1960er Jahren waren etwa das Waldsterben, das Ozonloch und die immer mehr ins öffentliche Bewusstsein tretende Klimaveränderung. Als Ursprung breiter öffentlicher Diskussionen über wissenschaftlich-technische Erfindungen wird häufig das Manhattan-Pro‐ jekt zum Bau der Atombombe genannt, von dem ausführlich in Kapitel 4 zur Wissenschaftsethik berichtet wurde. Auch der Bau von Atomkraft‐ werken löste wegen der giftigen Abfälle und des hohen Risikos großes Unbehagen aus, das sich seit den Unfällen im Kernkraftwerk Tschernobyl im Jahre 1986 sowie 2011 in Fukushima verstärkte und in Deutschland 257 5 Technikethik <?page no="258"?> sogar zum Ausstieg aus der Atomenergie führte. Ein weiterer Meilenstein der beginnenden Technikethik war die Konferenz von Asilomar 1975, auf der sich Gentechniker zur Verantwortungsübernahme verpflichteten (vgl. Grunwald 2021, 3). Während als erster Anwendungsfall in Kapitel 5.3 die Gentechnik erläutert wird, rückt beim zweiten Anwendungsfall in Kap. 5.4 die Roboterethik ins Zentrum, die in der Technikethik angesichts der Entwicklung künstlicher Intelligenz immer mehr an Bedeutung gewinnt. Weitere ethische Probleme mit medizintechnischen Errungenschaften und neuen Kommunikationstechnologien werden in den Kapiteln zur Medizinbzw. Medienethik behandelt (vgl. Kap. 2 und Kap. 6). Die Dringlichkeit einer Ethik der Technik stieg also im Laufe des 20. Jahr‐ hunderts beträchtlich an, weil einerseits die Eingriffstiefe der Hochtech‐ nologien in die äußere und innere Natur zunahm und andererseits die intendierten, tolerierten oder ungewissen Folgen immer weitreichender und langfristiger wurden (vgl. Hubig 2011, 170): Die technische Verfügungs‐ macht über Natur und Leben stieg derart an, dass man zum einen mit wenigen Handgriffen durch Atomwaffen alles Leben auf der Erde vernich‐ ten kann. Zum andern drohen auch die nicht intendierten Technikfolgen katastrophale lebensbedrohliche Ausmaße anzunehmen. Die Chancen und Risiken der Technik haben aber nicht nur ganz neue Dimensionen erreicht, sondern die negativen Neben- und Folgewirkungen der Techniknutzung sind zudem auch sehr ungleich verteilt: Häufig leiden darunter Gruppen wie zukünftige Generationen oder Menschen in Dritte-Welt-Ländern, die selbst nicht von den neuen Technologien profitieren (vgl. Kap. 3.1.1). Solche Ungerechtigkeiten können auf ein Macht- und Wohlstandsgefälle zurück‐ gehen oder auch einfach durch Standortentscheidungen bezüglich Kern‐ kraftwerken, Autobahnen oder Fabrikanlagen entstehen (vgl. Grunwald 2011, 284). Auch wenn die technologischen Revolutionen den Menschen in modernen Industriegesellschaften ein Leben in Wohlstand und mit ho‐ hen Gesundheitsstandards und großer Mobilität ermöglichen, bedeutet der wissenschaftlich-technische Fortschritt also nicht automatisch einen allgemeinen humangesellschaftlichen Fortschritt. Aus ethischer Sicht ist aber sowohl das technische Handeln als auch das technische Nichthan‐ deln in modernen Gesellschaften grundsätzlich begründungspflichtig (vgl. Decker 2021, 39). Während das Ringen um ein Standesethos für Ingenieure unter dem Eindruck der Weltkriege einen wichtigen Motor der Herausbil‐ dung der Technikethik darstellte, gelten als ihr eigentlicher Beginn die Rundfunkvorträge des Religions- und Moralphilosophen Georg Picht im 258 5 Technikethik <?page no="259"?> Jahre 1970 zur Frage, wie „Wissenschaft und Technik zur Vernunft kommen“ (vgl. Grunwald 2011, 285; Ropohl 1998, 265). Kurz darauf legte Hans Sachsse eine Aufsatzsammlung unter dem Titel Technik und Verantwortung (1972) vor, und die Initialzündung für eine breite technikethische Debatte erfolgte mit dem Erscheinen von Hans Jonas’ Monographie Das Prinzip Verantwor‐ tung (1979). Begriffsklärungen: Technik und Technikethik Der auf das griechische „technikos“ („kunstvoll, fachmännisch, sachverstän‐ dig“) zurückgehende Begriff Technik ist mehrdeutig und bedarf daher einer Klärung: (1) „Technik“ kann zum einen die Gesamtheit von Werkzeugen und Maschinen meinen, die Menschen hergestellt haben, um bestimmte praktische Ziele im Bereich des Umwandelns, des Transports oder der Speicherung von Stoff, Energie oder Informationen zu erreichen. Während „Werkzeuge“ wie z. B. ein Hammer einfache Geräte zur Bearbeitung von Werkstoffen darstellen, sind „Maschinen“ wie z. B. eine Waschmaschine aus verschiedenen teils fixierten, teils sich bewegenden Maschinenelemen‐ ten zusammengebaut. Die Gesamtheit solcher materieller Artefakte, die als Einzeldinge oder systemisch vernetzt vorkommen können, wird als „Realtechnik“ bezeichnet (vgl. Gräb-Schmidt, 16; Ott 2005b, 593). (2) Unter „Technik“ wird zum anderen aber auch die Menge aller Handlungen im Umgang mit solchen Artefakten verstanden. Diese Handlungen können entweder a) die Herstellung oder aber b) die Verwendung der technischen Geräte betreffen (vgl. Ropohl 1996, 84 f.). (3) Über diese beiden wesentlichen Bedeutungen hinaus kann noch auf der Ebene des Wissens von Technik die Rede sein. So kann „Technik“ (3a) das Wissen um die Verfahren meinen, mit denen Stoff, Energie oder Informationen umgewandelt, transportiert oder gespeichert werden können. Im antiken Sinn von griechisch „techne“ (3b) wird demgegenüber mehr die Kunstfertigkeit, d. h. das „Können“ oder „Know-how“ der entsprechenden Handlungsabläufe betont (vgl. Julli‐ ard, 69). Der sich aus griechisch „techne“ und „logos“ („Vernunft“) zusam‐ mensetzende Begriff Technologie meint dieses Wissen über Herstellung, Gebrauch und Reparatur technischer Geräte und den Einsatz technischer Verfahren oder die Wissenschaft der Technik (vgl. Ott 2005b, 593). Da sich die moderne Technik wie z. B. Gentechnik, Nanotechnologie oder synthetische Biologie als typische „Technowissenschaften“ immer stärker auf neuste wissenschaftliche Forschungen abstützt, verschmelzen Wissen‐ schaft und Technik immer mehr (vgl. Grunwald 2021, 4). Das Wissen um 259 5 Technikethik <?page no="260"?> technische Verfahren zur Erreichung bestimmter Zwecke erwirbt man sich heute an technischen Universitäten, technischen Hochschulen, technischen Fachhochschulen oder Berufsakademien, die zum Titel eines Ingenieurs berechtigen, sowie den Fachschulen für Techniker oder den Meisterschulen. Technik 1) Gesamtheit von Werkzeugen und Maschinen („Realtechnik“) 2) Gesamtheit der Handlungen im Umgang mit technischen Artefakten 3) Wissen um technische Verfahren und um Herstellung, Gebrauch und Reparatur technischer Artefakte („Technologie“) 2a) Handlungen des Herstellens 2b) Handlungen des Verwendens 3a) Wissen um Verfahren 3b) Kunstfertigkeit („Können“) Analog zu den anderen Bereichsethiken ließe sich die Technikethik defi‐ nieren als „prinzipielle Reflexion auf die moralischen Fragen, welche die Technik aufwirft“ (Kunzmann, 249). Je nachdem, welches Technikverständ‐ nis man allerdings dieser Definition zugrunde legt, scheint die Möglichkeit einer Technikethik fraglich zu sein (vgl. dazu Bayertz 1991, 174). Reduziert man nämlich „Technik“ im Sinne von Technik (1) auf die Realtechnik, also auf Artefakte, scheint sie gar kein sinnvoller Gegenstand ethischer Betrachtungen sein zu können. Beurteilt und bewertet doch die Ethik per definitionem menschliches Handeln, nicht Dinge (vgl. unten, Kap. 5.1). Im Unterschied dazu lässt sich Technik (2) als Gesamtheit aller Handlungen des Herstellens und Verwendens technischer Geräte problemlos ethisch beurteilen. Wenn neue technische Geräte wie z. B. Autos oder Computer aufkommen und sich entsprechende Umgangsformen etablieren, entstehen häufig neue Lebensformen des Autofahrens bzw. der „Online“-Präsenz (vgl. Lenk u. a. 1998, 267). Solche neuen Lebensformen zeitigen dann möglicherweise Veränderungen in der Lebenswirklichkeit, die weit über die von den Technikern selbst anvisierten Verwendungszwecke der Geräte hinausreichen. Eine Technikethik kann sich daher nicht nur mit den inten‐ dierten Zwecken der Technikentwickler auseinandersetzen. Vielmehr hat sie auch die Folgen und Spätfolgen der Techniknutzung und nicht zuletzt die Entsorgung nicht mehr gebrauchter Artefakte zu bedenken. Eine ange‐ 260 5 Technikethik <?page no="261"?> messene Definition von Technikethik muss also die „ethische Reflexion auf die Bedingungen, Zwecke und Folgen der Entwicklung, Herstellung, Nutzung und Entsorgung von Technik“ umfassen (vgl. Grunwald 2011, 284). Bei der Technik (3), d. h. der Technik als Wissen oder Know-how, stellen sich ähnliche Fragen wie im wissenschaftsethischen Kapitel 4 (vgl. Kap. 4.2 sowie Kap. 5.1). Aufgrund der bereits erwähnten engen Verquickung der modernen Technik mit den Natur- und Ingenieurswissenschaften konvergieren heute Wissenschafts- und Technikethik immer mehr und werden oft in einem Atemzug genannt (vgl. Grunwald 2021, 4). Technikethik: Bereichsethik, die sich mit den ethischen Problemen bezüglich der Bedingungen, Ziele und Folgen der Herstellung, Nutzung und Entsorgung von Technik (1) befasst Wissenschafts- und Technikethik: große Nähe, weil moderne Technik immer stärker auf Wissenschaft basiert → Technologie, Technowissenschaften Normative Grundlagen der Technikethik Nicht anders als die Wissenschaftsethik konzentriert sich die deutschspra‐ chige Technikethik auf das Konzept der Verantwortung (vgl. Kunzmann, 253). Die Verantwortungsethik stellt aber keinen eigenständigen Ethik‐ typ oder normativen Ansatz dar, sondern ihre Leistung besteht v. a. in der Analyse der verschiedenen Bestandteile von Verantwortung als einer mehrstelligen Relation (vgl. Hubig 2011, 172). „Verantwortung“ kann erst dann als normatives Prinzip gelten, wenn normative Maßstäbe oder Wert‐ standards für die Beurteilung des zu verantwortenden Handelns benannt werden (vgl. Kap. 4). Die Appelle zur Übernahme von Verantwortung richten sich dabei nicht nur an die Technikgestalter wie Ingenieure und Techniker, weil sich die Technikethik keineswegs auf die Ingenieursethik reduzieren lässt. Vielmehr wendet sie sich auch an die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sowie alle potentiellen Techniknutzer. Damit die Ethik den technischen Entwicklungen nicht immer weit hinterherhinkt und den Charakter einer „Fahrradbremse am Interkontinentalflugzeug“ (Ulrich Beck) annimmt, müsste genauso wie in der Wissenschaft bereits bei der Konzeption und Planung an mögliche Folgen und Nebenwirkungen einer technischen Entwicklung gedacht werden (vgl. Kap. 4.2). Zudem wäre die breite Bevölkerung in öffentliche Debatten über tiefgreifende geplante technische Umwälzungen einzubeziehen. Um die Folgen techni‐ scher Neuerungen systematisch und umfassend zu erforschen, rief man 261 5 Technikethik <?page no="262"?> die Institutionen zur Technikfolgenabschätzung (TA) ins Leben, die sich in den meisten europäischen Ländern etablieren konnten. Ihnen kommt die Aufgabe zu, die Entscheidungsträger zu informieren und zu beraten. Lange Zeit entwickelten sich zwar die Technikfolgenabschätzung und die Technikethik weitgehend unabhängig voneinander (vgl. Grundwald, 278). Inzwischen wurde aber längst erkannt, dass die normative Dimension bei der beraterischen Tätigkeit der Technikfolgenabschätzung nicht außer Acht gelassen werden darf. Noch komplexer als bei der Wissenschaftsethik stellt sich in der Technikethik die Problematik der Verantwortungsteilung und Verantwortungsverdünnung dar (vgl. Grunwald 2021, 10; Kap. 5.2). zentrales ethisches Prinzip in der Technikethik: Verantwortung Problem: inhaltsleeres Prinzip ohne normative Standards/ Wertmaßstäbe A) Wertethische Ansätze Bezüglich der erforderlichen normativen Standards für das Verantwortungs‐ prinzip sind wertethische Ansätze in der Technikethik am vielverspre‐ chendsten. Unter Werten versteht man allgemein bewusste oder unbe‐ wusste Orientierungsstandards, von denen sich Individuen oder Gruppen in ihrem Handeln leiten lassen (vgl. Ethik, 190). Bis weit ins 20. Jahrhundert konzentrierten sich die Technikgestalter auf außermoralische technikspezi‐ fische Werte wie Funktionsfähigkeit und Effektivität (vgl. ebd., 267). Schon ökonomische Werte wie Kostenminimierung oder Gewinnmaximierung blieben vielen Ingenieuren weitgehend fremd. Noch weniger berücksichtigt wurden Werte mit einer moralischen Dimension wie Sicherheit, Umwelt‐ verträglichkeit oder Lebensqualität. Allmählich aber wuchs in der Öffent‐ lichkeit das Bewusstsein dafür, dass die technische und die moralische Betrachtungsweise auseinanderklaffen können. Immer mehr Menschen monierten das zunehmende „prometheische Gefälle“ zwischen der prome‐ theusgleichen technischen Produktivität einerseits und der moralischen Rückständigkeit des modernen Menschen andererseits (vgl. Anders 1989, §29). Auf der Basis aufwändig eruierter Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft stellte der Verein deutscher Ingenieure für die Richtlinie „Tech‐ nikbewertung“ 1991 eine Liste allgemein akzeptierter Werte zusammen (vgl. VDI, 346-359). Es handelt sich bei der Wertliste also um eine Rekonstruktion des vorgefundenen „soliden gesellschaftlichen Konsenses“ im Sinne eines kohärentistisch-rekonstruktiven Begründungsgangs (Hubig 1993, 292). Die 262 5 Technikethik <?page no="263"?> tiefer liegenden basalen Grundwerte werden vom Technikethiker Christoph Hubig handlungsreflexiv begründet, d. h. im Verweis auf ihre Notwendigkeit für die Erhaltung menschlicher Handlungsfähigkeit (vgl. ebd., 296 ff.). In der Literatur erhielt das Wertschema der VDI-Richtlinie den Namen „Oktogon“ (von griechisch „acht“), obgleich die Werte 7 und 8 von den Urhebern ausdrücklich zu einem Wertbereich zusammengefasst wurden. Die sieben Wertbereiche seien hier kurz charakterisiert: 1. Die Funktionsfähigkeit technischer Systeme besteht darin, unter bestimmten Bedingungen gewünschte Wirkungen erzielen zu können. Über die pure „Machbarkeit“ hinaus verfolgt man die Ideale „Wirksam‐ keit“ (möglichst große Geschwindigkeit und Leistung), „Perfektion“ (Einfachheit, Robustheit, Zuverlässigkeit und Lebensdauer) und „tech‐ nische Effizienz“ (Maximum an Produktivität oder Wirkungsgrad). 2. Die Funktionsfähigkeit einer Technik begründet ihre Wirtschaftlich‐ keit, d. h. das Verhältnis von Güterertrag (Nutzen) zu den Produktions‐ kosten (Aufwand). 3. Die Wirtschaftlichkeit wiederum ist entscheidend für den Wohlstand als materielles Wohlergehen der Bevölkerung. 4. Sicherheit meint die Abwesenheit von Gefahren für Leib und Leben der gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen. Da stets die Mög‐ lichkeit eines technischen Versagens oder unerwünschter unvorherge‐ sehener Technikfolgen besteht, kann es keine absolute Sicherheit geben. „Sicherheit“ wird aufgrund dessen als reziproker Wert zum „Risiko“ interpretiert, das definiert ist durch das Produkt von Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit (vgl. Kap. 5.2). 5. Gesundheit meint nicht nur physisches und psychisches Wohlbefin‐ den, sondern auch die Fähigkeit, mit inneren und äußeren Belastungen fertig zu werden. Technische Produkte oder ihre Herstellungsverfahren können die Gesundheit direkt in Form von Krankheiten beeinträchtigen, indirekt durch das Verleiten zu einer ungesunden Lebensführung (z. B. Bewegungsmangel) oder durch Umweltschäden. 6. Umweltqualität bezieht sich auf die Beschaffenheit der natürlichen Umgebung. 7. Persönlichkeitsentfaltung bedeutet, dass der Mensch seine Anla‐ gen und Fähigkeiten im Wechselspiel mit der Umwelt verwirklichen kann. Dies ist immer nur im Zusammenwirken mit anderen Menschen möglich, weshalb die Wertbereiche der Persönlichkeitsentfaltung und 263 5 Technikethik <?page no="264"?> der Gesellschaftsqualität eng miteinander verflochten sind. So kann die Persönlichkeitsentfaltung beispielsweise gefährdet werden, wenn Menschen infolge der neuen Kommunikationsformen und der zuneh‐ menden Automatisierung am Arbeitsplatz oder im Privatbereich isoliert werden. Die Reduktion sozialer Kontakte droht zu einer Einbuße an Solidarität zwischen den Menschen und damit zu einer verminderten Gesellschaftsqualität zu führen. Indem die Technisierung zu einer weltweiten Nivellierung der kulturellen Unterschiede beiträgt, treibt sie die Auflösung tradierter gemeinsamer Wertvorstellungen z. B. über Gerechtigkeit voran. Auch unter dem dadurch bedingten Verlust an sozialer Ordnung und Stabilität leidet die Gesellschaftsqualität. Angesichts einer solchen Wertliste steht man natürlich vor dem Problem, dass bei technischen Neuerungen viele dieser Werte miteinander konkurrie‐ ren (vgl. Hubig 2011, 172). So können beispielsweise Einzelwirtschaftlichkeit (2) und gesamtgesellschaftlicher Wohlstand (3) im Widerstreit miteinander stehen oder bei Fragen der Datenüberwachung die Werte Sicherheit (4), Persönlichkeit und Gesellschaftsqualität (7). Hubig versucht das Problem mit der Benennung von gewissen vorrangig zu schützenden Basiswerten zu lösen: die „Optionswerte“ Leben, Sicherheit, Gesundheit und Umweltqua‐ lität und die „Vermächtniswerte“ wie ein funktionierendes Sozialgefüge, Traditionen oder Raum für das Erlernen von Rollen. Im Konfliktfall zwi‐ schen Options- und Vermächtniswerten soll den Vermächtniswerten der Vorzug gegeben werden (vgl. Hubig 1993, 300). Diese seien die grundle‐ genderen, weil nur Personen zwischen Handlungsoptionen entscheiden können. Ohne die von den Vermächtniswerten zu schützenden sozialen Strukturen könnte allerdings ein Individuum gar keine Identität entwickeln und zu einer moralisch verantwortungsvollen Person werden (vgl. ebd., 297 f.). Etwas einfacher handhabbar ist die Hierarchisierung der Werte in den Ethischen Grundsätzen des Ingenieurberufs des VDI von 2001 (vgl. Hubig u. a., 80): Menschengerechtigkeit hat Vorrang vor einem Eigenrecht der Natur, Menschenrechte gehen vor Nutzenerwägungen, öffentliches Wohl vor privaten Interessen und hinreichende Sicherheit vor Funktionalität und Wirtschaftlichkeit. Aber selbst wenn sich die Werte in eine klare, konsens‐ fähige Hierarchie bringen lassen, sind immer noch Interpretationskonflikte über die genaue Bedeutung etwa von „Sicherheit“ oder „Gesellschaftsquali‐ tät“ möglich (vgl. ebd., 40 f.). Um ein konkretes technisches Handeln auf diese Werte hin beurteilen zu können, wären genauere Kriterien oder 264 5 Technikethik <?page no="265"?> Indikatoren zu bestimmen. Kriterien für den Wertbereich „Sicherheit“ könnten beispielsweise „Betriebssicherheit“ und „Störfallsicherheit“ sein, wobei letztere nochmals in „Bedienersicherheit“, „technische Stabilität“, „Sicherheit der Bevölkerung“ etc. zu unterteilen wäre (vgl. Julliard, 106). Ausdrücklich werden die Ingenieure in den Ethischen Grundsätzen darauf hingewiesen, dass die konkreten Kriterien für die verschiedenen Wertberei‐ che nicht dogmatisch vorausgesetzt werden können, sondern im Dialog mit der Öffentlichkeit zu ermitteln sind (vgl. Hubig u. a., 40 f.). In aktuellen Wertkonflikten müssten also die einzelnen Werte anhand von Kriterien anwendungsbezogen konkretisiert und gegeneinander abgewogen werden. A) Wertorientierte Ansätze in der Technikethik Wertliste des VDI: 1. Funktionsfähigkeit, 2. Wirtschaftlichkeit, 3. Wohlstand, 4. Sicherheit, 5. Gesund‐ heit, 6. Umweltqualität, 7. Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaftsqualität Probleme: - Begründungsproblem: vorzugsweise kohärentistisch-rekonstruktive und reflexive (diskursethische/ handlungsreflexive) Begründung - Wert- und Interpretationskonflikte: Werte müssen im Dialog mit der Öffentlichkeit konkretisiert und gegeneinander abgewogen werden. B) Verfahrensorientierte Ansätze: Diskursethik Angesichts des Wertpluralismus in modernen Gesellschaften und der Not‐ wendigkeit der Konkretisierung allgemeiner Werte und Normen bieten sich höherstufige Ethikmodelle an: Unter den verfahrensorientierten Konzepten erlangte der diskursethische Ansatz einen wichtigen Stellenwert in der Technikethik (vgl. Skorupinski, 187). Das diskursethische Verfahren zur Konfliktlösung und zur Konsensfindung durch ein begründungsorientiertes Miteinander-Argumentieren wurde bereits in Kapitel 1.2 ausführlich erläu‐ tert. Insbesondere die von möglichen oder wahrscheinlichen Nebenfolgen einer Technikentwicklung Betroffenen müssten im praktischen Diskurs ihre Standpunkte argumentativ darlegen können. Die bisherigen Erfahrungen mit technikethischen Streitgesprächen haben allerdings gezeigt, dass die idealen Diskursbedingungen wie z. B. reziproke Anerkennung, argumen‐ tativ-konsensorientiertes statt strategisch-interessenorientiertes Handeln und Bereitschaft zum fiktiven Rollentausch häufig nicht vorhanden sind und in der Folge der Konsens ausbleibt (vgl. Ropohl 1998, 271). Ein Problem stellt auch die Frage des Einbezugs von Betroffenen dar, die wie beispielsweise 265 5 Technikethik <?page no="266"?> Kinder und Demente oder zukünftige Generationen nicht am Diskurs teilnehmen können. Nach Habermas müssen nichtkommunikationsfähige oder noch nicht geborene Menschen in einem advokatorischen Diskurs durch Stellvertreter repräsentiert werden, die deren mutmaßliche Interessen angemessen in die Diskussion einbringen (vgl. Habermas 1996, 133). Für das diskursethische Verfahren spricht, dass konkrete moralische Normen z. B. bezüglich des Einsatzes von Kernenergie oder Gentechnik in öffentlichen demokratischen Debatten und in politischen Meinungsbildungsprozessen festgelegt werden müssen. Eine Technikethik kann bei dieser gemeinsamen diskursiven Entscheidungsfindung lediglich eine beratende Funktion aus‐ üben. Es gehört auch keineswegs zu ihrem Aufgabenbereich, als eine Art Genehmigungsbehörde einen ethischen „Persilschein“ oder eine ethische Unbedenklichkeitserklärung auszustellen (vgl. Grunwald 2021, 8; 10). C) Konsequentialistische Ansätze: Negativer Utilitarismus Da es in der Technikethik wesentlich um Fragen nach der Verantwortung für negative Technikfolgen oder Konsequenzen geht, legt sich aber auch ein konsequentialistischer Ethiktyp nahe, bei dem die Handlungsfol‐ gen oder Konsequenzen im Zentrum stehen (vgl. Kap. 1.2; Ethik, Kap. 6.1). So werden in der Technikethik beispielsweise von Dieter Birnbacher nutzenorientierte utilitaristische Ansätze geltend gemacht, bei denen sich der Wert einer Handlung am größtmöglichen Nutzen für alle vom Handeln Betroffenen bemisst (vgl. Hubig 2011, 172). Der Technikphilosoph Günter Ropohl plädiert demgegenüber für eine Minimalmoral im Sinne eines negativen Utilitarismus, der nicht auf das „größte Glück der größten Zahl“ abzielt, sondern sich mit dem „kleinsten Leid der kleinsten Zahl“ begnügt (vgl. Ropohl 1996, 314 f.). Diese negative Variante des Utilitarismus mit dem bescheideneren Ziel der Verringerung des vermeidbaren Leids scheint insbesondere für eine Technikethik große Vorteile aufzuweisen: Im Gegensatz zu subjektiven Präferenzen oder den positiven Gütern, die der Einzelne für sein Glück benötigt, scheint hinsichtlich der Übel große Einigkeit unter den Menschen zu herrschen. So will z. B. kein Mensch krank sein und in Not und Elend leben oder getötet, betrogen oder getäuscht werden (vgl. ebd., 316). Technische Neuerungen wären entsprechend selbst dann ethisch inakzeptabel, wenn sich zwar die große Mehrheit Glück oder einen Zuwachs an Handlungsfreiheit davon verspricht, sie aber einem Ein‐ zelnen neue Übel aufbürden. Wenn beispielsweise immer mehr Menschen fliegen wollen, wäre der Bau eines neuen Flughafens ethisch illegitim, 266 5 Technikethik <?page no="267"?> sofern sich einige Anwohner durch den Fluglärm erheblich gestört fühlten. Andere Menschen durch die Inkaufnahme bestimmter Risiken einer Gefahr auszusetzen, halten negative Utilitaristen höchstens für legitim, falls eine informierte Zustimmung aller potentiell Betroffenen vorläge (vgl. Ott 2005b, 612). Bei dieser weiterführenden Version des negativen Utilitarismus müsste also wiederum auf diskursethische Verfahren zurückgegriffen werden. Der auch von Karl Popper vertretene negative Utilitarismus blieb aber nicht ohne Kritik: Zum Zweck einer Leidensminimierung müsste ein negativer Utilitarist konsequenterweise einen Menschen mit unheilbarer Krankheit und starken Schmerzen töten (vgl. Fricke, 16). Es besteht beim negativen Utilitarismus die gleiche Gefahr wie beim positiven, dass näm‐ lich die einzelnen Menschen zu bloßen Mitteln für die Minimierung des allgemeinen Leids bzw. die Maximierung des Gesamtnutzens degradiert werden (vgl. Kap. 1.2). Weil jedes menschliche Leben sehr viel Leid enthält, wäre es überhaupt besser, es würde niemand geboren! Auch in Bezug auf das eigene Leben kann kein Zweifel daran bestehen, dass fast alle unsere Vorhaben mit Anstrengungen und Leid verbunden sind und folglich zu vermeiden wären. Diese Konsequenzen sind natürlich absurd. Um ge‐ wünschte Güter wie Fitness, Schönheit oder beruflichen Erfolg zu erreichen, sind erfahrungsgemäß alle Menschen bereit, Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Denn diese Übel werden durch Güter, für die sie nur Mittel sind, gleichsam kompensiert. Ein negativer Utilitarismus scheint daher nur plausibel zu sein, wenn man eine Einschränkung auf das nichtkompen‐ sierbare Leid der vom Handeln Betroffenen vornimmt (vgl. ebd., 17 f.). Den Anwohnern eines geplanten Flughafens könnte man aber z. B. entfernter liegende Grundstücke als Kompensation anbieten. Ob sich Leid und Nutzen auch über die Individuengrenze hinweg verrechnen und gegebenenfalls kompensieren lassen, stand bereits im Zusammenhang mit Tierversuchen zur Diskussion (vgl. Kap. 4.3). Es scheint nicht von vornherein ethisch unzulässig zu sein, beim Bau einer Straße oder eines Flughafens möglichst wenigen Anwohnern ein möglichst geringes Leid zufügen zu wollen, um der Mehrzahl einen großen Mobilitätszuwachs zu bescheren. Genauso wie bei Tierversuchen müsste aber eine absolute individuelle Schmerzgrenze festgelegt werden, jenseits derer sich ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül verbietet. Wird das Leid der einen Menschen mit der Freude der anderen zu kompensieren versucht, handelte es sich aber nicht mehr um einen negativen Utilitarismus. Wie beim Konsequentialismus und Utilitarismus allgemein ergibt sich außerdem die Schwierigkeit, dass sich Spätfolgen 267 5 Technikethik <?page no="268"?> insbesondere von technischen Neuerungen nicht sicher prognostizieren lassen und eine ethische Bewertung strenggenommen erst retrospektiv, womöglich nach Jahrzehnten vorgenommen werden könnte (vgl. Ethik, 167 f.). D) Menschenrechtstheorien Für die Nutzung einer schon vorhandenen Technik genauso wie für die Wei‐ terentwicklung der Technik in der Zukunft schlagen andere wie z. B. Alois Huning eine Ethik der Menschenrechte als normative Grundlage vor (vgl. Huning, 247 f.). Menschenrechtstheorien müssen allerdings darlegen, wie sich konkrete Menschenrechte begründen lassen. Alle Menschenrechts‐ vorstellungen basieren grundsätzlich auf der Idee menschlicher Würde (vgl. König, 305 und 315 f.): Das Anliegen von Menschenrechtserklärun‐ gen ist es, jedem Menschen ungeachtet seiner politischen Zugehörigkeit angemessene Lebensbedingungen zu schaffen und ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Jeder Mensch soll Würde ausbilden und das typisch Menschliche zum Ausdruck bringen können. Es wäre also die Frage zu klären, was das menschliche Leben vor der Lebensweise anderer Lebewesen auszeichnet und „typisch menschlich“ macht. Mögliche Antworten könnten lauten, dass dies von historisch-kulturellen Menschenbildern abhängig sei (Kulturrelativismus) oder dass es sich aus der natürlichen Ordnung ablesen lasse (Naturrecht). Überzeugender scheint auch hier wieder eine reflexive Begründung zu sein, die von grundlegenden menschlichen Eigenschaften der Vernunft- oder Handlungsfähigkeit als Voraussetzung für ethisches Handeln ausgeht (vgl. Kap. 2.1.2). Zu den wichtigsten Voraussetzungen für menschliche Handlungsfähigkeit gehört zweifellos die Stillung physischer Grundbedürfnisse. Denn ohne die Ausstattung mit elementaren Gütern wie Nahrung, Kleidung oder Obdach wäre der Mensch mit dem augenblicklichen Kampf ums Überleben beschäftigt und könnte keine selbstgesetzten Ziele verfolgen. Darüber hinaus wären sowohl die Willensfreiheit als Fähigkeit zur Autonomie oder Selbstbestimmung als auch ein ausreichendes Maß an Handlungsfreiheit unabdingbar. Da die meisten Handlungen nur in einem sozialen Kontext realisierbar sind, wären zudem die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und ein freier Gedankenaustausch erforderlich. Die meisten so begründeten Menschenrechte dürften sich wohl auf die oben aufgeführten Grundwerte der VDI-Richtlinie zurückführen lassen. Wenn sich die Technikentwicklung beispielsweise an den Werten „Sicherheit“ (4) und „Gesellschaftsqualität“ (7) orientiert, trägt man damit zugleich dem 268 5 Technikethik <?page no="269"?> Grundrecht auf physische Unversehrtheit und auf Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft Rechnung. E) Biozentrische Theorien Eine Alternative zu den erwähnten anthropozentrischen Ansätzen wie die Diskursethik (B) und die Menschenrechtstheorien (D) bietet der Biozentris‐ mus an. Über den pathozentrischen Utilitarismus hinaus, der die Interessen schmerzempfindlicher Tiere mitberücksichtigt, bezieht die biozentrische Ethik auch noch die nichtleidensfähige außermenschliche Natur mit ein (vgl. Hubig 2011, 172; Kap. 3.2.2). Der Hauptverteter einer schöpfungszent‐ rischen Pflichtethik ist Hans Jonas, der mit seinem bereits erwähnten Buch Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisa‐ tion (1984) eine entsprechende Denktradition in der Technikethik initiierte: Vor dem Hintergrund einer teleologischen Naturphilosophie geht Jonas von Zwecken in der Natur aus, die den Wert des Seienden begründen und mit einem immanenten Anspruch verbunden seien (vgl. 1979, 148; 153). Da die Natur genauso wenig wie kleine Kinder für sich selbst sorgen kann, ergebe sich aus ihrer Zweck- und Werthaftigkeit ein Fürsorgeanspruch und die Pflicht der Menschen zu einer guten Verwaltung (vgl. ebd., 235 f.). Der von Jonas umformulierte Kategorische Imperativ ruft die Menschen zur Pflicht auf, die Fortdauer der Schöpfung einschließlich des menschlichen Daseins nicht zu gefährden (vgl. ebd., 36). Angesichts der gesteigerten technischen Risiken plädiert er für eine „Zukunftsethik“, die anstelle der traditionellen Ethik für den Nahbereich auch die Fernwirkungen des technisch Möglichen in Betracht zieht (vgl. ebd., 39). Im Rahmen einer „Heuristik der Furcht“ sei der Unheilsprophezeiung bezüglich möglicher negativer Technikfolgen mehr Gehör zu schenken als einer Heilsprophezeiung (vgl. ebd., 63; 70). Kritisiert werden kann die metaphysische Naturdeutung und der morali‐ sche Realismus solcher biozentrischer oder schöpfungszentrischer Ansätze, die von Zwecken und Werten in der Welt ausgehen und häufig auch nichtkonsensfähige theologische Hintergrundannahmen machen (vgl. Kap. 3.2.2). Außerdem bleibt die inhaltliche Konkretisierung der Fürsorge offen, und Unterlassungsrisiken angesichts kaum je auszuschließender negativer Prognosen werden bei der Technikgestaltung unzureichend berücksichtigt (vgl. Hubig 2011, 172). 269 5 Technikethik <?page no="270"?> weitere ethische Theorien Probleme B) diskursethische Verfahren - keine idealen Diskursbedingungen - kein Konsens erreichbar - Umwelt nicht berücksichtigt C) negativer Utilitarismus - Menschen nur Mittel zur Minimie‐ rung des Leids - Einschränkung auf nichtkompen‐ sierbares Leid nötig - Umwelt nicht berücksichtigt D) Menschenrechtstheorien - Begründung notwendig: reflexive Begründung zu bevorzugen - Umwelt nicht berücksichtigt E) Biozentrische Theorien - problematische metaphysische Na‐ turdeutung vorausgesetzt 5.1 Vermeintliche Neutralität der Technik Bis in die 1990er Jahre hinein galt Technik vielfach als wertneutral (vgl. Grunwald 2021, 3). Diese Neutralitätsthese mag in Bezug auf den Begriff der Technik (3) als bloßem Wissen von der Herstellung oder Verwendung technischer Geräte gewisse Plausibilität haben: Genauso wie bereits bei der Neutralitätsthese der Wissenschaft erläutert, sollen sich ihr zufolge Grundlagenforschung und neues Wissen über Naturgesetze oder technische Verfahren jeder Beurteilung nach ethischen Kategorien entziehen (vgl. Kap. 4.2). Auch die Technik (1) als Gesamtheit der von Ingenieuren und Technikern konzipierten und produzierten Werkzeuge oder Maschinen wird aber häufig als wertneutral eingestuft. Wie oben bereits erwähnt wird dies etwa damit gerechtfertigt, dass sich die Ethik nicht mit Dingen, sondern mit Handlungen beschäftigt. Viele reale Gegenstände oder Sachverhalte sind jedoch insofern ethisch relevant, als sie allein aufgrund ihrer Existenz einen positiven oder negativen Einfluss auf das menschliche Leben ausüben. Was für alle Menschen von Vorteil ist, wird unter „Güter“, das Unliebsame unter „Übel“ subsumiert. Als Güter werden in der Philosophie die notwendigen Voraussetzungen oder Mittel bezeichnet, die jeder Mensch für das Über‐ leben oder ein gutes Leben braucht. Trinkwasser, Grundnahrungsmittel, Sauerstoff oder Medikamente sind beispielsweise eindeutig „Güter“, weil sie das Überleben sichern. Die Neutralität der Technik wird aber häufig 270 5 Technikethik <?page no="271"?> mit dem Hinweis auf den instrumentellen Charakter von Geräten und Maschinen verteidigt, die anders als natürliche Güter sowohl zu guten als auch zu schlechten Zwecken verwendet werden können. „An sich“ seien sie daher weder Güter noch Übel, sondern ethisch neutral (vgl. Julliard, 67 f.). Ingenieure und Techniker lieferten den Menschen lediglich die Mittel und das Wissen darüber, welche Resultate zu erwarten sind, wenn diese oder jene Maßnahmen ergriffen werden (vgl. F. Rapp, 40). Sie sagen uns, was wir tun können, nicht aber, was wir tun sollen. Folglich käme ihnen keinerlei Verantwortung zu, sondern verantwortlich wären allein die Techniknutzer. Eine Technikethik hätte sich daher auf die Reflexion über den richtigen Umgang mit der Realtechnik zu beschränken. Ausschließlich Technik (2b), verstanden als Anwendung der Forschungsergebnisse bzw. der technischen Geräte, ließe sich aus dieser Sicht ethisch bewerten. Neutralitätsthesen in der Technikethik These 1: Technische Geräte und Verfahren (Technik (1)) sind ethisch neutral. These 2: Alle Handlungen des Entwickelns und Herstellens technischer Artefakte (Technik (2)) sind ethisch neutral. These 3: Das Wissen um Herstellung, Gebrauch und Reparatur technischer Artefakte (Technik (3)) ist im Unterschied zur Anwendung dieses Wissens ethisch neutral. These 1: Neutralität technischer Geräte und Verfahren (Technik 1) Anschauungsbeispiele zu These (1): Mit einer Waschmaschine kann man Wäsche waschen oder eine Katze umbringen. Mit einer Guillotine kann man einen Menschen enthaupten oder Ge‐ müse häckseln. Mit einem Messer kann man Kartoffeln scheiden oder einen Menschen erstechen. Zunächst soll These 1 überprüft werden, die sich auf die Realtechnik bezieht. Der im Zusammenhang mit der Neutralitätsthese gern zitierte Ausspruch von Karl Jaspers bringt diese Teilthese treffend auf den Punkt: „Technik ist an sich weder gut noch böse, aber zum Guten und Bösen zu gebrauchen“ 271 5.1 Vermeintliche Neutralität der Technik <?page no="272"?> ( Jaspers, 149). Dies wird damit begründet, dass die Technik von ihrem Wesen her einen instrumentellen oder Mittelcharakter aufweist. Dabei seien die Mittel neutral und könnten dazu dienen, entweder gute oder schlechte Zwecke zu realisieren. Anhand obiger Anschauungsbeispiele lässt sich dies illustrieren: Benutzt man die Waschmaschine zum Waschen von Kleidern, scheint sie „gut“ zu sein, würde man darin auf qualvolle Weise eine Katze umbringen, „schlecht“. Genauso könnte man mit einer Guillotine Gemüse häckseln und damit einen unumstritten guten Zweck der Nahrungszuber‐ eitung verfolgen, oder aber öffentliche Exekutionen vollstrecken, sodass sie zumindest in den europäischen Ländern nach Abschaffung der Todesstrafe negativ zu bewerten wäre. So scheint bei technischen Geräten der ethische Wert von der jeweiligen Verwendungsweise der Benutzer abzuhängen, wohingegen Trinkwasser immer ein Gut, saurer Regen immer ein Übel ist. Bei einer genaueren Betrachtung sind diese Beispiele aber schlecht dazu geeignet, die Wertfreiheit der technischen „Mittel“ zu belegen. Technische Geräte oder Maschinen sind nämlich keineswegs bloße Mittel zu beliebigen Zwecken, sondern per definitionem Mittel zu bestimmten Zwecken. Im Unterschied zu natürlichen Objekten wie Wasser oder Getreide werden sie von Menschen gezielt entwickelt und hergestellt, um bestimmte Zwe‐ cke effizienter oder sicherer zu erreichen. Technische Geräte sind also einerseits immer das Resultat der subjektiven Tätigkeiten des Planens und Herstellens von Technikgestaltern, die bestimmte Verwendungszwecke vor Augen haben. Andererseits erfüllt sich der Sinn dieser Artefakte erst in der von den Technikern anvisierten Erleichterung bestimmter Handlungs- oder Lebensmöglichkeiten seitens der Techniknutzer. So ist eine Waschmaschine unzweideutig für das Reinigen von Wäsche, die Guillotine für das Trennen von Kopf und Rumpf konstruiert. Auch wenn man theoretisch mit Wasch‐ maschinen Katzen töten und mit Guillotinen Gemüse häckseln könnte, lassen sich diese außerplanmäßigen Verwendungszwecke nicht effizient erreichen. In der Praxis wird man diese Anwendungsformen daher niemals antreffen. Der vermeintliche „Mittelcharakter“ der Technik erweist sich somit bei genauerem Hinsehen als Mittel-Zweck-Charakter. Eine Bestimmung der Technik als Inbegriff der Mittel verfehlt das Phänomen des Technischen, weil es bei der Technik immer um die Ermöglichung spezifischer Mit‐ tel-Zweck-Verbindungen geht (vgl. Hubig 2007, 11 und 30): Die techni‐ schen Mittel sollen Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung bestimmter Zwecke eröffnen. Abgesehen von je spezifischen Verwendungszwecken 272 5 Technikethik <?page no="273"?> lässt sich der allgemeine Zweck technischer Geräte als Erhaltung, Erleichte‐ rung oder Verbesserung menschlicher Handlungs- und Lebensmöglichkei‐ ten umschreiben (vgl. VDI, 345). Während in den Anfängen der Technikent‐ wicklung das Stillen primärer physiologischer Bedürfnisse im Vordergrund stand, ging es in der Neuzeit immer mehr um Machtsteigerung und Erwei‐ terung des menschlichen Handlungsspielraums. Bei einer solchen Definition als Mittel zum Zweck lässt sich die Technik „an sich“ aber nicht mehr völlig von ihrer Anwendung abkoppeln. Als unangemessen erweist sich somit eine verdinglichende Auffassung von technischen Gegenständen, die sich vom Planungs- und Herstellungsvorgang ablösen und eine Art Eigenleben führen (vgl. Ropohl 1998, 267; Ott 2005b, 593). Allenfalls einfache Werkzeuge wie z. B. ein Messer oder ein Streichholz könnten insofern als „neutral“ be‐ zeichnet werden, als sie multifunktional und gleich gut für verschiedene Zwecke einsetzbar sind. So hat zwar ein Messer eine einheitliche Funktion, nämlich das Schneiden, lässt sich aber auf die verschiedensten Stoffe von Kartoffeln bis hin zu menschlichem Fleisch anwenden (vgl. Ropohl 1996, 92). Da das Schneiden von Kartoffeln als „gut“, das Erstechen eines Menschen mittels eines Messers aber als „schlecht“ bewertet wird, scheint das Messer einen ambivalenten Charakter aufzuweisen. Aber selbst für solche einfachen Werkzeuge gilt, dass sie in einem sozialen Kontext stehen und durch soziale Festschreibungen auf bestimmte Anwendungsformen fixiert werden: Als legitime Verwendungsweisen gelten lediglich das Zuschneiden von Nah‐ rungsmitteln mit einem Messer, nicht jedoch der Angriff auf Menschen. Ähnlich werden bei sogenannten Dual-Use-Techniken mit doppelter Verwendbarkeit sowohl für zivile als auch militärische Zwecke besondere Vorkehrungen etwa durch internationale Kontrollgremien getroffen, um z. B. beim Export von IT-Technologien eine missbräuchliche Verwendung wie die Überwachung von Bürgern zu verhindern. Technikentwicklung und Techniknutzung finden also nicht in einem „luftleeren Raum“ und nicht voneinander isoliert statt. Vielmehr vollziehen sie sich unmittelbar in gesellschaftlichen Zusammenhängen (vgl. Julli‐ ard, 78). Genauso, wie der Technikentwickler Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft ist und auf die praktischen Probleme seiner Zeit reagiert, erlernt und benutzt der Technikanwender sie in einem sozialen Kontext. Je komplexer ein technisches Gerät ist und je größer die Stückzahl sein soll, desto zahlreicher sind die institutionellen und gesellschaftlichen Vor‐ aussetzungen für seine Herstellung und Etablierung. Das technische System „Automobil“ beispielsweise setzt zunächst einen gesellschaftlichen Bedarf 273 5.1 Vermeintliche Neutralität der Technik <?page no="274"?> nach neuen, effizienteren Mitteln zur Stillung des Bedürfnisses nach Mobi‐ lität voraus. Seine Inbetriebnahme und Verbreitung erfordern sodann eine umfassende Infrastruktur wie Tankstellen und ein ausgebautes Straßennetz, politische Institutionen wie Verkehrsministerium und Kraftfahrtbundesamt, neue rechtliche Regelungen zur Straßenverkehrsordnung und wegen der zu erwartenden Unfälle Veränderungen im Gesundheitswesen (vgl. Bay‐ ertz 1991, 181). Solche technischen Systeme garantieren die erfolgreiche Anwendung komplexer Technologien und verhindern oder kompensieren Störungen. Von ihrer konkreten Gestaltung und Anlage hängt es ab, welche Chancen und Risiken für den Einzelnen oder die Gesellschaft insgesamt mit der Techniknutzung verbunden sind (vgl. Hubig 2011, 171). Bei sehr komplexen technologischen Systemen kann es sogar so weit kommen, dass die Technik allein durch ihre pure Existenz weitreichende gesellschaftliche Wirkungen entfalten kann. Ein Beispiel dafür wäre die Atombombe, die be‐ reits ohne Verwendung einen großen Einfluss auf die internationale Politik und militärische Strategien ausübt (vgl. Bayertz 1991, 181). Die Realtechnik führt also keineswegs ein Eigenleben, zu dem sich jeder Techniknutzer nach eigenem Gutdünken verhalten kann. Sie gestaltet vielmehr den Mög‐ lichkeitsraum des Handelns in einer bestimmten Kultur und impliziert spezifische Formen des sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Lebens. In der Technikethik geht es daher nicht um Technik „als solche“, sondern immer um Technik in einem konkreten sozio-technischen Kontext (vgl. Grunwald 2021, 6). Kritik an These (1) a) Technische Artefakte haben Mittel-Zweck-Charakter, ermöglichen Mit‐ tel-Zweck-Verbindungen und führen kein Eigenleben isoliert von ihrer Planung und Verwendung b) Technikentwicklung und -nutzung findet in einem sozialen Kontext statt und komplexe technische Geräte sind Teil eines technischen Systems Gegenstand der Technikethik: Technik im sozialen Verwendungskontext generelle Ziele der Technik: Erhaltung, Erleichterung oder Verbesserung menschlicher Handlungs- und Lebensmöglichkeiten Das Wertadjektiv „gut“ ist allerdings mehrdeutig und kann etwa auch „technisch“ gut/ schlecht mit Blick auf die Funktionsfähigkeit und Effekti‐ vität eines Geräts oder „ökonomisch“ gut/ schlecht etc. meinen. Ethisch gut oder schlecht sind technische Artefakte genau genommen immer 274 5 Technikethik <?page no="275"?> nur in einem abgeleiteten Sinn, abhängig von den durch sie eröffneten Mittel-Zweck-Handlungen. Bei der ethischen Beurteilung der Realtechnik sind dabei drei verschiedene Betrachtungshinsichten zu unterscheiden: (i) Erstens müssen die Handlungsmöglichkeiten, die durch die Konstruktion dieser technischen Produkte ermöglicht, gesichert oder verbessert werden, ethisch legitim sein. Bei diesem ersten Kriterium tritt also der planmä‐ ßige oder primäre Verwendungszweck eines Produktes in den Blick. Dieser primäre Zweck wird selten allein durch die Intention des Erfinders festgelegt, sondern schält sich in Interaktion mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen heraus. Nur bei eindeutigen Mittel-Zweck-Verbindungen wie bei der Waschmaschine oder Guillotine lässt sich der von den Erfindern oder Herstellern beabsichtigte „primäre Zweck bereits dem äußeren Erscheinungsbild „ablesen“. Es liegen bei diesen Geräten eindeutige Wertbindungen oder klare soziokulturelle Wertfixierungen vor, sodass sie nicht neutral, sondern in einem gewis‐ sen Sinn „wertbeladen“ sind und als Güter oder Übel bezeichnet werden können (vgl. Hubig 2007, 63; Bayertz 1991, 180). (ii) Zweitens müssen ausreichende Maßnahmen ergriffen werden, um alle moralisch bedenkli‐ chen außerplanmäßigen Handlungsweisen auszuschließen, die sich mit denselben technischen Artefakten außerdem noch ausführen lassen. So wird beispielsweise bei Tafelmessern die Spitze abgerundet. Zudem findet eine gesellschaftliche Wertfixierung statt, indem das Verwenden von Messern zum Erstechen von Menschen unter das ethische und recht‐ liche Tötungsverbot fällt und mit entsprechenden Sanktionen geahndet wird. (iii) Drittens dürfen die Folgen und Nebenwirkungen der planmä‐ ßigen Techniknutzung die Lebensbedingungen oder die Lebensqualität gegenwärtig oder zukünftig lebender Menschen nicht gefährden. Die Frage nach der Verantwortung für negative Folgen oder Nebenwirkungen technologischer Innovationen wird in Kapitel 5.2 diskutiert. Alle drei Aspekte sind bei jedem technischen Artefakt separat zu prüfen. Pauschale Urteile zu der Realtechnik sind nicht möglich. 275 5.1 Vermeintliche Neutralität der Technik <?page no="276"?> technisch gut ethisch gut hohe Funktions‐ fähigkeit und Ef‐ fizienz bei der Er‐ reichung der planmäßigen Ver‐ wendungszwecke i) Planmäßig eröffnete Mittel-Zweck-Handlungen und planmäßige Verwendungszwecke sind ethisch legitim. ii) Maßnahmen zum Ausschluss ethisch bedenklicher au‐ ßerplanmäßiger Handlungsweisen werden ergriffen. iii) Folgen und Nebenwirkungen planmäßigen Handelns dürfen Leben und Lebensqualität gegenwärtiger oder zu‐ künftig lebender Generationen nicht beeinträchtigen. Thesen 2 und 3: Neutralität des Entwickelns/ Herstellens und Wissens Nachdem sich bei der Diskussion der 1. These Werkzeuge und Maschinen als Mittel-Zweck-Verbindungen entpuppt haben, können auch die Neutralitäts‐ thesen 2 und 3 nicht mehr aufrechterhalten werden. Zu 2: Die Konzeption und Herstellung von Technik vollzieht sich wie gesehen keineswegs völ‐ lig abgetrennt von ihrer Anwendung, da technische Geräte vielmehr für eine produktspezifische Nutzung durch die Konsumenten oder Kunden entwi‐ ckelt werden. Die Technikgenese schafft ein Handlungspotential, das durch die Nutzer aktualisiert werden soll (vgl. Ropohl 2001, 114). Wer technische Mittel auf den Markt bringt, mit denen man ganz bestimmte Zwecke errei‐ chen kann, ist daher zumindest für die planmäßigen Mittel-Zweck-Handlun‐ gen mitverantwortlich, möglicherweise auch für weitere, nicht von Anfang an intendierte, neu eröffnete Handlungsmöglichkeiten (vgl. Thurnherr, 109; Hubig u. a., 28). Geht es beispielsweise um Folter- oder Tötungsinstrumente wie Daumenschraube oder Guillotine, sind Entwicklung und Herstellung entgegen These 2 schwerlich ethisch neutrale Vorgänge. Zu 3: In gleicher Weise ist auch das Wissen um Herstellung, Gebrauch und Reparatur technischer Geräte nicht per se ethisch neutral, wie in These 3 behauptet wird. Da das technische Wissen in aller Regel auf nichts anderes abzielt als auf die praktische Herstellung, Nutzung oder Reparatur von technischen Produkten, ist auch das Wissen nicht abgekoppelt von der Anwendung bzw. dem praktischen Nutzen. Höchstens im Fall eines technischen Grund‐ lagenwissens, das man sich an einer Universität oder einer technischen Hochschule erwirbt, kann Neutralität vorliegen. Im Rahmen eines von der Wirtschaft finanzierten und klar anwendungsorientierten Projekts handelt es sich aber um Angewandte Forschung oder zumindest anwendungsori‐ entierte Grundlagenforschung. Die in Großforschungsprojekten eingebun‐ denen Ingenieurswissenschaftler und Ingenieure sind klarerweise für die 276 5 Technikethik <?page no="277"?> Anwendung ihrer Erfindungen mitverantwortlich. Technische Geräte lassen sich nicht allein unter technischen Kriterien der Funktionsfähigkeit und Effizienz bei der Zielerreichung bewerten. Vielmehr müssen Ingenieure und Technikentwickler genauso wie Wissenschaftler vorausschauend die Ziele und die Folgen der Technikanwendung ethisch reflektieren und prospektiv Verantwortung übernehmen (vgl. Kap. 4.2). Kritik an Thesen (2) und (3): Technisches Wissen, Entwicklung und Herstellung technischer Produkte sind nicht von der Anwendung der Realtechnik abtrennbar. → ethische Beurteilung hängt von der Bewertung der durch diese eröffneten Mittel-Zweck-Handlungen ab 5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung Bis in die 1960er Jahre wurde die Entstehung der Technikethik behindert durch die Überzeugung des technologischen Determinismus, dass sich die technische Entwicklung eigendynamisch vollziehe und nicht steuernd beeinflusst oder gar gestaltet werden kann (vgl. dazu Grunwald 2011, 281; Skorupinski 2005, 181 f.). Weder die Ingenieure oder Techniker noch Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft stünden dann in der Verantwortung, sondern der Prozess der Technikentwicklung vollzöge sich nach naturge‐ setzlicher Notwendigkeit (vgl. dazu Bayertz 1991, 174). Obgleich Werkzeuge und Maschinen zweifellos nach den Gesetzen der mathematischen Natur‐ wissenschaften konstruiert werden, lassen sich daraus aber schwerlich eine Eigengesetzlichkeit und ein technologischer Determinismus ableiten. Genauso irreführend ist der technologische Imperativ, jedes Können impliziere ein Sollen: Was gemacht werden kann, soll auch gemacht werden! So hat der Atomtechniker Edward Teller, der Vater der Wasserstoffbombe, noch im 20. Jahrhundert proklamiert: „der technische Mensch soll das, was er verstanden hat, anwenden“ und „sich dabei keine Grenzen setzen“ (nach Lenk u. a. 1993, 6 f.). Die Aufgabe der Ethik besteht aber gerade darin, das „Können“ bzw. die geplanten Handlungsweisen kritisch zu prüfen und argumentativ zu begründen, wieso Menschen das eine tun und das andere unterlassen sollen. Vorausgesetzt wird dabei, dass Menschen aufgrund ihrer Reflexionsfähigkeit zum Handeln nach Gründen in der Lage sind und weder 277 5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung <?page no="278"?> von inneren Trieben noch äußeren sozialen Prägungen oder sogenannten Sachzwängen völlig determiniert werden. Die fatalistische Grundeinstel‐ lung „Was wir können, wird auch gemacht werden“ steht im Widerspruch zum praktischen Selbstverständnis eines rationalen Handlungssubjekts, das in jeder Situation nach der bestmöglichen Handlungsoption sucht. Mit der beliebten Rede von Sachzwängen ist gemeint, dass die bisherigen Inves‐ titionen in technische Systeme den Entscheidungsträgern ganz konkrete Vorgaben machen, die ihnen kaum mehr Wahlmöglichkeiten offenlassen (vgl. dazu F. Rapp, 37). Bei einer kritischen Prüfung stellt sich aber meist heraus, dass „Sachzwänge“ bloße Ausreden sind: Hinter den angeblichen Zwängen durch die Technik selbst stehen vielfach starke Interessen einer Wirtschaftslobby oder bestimmte gesellschaftliche Zielsetzungen. Am deut‐ lichsten zeigen dies Beispiele aus dem Bereich der Energietechnik, wo lange Zeit eine starke Atomlobby und die verantwortlichen Politiker die Atom‐ energie als alternativlos darstellten und damit den Ausbau erneuerbarer Energien bremsten. Herstellungs- und gebrauchsorientiertes Verantwortungskonzept Wenn in der Technikethik Fragen nach der Verantwortung für die Tech‐ nikentwicklung im Allgemeinen oder faktisch aufgetretene negative Tech‐ nikfolgen im Speziellen diskutiert werden, gilt grundsätzlich zu beachten: Die Technikentwicklung ist ein hochkomplexer mehrstufiger Prozess, beginnend mit der explorativen und entwickelnden Forschung über erste technische Realisierungen bis zu Versuchen wirtschaftlicher Umsetzung (vgl. Skorupinsky, 182). In den verschiedenen Phasen sind teilweise hun‐ derte oder tausende Personen auf unterschiedlichen Ebenen und in ver‐ schiedensten Rollen und Funktionen beteiligt. Wo negative Technikfolgen sichtbar werden, geraten aber als Verantwortungsträger meist schnell die Ingenieure und Produzenten ins Visier. Noch in viel direkterem Sinn als Wissenschaftlern bei ihrer Forschungstätigkeit kommt ihnen beim Kon‐ zipieren oder Herstellen von Geräten unstrittig eine externe Verantwor‐ tung für die Folgen und Nebenwirkungen gegenüber Außenstehenden, der Gesellschaft oder der Natur zu (vgl. Kap. 4.2). Beim herstellungso‐ rientierten Verantwortungskonzept werden sie allein verantwortlich gemacht für die ethische Legitimität der planmäßigen Verwendungszwecke (Kriterium i) und sämtliche Folgen und Nebenwirkungen des planmäßigen Handelns (Kriterium iii). Angemessen ist dieses Modell z. B. für den Kon‐ strukteur eines Folterinstruments, der eindeutig für die vorprogrammierten 278 5 Technikethik <?page no="279"?> illegitimen Mittel-Zweck-Handlungen und ihre Folgen verantwortlich ist (vgl. Ropohl 1993, 160). Anstelle des Trainings der instrumentellen oder Mittel-Zweck-Rationalität und eines rein lösungsorientierten Denkens im Ingenieur-Studium müssen daher die moralisch-praktische Rationalität und das ethische Urteilsvermögen gestärkt werden (vgl. Julliard, 27; Hubig 1993, 291 f.). Ethisch wünschbar sind nicht technokratische, sondern moralische Ingenieure, die in der Lage sind, die Zwecke zu prüfen, denen die Mittel die‐ nen. Häufig werden Ingenieure auch noch für die richtige Inbetriebnahme, die adäquate Nutzung und die sachgerechte Entsorgung verantwortlich gemacht (vgl. Hubig u. a. 28): Bei multifunktionalen technischen Geräten oder bei Geräten mit vermeidbaren Nebenwirkungen sollten sie die Nutzer über die möglichen Schäden und Gefahren bei der Verwendung aufklären und allfällige angezeigte Maßnahmen zur Vermeidung eines Fehlgebrauchs einleiten (Kriterium ii). So wäre beispielsweise von der Elektroindustrie zu erwarten, dass jede Bedienungsanleitung für Handys oder Fernsehgeräte auf die Gefährdung der geistigen und seelischen Entwicklung von Kindern durch übermäßigen Konsum hinweist (vgl. Ropohl 1993, 161). Einem solchen in der Öffentlichkeit dominierenden „herstellungsorien‐ tierten“ Verantwortungskonzept wird bisweilen ein „gebrauchsorientier‐ tes“ Verantwortungskonzept gegenübergestellt, das unter Ingenieuren und Technikern beliebt ist (vgl. Ropohl 1993, 159 f.). Die gegensätzlichen Positio‐ nen lassen sich anhand des Laubsaugers aus Anschauungsbeispiel 1 leicht verdeutlichen: Individualethisch betrachtet ist zwar der primäre Verwen‐ dungszeck, nämlich das erleichterte Entfernen von Laub auf Kleingärten, durchaus positiv zu bewerten (Kriterium i). Problematisch sind aber die unerwünschten Folgen und Nebenwirkungen der planmäßigen Nutzung (Kriterium iii): Betroffen vom Lärm, der nicht nur die Ruhe, sondern mögli‐ cherweise sogar die Gesundheit gefährdet, sind der Nutzer selbst und seine Nachbarn. Zudem werden auch ökologisch wichtige Kleintiere aufgesaugt, sodass eine breitflächige Nutzung sogar das Ökosystem gefährden könnte. Im herstellungsorientierten Verantwortungskonzept wären allein die In‐ genieure und Produzenten verantwortlich. Beim gebrauchsorientierten Verantwortungskonzept hingegen wird die Verantwortung auf die Nut‐ zer abgeschoben: Diese könnten schließlich mit ihrer Nachfrage darüber entscheiden, ob sie den Laubsauger für wünschenswert halten oder nicht. Darüber hinaus könnten sie aber auch durch eine sorgfältige Handhabung des Geräts die unliebsamen Handlungsfolgen vermeiden, etwa durch Ver‐ wendung von Hörschutz, eingeschränkte Nutzungszeiten und vorsorgliches 279 5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung <?page no="280"?> Einsammeln der Kleintiere (vgl. Ropohl 1998, 276 f.). In diesem konkreten Beispielfall sind allerdings gewisse Maßnahmen zur Verhinderung der un‐ erwünschten Nebenwirkungen so unrealistisch, dass hier das herstellungs‐ orientierte Verantwortungskonzept als angemessener erscheint: Weder ist die erhebliche Lärmbelästigung der Nachbarn vermeidbar, noch lassen sich die im Laub versteckten Kleintiere so einfach einsammeln. Unergiebig ist es, wenn in der Technikdebatte immer wieder der Schwarze Peter zwischen Entwicklern, Herstellern und Nutzern hin- und hergeschoben wird. Bei den meisten konkreten Schadensfällen ist von einer Verantwortungsteilung zwischen Herstellern und Nutzern auszugehen, sodass sich die Verantwor‐ tungskonzepte ergänzen müssen (vgl. Ropohl 1993, 159 f.). herstellungsorientiertes Verantwortungskonzept gebrauchsorientiertes Verantwortungskonzept Technikentwickler und -hersteller tragen Verantwortung für die Technik‐ folgen Nutzer tragen Verantwortung für die Technikfolgen sinnvoll bei eindeutigen Wertbindun‐ gen mit ethisch illegitimem Verwen‐ dungszweck oder bei unvermeidlichen negativen Folgen sinnvoll bei verschiedenen Verwen‐ dungszwecken oder nach erfolgter Auf‐ klärung über negative Folgen und Risi‐ ken z. B. Folterinstrumente, Laubsauger z. B. übermäßiger Fernsehkonsum Achtung: in den meisten Fällen liegt eine Verantwortungsteilung vor! Akteursethische und institutionelle Verantwortungskonzepte Akteursethische Verantwortungskonzepte mit der einseitigen Beto‐ nung der individuellen Verantwortung der einzelnen Akteure wie Ingenieu‐ ren oder Nutzern greifen aber zu kurz, weil die Prozesse der Technikent‐ wicklung wie erwähnt meist sehr komplex sind. Der Großteil der Ingenieure und Techniker befindet sich in abhängigen Arbeitsverhältnissen, sodass ihre Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit durch die Auftrags- und Weisungsabhängigkeit begrenzt ist. Da rund drei Viertel aller Ingenieure in Industrieunternehmen angestellt sind und für diese innovative Techniken erschaffen, wird die Technikentwicklung wesentlich von der Wirtschaft gesteuert (vgl. Ropohl 1996, 284). Konflikte zwischen ethisch geschulten Ingenieuren und moralisch weniger sensibilisierten Managern sind vorpro‐ grammiert. So können etwa in der Automobilbranche die „moralischen 280 5 Technikethik <?page no="281"?> Ingenieure“ für größtmögliche Sicherheit und geringstmöglichen Energie‐ verbrauch aus ressourcenschonender Energiegewinnung eintreten, aber die Unternehmen ökonomische Werte wie Rentabilität und Gewinnmaximie‐ rung priorisieren. Insbesondere Angestellte im Sicherheits-, Umwelt- oder Datenschutzbereich stehen beim Entdecken unethischer Machenschaften häufig vor dem Dilemma, die Arbeit zu verweigern und den Arbeitsplatz möglicherweise zu verlieren oder ihre Geheimhaltungspflicht zu verletzen und an die Öffentlichkeit zu treten. Illustriert sei dies am Beispiel der Berli‐ ner Kongresshalle, deren südlicher Teil 1980 nach 23 Jahren zusammenbrach (vgl. Ropohl 1996, 121 f.): Einer der bei den Bauarbeiten maßgeblich beteilig‐ ten Ingenieure, der Spannbeton-Entwicklungschef, erkannte schon 1973 die Notwendigkeit einer dringenden Nachbesserung der Konstruktion der Kon‐ gresshalle, um einen schweren Schadensfall zu vermeiden. Nachdem er diese Erkenntnis mehrfach schriftlich und mündlich dem Vorstand mitgeteilt hatte, erhielt er von diesem folgende Anweisung: Ohne Aufforderung durch eine außenstehende Institution gäbe es keinerlei Veranlassung, sich um die Kongresshalle zu kümmern. Obwohl sich der Ingenieur unter starker Gewis‐ sensbelastung dem Entscheid fügte, verschlechterte sich das Arbeitsklima derart, dass er von seinem Unternehmen im Zuge eines arbeitsgerichtlichen Vergleichs in den vorzeitigen Ruhestand entlassen wurde. Weil die Halle am Tag des Einsturzes glücklicherweise nur von einer kleinen Gruppe genutzt wurde, gab es nur einen Toten und vier Verletzte. Eine Akteursethik, die ausschließlich an die Verantwortung der Inge‐ nieure appelliert, greift offenkundig zu kurz und muss durch eine Institu‐ tionenethik mit institutionenethischen Verantwortungskonzepten er‐ gänzt werden. So müssen beispielsweise Ethics-Hotlines, Ombudspersonen, Ethikkommissionen oder neutrale Schlichtungsstellen eingerichtet werden, die bei Gewissenskonflikten wie dem soeben geschilderten vermitteln. Eine wichtige Rolle bezüglich der Institutionaliserung ethischer Ingenieur‐ verantwortung spielen die Ingenieurvereinigungen und -verbände wie der VDI. In den Kodizes solcher Verbände wird festgeschrieben, wie der einzelne Ingenieur in solchen Fällen entlastet, unterstützt und abgesichert werden kann (vgl. Hubig u. a., 16 f.). Damit soll dem einzelnen Ingenieur nicht die individuelle Verantwortung abgenommen werden. Es sollen aber die Bedin‐ gungen dafür geschaffen werden, dass die Verantwortungsübernahme der Ingenieure ohne unzumutbare Opfer möglich ist (vgl. ebd., 67). Auch können die Technikfolgen in den verschiedensten Wirklichkeitsbereichen wie z. B. gesundheitlichen oder ökologischen auftreten, in denen die einzelnen Inge‐ 281 5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung <?page no="282"?> nieure oder Techniker einfach nicht sachverständig sind (vgl. Ropohl 1998, 279 f.). Um die zu erwartenden Technikfolgen möglichst genau ermessen und ethisch beurteilen zu können, braucht es daher eigene interdisziplinäre Einrichtungen zur Technikforschung oder Technikgeneseforschung, die ähnlich wie Ethikkommissionen interdisziplinär aus Ingenieuren, Tech‐ nikern, Ethikern, Medizinern, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern etc. zusammengesetzt sind (vgl. Kunzmann, 258; Sachsse, 78 f.). Beim deutschen Kompositum Technikfolgenabschätzung (TA) handelt es sich um eine etwas unglückliche Übersetzung des englischen „technology assessment“, bei dem der normative Aspekt des Bewertens stärker zum Ausdruck kommt als beim deutschen Wort „Abschätzen“ für ein „ungenaues Beschreiben“ (vgl. Ropohl 1996, 163). Als Instrument der Politikberatung ins Leben gerufen, umfasst die Technikbewertung a) die systematische Analyse des Standes der Technik und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten, b) die systematische Analyse der gesundheitlichen, sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen dieser Technik und ihrer möglichen Alternativen und c) die Beurtei‐ lung dieser Folgen aufgrund definierter Werte und Ziele (vgl. VDI, 336). Ein Kernstück der TA und einer Risikoethik stellt die Bestimmung von Risiken und der Umgang mit Risikopotentialen dar: Ein Risiko ist als umso höher einzustufen, je größer die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens der Negativfolgen und je höher der zu erwartende Schaden ist. akteursethisches Verantwortungskonzept institutionenethisches Verantwortungskonzept Betonung der individuellen Verantwor‐ tung der einzelnen Beteiligten wie Inge‐ nieure, Techniker, Unternehmer, Politi‐ ker und Nutzer Institutionalisierung der individuellen Verantwortung durch Institutionen wie Ethics-Hotlines, Ombudspersonen, Ethikkommissionen, Technikgenese‐ forschung, Technikfolgen-Abschätzung Achtung: Institutionenethische Verantwortungskonzepte unterstützen die indi‐ viduelle Verantwortungsübernahme, ohne diese den Einzelnen abnehmen zu wollen! In der Risikoethik und der Technikfolgen-Abschätzung gewinnen partizi‐ patorische Ansätze an Bedeutung, die das Einbinden der Öffentlichkeit und v. a. sämtlicher potentiell Betroffener in die Entscheidungsprozesse fordern (vgl. Schulenburg u. a., 224 f.; Schnell, 143). Moderne demokratische Gesellschaften erheben zunehmend den Anspruch, über die Einführung 282 5 Technikethik <?page no="283"?> neuer Techniken mitbestimmen zu können und sich schwerwiegende Ent‐ scheidungen nicht von Experten abnehmen zu lassen (vgl. Kunzmann, 258). Den Medien kommt bei diesem Prozess der partizipativen Technik‐ gestaltung die wichtige Funktion zu, möglichst sachlich über absehbare Konsequenzen neuer Technikentwicklungen zu informieren und ein diffe‐ renziertes Problembewusstsein zu schaffen. Seitens der Ingenieure und Techniker gehört es zum zentralen Bestandteil ihrer externen Verantwor‐ tung, Ansprechpartner zu sein für alle technikspezifischen Fragen (vgl. Julliard, 12). Um aktive Bürger besser in die Technikgestaltung einbeziehen zu können, wird mitunter eine bessere naturwissenschaftlich-technische Allgemeinbildung gefordert (vgl. Sachsse, 75). Damit die sich größtenteils in Wirtschaft und Industrie vollziehende technische Entwicklung nicht allein von ökonomischen Interessen bestimmt wird, braucht es geeignete politische und rechtliche Regelungen. So kann der Staat etwa in der Energietechnik durch Subventionen die Entwicklung und Vermarktung von E-Autos und der entsprechenden Infrastruktur vorantreiben und die Benzin‐ steuer erhöhen oder die KfZ-Steuer proportional zum Treibstoffverbrauch berechnen etc. Auf allen Ebenen der Techniksteuerung sollten ausreichend viele Repräsentanten der Bevölkerung beteiligt werden und sich in öffentli‐ chen Diskussionsforen zu Wort melden können. Die Technikethik ist daher als „Ethik institutionellen Handelns“ zu konzipieren, und Partizipation und Diskurs bilden die zentralen Elemente im mehrstufigen komplexen Regelungsprozess der Techniksteuerung (Ropohl 1993, 164). Obgleich die Institutionalisierung und Teilung der Verantwortung den Eindruck einer Re‐ duktion der individuellen Verantwortung der einzelnen Akteure erwecken mag, bleibt jeder Ingenieur, Unternehmer, Politiker oder Nutzer verantwort‐ lich für sein konkretes Handeln. Darüber hinaus ist er mitverantwortlich für allfällige negative Folgen des kollektiven Prozesses, und zwar nach Maßgabe seiner Macht und Möglichkeit, in den Technisierungsprozess einzugreifen (vgl. Bayertz 1991, 190; Ott 2005b, 610; Kap. 5.2). 283 5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung <?page no="284"?> Partizipative Techniksteuerung als Interaktion zwischen verschiedenen Ebenen Entscheidungsträ‐ ger in Politik und Wirtschaft - umfassende Beratung durch Institutionen (Ethikkom‐ missionen/ TA) unter Miteinbezug von Betroffenen und Bürgervertretern Institutionen (Ethikkommissio‐ nen/ TA) - umfassende Beratung der Entscheidungsträger in Wirt‐ schaft/ Politik - systematische Analyse und Bewertung der Folgen einer neuen Technik und ihrer Alternativen schon in der Phase der Erfindung - Partizipationsmöglichkeiten für Laien/ Betroffene Technikethiker - Aufdecken und Reflektieren impliziter Wertvorstellun‐ gen, Prüfen der Argumente in Technikdebatten - Mitwirkung in Institutionen (Ethikkommissionen/ TA) - Urteilsfähigkeit der Bürger stärken Ingenieure/ Tech‐ niker - ethische Urteilsfähigkeit, berufsmoralische Regeln - Partizipationsmöglichkeiten an unternehmerischen Entscheidungen - Schlichtungsangebote der Berufsvereinigungen für moralische Konfliktfälle Gesamtbevölke‐ rung - bessere naturwissenschaftlich-technische Allgemein‐ bildung - sachlichere Unterrichtung durch Medien - Aufklärung durch Wissenschaftler/ Ingenieure - mehr Partizipationsmöglichkeiten dank öffentlicher Diskussionsforen 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik Bereits im Jahr 1973 wurde die Entwicklung des ersten genmanipulierten Bakteriums publik und löste in der breiten Öffentlichkeit und der „Scientific Community“ große Bedenken gegenüber der neuen Technik aus. 2018 wurde die Gentechnik erneut Gegenstand heftiger gesellschaftlicher Diskussionen, als folgende Eilmeldung um die Welt ging: Einem chinesischen Forscher soll mit der neuen biochemischen Methode CRISPR/ Cas die Manipulation des Erbguts eines Embryos gelungen sein. Der Begriff Gentechnik meint die Erforschung und Veränderung des Erbguts von Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen mittels einer Transplantation von Genen oder andere künstliche Modifikationen der Erbsubstanz. Er umfasst also sowohl das Wissen über gentechnische Verfahren im Sinne der Technik 3a als auch das 284 5 Technikethik <?page no="285"?> entsprechende Handeln im Sinne von Technik 2b (vgl. Kap. 5.1). Angesichts der großen Risiken dieser neuen Technologie wurde 1975 die Asilomar-Kon‐ ferenz einberufen, an der die US-amerikanischen Molekularbiologen selbst ein Moratorium für die Genforschung wünschten (vgl. Lenk 1992, 9). Aus den gesellschaftspolitischen Aktivitäten der Gentechnik-Kritiker der 1970er Jahre bildete sich die Genethik zunächst als außerakademische Debatte her‐ aus, die sich mit ethischen Problemen im Umgang mit Genmanipulationen befasst (vgl. Graumann; Irrgang). Angesichts zahlreicher Überschneidungen mit den etablierten Bereichsethiken wird die Gentechnik teilweise der „Technikethik“ (vgl. Kunzmann), aber auch der „Bioethik“ (vgl. Thurnherr, 43-52) oder für den Bereich der Humangenetik der „Medizinethik“ zuge‐ ordnet (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 43-56). Je nach Anwendungsbereich wird 1) eine Rote Gentechnik bei Menschen und Wirbeltieren, 2) eine Grüne Gentechnik bei Pflanzen und 3) eine Weiße Gentechnik bei Mikroorganismen unterschieden (vgl. Kollek, 337). Gentechnische Verände‐ rungen von Mikroorganismen (3) zur industriellen Herstellung z. B. von Vitaminen, Wasch- oder Arzneimitteln gelten im Unterschied zur Grünen Gentechnik als ethisch unbedenklich, weil sie in geschlossenen Anlagen kultiviert und nicht in die Umwelt freigesetzt werden (vgl. ebd., 286). Im Folgenden werden daher nur die ethisch umstrittenen gentechnischen Verfahren in der Humanmedizin (A) und transgene Pflanzen und Tieren in der Landwirtschaft (B) diskutiert. Genethik: öffentlicher sowie akademischer Diskurs mit dem Ziel, den menschli‐ chen Umgang mit dem Erbmaterial von Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen vernünftig zu normieren Gentechnik: Verfahren zur gezielten Manipulation des Erbguts A) Rote Gentechnik: bei Menschen (und Wirbeltieren) B) Grüne Gentechnik: bei Pflanzen C) Weiße Gentechnik: bei Mikroorganismen A) Genetik in der Medizin: Humangenetik Gendiagnostik Mit dem Projekt der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2001 gingen sowohl erhebliche Befürchtungen eines „gläsernen Menschen“ als auch hochgesteckte Erwartungen bezüglich einer Revolution der Medi‐ zin einher. Beide erwiesen sich jedoch bislang als nicht gerechtfertigt (vgl. 285 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="286"?> Graumann 2011a, 261). Erweitert hat sich weniger der Handlungsspielraum im therapeutischen als im diagnostischen Bereich der Humanmedizin: Mittels einer Genomanalyse kann die genetische Anlage für immer mehr Krankheiten oder andere Eigenschaften nachgewiesen werden. Da die pränatale Diagnostik bereits im Medizinethik-Kapitel 2.3 behandelt wurde, soll hier die ethische Legitimität von Screening-Verfahren, d. h. von systematischen gendiagnostischen Untersuchungen bestimmter Bevölke‐ rungsgruppen geprüft werden. Bereits üblich und ethisch unbedenklich ist das Neugeborenen-Screening (a). In der BRD wird jeder Säugling auf be‐ handelbare Krankheiten geprüft, z. B. auf Phenylketonurie, die unbehandelt zu einer Intelligenzminderung führt. Da es sich um gut therapierbare Krank‐ heiten handelt, wird die Zustimmung der Eltern faktisch vorausgesetzt (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 49). Der offensichtliche große Nutzen für das Kind hat hier Priorität vor der elterlichen Autonomie. Ebenso sind Genomanalysen im Gerichtswesen (b) ethisch gerechtfertigt, wenn etwa anhand von Blut- oder Sperma-Spuren am Tatort ein Gewaltverbrecher identifiziert werden soll. Allerdings wären dabei die Forderungen des Datenschutzes zu beachten (vgl. Irrgang, 540). Ethisch problematisch sind demgegenüber Screening-Verfahren unter Arbeitgebern (c) oder Versicherungen (d). Denn beide haben ein Interesse daran, Arbeits- oder Versicherungsverträge mit Personen abzuschließen, deren Krankheitsrisiko möglichst gering ist. Ein genetisches Screening unter Arbeit- oder Versicherungsnehmern könnte daher eine zusätzliche, soziale Benachteiligung von Menschen zeitigen, die bereits durch ihre natürliche genetische Ausstattung schlechter gestellt sind. Sollen solche Zwangsuntersuchungen also ganz verboten werden, um Diskriminierungen von genetisch Benachteiligten zu verhindern? Zunächst gilt klarzustellen, dass es sich nicht bei jeder Ungleichbehand‐ lung um eine Diskriminierung handelt (vgl. Birnbacher 1999a, 229). Von einer Diskriminierung ist nur dann zu sprechen, wenn jemand ohne sachlich relevanten Grund ungleich behandelt wird. Nur dann liegt eine ethisch illegitime Ungleichbehandlung und damit eine Ungerechtigkeit vor. Gerechtigkeit verlangt, dass die Bewertungsmaßstäbe sinnvoll aus der spezifischen Zielsetzung einer Institution hervorgehen (vgl. Ethik, Kap. 7.3). Sachlich relevante Kriterien bei der Auswahl eines Bewerbers für eine Institution der Arbeitswelt (c) könnten etwa die berufsspezifische Ausbil‐ dung und Erfahrung der Kandidaten sein. Bei der Nicht-Berücksichtigung eines Kandidaten aufgrund einer genetischen Krankheitsdiagnose liegt aber eindeutig eine Diskriminierung vor, weil der Grund für die Ungleichbehand‐ 286 5 Technikethik <?page no="287"?> lung in keinem zu rechtfertigenden Zusammenhang mit der Berufspraxis steht (vgl. Rehmann-Sutter 2005, 273): Wenn ein genetisches Risiko für die Erkrankung an Schizophrenie oder Brustkrebs vorliegt, bedeutet dies erstens nicht, dass die Krankheit auch tatsächlich ausbricht. Zweitens wird die gegenwärtige Berufsausübung der (noch) gesunden und qualifizierten Person auch dann nicht beeinträchtigt, wenn die Krankheit später tatsäch‐ lich ausbrechen sollte. Gleichwohl hat das Land Hessen der Tochter eines Chorea-Huntington-Patienten die Verbeamtung als Lehrerin verweigert, die sich keinem Gentest unterziehen wollte (vgl. Rainer Woratschka: Was ändert sich durch das neue Gengesetz? , in: ZeitOnline, 22. 4. 2009). Sachlich, d. h. berufsspezifisch relevant ist die genetische Veranlagung nur in Ausnahme‐ fällen wie z. B. im Fall einer Veranlagung zur Epilepsie beim Pilot- oder Chauffeurberuf oder einer Allergie für chemische Stoffe bei der Arbeit in bestimmten Produktionsbetrieben (vgl. Irrgang, 539). In allen anderen Fällen wäre der Ausschluss genetisch vorbelasteter Bewerber genauso ungerecht wie derjenige gebärfähiger junger Frauen. Das wirtschaftliche Interesse des Arbeitgebers an der Vermeidung möglicher späterer Arbeitsausfälle darf bei der Wahl des geeignetsten Bewerbers für eine bestimmte Stelle ebenso wenig ins Gewicht fallen wie Geschlecht oder Hautfarbe der Kandidaten. Ähnlich wie die Arbeitgeber ein starkes Interesse an möglichst geringen Arbeitsausfällen und einem reibungslosen Arbeitsprozess haben, wünschen sich die Versicherungsgesellschaften (d) aus ökonomischen Gründen möglichst gesunde bzw. möglichst lang lebende Beitragszahler. Gentests wären für sie ökonomisch interessant, weil sie Menschen mit hohem Krankheitsrisiko ablehnen oder nur unter der Bedingung höherer Beitrags‐ zahlungen aufnehmen könnten. Für britische Antragssteller sind genetische Screenings auf Erbkrankheiten wie z. B. Chorea-Huntington bereits Realität, wenn in der Familie der Versicherungsnehmer eine Häufung erblich beding‐ ter Leiden feststellbar ist. Gegen eine solche Praxis lässt sich zum Ersten wiederum einwenden, dass bei genetischen Dispositionen zu bestimmten Krankheiten (mit der Ausnahme vielleicht von Chorea-Huntington) unsi‐ cher ist, ob und wann diese tatsächlich ausbrechen werden. Ohnehin können die Betroffenen jederzeit andere Krankheiten erleiden oder verunfallen, sodass die Risiken für die Versicherungen rein faktisch schwer kalkulierbar sind. Aus ethischer Sicht verbieten sich zum Zweiten höhere Beitragszah‐ lungen für genetisch vorbelastete Versicherungsnehmer aus dem gleichen Grund wie die Ablehnung geeigneter Bewerber für eine Arbeitsstelle: Wer schon von Natur aus und also völlig willkürlich und unverschuldeterweise 287 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="288"?> mit einem hohen Krankheitsrisiko belastet ist, darf nicht noch zusätzlich mit höheren Prämien oder sogar einem Versicherungsausschluss „bestraft“ werden. Da allen Menschen ein Recht auf Gesundheit und damit auf medizinische Grundversorgung zusteht, muss vielmehr das bei gesetzlichen Krankenkassen übliche Solidaritätsprinzip gelten (vgl. Kap. 2): Um „na‐ türliche“ Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem auszugleichen statt zu potenzieren, müssen Versicherungsnehmer mit niedrigem Krankheitsrisiko diejenigen mit hohem Risiko „subventionieren“, genauso wie Menschen mit hohem Einkommen mehr zahlen als Geringverdiener (vgl. Birnbacher 2000, 40). Die Erfragung gendiagnostischer Daten kann höchstens im Bereich individuell gewünschter Zusatzleistungen in der medizinischen Versorgung oder beim Abschluss von Lebensversicherungen erlaubt sein. Genomanalyse: ethisch unbedenkliche Screening-Verfahren a) Neugeborenen-Screening zur Feststellung therapierbarer Krankheiten b) Genomanalyse im Gerichtswesen zur Täteridentifikation Genomanalyse: ethisch bedenkliche Screening-Verfahren c) Screening in der Arbeitswelt zur Selektion von Bewerbern Problem: genetische Krankheitsanlage kein sachlich relevanter Grund → Diskriminierung: Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund d) Screening bei Versicherungen zur Berechnung der Prämienhöhe Problem: zusätzliche soziale Nachteile aufgrund genetischer Nachteile → einheitliche Grundversicherung gemäß Solidaritätsprinzip → Gentests höchstens bei Zusatzleistungen/ Lebensversicherungen Somatische Gentherapie und somatisches genetisches Enhancement Bezüglich der Gentherapie wird zwischen einer „somatischen“ und einer „Keimbahntherapie“ unterschieden, je nachdem, ob die Therapie an Kör‐ perzellen oder Keimzellen durchgeführt wird. Bei einer somatischen Gentherapie werden Gene in geschädigte Körperzellen eingeschleust, um einen Gendefekt kausal zu reparieren oder die Körperzellen dazu zu veranlassen, durch die Produktion therapeutischer Stoffe die entstande‐ nen Schäden selbst zu beheben. Mit dem 2012 entwickelten biomedizi‐ nischen Werkzeug CRISPR/ Cas9, auch „Genschere“ oder „molekulares Skalpell“ genannt, kann man nun die DNA präzise an beliebigen Stellen durchtrennen und bestimmte Gene gezielt einfügen, entfernen oder aus‐ schalten. Solche Genveränderungen an Körperzellen werden aber anders 288 5 Technikethik <?page no="289"?> als bei der Keimbahntherapie nicht an die Nachkommen vererbt. Die frühen Forschungen konzentrierten sich auf monogene Erbkrankheiten wie ADA-Mangel oder Bluterkrankheit, bei denen nur das eine, für die Krankheit verantwortliche Gen repariert werden muss. Inzwischen sind von der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) auch Gentherapien z. B. zur Behandlung von bestimmten Blutkrebsarten wie Leukämie zugelassen, und es besteht Hoffnung auf Heilung weiterer Krebsarten sowie Parkinson, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die zwar eine genetische Komponente enthalten, aber nicht primär genetisch festgelegt sind. Da es sich um Heilverfahren zum Wohl kranker Men‐ schen handelt, gibt es zwar heute kaum mehr grundsätzliche ethische Bedenken gegen die somatische Gentherapie (vgl. Graumann 2011a, 263). Allerdings sind gentherapeutische Verfahren einerseits immer noch mit teilweise hohen Risiken verbunden. Die größte Gefahr geht von den als Transportvehikel für das genetische Material verwendeten entschärften Viren aus, die bei einigen Patienten heftige Immunreaktionen oder Krebs auslösten. Andererseits sind die Erfolgschancen schwer voraussehbar, weil die Lebensprozesse eines Organismus stets aus komplexen Wechsel‐ wirkungen von genetischen und nichtgenetischen Faktoren hervorgehen und das Dogma vom genetischen Determinismus durch neue epigeneti‐ sche Erkenntnisse erschüttert wurde (vgl. ebd., 260). Ungeachtet der in‐ formierten Einwilligung der Patienten sind Gentransfers medizinethisch nur vertretbar, wenn der zu erwartende Behandlungserfolg die Risiken überwiegt und keine risikoärmere Alternative zur Verfügung steht (vgl. ebd., 263). Ethisch verwerflich wäre es, Gentherapien aus irrealen Heils‐ erwartungen, finanziellen Interessen oder einem reinen Erfolgsstreben der beteiligten Forscher durchzuführen. Durchweg kritischer beurteilt als eine somatische Gentherapie wird hingegen die Idee eines somatischen genetischen Enhancements, bei dem es statt um eine Therapie von Krankheiten um eine Verbesserung erwünschter menschlicher Eigenschaften oder Fähigkeiten von Gesunden geht (vgl. Kollek, 283; Fenner 2019, 19). So könnten beispielsweise Sportler nicht mehr nur durch Anabolika das Muskelwachstum beschleunigen, sondern in Zukunft möglicherweise mittels neuer gentechnischer Ver‐ fahren die Anzahl von Muskelfasern steigern. Gegen solche gezielten Verbesserungsmaßnahmen wird eingewandt, dass sich die unbekannten unerwünschten Nebenwirkungen und Spätfolgen nicht wie bei der Gen‐ therapie durch einen erhofften medizinischen Nutzen aufwiegen lassen. 289 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="290"?> Zudem stellen sich Gerechtigkeitsfragen, wenn beispielsweise Sportler mit einer neuen und viel wirksameren gentechnischen Doping-Methode gegen das Prinzip der Chancengleichheit und Fairness im Sport verstoßen (vgl. Fenner 2019, 159-165). somatische Gentherapie: Einführen von Genen in geschädigte Körperzellen zum Zweck einer Heilung von Krankheiten pro: Aussicht auf Heilung schwerer Krankheiten kontra: - Therapie mit großen Risiken in früher Versuchs‐ phase - Erfolgsdruck, finanzielle Interessen oder überzo‐ gene Heilserwartungen der Wissenschaftler Somatisches genetisches Enhancement: Genmanipulationen an Körperzellen zum Zweck der Verbesserung erwünschter Eigenschaften oder Fähigkeiten pro: Verbesserung von Gesun‐ den kontra: - große Risiken sind nicht gegen einen großen me‐ dizinischen Nutzen aufwägbar - Prinzip Gerechtigkeit in Gefahr Keimbahntherapie und Keimbahn-Enhancement Anders als bei der somatischen Gentherapie werden die neuen genetischen Informationen bei der Keimbahntherapie in eine befruchtete Eizelle bzw. einen frühen Embryo eingebracht, sodass sie auch Bestandteil der Keimzellen des sich entwickelnden Menschen sind und wiederum an des‐ sen Nachkommen weitergegeben werden. Ethisch positiv zu bewerten ist zweifellos die Reduktion des Leids durch eine solche präventive Behand‐ lung eines schweren genetischen Defekts, noch bevor die Krankheit beim werdenden Menschen selbst sowie dann auch bei allfälligen Nachkommen ausbrechen kann. Keimbahnmanipulationen werden in der Medizinethik jedoch mehrheitlich bereits aus praktischen Gründen abgelehnt: Erstens ist die Risikoabschätzung bei der Keimbahntherapie erheblich erschwert, weil das Schadenspotential für die nachfolgenden Generationen kaum kalkulierbar ist (vgl. Marckmann u. a., 36). Möglicherweise treten Schäden nicht in der ersten, sondern erst in der zweiten oder dritten Generation auf. Um die Forschung in diesem Bereich voranzutreiben, müsste zweitens mit menschlichen Embryonen experimentiert werden, was wie bei der Stammzellenforschung gesehen große ethische Probleme aufwirft (vgl. Graumann 2011a, 263; Kollek, 255; Kap. 4.2, S. 221 f.). In Deutschland und 290 5 Technikethik <?page no="291"?> vielen anderen europäischen Staaten ist die Keimbahntherapie durch das deutsche Embryonenschutzgesetz und das Menschenrechtsübereinkommen des Europarats untersagt. Auch wenn Eingriffe in die Keimbahn mit hinlänglicher Sicherheit vorgenommen werden könnten, sind für eine ethische Bewertung noch weitere Aspekte zu berücksichtigen: Ein Gegenargument lautet, dass eine routinemäßige vorgeburtliche Therapie zu einer Diskriminierung kranker oder behinderter Menschen führt. Auch wenn diese Gefahr einer Diskrimi‐ nierung und gesellschaftlichen Entsolidarisierung ernst genommen werden muss, könnte sie durch die öffentliche Förderung von Toleranz und Soli‐ darität gegenüber Kranken zumindest eingedämmt werden. Die meisten Menschen dürften problemlos zwischen therapierbaren Embryonen mit Ge‐ ndefekten und Kindern oder Erwachsenen mit Krankheiten unterscheiden können (vgl. Kap. 2.3, S. 110-114). Ein anderes Gegenargument besagt, durch Eingriffe in das Genom von Embryonen würden die Menschenrechte auf Freiheit und Würde verletzt (vgl. Kollek, 283; Habermas 2002, 134 f.): Die zukünftigen Personen werden nicht nach ihrem Willen gefragt, sondern die Eltern bestimmen ihr Schicksal und nehmen ihnen gegenüber eine verdinglichende, instrumentalisierende Haltung ein. Dagegen lässt sich aber einwenden, dass auch bei einem nichtmanipulierten Kind das Genom von Anfang an feststeht und durch dieses Fehlen einer Vetomöglichkeit keineswegs seine Autonomie untergraben wird (vgl. Fenner 2019, 300 ff.). Zudem darf im Fall einer Therapie schwerwiegender, stark beeinträchti‐ gender Genkrankheiten ziemlich sicher mit dem späteren Einverständnis der Behandelten gerechnet werden (vgl. Habermas 2002, 91 f.). Da diese genetischen Eingriffe dem Kindeswohl dienen, scheint die Rede von einer Instrumentalisierung des Embryos unangebracht zu sein. Viele Gegenargumente sind Dammbruchargumente, die in der Keim‐ bahntherapie den ersten Schritt sehen, der unweigerlich zur ethischen Katastrophe einer Menschenzüchtung führt (vgl. Graumann 2011a, 363): Wenn man die negative Eugenik, d. h. die soeben geschilderten thera‐ peutischen Eingriffe zulasse, sei der Weg zu einer positiven Eugenik, d. h. einer beliebigen Verbesserung von erwünschten Eigenschaften der Kinder nicht mehr weit (vgl. A. Eser, 325 f.). Diese Argumente richten sich also im Grunde gegen ein genetisches Enhancement, bei dem gezielt Kinder mit positiven Eigenschaften oder Fähigkeiten wie Intelligenz oder Leistungsfähigkeit herangezüchtet werden, indirekt aber auch gegen die Keimbahntherapie als Vorstufe dazu. Wie bei allen Dammbruchargumenten 291 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="292"?> stellt sich grundsätzlich die Frage, wie wahrscheinlich der behauptete Dammbruch ist und ob sich die unkontrollierte Ausweitung verhindern ließe. Die meisten Bioethiker sehen die vorgeburtliche Reparatur von Gen‐ defekten zur Vermeidung schwerer Genkrankheiten als ethisch zulässig oder sogar verpflichtend an, plädieren aber für eine klare gesetzliche Einschränkung der Keimbahntherapie auf solche Eingriffe (vgl. Wiesemann u. a. 2005, 53; Rehmann-Sutter 2003, 228 f.). Was als „schwere Krankheit“ gilt, hängt allerdings auch ein Stück weit von soziokulturellen Deutungen von Gesundheit und Krankheit ab. So könnten immer mehr Krankheiten als ethisch legitimer Grund für eine Genmanipulation akzeptiert werden, dann auch nichtkrankheitswertige Beeinträchtigungen oder eine bessere physische und psychische Widerstandsfähigkeit etc. Sofern diese Kriterien von der Diskursgemeinschaft mit Blick auf das Wohl der Kinder festgelegt werden und die medizinische Grundversorgung weiterhin für alle Menschen gewährleistet wäre, muss dies nicht zwangsläufig ethisch verwerflich sein. Zur Diskussion stehen könnten z. B. sogenannte Allzweckgüter wie ein gutes Gedächtnis, Immunabwehr, Selbststeuerungsfähigkeit oder Empathie, die für praktisch alle menschlichen Lebenspläne von Vorteil sind (vgl. Fenner 2019, 297). Dazu zählt prinzipiell auch die Immunisierung gegen Aids oder anderer schwere Krankheiten, wie sie angeblich 2018 dem chinesischen Biophysiker He Jiankui bei seiner weltweit verurteilten Genmanipulation an zwei Embryonen gelungen sein soll. Wünschen sich hingegen Eltern für ihre Kinder ganz spezifische Eigenschaften wie z. B. überragende sportliche oder musikalische Fähigkeiten für eine Karriere in diesen Bereichen mittels geeigneter Frühförderung, verstieße dies gegen das „Recht auf eine offene Zukunft“ ( Joel Feinberg) und die Autonomie und Würde der Heranwach‐ senden (vgl. ebd., 304 ff.). Wenig überzeugend sind Natürlichkeits-Argumente gegen ein Keim‐ bahn-Enhancement, denenzufolge ein „gewisses Maß an Kontingenz und Naturwüchsigkeit“ garantiert und die natürliche Grenze zwischen dem „Gewachsenen“ und „Gemachten“ gewahrt werden müsse (Habermas 2002, 49; 80). Gegen eine solche Moralisierung der menschlichen Natur spricht, dass Menschen mehr sind als bloße Naturwesen. Als Kulturwesen sind sie zur normativen Selbstbestimmung und Selbstgestaltung aufgerufen (vgl. Fenner 2019, 115). Um ein genetisches Wettrüsten und eine Verschärfung der ohnehin bestehenden Ungerechtigkeit bezüglich der unterschiedlichen ge‐ netischen Dispositionen zu verhindern, wären aber staatliche Regulierungs‐ maßnahmen und internationale ethische Richtlinien für Forschung und 292 5 Technikethik <?page no="293"?> Anwendung erforderlich. Da sich nur Reiche auf einem zukünftigen freien Markt die teuren genetischen Keimbahninterventionen überhaupt leisten könnten, befürchten viele Bioethiker ein weiteres Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich bis hin zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft (George Annas) aus genetisch Armen und genetisch Reichen (vgl. ebd., 313 ff.; Graumann 2011b, 439). Im Zeichen der genetischen Gerechtigkeit wäre möglicherweise nur ein kompensatorisches Enhancement ethisch zulässig, das den von Natur aus am wenigsten Begünstigten zum Zweck eines Ausgleichs unverdienter genetischer Nachteile staatlich finanziert wird. Da die meisten unter „Allzweckgütern“ aufgelisteten menschlichen Eigenschaften aber anders als simple äußere Merkmale wie Größe oder Augenfarbe polygen sind und von einer komplexen Wechselwirkung von bis zu Tausenden von Genen abhängen, lassen sie sich möglicherweise auch in Zukunft nicht genetisch verbessern. Keimbahntherapie („negative Eugenik“): Einführen von Genen in befruchtete Eizellen bzw. frühe Embryonen zum Zweck der Heilung von Erbkrankheiten pro: Prävention schwerer Erb‐ krankheiten vor ihrem Ausbruch bei Betroffenen sowie allfälligen Nachkommen kontra: a) Risikoabschätzung für nachfolgende Generatio‐ nen schwer kalkulierbar b) verbrauchende Em‐ bryonenforschung un‐ umgänglich c) Dammbruchargu‐ ment: Gefahr positi‐ ver Eugenik d) Diskriminierung von Kranken/ Behinderten e) Würde der Manipulier‐ ten verletzt; instrumen‐ talsierende Haltung mögliche Eindämmungen: c) allgemeine Eingren‐ zung auf Therapie nötig d) öffentliche Toleranz und Solidarität fördern e) keine Verletzung bei partiellen Eingriffen zur Krankheitsvermeidung → ethisch erlaubt unter der Bedingung weitgehender Risikofreiheit und der genannten Eindämmungen ↔ ethisch verboten aufgrund der zu hohen Risiken sowie der verbrauchenden Embryonenforschung und solange eine internationale Regelung fehlt 293 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="294"?> Genetisches Enhancement („positive Eugenik“): Verbesserung erwünschter Eigenschaften durch Genmanipulation an Keimzellen oder Embryonen der Nach‐ kommen pro: Verbesserung von „Allzweckgütern“ (In‐ telligenz, Immunab‐ wehr, Selbstregulati‐ onsfähigkeit etc.); diskursiv-argumentativ zu begründen kontra: a) gleiche Argumente a)-c), aber in ver‐ schärfter Form b) Natürlich‐ keits-Argumente: Grenzen der menschlichen Natur wahren c) Genetische Ge‐ rechtigkeit: Kluft zwischen genetisch Armen und Reichen vergrößert dagegen: - Mensch Kulturwesen, nicht nur Naturwesen - nur kompensatori‐ sches Enhancement zum Ausgleich zulas‐ sen B) Gentechnik in der Landwirtschaft: transgene Pflanzen und Tiere In der Landwirtschaft sind gentechnische Verfahren insbesondere bei der Züchtung von Pflanzen und Tieren von großem Interesse. Denn anders als bei der klassischen Züchtung mit der Auswahl geeigneter Pflanzen oder Tiere für die Weiterzucht lassen sich durch eine Übertragung bestimmter Gene viel schneller die gewünschten Sorten bzw. Rassen erzeugen. Zudem können über die Artgrenze hinweg mittels Gentransfers Eigenschaften oder Funktionen von einer ganz anderen Sorte oder Rasse bei der zu verbessernden Art hervorgerufen werden (vgl. Graumann 2011a, 260 f.). Hauptziele beim Erzeugen transgener Pflanzen oder Tiere sind zum einen eine größere Toleranz gegen widrige Umweltbedingungen, bei Pflanzen konkret etwa eine Herbiszidtoleranz, d. h. Toleranz gegen Unkrautvernich‐ tungsmittel, oder eine Resistenz gegen Insektenfraß, Trockenheit oder Wasser. Zum anderen geht es häufig um die Erhöhung der Erträge oder des Nährstoffgehalts oder eine bessere Verarbeitungsqualität (vgl. ebd.; Kollek, 284). Starke ethische Argumente für transgene Pflanzen lauten, dass sie gezielt auf die Bedürfnisse bestimmter Bevölkerungsgruppen zu‐ geschnitten werden können und dass mit nährstoffhaltigeren Produkten möglicherweise eine wachsende Weltbevölkerung besser ernährt werden kann (vgl. Korthals, 354). Ein Vorzeigebeispiel für modifizierte Inhaltsstoffe ist der gentechnisch erzeugte „Golden Rice“, der die Menschen mit ausrei‐ chend Vitamin A versorgt. Während transgene Pflanzen wie etwa Soja, 294 5 Technikethik <?page no="295"?> Baumwolle, Mais oder Raps v. a. in den USA, Kanada und Brasilien bereits auf einem Großteil der Landwirtschaftsfläche angebaut werden, sind in Europa die Zulassungsbedingungen sehr streng und die Widerstände gegen die Gentechnik groß (vgl. Kollek, 284). Bei den Nutztieren soll neben der Krankheitsresistenz eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit, des Wachs‐ tums oder der Futterverwertung erreicht werden. So werden z. B. Lachse mit einem Gen ausgestattet, damit sie schneller wachsen und größer werden. Während also die Gentechnik-Befürworter die Linderung des weltweiten Hungerproblems und die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen versprechen, warnen die Gegner vor den drohenden Gefahren für die Menschheit und die Umwelt. Die wichtigsten Argumente gegen Grüne und Rote Gentechnik in der Landwirtschaft lassen sich in die folgenden Gruppen einteilen: a) kategorische Argumente, b) Risiko-Argumente und c) soziologisch-ökonomische Argumente. a) Kategorische Argumente Kategorische Argumente wollen zeigen, dass die Erzeugung transgener Pflanzen oder Tiere ganz unabhängig von Nutzen-Risiko-Abwägungen kategorisch zu verurteilen sind (vgl. Ott 2003, 363 f.). Bei einer ersten Argumentationsstrategie wird gefordert, dass die Integrität des Genoms und die Würde der Kreatur respektiert werden müssen (vgl. ebd.; Kollek, 286). Beide Begriffe beziehen sich aber in ihrer ursprünglichen Bedeutung auf Lebewesen, die über die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung und ein bewusstes Selbstverhältnis verfügen. Werden sie auch auf Tiere und sogar Pflanzen ausgedehnt, werden sie diffus und dafür missbrauchbar, für alle möglichen Entitäten moralischen Schutz einzufordern. Es müsste ange‐ geben werden können, was außerhalb der Autonomie der Grund für die Zu‐ schreibung von Würde sein soll (vgl. Düwell 2008, 113). Einem genetischen Programm als einer bewusstlos codierten Information kann schwerlich Integrität zukommen, weil dieses nicht gedemütigt oder beleidigt werden kann (vgl. Ott 2003, 364). In einem individualisierenden Sinn kommt Würde nur Lebewesen mit einem bestimmten festliegenden Genom zu (vgl. Birnbacher 1999a, 219). Die individuelle Würde von transgenen Pflanzen oder Tieren wird daher nicht verletzt, sofern sie artgerecht gehalten werden. Wie beim reproduktiven Klonen könnte man hingegen die Würde in einem Gattungssinn verletzt sehen, weil man die Lebewesen in ihrer ganzen genetischen Konstitution auf die Bedürfnisse von Menschen zuschneidet (vgl. Kap. 2.3). Dann wäre allerdings auch die natürliche Züchtung zu 295 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="296"?> verbieten, weil auch sie eine Instrumentalisierung der Tiere oder Pflanzen darstellt. Eine neue Stufe einer fortschreitenden Kommerzialisierung von Lebewesen und ihrer Degradierung zu Sachen erblicken allerdings v. a. Um‐ weltorganisationen wie „Greenpeace“ in der Patentierung transgener Arten (vgl. Kollek, 281). Weitere kategorische Argumente lauten, die Gentechnik sei unnatürlich oder die Artgrenze sei eine moralische Schranke und dürfe nicht überschritten werden (vgl. ebd., 285; Ott 2003, 363). Häufig stehen im Hintergrund weltanschauliche religiöse oder metaphysische Vorstellungen einer göttlichen Schöpfung oder einer Zweckordnung in der Natur, die nicht von allen Menschen geteilt werden. Obgleich es gute rationale Argumente für den Artenschutz gibt, lässt sich aus diesem kein kategorisches Verbot neuer gentechnisch veränderter Arten ableiten. Um Risiko-Argumente han‐ delt es sich, wenn gegen einzelne neue Arten Bedenken vorgebracht werden wie z. B. das Verdrängen heimischer Arten. b) Risiko-Argumente Risiko-Argumente machen auf Gefahren bei der Freisetzung transgener Pflanzen oder Tiere aufmerksam, entweder in Bezug auf die Gesundheit der Tiere und Menschen oder bezüglich des Ökosystems insgesamt. Sie hängen anders als kategorische Argumente stark vom aktuellen Wissensstand über die möglichen (Spät)Folgen und von Konzepten und Kriterien der Technik‐ folgenabschätzung bzw. Risikoethik ab (vgl. Kap. 5.2): Für die Gentechnik im Tierreich gelten die gleichen tierethischen Richtlinien und Gesetze des Tierschutzes, die im Rahmen der Wissenschaftsethik ausführlich dargelegt wurden (vgl. Kap. 4.4). Gentechnisch erwirkte Veränderungen bei Nutztie‐ ren dürfen deren Gesundheit und Wohl nicht beeinträchtigen, sodass etwa das Ausschalten des Sättigungszentrums bei Masthähnchen mit der Folge einer gesundheitsschädigenden Gewichtszunahme ethisch verwerflich ist. Die meisten gentechnischen Eingriffe erfolgen aber zu Forschungszwecken, um z. B. im Bereich der Grundlagenforschung Fragen der Stammes- oder Individualentwicklung oder zur Entstehung von Krankheiten zu klären (vgl. Kollek, 289f.). Bei biomedizinischen Experimenten an transgenen Tieren wie etwa Krebsmäusen oder „Knockout“-Mäusen, bei denen ein oder mehrere Gene ausgeschaltet werden, muss das Leid der Versuchstiere gegen das zu lindernde Leid kranker Menschen abgewogen werden. Hinsichtlich der Ge‐ sundheit der Menschen droht die Gefahr, dass die Konsumenten gentechnisch veränderter Nahrungsmittel Allergien entwickeln oder gegen die beim Gen‐ transferverfahren eingesetzten Antibiotika resistent werden (vgl. Graumann 296 5 Technikethik <?page no="297"?> 2011a, 261). Zumindest der ersten Gefahr kann dadurch begegnet werden, dass die Genveränderungen und allergenen Wirkungen der übertragenen Gene auf den Produkten gekennzeichnet werden, wodurch zugleich auch die Konsumentensouveränität gewährleistet wird (vgl. Ott 2003, 368). Hinsichtlich des Ökosystems verweisen Gentechnik-Kritiker häufig vage darauf, dass durch die Einführung neuer transgener Tier- und Pflan‐ zenarten die ohnehin fragilen ökologischen Zusammenhänge gestört wür‐ den (vgl. Kollek, 286). Während sich die Vielfalt der Arten über enorme Zeiträume hinweg herausgebildet hat, werden mit der Gentechnik alle zeit‐ lichen, räumlichen und biologischen Grenzen durchbrochen. Um schmack‐ hafteres Obst oder größere Erträge zu erzielen, dürfe man aber nicht das seit Jahrmillionen bestehende ökologische Gleichgewicht aufs Spiel setzen (vgl. Wuketits, 65). Freilandversuche werden von vielen Kritikern als unabschätzbares Risiko eingestuft, weil durch unkontrollierte Ausbreitung und Auskreuzung im schlimmstmöglichen Fall eine irreversible Umwelt‐ katastrophe mit großem Schaden für die Menschheit entstehen könnte (vgl. Graumann 2011a, 261; Knoepffler, 164). Im Sinne einer „Heuristik der Furcht“ müsste man angesichts dieses Risikopotentials schon die Genforschung unterlassen. Nicht bestätigt haben sich bislang die Befürch‐ tungen einer unkrautartigen unkontrollierten Ausbreitung gentechnisch modifizierter Pflanzen und diejenigen einer Bedrohung oder Verdrängung nichtmodifizierter herkömmlicher Arten (vgl. Korthals, 358). Als ethisch bedenklich erwies sich jedoch in empirischen Untersuchungen die gentech‐ nisch erwirkte Resistenz gegen Insektenfraß und die Herbiszidtoleranz von Pflanzen (vgl. Kollek, 284 f.): Dank eines den Pflanzen mittels Gentechnik eingebauten Toxins konnten zwar die Insektizide reduziert werden, aber plötzlich traten andere Schadinsekten als neue Bedrohung auf. Noch viel schlimmer ist die beträchtliche Erhöhung des Herbiszideinsatzes in den USA infolge der Herbiszidresistenz transgener Pflanzen, weil die Gifte ins Grundwasser und in den Nahrungskreis gelangen können (vgl. ebd.; Irrgang, 525). Anstelle einer pauschalen Verurteilung der Gentechnik ist es jedoch erforderlich, jedes Forschungsvorhaben einzeln zu betrachten und zu bewer‐ ten. Im Fall einer Anwendung oder eines Freilandversuchs sind sorgfältige und längerfristig angelegte Überwachungsmaßnahmen erforderlich. c) sozio-ökonomische Argumente Unter soziologisch-ökonomischen Vorzeichen schließlich wird immer wieder angemahnt, von der rasanten Entwicklung in der Biotechnologie 297 5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik <?page no="298"?> würden v. a. einige wenige Großunternehmen auf Kosten der kleinen Bauern und der armen Leute profitieren (vgl. Korthals, 358). Insbesondere in den südlichen Schwellen- und Entwicklungsländern werden häufig alt‐ hergebrachte landwirtschaftliche Strukturen zerstört und die Bauern von Saatgut-Konzernen abhängig gemacht, die wie z. B. Monsanto und Bayer weltweit agieren und zur Monopolisierung tendieren (vgl. Kunzmann, 263; Graumann 2011a, 261). So wurde beispielsweise gentechnisch verändertes Getreide mit sterilen Samenkörnern vermarktet, sodass die Bauern jedes Jahr neues Saatgut kaufen müssen. Gegen das im Jahr 2000 von der Kon‐ vention über Biologische Vielfalt (CBD) weltweit verhängte Moratorium setzen sich Konzerne v. a. mit dem umweltethischen Argument zur Wehr, mit sterilen Samen eine Auskreuzung gentechnisch manipulierter Pflanzen verhindern zu können. Gentechnik in der Landwirtschaft und der Nah‐ rungsmittelproduktion kann aber ethisch nur befürwortet werden, wenn sie sinnvoll in die bestehenden sozialen Strukturen eingebettet wird (vgl. Korthals, 356). Letztlich tragen die Regierungsbehörden die Verantwortung dafür, dass dem sozialen Kontext der produzierenden Kleinbauern und ihren Konsumenten Rechnung getragen wird. Zu begrüßen sind daher die immer zahlreicher werdenden öffentlichen nationalen und internatio‐ nalen Forschungsinstitutionen zur Entwicklung gentechnisch modifizierter Pflanzen, die sich um eine sozial gerechte Technologieentwicklung bemühen (vgl. ebd., 358 f.). Neben den zu erwartenden ökologischen Risiken muss auch die sozioökonomische Frage sorgfältig abgeklärt werden, ob die Biotechnologien die Lebensbedingungen der Hungernden tatsächlich zu verbessern vermögen oder nur das Macht- und Wohlstandsgefälle auf der Welt verstärken. Es muss verhindert werden, dass profitgierige Großunter‐ nehmen unter dem Vorwand der Lösung des weltweiten Hungerproblems die einzigen sind, die wirklich von den neuen Technologien profitieren. Auch die Entwicklungsländer müssen die Chance haben, ihren Vorteil hinsichtlich der technologischen Errungenschaften wahrzunehmen und ihren Bedürfnissen entsprechende Produkte herstellen zu können. 298 5 Technikethik <?page no="299"?> Kontra-Argumente ethische Forderungen a) kategorische Argumente: Verletzung der Integrität des Genoms, der Würde der Kreatur und der natürli‐ chen Ordnung Würde im individualisierenden Sinn achten; Tiere/ Pflanzen nicht bloß als Mittel gebrauchen (andere Argumente weltanschaulich und nicht verallgemei‐ nerbar) b) Risiko-Argumente: - ökologisches Gleichgewicht ge‐ fährdet - Gesundheit/ Wohl der Tiere ge‐ fährdet - Gesundheit der Menschen ge‐ fährdet Überwachungsmaßnahmen nötig: - Umweltschäden (Wuchern/ gestei‐ gerter Herbiszideinsatz) verhindern - Schmerz/ Leid der genveränderten Tiere vermeiden oder reduzieren - Allergierisiken gentechnisch verän‐ derter Produkte kennzeichnen c) sozio-ökonomische Argu‐ mente: - Zerstörung herkömmlicher land‐ wirtschaftlicher Strukturen - Monopolisierung von Großkonzer‐ nen und Abhängigkeit der Entwick‐ lungsländer Gesetze für sozial gerechte Techno‐ logieentwicklung nötig: - Einbettung der Gentechnik in so‐ ziale Strukturen - Bedürfnisse der Menschen in Ent‐ wicklungsländern beachten 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik Seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Roboter in verschiedene menschliche Lebensbereiche Einzug halten und immer autonomer werden, stellen sich viele neue ethische Fragen. Der Begriff „Roboter“ geht zurück auf das slawische Wort „robota“ für „Fronarbeit“ und wurde erstmals 1920 vom tschechischen Schriftsteller Karel Čapek in einem Theaterstück verwendet. Roboter sind komplexe, programmierbare Maschinen für das Ausführen bestimmter Tätigkeiten, bei denen sie entweder ferngesteuert werden, nach einprogrammierten Befehlsfolgen vorgehen oder von Sensor‐ signalen geleitet werden. Obwohl in der Literatur bisweilen noch mehr Bedingungen für eine enge Definition von „Roboter“ angegeben werden, müssen diese zumindest einen physischen Körper haben und automatisch oder „(teil)autonom“ in ihre Umgebung hineinwirken (vgl. Bartneck u. a., 13; Loh, 17). Software-Agenten oder „social bots“ wären in diesem Verständnis keine Roboter, ein modernes Passagierflugzeug oder ein vollautomatisierter Containerhafen jedoch schon (vgl. Decker 2016, 352). Im Zuge der Compu‐ 299 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="300"?> terisierung und Digitalisierung und der Entwicklung künstlicher Intelligenz kam es zu entscheidenden Impulsen für Fortschritte im Bereich der Robotik. Das erste Patent für einen Industrieroboter wurde 1954 gemeldet, und der Großteil an meist immobilen Robotern wird bis heute in der industriellen Produktion wie z. B. in der Automobil- oder Elektroindustrie eingesetzt. In dieser ersten Entwicklungsphase überwogen die Hoffnungen, dass Roboter den Menschen zunehmend langweilige, schmutzige und gefährliche Arbeit an Montage- und Fliessbändern abnehmen (vgl. Loh, 20). Ein vergleichbares Innovationspotential wird gegenwärtig auch Servicerobotern zugespro‐ chen, die immer mehr Dienstleistungen übernehmen wie etwa im Bereich der Landwirtschaft z. B. Melk- und Ernteroboter, im häuslichen Bereich Staubsauger- und Gartenroboter oder im Gesundheitsbereich das wach‐ sende Segment der Medizinroboter wie etwa Pflegeroboter. Des Weiteren werden noch Militärroboter für militärische Aufklärungs- und Kampfzwe‐ cke sowie Erkundungsroboter für das Auskundschaften gefährlicher oder unzugänglicher Areale unterschieden. Roboter müssen also keineswegs humanoid und mobil sein. Sogenannte „Androiden“, d. h. menschenähnliche Roboter ziehen allerdings seit jeher am meisten Aufmerksamkeit in der Literatur und Öffentlichkeit auf sich. Künstliche Intelligenz und autonome Systeme Im Gegensatz zu Industrierobotern sind Serviceroboter, Militär- und Er‐ kundungsroboter mit Sensoren und Kamerasystemen ausgestattet, um Informationen über die Welt zu sammeln und sich an veränderte Umwelt‐ bedingungen anzupassen. Je mehr die Künstliche-Intelligenz-Forschung voranschreitet und je „intelligenter“ und „autonomer“ die Roboter werden, erhalten Befürchtungen und Horrorvisionen aus der Science-Fiction-Welt neuen Nährstoff: Die zu guten Zwecken geschaffenen Mittel könnten Men‐ schen nicht nur mehr und mehr ersetzen und verdrängen, sondern sich wie in Goethes Zauberlehrling oder beim Frankenstein-Komplex verselbständi‐ gen, sich gegen die Menschen wenden und sie schlimmstenfalls versklaven oder töten (vgl. Misselhorn, 7; Bartnek u. a., 18 f.). Auch wenn es keine allgemein anerkannte Definition von Intelligenz gibt, gehören dazu doch wesentlich die Fähigkeiten, externe Daten integrieren, Regelmäßigkeiten und Ordnungen erkennen, aus Erfahrung lernen und durch schlussfolgern‐ des Denken konkrete Probleme in neuen Situationen lösen zu können (vgl. Fenner 2019, 213; Bartnek u. a., 6). Von einer schwachen Künstlichen In‐ 300 5 Technikethik <?page no="301"?> telligenz wird bereits dann gesprochen, wenn solche spezifischen mensch‐ lichen Kompetenzen in einem Computer oder Roboter bloß simuliert werden (vgl. Loh, 47; Bendel, 14 f.). Die bislang nur in der Science-Fiction existie‐ rende starke Künstliche Intelligenz setzt demgegenüber nicht nur die maschinelle Nachbildung solcher Intelligenzleistungen voraus, sondern dar‐ über hinaus auch ein Bewusstsein, das intentionale Verfolgen von Zielen und Autonomie. Meist nimmt man dabei die menschliche Denk- und Problem‐ lösungsfähigkeit zum Maßstab, den Computerprogramme erreichen bzw. übertreffen sollten. Obgleich Menschen bezüglich einzelner Fähigkeiten wie z. B. dem Schachspielen bereits von künstlichen intelligenten Systemen überholt wurden, sind diese aber von einem Bewusstsein noch weit entfernt. Die Rede von „Intelligenz“ und „Denken“ bei Maschinen ist also gegenwärtig noch eine metaphorische, anthropomorphisierende Sprechweise im Sinne der schwachen KI. Auch die Zuschreibung von „Autonomie“ ist nur in einem abgeschwächten Sinn korrekt (vgl. unten). Roboter, die mittels „künstlicher neuronaler Netze“ selbstlernend sind und in einer variablen Umgebung komplexe Aufgaben selbständig durchführen können, zählen zusammen mit selbstlernenden Algorithmen zu (teil-)autonomen Systemen (vgl. Decker 2016, 352; Misselhorn, 9; Loh, 19). Roboterethik Ethische Fragen im Zusammenhang mit Robotern oder autonomen Syste‐ men werden nicht immer der „Technikethik“ zugeordnet, sondern noch anderen Bereichsethiken wie der „Maschinen-“ oder „Informationsethik“. Bei der Technikethik handelt es sich wie eingangs definiert um eine Be‐ reichsethik, die sich mit den ethischen Problemen bezüglich der Herstellung, Nutzung und Entsorgung von Technik befasst (vgl. Einleitung zu Kap. 5). Dabei gehören zur Technik alle Werkzeuge, Maschinen und Technologien, also auch Roboter. Ethische Fragen wie diejenigen, ob und welche Roboter hergestellt und wie mit ihnen umgegangen werden soll, fallen also eindeutig in den Bereich der Technikethik. Neben der „Technikethik“ als Ethik für Menschen im Umgang mit Maschinen gibt es seit Neustem jedoch noch eine „Maschinenethik“, die gewissermaßen eine Ethik für Maschinen darstellt (vgl. Misselhorn, 8; Bendel, 18): Die Maschinenethik ist eine noch sehr junge und dynamische Disziplin, die sich mit dem ethischen Problem befasst, ob man Maschinen konstruieren kann und soll, die selbst moralische Entscheidungen treffen können. Wird Roboterethik in einem engen Sinn 301 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="302"?> als Teilbereich der Maschinenethik verstanden, stehen maschinenethische Fragen wie die nach der Moralfähigkeit von Robotern und dem möglichen Einbau moralischer Fähigkeiten im Zentrum. Die Maschinenethik ist zwar insofern weiter gefasst als die Roboterethik, als sie sich nicht nur auf Roboter, sondern auch auf andere „smarte Technologien“ wie z. B. Smartphones bezieht (vgl. Misselhorn, 47). Gleichzeitig ist sie aber enger gefasst, weil sie sich auf die Moral von Maschinen konzentriert. Die Roboterethik in einem weiten Sinn beschäftigt sich aber mit allen (auch technik)ethischen Fragen, die sich bei der Entwicklung, Herstellung und Verwendung von Robotern stellen (vgl. ebd., 47; Loh, 9). Da Roboter auf Computertechnologie basieren, lässt sich die Roboterethik außerdem als Teil einer „Informationsethik“ verstehen, die eine „Computerethik“ enthält (vgl. Misselhorn, 47; Bendel, 18): Wie im Kapitel zur Medienethik erläutert, befasst sich die Informa‐ tionsethik mit ethischen Problemen im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien wie insbesondere den neuen Medien (vgl. Einleitung zu Kap. 6). Wie die Genethik lässt sich die Roboterethik also verschiedenen Bereichsethiken zuordnen. Dieses Kapitel widmet sich aus einer technikethischen Sicht drei vieldis‐ kutierten Typen von Robotern: autonomen Fahrzeugen (1), Pflege- (2) und Militärrobotern (3). Alle können in Situationen geraten, in denen moralische Entscheidungen getroffen werden müssen wie in Anschauungsbeispiel 3 bei der unvermeidbaren Kollision eines selbstfahrenden Autos. Die typische maschinenethische, aber auch für die Technikentwicklung relevante Frage lautet: Können autonome Systeme überhaupt moralische Subjekte oder „moralische Akteure“ sein (vgl. Misselhorn, 70 ff.; Loh, 35)? Für ihre Beant‐ wortung muss angegeben werden, welche Bedingungen moralische Hand‐ lungssubjekte erfüllen müssen. Am häufigsten als Voraussetzung genannt werden Autonomie, das Denken bzw. ein rationales Handeln nach Gründen sowie Bewusstsein. Autonomie in einem schwachen oder minimalen Sinn lässt sich schon Robotern zusprechen, die ohne direkte Einwirkungen von außen Entscheidungen treffen und ausführen (vgl. Misselhorn, 8; Loh, 52). In anspruchsvollen philosophischen Theorien der Willensfreiheit stellt das Fehlen von direktem Zwang allerdings lediglich eine negative Randbedingung dar (vgl. Fenner 2019, 98-100). Verlangt wird für Autonomie im starken Sinne, dass moralische Subjekte von ihren inneren Wünschen, Überzeugungen und ethischen Prinzipien geleitet werden oder diese - nach einer noch strengeren Auslegung - sogar kritisch reflektieren, billigen oder verwerfen können. Hier wird also das Denken vorausgesetzt als 302 5 Technikethik <?page no="303"?> Fähigkeit, Gründe abzuwägen, sowie ein reflexives Bewusstsein, das dem Subjekt den Bezug auf die eigenen Bewusstseinsprozesse erlaubt. In diesem starken Sinn können Computer eindeutig keine moralischen Subjekte sein, weil sie sich ihrer mentalen Zustände nicht bewusst sind (vgl. Misselhorn, 72; Loh, 60). Da die Perspektive der ersten Person fehlt, werden mentale Zustände wie das Verstehen von Sätzen, das Denken und Fühlen oder das intentionale Gerichtetsein auf Menschen oder Situationen in Robotern höchstens funktional adäquat abgebildet. Obgleich sogenannten selbstlernenden Systemen nicht nach dem „Top down“-Modell bestimmte moralische Regeln einprogrammiert werden, müssen auch beim „Bottom up“-Modell die Bewertungen der ausgewählten Beispielfälle als moralisch erlaubt oder verboten von Menschen überwacht werden (vgl. Misselhorn, 114 ff.; Nida-Rümelin u. a., 93; 112 f.). Roboter können also nur in einem schwachen oder metaphorischen Sinn moralische Akteure sein, weil sie Au‐ tonomie und moralische Urteilskraft genauso wie Intelligenz nur scheinbar besitzen (vgl. Misselhorn, 89; Loh, 59; 66 f.). Roboterethik: Teilbereich der Technik- oder Maschinenethik, die sich mit den Fragen beschäftigt, ob und welche Roboter hergestellt und wie mit ihnen umge‐ gangen werden soll. Maschinenethik: junge (Teil)Disziplin, die sich hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, ob eine maschinelle Moral konstruiert werden kann und soll. vieldiskutierte Typen von Robotern: autonome Fahrzeuge (1), Pflegeroboter (2) und Militärroboter (3) 1) Autonome Fahrzeuge Wie gesehen ist mit „Autonomie“ im Zusammenhang mit sogenannten au‐ tonomen Systemen lediglich gemeint, dass sie über einen längeren Zeitraum ohne menschliche Bedienung tätig sein können. Da sie sich also keineswegs aufgrund vernünftiger Überlegungen ihr eigenes Gesetz geben („autos nomos“), wären präzisere Bezeichnungen wie „hoch automatisiertes“ oder „vollautomatisches Fahren“ weniger missverständlich (vgl. Bartneck u. a., 125). Zu unterscheiden sind folgende fünf Stufen der Automatisierung (vgl. ebd., 126; Misselhorn, 185 ff.): 1. Beim assistierten Fahren verfügt das Auto über einzelne automatisierte Funktionen wie z. B. einen Tempomat zur Regulierung der Geschwindigkeit, der bei den meisten neuen Fahrzeugen bereits die Regel ist. 2. Im Fall des teilautomatisierten Fahrens wie bei Tesla-Fahrzeugen kann das Automobil zwar in bestimmten Situationen wie 303 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="304"?> z. B. beim Bremsvorgang eigenständig fahren, aber der Fahrer muss das Fahrzeug jederzeit überwachen und bereit sein, die Führung zu übernehmen. 3. Beim hochautomatisierten Fahren übernimmt das Fahrzeug jedoch unter bestimmten Umständen wie z. B. auf der Autobahn sämtliche Fahr‐ funktionen, sodass der Fahrer wie beim Audi A8 seit 2018 das System nicht mehr dauernd überwachen, sondern nur nach einer bestimmten Vorwarnzeit wieder verfügbar sein muss. Die bislang noch unerreichten höchsten Stufen stellen 4. das vollautomatisierte Fahren dar, bei dem das Fahrzeug unter normalen (z. B.Wetter-)Bedingungen sämtliche Fahrfunkti‐ onen übernehmen kann und der Fahrer nicht zur Kontrolle verpflichtet ist, und schließlich 5. das autonome Fahren, bei dem das Fahrzeug unter allen Umständen alle Fahrfunktionen ausführen kann und der Fahrer über‐ flüssig ist. Je weiter die Automatisierung fortschreitet, desto größer werden Entlastung und Zeitgewinn für die Nutzer sein. Insbesondere Menschen mit Behinderungen oder Altersgebrechen bekämen dank vollautomatisierter Fahrzeuge mehr Chancen auf Mobilität und Teilhabe (vgl. Misselhorn, 184 f.). Starke Argumente verweisen zudem auf die erheblichen Sicherheitsvorteile, weil ca. 90% aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückgeführt werden (vgl ebd., 198; Bartneck u. a., 128). Allerdings ist es angesichts der hohen Komplexität im Strassenverkehr schwierig, eine Software zu entwickeln, die unter der Vielzahl an Fahroptionen immer die bestmögliche heraus‐ findet und umsetzt. Auch gab es schon einige teilweise tödliche Unfälle mit autonomen Fahrzeugen, sodass die vollständige Abgabe der Kontrolle höchstens auf bestimmten separaten Fahrspuren verantwortbar scheint (vgl. Misselhorn, 203 f.). Ein Großteil der Literatur konzentriert sich auf das sogenannte Trol‐ ley-Problem, bei dem wie in Anschauungsbeispiel 3 angesichts einer un‐ vermeidbaren Kollision zwischen zwei Übeln gewählt werden muss und man sich in einer Dilemmasituation befindet. Da autonomen Fahrzeugen moralische Regeln einprogrammiert werden müssten, stellen sich folgende grundlegenden Fragen: Darf es eine Rolle spielen, dass beim Ausweich‐ manöver „nur“ ein Mensch stirbt statt drei wie beim Beibehalten der Fahrtrichtung? Ist auch das Alter der Beteiligten und damit die noch zu erwartende Lebenszeit ethisch relevant? Soll die ältere Fahrradfahrerin „geopfert“ werden, um das Leben der drei Kinder zu retten? Aus einer utilitaristischen Perspektive sind alle Fragen klar zu bejahen, weil das Fahrmanöver ethisch richtig ist, bei dem der Nutzen der Handlungsfolgen maximal bzw. der Gesamtschaden minimal ist. Allerdings dürfte die Wahr‐ 304 5 Technikethik <?page no="305"?> scheinlichkeit der jeweiligen Konsequenzen schwer voraussehbar sein, zumal wenn auch individuelle Merkmale wie Alter, Gesundheitszustand oder soziale Stellung der potentiellen Opfer mitberücksichtigt würden. Aus einer streng deontologischen Perspektive verbieten sich jedoch ein utilitaristisches Verrechnen von Menschenleben und ein Ausweichen auf die Gegenfahrbahn, weil das vorsätzliche Töten der Fahrradfahrerin eine moralisch inakzeptable Handlungsweise wäre und den in der „Allg‐ meinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO verankerten Prinzipien auf Würde und Leben aller Menschen widerspräche. In vielen Staaten ist das Abwägen von Menschenleben daher strikt verboten, und die weltweit erste „Ethikkommission autonomes und vernetztes Fahren“ in Deutschland lehnte 2017 jegliche Qualifizierung der Opfer nach persönlichen Merkmalen ab (vgl. Loh, 25). Gemäßigte Deontologen könnten jedoch den Tod der Fahrradfahrerin entsprechend dem „Prinzip der Doppelwirkung“ als in Kauf zu nehmende schlechte Wirkung betrachten, die als notwendige Folge der Erreichung des guten Ziels (bzw. der guten Wirkung) der Rettung der Kinder erlaubt ist (vgl. Ethik, 184 f.). Das Bevorzugen von Menschen aufgrund konsequentialistischer Kriterien wie z. B. individuelle Überlebenschancen oder Rettung möglichst vieler Menschen kann aber grundsätzlich nur in unmittelbaren Ausnahmesituationen wie unvermeidbaren Unfällen oder medizinischen Notfällen erlaubt sein, wo unter den gegebenen Umständen nicht alle Menschen gerettet werden können (vgl. ebd., 181). Natürlich muss es das vorrangige Ziel bei der Fahrzeugherstellung sein, solche Dilemmasitu‐ ationen im Strassenverkehr etwa durch schnelles automatisches Abbremsen ganz zu vermeiden. Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit autonomen Systemen ist die Zuschreibung von Verantwortung für Unfälle und entstandene Schäden. Bei den (für den öffentlichen Verkehr derzeit noch nicht zugelassenen) vollautomatisierten oder autonomen Fahrzeugen der höchsten Stufen kön‐ nen die Fahrer nicht mehr für Unfälle verantwortlich gemacht werden. Aber bereits auf der Stufe 3 des hochautomatisierten Fahrens gibt der Fahrer die Kontrolle für eine bestimmte Zeit ab, sodass die Technologie lediglich ausführt, wozu sie programmiert wurde. Weder der Algorithmus noch das Fahrzeug scheinen allerdings im gleichen Sinn wie Menschen Träger von Verantwortung sein zu können, weil sie keine moralischen Handlungssubjekte im engen Verständnis sind. Gleichwohl werden Roboter in der Literatur als funktional verantwortliche Akteure bezeichnet, die in einem schwächeren Sinn, vergleichbar mit Säuglingen, Kleinkindern oder 305 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="306"?> Tieren, verantwortlich sein können (vgl. Loh, 145 ff.). Ein vom Europäischen Parlament vorangetriebener Vorstoß will Robotern analog etwa zu einer Ak‐ tiengesellschaft den Status einer elektronischen Person zuschreiben (vgl. ebd., 26). Sie müssten dann gleichfalls öffentlich registriert und mit einer obligatorischen Haftpflichtversicherung ausgestattet werden. Es gibt bereits eine gesetzlich geregelte Produkthaftung und Gefährdungshaftung von Unternehmen für Schäden oder Verletzungen, die durch die Nutzung der von ihnen vertriebenen Produkte entstanden sind (vgl. Bartneck u. a., 63 f.). Laut den Richtlinien der deutschen Ethikkommission für automatisiertes und vernetztes Fahren geht die Haftung vom Fahrer auf den Automobilhersteller über, sobald das Fahrzeug selbst die Kontrolle hat und damit kausaler Ver‐ ursacher ist. Vorgeschrieben ist daher ein Datenspeicher zur Überwachung in den Fahrzeugen ähnlich einem Flugschreiber, anhand dessen sich später die Kontrolle zum Unfallzeitpunkt eruieren lässt (vgl. ebd., 65). Nicht zuletzt tragen natürlich auch die Designer eine wesentliche oder sogar die primäre Verantwortung für die Moral der Maschinen und die Verkehrssicherheit (vgl. Loh, 149). Im Fall selbstlernender Systeme wird diese allerdings dahingegend relativiert, als die Schöpfer deren Entscheidungen gar nicht mehr nachvoll‐ ziehen oder gar prognostizieren können (vgl. ebd., 154 f.). Diskutiert werden des Weiteren Fragen des Datenschutzes und der Privatsphäre, weil die automatisierten Fahrzeuge für die Erhöhung der Sicherheit, die Steuerung des Verkehrsflusses und die Senkung der Emissionen immer mehr Daten sammeln und vernetzen (vgl. Misselhorn, 200 f.; Bartneck u. a., 135 f.). 2) Pflegeroboter Stationäre und mobile Roboter bevölkern mehr und mehr den Gesundheits‐ bereich, wobei die wichtigsten Typen Operations-, Therapie- und Pflege‐ roboter sind (vgl. Bendel, 303). Sie gehören dem Großbereich der „Social Robotics“ an, d. h. den Servicerobotern, die an Menschen eingesetzt werden und sich teilweise in direkter Interaktion mit Menschen befinden (vgl. Loh, 27). Sie gleichen entweder Fitnessgeräten oder sind Menschen oder Tieren nachgebildet, und diese äußerliche Gestaltung ist bedeutsam für ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Menschenähnliche Roboter wie im Fall humanoider Pflegeroboter stehen wie erwähnt am meisten in der Kritik. Pflegeroboter sollen hier auch deswegen thematisiert werden, weil sie den akuten Pflegenotstand und der damit verbundenen physischen und psychischen Überforderung des Pflegepersonals sowie der Kostenexplosion im Gesundheitsbereich entgegenzuwirken verprechen. Pflegeroboter sind 306 5 Technikethik <?page no="307"?> ganz allgemein in der Behindertenbetreuung, der Kranken- und Altenpflege einsetzbar, wobei angesichts des demographischen Wandels mit einem im‐ mer größeren Anteil an älteren und pflegebedürftigen Menschen die Robotik in der Altenpflege ein besonders zukunftsträchtiger Anwendungsbereich zu sein scheint. Roboter könnten entweder professionelle Altenpfleger in Einrichtungen entlasten bzw. ersetzen oder alten Menschen ermöglichen, länger in ihrem eigenen Zuhause zu leben. Sie können z. B. als Transport- und Assistenzroboter praktische Hilfe leisten oder als Informations- und Unterhaltungsroboter für Beratung und Abwechslung der Menschen sorgen (vgl. Misselhorn, 136 f.; Bendel, 306). Konkrete Hilfeleistungen können z. B. das Bringen von Nahrung und Medikamenten sein, das Umbetten und Aufrichten oder die Unterstützung beim Waschen oder Toilettengang. Für diese Aufgaben benötigen Pflegeroboter einen Körper und motorische Fähigkeiten, Sensoren zur Aufnahme von visuellen und auditiven Infor‐ mationen sowie kommunikative Fähigkeiten für die Verständigung mit den Pflegepersonen. Insbesondere wenn sie in einem häuslichen Umfeld eingesetzt werden, ist Lernfähigkeit eine zentrale Voraussetzung, um sich an die Umgebung anpassen und auf die Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer eingehen zu können. Die meisten Pflegeroboter sind lediglich Proto‐ typen und entsprechend in Testumgebungen, auf Messen und Konferenzen anzutreffen. Einer davon ist der vom Fraunhofer-Institut entwickelte mul‐ tifunktionale „Care-O-bot“, dessen Kopf mit drehbarem Touchscreen für Unterhaltungsangebote und Konversation genutzt werden kann. Die Maschinenethik versucht, wie bei autonomen Fahrzeugen auch bei Pflegerobotern herauszufinden, welche Moral ihnen implementiert werden soll. Da es um Entscheidungssituationen im Gesundheitsbereich geht, bieten sich die bioethischen mittleren Prinzipien von Beauchamp und Childress an (vgl. Kap. 1.1 und 2; Misselhorn, 143): das Prinzip des Respekts vor der Autonomie der Nutzer, die Prinzipien des Nicht-Schadens und des Wohltuns sowie das Prinzip der Gerechtigkeit. Letzteres wird relevant, wenn ein Roboter für mehrere hilfsbedürftige Menschen zuständig ist und von zwei gleichzeitig beansprucht wird. Sämtliche vier mittleren Prinzipien sind sehr vage und unterbestimmt und führen wie gezeigt in der realen Alltagspraxis häufig zu Pflichtenkollisionen. Im Pflegebereich verlangt der Respekt vor der Autonomie der pflegebedürftigen Person zunächst, dass deren infor‐ mierte Zustimmung zur Roboterassistenz vorliegt (vgl. Misselhorn, 153 ff.). Sollten Pflegeroboter zukünftig in Pflegeeinrichtungen flächendeckend zum Einsatz kommen, wird man vermutlich mit dem Problem konfrontiert sein, 307 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="308"?> dass viele Bewohner nicht mehr einwilligungsfähig sind. Für diesen Fall wäre ein Zusatz in der Patientenverfügung hilfreich, in dem zur Versorgung durch Roboter in bestimmten Bereichen Stellung bezogen wird (vgl. Bendel, 316). Trotz einer grundsätzlichen Einwilligung kann ein Roboter aber vor dem moralischen Dilemma stehen, mit dem Erfüllen bestimmter Wünsche der Pflegebedürftigen das Prinzip des Wohltuns zu verletzen. Wie soll er sich etwa im klassischen Beispielfall verhalten, wenn Patienten die Einnahme der ärztlich verordneten Medikamente verweigern (vgl. Loh, 27; Missel‐ horn, 143)? Ein ausgefeiltes Computerprogramm könnte den aktuellen Gesundheitszustand anhand von biometrischen Daten einer „Smart Watch“ errechnen, ebenso den größten Nutzen bzw. Schaden bei der Einnahme bzw. Nichteinnahme der Medikamente, um zum geeigneten Zeitpunkt an die Medikamenteneinnahme zu erinnern oder den Pflegedienst zu alarmieren (vgl. Misselhorn, 140; 145 f.). Hinsichtlich eines nicht paternalistisch miss‐ verstandenen Patientenwohls müsste ein Pflegeroboter das Wertesystem und die Vorstellungen vom guten Leben der Nutzer berücksichtigen, weil einige eher auf die gesundheitlichen Konsequenzen, andere auf größtmögli‐ che Autonomie Wert legen. Angesichts der vielen vernetzten hochsensiblen Daten über den Gesundheitszustand und das persönliche Profil der Nutzer verlangt der Datenschutz in diesem Bereich besondere Beachtung (vgl. ebd., 141 f.; Bendel, 311; 315). Mit dem Fortschritt der KI wachsen die Befürchtungen, Roboter könnten bald die besseren Gesprächs- und Interaktionspartner sein und Menschen mehr und mehr verdrängen (vgl. oben; Bartneck u. a., 86 f.). Auch wenn bislang nur Prototypen von Pflegerobotern existieren und ihre serienmäßige Produktion noch in weiter Ferne ist, müssen daher Fragen wie diese disku‐ tiert werden: Sind menschliche Pflegekräfte überhaupt durch Pflegeroboter ersetzbar und welche Vor- und Nachteile wären damit verbunden? Obgleich Roboter wie gezeigt nicht über Denk- und Moralfähigkeit in einem starken Sinn verfügen, könnten sie als lern- und anpassungsfähige Systeme besser als parteiische Angehörige oder professionelle Pfleger auf die Bedürfnisse, Wunsch- und Wertvorstellungen der Nutzer eingehen (vgl. Misselhorn, 151 f.). Zudem leiden autonome Pflegesysteme weder unter Stress noch Überforderung, sodass sie stets ruhig bleiben und es möglicherweise zu weniger Verletzungen und Übergriffigkeiten käme. Einige Befragte gaben in Studien an, sie würden sich im Intimbereich lieber von Robotern waschen lassen, die weniger Scham auslösen (vgl. Bendel, 315 f.). Als Kehrseite der Medaille empfinden Roboter allerdings keine Empathie, sondern simulie‐ 308 5 Technikethik <?page no="309"?> ren diese höchstens. Sie können Gefühle der Pflegepersonen wie z. B. Angst oder Verunsicherung zwar dank Programmen der Sprachanalyse, Mimik- und Gestikerkennung registrieren, aber sie nicht wirklich verstehen und adäquat darauf reagieren (vgl. Bendel, 311). Aufgrund ihres Hangs zur Anthropomorphisierung neigen Menschen gleichwohl dazu, v. a. tier- oder menschenähnlichen Robotern Zuneigung und soziale Kompetenzen zu unterstellen und emotionale Bindungen mit ihnen einzugehen (vgl. Bartneck u. a., 82 f.). Diese bleiben jedoch zwangsläufig einseitig (vgl. ebd., 86 ff.; Loh, 28). Je mehr Zeit ältere Menschen mit Robotern verbringen und reale Kontakte vernachlässigen, desto weiter könnten sie in die Einsamkeit getrieben werden und wichtige soziale Kompetenzen verlieren. Auch fühlen sich die Angehörigen möglicherweise weniger zu Besuchen verpflichtet. Um solche negativen Konsequenzen zu verhindern, wird etwa vorgeschlagen, dass Roboter sich selbst als solche „entlarven“ oder nur in Tandems oder Teams mit Menschen eingesetzt werden (vgl. Bendel, 311 f.). Eine vollstän‐ dige Ersetzung menschlicher Pflegekräfte durch Roboter und eine Isolation alter Menschen in roboterbetreuten Pflegeeinrichtungen widerspräche auch der ethischen Forderung nach Inklusion. 3) Militärroboter Militärroboter sind autonome Waffensysteme, die auch viele nichttödliche Anwendungen wie Aufklärung, Minenräumung oder Nachrichtendienst umfassen (vgl. Bartneck u. a., 141 f.). Hier geht es lediglich um die umstritte‐ nen letalen, d. h. tödlichen autonomen Waffensysteme, die auch Kriegs- oder Killerroboter genannt werden. Aus einer pazifistischen Perspektive sind diese von vornherein indiskutabel, weil die Anwendung von Gewalt und das Töten ausnahmslos als unmoralisch gelten. Auch in der „Charta der Vereinten Nationen“ von 1945 werden (Angriffs)Kriege grundsätzlich als völkerrechtswidrig abgelehnt, und oberste Ziele sind Kriegsverhütung und Wahrung des Weltfriedens. Gemäß der Theorie des gerechten Krieges kann jedoch die Gewaltanwendung und das Töten von Menschen als „ultima ratio“ ethisch zulässig oder sogar geboten sein, wenn alle anderen Mittel im Kampf für eine gerechte Gesellschafts- oder Rechtsordnung ausgeschöpft sind und die entstehenden Schäden mit Blick auf das Unrecht verhältnis‐ mäßig sind (vgl. Misselhorn, 159). Auch dann müssten sich autonome Waffensysteme aber an die Vorgaben des Völkerrechts halten, sodass sie z. B. nur Kämpfer oder feindliche Einrichtungen anvisieren dürften. 309 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="310"?> Hinsichtlich der „Autonomie“ von Waffen lassen sich je nach Mitwir‐ kung der Menschen in der „Loop“, d. h. der Kontrollschleife, verschiedene Stufen unterscheiden (vgl Loh, 32 f.; Misselhorn, 157 f.): In-the-Loop-Sys‐ teme wie die bisherigen größeren Drohnen unterliegen vollständig der Kontrolle der Menschen, sodass es sich nicht um autonome Systeme han‐ delt. On-the-Loop-Systeme hingegen können selbständig Entscheidungen treffen und umsetzen, werden jedoch immer von Menschen überwacht. Auf einer noch höheren Autonomiestufe stehen Out-of-the-Loop-Systeme, bei denen die Menschen keinerlei Kontroll- und Interventionsmöglichkei‐ ten mehr haben. Es sind allerdings immer noch Menschen, die durch Programmierung die Zielobjekte definieren oder anhand von Trainingsbei‐ spielen selbstlernenden Systemen die Unterscheidung zwischen Freund und Feind „beibringen“. Verantwortung tragen Menschen bei In- und On-the-Loop-Systemen, die sie überwachen und damit die Kontrolle über sie behalten. Bei vollautomatischen Out-of-the-Loop-Systemen scheint jedoch eine Verantwortungslücke vorzuliegen, weil Robotern keine moralische Verantwortung zukommt (vgl. Misselhorn, 167). Wo etwa entgegen den Grundsätzen des gerechten Krieges irrtümlicherweise Zivilisten getötet werden oder humanitäre Einrichtungen zu Schaden kommen, wäre wohl von einer komplexen Verantwortungsteilung auszugehen (vgl. Bartneck u. a., 61-65): Neben den für den Krieg verantwortlichen Politikern und Kommandanten sind möglicherweise noch die Designer und Programmierer oder die Geheimdienste für die falsche Zielauswahl mitverantwortlich. Bei Pro-Argumenten für Militärroboter wird implizit verausgesetzt, dass es einen „gerechten“ Krieg gibt und dieser also unter bestimmten völkerrechtlich festgesetzten Bedingungen moralisch vertretbar ist. Das Hauptargument der Befürworter lautet, ein Krieg ohne Menschen sei ein menschlicherer (vgl. Misselhorn, 166). Dabei hat man häufig die Traumati‐ sierungen des militärischen Personals vor Augen, das in Tötungshandlun‐ gen verwickelt ist. Out-of-the-Loop-Systeme sollen aber auch die Zahl der zivilen Opfer reduzieren und die völkerrechtlichen Grundsätze besser ein‐ halten können (vgl ebd.; Bartneck u. a., 149 f.): Zunächst sollen sie dank ihrer kognitiven Fähigkeiten in ganz anderer Geschwindigkeit Entscheidungen treffen und eine höhere Zielgenauigkeit an den Tag legen als Menschen. Da Menschen anders als Maschinen in solchen Situationen unter großem Stress stehen, dürften sie oftmals die Lage weniger sachlich beurteilen und mehr Fehler machen. Auch neigen Menschen zu Racheakten und emotionsgeladenen Gräueltaten, wohingegen Kriegsroboter keine Gefühle 310 5 Technikethik <?page no="311"?> haben. Ganz im Gegensatz dazu lautet das Kontra-Argument, Kriege unter dem Einsatz von Militärrobotern würden noch unmenschlicher (vgl. Bartneck u. a., 150 f.): Die Einführung von KI-Technologien würde zu einem neuen Wettrüsten zwischen den Nationen auf einem ganz anderen Niveau führen. Da die „menschlichen Kosten“ der Kriegsführung gesenkt werden, könnte dies zu mehr und intensiveren Kriegshandlungen führen. Für diese Hypothesen werden die Erhöhungen entsprechender Forschungsausgaben in Russland und China bzw. die Zunahme zielgerichteter Tötungen im Irakkrieg genannt, als die USA unbemannte Drohnen einzusetzen begannen. Ein philosophisches Argument hingegen weist darauf hin, dass Militärro‐ boter die Menschenwürde verletzen (vgl. ebd., 151; Misselhorn, 182 f.). Durch die Automatisierung der Tötungshandlung scheint ein Mensch noch stärker als bei einer eigenhändig ausgeführten Tötungshandlung auf ein bloßes Mittel reduziert zu werden, womit noch extremer gegen Kants Instru‐ mentalisierungsverbot verstossen wird. In Anbetracht des höchsten Werts menschlicher Würde wird daher gefordert, es müsse immer ein Mensch die Entscheidung über Leben und Tod prüfen und verantworten. Autonomen Waffensystemen diese Entscheidung zu übertragen, sei moralisch höchst problematisch (vgl. Misselhorn, 184). Ein ähnliches Argument lehnt ein vollautomatisches Töten ab, weil nur Menschen aufgrund von Mitleid und Gewissensbissen ihre Zielobjekte z. B. in entwürdigenden Umständen ver‐ schonen können (vgl. ebd., 174). Allerdings lässt sich dagegen einwenden, im Fall eines „gerechten“ Krieges sei Mitleid zumindest gegenüber Tyrannen oder Terroristen unangebracht. 311 5.4 Anwendungsfall 2: Robotik <?page no="313"?> 6 Medienethik Wie in den anderen bereits erörterten Handlungsfeldern führen die rasanten technischen Neuerungen auch im Bereich der Medien zu tiefgreifenden Veränderungen in der menschlichen Lebenswelt und zu neuen ethischen Problemen. Schon immer gingen medientechnologische Innovation zwar aus einem konkreten historisch-kulturellen Bedürfnis hervor (vgl. Wieger‐ ling, 13): Die Schrift sollte die zeitliche und räumliche Gebundenheit der Rede an das Zusammentreffen von Gesprächspartnern überwinden, die elektronischen Medien die Trägheit und die fehlende Speicher- und Ver‐ knüpfungskapazität der Schrift, und die visuellen Medien deren Abstrakt‐ heit. Bei den Zeitgenossen stießen aber die meisten Neuerungen zunächst auf erhebliche Widerstände. So wurde etwa das neue Medium der Schrift in der Antike durch Platon scharf verurteilt (vgl. Kap. 5.): Wer sich auf die fremden Zeichen eines Buches verlasse, kann ihm zufolge höchstens ein Scheinwissen statt wirkliche Weisheit erlangen, weil er nicht selbst nachdenke und sich selbst nicht unmittelbar und innerlich an das Verstan‐ dene erinnern könne (vgl. Kap. 5). Die seit der Erfindung des Buchdrucks efolgte ständige Erweiterung der technischen Möglichkeiten führte zu einer enormen Präsenz und Machtfülle der Medien. Die im frühen 20. Jahrhundert aufgekommenen Massenmedien Film, Radio und Fernsehen wurden zu jener Zeit als „Neue Medien“ deklariert, gelten aber inzwischen als „traditionelle“ oder „klassische Medien“. Unter „neuen Medien“ versteht man heute in aller Regel die interaktiven, ort- und zeitlosen digitalen Medien, die ein noch größeres Publikum erreichen. Elektronische Geräte wie Computer, Smartphones oder Tablets verschaffen die Möglichkeit, akustisch und visuell an allen beliebigen Ereignissen auf der Welt teilzunehmen. Gleichzeitig kann jeder auch selbst der global vernetzten Welt über das Internet alles in Sekundenschnelle zugänglich machen, sodass räumliche und zeitliche Distanzen in diesem globalen Kommunikationsraum keine Rolle mehr spielen (vgl. Weil, 107 ff.). Neben anderen Megatrends der Modernisierung wie „Globalisierung“ oder „Ökonomisierung“ lauten die aktuellen Schlagworte bezüglich moderner Mas‐ senmedien „Medialisierung“ und „Digitalisierung“. Beide stehen für vielschich‐ tige komplexe Prozesse, die ohne genauere Charakterisierung inhaltsleer bleiben: Medialisierung oder Mediatisierung meint die zunehmende Durch‐ <?page no="314"?> dringung der Gesellschaft mit immer neuen Medien, sodass die neuartigen Kommunikationsformen sowohl Identität, Weltbild und Beziehungen der Men‐ schen als auch Institutionen, Wirtschaft und demokratische Prozesse immer stärker prägen (vgl. Funiok 2011, 20; P. Grimm u. a., 226f.; Krotz, 247). Die medienvermittelten Erfahrungen dominieren immer mehr die direkten persönlichen Erfahrungen, und es kommt zu einer zunehmenden Verschmel‐ zung von Medienwirklichkeit und sozialer Wirklichkeit. Da die Menschen nur noch einen kleinen Teil der Informationen aus eigener Erfahrung im direkten Kontakt mit Um- und Mitwelt beziehen, entwickeln die Medien eine wirklichkeitskonstituierende Kraft. Sie bestimmen, was „wirklich“ und von allgemeiner Bedeutung („in“ oder „out“) ist und formieren bzw. konditionieren Bedürfnisse, Wertvorstellungen, Denk- und Handlungsweisen der Menschen (vgl. Wiegerling, 34; 119). Infolgedessen wird von einem „Leben aus zweiter Hand“ gesprochen, wobei sich viele in der virtuellen Welt sogar eine Art zweite Existenz aufbauen (Leiner, 155). Während unter Digitalisierung in einem engen Sinn die Umwandlung von analogen Inhalten oder Prozessen in eine digitale Form verstanden wird, bedeutet Digitalisierung im weiten Sinn den Medialisierungsprozess der Computerisierung und des Einzugs des Internets in Berufswelt und Privatleben in den 1980er-Jahren (vgl. P. Grimm u. a., 226). Über das Internet treffen sich Menschen in virtuellen Welten und kommunizieren über Smartphones mit digital vernetzten Gegenständen wie z. B. Kühlschrank oder Heizung. Wenn unter Digitalisierung lediglich der vermehrte Einsatz von künstlicher Intelligenz in Beruf und Alltag verstanden wird, gehört diese digitale Modifikation von Geräten oder Fahrzeugen aber in den Bereich der Technik-, nicht der Medienethik (vgl. Kap. 5.4). Trotz der vielen neu eröffneten Chancen und Möglichkeiten bergen die digitalen Medien auch neue Risiken und Probleme wie z. B. „Fake news“, die Anonymität im Netz, Cybermobbing und Cyberkriminalität (vgl. Kap. 6.3). Begriffsklärungen: Medien und Medienethik Zum Zweck einer Klärung des Begriffs Medien gilt es eine allgemeine meta‐ phorische und eine enge Bedeutung auseinander zu halten (vgl. Wiegerling, 7; Funiok 2011, 12). Beide gehen zurück auf das lateinische „medius“ (zu Deutsch „mittlerer, in der Mitte befindlich“): In einer allgemeinen und weiten Bedeutung kann fast alles ein „Medium“ im Sinne eines Instruments, eines vermittelnden Elements oder Träger physikalischer oder chemischer Prozesse sein, z. B. technische Mittel wie ein Lautsprecher, ein Fernrohr, ein Computer, ein Telefon, ein Rad oder eine Uhr; Mittel der Wahrnehmung wie unsere Sinne, Luft für 314 6 Medienethik <?page no="315"?> den Transport von Schallwellen; nichttechnische Mittel der Verständigung wie Sprache, Schrift, Geräusche, Gestik oder Mimik. Zu Medien in einem engeren Sinn zählen jedoch nur die technischen und nichttechnischen Mittel der Kommunikation, die der Vermittlung von Informationen von einem Sender zu einem Empfänger dienen. Unter Informationen fallen in einem weiten Sinn sowohl Nachrichten über Tatsachen und Meinungen als auch Unterhaltung und Werbung (vgl. Sorgner, 136). Als Charakteristikum einer Information gilt in der Informationswissenschaft der Neuigkeitswert einer Mitteilung, wobei ihr Informationsgehalt mehr oder weniger groß sein kann (vgl. Weil, 119; Wiegerling, 15). Von einem „Wissen“ unterscheiden sich bloße Informationen insofern, als sie noch nicht von einem Wissenssubjekt geordnet, mit dem bishe‐ rigen Wissensstand verknüpft und bewertet wurden (vgl. Wiegerling u. a., 257). Menschliche Kommunikationsmittel zur Vermittlung von Informationen lassen sich nochmals auf folgende Weise untergliedern (vgl. Sorgner, 136): zunächst in die Basismedien jeder Kommunikation, nämlich die sinnlichen Basismedien Ton und Bild und die nicht sinnlichen Basismedien Zahl, Buchstabe und Note; dann in die Medien höherer Ordnung wie postalische Schreibmedien (Brief), Druckmedien (Buch, Zeitung), auditive Medien (Radio, CD, Telefon), visuelle Medien (Gemälde, Poster), audiovisuelle Medien (Film, DVD, Fernsehen) und digitale Medien (E-mail, Chat, World Wide Web). weiter Sinn: allgemeine Mittel, Instrumente, vermittelnde Elemente z. B. Rad, Uhr, Fernrohr, Sinnesorgane, Luft, Licht enger Sinn: nur Kommunikationsmittel, die Informationen vom Sender zum Empfänger vermitteln Basismedien z. B. Ton, Bild, Buchstaben Medien höherer Ordnung Individualmedien private mediale Inhalte z. B. Brief, E-mail, Telefon Massenmedien öffentlich zugängliche mediale Inhalte z. B. Zeitung, Fernsehen, Radio, Film, www Medien 315 6 Medienethik <?page no="316"?> Gegenstand der Medienethik sind lediglich die Kommunikationsmedien höherer Ordnung bzw. die von ihnen vermittelten Informationen. Höchst selten entzünden sich medienethische Konflikte an Individualmedien wie Brief, Telefon und E-Mail, die private Inhalte an ganz bestimmte Adressaten übermitteln. Zur Debatte stehen primär die Massenmedien wie Zeitungen, Radio, Fernsehen, Video und World Wide Web als Medien der öffentlichen bzw. gesellschaftlichen Kommunikation. Allerdings vereinigt das Internet Merkmale der Massen- und Individualkommunikation, indem es z. B. in Foren eine öffentliche Individualkommunikation und eine Teilöffentlichkeit ermöglicht (vgl. Heesen 2011, 269). Medienthik lässt sich infolgedessen definieren als diejenige Bereichsethik, die sich mit den ethischen Problemen bei der Produktion, Bereitstellung und Rezeption von medienvermittelten Informationen beschäftigt, wobei die von den Massenmedien einer breiten Öffentlichkeit zugeführten Informationen im Zentrum stehen (vgl. Funiok 2007, 11/ Leschke, 370). Während sich in Amerika bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „Mass Communication Ethics“ als akademisches Un‐ ternehmen etablierte, lässt sich im deutschen Sprachraum erst seit den 1980er Jahren von einer systematischen und wissenschaftlichen Medien‐ ethik sprechen (vgl. Schicha 2019, 24/ Funiok 2011, 24 ff.). Sie wird bisweilen als Teil der Informationsethik verstanden oder neben diese gestellt, die sich ganz allgemein mit den ethischen Problemen im Umgang mit Informationen, Informations- und Kommunikationstechnologien befasst und sich ursprünglich an Bibliothekare, Programmierer und Informatiker richtete (vgl. Lenzen, 210f./ Heesen 2016, 2). Da es jedoch strenggenommen keine Information ohne mediales Trägersystem gibt und die gegenwärtige Informationsethik sich immer mehr auf den Umgang mit digitalen Medien konzentriert, konvergieren die Fragestellungen der Medien- und Informati‐ onsethik immer stärker. Angesichts des gemeinsamen Gegenstandsbereichs Medien/ Information scheint es wenig sinnvoll zu sein, diese beiden aus his‐ torischen Gründen auseinandergehaltenen Disziplinen der Angewandten Ethik trennscharf voneinander abgrenzen zu wollen und als eigenständige Bereichsethiken separat voneinander zu behandeln (vgl. Heesen, ebd.). Medienethik: Bereichsethik, die sich mit den ethischen Problemen bei der Produktion, Bereitstellung und Rezeption von massenmedial vermittelten Infor‐ mationen befasst (= Teil der Informationsethik, die sich mit den ethischen Problemen im Umgang mit Informationen, Informations- und Kommunikationstechnologien befasst) 316 6 Medienethik <?page no="317"?> Gegenstand der Medienethik: Massenmedien und die von ihnen öffentlich zugänglich gemachten Informationen (Nachrichten, Meinungen, Unterhaltung, Werbung) Produzenten- und Rezipientenethik Historisch betrachtet konzentrierten sich die ethischen Studien in den Anfängen der Medienethik zunächst ganz auf Journalisten bzw. Medien‐ schaffende (vgl. Greis, 7). Bis heute bildet die journalistische Ethik oder Ethik der Medienschaffenden einen umfangreichen und populären Teilbereich der Medienethik (vgl. Heesen 2011, 269). Während sich die journalistische Ethik auf das Ethos der einzelnen Journalisten beschränkt, weitet die Ethik der Produzenten oder Produzentenethik die Reflexionen auf die institutionellen Rahmenbedingungen der Medienschaffenden aus. Da die meisten Medienunternehmen privatwirtschaftlich organisiert und damit auf Gewinn ausgerichtet sind, überschneidet sich die Produzentenethik mit der Wirtschaftsethik (vgl. Wunden 1999, 42 f.). Mit den Problemen kollektiver oder institutioneller Verantwortung von Unternehmen befasst sich die „Unternehmensethik“ (vgl. Kap. 7.2). Statt die Perspektive der Journalisten bzw. Produzenten zu wählen, kann man die Probleme im Medienbereich aber auch von der anderen Seite der Mediennutzer oder Rezipienten her beleuch‐ ten. Innerhalb der gegenwärtigen Medienethik gewinnt die Ethik der Re‐ zipienten oder Rezipientenethik immer größere Bedeutung. Nicht länger überträgt man die Verantwortung für die negativen Entwicklungen in der Medienlandschaft allein den Journalisten oder Produzenten, sondern rückt die Rezipienten als aktive Subjekte des Mediensystems ins Zentrum. Unter‐ sucht werden die Möglichkeiten eines verantwortungsvollen Umgangs der Nutzer mit den Medien, und die Förderung von Medienkompetenz wurde als wichtige Aufgabe von Schule und Erziehung erkannt. Die Grundfragen in der Medienethik lauten daher: Wie sollen wir als Produzenten und Rezi‐ pienten medialer Kommunikation handeln? (vgl. Thies, 206). Entsprechend dieser beiden Perspektiven gliedert sich das vorliegende Kapitel in die „Produzentenethik“ (Kap. 6.1) und die „Rezipientenethik“ (Kap. 6.2). Der Prozess der Digitalisierung hat dazu geführt, dass die Mediennutzer oder -rezipienten in den digitalen Medien jederzeit auch zu Medienproduzenten werden können. Ein zusätzliches eigenes Kapitel wird daher dem Internet gewidmet, in dem die klare Trennung von Produzenten und Rezipienten häufig durch Interaktivität überwunden ist (Kap. 6.3). 317 6 Medienethik <?page no="318"?> Medienethik Produzentenethik (Kapitel 6.1) Internetethik (Prosumentenethik) (Kapitel 6.3) Rezipientenethik (Kapitel 6.2) Theorien und Prinzipien der Medienethik Bezüglich der theoretischen Grundlagen dominieren in der Medienethik de‐ ontologische Ansätze gegenüber konsequentialistischen (vgl. Brosda u. a. 2010, 12f.): Gefragt wird nach Handlungsprinzipien, Sollensforderungen oder Moralkodizes für Medienschaffende, wobei in Frankreich die journalistische Berufsethik sogar als „Déontologie“ bezeichnet wird. Teilweise werden in der Medienethik auch tugendethische Konzepte bemüht und Tugenden wie Mut, demokratisches Engagement oder die Tugend des Maßhaltens bzw. Mäßigung sowohl für Produzenten als auch für Rezipienten eingefordert (vgl. ebd., 12/ Funiok 2011, 38ff.). Wie in den meisten anderen Bereichsethiken spielt zudem der Begriff der Verantwortung in der Medienthik eine wichtige Rolle (vgl. Kap. 4 und 5). In fast allen medienethischen Erörterungen trifft man auf diese ethische Schlüsselkategorie und auf mehr oder weniger ausgearbeitete Verant‐ wortungskonzeptionen (vgl. Funiok 2011, 63-79/ Debatin 2004, 40 ff./ Funiok u.a., 23ff.). Das mehrstellige Verantwortungs-Konzept bildet aber selbst kein inhaltliches ethisches Prinzip, sondern setzt immer schon bestimmte Werte und Normen für die Beurteilung der zu verantwortenden Handlungen voraus (vgl. ebd., 78). Zumeist beziehen sich Medienethiker auf einen „weitgehend unkontroversen Wertkanon“ wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Achtung der Menschenrechte und Schutz der Privatsphäre (vgl. Heesen 2011, 269/ Faul‐ stich, 81/ Lenzen, 206). Wenn in der Medienethik solche Wertlisten begründet werden, wird durchweg auf reflexive, kommunikations- oder diskursethische Begründungsmodelle zurückgegriffen (vgl. Arens, 273; Debatin 2002, 229f.; Greis, 97; Loretan, 154ff.; Lesch; Brosda; Hütig; T. Schultz). Die Bezugnahme auf die deontologische Diskursethik legt sich insofern nahe, als es bei dem zu beurteilenden Handeln um Kommunikationsprozesse geht. Bei Habermas selbst findet man zwar lediglich vereinzelte kritische Reflexionen zur massenmedialen Kommunikation, und weder er selbst noch andere Diskursethiker haben eine systematische Produzenten- oder Rezipientenethik entwickelt (vgl. Arens, 73; 318 6 Medienethik <?page no="319"?> Brosda 2000, 109f.). Gleichwohl haben aber Medientheoretiker versucht, die von den Diskursethikern aufgedeckten universalen Strukturen von Kommunikation für eine Grundlegung der Medienethik zu nutzen (vgl. Greis, 9; Arens; Hütig; T. Schultz). zentrales Konzept in der Medienethik: Verantwortung Problem: ohne normative Standards/ Wertmaßstäbe ist „Verantwortung“ ein inhaltsleeres Prinzip ↓ Wertorientierte Ansätze: allgemein anerkannter Wertkanon z.B. Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrung der Menschenwürde und -rechte Problem: Begründung dieser Werte erforderlich → reflexive, kommunikations- oder diskursethische Begründungsmodelle Diskursethik Ausgangspunkt des diskursethisch orientierten Begründungsgangs sind die drei von Habermas eruierten Geltungsansprüche, die ein Sprecher bei jedem kommunikativen Akt immer schon voraussetze: den Anspruch auf Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normative Richtigkeit (vgl. Habermas 1996, 68). Sie werden allerdings nur beim kommunikativen Handeln erhoben, d. h. bei einer ge‐ meinsamen Verständigung über Phänomene der Lebenswelt mit dem Ziel eines rationalen Konsenses (vgl. ebd.). Demgegenüber will man beim strategischen Handeln mit Suggestionen, Verhandlungen oder Gewalt auf den Gesprächs‐ partner Einfluss nehmen, um bestimmte persönliche Ziele zu erreichen. Die Gel‐ tungsansprüche kommunikativen Handelns werden als „ethische Universalien“ bezeichnet, an denen jede Medienkommunikation gemessen werden müsse (vgl. Arens, 90f.): Wahrheitsorientierung verlange, nur Behauptungen aufzustel‐ len, von deren Wahrheit man selbst überzeugt ist, und im Gespräch mit anderen stets nach einer gemeinsamen, geteilten Wahrheit zu suchen. Wahrhaftigkeit liege dann vor, wenn die Personen sich mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Gedanken in ihre Kommunikationsprozesse einbringen und als Personen für das Gesagte geradestehen. Anstelle des Anspruchs auf normative Richtigkeit bei Habermas wird als dritte ethische Universalie die Gerechtigkeit aufgeführt. „Gerechtigkeit“ ist nach Habermas bereits in der gegenseitigen Anerkennung aller Teilnehmer im Diskurs angelegt. „Gerecht“ bzw. „normativ richtig“ wären Handlungsregeln, wenn die Konsequenzen ihrer Befolgung von allen Betroffe‐ nen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses akzeptiert werden können 319 6 Medienethik <?page no="320"?> (vgl. Habermas 1992, 155; 1996, 118). Um im Medienbereich Gerechtigkeit zu realisieren, müsse jedes Gesellschaftsmitglied am öffentlichen medialen Diskurs partizipieren können und sich für gerechte Verhältnisse einsetzen (vgl. Arens, 92f.). Mediale Kommunikation wäre daraufhin zu untersuchen, „ob und inwiefern sie partizipatorische Formen von Kommunikation anzielt, unterstützt und ermöglicht“ bzw. „inwiefern sie bestehende Verhältnisse verzerrter bzw. restringierter, vermachteter öffentlicher Kommunikation aufdeckt und auf deren Überwindung hinarbeitet“ (ebd., 96). Begründungsmodell in Anlehnung an die Diskursethik: Ableitung von Normen aus den drei Geltungsansprüchen kommunikativen Handelns 1) Wahrheit: nur etwas aussagen, von dessen Wahrheit man überzeugt ist 2) Wahrhaftigkeit: Übereinstimmung von Aussagen mit Gefühlen/ Meinungen 3) Gerechtigkeit: alle dürfen sich gleichberechtigt an der massenmedialen Kommunikation beteiligen und setzen sich für gerechte Verhältnisse ein Problem: nicht bei allen Formen massenmedialer Kommunikation angemessene Ansprüche Massenmedial vermittelte Kommunikation unterscheidet sich allerdings von direkten zwischenmenschlichen Interaktionen etwa dadurch, dass viele Beiträge anonym und ohne Adressatenbezug in den Kommunikationsraum eingespeist werden (vgl. Hütig, 115f.). Bei Zeitungen oder im Rundfunk handelt es sich trotz der Möglichkeit von Leserbriefen an die Redaktion um eine lineare, monologische, nicht partizpiatorische Kommunikation. Sie lässt sich am besten abbilden im Verlautbarungsmodell (a) öffentlicher Kommunikation (vgl. Neidhardt, 25). Nicht leicht zu erfüllen ist die oft an die Journalisten heran‐ getragene Erwartung, jedem potentiellen Teilnehmer eines Diskurses eine Stimme zu verschaffen oder alle Personengruppen proportional zu ihrem Anteil in der Bevölkerung zu berücksichtigen. Selbst wenn Einzelpersonen oder Minderheiten die Chance gegeben wird, ihr Leben und ihre Interessen öffentlich darzustellen, handelt es sich oft um fremdbestimmte Inszenierungen (vgl. T. Schultz, 130f.). Viele Diskussionsrunden oder Talkshows gehorchen demgegenüber dem zweiten Modell, dem Agitationsmodell (b) öffentlicher Kommunikation (vgl. Neidhardt, 25): Statt die Gesprächspartner anzuerkennen und ihre Beiträge argumentativ zu erwidern, greift man sie persönlich an und versucht, ihre Beiträge zu diskreditieren. Es wird bei solchen Formaten nicht kommunikativ, sondern primär strategisch gehandelt. Hier kommt es weniger auf diskursethische Ansprüche wie Wahrheit, Wahrhaftigkeit oder normative 320 6 Medienethik <?page no="321"?> Richtigkeit als auf Schlagfertigkeit, Polemik, Lockerheit und Amusement an (vgl. Schicha 2003, 200). Wenn sich Talkshowrunden gute Unterhaltung und theatrale Inszenierung zum Ziel setzen, entfernt man sich natürlich weitestmöglich vom dritten Modell, dem Diskursmodell (c) öffentlicher Kommunikation (vgl. ebd., 184f.; Neidhardt, 25). Obwohl an reine Unterhaltungssendungen kaum die gleichen Ansprüche eines hohen Argumentationsniveaus erhoben werden können, sind allgemeine „Kriterien der argumentativen Mindestbedingungen von Mediendebatten“ nötig (Schicha 2003, 201). Auch sollte das Diskursmodell der Kommunikation mit sachlichem Informations- und Argumentationsgehalt nicht mehr und mehr durch Unterhaltung und Infotainment verdrängt werden (vgl. Kap. 6.1.2). Modelle öffentlicher Kommunikation a) Verlautbarungsmodell b) Agitationsmodell c) Diskursmodell Monologe mit wenigen bzw. ohne interaktive Momente Gesprächspartner sind Konkurrenten und dis‐ kreditieren sich wech‐ selseitig (strategisches Handeln) argumentative, konsens‐ orientierte Auseinander‐ setzung zwischen sich wechselseitig anerkennen‐ den Gesprächspartnern (kommunikatives Han‐ deln) z. B. Zeitungen, Unter‐ haltungssendungen, Info‐ tainment z. B. viele Talkshows im Fernsehen z. B. sachliche Diskussi‐ onsrunden im Rundfunk ethisches Gebot: dem Diskursmodell (c) ausreichend Raum geben Kommunikative Ethik Die sich auf die moderne Sprachphilosophie und die Diskursethik bezie‐ hende kommunikative Ethik versucht, die kommunikativen Rechte zu re‐ konstruieren, die allen Gesprächsteilnehmern in einer interpersonalen Kom‐ munikation notwendigerweise zugestanden werden müssen. Ihr Vertreter Bernhard Debatin geht nicht von diskursethischen Geltungsansprüchen aus, sondern leitet aus den Voraussetzungen menschlicher Kommunikation lediglich grundlegende moralische Rechte als Fundament für eine Medien‐ ethik ab (vgl. Debatin 2002, 229 f.): Wer ernsthaft und mit dem Ziel einer kommunikativen Verständigung in eine interpersonale Kommunikation eintritt, muss anderen Menschen die gleichen kommunikativen Rechte ein‐ 321 6 Medienethik <?page no="322"?> räumen, die er selbst für sich beansprucht. Das sind ganz allgemein gespro‐ chen gegenseitige Achtung und Gerechtigkeit, etwas konkreter die Rechte auf Rede-, Meinungs- und Informationsfreiheit, informationelle Selbstbe‐ stimmung, informationelle Gerechtigkeit und informationelle Grundversor‐ gung. Während Informationsfreiheit den freien Zugang zu öffentlichen Dokumenten meint, bedeutet das Recht auf informationelle Selbstbe‐ stimmung, selbst bestimmen zu dürfen, was über die eigene Person veröf‐ fentlicht wird. Demgegenüber verlangt informationelle Gerechtigkeit sowohl gleiche Beteiligung am medialen Diskurs als auch gleichen Zugang zu Informationen, sodass z. B. der weltweite (Computer-)Analphabetismus zu überwinden wäre und allen Menschen ein Internetanschluss zur Verfü‐ gung gestellt werden müsste. Das sind sowohl ethische als auch juristische Rechte, die also auch schriftlich fixiert und mit Sanktionen wie Bußen und Gefängnisstrafen belegt sind. Man findet sie in vielen Gesetzeswerken von Staatsverfassungen und in Menschenrechtskatalogen verankert, z. B. das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen sowie in Artikel 5 des Grundgesetzes der BRD. Die Rechtsetzung ist hier „grundsätzlich ethisch verwurzelt und lässt sich durch ethische Argumentation rechtfertigen“ (Funiok u. a., 26 f.). Kommunikative Ethik (allgemein): Ableitung grundlegender normativer An‐ sprüche aus den Voraussetzungen menschlicher Kommunikation Rechte auf - Rede-, Meinungs- und Informationsfreiheit - informationelle Selbstbestimmung - informationelle Gerechtigkeit - informationelle Grundversorgung Obwohl über die kommunikationsethischen Grundrechte hinaus noch wei‐ tere medienethisch relevante Rechte wie die Persönlichkeitsrechte oder der Jugendschutz gesetzlich verankert sind, machen solche Gesetze medienethi‐ sche Reflexionen niemals überflüssig (vgl. dazu Funiok 2002, 42 f.). Denn zum einen sind moralische Normen sehr viel flexibler als juristische Regelungen und können dadurch rascher auf medientechnische Verände‐ rungen und damit einhergehende neue Probleme reagieren (vgl. Kap. 1.1). Zum anderen ergeben sich in der Medienpraxis permanent Widersprüche zwischen einzelnen Rechten wie typischerweise zwischen der Informations‐ 322 6 Medienethik <?page no="323"?> freiheit und dem Recht auf Privatsphäre. Drittens sind viele Rechte wie etwa dasjenige auf „informationelle Grundversorgung“ interpretationsbedürftig. Gehört beispielsweise die Übertragung von Fußballspielen und Unterhal‐ tungssendungen auch dazu? In all diesen Fällen ist ein hohes Maß an ethischer Urteilskraft der beteiligten Akteure bzw. der Gemeinschaft als Kol‐ lektiv erforderlich. Viertens stellen übernational ausgerichtete Neue Medien wie das Internet die Rechtsprechung vor schwierige Aufgaben: Wenngleich Fragen wie diejenige nach den zulässigen Grenzen von Pornographie oder Gewalt eigentlich auf internationaler Ebene beantwortet werden müssten, ist eine Einigung aufgrund unterschiedlicher kultureller Wertvorstellungen oft schwierig (vgl. Wiegerling, 167). Wie in Kapitel 1.1 gezeigt, ergänzen sich Moral und Recht im Idealfall gegenseitig. Viele medienethische Normen sind in der Praxis zu schwach und müssen durch rechtliche Regulierungen unterstützt werden. Die äußere Steuerungsmöglichkeit des Rechts ersetzt aber niemals die ethische Einsicht und die Bereitschaft zur Selbstbindung und Selbstverpflichtung aller am Mediensystem Beteiligten. Medien-Selbstkontrolle Um die verfassungsrechtlich geschützte Medienfreiheit (Rundfunk- und Pressefreiheit) zu wahren und eine Fremdkontrolle oder Fremd‐ zensur durch staatliche Behörden oder Gesetze zu vermeiden, haben die Medienschaffenden Richtlinien und Instanzen der Medien-Selbst‐ kontrolle institutionalisiert. Medien-Selbstkontrolle umfasst alle von Teilen des Mediensystems anerkannten Normen und Organe mit dem Ziel, das Berufsethos nach innen aufrecht zu erhalten und der besonde‐ ren Verantwortung nach außen gegenüber der Öffentlichkeit und dem Gemeinwohl gerecht zu werden (vgl. Stapf 2010, 170). Diese „sanfte“, freiwillige und autonome Selbstregulierung soll helfen, die Medienschaf‐ fenden moralisch zu sensibilisieren, Fehlverhalten zu verhindern und ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber potentiell Betroffenen und der Gesellschaft zu erhöhen. Da eine Verrechtlichung mit Sanktionierungs‐ maßnahmen fehlt, drohen die Regelwerke und Rügen der Institutionen der Medien-Selbstkontrolle allerdings bloße Appelle oder Alibiübungen zu bleiben (vgl. ebd., 164). Exemplarisch für die BRD gehören zu den wichtigsten Kontrollinstanzen der Deutsche Presserat (seit 1956), der Deutsche Werberat (seit 1972) und der Deutsche Rat für Public Relations (seit 1987), die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen FSF (seit 1994), die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle USK (seit 1994) und die Freiwil‐ 323 6 Medienethik <?page no="324"?> lige Selbstkontrolle Multimediale Dienstanbieter FSM (seit 1997). Dabei betreffen etwa die wichtigsten publizistischen Grundsätze des Deutschen Presserats typischerweise die Achtung vor der Wahrheit und die Wah‐ rung der Menschenwürde sowie die Vermeidung von unangemessenen sensationellen Darstellungen von Gewalt und Brutalität. Allerdings ist darüber hinaus für Fälle schwerer medienethischer Verstöße auch noch eine politisch-rechtliche Steuerung erforderlich. Zu denken ist z. B. an das Verbot der Verbreitung kinderpornographischer Inhalte. Gerade mit Blick auf das Internet mit seiner internationalen Struktur, das fälsch‐ licherweise häufig als „rechtsfreier Raum“ bezeichnet wird, braucht es eine interkulturelle Einigung auf gemeinsame ethische Grundprinzipien und internationale Gesetze und Kontrollen. Organisationen zur medialen Selbstkontrolle: Verpflichtung von Teilberei‐ chen des Mediensystems zu selbstgesetzten ethischen Grundsätzen und Normen - Werberat, Presserat, Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Freiwillige Selbstkontrolle Multime‐ dia-Dienstanbieter (FSM), Unterhalungssoftware Selbstkontrolle (USK) - Normenkataloge in verschiedenen Internetforen (Netiquetten, Chatiquetten) → von zentraler Bedeutung für die Institutionalisierung der individuellen Verantwortung der Medienschaffenden 6.1 Produzentenethik Anschauungsbeispiel 1: Der Stern-Redakteur Gerd Heidemann erhält 1980 Kontakt zu einem Fälscher, der behauptet, im Besitz der Hitler-Tagebücher zu sein. Er überzeugt die Verlagsleitung von deren Echtheit, und sie werden nacheinander für 9,3 Mio DM erworben. Man holt den Rat von Schriftexperten ein, die allerdings unwissentlich Vergleichsschriftproben aus der Hand desselben Fälschers vorgelegt bekommen. Bevor die Gutachten des Bundeskriminalamts und des Bundesamts für Materialforschung und -prüfung eintreffen, werden die ersten beiden Tagebücher im „Stern“ als authentische Zeitdokumente veröffentlicht. Jene Gutachten können aber zweifelsfrei nachweisen, dass die verwendeten Materialien erst nach dem 2. Weltkrieg hergestellt wurden. Wer hat hier verantwortungslos gehandelt? 324 6 Medienethik <?page no="325"?> Anschauungsbeispiel 2: Am Morgen des 16. August 1988 drangen bewaffnete Bankräuber in eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck ein und nahmen zwei Bankangestellte als Geiseln. Sie forderten ein Fluchtauto und Lösegeld und wurden zum ersten Mal von einem Rundfunksender interviewt. Als sie bemerkten, dass sie im Fluchtauto von der Polizei verfolgt wurden, nahmen sie einen Linienbus mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt. Sie standen der Presse Rede und Antwort, und auch die beiden Geiseln aus der Bank wurden mit der Pistole an der Kehle interviewt. Im weiteren Gang der Verfolgungsjagd mit mehreren Toten und Verletzten boten sich die Journalisten und Fotographen den Geiselnehmern immer wieder als Vermittler und Lotsen an. Jeder wollte dem Geschehen am nächsten sein und die besten Bilder schießen. Damit behinderten sie das Eingreifen der Polizei und gaben den Verbrechern ein Forum ungeahnter öffentlicher Aufmerksamkeit. Wo sind die Grenzen legitimer Berichterstattung über Gewaltverbre‐ chen, wenn das Leben von Menschen auf dem Spiel steht? Anschauungsbeispiel 3: In einer der größten Polit-Affären der Nachkriegszeit musste Uwe Bar‐ schel, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wegen des Verdachts auf Wahlfälschung 1987 zurücktreten. Neun Tage später drang ein Stern-Journalist in Barschels Zimmer eines Genfer Hotels ein, weil er ihn interviewen wollte. Als er ihn tot in der Badewanne aufspürte, knipste er ab. Das Foto des toten Barschel in der Badewanne wurde als ein „wichtiges Zeitdokument“ im „Stern“ publiziert und aufgrund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit eine Woche später nochmals abgedruckt. Wurden mit dem ersten oder zweiten Abdruck des Fotos persönliche Rechte des Toten verletzt oder handelte es sich um ein wichtiges Zeitdokument? 325 6.1 Produzentenethik <?page no="326"?> Zu den Adressaten der Produzentenethik gehören neben Journalisten etwa auch Fotographen, PR-Leute, Werbedesigner, Regisseure, Produktions‐ leiter, Kameraleute, Moderatoren und Entertainer (vgl. Funiok 2007, 127; Rosenthal, 139). Wenn von Medienethik die Rede ist, denken die meisten an den traditionsreichsten Teilbereich der Produzentenethik: die journalisti‐ sche Ethik oder Journalismusethik (vgl. Brosda 2010, 258; 273). Eine große Zahl der in der breiten Öffentlichkeit diskutierten Konflikte entzündet sich an journalistischen Fehlleistungen wie in den Anschauungsbeispielen 1-3, die sich teilweise zu regelrechten Medienskandalen ausweiten. Nach wie vor wird den Journalisten die wichtige gesellschaftliche Aufgabe über‐ antwortet, Öffentlichkeit herzustellen, d. h. Sachverhalte und Vorgänge von allgemeinem Interesse zu veröffentlichen. Über dieses Prinzip der Veröf‐ fentlichung hinaus wird von ihnen aber auch erwartet, dass sie eine Kritik- und Kontrollfunktion gegenüber Gesellschaft, Politik und Wirtschaft wahrnehmen und die relevanten Geschehnisse kritisch reflektieren, einord‐ nen und bewerten (vgl. Schicha 2019, 86). Als jedoch das Internet seit der Jahrhundertwende zu einer zunehmenden Verlagerung der Print-Medien auf Online-Publikationen und zur Ausbreitung eines erstarkenden Laien- und Bürgerjournalismus führte, geriet der klassische Journalismus in eine tiefe Krise (vgl. Schweiger u. a., 7). Das Internet kann insofern als disruptive Technologie gelten, als seine Popularisierung Printmedien und Rundfunk in hohem Maß verdrängten und ein Zeitungssterben auslöste (vgl. Debatin 2015, 56 f.). Zu den ökonomischen Schwierigkeiten infolge schwindender Verkaufs- und Abonnementserlöse kommt aber noch eine Legitimations‐ krise hinzu: 2014 wurde der Ausdruck „Lügenpresse“ zum „Unwort“ des Jahres gekürt, mit dem den traditionellen Medien ihre Glaubwürdigkeit bei der Berichterstattung abgesprochen wird. Trotz der steigenden Zahl derer, die als Hauptnachrichtenquelle die Social Media angeben, informiert sich aber der Großteil der Deutschen noch heute über die klassischen Medien Fernsehen, Radio und Zeitungen (vgl. P. Grimm u. a., 113). Rundfunkanstalten sind entweder privatwirtschaftlich organisiert oder haben sich im Modell des „Service public“ (frz. „öffentliche Dienstleistun‐ gen“) oder Treuhandmodell gegenüber dem Staat auf gemeinwohlorien‐ tierte Leistungen verpflichtet (vgl. Loretan, 175 f.). Da sich die privatwirt‐ schaftlichen und die öffentlich-rechtlichen Mediensysteme gewissermaßen als Konkurrenten gegenüberstehen, sorgt das deutsche duale Rundfunksys‐ tem immer wieder für Zündstoff. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk‐ anstalten wie z. B. die britische BBC, die deutschen Fernsehsender ARD und 326 6 Medienethik <?page no="327"?> ZDF oder das Deutschlandradio werden zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit aus Rundfunkgebühren bezahlt. Um die informationelle Grundversorgung sicherzustellen, sollen sie durch eine flächendeckende Verbreitung sämtliche relevanten Sachverhalte öffentlich machen, die Vielfalt der Meinungen im Wesentlichen zum Ausdruck bringen und alle bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen und auch die Minderheiten angemessen zu Wort kommen lassen (vgl. § 25 des Rundfunkstaatsvertrags, kurz: RStV). Die Gebührenfinanzie‐ rung soll es den öffentlich-rechtlichen Medien erlauben, auch Sendungen in ihr Programm aufzunehmen, die nur für einen kleinen Teil des Publikums von Interesse sind. Ihr öffentlicher Auftrag besteht darin, den Prozess freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu fördern und den Zusammenhalt in der Gesellschaft und zwischen den Völkern zu stärken (vgl. § 11). Zudem wird von ihnen ein breites, ausgewogenes Angebot von Bildung, Information, Beratung, Kultur und Unterhaltung erwartet (vgl. ebd.). Sie haben also im Sinne des Integrationsmodells einen klaren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen (vgl. Schicha 2019, 37). Damit die Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen und Interessen angemessen repräsentiert werden kann, sind die Rundfunkräte aus Ver‐ tretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sowie aus Mitgliedern von Parlament und Landesregierungen zusammengesetzt. Anders als der zu einem Großteil staatlich finanzierte öffentlich-recht‐ liche Rundfunk funktionieren die ökonomisch-privatwirtschaftlichen Medien nach dem Marktmodell (vgl. Schicha 2019, 37). Sie finanzieren sich größtenteils über Gebühren der Zuschauer oder über Werbung, deren Preise sich an den Rundfunk-Einschaltquoten, den Verkaufszahlen von Printprodukten oder der Summe an Internet-Klicks bemessen. In einem ver‐ schärften Wettbewerb kämpfen die Medienunternehmen um Publikum und um das knappe Gut der Aufmerksamkeit. Die größte Resonanz scheint sich mit Sensationsmeldungen und insbesondere sensationshaschenden Bildern, mit Skandalisierung und Alarmismus erzielen zu lassen. Boulevard-Medien wie die BILD-Zeitung nehmen daher ganz bewusst moralische Verstöße in Kauf, um den Voyeurismus und die Sensationslust des Publikums zu bedienen und den kommerziellen Profit zu steigern. Ethische Fehlleistungen wie Verletzungen von Persönlichkeitsrechten oder Verfälschungen von Tatsachen werden also oft im ökonomischen Interesse begangen (vgl. dazu Wiegerling, 159 ff.; 162). Infolge der „Ökonomisierung des Journalismus“ geraten somit ethische Anliegen immer stärker mit ökonomischen Interes‐ 327 6.1 Produzentenethik <?page no="328"?> sen in Konflikt. Der mit der steigenden medialen Konkurrenz wachsende Aktualitäts- und Sensationsdruck lässt aber auch die öffentlich-rechtlichen Medien nicht unberührt. Vermehrt wird ihnen vorgeworfen, sie würden ihre Programmgestaltung im Konkurrenzkampf mit den privaten Rundfunkan‐ stalten immer mehr an jene angleichen und ihrem Programmauftrag der informationellen Grundversorgung und pluralistischen Meinungsbildung nicht mehr ausreichend nachkommen. Die Verlagerung von gesellschaft‐ lichen Aufgaben wie Aufklärung, Kontrolle, Bildung und Erziehung hin zu Skandalisierung, Emotionalisierung, Personalisierung und Unterhaltung wird als journalistische Boulevardisierung bezeichnet (vgl. Brosda 2010, 269 f.; Dernbach, 152). Marktprinzip und Medienfreiheit Klagen über den zunehmenden Boulevard- oder Skandaljournalismus wer‐ den häufig mit dem Angebot-und-Nachfrage-Argument zurückgewie‐ sen, demzufolge beim Streben nach hohen Einschaltquoten automatisch die Bedürfnisse und Interessen der Rezipienten am besten erfüllt werden. Wenn die breite Masse also billige Unterhaltung, Gewalt oder Sex statt Nachrichten, Bildung und Kultur wünsche, solle man es ihr bieten. Gegen dieses Argument und die von Libertariern geforderte uneingeschränkte Herrschaft des Marktprinzips gibt es zahlreiche allgemeine individual- und sozialethische Einwände, die hier nicht alle relevant sind. Aus individual‐ ethischer Perspektive können sich die Einzelnen darüber täuschen, was ihnen tatsächlich (langfristig) guttut: Sie können unreflektierte, unaufge‐ klärte Wünsche haben, die auf falschen Annahmen über Sachverhalte oder Wirkzusammenhänge basieren und entsprechend bei ihrer Erfüllung uner‐ wünschte Wirkungen für die Betroffenen zeitigen. Weiter unten werden mögliche negative Auswirkungen eines exzessiven Konsums von seichten Unterhaltungsangeboten, Gewalt und Pornographie diskutiert (vgl. Fenner 2019, 71). Aus sozialethischer Perspektive kann ein vom Publikum nach‐ gefragtes Angebot dann nicht ethisch legitim sein, wenn bei der Produktion oder durch die Veröffentlichung anderen Menschen Schaden zugefügt wird. Zu denken ist an journalistische Methoden wie das Witwenschütteln oder das Zurschaustellen von Menschen in entwürdigenden Lebensbedingungen (vgl. unten, S. 344). Darüber hinaus ist es für ein gelingendes Zusammenle‐ ben in liberalen Demokratien entscheidend, dass die Menschen hinreichend über relevante Geschehnisse und öffentliche Angelegenheiten informiert werden und eine kulturelle Identität und ein Verantwortungsbewusstsein 328 6 Medienethik <?page no="329"?> hinsichtlich des Allgemeinwohls entwickeln. Die gemeinwohlorientierten Aufgaben der Wissensvermittlung, öffentlichen Meinungsbildung und ge‐ sellschaftlichen Integration dürfen keineswegs allein den Kräften des Mark‐ tes oder den öffentlich-rechtlichen Medien überantwortet werden. Vielmehr ist zu fordern, dass auch der Informationsgehalt von Boulevardmedien wie der BILD-Zeitung gesteigert wird (vgl. Wiegerling, 159 ff.; Schicha 2019, 118). Verantwortung der Medienschaffenden In der journalistischen Ethik wird meist über die individuelle Verantwor‐ tung einzelner Medienschaffender diskutiert. Die meisten von ihnen sind aber Angestellte in einem arbeitsteilig organisierten Medienunternehmen oder wirken als freie Mitarbeiter in Redaktionen mit. Daher kann die Verantwortung für die Produktion, Bereitstellung und Rezeption ethisch problematischer Medieninhalte nur selten einzelnen Subjekten des Medien‐ systems übertragen werden. So legt ein Unternehmen bestimmte Strategien wie beispielsweise den Ausbau einer attraktiven Serie fest, eine Redaktion entscheidet sich für eine zuschauerträchtige Machart des TV-Formats und erwartet vom Journalisten nun reißerische Beiträge, die dann von weiteren Mitarbeitern in einen bestimmten Kontext gestellt werden (vgl. Funiok 2002, 45). Wenn dabei ein moralisch problematisches Resultat herauskommt, tra‐ gen alle Beteiligten eine persönliche Verantwortung für ihren jeweiligen individuellen Beitrag. Darüber hinaus muss das Unternehmen als Ganzes eine institutionelle oder kollektive Verantwortung für die entstandenen negativen Folgen übernehmen, die jeder Beteiligte mitträgt (vgl. ebd., 46). Geteilte Verantwortung in arbeitsteiligen Prozessen bedeutet aber keine Division der Verantwortung durch die Anzahl der Beteiligten, sondern le‐ diglich eine gerechte und angemessene Distribution der Mitverantwortung je nach Stellung und Einfluss des Einzelnen im Unternehmen (vgl. ebd.; Thies, 208). Für ein allfälliges Schundprodukt können nichtsdestotrotz alle beteiligten Medienproduzenten gleichermaßen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch in diesem Handlungsbereich muss die Akteursethik mit ihrem individualethischen Verantwortungskonzept ergänzt werden durch eine Institutionenethik mit organisatorischen Bedingungen wie z. B. demokratische Partizipationsmöglichkeiten der Mitarbeiter und Ombuds‐ stellen in Medienunternehmen, Berufs- und Standesorganisationen wie Journalistenverbände oder Gremien der Medien-Selbstkontrolle (vgl. Kap. 1.1, S. 17; oben, S. 323f.). 329 6.1 Produzentenethik <?page no="330"?> Obgleich es in medienethischen Debatten in aller Regel um die retro‐ spektive Verantwortung für einen bereits eingetretenen Schaden geht, können Unternehmen oder Einzelpersonen nur deswegen im Nachhinein („retrospektiv“) zur Verantwortung gezogen werden, weil sie schon zu‐ vor („prospektiv“) bestimmte rollenspezifische Pflichten und Aufgaben übernommen haben (vgl. Kap. 4.2, S. 218f.). Während sich diese Zustän‐ digkeits-Verantwortung oder prospektive Verantwortung bei anderen Berufsgruppen wie z. B. den Ärzten oder Wissenschaftlern aus einem einheitlichen Berufsethos ergibt, scheinen die konkreten Anforderungen der verschiedenen Medienschaffenden im Prozess der Medienproduktion sehr unterschiedlich zu sein. Denn auch wenn alle Produzenten mit dem Sam‐ meln, Prüfen, Auswählen und Verarbeiten von Informationen beauftragt sind, gibt es doch verschiedene Verpflichtungen und Qualitätsmaßstäbe in den drei großen Bereichen Nachrichten und Meinungen (Kap. 6.1.1), Unterhaltung (Kap. 6.1.2) und Werbung (Kap. 6.1.3). Allgemein begründet die journalistische Ethik ein Trennungsgebot, das zur Sicherung der informierenden und orientierenden Funktion der Massenmedien die klare Erkennbarkeit von Information, Fiktionalisierung und Marketing verlangt (vgl. Brosda 2010, 267). Bezüglich der Trennung von Berichterstattung/ Mei‐ nungsbildung und Unterhaltung wurde die Unterscheidung zwischen E- und U-Journalismus vorgeschlagen in Analogie zur Differenz von E- und U-Musik (vgl. Thurnherr, 102). Im Folgenden wird näher konkretisiert, welche ethischen Beurteilungskriterien in den drei Teilbereichen besonders zu berücksichtigen sind. Produzentenethik: Berufsethik der Medienschaffenden, die sich mit den ethi‐ schen Problemen bei der professionellen Tätigkeit des Sammelns, Prüfens, Aus‐ wählens oder Verarbeitens von Informationen für Massenmedien befasst Medienschaffende: Redakteure, Fotographen, Werbeleute, Regisseure, Produk‐ tionsleiter, Kameraleute, Moderatoren und Entertainer allgemeines Trennungsgebot: klare Abtrennung und Erkennbarkeit von Nach‐ richten/ Meinungen, Unterhaltung und Werbung 330 6 Medienethik <?page no="331"?> Produzentenethik Nachrichten und Meinungen (Kapitel 6.1.1) Unterhaltung (Kapitel 6.1.2) Werbung (Kapitel 6.1.3) 6.1.1 Nachrichten und Meinungen Eine zentrale Aufgabe der Medienschaffenden besteht zweifellos darin, gleichsam „Mittlerin“ zu sein zwischen den Rezipienten und der immer kom‐ plexer werdenden gemeinsamen Lebenswirklichkeit. Die öffentlich-recht‐ lichen Rundfunkanstalten verpflichten sich explizit dazu, „in ihren Ange‐ boten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben“ (RStV, § 11). Als „Anwälte der Öffentlichkeit“ haben sie die Infor‐ mationen und Themen bereitzustellen, die für alle Gesellschaftsmitglieder Orientierung bieten (vgl. Funiok 2007, 129; Russ u. a., 180). Hinsichtlich dieses Ziels der Wissensvermittlung kommt den Medienschaffenden ähnlich wie den Wissenschaftlern ein Erkenntnisauftrag zu (vgl. Wiegerling, 163). Genauso wichtig wie die Wissensvermittlung ist daneben aber die Artikulation der eigenen Meinung durch die Medienschaffenden zum Zweck der Meinungsbildung der Rezipienten (vgl. ebd., 164). Während Nach‐ richten im Zeichen der Wahrheit möglichst nüchtern, objektiv und ohne persönliche Färbung verfasst werden sollen, sind Meinungen subjektive Interpretationen, Kommentare und wertende Stellungnahmen zu den Tatsa‐ chen und Geschehnissen der intersubjektiv zugänglichen Welt. Die ethische Grundregel in diesem Bereich lautet: „Comment is free, but facts are sacred“ (Dernbach, 152). Auch in Zeitungen mit dem Schwerpunkt Berichterstattung gibt es viele fest etablierte Meinungsformen wie „Kommentar“, „Leitartikel“, „Kolumne“ oder „Glosse“. Wenn Journalisten, Redakteure, Moderatoren und Regisseure ein hohes Urteilsvermögen an den Tag legen und auf hohem Re‐ flexionsniveau Argumente und Gegenargumente gegeneinander abwägen, können sie einen bedeutenden Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leisten. Da die Massenmedien insbesondere in demokratischen Gesellschaf‐ ten für die politische Willensbildung unverzichtbar sind, nennt man sie gern die „vierte Gewalt“ im Staat. 331 6.1 Produzentenethik <?page no="332"?> 1) Wahrheit oder Objektivität In den Augen der meisten Medienethiker ist die Achtung vor der Wahrheit das oberste Gebot für Medienschaffende im Nachrichtenbereich (vgl. Leiner, 163; Wunden 1999, 46; T. Schultz, 129; Faulstich, 86). Andere sprechen lieber von Objektivität, „Sachlichkeit“ oder „Richtigkeit“ (vgl. Funiok 2007, 130; Rager, 81 f.; Stolte, 193; Thomaß, 164). Einige machen noch stärkere Vorbehalte: Es könne auch von „Objektivität“ nicht oder nur in Anführungs‐ zeichen gesprochen werden, weil der Mensch die Gegenstände und Ereig‐ nisse seiner Umwelt gar nicht „an sich“ erkennen könne und „Objektivität“ daher lediglich eine Fiktion darstelle (vgl. Weil, 226 f.; Weischenberg, 227; Brosda 2010, 267). Damit ist eine erkenntnistheoretische Kontroverse ange‐ sprochen, deren Positionen in der Philosophie hier nur grob skizziert werden können: Der Realismus geht davon aus, dass eine objektive Wirklichkeit unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert und dass der Mensch mittels seiner Sinnesorgane und seines Erkenntnisvermögens einen Zugang zu dieser hat. Nur ein naiver Realist behauptet aber, der Mensch könne diese Wirklichkeit genauso wahrnehmen wie sie „an sich“ oder „objektiv“ ist. Seit Kants Kopernikanischer Wende in der Erkenntnistheorie gilt diese Extremposition als unhaltbar. Gemäß dem kritischen Realismus können die menschlichen Sinnesorgane niemals ein exaktes Abbild der Außenwelt vermitteln, sondern immer nur ein durch eben diese subjektiven Organe verfälschtes oder verzerrtes. Gegenmodell zum „Realismus“ ist der Idealis‐ mus mit seiner These, die objektive Realität der Dinge beruhe allein auf unserer Vorstellungskraft (subjektiver Idealismus) bzw. auf an sich seienden Ideen (objektiver Idealismus). In der Medientheorie wird allerdings meist nicht der „Idealismus“, sondern der „Konstruktivismus“ als Gegensatz zum „Realismus“ betrachtet (vgl. Seidl, 47; Weischenberg, 226). Im weiten Sinn steht der Konstruktivismus für alle Auffassungen, welche ähnlich wie die subjektiven Idealisten die Konstitutionsleistung des Subjekts im Erkenntnis‐ prozess betonen. Radikale Konstruktivisten leugnen jede Möglichkeit eines erkenntnismäßigen Zugangs zu einer äußeren Wirklichkeit, die höchstens Anlass sein könne für eine subjektiv bzw. sozial konstruierte Wirklichkeit. Zweifellos ist es wichtig, die menschliche Konstitutionsleistung zu be‐ rücksichtigen und sich einzugestehen, dass wir keine sicheren Aussagen über die Wirklichkeit „an sich“ machen können. Diese Einsicht bildet den Kern der erwähnten Kopernikanischen Wende Kants. Zugleich scheint man sich in der Alltagspraxis in einen performativen Selbstwiderspruch (Wi‐ derspruch zwischen Aussageinhalt und Handlungsvollzug) zu verwickeln, 332 6 Medienethik <?page no="333"?> würde man leugnen, eine solche Wirklichkeit existiere unabhängig von uns und lege die Art unserer Wahrnehmungen fest (vgl. Früh 1994, 23 f.). Denn in unserer alltäglichen Praxis setzen wir dies immer schon voraus. Dass die menschlichen Beschreibungskategorien und Sprachsysteme konventionell und in gewisser Weise willkürlich sind, widerlegt diese Annahmen keines‐ wegs: Ob wir beispielsweise rote Gegenstände als „rot“, „red“ oder „rouge“ oder vielmehr als „blau“, „blue“ oder „bleu“ bezeichnen, ist zwar nicht durch die bezeichneten Gegenstände vorgegeben. Die unterschiedlichen Farbqualitäten gehen aber zurück auf verschiedene Oberflächenstrukturen der Gegenstände, die Licht verschiedener Wellenlängen unterschiedlich reflektieren. Wenn die Inuit aufgrund ihres Lebensumfeldes viele Bezeich‐ nungen für Schnee haben und entsprechend viele verschiedene Arten von Schnee wahrnehmen, werden die Schneesorten genauso wenig von den Inuits „erschaffen“ wie die Farbqualitäten. Vielmehr bildet die objektiv-reale Strukturiertheit der Welt die Grundlage für die menschlichen Erfahrungen und Interaktionen mit ihr sowie für die in der Praxis benötigte Vielfalt an Sprachkategorien. Sobald wir uns für ein bestimmtes Sprachsystem ent‐ schieden haben, werden unsere Wahrnehmungen durch die reale Struktur der Welt determiniert (vgl. Fenner 2001, 217). Angesichts dessen empfiehlt sich auch als Basis für medienethische Reflexionen eine mittlere erkennt‐ nistheoretische Position eines kritischen Realismus oder gemäßigten Konstruktivismus. Im Rahmen eines kritischen Realismus lässt sich in der Medienethik durchaus von Objektivität und Wahrheit sprechen, sofern nämlich die medienvermittelten Aussagen mit dieser objektiven Struktur der Wirk‐ lichkeit übereinstimmen. „Wahrheit“ meint dann im Sinne eines korres‐ pondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs die Übereinstimmung („Kor‐ respondenz“) der Vorstellungen oder Aussagen des Subjekts mit den objektiven Tatsachen (vgl. Fenner 2001, 14). Auch wenn bezüglich der mas‐ senmedial vermittelten Informationen nicht immer ans Tageslicht kommt, „was wirklich passiert ist“, werden viele journalistische Lügen entdeckt (vgl. Wunden 1999, 46 f.). Da wäre zum Beispiel das von einer Schweizer Boulevardzeitung nach dem Attentat von Luxor im November 1997 veröf‐ fentlichte Bild mit einer Blutlache, die in Wahrheit eine rot eingefärbte Wasserpfütze war (vgl. Thurnherr, 103). Noch extremer sind frei erfundene Reportagen über Personen oder Ereignisse, die es überhaupt nicht gibt und nie gegeben hat. Großes Aufsehen erregte die 1980 in der „Washington Post“ veröffentlichte Story der Journalistin Janet Cooke über ein fiktives 333 6.1 Produzentenethik <?page no="334"?> drogensüchtiges Kind, die erst anlässlich der Nominierung für den Pulitzer‐ preis als Lügengebilde zusammenbrach (vgl. Schicha 2019, 92). Hätten wir nach der Annahme radikaler Konstruktivisten keinerlei erkenntnismäßigen Zugang zur Außenwelt, könnte man die „Medienrealität“ niemals mit der „realen Wirklichkeit“ vergleichen und solche Betrugsfälle aufdecken. Im Fall der in Anschauungsbeispiel 1 geschilderten, 1983 im Stern veröffentlichten angeblichen Hitler-Tagebücher ließ sich beispielsweise nachweisen, dass das Papier mit Weißmachern versetzt war, die erst nach 1950 verwendet wurden (vgl. ebd., 92). Zur Feststellung von Wahrheit oder Objektivität gilt der Grundsatz, dass der Informationsgehalt intersubjektiv überprüfbar sein muss und entweder durch die Sinneserfahrungen verschiedener Zeugen oder die Übereinstimmung von mindestens zwei unabhängigen und zuver‐ lässigen Quellen belegt sein soll (vgl. Funiok 2007, 130; Schicha 2019, 380). Für jede einzelne Tatsachenbehauptung innerhalb einer Nachricht wären die entsprechenden Quellen anzugeben (vgl. Erbing, 120). Neu entdeckte Zeitdokumente wie die vermeintlichen Hitler-Tagebücher müssten vor ihrer Veröffentlichung durch unabhängige Gutachten geprüft werden. Verstoßen Medienschaffende bewusst oder infolge unterlassener Sorg‐ faltspflicht gegen das Wahrheitsgebot, übertreten sie eine grundlegende Norm menschlicher Kommunikation. Diese lässt sich diskursethisch oder kommunikationsethisch begründen (vgl. oben, S. 319-323): Da alle Men‐ schen ein elementares Interesse haben, nicht belogen und betrogen zu wer‐ den und im Vertrauen mit anderen zusammenzuleben, können alle einem allgemeinen Lügeverbot zustimmen. Nach einer entlarvten Lüge können die Medien aber je nach Schweregrad des Betrugs das Vertrauen der Rezipienten für immer verlieren. Noch größeren Schaden können fehlbare Medienschaf‐ fende freilich dann anrichten, wenn ein falsches Realitätsbild gar nicht aufgeklärt wird. Es kann zu gravierenden Fehleinschätzungen der (gesell‐ schaftlichen) Wirklichkeit kommen, die dann die Grundlage menschlicher Praxis bildet. Möglicherweise hätte man aufgrund der für echt gehaltenen Hitler-Tagebücher tatsächlich die Geschichtsbücher neu geschrieben, wie die verantwortlichen Stern-Journalisten voraussagten. Falschmeldungen können insbesondere als „selbsterfüllende Prophezeiungen“ verheerende gesellschaftliche Folgen zeitigen (vgl. Kap. 4.2). So sollen beispielsweise die Medien die Ölkrise von 1973/ 74 erst erzeugt haben, indem sie unzutref‐ fenderweise von einer dramatischen Ölknappheit berichteten. Denn damit lösten sie ein panikartiges Kaufverhalten aus, das in eine Krisensituation führte (vgl. Früh 1994, 34). Ähnlich sollen Mitarbeiter des Wall Street Journals 334 6 Medienethik <?page no="335"?> 1984 gezielt haltlose Meldungen über den angeblichen Aktiensturz gewisser börsennotierter Firmen veröffentlicht haben. Aufgrund der entsprechenden Reaktionen der Händler fiel dann auch wirklich der Kurs dieser Aktien, wovon die Journalisten selbst profitierten (vgl. Weil, 220 ff.). Das Qualitätsziel der Wahrheit oder Objektivität beinhaltet auch das Trennen von Nachricht und Meinung (vgl. Funiok 2011, 130). Man kann bei dieser Trennungsnorm sogar von „einer der wichtigsten journa‐ listischen Berufsnormen“ sprechen (Faulstich, 83). In den Vorschriften für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wird von Berichterstattungen und Informationssendungen nicht nur Unabhängigkeit, Sachlichkeit und sorg‐ fältige Prüfung auf Wahrheit verlangt, sondern es heißt auch: „Kommentare sind von der Berichterstattung deutlich zu trennen und unter Nennung des Verfassers als solche zu kennzeichnen“ (RStV, § 128). Gerechtfertigt ist die Trennungsnorm nicht nur, weil sie das Bestreben der Medienschaffenden nach Objektivität und Sachlichkeit der Nachrichten fördert, sondern auch weil sie den Mut zur persönlichen Stellungnahme freisetzen kann (vgl. Pöttker, 322). Zudem schafft die Trennung von Nachricht und Meinung Raum für eine eigene Meinungsbildung der Rezipienten, wodurch die Medienschaffenden „Respekt vor der Mündigkeit des Publikums“ erweisen (ebd. 325). Zur Sicherung von Objektivität und Wahrheit ist aber zusätzlich noch die Trennung von Berichterstattung und Phantasietätigkeit bzw. von Dokumentation und Fiktion erforderlich, damit den Rezipienten nicht Phantasieprodukte als reale Wirklichkeit vorgegaukelt werden. Heftig um‐ stritten ist diesbezüglich das Genre „Dokumentarspiel“ oder „Dokudrama“ in Film und Fernsehen, das sich an zeitgeschichtliche Themen wie etwa „Hit‐ lers Helfer“ heranwagt (vgl. ebd., 308 f.). Für eine solche Verfilmung eines historischen Stoffes spricht z. B., dass man auf diese Weise ein größeres Pu‐ blikum zu erreichen vermag und Einstellungen und Motive der handelnden Personen zur Darstellung bringen kann. Ein gewichtiges Gegenargument lautet, dass durch die dramatische Aufarbeitung und Emotionalisierung des dokumentarischen Materials das distanzierte Analysieren des tatsächlichen Geschehens und kritische Reflektieren darüber zurückgedrängt wird (vgl. ebd., 312). Zu fordern wäre von den Medienproduzenten zumindest, die Art des Umgangs mit den gesicherten Fakten und den Fiktionalitätsgrad des Films für die Rezipienten kenntlich zu machen. 335 6.1 Produzentenethik <?page no="336"?> 2) Vollständigkeit oder Vermeidung einseitiger Selektivität Gegen die Gebote von Wahrheit bzw. Objektivität wird eingewendet, die mediale Rekonstruktion der Wirklichkeit könne grundsätzlich immer nur höchst selektiv und aus einer bestimmten Perspektive des Beobachters erfolgen (vgl. Thurnherr, 104 f.). Zweifellos lässt sich mit einem Zeitungs‐ artikel oder einem Fernsehbeitrag immer nur ein winziger Ausschnitt der Wirklichkeit wiedergeben, sodass Vollständigkeit in einem umfassenden Sinne ein unerreichbares Ideal darstellt. Indem die Medienschaffenden einen bestimmten Teil eines Geschehens auswählen, messen sie den realen Ereig‐ nissen stets mehr oder weniger Bedeutung bei. In jeder Berichterstattung seien folglich eine „unkontrollierbare Subjektivität“ und ein „selektiver Bias“ verborgen, weshalb es eine objektive Berichterstattung strenggenommen nicht geben könne (vgl. Pöttker, 322). Dagegen lässt sich einwenden, dass die verborgene Subjektivität zumindest insoweit kontrolliert werden kann, als sich die Medienschaffenden die jeweils zur Anwendung kommenden Selek‐ tionskriterien bewusst machen. Unbewusste Motive können z. B. persönli‐ che Vorurteile, Wertvorstellungen, Präferenzen und Sympathien sein, die der Selbstreflexion manchmal allerdings nur schwer zugänglich sind. Ein ex‐ tremes Beispiel für eine leicht durchschaubare Unvollständigkeit aufgrund von Parteilichkeit ist ein Kriegsberichterstatter, der nur die Verluste auf der Gegenseite meldet, aber die eigenen verschweigt. Statt Vollständigkeit bei der Berichterstattung zu fordern wäre es hier bereits ausreichend, auf die Vermeidung einer einseitigen Selektivität zu pochen. Zu den häufigsten bewussten Kriterien der Selektion und Reduktion gehören technische, d. h. materialbezogene, ästhetische, handwerkliche und ethische Kriterien (vgl. Seidl, 49 f.). Im Vordergrund sollten natürlich ethische Kriterien stehen, die sich auf eine wirklichkeitsadäquate und korrekte Darstellung beziehen. Wo die aktuelle Informationslage eine umfassende Einschätzung der Situation aus verschiedenen Perspektiven vereitelt, muss auf die Erkenntnisgrenzen wie z. B. fehlende unabhängige Quellen hingewiesen werden. Die unver‐ meidliche Auswahl der begrenzten dargestellten Wirklichkeitsausschnitte sollte gerechtfertigt sein durch die Kriterien der Aktualität und Relevanz, die unter Punkt 3 zur Diskussion stehen. 3) Politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit Von Medienschaffenden wird zu Recht auch politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit verlangt (vgl. Funiok 2007, 131). Diese Norm erfordert zwar keinen Verzicht auf politische Meinungsbekundung und 336 6 Medienethik <?page no="337"?> Meinungsbildung, weil diese lediglich klar von der Berichterstattung zu trennen sind. Medienschaffende dürfen aber in keinem Fall korrumpierbar sein und sich zum Instrument derer machen lassen, über die sie berichten (vgl. Stolte, 196; Wiegerling, 158 f.). Wenn sich Prominente oder illustre Personen mit Hilfe der Medien Aufmerksamkeit verschaffen wollen, ist äu‐ ßerste Zurückhaltung geboten. Noch viel verwerflicher und folgenschwerer kann die Kooperation der Medien mit Kriminellen sein, wie das Gladbecker Geiseldrama in Anschauungsbeispiel 2 zeigt: Die Journalisten und Fotogra‐ phen machten den Geiselnehmer Rösner zum Medienstar, indem sie ihn interviewten und ihm eine Plattform gaben. Sie setzten sich ins Fluchtauto, um den Verbrechern den Weg zur Autobahn zu weisen und vermittelten zwi‐ schen den Geiselnehmern und der Polizei. So waren die Medienschaffenden keine unbeteiligten Berichterstatter mehr, sondern Mit-Akteure in einem grausamen und blutigen Gewaltverbrechen. Die gebotene Unabhängigkeit kann aber auch durch Interessenkonflikte bedroht sein, die auf innere oder äußere Zwänge zurückgehen: Sowohl im Fall des Geiseldramas als auch bei der Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher ließen sich die Medienschaf‐ fenden von der Gier nach höheren Einschaltquoten bzw. Auflagenhöhen verleiten, d. h. letztlich von ihren persönlichen Interessen nach Ruhm und Geld. Besonders gefährdet für interessengeleitete Berichterstattungen sind etwa auch Wirtschaftsjournalisten, die privat mit bestimmten Unternehmen verbunden sind und Aktientipps geben müssen. Ein großes Problem stellt darüber hinaus die medieninterne Korruption durch hauseigene Tabus, Verlagsinteressen oder -beteiligungen dar (vgl. Russ-Mohl u. a., 184 f.; Wiegerling, 158 f.). Wo sich Interessenkonflikte nicht vermeiden lassen, besteht aus medienethischer Sicht eine Pflicht zur Transparenz: Die Me‐ dienschaffenden haben die Pflicht, reale und potentielle Interessenkonflikte offenzulegen (vgl. Debatin 2015, 67). 4) Aktualität und Relevanz Wie die „Agenda-setting-Forschung“ nachwies, können die Medien durch ihre Berichterstattung und eine besondere Platzierung und Aufmachung der Berichte Themen in die öffentliche Diskussion einschleusen und ih‐ nen dadurch eine gewisse Bedeutung zuschreiben (vgl. Früh 1994, 35). Journalisten tragen daher als „Gatekeeper“ („Schleusenwärter“) eine große Verantwortung: Wie lässt es sich rechtfertigen, dass sie bei begrenzten Sendezeiten bzw. bei vorgegebener Seitenzahl gerade von einem gewissen Ereignis wie einem Kriegsgeschehen oder einem Geiseldrama berichten und 337 6.1 Produzentenethik <?page no="338"?> nicht von einem archäologischen Fund oder von bevorstehenden politischen Neuwahlen? Zunächst kann natürlich ein klares Profil einer Zeitung, einer Zeitschrift oder eines Fernsehprogramms die Auswahl und Gewichtung leiten, etwa die konservative Ausrichtung der FAZ oder die Zusammenfas‐ sung der neusten Wissenschaftstrends im GEO. Unter den allgemeinen Selektionskriterien sind allen voran die Aktualität und Relevanz einer Nachricht ethisch bedeutsam (vgl. Rager, 80 f.): Aktualität stellt eine rein zeitliche Bestimmung dar. „Aktuell“ ist alles, was neu ist, was heute oder in diesen Tagen passiert oder was noch nicht (hinreichend) bekannt ist. Im Unterschied zur „Tagesaktualität“ bezieht sich die „latente Aktualität“ auf Themen, die die Gesellschaft zwar durchgängig beschäftigen, aber noch nicht (ausreichend) ins öffentliche Bewusstsein getreten sind (vgl. ebd., 80). Dazu können soziale Probleme wie Alltagsrassismus, häusliche Gewalt oder soziale Brennpunkte zählen. Ein „Diktat der Aktualität“ wird jedoch medien‐ ethisch gesehen problematisch, sobald es zu einer inhaltlichen Verflachung und einem Hasten von einem Highlight oder Krisenphänomen zum nächsten kommt (vgl. Sautermeister, 94): Wenn Aktualität den Arbeitstakt bestimmt und die Journalisten und Redakteure unter enormem Druck arbeiten, bleibt ihnen keine Zeit für eine sorgfältige Recherche und die Analyse komplexer Zusammenhänge und Hintergründe. Die Rezipienten werden dann nicht mit „Nachrichten“, sondern mit „News“ beliefert, und werden primär gereizt, nicht informiert (vgl. Wiegerling, 159). Um diese Gefahren einer ausschließlichen Selektion nach dem Aktuali‐ tätskriterium einzudämmen, gilt es das Kriterium der Relevanz zu beachten. Denn es gibt viele Ereignisse, die aktuell sind, aber nicht relevant im Sinne von „wichtig“ und „bedeutsam“. Doch wer entscheidet darüber, was „rele‐ vant“ ist? Sicherlich nicht die Medienschaffenden allein, die diesbezüglich über keine speziellen Entscheidungskompetenzen verfügen. Anderereits scheint man dem Relevanzkriterium aber auch nicht dadurch gerecht zu werden, dass man den faktisch vorhandenen Wünschen der Rezipienten folgt. Da eine große Zahl der Rezipienten Sensationslust und voyeuristi‐ sche Bedürfnisse an den Tag legt, nimmt die Live-Berichterstattung über Lebenswandel, Seitensprünge oder Ableben von Prominenten im Zuge der Boulevardisierung der Medien immer mehr Raum ein (vgl. oben). Auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme werden mehr und mehr personalisiert, d. h. anhand von Einzelpersonen präsentiert, wodurch häufig die Komplexität der Darstellung leidet (vgl. Hunold, 37). „Relevanz“ kann ge‐ naugenommen nur dann ein legitimes medienethisches Selektionskriterium 338 6 Medienethik <?page no="339"?> sein, wenn sie nicht auf die privaten Interessen einzelner Gesellschaftsmit‐ glieder bezogen wird, sondern auf das öffentliche Interesse. Der Begriff des öffentlichen oder auch gemeinsamen Interesses meint das Interesse aller Gesellschaftsmitglieder am Gemeinwohl, d. h. an einer vernünftig legitimierbaren gerechten Gesellschaftsordnung, die allen Gesellschaftsmit‐ gliedern ein selbstbestimmtes und gutes Leben ermöglicht. Bestimmte öffentliche Interessen wie z. B. an einer intakten Umwelt können dabei durchaus in Konflikt geraten mit bestimmten privaten Interessen beispiels‐ weise an kostensparenden Umweltsünden. Mit „Öffentlichkeit“ scheint somit ein Kriterium gefunden zu sein, um zwischen allgemein wichtiger und für das Gemeinwesen uninteressanter Information unterscheiden zu können (vgl. Heesen, 272). Genau genommen ist Öffentlichkeit allerdings nicht selbst schon ein Kriterium oder gar ein normatives Prinzip, als das es in der Medienethik oft verwendet wird. Die Öffentlichkeit stellt vielmehr erst den Rahmen oder das Forum dar, in dem eine Gemeinschaft auf kommunikati‐ vem Weg festlegt, welches die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten, Interessen oder Ziele sind (vgl. Holderegger, 14 ff.). Die Relevanz von Informationen ist also immer relativ zu einer kritischen demokratischen Öffentlichkeit bzw. einer konkreten Gesellschaft, in der Vorstellungen von Gerechtigkeit und gutem Leben diskutiert und lang‐ fristige gesellschaftliche Entwicklungsziele bestimmt werden (vgl. Bauer, 195). Gleichwohl versuchen Medienethiker, solche gesellschaftlichen Ziele sowohl in negativer als auch positiver Hinsicht näher zu konkretisieren: Ziel der Berichterstattung müsste negativ formuliert „die Aufdeckung von Miss‐ ständen sein, die das Wohl der Allgemeinheit betreffen“ (vgl. Holzer, 189). Solche Missstände können etwa in einem politischen Macht-Missbrauch, in sozial destabilisierendem oder umweltschädigendem Verhalten bestehen. Positiv ausgedrückt lässt sich die Aufgabe der Medien-Berichterstattung als Förderung von Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität sowie als Garantie von Freiheit und Würde aller Menschen formulieren: „Sinn und Zielrichtung medialer Verteilung ist also menschliche und gesellschaftliche Freiheit“ (Wunden 1999, 48). Um auch gesellschaftlichen Minderheiten mit besonderem kulturellem Hintergrund, von der Norm abweichenden sexuel‐ len Präferenzen oder seltenen Krankheiten oder psychischen Störungen ein freies, menschenwürdiges Leben inmitten der Gesellschaft zu ermöglichen, können Medienberichte über diese Menschen einen wichtigen Beitrag leisten. Eine Fernsehdokumentation über Messies oder Transsexuelle bei‐ spielsweise kann zu einem besseren allgemeinen Verständnis für ihre ganz 339 6.1 Produzentenethik <?page no="340"?> spezifischen Lebensschwierigkeiten führen, gesellschaftlich schambesetzte Themen enttabuisieren und dadurch die Qualität des Zusammenlebens erhöhen (vgl. Hermann, 152 f.). 5) Angemessene, ethisch vertretbare Präsentation Nachrichten von öffentlicher Relevanz im eben definierten Sinn sind inso‐ fern immer auch von ethisch-normativer Bedeutung, als sie gemeinsam geteilte gesellschaftliche Wertvorstellungen, Ideale oder Normen betreffen. Nur ein geringer Teil der Nachrichten sind mit Blick auf diese normativen Vorgaben Positivmeldungen, meist Mitteilungen aus Kultur, Sport oder Wissenschaften. Es überwiegen bei Weitem die Negativschlagzeilen: Soweit es sich nicht um Naturkatastrophen handelt, sind es meist menschliche Verstöße gegen Menschenrechte oder gegen öffentliche Interessen an einem verantwortungsvollen, sozial- und umweltverträglichen Leben und einem friedlichen, demokratischen Zusammenleben. Bei vielen Tabubrüchen oder Normübertretungen ist Gewalt im Spiel. Aus medienethischer Sicht müsste die objektive, unabhängige Berichterstattung in diesen Fällen ergänzt wer‐ den durch eine sorgfältige Kommentierung und eine klare (negativ) wer‐ tende Stellungnahme. Auf die Nachrichten sollten also Meinungen folgen. Oft können die dabei verletzten gesellschaftlichen Normen und damit auch die Verurteilung dieser Normverletzung in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft als allgemeiner Konsens vorausgesetzt werden, etwa bei einem sexuellen Missbrauch oder einem Gewaltverbrechen. Wo allerdings disparate gesellschaftliche Wertvorstellungen tangiert sind, sollten diese verschiedenen Einstellungsweisen in den Medien transparent gemacht und diskutiert werden. Auch kann es geboten sein, die Folgen der Geschehnisse für die Gesellschaft und deren ethische und rechtliche Normen aufzuzei‐ gen und notwendige gesellschaftliche Gegenmaßnahmen oder Lösungsvor‐ schläge zu skizzieren. Dies kann in mannigfaltiger Form wie beispielsweise in direkten Kommentaren, Experteninterviews oder Talkshows geschehen. Die Art und Weise, wie Nachrichten gestaltet und von welchen Interpre‐ tationen und Bewertungen sie begleitet werden, kann auf die Rezipienten sehr unterschiedliche Wirkungen haben. Medienschaffende tragen daher eine große Verantwortung für die Form der Berichterstattung, d. h. für die Art und Weise der Darstellung und Kommentierung der Informationen. Eine angemessene Präsentation der Fakten ist insbesondere bei Berichten über Gewalttaten, großes menschliches Leid oder Intimitäten ein grundlegendes medienethisches Gebot (vgl. Weil, 198; Wiegerling, 157). Ethisch inakzepta‐ 340 6 Medienethik <?page no="341"?> bel ist eine emotionalisierende sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid etwa anhand suggestiver oder entwürdigender Bilder (vgl. Deutscher Presserat, Ziffer 11). Als 2004 in Amsterdam der Regisseur Theo van Gogh wegen seinen islamkritischen Äußerungen von einem 28 Jahre alten Moslem ermordet wurde, brachte die niederländische Zeitung De Telegraaf unverzüglich das Bild des toten van Gogh mit durchschnittener Kehle und einem mit zwei Messern im Leib befestigten Bekennerschreiben (vgl. Leiner, 177 ff.). Am nächsten Tag berichtete sie vom extremistisch-is‐ lamistischen Hintergrund des Täters. Es kam zu einer höchst explosiven interreligiösen Spannungslage und einer ganzen Serie von Anschlägen auf Moscheen und muslimischen Gegenangriffen auf Kirchen. Auch wenn die Medienschaffenden das gewaltbereite Klima zwischen den religiösen Gruppen sicherlich nicht gezielt angeheizt haben, tragen sie eine Mitschuld an den Eskalationen. Denn der Telegraaf hätte, wie andere Zeitungen auch, lediglich vom Mord und den Tathintergründen berichten können, statt die provokativen und emotionalisierenden Bilder zu veröffentlichen (vgl. ebd., 180). Wie es in der Bildethik unter dem Motto „Bild schlägt Wort“ bekannt ist, prägen sich visuelle Eindrücke viel tiefer ein als bloße Texte (vgl. Schicha 2019, 125). Möglicherweise hätten die Zeitungen mit einer distanzierten, nüchternen Berichterstattung und einer klaren Verurteilung gewaltsamer Auslebung interreligiöser Spannungen zur Deeskalation beitragen und bestenfalls die Verständigung zwischen den religiösen Gruppen fördern können. Unbedingt zu beachten sind bei allen medialen Präsentationen die Würde und die Persönlichkeitsrechte aller Betroffenen, die in der Medienethik weithin als allgemeine Orientierungsstandards anerkannt sind (vgl. ebd., 164 f.; Huber, 183; Wunden 2003, 177; Deutscher Presserat, Ziffer 1). Im Rundfunkstaatsvertrag verpflichten sich die öffentlich-rechtlichen Rund‐ funkanstalten dazu, „die Würde des Menschen zu achten und zu schützen“ (RStV, § 3). Dies verbietet eine Herabwürdigung und Beleidigung der präsen‐ tierten Persönlichkeiten in ihren vielfältigen Beziehungen zur Umwelt wie etwa in ihren beruflichen Stellungen oder ihren charakterlichen Haltungen, weil eine solche schlimmstenfalls zum Verlust sozialer Anerkennung führen kann. Besonders oft Thema medienethischer Debatten sind die Menschen‐ rechte auf eine Privat- und Intimsphäre, die in vielen Verfassungen auch gesetzlich geschützt sind. Gemeint ist ein persönlicher Bereich, in dem der Mensch nicht als Mitglied der Gesellschaft lebt, sondern seine intimen Bedürfnisse befriedigt oder allein eine schwierige Lebenssituation 341 6.1 Produzentenethik <?page no="342"?> etwa infolge von Krankheiten, Unfällen, Verlusten oder Naturkatastrophen verarbeiten muss. In diesen Situationen mit intimem Charakter soll er selbst bestimmen können, was an Gefühlen, Gedanken oder Reaktionen er nach außen hin preisgeben will. Dieses Recht auf eine freie Entscheidung zwi‐ schen Selbstöffnung und Selbstschutz lässt sich auf das elementare Recht auf informationelle Selbstbestimmung zurückführen (vgl. Hermann, 155). Werden Menschen in solchen Situationen unfreiwillig Gegenstand medialer Aufmerksamkeit, kann ihre menschliche Würde verletzt werden. Besonders wenn man sie in einem schwer kontrollierbaren, stark emotio‐ nalen Zustand, z. B. nach dem Verlust einer geliebten Person oder des ganzen Hab und Guts einer Öffentlichkeit vorführt, bedeutet dies eine Schmach und öffentliche Demütigung. Wie Untersuchungen mit Opfern von Unglücksfällen nachwiesen, die unmittelbar nach dem Ereignis gefilmt wurden, kann eine solche Zurschaustellung unverhüllter Emotionen eine zweite traumatisierende Verletzung hervorrufen (vgl. ebd., 154 f.). Generell ist ein medialer Vorstoß in die Privatsphäre nur dann ethisch legitim, wenn die Betroffenen damit einverstanden sind und die entsprechende Mediendarstellung vor ihrer Veröffentlichung autorisiert haben (vgl. ebd., 155 f.). Exemplarisch diskutiert wird gern das Foto des toten Ministerpräsidenten Uwe Barschel in der Badewanne eines Zürcher Hotels, das zweimal im Stern veröffentlicht wurde (vgl. Anschauungsbeispiel 3). Wie schon im medizinethischen Kapitel 2.4 zur Organtransplantation erwähnt, erstreckt sich das Recht auf Würde einer Person grundsätzlich über deren Tod hinaus. Es mag sich zwar bei prominenten Personen, die in der Öffentlichkeit stehen bzw. die mediale Öffentlichkeit sogar suchen, die Grenzziehung zwischen Öffentlichem und Privatem verschieben. Auch Personen des öffentlichen Lebens haben aber ein Recht auf Privatsphäre. Ausnahmen sind höchstens erlaubt, wenn erstens das konkrete private Verhalten eines Menschen starke öffentliche Interessen berührt. Zweitens dürfen durch die Art und Weise der Berichterstattung keine Unschuldigen gedemütigt oder psychisch gefährdet werden (vgl. Deutscher Presserat, Ziffer 8). Von öffentlichem Interesse war zwar sehr wohl der Tod des kurz zuvor zurückgetretenen Ministerpräsidenten Barschel. Man hätte ihn aber auch ohne das berühmt gewordene Foto als angeblich „wichtiges Zeitdokument“ mitteilen können. Als das Bild eine Woche später nochmals im Stern abgedruckt wurde, war das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit bereits gestillt. Es ging also nur noch um eine Steigerung der Auflage und um Gewinnmaximierung. Ebenso 342 6 Medienethik <?page no="343"?> zielen die meisten kompromittierenden und beschämenden Berichte über persönliche Beziehungs- oder Lebenskrisen oder sexuelle Eskapaden von Prominenten nur auf größtmögliche Aufmerksamkeit ab und nehmen Ver‐ letzungen von Persönlichkeitsrechten dafür in Kauf. Solche Informationen entbehren außerdem jeder öffentlichen Relevanz und bedienen nur private Interessen wie Sensationslust, Neugier oder Voyeurismus. 6) angemessene, ethisch vertretbare Recherchemethoden Genauso wie bei der medialen Präsentation müssen sich Medienproduzen‐ ten auch bei der Informationsbeschaffung grundsätzlich innerhalb eines ethischen und rechtlichen Rahmens bewegen und dürfen keine Menschen‐ rechte unschuldiger Personen verletzen. Die Berichterstattung verliert da an Priorität, wo das Recht auf Leben oder auf physische oder psychische Integrität von Menschen bedroht ist (vgl. Stolte, 196). So wäre es ethisch ver‐ werflich, Menschen nach Unfällen oder Naturkatastrophen zu filmen, statt ihnen Erste Hilfe zu leisten. Bezüglich der aktiven Informationsbeschaffung sind ausschließlich angemessene, ethisch vertretbare Rechercheme‐ thoden zulässig. Immer wieder in die Kritik gerät der sogenannte Papa‐ razzi-Journalismus von Reportern, die Prominenten möglichst unbemerkt auflauern, um Boulevardmedien skandalträchtige Bilder oder Geschichten liefern zu können (vgl. Schicha 2010, 384). Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wie weit die Paparazzi mit ihrer Verfolgungsjagd den Autounfall und den Tod von Prinzessin Diana mitzuverantworten haben. Menschenleben standen auch in Gefahr beim Gladbecker Geiseldrama, in dem die Medi‐ enschaffenden um sensationelle Bilder und Live-Interviews wetteiferten und damit das Eingreifen der Polizei behinderten. Sie brachten zwar einen angeschossenen und verblutenden Jungen zum Notarzt, hielten aber seinen herabhängenden Kopf noch einmal fotogerecht in die Kamera. Weitere ethisch verwerfliche, insbesondere in Boulevardmedien gängige Praktiken sind Rufmord und Vorverurteilungen bzw. falsche Verdächtigungen (vgl. ebd., 382 f.; 385 f.): Medien können psychische Gewalt auf Opfer von Bericht‐ erstattungen ausüben, indem sie die Personen systematisch diffamieren und diskreditieren. Dabei werden ohne hinlänglich klare Faktenlage simple Zuordnungen von Gut und Böse vorgenommen, wobei die Grenze zur Lüge, Fälschung und Manipulation häufig überschritten wird (vgl. Schicha 2019, 112). Beispielhaft sind die Vorverurteilungen der Moderatoren Andreas Türck und Jörg Kachelmann anlässlich des Verdachts auf Vergewaltigung, der in Medienkampagnen publizistisch ausgeschlachtet wurde. Obwohl sich 343 6.1 Produzentenethik <?page no="344"?> die Vorwürfe in beiden Fällen nicht erhärten ließen und die Moderatoren vom Gericht freigesprochen wurden, war ihre TV-Karriere infolge des Reputationsverlusts zerstört. Bezüglich des Rechts auf Privatsphäre hat sich in der journalistischen Ethik der Ausdruck Witwenschütteln oder Witwenmelken für das Heim‐ suchen der Angehörigen von Opfern von Kriegen, Unfällen oder Anschlägen eingebürgert. Dabei nehmen die Medienschaffenden keinerlei Rücksicht auf die Gefühle der Betroffenen, die häufig noch unter Schock stehen (vgl. Schicha 2019, 75). So wurde die Witwe des Fernsehmoderators Trutz Beckert vor und nach dessen Tod von den Journalisten telefonisch belästigt und ihr Haus Tag und Nacht belagert, um exzeptionelle Schlagzeilen und Bilder ergattern zu können. Ihr Leid wurde klarerweise instrumentalisiert zur Generierung von Aufmerksamkeit, ganz nach dem Motto: „Je mehr Leid, desto besser fürs Geschäft“ (vgl. Huber, 187 f.). Ganz generell sind jedoch im Umgang mit Menschen als Interviewpartnern oder als Gegenstand me‐ dialer Präsentation gebührende Distanz, Respekt und Achtung geboten (vgl. Thomaß, 167). Es geht hier um elementare diskursethische Regeln, die sich aus den notwendigen Voraussetzungen zwischenmenschlicher Kommuni‐ kation ableiten lassen. Ethisch bedenklich sind noch eine Reihe weiterer unlauterer Recherchemethoden wie z. B. sich als eine andere Person ausgeben, das Bestechen oder Unter-Druck-Setzen unwilliger Informanten für den Erhalt vertraulicher Daten sowie auch das Verwenden versteckter Mikrophone oder Kameras (vgl. Weischenberg, 231). Basisnormen der Produzentenethik für den Nachrichtenbereich 1) Wahrheit/ Objektivität: - intersubjektiv nachprüfbarer Informati‐ onsgehalt, Quellenangaben - Trennung von Nachricht und Meinung, Dokumentation und Fiktion 2) Vollständigkeit/ Vermei‐ dung einseitiger Selekti‐ vität: - keine einseitige Tatsachendarstellung - Erkenntnisgrenzen sichtbar machen 3) Unabhängigkeit/ Unbe‐ stechlichkeit: - unbeteiligte Berichterstattung, keine Mit‐ täterschaft - sich nicht von illustren Personen instru‐ mentalisieren lassen 344 6 Medienethik <?page no="345"?> 4) Aktualität und Relevanz: - gesellschaftliche Missstände wie Macht‐ missbrauch oder umweltschädigendes Verhalten aufdecken - Förderung von Freiheit, Demokratie, Ge‐ rechtigkeit, Frieden 5) angemessene, ethisch ver‐ tretbare Präsentationen: - keine sensationelle, emotionalisierende Darstellung von Gewalt, Leid, Intimitäten - Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte 6) angemessene, ethisch ver‐ tretbare Recherche-Me‐ thoden: - Respekt und Distanz gegenüber Inter‐ viewpartnern/ Informanten - keine unlauteren Recherchemethoden generelles Ziel: Wissensvermittlung über Tatsachen und Geschehnisse der intersubjektiv zugänglichen Wirklichkeit 6.1.2 Unterhaltung Nachdem sich Medientheoretiker und -ethiker lange Zeit nur mit Nachrichten beschäftigten, schenkt man auch Informationen in Form von Unterhaltung immer mehr Beachtung, seit der Unterhaltungssektor mit der Einführung des Privatfernsehens erstarkte (vgl. Greis, 8; Funiok 2007, 141; Schicha 2019, 204). „Unterhaltung“ scheint sich allerdings nicht leicht definieren zu lassen, weil sehr verschiedene Angebote oder Inhalte für jemanden unterhaltend sein können. Viele Unterhaltungsforscher verstehen „Unterhaltung“ lediglich als einen Rezeptionsbegriff, der für eine bestimmte subjektive Einstellung oder ein spezifisches Erlebnismuster der Rezipienten steht und folgende drei zentrale Momente aufweist (vgl. Hausmanninger 1994, 82; Früh 2002, 86): a) Im Unterschied zu Nachrichten und Meinungen, die dem Menschen bei seiner Orientierung in der intersubjektiv zugänglichen Wirklichkeit helfen sollen, dient die „Unterhaltung“ keinem äußeren Zweck (vgl. ebd., 85). Ein großer Teil von Unterhaltungsangeboten ist rein fiktional und also den „objektiven“ Realitätsverhältnissen in Raum und Zeit gänzlich entrückt, z. B. die meisten Hörspiele, Spielfilme und Computerspiele. b) Wie insbesondere die emotions‐ psychologischen Unterhaltungs-Konzepte hervorheben, schätzen zweitens die meisten Rezipienten an Unterhaltungsangeboten insbesondere das Auslösen positiver Emotionen (vgl. ebd., 19ff.; Filipovic, 326). Erlebensweisen der Lust oder Freude können aus den rein physiologischen Prozessen des Sehens oder Hörens oder dem freigesetzten Spiel der Gefühle und Gedanken der Rezipienten hervorgehen (vgl. Hausmanninger 1994, 83ff.). c) Eine dritte Grundfunktion 345 6.1 Produzentenethik <?page no="346"?> von Unterhaltung ist die Entlastung und Befreiung vom Alltagsstress durch Entführung in eine andere (fiktive, virtuelle) Vorstellungs- und Gefühlswelt (vgl. Funiok 2007, 141). Für eine Ethik der Unterhaltung ist aber eine objektbezo‐ gene, produzentenorientierte Definition unabdingbar, die durchaus diese drei Kriterien einbeziehen kann: Unterhaltung ist die Gesamtheit der Darbietungen, die ohne weiteren Zweck allein zum lustvollen Zeitvertreib und zur Entlastung vom Alltagsstress der Rezipienten dienen sollen. Dazu zählen insbesondere die Genres Unterhaltungs- oder Trivialliteratur, Film, Unterhaltungsmusik (Pop, Rock, Volksmusik), Talkshows, Live-TV und Quizsendungen. Unterhaltung: Gesamtheit der Darbietungen, die keinen äußeren Zweck wie Wis‐ sensvermittlung und Orientierung in der Wirklichkeit verfolgen, sondern dem lust‐ vollen Zeitvertreib und der Entlastung des Rezipienten vom Alltagsstress dienen. Massenmediale Unterhaltungsangebote: Film, Hörspiel, Talkshows, Live-TV, Unterhaltungsmusik, Quizsendungen, Computerspiele charakteristische Erlebensweise beim Rezipieren von Unterhaltung a) Selbstzweckhaftigkeit: Fehlen eines äußeren Zwecks b) Vergnügen an der Rezeption c) Entlastung vom Alltag Kritik an Unterhaltungsangeboten Die gängigen kulturpessimistischen Argumente gegen Unterhaltungsangebote in den Massenmedien lauten, sie würden zu einer „Volksverdummung“, zu einer „moralischen Verrohung“ und „Entpolitisierung der Massen“ führen (vgl. Lübbe, 70; Hausmanninger 1992, 102ff.). Gemäß der kritischen Medientheorie befördert eine populäre Massenkultur die Flucht aus der Realität und Verantwor‐ tung, verhindert die kritische Auseinandersetzung mündiger und selbständig urteilender Menschen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und untergräbt somit eine kritische Öffentlichkeit (vgl. dazu Schicha 2019, 196ff.). Unterhaltungs‐ sendungen werden meist der „niedrigen Populärkultur“ zugeschlagen und der „Hochkultur“ entgegengesetzt, wenngleich die Unterscheidung selbst immer wieder in der Kritik steht. Zweifellos gibt es aber eine Form der passiven und seichten Unterhaltung, die nur geringe Aufmerksamkeit und kaum kognitive Leistungen oder gar Vorwissen erfordert und die fast ausschließlich sinnliche und emotionale Lusterfahrungen hervorruft. Entsprechend kann von diesen Unterhaltungsangeboten nicht erwartet werden, dass sie kritische ethische 346 6 Medienethik <?page no="347"?> oder politische Urteilskompetenzen kultivieren und das Diskursniveau anheben. Davon lassen sich jedoch andere Formen einer aktiven und gehobenen Unterhaltung abgrenzen, die ähnlich wie Präsentationen der Kunst mehr Konzentration verlangen und auch reflexive intellektuelle Fähigkeiten fördern (vgl. Funiok 2011, 168). Individualethisch gesehen lässt sich durchaus auch seichte Unterhal‐ tung mit den Argumenten rechtfertigen, dass sie vom Alltagsstress entlas‐ ten, Zerstreuung bieten und einen vergnüglichen Zeitvertrieb ermöglichen. Es wäre jedoch problematisch, wenn gemäß der Verdrängungsthese ein zunehmender Unterhaltungskonsum mehr und mehr die Angebote anspruchsvollerer Programme der Wissensvermittlung und Meinungsbil‐ dung zurückdrängen würde. Mit dem Aufkommen der privatwirtschaftlich organisierten Fernsehsender in Deutschland im Jahre 1984 wurde qualitativ ein „deutlicher Trend zur Popularisierung und Nivellierung des Programms“ und eine Zunahme der „Gewaltdarstellungen, Unterhaltungsorientierung und Boulevardisierung der Programme“ festgestellt (Seidl, 40). Weil dem Unterhaltungswert der Vorzug vor dem Informationswert gegeben wird, werden auch immer mehr Inhalte in Form von Unterhaltung präsentiert (vgl. Stolte, 197). Das Überhandnehmen des Unterhaltungsangebotes sollte aber verhindert werden, um das Grundrecht auf informationelle Grund‐ versorgung aller Gesellschaftsmitglieder zu garantieren. Die Journalisten müssen ihre für die Demokratie außerordentlich wichtigen Aufgaben der Herstellung von Öffentlichkeit und der Förderung des Prozesses der Mei‐ nungsbildung und des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Be‐ völkerungsgruppen hinlänglich erfüllen können. ethische Beurteilung von Unterhaltung allgemein individualethische Pro-Argumente sozialethische Kontra-Argumente - Entlastungsfunktion - freies Entfalten sinnlicher, emotio‐ naler und intellektueller Fähigkeiten → Förderung des persönlichen guten Lebens der Rezipienten - „Volksverdummung“; erfordert nur geringe Aufmerksamkeit, Vorwissen und kognitive Leistungen - „sittlicher Verfall“: keine Förderung der ethischen und politischen Ur‐ teilskompetenz ethisches Gebot: informationelle Grundversorgung sicherstellen, kein Übergewicht „seichter“ Unterhaltung gegenüber Wissensvermittlung und Meinungsbildung 347 6.1 Produzentenethik <?page no="348"?> 1) Gewalt Bezogen auf die Inhalte von Unterhaltungsangeboten stellt die starke Prä‐ senz von Gewalt und Pornographie im Unterhaltungssektor ein in der Medienethik breit diskutiertes Problemfeld dar. Sex und Gewalt kommt deswegen ein hoher Unterhaltungswert zu, weil sie bei den Rezipienten Spannung und Erregung erzeugen und vollständig deren Aufmerksamkeit zu fesseln vermögen. Auch wenn die Rezipienten nach diesen Inhalten ver‐ langen, können Medienschaffende entsprechende Unterhaltungsangebote nicht einfach mit dem Nachfrage-Argument rechtfertigen (vgl. oben, S. 328). Sie müssen ihr Tun unabhängig davon ethisch legitimieren kön‐ nen und tragen die Verantwortung für allfällige negative Konsequenzen. Zunächst soll es um mediale Darstellungen von Gewalt gehen, definiert als gezielte aggressive physische oder psychische Schädigung von Lebewesen gegen ihren Willen (vgl. Bonfadelli, 228 f.; Hausmanninger 2002, 30 ff.). Ungeachtet des Schweregrads der den Opfern zugefügten Verletzungen sind Gewalttaten deontologisch betrachtet an sich verwerflich, weil dabei die Würde und Selbstzweckhaftigkeit der Menschen missachtet wird. Die weithin geteilte Verurteilung von Gewalt als asozial und dysfunktional ist insofern gerechtfertigt, als gewaltsame Übergriffe basale Menschenrechte missachten und als ungeeignete Konfliktlösungsstrategien ein friedliches Zusammenleben der Menschen gefährden (vgl. P. Grimm, 166 f.). Gemäß der öffentlichen Meinung soll nun ein regelmäßiger Konsum von media‐ ler Gewalt die Akzeptanz von Gewaltanwendung und die Aggressivität und Gewaltbereitschaft in einer Gesellschaft erhöhen, sodass insbesondere nachwachsende Generationen zunehmend abstumpfen und verrohen (vgl. Bohrmann 2010, 419). Einzelne Mahner wie der evangelische Sozialethiker Wolfgang Huber sprechen sich angesichts dessen radikal gegen Gewalt als Mittel zur Unterhaltung aus (vgl. Wunden 2002, 77). Gegen ein striktes ethi‐ sches Verbot medialer Gewalt kann man jedoch mit Thomas Hausmanninger kontern, auch in einer Gewalt verachtenden demokratischen Gesellschaft lasse sich Gewalt nie vollständig eliminieren. Statt das Thema zu verdrängen und zu tabuisieren, müsse sich daher die Gesellschaft in einem geregelten Rahmen damit auseinander setzen (vgl. Hausmanninger 2002, 268). Medienwirkungsforschung Es steht in der Medienethik außer Frage, dass mediale Gewaltdarstellungen das Risiko negativer Wirkungen bergen (vgl. P. Grimm, 162). Diese uner‐ wünschten Wirkungen lassen sich nach weitgehender Übereinstimmung 348 6 Medienethik <?page no="349"?> in der Medienforschung aber nicht generell und monokausal erklären, sondern es ist von komplexen Wirkzusammenhängen auszugehen. Unei‐ nigkeit herrscht darüber, wie genau, unter welchen Voraussetzungen und bei welchem Ausmaß der verschiedenen Faktoren solche negative Effekte von Gewalt im Einzelnen zustande kommen. Die sich in der Forschung herauskristallisierten Wirkungsparameter beziehen sich einerseits auf die Medieninhalte und Genres der medialen Präsentationen und andererseits auf die Persönlichkeitsstruktur der Rezipienten und ihr soziokulturelles Umfeld. Im Folgenden sollen die wichtigsten Theorien und Thesen der Wirkungsforschung kurz skizziert werden, die sich mit der Wirkung medialer Gewalt auf Rezipienten befasst und die Basis legt für eine differen‐ zierte ethische Beurteilung medialer Gewaltinhalte: 1. die Katharsis-These, 2. die Suggestions-These, 3. die Habitualisierungs-These, 4. die Bestäti‐ gungs-These und 5. die sozial-kognitive Lerntheorie (vgl. Kunczik u. a. 2006, 85-164; Wunden 2002, 85 ff.; Bonfadelli, 245 ff.; Hausmanninger 2002, 38 ff.; Wiegerling, 204 f.). 1. Die Katharsis-These besagt, beim Mitvollzug der Gewalttaten in der Phantasie finde ein Ausleben aggressiver Potentiale statt, sodass das eigene Verhalten danach weniger aggressiv sei. Sie geht auf Aristoteles’ Katharsis-Theorie zurück, derzufolge die Zuschauer in den antiken Tragö‐ dien durch die Identifikation mit den tragischen Helden von heftigen Ge‐ fühlen wie Jammer und Schrecken gereinigt werden. In der experimentellen Sozialpsychologie und der Wirkungsforschung wird im Unterschied dazu jedoch die Aggressionsbereitschaft der Versuchspersonen vor und nach dem Gewaltkonsum gemessen, sodass eher von einer Aggressions-Katharsis zu sprechen wäre. Da empirische Studien kein Abreagieren von Aggressi‐ onspotentialen im Sinne einer Ventilwirkung feststellen konnten, gilt diese Theorie heute in der Wissenschaft als widerlegt (vgl. Kunzick u. a. 2006, 86; Wunden 2002, 85; Werth, 131). 2. Ganz im Gegensatz dazu geht die Suggestions-These davon aus, dass die Mediennutzer unter dem unmittelbaren Einfluss medialer Gewalt selbst gewalttätig werden. Man spricht dann von einem Werther-Effekt, weil Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther eine Reihe von Nach‐ ahmungssuiziden unter den Lesern ausgelöst haben soll. Es geht also bei dieser Theorie um spektakuläre Nachahmungstaten, die von Zeit zu Zeit die Öffentlichkeit erschüttern. 1996 beispielsweise hat sich in Deutschland ein vierzehnjähriger Junge nach dem Vorbild des Horrorfilms Freitag der 13. mit einer Eishockeymaske, einem mit roter Farbe beschmierten Tuch 349 6.1 Produzentenethik <?page no="350"?> und einem Beil bewaffnet und seine Cousine sowie eine zufällig anwesende Nachbarin schwer verletzt (vgl. Kunczik u. a. 2002, 150). Nach den tragischen Amokläufen von Jugendlichen an Schulen werden außerdem regelmäßig sogenannte Killer-Spiele verdächtigt, eine suggestive Wirkung auf die Täter ausgeübt zu haben: Beim viel kritisierten Genre der Ego-Shooter müssen sich die Spieler aus der Ich-Perspektive und häufig in der Rolle eines Soldaten durch die „Gegnerhorden“ schießen und werden dafür belohnt, möglichst viele von ihnen zu töten. Wissenschaftliche Studien konnten jedoch bislang „keinen belastbaren Zusammenhang zwischen Videospiel‐ konsum und steigendem Gewaltpotential feststellen“ (P. Grimm u. a., 135). Die Suggestions-These trifft offenkundig nur auf einige seltene Fälle wie den eben geschilderten zu: Gemäß bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnisse können mediale Horrorszenarien wie Mord oder Folter nur auf eine kleine Gruppe psychisch sehr labiler oder gestörter Personen so suggestiv wirken, dass sie zu Nachahmungstätern werden (vgl. Früh 2001, 43). Für die meisten Rezipienten sind solche Horrortaten zu weit von der eigenen Vorstellungs- und Erlebenswelt entfernt, als dass sie mit der realen Lebenswelt in eine direkte Beziehung gebracht werden können. 3. Anders als die Suggestions-These besagt die Habitualisierungs- oder Kultivierungs-These, die häufige Konfrontation mit Gewalt in den Medien führe zu einer kognitiven und emotionalen Gewöhnung an Gewalt‐ übergriffe und damit zu einer allmählichen Abstumpfung der Rezipienten. Empirisch nachgewiesen ist bisher allerdings lediglich das nachlassende Spannungsempfinden und die steigende Toleranzgrenze gegenüber medialer Gewalt, nicht aber eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber realer Gewalt (vgl. Bonfadelli, 246). Es liegen nur wenige Langzeitstudien zu den langfristigen Folgen des Mediengewaltkonsums vor, bei denen bereits die Operationalisierung der Viel- und Wenigseher nach wöchentlicher Sehdauer und Lebensalter höchst unklar ist (vgl. Kunczik u. a. 2006, 125). Auch wenn es sich empirisch nur schwer belegen lässt, ist aber infolge häufiger gewalthaltiger Medienerlebnisse eine langfristige und schleichende Verschiebung der Werte und Normen in Richtung auf Gewaltakzeptanz und Gewaltanwendung in der realen Welt zu erwarten (vgl. Früh 2001, 43). Eine solche unauffällige Verschiebung der Toleranzgrenze zeigt sich nicht in spektakulären Nachahmungstaten wie der Imitation eines medial aufsehenerregenden Amoklaufs, sondern etwa am energischen Einsatz der Ellenbogen beim Drängeln vor dem Bus beim Einstieg (vgl. ebd.). Auch ließ sich zwar wie erwähnt bei gewalthaltigen Videospielen psychologisch keine 350 6 Medienethik <?page no="351"?> Zunahme des Gewaltpotentials nachweisen. Gleichwohl wird symbolisch betrachtet auf einer rein mentalen Ebene in „Killer-Spielen“ die Begeisterung und Faszination für Krieg und Töten transportiert (vgl. P. Grimm u. a., 151). Zudem liegt die Annahme nahe, dass sich bei regelmäßigem Spielen eine sukzessive Abnahme der Empathie als emotionaler Habitualisierungseffekt einstellt (vgl. Piniek, 144). Denn in den meisten Computerspielen wird wie bei sportlichen Schießübungen auf „Zielscheiben“ geschossen. Auch wenn diese menschliches Antlitz tragen, geraten dabei das Leid und die Rolle der Opfer nicht ins Blickfeld. Das emotionale und imaginative Sich-Hinein‐ versetzen in die vom Handeln betroffenen Personen gehört aber zu den wichtigen Basiskompetenzen für moralisches Denken und Handeln. 4. Die Bestätigungs- oder Justification-These warnt vor einer falschen Unterstellung von unmittelbaren monokausalen Wirkzusammenhängen zwischen medialen Gewaltdarstellungen und Gewalttaten. Sie wendet sich gegen das allzu einfache Schema der Suggestionsthese, demzufolge Re‐ zipienten unter der unmittelbaren Einwirkung der medialen Gewalt zu Nachahmungstätern werden. Vielmehr sollen umgekehrt die Mediennutzer genau jene Medieninhalte auswählen, durch die sie sich in ihren Allmachts‐ phantasien bestärkt fühlen und mittels derer sie ihr eigenes aggressives Verhalten rechtfertigen können (vgl. Bonfadelli, 247). Studien zufolge wäh‐ len vorwiegend Jugendliche mit Prädispositionen zu aggressivem Verhal‐ ten oder mit Minderwertigkeits- oder Ohnmachtsgefühlen gewalthaltige Fernsehsendungen, Filme oder Videos (vgl. ebd.). Selbst wenn diese These korrekt ist, sind damit aber die Wirkungen medialer Gewalt sicherlich noch nicht vollständig analysiert. 5. Am besten wird die Wirkung medialer Gewalt nach Ansicht vieler Gewaltforscher durch die von Albert Bandura begründete sozial-kognitive Lerntheorie erklärt (vgl. Kunczik u. a. 2006, 149 ff.; Bonfadelli, 245 f.; Wun‐ den 2002, 85 ff.): Ausgangspunkt bildet die These, dass Alltagsgewalt wie jedes andere Verhalten auch anhand von Vorbildern und Modellen gelernt wird: Wenn Menschen das Verhalten anderer Personen in der Realität oder in den Medien verfolgen, leiten sie daraus Handlungsregeln ab und eignen sich die entsprechenden Handlungsmuster an. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der „Aneignung“ aggressiver Handlungsmuster als latenter kognitiver Strukturen und der „Ausführung“ entsprechender Taten in der realen Außenwelt. Ob der Mediengewaltkonsument tatsächlich zum Täter wird, hängt von einem komplizierten Zusammenspiel von Me‐ diengewalt, Person und Umwelt ab. Auf Seiten der Medienpräsentation 351 6.1 Produzentenethik <?page no="352"?> erhöhen folgende Faktoren die Umsetzung der Handlungsmuster: 1. Das aggressive Handeln des Modells im Film muss als erfolgreiches und legitimes Mittel zur Konfliktlösung präsentiert werden. 2. Die Modelle werden umso eher nachgeahmt, a) je realitätsnaher sie sind und b) je ähnlicher sie dem Rezipienten sind. Es muss zu einer Identifikation mit dem Modell kommen, die durch Übereinstimmung in den Persönlichkeitsstrukturen und Lebens‐ weisen begünstigt wird. Diese Bedingungen wären also beispielsweise nicht gegeben, wenn der Gewalttäter von seinem medialen sozialen Umfeld geta‐ delt oder bestraft wird, wenn ein unsympathischer Gegenspieler die Gewalt ausübt oder eine Identifizierung mit dem Opfer und seinem Leid geschaffen wird. Da bei Computerspielen anders als beim bloß passiven Konsum von Filmen, oder Videos Gewalttaten in der virtuellen Welt aktiv eingeübt und Erfolge mit einem Sieg belohnt werden, dürfte der Einfluss auf Gefühle und Denkmuster hier generell größer sein. Bisherige empirische Befunde zu negativen Wirkungen von Computerspielen sind jedoch heterogen und teilweise widersprüchlich (vgl. Piniek, 148 ff.; Kunczik u. a. 2006, 287 ff.). Damit aus den latenten Handlungsmustern tatsächlich manifeste Gewalt‐ taten hervorgehen, müssen noch zahlreiche andere Faktoren seitens der Rezipienten zusammenstimmen, allen voran bestimmte Persönlichkeitsei‐ genschaften, ein spezifisches soziales Umfeld und eine besondere Lebenssi‐ tuation (vgl. Bonfadelli, 246; Mikat, 71): Zunächst müssen dem Rezipienten natürlich die nötigen Mittel für eine Imitation zur Verfügung stehen, und es muss sich ihm eine günstige Gelegenheit bieten. Hinsichtlich der sozialen Faktoren sind Menschen besonders gefährdet, die in ihrem sozialen Umfeld Gewalt als Normalität erleben oder sozial isoliert sind. Kinder und Jugend‐ liche aus „behütetem“ Elternhaus hingegen, in dem über die gewalthaltigen Medieninhalte diskutiert wird und denen ein stabiles Wertegerüst vermittelt wird, neigen trotz häufigem Konsum selten zu aggressivem Verhalten (vgl. Wunden 2002, 87). Bezüglich der Persönlichkeitsvariablen gehören zu den Risikofaktoren ein niedriges Selbstbewusstsein und Inkompetenz‐ gefühle sowie Aggressivität bzw. ein hoher Erregungsgrad („sensation seeking“) als Persönlichkeitseigenschaft (vgl. P. Grimm, 162). Wo alle nega‐ tiven Wirkungsfaktoren zusammenkommen, können bereits angeeignete aggressive Verhaltensmuster durch mediale Gewaltdarstellungen verstärkt werden und zur Ausführung überleiten. Fassen wir die Ergebnisse der Medienwirkungsforschung zusammen: Wie die Habitualisierungsthese richtig herausstellt, kann erst ein regelmäßiger Konsum von gewalthaltigen Medienpräsentationen eine allmähliche Verän‐ 352 6 Medienethik <?page no="353"?> derung der Empathiefähigkeit und der Werthaltungen bewirken. Gemäß der sozial-kognitiven Lerntheorie liegen aber keine einfachen und monokau‐ salen Wirkungen vor, sondern hochkomplexe Wirkzusammenhänge. Am ehesten sind Auswirkungen von Mediengewalt auf reales Aggressionsver‐ halten bei jüngeren, männlichen, sozial benachteiligen Vielsehern zu erwar‐ ten, die bereits eine violente Persönlichkeit besitzen und Gewalt in Familie und Peer-Groups erleben (vgl. Bohrmann 2010, 420). Reale bzw. realitätsnahe Gewaltdarstellungen haben bei Kindern und Jugendlichen generell ein viel größeres Wirkungsrisiko, können sie psychisch überfordern und mora‐ lisch destabilisieren, weshalb ein besonderer Jugendschutz geboten ist. Es scheint die Bestätigungs-These zu stützen, dass besonders unter gewaltkon‐ sumierenden Jungen das Aushaltenkönnen drastischer Gewaltdarstellungen als Zeichen von Männlichkeit und Stärke gilt und die von meist männlichen Darstellern ausgeübte Gewalt als vorzugswürdiges Konfliktlösungsmuster angesehen wird (vgl. P. Grimm, 164; 166). Die vorliegenden Befunde der empirischen Medienwirkungsforschung legen aber nur einen schwachen Einfluss der Mediengewalt auf das Aggressivitätsniveau der Rezipienten nahe. Aufgrund von Langzeitstudien geht man in der Medienwissenschaft davon aus, dass die Medien für einen Aggressionszuwachs zwischen 1 und 10% verantwortlich sind (vgl. Bonfadelli, 244; Kunczik u. a. 2006, 161). Für einzelne Angehörige der oben umrissenen Problemgruppe kann ein durch‐ schnittlich sehr schwacher Anstieg aber bereits ausreichen, um in einer krisenhaften Situation ein gewalttätiges Verhalten, in seltenen Fällen eine direkte Nachahmungstat gemäß der Suggestionsthese auszulösen. Dennoch kann die relativ schwache Korrelation zwischen Mediengewaltkonsum und Aggressivität schwerlich ein absolutes Verbot von Gewaltdarstellungen rechtfertigen. Je nach Art der Präsentation sollen Gewaltdarstellungen nach Hausmanningers Studien sogar einen zentralen Beitrag zur „Domestizie‐ rung“ („Zähmung“) der Gewalt in unserer Gesellschaft leisten können. 353 6.1 Produzentenethik <?page no="354"?> wichtigste Thesen zur Medienwirkung Kommentar 1) Katharsis-These: Mitvollzug der Ge‐ walttaten in der Phantasie führt zu Aggressions-Abnahme gilt als widerlegt 2) Suggestions-These: Konsum media‐ ler Gewalt führt unmittelbar zu Nach‐ ahmungstaten trifft nur auf seltene Fälle psychisch labiler Personen zu 3) Habitualisierungs-These: häufige Rezeption von Mediengewalt führt zu Gewöhnung und Abstumpfung langfristige Veränderung der Wert‐ haltungen und Abnahme der Empa‐ thie wahrscheinlich 4) Bestätigungs-These: Menschen mit Prädispositionen zu aggressivem Ver‐ halten wählen gewalthaltige Angebote Indizien verschiedener Studien sprechen dafür; nur Teilerklärung 5) Sozial-kognitive Lerntheorie: All‐ tagsgewalt wird an Modellen gelernt, deren aggressives Verhalten zum Erfolg führt und mit denen man sich identifi‐ ziert These empirisch bestätigt; aber komplexes Zusammenspiel psychi‐ scher, sozialer und biographischer Faktoren A Nonfiktionale Unterhaltungsangebote Im Rahmen einer Produzentenethik ist vornehmlich nach den Kriterien für ethisch legitime Formen der Präsentation von Gewalt zu fragen, insbe‐ sondere unter Berücksichtigung verschiedener Stilmittel, Darstellungsfor‐ men, Genres und Kontexte von Gewalthandlungen. Eine erste wichtige Unterscheidung bezüglich verschiedener Genres ist diejenige zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Unterhaltungsangeboten: Reale Gewalt in non-fiktionalen Unterhaltungsangeboten verbietet sich ethisch eindeutig, wenn unschuldige Menschen zu Opfern werden. Denn diese würden nicht nur unter der ihnen zugefügten Gewalt leiden, sondern zusätzlich unter der Demütigung durch die öffentliche Zurschaustellung ihrer Hilflosigkeit und ihres Leids. Es stellte eine nochmalige Entwürdigung dar, wenn ihre Verdinglichung vorgeführt wird und sie auch noch zu Opfern von Sensationslust werden (vgl. P. Grimm, 166). Etwas anders verhält es sich mit der sozial legitimierten und legalen „sauberen Gewalt“ gegenüber Kriminellen oder Gewalttätern z. B. von Seiten der Polizei als Gesetzeshüterin. In der amerikanischen Fernsehserie „Cops“ beispielsweise bot ein Kamerateam Unterhaltung und Nervenkitzel, indem es die Polizei live auf spektakulären Verbrecherjagden wie etwa beim Aufspüren und Zerschlagen eines Rauschgiftrings begleitete (vgl. Stolte, 198). Auch gesell‐ 354 6 Medienethik <?page no="355"?> schaftlich legitimierte Gewalt kann jedoch in einer solchen drastischen und sensationellen Präsentation negative Auswirkungen auf die Rezipienten haben. Besonders problematisch sind die im Fernsehen immer häufiger anzutreffenden Hybridformate wie Boulevardmagazine, TV-Movies und Reality-TV, in denen gewalthaltige Fakten und Fiktionen vermischt werden (vgl. P. Grimm, 163 f.). Wo durch große Realitätsnähe von Gewalt bzw. durch die Emotionalisierung und Dramatisierung realer Gewalt die Aufmerksam‐ keit der Rezipienten intensiviert wird, erhöht sich gleichzeitig auch das Wirkungspotential der Gewaltdarstellungen. Denn für die Verarbeitung von gewalthaltigen Darstellungen hat sich der Grad an Realitätsnähe oder „Echtheit“ als entscheidender Wirkungsparameter herausgestellt (vgl. ebd., 162). B Fiktionale Unterhaltungsangebote Bei der im Fernsehen gezeigten Gewalt handelt es sich jedoch größtenteils um fiktionale Beiträge wie Spielfilme, z. B. Krimis, Western oder Horror‐ filme, sowie Trickfilme (vgl. Bonfadelli, 233). Hier werden erfundene Ge‐ schichten erzählt, auch wenn der fiktionalen Handlung reale Ereignisse oder Personen zugrunde liegen können. Da sie von professionellen Schauspielern dargestellt werden, gibt es keine Opfer der Gewalthandlung wie bei nonfik‐ tionalen Unterhaltungsangeboten. Nach Bohrmann und Hausmanninger hat man bei Mediengewalt in fiktionalen Unterhaltungsangeboten grundsätz‐ lich zu unterscheiden zwischen a) „realweltlich bezogenen Präsentationen“ und b) „alltagsenthobenen realitätsfernen Präsentationen“ (vgl. Hausman‐ ninger 2002, 269 ff.; Bohrmann 2002, 320 ff.). Von den Medienschaffenden wird verlangt, dass sie sich für die eine oder andere Dramaturgie entscheiden und diese Entscheidung durch die Form des Films den Rezipienten von Anfang an deutlich machen. Für beide Typen statuieren sie andere ethische Legitimationskriterien: a) realweltlich bezogenen Präsentationen Wenn ein fiktionaler Film sich mit gesellschaftlichen Themen auseinan‐ dersetzt und realweltlich bezogene Aussagen machen will, muss er den gesellschaftlich akzeptierten Werten und Normen Rechnung tragen. Gewalt darf dann nur als eine destruktive, Leid verursachende und das friedliche de‐ mokratische Zusammenleben gefährdende Kraft dargestellt werden. Ethisch illegitim wäre jede Form der Verherrlichung, Verharmlosung oder Propa‐ gierung von Gewalt beispielsweise als ein probates Mittel zur Lösung von Konflikten oder zur Ausschaltung von Minderheiten (vgl. Hausmanniger 355 6.1 Produzentenethik <?page no="356"?> 2002, 351 f.). Der Kampf zwischen Gut und Böse müsste mit einem Sieg des Guten enden, das durch eine Sympathie erweckende Hauptfigur reprä‐ sentiert wird, oder in eine tragische Auflösung münden (vgl. Bohrmann 2002, 321). Denn wenn am Schluss das unmoralische Handeln weder bestraft noch verurteilt oder auch nur problematisiert wird, kann entsprechend der Habitualisierungsthese eine gewaltbejahende Werteinstellung gefördert werden. Zudem darf das Leid der Gewaltopfer nicht ausgeblendet werden. Als ethisch akzeptables Beispiel einer realweltlich bezogenen Gewalt nennt Hausmanninger den Film Freitag der 13., der sich mit jugendtypischen Themen auseinandersetzt und Gewalt von Anfang an negativ bewertet (vgl. Hausmanninger 2002, 270 f.). Auch viele Krimis verurteilen Gewalt indirekt, indem die Gewalttäter zur Wiederherstellung der moralischen und rechtlichen Ordnung verfolgt und bestraft werden. Einen eindeutig „gewaltdomestizierenden“ Beitrag leisten des Weiteren Anti-Kriegsfilme oder andere kritische Auseinandersetzungen mit Gewalt. b) alltagsenthobene realitätsferne Präsentationen Wo die Medienschaffenden sich aber für ein von der realen Lebenswelt klar abgegrenztes fiktionales Geschehen und eine genrespezifische Künstlichkeit eines Films mit verfremdenden Stilmitteln entschließen, sei ein geregelter Tabubruch ethisch zulässig (vgl. Hausmanninger 2002, 269). In einem völlig entwirklichten alltagsfernen fiktionalen Raum dürften auch böse Figuren wie Monster am Ende siegen oder surreale Gewalt rein um des Spektakels willen präsentiert werden. Diesem Typus wären die Genres Horror, Science-Fiction oder Fantasy zuzuordnen, konkret etwa die beiden Horrorfilme The Evil Dead („Tanz der Teufel“) oder From Dusk Till Dawn (vgl. ebd., 270). Tatsächlich dürfte zwar jeder gesunde erwachsene Mensch solche fiktionalen Welten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten von der realen Welt mit ihrem ethischen Gewaltverbot klar unterscheiden können, sodass er keine Handlungsregeln daraus ableitet. Wo sich aber in einer noch so wirklich‐ keitsfremden Welt die spektakulären Gewaltexzesse zur Spannungserhö‐ hung jagen und kaum mehr eine reflexive Erfassung des Geschehens erlau‐ ben, sind wohl ähnlich wie bei ultrakurzen Werbespots der manipulativen „subliminalen Werbung“ unbewusste Beeinflussungen zu befürchten (vgl. Kap. 6.1.3). Aufgrund des bestehenden Risikos einer positiven Bewertung und Faszination von Gewalt oder einer affirmativen Einstellung gegenüber Gewalt und der Zunahme des Gewalt- und Aggressionspotentials sollte aus ethischer Sicht der Umfang der Gewalt im gesamten Fiction-Bereich so 356 6 Medienethik <?page no="357"?> gering wie möglich gehalten werden. Wie es auch in den „ARD-Grundsätzen gegen Verharmlosung und Verherrlichung von Gewalt im Fernsehen“ heißt, wäre eine mediale Präsentation von Gewalt unverantwortlich, die sich allein am Zuschauerfang und damit an ökonomischen Kriterien orientiert: „Bei Serien, Spielfilmen und anderen Unterhaltungsangeboten darf Gewalt nicht als Mittel zur Steigerung der Einschaltquoten eingesetzt werden, sondern nur wenn und soweit es dramaturgisch notwendig ist.“ (Punkt 2.2, zitiert nach Wunden 2002, 94) Gewalt in Unterhaltungsangeboten A non-fiktionale Unterhaltungs angebote (reale Gewalt) - reale Gewalt gegenüber Unschuldigen ethisch illegitim - bei „sauberer Gewalt“ Trennung Nachricht - Unterhaltung B fiktionale Unterhaltungsangebote (inszenierte/ simulierte Gewalt) a) r ealweltlich bezogene realistische Präsentatio nen Gewalt ist ethisch illegi tim: es gelten realweltli che Normen b) realitätsabgehobene Präsentationen im fiktiven Raum Gewalt u. U. ethisch zulässig: es gelten andere Normen 2) Sexualität und Pornographie Nach „Gewalt“ sind „Sex“ und „Pornographie“ die zweithäufigsten Themen in der medialen Unterhaltung, die regelmäßig für Unmut gegenüber den Medienproduzenten sorgen. Während aus individualethischer Sicht sexuelle Tätigkeiten im Allgemeinen einen wichtigen Beitrag zu einem gelingenden und glücklichen menschlichen Leben leisten, sind erzwungene Formen von Sexualität wie Vergewaltigungen, Zwangsprostitution, sexuelle Nötigung und sexueller Missbrauch von Kindern moralisch höchst verwerflich. Abbil‐ dungen solcher zwangsausübenden Praktiken in non-fiktionalen Unter‐ haltungsangeboten sind absolut indiskutabel, weil diese gegen das Recht auf Selbstbestimmung und Würde der Opfer verstoßen und diesen großes physisches und psychisches Leid zugefügt wird. Schwieriger fällt die ethische Bewertung, wenn solche erzwungenen Formen von Sexualität im Rahmen fiktionaler Unterhaltungsangebote entweder auf freiwilliger Basis von Schauspielern inszeniert oder bloß mit Spielfiguren am Bildschirm simuliert 357 6.1 Produzentenethik <?page no="358"?> werden. Denn hier müssen weder die Opfer leiden noch werden irgendwelche Persönlichkeitsrechte verletzt. Soweit es sich dabei aber um realweltlich bezogene Präsentationen handelt, gelten wie bei realitätsnahen Gewaltdar‐ stellungen dieselben moralischen Normen wie in der realen Welt (vgl. 1a, S. 354f.). Es muss also durch den Kontext klar gemacht werden, dass es sich um eine illegitime sexuelle Betätigungsform handelt. Unzulässig sind alle gewaltverherrlichenden oder verharmlosenden sexuellen Darstellungen, bei denen Schmerz und Verzweiflung der Opfer ausgeblendet werden oder diese den Schmerz und die Verletzung sogar genießen. Eine Vergewaltigung darf nicht als erfolgversprechendes Mittel zur Lustempfindung, sadistisches Sexu‐ alverhalten nicht als luststeigernd präsentiert werden. Wie bei Gewaltdarstel‐ lungen wären hingegen realitätsabgehobene Präsentationen simulierter Vergewaltigungen in einem fiktiven Raum mit anderen Gesetzmäßigkeiten und Normen ethisch zulässig. erzwungene Formen von Sexualität in Unterhaltungsangeboten non-fiktionale Unterhaltungsangebote reale Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexueller Missbrauch von Kindern ethisch illegitim fiktionale Unterhaltungsangebote durch erwachsene Schauspieler oder Spielfiguren dargestellt realweltlich bezogene realistische Präsentationen dürfen nicht als legitime Mittel zur Lustgewinnung dargestellt werden realitätsabgehobene Präsentationen im fiktiven Raum u. U. ethisch zulässig, da andere Normen gelten Ethisch kontrovers diskutiert werden besonders pornographische Darbie‐ tungen: Pornographie meint alle unverhüllt reißerischen Darstellungen der menschlichen Sexualität, insbesondere der Geschlechtsorgane in ihrer sexuellen Aktivität zum Zweck der sexuellen Erregung der Betrachter. Do‐ minantes Motiv in pornographischen Medienangeboten ist die zufällige Be‐ gegnung zwischen einem Mann und einer Frau, die sofort von einer unbän‐ digen Lust überwältigt werden und ohne Umschweife sexuelle Handlungen aufnehmen. Danach gehen beide wieder ihrer Wege (vgl. Faust, 6). Seit der Popularisierung und Allgegenwart von Pornographie im Internet haben die Diskussionen über die sogenannte Pornographisierung der Gesellschaft 358 6 Medienethik <?page no="359"?> an Fahrt aufgenommen. Angesichts der großen Vielfalt an verschiedenen Darstellungsweisen und einer heterogenen Nutzung gilt es in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachliteratur zur Pornographie-Ethik jedoch als unabdingbar, nach verschiedenen Subgattungen und unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu differenzieren (vgl. Döring, 15). Medienethiker pochen ganz generell auf einen besseren Schutz der Rechte auf Privatsphäre oder auf sexuelle Selbstbestimmung all derer, die keine Zeugen pornographischer Darstellungen werden wollen (vgl. Fu‐ niok 2001, Abschnitt 5; Leiner, 185). Insbesondere mit Blick auf die sensible sexuelle und geistig-ethische Entwicklung der Heranwachsenden müsse mittels technischer oder anderer Vorkehrungen sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche nicht mit den pornographischen Darbietungen in Berührung kommen. Neben positiven Aspekten des Pornographiekonsums von Erwachsenen wie einem offenen Umgang mit menschlicher Sexualität, einer „Demokratisierung“ der sexuellen Verhältnisse und mehr sexueller Lust werden viele Kritikpunkte angeführt. Die meisten Argumente der po‐ litisch-konservativen, religiösen oder feministischen Anti-Porno-Position sind konsequentialistische Argumente, die auf diverse beobachtete oder erwartete schädliche Wirkungen aufmerksam machen (vgl. Döring, 11). Aus individualethischer Perspektive höchst unerwünscht ist die Zu‐ nahme der eigenen sexuellen Unzufriedenheit (vgl. Freitag, 13; Faust, 13). Wer nämlich die körperliche Attraktivität der Pornodarsteller, ihre bisweilen akro‐ batischen sexuellen Aktivitäten und ekstatischen Zustände auf dem Bildschirm zum Maßstab nimmt, kann in der Realität nur enttäuscht werden. Insbeson‐ dere bei Jugendlichen können schon die überdurchschnittlich ausgeprägten Brüste und Penisse, oft retouchiert, operativ vergrößert oder nachträglich in Filme oder Videos hineinmontiert, große Verunsicherung verursachen. Aus der sozialethischen Perspektive hingegen wären die schlimmstmöglichen Konsequenzen der Rezeption von pornographischen Präsentationen hegemo‐ nialer Männlichkeit eine sexistische Diskriminierung oder eine Zunahme sexueller Gewalt gegenüber Frauen. Die vermuteten Wirkungszusammen‐ hänge sind aber undurchsichtig und schwer zu ermitteln (vgl. Allhutter, 174). Mit Schwierigkeiten behaftet sind insbesondere empirische Befragungen von Männern, denen im Fall eines Geständnisses Straffreiheit zugesichert werden muss. Nach einigen Befragungen steigert eine intensive Nutzung sowohl von zwangsausübender als auch von nichtzwangsausübender Pornographie die Vergewaltigungsbereitschaft der Männer (vgl. Faust, 15; Freitag, 6). In einer Reihe von Untersuchungen ließ sich eine Zunahme sexueller Gefühllo‐ 359 6.1 Produzentenethik <?page no="360"?> sigkeit männlicher Konsumenten gegenüber Frauen nachweisen (vgl. Faust, 15). Registriert wurden zudem negative Einstellungen gegenüber intimen Paarbeziehungen, verminderte Wünsche nach längerfristigen Bindungen und eine ablehnende Haltung gegenüber Familiengründung und Kinderwunsch (vgl. Freitag, 12). Auch wenn sich aber Korrelationen zwischen Pornographie‐ konsum und promiskuitiver Sexualmoral empirisch nachweisen lassen, dürfen diese nicht umstandslos als monokausale Wirkung gedeutet werden (vgl. Fili‐ povic, 327). Die vielfach behauptete starke Negativwirkung von Pornographie gilt wissenschaftlich nicht als hinlänglich erwiesen, weil auch Gegenevidenzen angeführt werden können (vgl. Döring, 12): Trotz wachsender Verbreitung von Offline- oder Online-Pornographie dokumentieren die Kriminalitätsstatistiken verschiedener Länder keine Steigerung sexualisierter Gewalt. Auch findet sich unter den Jugendlichen der angeblich sexuell verrohten oder verwahrlosten „Generation Porno“ ein hoher Grad an Partnerschaftlichkeit und Beziehungs‐ orientierung. Die deontologische Argumentation von Konservativen und vielen Feministinnen besagt, bei der herkömmlichen, an ein heterosexuelles männ‐ liches Publikum adressierten kommerziellen Mainstream-Pornographie werde die menschliche Würde der dargestellten Personen verletzt (vgl. Döring, 11; Leiner, 185; Funiok 2001, Abschnitt 5): Bei den vorherrschenden weiblichen Verhaltensstereotypen werden Frauen nicht als aktive Subjekte dargestellt, sondern als passive Lustobjekte der Männer, deren Wünsche sie in allen möglichen Posen zu befriedigen haben. Obgleich selten näher bestimmt wird, worin die Menschenwürde-Verletzung genau bestehen soll, hat man wohl die „innere Würde“ oder Autonomie der Individuen im Auge. Wenn ein Mensch lediglich auf seinen Körper oder seine Geschlechtsteile reduziert und damit zur Sache verdinglicht wird, scheint die vernünftige Selbstbestimmung untergraben zu sein. Dabei kann es jedoch nicht um die individuelle Würde der Pornodarstellerinnen selbst gehen, da diese ihre Arbeit in aller Regel freiwillig und mit (materiellem) Gewinn ausführen. Wenn Pro-Sex-Feministinnen sich für die Sexarbeiterinnen ein‐ setzen und fordern, jede Frau solle für sich selbst bestimmen dürfen, was erniedrigend oder befreiend sei, argumentieren sie aus der Perspektive der Darsteller-Subjekte. Feministische Gegnerinnen der Pornographie kämpfen hingegen für die Würde aller Frauen im Gattungssinn. Aus ihrer Sicht sind pornographische Darstellungen diskriminierend und zeugen von man‐ gelndem Respekt der Männer als Produzenten und Konsumenten gegenüber Frauen, die als minderwertig wahrgenommen werden (vgl. Allhutter, 175). 360 6 Medienethik <?page no="361"?> In öffentlichen sexualethischen Diskussionen muss es daher um die medial verbreiteten Frauen- (und Männer-)Bilder und Vorstellungen von Sexualität und Liebe gehen wie z. B. die respektlosen, egoistischen Einstellungen gegenüber Frauen (oder Männern) als bloßen Sexobjekten, asymmetrischen Rollenbildern oder eine triebhafte Hingabe an die Sinnlichkeit ohne affektive Bindung der Partner. Die Pro-Porno-Position macht demgegenüber auf ethisch wertvolle Darstellungen einer Non-Mainstream-Pornographie z. B. mit Frauen-, Queer- oder Amateur-Porno aufmerksam, die der ganzen Bandbreite menschlichen Begehrens Ausdruck verleiht (vgl. Döring, 14). ethische Probleme bei pornographischen Darstellungen - Kinderpornographie → sexueller Missbrauch von Kindern - Verletzung der menschlichen Würde im Gattungssinn durch Verdinglichung zu bloßen Lustobjekten - Verletzung der Rechte auf Privatsphäre und auf sexuelle Selbstbestim‐ mung in öffentlich zugänglichen Räumen - mögliche negative Auswirkungen eines intensiven Konsums: a) sozialethisch problematisch: Habitualisierungs- und Lerneffekte wie sinkende Hemmschwelle, gesteigerte Gewaltbereitschaft, abnehmende Empathiefähigkeit b) individualethisch problematisch: Abnahme der eigenen sexuellen Zufriedenheit 3) Reality-Shows Im Zuge des Trends zur Hybridisierung von TV-Formaten, d. h. einer zunehmen‐ den Vermischung von Fakten und Fiktionen, erfreut sich auch das sogenannte Reality-TV zunehmender Beliebtheit und wird mehr und mehr zum Gegenstand ethischer Reflexionen. Hier soll es um Reality-Shows gehen, in denen keine professionellen Schauspieler agieren, sondern „echte“ Menschen. Sie lassen sich unterteilen in Reality-Spielshows wie „Big Brother“ oder „Dschungelcamp“ und Castingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Deutschland sucht den Superstar“. Insbesondere auf jüngere Zuschauer üben diese Formate eine große Faszination aus, weil sie einen hohen Authentizitätsgrad erzeugen und die Jugendlichen identitätsstiftende Modelle für ihre persönlichen Lebensentwürfe erhalten (vgl. Bohrmann 2000, 6). In der Regel können sie sich zudem per Telefon-Voting am Spiel beteiligen und mitbestimmen, wer als Gewinner aus der Show hervorgeht. So schlagen beispielsweis bei „Big Brother“ die Teilnehmenden in bestimmten Abständen zwei Kandidaten aus ihren Reihen für das Verlassen des Camps vor, über die dann die Zuschauer entscheiden 361 6.1 Produzentenethik <?page no="362"?> können. Bei den Castingshows dürfen sich die Sieger als Model oder Sänger in der realen Welt Verträge und Engagements erhoffen. Neben diesen positiv hervorzuhebenden Konsequenzen für die Teilnehmer und Rezipienten wird den Reality-TV-Formaten aber vorgeworfen, sie täuschten Spontaneität, Au‐ thentizität und Wirklichkeit bloß vor. Anders als bei Scripted-Reality-Formaten wird zwar bei Reality-Shows ohne ein Drehbuch gefilmt und es werden keine Szenen mit Laiendarstellern nachgestellt. Das zur Verfügung stehende Filmmaterial wird aber für die Sendung geschnitten und nach dem Prinzip der Quotenträchtigkeit zusammengestellt (vgl. Bohrmann 2000, 8). Zudem werden zur Spannungserzeugung häufig von der Redaktion und den Moderatoren Typisierungen der einzelnen Teilnehmer vorgenommen: Sie werden auf un‐ verwechselbare Charaktere wie „der Paradiesvogel“, „die Diva“, „die falsche Schlange“ oder „der Stallbursche“ festgelegt. Entlang dieser Rollenverteilung werden dann gezielt Konflikte zwischen den Kandidaten geschürt, die das Publikum polarisieren sollen (vgl. Herzinger). Ethisch problematisch ist also die Suggestion von Realität durch die Nähe zu Dokumentationen, ohne dass auf die Manipulationen hingewiesen wird (vgl. ebd.; Filipovic, 330). Bedenkenswerter als die mangelnde Wahrhaftigkeit der Produzenten sind jedoch die von solchen Reality-Shows implizit transportierten Werte und Normen. Häufig werden die Kandidaten von den Produzenten bereits nach dem Prinzip der maximalen Kontrastbildung ausgewählt, und während der Drehphasen wird versucht, das Konfliktpotential zu erhöhen (vgl. Schicha 2019, 201). Zur Erzeugung von Aufmerksamkeit und Spannung ist es also erwünscht, dass es zu strategischen Freundschaften, Zerwürfnissen und verbalen Angriffen kommt. Bei „Big Brother“ verlangen sogar die Spielregeln von den Teilnehmenden ausdrücklich, regelmäßig ihre Sympa‐ thien und Antipathien gegenüber den Mitbewohnern zu bekunden, damit Kandidaten ausgeschieden werden können. Statt positive Modelle für eine gemeinsame Konfliktlösung und ein friedliches Zusammenleben zu präsen‐ tieren, ist Konfliktsteigerung hier Programm, und das ethisch verwerfliche Mobbing wird als unterhaltsames Prinzip eingesetzt (vgl. Bohrmann 2000, 10). Darüber hinaus wird in vielen Reality-Shows suggeriert, maßgebend für persönlichen Erfolg seien nicht berufliche oder kulturelle Qualifikatio‐ nen und Leistungen, sondern der Popularitätsgrad: Jeder scheint aus der Anonymität der Maße hervortreten und zum Star werden zu können, wenn es ihm nur gelingt, die Aufmerksamkeit und Empathie der Zuschauer zu gewinnen. Indem selbst bei den Castingshows oft weniger das Wetteifern um gute Leistungen beim Musizieren oder Modeln im Vordergrund steht als die 362 6 Medienethik <?page no="363"?> zwischenmenschlichen Konfrontationen und tränenreichen emotionalen Ausbrüche, werden v. a. Sensationslust und voyeuristische Interessen be‐ dient. Noch etwas konkreter wird in voyeuristischen Dating-Formaten wie „Adam sucht Eva“ oder „Naked Attraction“ teilweise ein sehr fragwürdiges, realitätsfernes Bild von Liebe und Partnerschaft vermittelt, weil potentielle Partner allein aufgrund ihres Äußeren oder ihrer Geschlechtsteile bewertet werden (vgl. Schicha 2019, 196). Auch werden in vielen TV-Unterhaltungs‐ sendungen unkritisch gängige Schönheitsideale der Schönheitsindustrie transportiert und gefestigt. Junge Frauen, die regelmäßig „Germany’s Next Topmodel“ schauen, weisen signifikant häufiger ein negatives Körperbild auf und denken öfter, sie seien zu dick (vgl. Filipovic, 330). Bei moralischen und auch juristischen Reflexionen über Reality-TV-For‐ mate spielt außerdem das Recht auf Würde eine große Rolle (vgl. Filipovic, 328; Schicha 2019, 200 f.). Am heftigsten kritisiert wird die Art und Weise, wie die zumeist sehr jungen und teilweise unbegabten Kandidaten z. B. in „Germany’s Next Topmodel“ öffentlich vorgeführt, bloßgestellt und der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Der barsche, arrogante Ton und die oft wenig respektvollen Umgangsweisen werden von vielen Zuschauern als menschenverachtend verurteilt (vgl. Herzinger). Aus dieser Warte wer‐ den in solchen Sendungen die einzelnen Menschen und ihre Schicksale funktionalisiert zum Zweck der Unterhaltung der Zuschauer (vgl. Filipovic, 328). Dagegen wird argumentiert, dass sich die Teilnehmer freiwillig und in Kenntnis der Spielregeln für diese Form der Selbstdarstellung entscheiden, jederzeit aussteigen können und peinliche Auftritte für die Chance auf Ruhm und Geld in Kauf nehmen (vgl. ebd.; Schicha 2019, 201 ff.). Dieser Argumentation ist jedoch entgegenzuhalten: Die Kandidaten wissen meist nicht, wie das Material zusammengeschnitten wird und erfahren z. B. in „Big Brother“ erst im Nachhinein, was an herabsetzenden Kommentaren über sie in der Öffentlichkeit kursiert (vgl. Bohrmann 2000, 7). Augenscheinlich fiel es einigen Kandidaten schwer, die offene Ablehnung ihrer Person durch die Mitkonkurrenten und Zuschauer zu ertragen und zu verarbeiten (vgl. ebd., 10). Bereits die Fixierungen auf unvorteilhafte Negativ-Images und die damit einhergehenden Stigmatisierungen sind aus ethischer Sicht problematisch. Wie in der Produzentenethik erwähnt, werden die Rechte auf Privatsphäre und Würde schon allein dadurch verletzt, dass die Menschen in einem hilflosen Zustand starker, unkontrollierbarer Emotionen wie Wut, Trauer oder Angst einem Millionenpublikum präsentiert werden (vgl. Kap. 6.1). Die Zurschaustellung dieser unverhüllten Emotionen kann zu einer zusätzlichen 363 6.1 Produzentenethik <?page no="364"?> psychischen Verletzung führen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit der Kandi‐ daten entlastet die Produzenten in keiner Weise von ihrer Verantwortung für das eingegangene Risiko, zu Unterhaltungszecken das seelische oder leibliche Wohl der Kandidaten aufs Spiel zu setzen (vgl. Filipovic, 328). Zumindest wäre ein Ausschluss von Kandidaten ethisch geboten, die entweder psychisch labil oder krank sind oder sich in einer finanziellen Notlage befinden wie eine Reihe der Teilnehmer im „Dschungelcamp“, deren Entscheidung möglicherweise nur bedingt freiwillig ist (vgl. Schicha 2019, 204). ethische Probleme bei Reality-Shows a) seitens der Zuschauer: - Manipulationen der „Wirklichkeit“ nicht sichtbar gemacht - voyeuristische Interessen und Sensationslust bedient - implizite Wertvorstellungen transportiert, z. B. kritikwürdige Schönheits‐ ideale und Bilder von Liebe/ Partnerschaft; Abhängigkeit persönlicher Erfolge von Popularitätsgrad statt Leistungen - ethisch verwerfliches Mobbing statt positive Konfliktlösungsmodelle b) seitens der Teilnehmer: - negative psychische Folgen bei unverhüllter Zurschaustellung von Emotionen → Recht auf Privatsphäre und Würde verletzt - respektloser Umgang mit Kandidaten - Stigmatisierung durch Negativ-Images - Instrumentalisierung für ökonomische Interesse → Recht auf Würde verletzt 6.1.3 Werbung Werbung versucht die Rezipienten mit Hilfe der Massenmedien dazu zu bewegen, bestimmte Produkte zu kaufen oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Obwohl neben wirtschaftlichen Unternehmen auch andere In‐ stitutionen wie Parteien oder karitative Organisationen Werbung machen, geht es in diesem Kapitel lediglich um Wirtschaftswerbung. Die öffentliche Information über Nutzen und Vorteile von neuen Angeboten spielt in der freien Marktwirtschaft eine zentrale Rolle und ist grundsätzlich gedeckt durch die Rechte auf Gewerbe- und Meinungsfreiheit (vgl. Schicha 2019, 177). Wäh‐ rend die bekanntmachende und informierende Funktion von Werbung ethisch unbedenklich ist, steht die suggestive und manipulative Funktion immer wieder in der Kritik. Anders als die Medienschaffenden im Bereich von Nachrichten, Meinungen und Unterhaltungen scheinen Werbeleute nicht 364 6 Medienethik <?page no="365"?> die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, sondern im Dienst der ökonomi‐ schen Interessen ihrer Auftraggeber zu stehen. 1) Als eine erste Form von ethisch illegitmier Werbung kann die manipulative Werbung gelten, weil dabei das Recht auf Selbstbestimmung und Würde der Betroffenen verletzt wird. Manipulation meint die gezielte Beeinflussung der Einstellungen und Verhaltensweisen anderer Personen zur Erreichung persönlicher Ziele, wobei unter dem Einsatz von Rhetorik, Propaganda, Drogen oder psychologischen Mitteln deren kritische Urteilsfähigkeit ausgeschaltet werden soll. Es lassen sich mindestens drei Unterkategorien manipulativer Werbung unterscheiden (vgl. ebd., 178): a) Zur getarnten Werbung gehört die verbotene Schleich‐ werbung in Zeitungen oder Zeitschriften, die nicht klar vom redaktionellen Teil getrennt und daher nicht als Werbung erkennbar ist. Daneben gibt es das Product Placing im Fernsehen, d. h. das gezielte Platzieren von Markenartikeln in einer Sendung. b) Verfälschende Werbung liefert den Rezipienten falsche, irreführende oder selektive Informationen und spricht häufig bestimmte Bedürfnisse, Ängste oder Lebensgefühle der Rezipienten an. Manchmal werden entfachte verführerische Phantasien als harmlos und für mündige Konsumenten leicht durchschaubar verteidigt, wenn z. B. ein Getränk „Flügel verleihen“ oder ein Schokoriegel „mobil machen“ soll (vgl. ebd., 175). c) Bei subliminaler Werbung werden Werbeaussagen so kurz eingeblendet, dass sie vom Rezipienten gar nicht bewusst wahrgenommen werden können. Auf diese Weise wird sein kritisches Urteilsvermögen am sichersten ausgeschaltet. Werbung: Gesamtheit der gezielten Versuche, mittels der Massenmedien und zu ökonomischen Zwecken die Meinung und das Verhalten der Menschen öffentlich zu beeinflussen Grundfunktionen: - bekanntmachende, informierende Funktion → ethisch unproblematisch - suggestive, manipulative Funktion → ethisch problematisch Ethisch problematisch ist Werbung aber nicht nur hinsichtlich ihrer manipula‐ tiven Funktion, sondern oft bereits aufgrund der Darstellung selbst: 2) Ethisch absolut inakzeptabel ist diskriminierende und beleidigende Werbung. Am meisten attackiert wird das entwürdigende oder sexistische Bild der Frau in der Werbung, auch wenn der Anteil frauenfeindlicher Werbung in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen ist (vgl. Schicha 2019, 181; Bohrmann 1997, 365 6.1 Produzentenethik <?page no="366"?> 119): Immer noch werden kaum bekleidete oder nackte Frauen als Blickfang ohne jeden Bezug zum beworbenen Produkt wie z. B. einem bestimmten Kfz-Modell ins Bild gesetzt. Damit soll wohl suggeriert werden, mit dem Erwerb dieses Produkts steige der Erfolg bei Frauen. Bei vielen Darstellungen mit pornographischem Charakter wird die Frau auf ihre Geschlechtsrolle oder auf bestimmte Körperteile reduziert. Es wird der Eindruck erweckt, als wären Frauen allzeit sexuell verfügbar und wie ein Konsumartikel billig käuflich zu erwerben. Dies bedeutet eine Verletzung der „Würde der Frau“ im Gattungssinn. Sexistisch, d. h. frauendiskriminierend ist solche Werbung insofern, als nur Frauen derart verdinglicht werden. Männer hingegen werden meist bekleidet und als aktive Handlungssubjekte gezeigt, wie in diesem Werbespot einer Fahrschule: Eine Männerhand schiebt ein Spielzeugauto über eine Frau im Ba‐ demantel. Beim Fahren über die Brust hört man: „Ob sie am Berg anfahren …“, in der Schamgegend dann: „…oder ob sie einparken wollen! “ (Bohrmann 1997, 120). Genauso verwerflich ist aber auch verunglimpfende oder erniedrigende Werbung gegenüber anderen Kulturen, Völkern, Minderheiten oder Religions‐ gemeinschaften, die das Anliegen der Völkerverständigung konterkarieren. So bediente sich beispielsweise eine Elektrofachmarkt-Kette in einer WM-Werbe‐ kampagne des Klischees von den Polen als diebischem Volk: Diebische polnische Fußballfans tricksen deutsche Mitarbeiter des Marktes so geschickt aus, dass diese ohne Hosen zurückbleiben (vgl. Stern, 29. 3. 2006). Demgegenüber wurden religiöse Gefühle z. B. bei folgender Entfremdung des Abendmahlgemäldes von Leonardo da Vinci durch ein Textilunternehmen verletzt: Die zwölf Jünger ersetzte man durch zwölf Frauen, die bis auf ihre Jeanshosen nackt waren. Der Kommentar auf dem Werbefoto lautete: „Wir wünschen mit Jesus, dass die Männer die Frauen respektieren lernen“ (Bohrmann 1997, 116). 3) Ethisch fragwürdig ist des Weiteren provokative Werbung, bei der mit einem kalkulierten Tabubruch Aufmerksamkeit, emotionale Erschütterung und Polarisierungen unter den Rezipienten hervorgerufen werden sollen (vgl. Schicha 2019, 179). Oft wird gar nicht für ein bestimmtes Produkt geworben, sondern das Leid von Menschen oder Tieren zur Schau gestellt. Bei der Schock- und Aufmerksamkeitswerbung von Benetton standen z. B. ein ölverschmierter verendender Vogel für die Umweltverschmutzung oder aus‐ gehungerte Flüchtlinge, ein sterbender Aids-Kranker inmitten seiner Familie oder die blutgetränkte Kleidung eines kroatischen Soldaten für menschliches Elend. Es wurde kein Produkt im Bild platziert, sondern es verwies jeweils nur das grüne Firmenlogo „United Colors of Benetton“ auf das Unternehmen. Es bedeutete sozusagen einen kostenlosen Werbeeffekt, dass die Kampagne in 366 6 Medienethik <?page no="367"?> der Öffentlichkeit zu heftigen Kontroversen führte. Indem „Benetton“ sich zum Anwalt von Opfern und Notleidenden machte, hoffte es zudem unmittelbar neue Kunden zu gewinnen (vgl. Schicha 2019, 179). Es sollte das Mitleid der Rezipienten geweckt und zugleich eine Solidarisierung mit dem Unternehmen geschaffen werden, weil dieses scheinbar genauso betroffen über die Missstände ist wie sie (vgl. ebd., 112ff.). Verwerflich daran ist sowohl das Ausnützen einer bestimmten Gefühlslage der Betrachter für den Kundenfang als auch das Instrumentalisieren des Leids der Armen und Elenden für die Absatzsteigerung. 4) Ethisch illegitim ist darüber hinaus etwa auch kriegs- oder gewaltverherr‐ lichende Werbung. 5) Werbung kann aber auch aufgrund der beworbenen Inhalte ethisch bedenklich sein, wenn es sich z. B. um gesundheitsschädi‐ gende Produkte handelt. So ist die Werbung für potentielle Suchtmittel wie Alkohol, Zigaretten und Medikamente untersagt, weshalb z. B. keine leistungs‐ steigernde Wirkung versprochen werden darf (vgl. Schicha 2019, 180f.). Bei bloß ungesunden Nahrungsprodukten sind zwar süße und fettige Artikel weniger reglementiert, aber unzutreffende Gesundheitsversprechungen sind unzulässig. Grundsätzlich ist den Werbekritikern Recht zu geben, dass für eine rationale Kaufentscheidung Vergleiche zwischen verschiedener zur Auswahl stehender Produkte oder Dienstleistungen durch unabhängige Experten wie die Stiftung Warentest oder Foodwatch oder durch kritische journalistische Recherchen wesentlich hilfreicher sind als Wirtschaftswerbung. Da insbesondere Kinder und Jugendliche über eine unzureichend ausgebildete Kritikfähigkeit verfügen, fordert der Werberat mit Blick auf dieses Publikum besondere Sensibilität und ein Verbot direkter Kaufappelle (vgl. Deutscher Werberat, 23; 27). Werbeethik: ethisch illegitime Werbung 1) manipulative Werbung: Steuerung von Bewusstsein und Verhalten ohne Wissen und Willen der Betroffenen a) getarnte Werbung: keine Trennung redaktioneller Text - Werbung b) verfälschende Werbung: falsche oder irreführende Informationen c) subliminale Werbung: ultrakurze Einblendungen 2) diskriminierende Werbung: a) frauenfeindliche Werbung: nackte Frauenkörper ohne Produktbezug als Blickfang instrumentalisiert → Verletzung der Würde der Frauen im Gattungssinn b) verunglimpfende Werbung: beleidigende, erniedrigende Pauschalur‐ teile über andere Völker, Kulturen, Minderheiten oder Religionen 3) provokative (Schock)Werbung: a) Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit durch gezielte Kontroversen b) mitleiderregende Werbung: Mitleid- und Solidaritätsgefühle der Re‐ zipienten werden ausgenützt; das Leid anderer wird instrumentalisiert 367 6.1 Produzentenethik <?page no="368"?> 4) gewaltverherrlichende Werbung: vgl. Kap. 6.1.2 5) falsche Versprechen von Gesundheit, Leistung etc. durch ungesunde oder abhängig machende Produkte 6.2 Rezipientenethik (Publikums-/ Nutzungsethik) Im Gegensatz zur Medienproduktion wird die Medienrezeption in gängigen Handbüchern höchstens marginal behandelt und es gibt nur wenige theo‐ retische Konzepte zur Publikums-, Nutzungs- oder Rezipientenethik (vgl. Rath, 298). Obwohl die Begriffe „Rezipienten“ und „Nutzer“ eher das passive bzw. aktive Moment betonen, stellt jeder Umgang mit Medien einen aktiven Prozess dar (vgl. Funiok 2007, 156 ff.). Medienproduzenten berufen sich gerne auf ein rezipientenorientiertes Verantwortungskonzept und das Angebot-und-Nachfrageargument: Über ihr Nachfrageverhalten können die Nutzer aus dieser Warte das Angebot regulieren, weil ihnen die Medien‐ produzenten lediglich liefern, was sie sich selbst wünschen (vgl. Karmasin u. a., 23 f.). Unbestreitbar ist, dass Rezipienten durch eine Konsumverweigerung bestimmter medialer Inhalte z. B. durch ein simples Abschalten einer Sendung Einfluss nehmen können auf privatwirtschaftlich organisierte Medienunter‐ nehmen, die aus ökonomischen Gründen sehr sensibel auf die erreichten Einschaltquoten bzw. Absatzzahlen reagieren. Genau betrachtet wird aber das Medienangebot nicht von einzelnen Individuen, sondern vom Publikum als Kollektiv oder doch wenigstens von einer größeren Konsumentengruppe gesteuert. Über eine indirekte Verantwortung bei der Exit-Strategie hinaus können Rezipienten zusätzlich noch direkte Verantwortung wahrnehmen, indem sie eine Rückmeldung an die Medienunternehmen geben oder eine Beschwerde bei Selbstkontroll-Gremien wie dem Presse- oder Werberat ein‐ reichen. Seit die Schwelle für Feedbacks an die Medienproduzenten im Internet immer weiter gesunken ist, vermögen die Adressaten allerdings die Flut an häufig spontanen und unqualifizierten Gefallens- und Missfallensäußerungen kaum mehr zu bearbeiten. Ohnehin darf den Mediennutzern keineswegs die alleinige Verantwortung im Medienbereich zugesprochen werden, sodass sie sich in jedem Fall zugestehen müssten: „Wir haben die Medien, die wir verdienen.“ (Faulstich, 84). Denn wo bereits die Produktion oder Beschaffung bestimmter medialer Informationen ethisch problematisch ist wie beispiels‐ weise bei Kinderpornographie oder der Verletzung der Privatsphäre von 368 6 Medienethik <?page no="369"?> Interviewpartnern, sind zweifellos die Medienschaffenden dafür verantwort‐ lich. Hier greift das produzentenorientierte Verantwortungskonzept und es stellen sich keine besonderen Anforderungen an das Nutzungsverhalten der Rezipienten (vgl. Bohlken, 41). Da in den meisten Fällen von einer komplexen Verantwortungsteilung auszugehen ist, sollte der „Schwarze Peter“ nicht von der einen auf die andere Seite geschoben werden (vgl. Kap. 5.2). produzentenorientiertes Verantwortungskonzept rezipientenorientiertes Verantwortungskonzept - einzelne Medienproduzenten tra‐ gen Verantwortung → individuelle Verantwortung - einzelne Rezipienten tragen Ver‐ antwortung → individuelle Verantwortung - Medienunternehmen als Institu‐ tionen tragen Verantwortung → kollektive Verantwortung - Publikum als Kollektiv trägt Ver‐ antwortung → kollektive Verantwortung in den meisten Fällen: komplexe Verantwortungsteilung Medienkompetenz Damit die Rezipienten das vorhandene vielfältige Medienangebot verant‐ wortungsvoll nutzen können, müssen sie über ausreichende Medienkompe‐ tenz verfügen. Auch wenn Medienkompetenz längst als Schlüsselqualifika‐ tion in unserer Informations- und Mediengesellschaft gilt, gibt es keine klare und einheitliche Definition des Begriffs. Es handelt sich bei der Medienkompetenz aber offensichtlich nicht um eine einzige Kompetenz, sondern um ein ganzes Bündel von erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. Gapski, 17 f.; Bohlken, 40; Rath, 303). Dazu zählen ganz basal die technischen Fähigkeiten der Nutzung einer breiten Palette von Medien, also beispielsweise Bedienungskompetenz verschiedener Medien‐ geräte und Computerkenntnisse. Genauso fundamental ist das Erkennen und Verstehen von verschiedenen medienspezifischen Formen, Genres und Funktionen wie etwa von Print- und Online-Zeitungen, Werbung, Unterhaltung, Infotainment etc. Es gehört aber auch dazu, selbst eigene Me‐ dienbeiträge z. B. im Internet gestalten und verbreiten zu können. Darüber hinaus schließt Medienkompetenz die Kenntnis grundlegender Wirkungen verschiedener medialer Darstellungsformen auf Gefühle, Vorstellungswelt und Handlungsmuster mit ein sowie auch die Fähigkeit, zwischen realer und virtueller Welt zu unterscheiden. Während es sich bis hierhin eher um technische oder pragmatische Fertigkeiten handelt, weist die Medien‐ 369 6.2 Rezipientenethik (Publikums-/ Nutzungsethik) <?page no="370"?> kompetenz auch noch eine oft übersehene ethische Dimension auf (vgl. Fu‐ niok 2004, 242; Rath, 303): Ein weiterer Bestandteil ist nämlich die ethische Urteilskompetenz, d. h. die Fähigkeit, Medieninhalte zu erkennen und zu vermeiden, die für einen selbst oder andere schädlich sind (vgl. Bohlken, 40). Diese normative Komponente schließt die Medienkritik als Kompetenz mit ein, das Medienangebot kritisch zu prüfen und eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Je nachdem, ob die Rezipienten bei der ethischen Beurteilung des Medienangebots auf das eigene Wohl oder ihre Umgebung achten, liegt eine individualethische Verantwortung hinsichtlich des eigenen guten Lebens (Kap. 6.2.1) oder aber eine sozialethische Verantwortung als Mitverantwortung des Einzelnen für seine Um- und Mitwelt (Kap. 6.2.2) vor. Medienkompetenz: Komplex verschiedener erlernbarer kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten - technische Fähigkeiten der Nutzung medialer Geräte und Computerkennt‐ nisse - Erkennen und Verstehen verschiedener medienspezifischer Genres und Funk‐ tionen - Kenntnis der Wirkungen verschiedener medialer Darstellungsformen - Unterscheidungsvermögen zwischen realer und virtueller Welt - ethische Urteilskompetenz, Erkennen und Meiden schädlicher Medieninhalte - Medienkritik als Fähigkeit, Medienangebote kritisch zu prüfen rezipientenorientierte Verantwortung individualethische Verantwortung eigenes Wohlergehen, persönliches gutes Leben (Kapitel 6.2.1) sozialethische Verantwortung Um- und Mitwelt, auf höherer Ebene die Medienordnung der Gesellschaft (Kapitel 6.2.2) 6.2.1 Individualethische Verantwortung Aus individualethischer Perspektive bildet das eigene Glück oder Wohler‐ gehen den Orientierungsmaßstab für die Mediennutzung. Die häufigsten allgemeinen Motive im Umgang mit Medien sind die Bedürfnisse oder Zwecke, sich zu unterhalten und zu informieren, sich anregen und beraten 370 6 Medienethik <?page no="371"?> zu lassen (vgl. Rath, 303). Dabei werden die Rezipienten oder Nutzer meist von augenblicklichen, spontan auftauchenden Wünschen geleitet und wählen das Angebot aus, das ihnen in der jeweiligen Stimmungslage gerade guttut (vgl. Funiok 1996, 109). Da dem kleinen Glück von heute aber das große Unglück von Morgen folgen kann, empfiehlt sich auch bei der Mediennutzung eine Ausrichtung an langfristigen Eigeninteressen und übergreifenden Lebenszielen (vgl. Fenner 2007, Kap. 3.1). Der Konsumstil orientiert sich im Idealfall an einem bewusst gewählten und immer wieder reflektierten Lebensstil, der die Weiterentwicklung der individuellen Erleb‐ nis- und Gestaltungsmöglichkeiten und letztlich die eigene Selbstentfaltung fördert (vgl. Funiok 2011, 167). Individualethische Verantwortung für die verschiedenen Wirkungen der Medienangebote trägt der Einzelne also mit Blick auf seine Persönlichkeitsentwicklung oder Persönlichkeits‐ förderung (vgl. ders. 2004, 244; Heesen 2011, 271). Von großem Wert in diesem Prozess sind unstreitig informierende und bildende Medienangebote. Aber auch Unterhaltungsangebote sind für die Entwicklung eines reichen Gefühls- und Phantasielebens als Teil der Persönlichkeitsbildung bedeutsam und können außerdem durch ihre entlastende Funktion einen wichtigen Beitrag zum Wohlergehen leisten. Im Einzelnen erwiesen sich aber in Kapitel 6.1.2 die Wirkungen von bestimmten Darstellungsformen von Gewalt oder Sexualität als problematisch, die sich in Unterhaltungsangeboten einer hohen Präsenz erfreuen. So kann ein übermäßiger Konsum von gewalthal‐ tigen Medienangeboten zu einer abnehmenden Empathiefähigkeit und einer gesteigerten Aggressionsbereitschaft führen, derjenige von Pornographie zu einer Beeinträchtigung der eigenen sexuellen Zufriedenheit. Diese Wir‐ kungsweisen der einzelnen medialen Darstellungsformen sowie die diesbe‐ züglich gesammelten eigenen Erfahrungen müssen berücksichtigt werden, wenn im Zeichen der Medienkritik das vorhandene Angebot sorgfältig sondiert wird. Bisweilen wird bezüglich der Mediennutzung zur Tugend als Einübung einer charakterlichen Grundhaltung oder eines bestimmten Lebensstils auf‐ gerufen (vgl. Lübbe, 69; Funiok 2011, 160; 166 f.). Konkret wird die Tugend der Mäßigung oder des Maßhaltens mit einem bewussten Medien- und Programmverzicht gefordert, damit niemand in der Flut des Informations- und Unterhaltungsangebots versinkt. Da die freie Zeit zudem grundsätzlich beschränkt ist, steht die Mediennutzung aber auch in direkter Konkurrenz zu anderen Freizeitaktivitäten. Die Vernachlässigung beispielsweise von physischen sozialen Kontakten oder körperlicher Betätigung zugunsten 371 6.2 Rezipientenethik (Publikums-/ Nutzungsethik) <?page no="372"?> medienvermittelter Erfahrungen ist einem gelingenden guten Leben abträg‐ lich, weil (reale) Freundschaften und physische Gesundheit grundlegende menschliche Güter darstellen (vgl. Fenner 2007, Kap. 5.3). Ein übermäßiger Medienkonsum kann im Zuge einer Mediatisierung der Wirklichkeit außer‐ dem die Grenzen zwischen realer und medialer Wirklichkeit verschwimmen lassen und zu einer distanzierten und unverbindlichen Haltung zur Welt führen (vgl. Wiegerling, 45). Denn im medialen Raum fehlen beispielsweise Schmerzempfindlichkeit des (eigenen) Leibes und unmittelbare Rückmel‐ dungen darüber, ob die eigenen Realitätskonstruktionen angemessen oder falsch sind. Insbesondere beim intensiven Konsum audiovisueller Medien kann sich der Eindruck verfestigen, die reale Lebenswelt ließe sich auf Knopfdruck ein- und ausschalten. So soll ein amerikanischer Junge seinem Vater, der auf einer einsamen Landstraße unter stürmischem Regenprasseln verzweifelt einen geplatzten Autoreifen zu wechseln versuchte, kopfschüt‐ telnd zugeschaut und empfohlen haben: „Stell doch einen anderen Kanal ein! “ (H. Schultz, 18). Ethisch problematisch ist dieses unverbindliche dis‐ tanzierte Verhältnis zur Außenwelt, weil dadurch auch der unmittelbare Verantwortungsbezug verlorenzugehen droht. Wenn auf dem Bildschirm jemand vergewaltigt wird oder einen Unfall erleidet, ist weder ein Eingreifen der Rezipienten noch eine eigene Urteilsbildung über die Vorgänge erforder‐ lich. Sobald Menschen aber in reale Lebenszusammenhänge involviert sind, sind sie aus einer ethischen Perspektive zum Handeln und zur Übernahme von Verantwortung verpflichtet. Individualethische Verantwortung generelles Ziel der Mediennutzung: persönliches Wohlergehen (Glück, gutes Leben), optimale Persönlichkeitsentwicklung a) Vorsicht gegenüber Medienangeboten mit negativen Auswirkungen: z. B. Wirkungsweise von manipulativer Werbung oder bestimmter Darstel‐ lungsformen von Gewalt und Pornographie beachten b) maßvoller Umgang mit Mediennutzung angesichts folgender Gefahren: - Vernachlässigung wichtiger Freizeitaktivitäten (Freundschaften, Sport) - Gleichgültigkeit, Desensibilisierung, abnehmende Empathiefähigkeit - Verantwortungsreduktion, kein praktisches Verhältnis zur Welt → ethisch geboten: Tugend des Maßhaltens 372 6 Medienethik <?page no="373"?> 6.2.2 Sozialethische Verantwortung 1) Umwelt- und sozialverträgliche Nutzung Aus sozialethischer Perspektive reicht es für eine verantwortungsvolle Mediennutzung nicht aus, sich am eigenen Wohlergehen oder der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu orientieren. 1) Darüber hinaus muss der eigene Umgang mit Medien auch noch sozial- und umweltverträglich gestaltet werden (vgl. Funiok 2011, 169). a) Die Forderung nach Umwelt‐ verträglichkeit des Medienkonsums lässt sich insofern der sozialethischen Verantwortungsdimension zurechnen, als ein starkes öffentliches Interesse an einer intakten Umwelt besteht. Ein verantwortungsbewusster Rezipi‐ ent muss daher die ökologischen Probleme etwa bei der Herstellung der Mediengeräte, beim Stromverbrauch und beim Recycling des teilweise hochgiftigen Elektroschrotts mitbedenken (vgl. ebd.). b) Bei der Sozialver‐ träglichkeit gerät zunächst einmal die soziale Verantwortung gegenüber Familienangehörigen, Partnern und Freunden in den Blick. Wo Fürsorge- oder Freundschaftspflichten rufen, muss der eigene Medienkonsum einge‐ schränkt werden. Wenn sich Partner oder Freunde über einen übermäßigen Medienkonsum beschweren und Beziehungen in die Brüche zu gehen drohen, haben die Rezipienten gegenüber ihren Mitmenschen Rechenschaft über ihr Verhalten und die vernachlässigten Pflichten abzulegen. Wenn es hingegen zu Differenzen bei der gemeinsamen Mediennutzung in Familien oder Beziehungen kommt, sind Prinzipien wie Gerechtigkeit und Fairness zu beachten. Eine sozialverträgliche Mediennutzung verlangt darüber hinaus den Verzicht auf Medienangebote, bei deren Produktion Menschenrechte anderer Personen verletzt wurden, wie z. B. bei der Belagerung von Trau‐ ernden oder bei der Herstellung von Kinderpornographie. 2) Staatsbürgerliche Mitverantwortung Ein sozialethisch verantwortungsvoller Umgang mit Medien darf sich aber nicht auf ein sozial- und umweltverträgliches Nutzungsverhalten beschrän‐ ken. Als Bürger eines demokratischen Staates tragen die Rezipienten näm‐ lich zudem auf einer höheren Ebene eine staatsbürgerliche Mitverantwor‐ tung für das Funktionieren der Medienordnung als solcher (vgl. Funiok 2011, 158). Obgleich nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Eigentum der Gesellschaft ist, stellt das gesamte Mediensystem eine der wichtigsten demokratischen Institutionen von kaum zu überschätzendem öffentlichem Interesse dar. Das Kollektiv der Mediennutzer hat dafür zu sorgen, dass in der Medienordnung nicht allein die ökonomischen Prinzipien des Wettbewerbs, 373 6.2 Rezipientenethik (Publikums-/ Nutzungsethik) <?page no="374"?> sondern auch gemeinwohlorientierte Prinzipien Geltung haben (vgl. ders. 2004, 234). Solche gemeinwohlorientierten Prinzipien können etwa die de‐ mokratiestabilisierende und integrative gesellschaftliche Funktion der Me‐ dien betreffen, die Eindämmung von Gewalt und Pornographie in öffentlich zugänglichen Medienangeboten oder kindergerechte Fernsehprogramme. Es müssen öffentliche Diskussionen über die Medienfreiheit und die Qualität von Medienprodukten geführt werden, um eine qualifizierte öffentliche Medienkritik zu etablieren. In den meisten Ländern haben die Rezipienten auch eine rechtlich garantierte Möglichkeit von Rückmeldungen an die Medienorganisationen wie Rundfunk- und Presseanstalten und Kontrollgre‐ mien wie Werbe- oder Presserat (vgl. ders. 2011, 158). Sie können sich zudem organisieren und z. B. in einer der zahlreichen Publikumsorganisationen aktiv werden, in Deutschland etwa bei „Aktion Funk und Fernsehen (AFF)“ oder „Bürger fragen Journalisten (Bf J)“ (vgl. Staud, 11 ff.). Wünschenswert ist auch das Eintreten für medienpolitische Maßnahmen wie etwa Richtli‐ nien für die Aus- und Weiterbildung der Medienschaffenden, einer „Stiftung Medientext“, eines nationalen „Medienrates“ oder zur obligatorischen Ein‐ richtung von Selbstkontrollgremien oder Ethikkommissionen. 3) Erzieherische Mitverantwortung Als Eltern und professionelle Erzieher tragen die Rezipienten schließlich noch die sozialethische Verantwortung für die Medienerziehung der Kinder und Jugendlichen (vgl. Funiok 2007, 161f.). Einerseits bieten die Medien mannigfal‐ tiges Material für Entwicklungsaufgaben der Jugendlichen wie etwa die Gestal‐ tung von Beziehungen zu Eltern und Freunden oder die Identitätsfindung. Denn sie präsentieren unterschiedliche Lebensformen und Figuren, mit denen sich die Kinder vergleichen, um sich entweder mit ihnen zu identifizieren oder sich von ihnen abzugrenzen (vgl. Paus, 5). Andererseits fehlen den Heranwachsenden kritische Distanz und Abwehrpotentiale, sodass sie leichter manipulierbar sind und durch Pornographie oder grundlose Gewalt in ihrer körperlichen, seelischen und geistig-ethischen Entwicklung erheblich beeinträchtigt werden können (vgl. W. Schulz, 51f.). Auch sind sie teilweise nicht oder weniger gut in der Lage, zwischen Phantasie und Realität, zwischen medialer und realer Wirklichkeit zu unterscheiden. Von problematischen Medieninhalten müssten Kinder daher ganz ferngehalten werden. Statt sie vor dem Fernseher allein zu lassen, sollten die Eltern oder Erziehungspersonen stets für den Fall von Verarbeitungsproblemen erreichbar sein (vgl. Funiok 2004, 242). Um die Medi‐ enkompetenz, insbesondere das kritische Prüfen und bewusste Selektionieren 374 6 Medienethik <?page no="375"?> von Medieninhalten zu fördern, müssen die Kinder über das Gesehene ins Gespräch gezogen werden. Wichtige Themen solcher Mediengespräche können neben gewalthaltigen, rassistischen und pornographischen Inhalten auch die Glücksversprechungen in der Werbung sein: Die Kinder sollen lernen, dass man nicht alles haben kann, und dass Zufriedenheit und Glück entgegen den Sugges‐ tionen der Werbung nicht vom Besitz bestimmter Spielzeuge oder Genussmittel abhängt (vgl. ders. 2007, 162). Als generelles Ziel der Medienerziehung ließe sich formulieren, ein Kind oder einen Jugendlichen „in seiner Autonomie gegenüber dem Medium zu bestärken, ohne ihm die Begeisterung im Umgang damit zu nehmen“ (Wiegerling, 211). Sozialethische Verantwortung 1) umwelt- und sozialverträgliche Nutzung: a) Sozialverträglichkeit: - keine Vernachlässigung von sozialen Pflichten - kein Konsum von Medienangeboten mit menschenunwürdigen Produktionsbedingungen b) Umweltverträglichkeit: ökologische Probleme bei Herstellung und Entsorgung von Mediengeräten, Stromverbrauch etc. bedenken 2) staatsbürgerliche Mitverantwortung: - politische Aktivität für eine gemeinwohlorientierte Medienordnung - Rückmeldungen an Medienunternehmen und Medienkontrollorgane - Engagement in Publikumsorganisationen 3) erzieherische Mitverantwortung: im Gespräch über Medieninhalte die Fähigkeit der Heranwachsenden för‐ dern, selbständig und kritisch mit den Medien umzugehen 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) Anschauungsbeispiel 1: In einem elektronischen „bulletin board“ nahm ein Mann die Identität einer gelähmten Frau namens „Julie“ oder „Joan“ an. Er wurde zum Vertrauten vieler Frauen, mit denen er intensive Gespräche führte. Als seine „wahre“ Identität enthüllt wurde, fühlten sich diese Frauen betrogen und verletzt. (nach Debatin 1999, 289) Ist das Spiel mit digitalen Identitäten ethisch verwerflich? 375 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="376"?> Anschauungsbeispiel 2: Im Dezember 2013 verschickte Justine Sacco, damals erfolgreiche PR-Beraterin und Sprecherin eines amerikanischen Medienkonzerns in London, kurz vor dem Abflug nach Kapstadt folgende Nachricht über Twitter: „Ich fliege nach Afrika. Hoffe, ich bekomme kein Aids. Nur ein Spass. Ich bin weiss.“ Minuten später hatte sich bereits eine Welle empörter Tweets (ein sogenannter Shitstorm) unter dem Hashtag „HasJustineLandedYet“ Bahn gebrochen, die kaum mehr aufzuhalten war und um die Welt schwappte. Justine, die ihren missglückten Tweet nach eigenen Beteuerungen als Witz gemeint hat, wurde von Tausenden online heftig angefeindet und in Kapstadt als meistgehasste Frau der Welt von einem Mob fremder Menschen fotografiert und mit Beleidi‐ gungen und Morddrohungen zugeschüttet. Kurz darauf wurde sie von ihrem Arbeitgeber gekündigt, der auf den Tweet aufmerksam wurde. (nach P. Grimm u. a., 127 f.) War diese Empörungswelle und Selbstjustiz gerechtfertigt und ethisch vertretbar? Anschauungsbeispiel 3: Christian G. verbrachte sein Leben seit mehreren Jahren fast ausschließ‐ lich in Chat-Foren, wo er sich hinter den Nicknames „rosenboy0207“ und „riddick300“ verbarg. Mit mindestens 300 Frauen hat er im Laufe dieser Jahre Kontakte aufgebaut, ca. die Hälfte von ihnen auch persönlich getroffen und mit vielen sexuellen Verkehr gehabt. Sein guter Ruf in „knuddels.de“, „lycos.de“ und den anderen Chatrooms war dem gelernten Trockenbauer sehr wichtig, dessen reales Leben eine Reihe von Episoden aus Gewalt, Mißbrauch, Not und Niederlagen darstellte. Zwei der Frauen, die er zum Austausch von Intimitäten getroffen hatte, waren danach tot. Obwohl es sich nach seinen eigenen Angaben im einen Fall um eine „Affekttat“, im anderen um einen „Unfall“ gehandelt haben soll, ist er zu lebenslanger Haft verurteilt worden. (nach Julia Jüttner: Morde nach Chat-Flirt, SpiegelOnline, 31. 3. 2009) Inwiefern begünstigt Online-Kommunikation kriminelle Machenschaf‐ ten? 376 6 Medienethik <?page no="377"?> Im Zuge der Digitalisierung rückte das Internet seit 2005 immer stärker in den Fokus der Medienethik (vgl. Prinzing u. a., 31). Das Internet, wörtlich übersetzt „Zwischennetz“, ist ein weltweites Netzwerk, das über ein einheitliches Kommunikationsprotokoll die Kommunikation zwischen allen Computern mit Internetzugang regelt (vgl. Greis, 159 f.). Es ermög‐ licht sowohl rein private als auch (halb)öffentliche Kommunikation, wobei nichtöffentliche Internetanwendungen wie E-Mail oder Intranet selten Gegenstand medienethischer Untersuchungen sind. Strenggenommen stellt das Internet auch nicht selbst ein Medium dar, sondern dient nur als Zugang für ganz verschiedene Online-Medien bzw. digitale Medien. Dazu zählen z. B. das World Wide Web, Gesprächsforen (Newsgroups und Chats), soziale Netzwerke (z. B. Facebook, Instagram, WhatsApp), Blog-Plattformen (z. B. WordPress, Blogger.com), Mikroblogs (z. B. Twitter), Wikis (z. B. Wikipedia) und Online-Rollenspiele (z. B. World of Warcraft). Die Inter‐ netethik beschäftigt sich mit sämtlichen ethischen Problemen, die sich im Zusammenhang mit der digital vermittelten Kommunikation sowie mit internetbasierten Anwendungen und Diensten ganz allgemein ergeben (vgl. J. Schmidt, 287). Sie untersucht u. a. die Auswirkungen der Online-Kommu‐ nikation auf die Kultur, Bildung und Verhaltensweisen der Nutzer und fragt nach erforderlichen Regulationen von Plattformen oder des Datenschutzes. Die Internetethik kann als Teil der Medienethik verstanden werden, auch wenn sie mit Themen wie Big Data oder Internet der Dinge den Gegen‐ standsbereich der Medienethik sprengt. Häufig wird sie stattdessen aber zu einer weiter gefassten „Informationsethik“ oder einer „digitalen Ethik“ als Teilbereich gezählt. Die digitale Ethik sucht allgemein nach ethisch richtigen Handlungsweisen und -regeln in einer zunehmend digitalen Welt (vgl. P. Grimm u. a., 11; Spiekermann, 9). Zu ihren Themen zählen etwa auch Robotik und Autonomes Fahren, die nicht in der Medienbzw. Internetethik behandelt werden und eher der Maschinen- oder Technikethik zuzuordnen sind. Da die Mediennutzer im Web 2.0 jederzeit von Medienkonsumenten zu -produzenten wechseln können und insofern „Prosumenten“ sind, lässt sich die Internetethik auch als Prosumentenethik bezeichnen (vgl. Wirtz, 243). Diese beschäftigt sich sowohl mit den bereits behandelten Problemen der Produzenten- und Rezipientenethik als auch mit den zusätzlichen, die sich in den Interaktionen der Prosumenten in der virtuellen Welt ergeben. In den Anfängen der Internetethik in den 1990er Jahren wurde das Internet teils mit Faszination und Begeisterung, teils mit Argwohn als eine eigene, von der realen Welt getrennte Sphäre eines „Cyberspace“ oder 377 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="378"?> einer „Virtual Reality“ betrachtet (vgl. J. Schmidt, 284). Diese Trennung in unterschiedliche Sphären oder Handlungsbereiche suggeriert, dass in diesen jeweils unterschiedliche Regeln, Gesetze und Maßstäbe gelten. Inzwischen steht aber allgemein außer Frage, dass die Offline- und Online-Welten vielfältig miteinander verflochten sind und einander durchdringen (vgl. ebd., 285). Das Internet als Leitmedium des 21. Jahrhunderts eröffnete mit der Möglichkeit einer schnellen und ungehinderten Kommunikation über große Distanzen und mit unbegrenzt vielen Menschen ganz neue Formen der Zu‐ sammenarbeit und des Informationsaustausches zwischen realen Menschen. Trotz der engen Verflochtenheit der beiden Sphären unterscheiden sich aber die Kommunikationsstiuationen und die Art der Informationsvermittlung teilweise erheblich, sodass mit den vielen Chancen der Digitalisierung auch neuartige Gefahren und Risiken auftauchten: allen voran die Zunahme an persönlichen Angriffen und Mobbing im virtuellen Raum, die Unsicherheit bezüglich der Verwertung der ins Netz eingespeisten personenbezogenen Daten und die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen wahren und falschen Informationen (vgl. Schicha 2019, 227). Die Öffnung des medialen Raumes und die Entgrenzung der zur Verfügung stehenden Informations‐ quellen erfordern von den Konsumenten oder Rezipienten eine Erweite‐ rung der Medienkompetenz. Bezüglich ihrer Funktion als Produzenten muss die Internetethik klären, in welchen digitalen Kontexten die gleichen Prinzipien und Normen gelten wie in der realen Alltagswelt. Internetethik: befasst sich mit den ethischen Problemen beim Umgang mit digitalen Massenmedien digitale Massenmedien: - World Wide Web - Gesprächsforen: Newsgroups und Chats - Soziale Netzwerke, z. B. „Facebook“ oder „Instagram“ - Online-Rollenspiele, z. B. „World of Warcraft“ 378 6 Medienethik <?page no="379"?> 1) Informationsflut und Selbstverpflichtung zu Qualitätskriterien Positiv ausgedrückt führt das Internet zu einer “Demokratisierung” von Wissen (vgl. Lenzen, 213 f.; Jandt, 200 f.): Auf der Rezeptionsseite kann sich jeder zu jeder Zeit und von jedem beliebigen Ort ohne Zugangsbeschrän‐ kungen leichterhand sämtliche verfügbaren Informationen beschaffen. Auf der Produktionsseite kann im sogenannten Jedermann-Journalismus jeder jederzeit alles ins Netz stellen, was er mag. In der Folge werden aber die Nut‐ zer mit einer Fülle von ungeordneten und unüberschaubaren Informationen überflutet, deren Qualität sie nur schwer beurteilen können (vgl. Sandbothe, 213). Als Leser oder Zuschauer traditioneller nichtdigitaler Medien gelang es den Rezipienten hinlänglich, durch Zuordnung zu einem bestimmten Verlag, einem Sender oder einer Redaktion sowohl Genre und Funktion als auch die Qualität eines medialen Angebots grob einzuschätzen. Wo aber Kontrollinstanzen wie Redakteure und Herausgeber entfallen und die Publikationsschwellen sinken, finden auch jede Menge Klatsch, Gerüchte, Verleumdungen und Verschwörungstheorien Eingang ins digitale Netz (vgl. Debatin 2002, 226). Viele Beiträge werden anonym oder pseudonym (häufig unter einem „Nickname“: „Spitznamen“) veröffentlicht oder stellen eine mehrfach veränderte Textcollage verschiedener Autoren wie z. B. im Fall der „Wikipedia“-Artikel dar. Vielfach fehlt ein klassisches Impressum, in dem die Verantwortlichen eines Eintrags aufgeführt werden. Immer mehr zum Problem werden Fake News, d. h. gezielte Falschmeldungen im Inter‐ net, mit denen Personen oder Institutionen geschädigt oder die öffentliche Meinungsbildung strategisch beeinflusst werden soll (vgl. P. Grimm u. a., 107 f.; Schicha 2019, 90). Eine solche gezielte Desinformation kann von frei erfundenen Nachrichten über manipulierte Dokumente oder Bilder bis hin zur entstellenden Dekontextualisierung von Informationen reichen. Auch ethisch fragwürdige oder sogar illegale Inhalte wie rassistische, sexistische, propagandistische, gewaltverherrlichende oder menschenverachtende Äu‐ ßerungen gelangen immer wieder in Gesprächsforen oder ins WWW. Informationslücken drohen infolgedessen weniger durch redaktionelle In‐ formationsselektion professioneller Medienunternehmen als durch eine Informationsüberflutung, die der Einzelne nicht mehr bewältigen kann (vgl. Jandt, 200). Es stellen sich die Fragen, wer für solche prolematischen Auswüchse des Internets verantwortlich ist und wie sie verhindert werden können. Begin‐ nend mit der Verantwortung der Nutzer wäre im Zeichen der erweiterten Medienkompetenz mehr Skepsis und kritische Urteilsfähigkeit wünschbar, 379 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="380"?> insbesondere wenn reißerische und emotionalisierende Schlagzeilen zu Reizthemen wie Migration oder Missbrauch in kürzester Zeit die Gemüter von Millionen erhitzen. In den meisten Fällen reicht der gesunde Menschen‐ verstand aus, um „Fake news“ zu entlarven (vgl. Schicha 2019, 95): Zu allererst muss die Seriosität der angegebenen Quellen geprüft werden. Wenn auf etablierte Medien verwiesen wird, sollten immer auch die Originaltexte gelesen werden. Im Verdachtsfall kann ein Nachrecherchieren der im Beitrag erwähnten Namen von Personen oder Organisationen Aufklärung bringen. Darüber hinaus können spezielle Suchmaschinen zuhilfe genommen wer‐ den, die sich wie z. B. www.hoaxsearch.com oder der ARD-Faktenfinder auf das Aufdecken von „Fakes“ im Internet spezialisiert haben (vgl. ebd., 96). Dank neuer KI-Anwendungen können bestimmte Plugins im Browser installiert werden, die Falschnachrichten von einem „content center“ und „fakt checker“ identifizieren und deklarieren lassen können. Um ganz allgemein besser mit der Informationsflut umgehen zu können, stehen auch verschiedene Internet-Server, Suchmaschinen, Softwareagenten oder soge‐ nannte Push-Dienste zur Verfügung. Zur digitalen Medienkompetenz gehören neben der Fähigkeit zur Quellenkritik auch die Kenntnis über die Funktions- und Verarbeitungsweise verschiedener digitaler Dienste und das Wissen darüber, für welche Zwecke oder in welchen Kontexten welche In‐ formationen nützlich sind. So sind z. B. Artikel aus der „Freien Enzyklopädie“ Wikipedia als Einstieg in ein Thema und zur Gewinnung eines Überblicks gut geeignet, nicht aber als zitierfähige Quelle an Hochschulen, weil die Zuschreibbarkeit von Aussagen zu klar identifizierbaren Autoren fehlt und es sich in vielen Fällen nicht um wissenschaftliche Forschungsergebnisse handelt. Bezüglich der Verantwortung der Medienproduzenten gelten für professionelle Journalisten im Online-Bereich prinzipiell die gleichen Forde‐ rungen wie im Pressebereich, die z. B. vom Deutschen oder Schweizer Pres‐ serat im Pressekodex festgelegt werden und etwa das Wahrheitsgebot oder das Unterlassen sensationeller Präsentationen umfassen (vgl. Kap. 6.1.1). Da nationale Ethik-Kodizes allerdings immer nur eine begrenzte Reich‐ weite haben, wären für den Online-Journalismus internationale Richtlinien wünschbar. Zur media accountability werden in neueren medienethi‐ schen Debatten nicht nur die traditionellen Mittel der Medien-Selbstkon‐ trolle wie Presseräte und Pressekodizes gezählt, sondern auch Online-Om‐ budsmänner und die außerjournalistische Medienkritik in Blogs wie z. B. Mediawatch-blogs oder Bildblogs als neue Instrumente der Medienselbst‐ 380 6 Medienethik <?page no="381"?> regulierung (vgl. Stapf 2016, 96). Zum Online-Journalismus gehören neben professionellen Journalisten auch Laien- oder Bürgerjournalisten bis hin zu individuellen Bloggern, die nicht dem Pressekodex verpflichtet sind. V.a. unter Bloggern hat sich „Transparenz“ als wichtigste Grundnorm herauskristallisiert, d. h. die Forderung nach Offenlegung von persönlichen Interessen, Hintergrundannahmen, Standpunkten und Quellen (vgl. Debatin 2010, 27 f.). Dazu kommen noch die Qualitätskriterien der „Akkuratheit“ („accuracy“) als umfassende und faktenorientierte Berichterstattung und der „Anwaltschaft“ („advocacy“), die anstelle professioneller Distanz im Verhältnis von Journalisten und Publikum auf teilnehmende Beobachtung und soziale Verantwortung setzt. Für Online-Medien hat die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia Anbieter (FSM) verschiedene Ethik-Kodi‐ zes entwickelt, so z. B. Selbstverpflichtungserklärungen zur Verbesserung des Jugend-, Daten- und Verbraucherschutzes mit Mobilfunkunternehmen, Chatanbietern, großen Anbietern von Sozialen Netzwerken sowie Suchma‐ schinen. Auf einer höheren Ebene des Rechts fallen Internetplattformen wie Facebook, aber auch Betreiber von Blogs und Internetforen als „Dienstanbie‐ ter“ unter das Telemediengesetz (TMG): Sie sind zwar nicht verpflichtet, die Nachrichten der Nutzer proaktiv zu prüfen, müssen aber bei Hinweisen auf rechtswidrige Handlungen oder Informationen diese unverzüglich ent‐ fernen. Im Jahr 2022 wurde zudem in Europa das Gesetz über digitale Dienste („Digital Services Act“) verabschiedet, das für Vermittlungsdienste wie Online-Plattformen europaweit einheitliche Verfahren zur Meldung und Löschung illegaler Inhalte vorsieht. 2) Algorithmen und Filterblasen Beim Versuch, sich in den digitalen Medien zurechtzufinden, kommen stän‐ dig gezielt oder unbemerkt Algorithmen zum Einsatz. Algorithmen sind Software-Prozeduren, bei denen zur Analyse und Verarbeitung von Daten eine Reihe von klar definierten Operationen schrittweise ablaufen (vgl. Schicha 2019, 238 f.; Heise, 203). Suchmaschinen wie Google oder andere algorithmische Medien können als Gatekeeper eine große Wirkmacht auf die öffentliche Meinungsbildung und den Erfahrungshorizont der Einzelnen entfalten. Dies ist ethisch kritisch zu sehen, weil dabei im Unterschied zur klassischen Gatekeeperfunktion professioneller Journalisten die Frage nach der Verantwortung und nach den jeweiligen Auswahlkriterien ungeklärt bleibt. Nicht nur die Anbieter, sondern letztlich auch die Designer sind in der Pflicht, ethische Prinzipien und Normen wie z. B. Gerechtigkeit, Wahrung 381 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="382"?> der Selbstbestimmung der Nutzer oder Förderung der Meinungsvielfalt zu berücksichtigen (vgl Heise, 206 ff.): Notwendig sind mehr Transparenz über Kriterien und Ziele von Algorithmen und ein Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung an ihrer Entwicklung. Umso problematischer sind selbstler‐ nende Algorithmen, bei denen nicht einmal die Designer selbst die Prozesse vorhersagen können. Ein Verantwortungsproblem stellt der zunehmende Einsatz von Algorithmen beispielsweise im Bereich des Journalismus, dem sogenannten Roboterjournalismus oder Computational Journalismus dar, wenn journalistische Aufgaben bis hin zum Erzeugen von ganzen Texten delegiert und nicht mehr von Menschen kontrolliert werden (vgl. ebd., 203). Während Algorithmen durchaus eine große Hilfe bei der Identifikation aktueller gesellschaftlicher Themen und Trends sind, können insbesondere selbstlernende Algorithmen auch zu einer verzerrten Informationslage führen: Von Filterblasen spricht man, wenn Nutzer von den Algorithmen nur diejenigen Informationen geliefert bekommen, die aufgrund der Ana‐ lyse ihres bisherigen Nutzungsverhaltens ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen am besten entsprechen (vgl. Schicha 2019, 89; P. Grimm u. a., 115). Diese auf Eli Pariser zurückgehende These ist jedoch empirisch nicht leicht zu überprüfen und aufgrund bisheriger empirischer Befunde umstritten. Eindeutig ist jedoch der verwandte Echokammer-Effekt nachgewiesen, demzufolge der virtuelle Umgang mit Gleichgesinnten v. a. in sozialen Netzwerken zu einer verengten Weltsicht führt (vgl. ebd.). Individualethisch bedenklich daran ist, dass den Nutzern so vielleicht für sie durchaus rele‐ vante Informationen vorenthalten werden und ihnen alternative Denk- und Lebensweisen verborgen bleiben. Aus sozialethischer Sicht entfällt damit die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtige Auseinandersetzung mit konträren Positionen und Andersdenkenden (vgl. Punkt 9, Demokrati‐ sierung). 3) Privatsphärenkompetenz und Schutz der Privatsphäre Eines der meistdiskutierten Themen in der Internetethik betrifft das viel‐ fach befürchtete „Ende der Privatheit“ als eine Folge der Entgrenzung der Kommunikation in den digitalen Medien (vgl. Schicha 2019, 233). Unter „Privatheit“ oder Privatsphäre wird der Bereich der persönlichen Lebensgestaltung verstanden, in dem jemand jenseits seiner beruflichen, gesellschaftlichen oder politischen Rollen präsent ist. Etwas irreführend ist die räumliche Eingrenzung des Privaten auf das, was sich in der eigenen Wohung ereignet. Denn einerseits ist der Verkauf von illegalen Drogen 382 6 Medienethik <?page no="383"?> in den eigenen vier Wänden eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit, wo‐ hingegen andererseits ein Gespräch mit Freunden in einem öffentlichen Café Privatsache ist (vgl. P. Grimm u. a., 32). Inhaltlich gesprochen zählt zum Privaten alles, was sich in persönlichen Beziehungen und der Familie abspielt, beispielsweise an Gedankenaustausch, Krisen, Erkrankungen und Intimitäten. Erst in der Aufklärung im Zuge der bürgerlichen Emanzipation wurde die Privatsphäre zu einem hohen und schützenswerten Gut erhoben (vgl. ebd., 30). Als Gründe für die große Bedeutung der Privatsphäre werden häufig das Ausüben von persönlicher Autonomie frei von äußerer Kontrolle und sozialem Zwang sowie die Entwicklung der persönlichen Identität und Wahrung der Integrität genannt (vgl. ebd., 36 ff.; Schicha 2019, 233). Diese Argumentationsweise erscheint allerdings als zu pauschal, weil nur ein autoritäres, manipulatives soziales Umfeld und starre Rollenmuster ohne Interpretationsspielraum, nicht jedoch eine permissive, unterstützende Um‐ gebung die Identitätsfindung und eine freie Lebensgestaltung behindern. Individualethisch bedeutsam ist aber sicherlich ein Rückzugsort, in dem der berufliche und gesellschaftliche Erwartungsdruck abfällt, der damit verbundene Stress in aller Ruhe bzw. inmitten der engsten Angehörigen abgebaut und die vielfältigen Erfahrungen verarbeitet werden können. Nicht zuletzt muss im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung jeder selbst darüber verfügen können, welche Informationen er z. B. hin‐ sichtlich seiner Wohnverhältnisse, Freundschaften und Liebschaften oder seinen charakterlichen Schwächen und Gebrechlichkeiten preisgeben will, sofern sie nicht von öffentlicher Relevanz sind. Es geht beim Schutz der Privatheit also wesentlich um die Kontrolle und Entscheidungsfreiheit, was und in welcher Form davon an die Öffentlichkeit gelangen soll (vgl. P. Grimm u. a., 33; Schicha 2019, 233). Die neuen digitalen Kommunikationsformen bedrohen die so umrissene Privatsphäre auf vielfältige Weise. Mit Blick auf die einzelnen Internetnutzer wäre dringend eine digitale Privatsphärenkompetenz erforderlich (vgl. P. Grimm u. a., 43). Denn obgleich in der Bevölkerung die Sensibilität für den Schutz der Privatsphäre zunimmt und immer wieder in der Öf‐ fentlichkeit dafür protestiert wird, gibt gleichzeitig eine große Zahl von ihnen in Blogs oder sozialen Netzwerken freimütig intime Daten preis. Als Privacy Paradox wird in der Internetethik das widersprüchliche Verhalten diskutiert, dass die Internetnutzer die Privatsphäre zwar als hohes Gut erachten, die Sorge um die eigenen privaten Informationen aber in ihrem Handeln nicht zum Ausdruck kommt (vgl. Schicha 2019, 248; P. Grimm 383 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="384"?> u. a., 45). In der virtuellen Welt scheint die Hemmschwelle vielmehr zu sinken oder „Privatheit“ anders definiert zu werden als in der realen Welt: Hier äußern viele Menschen unreflektierte politische Statements, erzählen ihre Krankengeschichten oder posten Babybilder oder Selfies mit leichter Bekleidung. Ein Grund für dieses Verhalten könnte gerade darin bestehen, dass Privatheit ein so hohes und geschütztes Gut darstellt und eine Online-„Entblößung“ entsprechend hohe Aufmerksamkeit erzielt. Dahinter könnte aber auch ein starkes Bedürfnis nach sozialer Nähe, Selbstdarstellung oder gar Exhibitionismus stehen (vgl. Schicha 2019, 248). Vielfach dürfte auch einfach das Maß an „Öffentlichkeit“ völlig falsch einschätzt werden. Individualethisch problematisch ist, dass man z. B. beim Teilen von Party‐ photos über Facebook oder YouTube nachteilige Wirkungen überhaupt nicht in Betracht zieht. Für die Auswahl geeigneter Bewerber ziehen aber Firmen nicht mehr nur Informationen über potentielle Arbeitnehmer im Internet heran. Vielmehr stehen ihnen inzwischen digitale Dienste für die Auswahl geeigneter Bewerber zur Verfügung, die alle im Internet verfügbaren Daten auswerten. Auch der sichere und verantwortungsvolle Umgang mit eigenen Daten stellt eine wichtige Komponente digitaler Medienkompetenz dar. Zum „Privacy Paradox“ wird darüber hinaus die Tatsache gerechnet, dass die meisten Menschen zwar den Datenschutz für wichtig erachten, aber auf zahlreichen Webseiten „Cookies“ akzeptieren (vgl. P. Grimm u. a., 45). Cookies sind von einem Webserver erzeugte Datensätze, die auf der Festplatte des Rechners abgelegt werden und die persönlichen Informationen und Einstellungen speichern. Neben der Förderung der individuellen Privatsphärenkompetenz müssen aber auch die Softwareent‐ wickler, die Provider und der Staat Verantwortung übernehmen. Bei der etwas missverständlichen Rede vom Datenschutz geht es genaugenommen nicht um den Schutz von Daten, sondern um den Schutz von Personen, ihrer Privatsphäre und ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Zu den schützenswürdigen personenbezogenen Daten gehören nach der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) alle Informatio‐ nen, die sich auf eine identifizierbare Person beziehen wie z. B. Alter, Persönlichkeitseigenschaften oder Gesundheitszustand. Durch die digitale Vernetzung über Cookies, Suchmaschinen oder soziale Netzwerke wurde es viel leichter, solche Daten zu speichern, zu sammeln und zu verarbeiten. Ihre wirtschaftliche Verwertung führte zu einer Kommerzialisierung des Internets. Gesammelte Nutzerdaten z. B. von Facebook oder Fitness-Apps werden als Vermögenswerte betrachtet und für Werbe- oder Analysezwecke 384 6 Medienethik <?page no="385"?> an Drittanbieter verkauft (vgl. P. Grimm u. a., 102). 2018 wurde aufgedeckt, dass das britische Datenanalyse-Unternehmen „Cambridge Analytica“ über eine vermeintlich wissenschaftliche App mit einem Persönlichkeitstest auf persönliche Daten amerikanischer Facebook-Nutzer zugriff, um mit gezielten Botschaften den Präsidentenwahlkampf zu beeinflussen. Ein mög‐ licher Teillösungsansatz könnten bezahlte soziale Netwerke sein. Da es bei der Handynutzung oder der Informationssuche auf dem Computer immer häufiger zu unerwünschten Unterbrechungen mit personalisierter Werbung kommt, wird teilweise auch ein Konfrontationsschutz vor ungewollter Werbung gefordert (vgl. Funiok 2011, 182). Um das kommerzielle Verwerten personenbezogener Daten durch Internetanbieter einzuschränken, braucht es letztlich wie im Umweltbereich eine Informations- oder Datenökologie (vgl. Lenzen, 215; P. Grimm u.a, 42). 4) Überwachung und Vorratsdatenspeicherung Da infolge der Digitalisierung Massen an Nutzerdaten anfallen, warnen Kritiker vor einer konstanten und totalen Überwachung durch den Staat wie in George Orwells Dystopie 1984 (vgl. P. Grimm u. a., 62). Dagegen wird zur Rechtfertigung einer präventiven Überwachung häufig die Redens‐ art angeführt: „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.“ Beide pauschalen Argumentationsweisen helfen aber nicht weiter, weil in öffentlichen demokratischen Debatten vielmehr mit Blick auf ganz konkrete Einsatzfelder die jeweils relevanten Werte, Normen und Rechte gegenein‐ ander abgewogen werden müssen. Ein staatliches Sammeln von Daten lässt sich überhaupt nur mit den Zielen der öffentlichen Sicherheit und dem Schutz der Bevölkerung rechtfertigen, die zu den Kernaufgaben eines Staates zählen (vgl. ebd., 60 f.). Immer wieder heftig diskutiert wird seit den islamistischen Anschlägen auf das World Trade Center am 11.9.2001 die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung, d. h. das verdachtsunab‐ hängige Speichern der Telefon- und Internetdaten aller Bürger, die darüber Aufschluss geben, wer wann mit wem kommuniziert und sich wo in der realen oder digitalen Welt bewegt hat. 2015 wurde in Deutschland zwar ein Gesetz für 2017 angekündigt, das die öffentlich zugänglichen Telefon- und Internetdienste dazu verpflichten sollte, zum Zweck einer Strafverfol‐ gung oder Gefahrenabwehr die Verbindungsdaten 10 Wochen und die Standortdaten 4 Wochen zu speichern. Nach mehreren Klagen wurde das geplante Gesetz aber als europarechtswidrig eingestuft und vorübergehend ausgesetzt, weil es u. a. gegen die Grundrechte auf Achtung des Privat- und 385 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="386"?> Familienlebens und auf Schutz der personenbezogenen Daten verstoße. In Frankreich hingegen wurde die Vorratsdatenspeicherung 2016 im Rahmen der neuen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung eingeführt und sieht eine 12-monatige Speicherung vor. Solange die ausschließliche Nutzung der Daten durch Geheimdienste und Polizei auf diese zentralen sicherheitspoliti‐ schen Ziele und auf Verdachtsfälle eingeschränkt und die Missbrauchgefahr minimal ist, scheinen Ängste bezüglich komplett durchleuchteter Bürger und ihrer ständigen Überwachung in allen Lebensbereichen unangemessen zu sein. Allerdings gibt es in der empirischen Forschung Zweifel daran, ob die Vorratsdatenspeicherung überhaupt zu einer höheren Quote bei der Aufklärung und Prävention von Staftaten führt (vgl. www.mpg.de/ 5000721 / vorratsdatenspeicherung.pdf, 10.1.2022). Während bei der Vorratsdatenspeicherung lediglich die äußeren Kontakt‐ daten der digitalen Kommunikation von den Anbietern aufbewahrt werden, gehen sogannte Bundestrojaner noch einen Schritt weiter: Bundestroja‐ ner sind Spionageprogramme, die heimlich in Computer oder Smartpho‐ nes potentieller Krimineller oder Terroristen eingeschleust werden, um Skype-Gespräche mitzuschneiden, WhatsApp-Chats mitzulesen und private Daten auf Handys und Computern auszuspähen. Für solche weitergehen‐ den inhaltsbezogenen Überwachungsmaßnahmen muss aber zweifellos ein begründeter Verdacht der Planung einer schweren Staftat vorliegen. In Deutschland wurde die Trojaner-Software 2017 für die Polizeibehörden er‐ laubt, aber es gab gleichfalls ab 2018 verschiedene Verfassungsbeschwerden. 5) Anonymität und Senkung der moralischen Hemmschwelle Kontrovers diskutiert werden in der Internetethik auch die Vor- und Nach‐ teile der Anonymität, d. h. der „Namenlosigkeit“ bzw. fehlender Nennung der Verfasser vieler Beiträge im Internet. Häufig wird zwar ein Pseudonym oder ein sogenannter Nickname unter die Texte gesetzt. Da es sich aber in aller Regel um Phantasienamen handelt, sind die Urheber genauso wenig identifizierbar und es liegen ebenso keine Kenntnisse über sie vor. In Gesprächsforen und sozialen Netzwerken müssen weder die Steckbriefe mit den persönlichen Daten noch die Fotos mit dem Erscheinungsbild der realen Personen übereinstimmen. Häufig werden von den Anbietern nicht einmal die Registrierungsdaten verifiziert. Allerdings fallen auch bei digitaler Kommunikation oft Daten an, die zur Identifikation der Ge‐ sprächspartner beitragen können, und in vielen Netzwerken liegt eine enge Verklammerung von Online- und Offline-Kontakten vor (vgl. Reißmann, 386 6 Medienethik <?page no="387"?> 157; Matzner, 248 f.). Pro-Argumente in der Debatte lauteten v. a. in den Anfängen des Internets, Anonymität ermögliche die Konzentration auf das Eigentliche jenseits des äußeren Erscheinungsbildes und eine „Enthüllung des wahren Ichs“ (vgl. Utz u. a., 169; Reißmann, 157). Zudem eröffne sie Mög‐ lichkeits- und Spielräume zum Ausprobieren von Rollen und Identitäten, sodass beispielsweise ein schüchterner Mensch zum Macho werden kann. Während diese Argumente mittlerweile eher in den Hintergrund getreten sind, sieht man in der Anonymität zumindest eine Chance für diskriminierte und stigmatisierte Menschen auf eine individuelle Selbstdarstellung (vgl. Gieseler, 67; Matzner, 249). Bei dieser Argumentationsweise wäre allerdings zu bedenken, dass anstelle einer solchen durch Anonymisierung erreichten Befreiung von Vorurteilen in anonymen Internetforen der gesellschaftliche Kampf gegen Diskriminierung voranzutreiben wäre. Nicht zuletzt wird immer wieder für Anonymität geworben, weil ein Mensch ausschließlich oder doch leichter hinter einer Maske seine echte, unverstellte Meinung kundtut. Die technische Möglichkeit einer anonymen Meinungsäußerung muss den Einzelnen aus dieser Warte gewährt werden, um das individu‐ elle Recht auf Meinungsäußerung abzusichern (vgl. Gieseler, 69). Auch diesem Argument kann einschränkend entgegengehalten werden, dass die anonyme Meinungsäußerung nur in autoritären, repressiven politischen oder unternehmerischen Strukturen notwendig ist, wo demokratische Mit‐ spracherechte und institutionalisierte Beschwerdemöglichkeiten fehlen. Eines der gewichtigsten Gegenargumente gegen Anonymität bzw. Pseudonymität macht auf Probleme falscher Identitäten in der digitalen Kommunikation aufmerksam: Das Auseinanderklaffen von realer und digi‐ taler Persönlichkeit ist nicht erkennbar, weil die physische Präsenz fehlt. Ohne es zu merken, spricht man möglicherweise in einem Chatroom mit einem Mann, der sich als eine Frau ausgibt, und der darüber hinaus noch vorgibt, gelähmt zu sein, obwohl er gesund ist. So geschah es in dem in Anschauungsbeispiel 1 erwähnten elektronischen „bulletin board“, in dem der angeblich Gelähmte unter Decknamen zum Vertrauten vieler Frauen wurde. Da sie seine digitale Identität für die „wahre“ hielten, fühlten sie sich nach der Enthüllung verletzt und betrogen. Die ethische Beurteilung eines solchen Spiels mit Identitäten hängt wesentlich von den intendierten Ge‐ sprächszielen und dem Gesprächskontext ab: In einem Fantasy-Chat spielt die Anschlussfähigkeit zum realen Leben keine Rolle, sodass die Anonymität hier unproblematisch ist. Auch in einem Selbsthilfe-Forum kann Anonymi‐ tät sinnvoll sein, um den Austausch über bestimmte Eigenschaften oder 387 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="388"?> Krankheiten im Privatbereich von anderen Lebensbereichen abzutrennen. Im Gegensatz dazu gelten in Real Life-Chats die gleichen diskursethischen Gebote der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und gegenseitigen Anerkennung wie im realen Leben. Zu denken ist v. a. an die unzähligen Chatforen für Singles, in denen sich alle Teilnehmer reale Beziehungen wünschen. Hier bedeutet es großes Leid, wenn sich der Superman als Angeber entpuppt oder die vermeintlich große Liebe auch mit allen anderen Männern flirtet. Es haben sich deshalb in verschiedenen Chatforen unterschiedliche Normenkataloge herausgebildet: Die sogenannten Netiquetten oder Chatiquetten, zusam‐ mengesetzt aus „net“ bzw. „chat“ und „Etikette“, bezeichnen die Gesamtheit der Normen für den Umgang mit den Gesprächspartnern. Hier werden Nutzer etwa dazu ermahnt, daran zu denken, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt, dass Lügen immer irgendwann entlarvt werden oder die Chat-Betreiber über die IP-Adresse zum Provider der Nutzer und deren Identität gelangen können (vgl. www.singleboersen-vergleich.de/ tipps/ net iquette oder www.chatiquette.de/ , Abruf vom 10.01.2022). Bei der Frage nach der ethischen Legitimität von anonymen Internetbeiträgen kommt es also letztlich darauf an, zu welchem Zweck und in welchem Kontext man anonym sein will. Ethisch bedenklich ist der Umstand, dass die Anonymität und Nicht-Iden‐ tifizierbarkeit im Netz Äußerungen erlaubt, für die niemand die Konse‐ quenzen tragen muss (vgl. Matzner, 250): Sie schafft eine asymmetrische Gesprächssituation, die immer dann zum Problem wird, wenn jemand durch diese Äußerungen in negativer Weise betroffen ist. Denn die Gede‐ mütigten oder Geschädigten haben nicht die Möglichkeit zu reagieren, weil die anonymen Personen nicht erreichbar sind. Es legt sich die An‐ nahme nahe, dass die empirisch feststellbare Häufung von Beleidigungen, Übergriffen und Drohungen mit der Anonymität und Kurzlebigkeit der digitalen Kommunikation zusammenhängt (vgl. Debatin 2002, 231; Matz‐ ner, 251). Als online disinhibition effect bekannt ist das Sinken der moralischen Hemmschwelle im Internet, weil sich offenkundig viele Menschen online Dinge zu sagen oder tun trauen, die sie sich offline nie erlauben würden (vgl. Matzner, 252). Besonders verlockend scheinen rufschädigende Verleumdungen und Drohungen gegen missliebige Perso‐ nen zu sein, wenn die Einzelnen anonym in der Masse aufgehen und als Cybermob ihr Opfer verfolgen, demütigen und bedrohen können. Nach einer sozialwissenschaftlichen Studie aus dem Jahr 2004 sind rassistische Kommentare in anonymen Foren verbreiteter als in weniger anonymen 388 6 Medienethik <?page no="389"?> Kontexten (vgl. Matzner, 252). Anonymität ist aber sicherlich nur einer von mehreren Faktoren für die heruntergesetzte Verhaltenskontrolle im Netz. Ein weiterer ist beispielsweise auch die Unsichtbarkeit der Opfer, die nur in der eigenen Vorstellungswelt präsent sind und deren Leid die Täter nicht zu Gesicht bekommen. Zur Verteidigung der Anonymität könnte man analog zur obigen Argumentation im Zusammenhang mit Diskriminierung anführen, dass moralisch problematische Einstellungen wie Rassismus oder Diskriminierung direkt angegangen werden müssten und ein Verbot der Anonymität keine Lösung darstellt. Die elementarste formale Grundregel der Ethik lautet jedoch, dass alle Menschen ihr Tun voreinander begründen und verantworten müssen (vgl. Ethik, 10). Entsprechend haben sie die Pflicht, auch ihre medialen Äußerungen im Konfliktfall zu rechtfertigen und die Verantwortung für negative Konsequenzen zu übernehmen. Daraus lässt sich durchaus eine Klarnamenpflicht, d. h. das Sprechen mit bürgerlichem Namen zumindest für realitätsbezogene digitale Kommunikation ableiten, die auch das gegenseitige Vertrauen der Gesprächspartner stärken würde. 6) Online-Gewalt und Cyber-Kriminalität Menschen, die anderen Menschen Schaden zufügen wollen, bekommen durch die digitalen Medien ganz neue oder doch erheblich erweiterte Möglichkeiten. Unter Online-Gewalt werden alle gezielten aggressiven Schädigungen von Personen verstanden, die mithilfe des Internets ausge‐ führt werden (vgl. P. Grimm u. a., 122 f.). In den letzten Jahren hat das Phänomen Hate Speech, d. h. beleidigende und diskriminierende Äußerun‐ gen, dank des Internets stark zugenommen. Ein sogenannter Shitstorm meint eine kurzzeitige Flut von sich rasch in die Tausende vermehrenden und zunehmend aggressiveren Diffamierungen bis hin zu Morddrohungen. Auslöser für solche kollektiven Wutausbrüche sind teilweise alltägliche oder nicht näher geprüfte Verfehlungen oder ungeschickt formulierte Tweets wie in Anschauungsbeispiel 2 im Falle von Justine Sacco (vgl. P. Grimm u. a., 125 ff.; Pörksen u. a., 114). Selbst wenn den Vorwürfen ein wahrer Kern zugrunde liegt, wäre ethisch gesehen eine Konfrontation der Betroffenen mit einer argumentativen, sachlichen Kritik und der Möglichkeit einer Klarstellung von Missverständnissen oder einer Entschuldigung und Fehler‐ korrektur angemessener. Vorschnelle und unbegründete Empörungswellen in der Medienöffentlichkeit sind moralisch verwerflich, weil sie gegen die Menschenwürde der attackierten Personen verstoßen, ihren Ruf möglicher‐ weise für immer ruinieren und schweres psychisches Leid verursachen. 389 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="390"?> Nicht immer bleibt es bei der Online-Gewalt, sondern bisweilen werden die Drohungen in die Realität umgesetzt. Cyber-Mobbing meint das gezielte und systematische Beleidgen und Demütigen von Opfern durch Kollegen oder auch Fremden über einen längeren Zeitraum hinweg durch die Nutzung digitaler Medien. Erschwerend kommt zu Offline-Formen des Mobbings hinzu, dass sich auch beliebig viele unbekannte Täter im Schutz der An‐ onymität daran beteiligen können, und die heutige zeitliche Omnipräsenz und Unverzichtbarkeit der Online-Medien den Opfern keinen Rückzugsort lässt (vgl. P. Grimm u. a., 124 f.). Zudem werden im digitalen Zeitalter besonders von jungen Leuten häufig unvorsichtig Fotos und Tweets zu privaten Lebensbereichen verschickt, die sie bloßstellen und zum Objekt des Spotts machen können. Infolgedessen ist der psychische Schaden durch Mobbing mit den neuen digitalen Hilfsmitteln gestiegen, sodass es unter Jugendlichen sogar zu Suiziden oder Suizidversuchen kommt (vgl. ebd., 121). Auch beim Cyber-Stalking kann die Kontaktaufnahme über digitale Medien viel leichter als im realen Leben erfolgen. Unter Cyber-Kriminalität werden in einem engen Sinn Straftaten wie das Abfangen, Verändern und Verbreiten von Daten fremder Rechner als Verstöße gegen das Recht auf Dateneigentum oder Angriffe gegen Informationssysteme gezählt (vgl. Eisele, 255). Darunter fallen also etwa der Online-Datenklau, der Betrug mit Passwörtern und das unbefugte Ausspähen von Daten („Pishing“), das Veröffentlichen privater Daten („Dox‐ xing“) und der Identitätsklau, d. h. das Agieren unter dem Namen einer anderen Person. Von größerer Dimension sind Attacken zur Lahmlegung oder Zerstörung fremder Netzwerkkapazitäten. Dies kann z. B. durch Com‐ puterwürmer, d. h. eine Schadenssoftware geschehen oder durch eine Unmenge von automatisch erzeugten Anfragen von einem sogenannten Botnetz, einem mit Schadenssoftware konfigurierten Rechner, sodass das angegriffene IT-System unter der Last zusammenbricht (vgl. Baur-Ahrens, 262). Bei IT-Großangriffen wird teilweise von einem Cyberwar gesprochen, auch wenn der Begriff wegen der Analogie zu militärischen Aktionen umstritten ist (vgl. ebd., 265 ff.). In einem weiten Sinn werden jedoch zur Cyberkriminalität noch andere Staftaten mittels des Internets gerechnet, z. B. auch Hate-Speech und Cyber-Mobbing, sofern es zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten z. B. durch Beleidigungen oder die Veröffentlichung von Bildern aus dem intimen Lebensbereich kommt (vgl. Eisele, 257). Ebenso fällt das Cyber-Grooming darunter, d. h. die gezielte Ansprache von Kindern zu sexuellen Zwecken. Häufig geben sich Erwachsene im 390 6 Medienethik <?page no="391"?> Online-Chat als Jugendliche aus und versuchen, die Kinder zum Schicken von Nacktbildern oder einem Treffen zu überreden. Auch Erwachsene werden zu Opfern solcher „Faker“, die im Internet Interesse am Profil von meist alleinlebenden und vermögenden oder von gängigen Schönheitsidea‐ len abweichenden Personen zeigen, um deren Vertrauen zu gewinnen. Sie versuchen sie zu einem Treffen an einem abgelegenen Ort zu überreden, wo sie schlimmstenfalls ausgeraubt oder vergewaltigt werden oder wie in Anschauungsbeispiel 3 sogar ihr Leben lassen müssen. Weltweit sehr verbreitet ist auch die Abzocke in Form des Love Scamming: Nachdem eine Chatbekanntschaft zu einer „Freundschaft“ wurde und fast täglich gechattet wird, teilt der neue „Freund“ („Scammer“) plötzlich mit, er sei z. B. in einem Urlaubsland ausgeraubt worden und benötige rasch eine Geldüberweisung. Beim Handytrick will der angebliche „Verehrer“ die Kommunikation etwas persönlicher per SMS fortsetzen und schickt dann plötzlich eine Nachricht von einer Premium-SMS-Nummer, sodass das Antworten teuer wird. Die Kenntnis dieser verschiedenen Gefahrenmodelle und entsprechender Schutzmöglichkeiten müsste fester Bestandteil digitaler Medienkompetenz werden. 7) Virtuelle Gewalt in Online-Rollenspielen Während die soeben erläuterten Formen von Online-Gewalt wie Shitstorms, Cyber-Mobbing oder kriminelle Machenschaften den Opfern gezielt Scha‐ den zufügen wollen, ist dies bei Interaktionen im virtuellen Raum nicht eindeutig: In sogenannten Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspielen führen Menschen zum Zweck der Unterhaltung in der Rolle von Spielfiguren („Avatare“) Handlungen im digitalen Raum aus. Umstritten ist die ethische Beurteilung derjenigen virtuellen Handlungen oder Als-ob-Handlungen, die in der realen Welt moralisch verboten sind, also etwa das Töten, Vergewaltigen, Stehlen oder Lügen. Zweifellos kann aber insbesondere vir‐ tuelle oder Online-Gewalt negative Auswirkungen auf die realen Menschen haben, für die der Spieler verantwortlich ist. So wurde 1993 zum ersten Mal von einer virtuellen Vergewaltigung im großen Online-Rollenspiel „LambdaMOO“ berichtet (vgl. Peter Glaser: Vergewaltigung im Cyberspace, FocusOnline, 17.5.2007): Einem New Yorker Psychologiestudenten alias „Dr. Bungle“ gelang es, mittels eines technischen Tricks die Kontrolle über eine Figur namens „Igeba“ zu gewinnen und sich über sie herzumachen. Die Frau in der Rolle der „Igeba“ erlitt vor ihrem Computer einen Nerven‐ zusammenbruch. Auch wenn der körperliche Schmerz bei der virtuellen 391 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="392"?> Vergewaltigung entfällt, kommt es aufgrund der Identifikation der realen Person mit der vergewaltigten Spielfigur offenbar zu einer traumatischen Erfahrung. Die Demütigung dürfte wohl deswegen als besonders intensiv erlebt werden, weil die ganze Internetgemeinschaft Zeuge wird. Virtuelle Gewalt in Online-Rollenspielen ist angesichts solcher voraussehbaren rea‐ len Schädigungen der Spieler fast genauso scharf moralisch zu verurteilen wie reale. Schwieriger zu beurteilen sind Fälle wie der virtuelle Sex mit Erwachsenen in der Rolle von Kindern, der anfänglich in „Second Life“ praktiziert wurde (vgl. Singer 2007). Nachdem sich sogar die deutsche Staatsanwaltschaft eingeschaltet hatte, haben die Hersteller die Teilnahme an obszönen oder sexuellen Handlungen mit minderjährig aussehenden Avataren als Verstöße gegen „Community-Standards“ bezeichnet und mit Sanktionen belegt. Auch wenn erwachsene Spieler in Gestalt von Kindern im Fall freiwilliger sexueller Handlungen oder Darstellungen keine negativen Folgen erleben dürften, können langfristige Habitualisierungseffekte bei regelmäßigen derartigen Als-ob-Handlungen durch die Aneignung einer positiven Haltung nicht ausgeschloßen werden (vgl. Kap. 6.1.2, Gewalt/ Se‐ xualität). 8) Internetsucht Internetsucht, auch Onlinesucht oder Internetabhängigkeit genannt, meint ein unabweisbares, schwer kontrollierbares Verlangen nach der Internetnutzung und stellt somit eine Form der nichtstoffgebundenen Ab‐ hängigkeit dar. Für das Vorliegen einer Internetsucht müssen außerdem folgende Kriterien erfüllt sein (vgl. Hahn u. a., 281 f.): 1. Indem über eine längere Zeitspanne der größte Teil der Tageszeit zur Internetnutzung ver‐ wendet wird, kommt es zu einer Einengung des Verhaltensraums. 2. Es liegt ein weitgehender Kontrollverlust bezüglich des Beginns und der Beendigung der Internetnutzung vor. 3. Aufgrund der Toleranzentwick‐ lung muss immer mehr Zeit zur Erreichung der gewünschten positiven Stimmungslage eingesetzt werden. 4. Bei längerer Unterbrechung treten Entzugserscheinungen wie Nervosität und Aggressivität und ein starkes Verlangen zur Wiederaufnahme der Aktivitäten auf. 5. Im Bereich der sozialen Beziehungen bezüglich Familie/ Freunden oder in Schule/ Studium oder Beruf stellen sich negative soziale Konsequenzen wie z. B. Streit oder Trennungen ein. Besonders gefährdet sind Jugendliche, aber auch alleinstehende, einzel‐ gängerische und depressive Menschen, Arbeitslose und Teilzeitbeschäftigte 392 6 Medienethik <?page no="393"?> jeden Alters. Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung traten im Jahr 2019 bei 7,6 Prozent der 12bis 17-Jährigen und 4,1 Prozent der 18bis 25-Jährigen internetbezogene Störungen auf, und beide Gruppen nutzen das Internet durchschnittlich 23 Stunden pro Woche rein privat (vgl. Pressemeldung vom 15.12.2020). Frauen und Männer sind zwar gleich häufig betroffen, aber Frauen neigen mehrheitlich zur exzessiven Nutzung von sozialen Netzwerken, Männer hingegen von Online-Compu‐ terspielen. Am besten erforscht ist die Computerspielsucht, die 2013 in das Diagnosemanual (DSM-5) der „American Psychological Association“ als „Internet Gaming Disorder“ aufgenommen wurde. Besonders hohes Suchtpotential haben Online-Rollenspiele wie „World of Warcraft“ oder „Fortnite“, bei denen sich das virtuelle Geschehen weiterentwickelt, wenn man nicht dabei ist. So hat man ständig Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn man nicht online ist. Hinzu kommt der soziale Druck von Mitspielern, mit denen man im Team gemeinsam Probleme löst. Nicht zuletzt wird beim erfolgreichen Bewältigen von Aufgaben wie beim Glücksspiel das Belohnungssystem angeregt. Gelingt es nicht (mehr), in einem Wochenplan die Online-Zeiten sinnvoll zu begrenzen und ausreichend Zeit mit Freunden, den notwendigen häuslichen Aktivitäten oder seinen Hobbys zu verbringen, sollte bei Vertrauenspersonen, Selbsthilfegruppen oder Therapeuten Rat gesucht werden. 9) Demokratisierung und „Digital Divide“ Die grenzenlos offene, egalitäre und interaktive Struktur des Internets weckte v. a. zu Beginn große Hoffnungen auf eine emanzipatorische Kraft und auf mehr Demokratie, weil jeder unabhängig von Herkunft und Kontostand seine Stimme erheben und potentiell eine Weltöffentlichkeit erreichen kann (vgl. dazu Debatin 1999, 282; Bohlken, 47). Getrübt wird das Ideal einer weltumspannenden Kommunikationsgemeinschaft allerdings dadurch, dass bei Weitem nicht alle Menschen über Zugangschancen zum Internet verfügen. Ausgeschlossen vom weltweiten Netz sind nicht nur die ohne elektrische Versorgung lebenden Menschen im globalen Süden, sondern auch arme und ungebildete Menschen in der Ersten und Zweiten Welt. Die damit verbundene ethische Problematik der informationellen Ungerechtigkeit wird als digital divide oder digital gap bezeichnet (vgl. Debatin 2002, 223 f.; Lenzen, 213). Die inzwischen immer zahlreicheren Skeptiker weisen aber auch darauf hin, dass die durch digitale Medien er‐ möglichte Öffentlichkeit noch lange keine demokratische Öffentlichkeit ist 393 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="394"?> und der erleichterte Meinungsaustausch keineswegs politische Partizipation bedeutet (vgl. Preisendörfer, 19). Vielmehr werde die digitale Öffentlichkeit segmentiert und partikularisiert durch Filterblasen, Blogs und Chats ohne nennenswerten Adressatenkreis und zerfalle so in weltanschaulich und in‐ teressenorientierte Mini- oder Teil-Öffentlichkeiten. Der virtuelle Umgang mit Gleichgesinnten zeitigt den erwähnten Echokammereffekt, durch den die eigene Weltsicht bestärkt wird und andere Meinungen herabgesetzt werden. Angesichts all der „Fake News“ kommen leicht gemeinsame Sach‐ verhalte und durch die Fragmentarisierung die öffentlichen Angelegen‐ heiten und die geteilte Sorge um das Gemeinwohl abhanden (vgl. Türcke). Eine Demokratie setzt öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozesse mit einem konsensorientierten wechselseitigen Prüfen der verschiedenen Meinungen und Argumente voraus anstelle eines unverbindlichen Kom‐ mentierens, Bewertens oder „Likens“ mit den beiden Optionen „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ in der digitalen Öffentlichkeit. Sie bedeutet also viel mehr als einfach nur Mehrheitsentscheidungen, wobei Mehrheiten und die Relevanz von Themen z. B. auf Twitter ohnehin trügerisch sind. Denn in der Gereiztheit des Internets lassen sich leicht Empörungswellen lostreten und Meinungsmehrheiten durch social bots vortäuschen, d. h. durch Computerprogramme, die über Algorithmen automatisch Beiträge erzeugen und menschliche Nutzer simulieren (vgl. P. Grimm u. a., 111). ethische Probleme im Internet ethische Forderungen 1) Flut nicht quali‐ fizierter Infor‐ mationen niedrige Publikations‐ schwelle; keine Qua‐ litätskontrollen; Fake News kritische Wachsamkeit und Überprüfung; Content Ma‐ nagement der Plattformen 2) Algorithmen und Filterblasen eingeschränkte Daten‐ auswahl nach persönli‐ chem Nutzunsverhalten Transparenz über Kriterien und Ziele von Algorithmen; eigene Suchkriterien definie‐ ren 3) Recht auf Privat‐ sphäre und in‐ formationelle Selbstbestim‐ mung „Privacy Paradox“ (Preis‐ gabe von Intimem); Datenspeicherung (Coo‐ kies) Schutz und Verbot des Verkaufs personenbezogener Daten; Privatsphäsekompe‐ tenz 4) Vorratsdaten‐ speicherung und Trojaner erweiterte Möglichkei‐ ten staatlicher Überwa‐ chung einzig legitime Ziele: Schutz der Bevölkerung; öffentliche Sicherheit 394 6 Medienethik <?page no="395"?> 5) Senkung der moralischen Hemmschwelle Anonymität und Kurzle‐ bigkeit begünstigen un‐ moralische Äußerungen in realitätsbezogenen Bei‐ trägen: Pflicht zu Klarna‐ men und Verantwortungs‐ übernahme für Folgen 6) Online-Gewalt und Cyber-Kri‐ minalität Datenklau, Angriff auf IT-Systeme, Cyber-Mob‐ bing, „Love Scamming“ internationale Gesetze zur Bekämpfung der Kriminali‐ tät, Vorsicht vor „Fakern“ 7) unmoralische virtuelle Hand‐ lungen in On‐ line-Rollenspie‐ len negative Konsequenzen für reale Spieler, Habitu‐ alisierungs- und Lernef‐ fekte verantwortungsvolles virtu‐ elles Handeln; Konsequenzen in realer Welt bedenken 8) Internetsucht Kontrollverlust, einge‐ engter Verhaltensraum, negative Konsequenzen Wochenplan für Online-Zeit und Zeit für Freunde, Hob‐ bys, häusliche Aktivitäten 9) informationelle Ungerechtigkeit („Digital Di‐ vide“) ungleiche Zugangschan‐ cen zum Internet (z. B. im globalen Süden) für alle Menschen gleicher Zugang zu Informationen und gleiche Bildungschancen 395 6.3 Internetethik (Prosumentenethik) <?page no="397"?> 7 Wirtschaftsethik Moralische Regeln für wirtschaftliches Handeln gibt es, seit Menschen überhaupt Wirtschaft treiben. Denn schon immer gab es welche, die sich durch Betrügen Vorteile zu verschaffen suchten: Wirte, die den Wein mit Wasser panschten, oder Händler, die das Münzgeld mit billigem Metall streckten (vgl. Waibl, 7). Die Tauschbeziehungen waren aber für die Ein‐ zelnen zunächst noch relativ gut überschaubar. Sie konnten sprichwört‐ lich dem gekauften Gaul noch ins Maul schauen. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der liberalen Marktwirtschaft und der schrittweisen Ausweitung der Märkte bis hin zur Globalisierung. Die wirtschaftlichen Verhältnisse wurden immer komplexer und unüberschaubarer. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stießen die negativen Auswirkungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems auf zunehmende Kritik in der breiten Öffentlichkeit. Zwar führte der Kapitalismus zu einer enormen Steigerung der Produktion in Industrie und Landwirtschaft und größerem Wohlstand. Gleichzeitig öffnete sich aber eine immer größere Einkommens- und Vermögensschere zwischen den Gewinnern und Verlierern des Wettbewerbs (vgl. Jänichen, 28 ff.). Karl Marx erbrachte als Erster den systematischen Nachweis der negativen unbeabsichtigten Ergebnisse der kapitalistischen Ökonomie. Ins‐ besondere Theologen setzten sich für die Verlierer des Wettbewerbs ein und hinterließen eine gewaltige Fülle konfessioneller Traktate. Die ersten wirtschaftsethischen Debatten entzündeten sich also an der sozialen Frage. Im 20. und 21. Jahrhundert waren es dann die großen Korruptions- und Umweltskandale, Geldwäsche und Rüstungsexporte, welche die gesellschaftli‐ che Aufmerksamkeit auf sich zogen (vgl. Waibl, 7). Zu erinnern ist etwa an den Skandal um das mit krebserregendem Mineralöl verunreinigten, in den Entwicklungsländern aggressiv umworbene Baby-Milchpulver von Nestlé, den Contergan-Skandal mit einer hohen Zahl an Missbildungen von Neugeborenen nach der Einnahme des Beruhigungsmittels Contergan durch Schwangere in den 1970er Jahren oder die Industriekatastrophe im indischen Bhopal (1984) mit dem Austritt von Giftgas und mehreren Tausend Toten. Im 21. Jahrhundert gerieten dann etwa der Einsturz der Textilfabrik in Bangladesh (2013), der VW-Abgasskandal (2015) und die Enthüllung von Steuerschlupflöchern z. B. anhand von Briefkastenfirmen in den sogenannten Panama- (2016) bzw. Pan‐ dora Papers (2021) in die Negativschlagzeilen. Hinzu kamen die Phänomene der <?page no="398"?> Massenarbeitslosigkeit, der Armut inmitten des Überflusses, der Verschuldung und Unterentwicklung der Drittweltländer. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Krisen erwachten seit Mitte der 1980er Jahre erneut grundlagenkritische Refle‐ xionen zum Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. Diesmal vermochte sich die Wirtschaftsethik als eigenständiges Forschungs- und Lehrgebiet mit Diskussionsforen, Buchreihen, Seminaren, akademischen Zeitschriften und Lehrstühlen zu etablieren. Auf den ersten Lehrstuhl für Wirtschaftsethik im deutschsprachigen Raum wurde 1987 Peter Ulrich (Universität St. Gallen) berufen, der zweite wurde 1990 in Ingolstadt-Eichstätt errichtet. Seither nahm zwar die Anzahl der Lehrstühle an Fachhochschulen und Universitäten zu, und an immer mehr Wirtschaftshochschulen wurde Wirtschaftsethik ins Pflicht‐ programm aufgenommen. Gleichwohl erlebte die Wirtschaftsethik anders als etwa die Bioethik oder Umweltethik nie einen derartigen Aufschwung und erfuhr in der Philosophie und in der Öffentlichkeit vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Es lässt sich mittlerweile ein Schwerpunkt der Diskussion im Bereich der Unternehmensethik und Managementethik oder „business ethics“ feststellen, wobei letztere sich stark von der akademischen Moralphilosophie abgelöst hat (vgl. Neuhäuser, 162). An der Schwelle zum 21. Jahrhundert nahmen im Zuge der Globalisierung die Reichweite und die Verflechtungen des wirtschaftlichen Handelns ganz neue Dimensionen an. Wenn im Supermarkt billige Schnittblumen angeboten werden, stammen diese mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem größten Schnittblumen-Exportland Kolumbien, wo Menschen teilweise noch immer für einen geringen Lohn in Wolken giftiger Insektizide ihre Gesundheit ge‐ fährden (vgl. Waibl, 8). Verkehrs- und umweltpolitisch höchst problematisch sind zudem die Warentransporte um den halben Globus. Von Holland aus werden beispielsweise jährlich tausende Tonnen Tomaten nach Italien trans‐ portiert. Italien hat aber nicht etwa zu wenig Tomaten, sondern exportiert im Gegenzug genauso viele Tomaten nach Deutschland, wie es aus Holland importiert (vgl. ebd., 191). Viele Zulieferer- und Fertigungsbetriebe wurden in sogenannte Billiglohnländer ausgelagert. Auch wenn sich dieser globale Handel wirtschaftlich gesehen für alle Beteiligten „rechnet“, wandelt doch jeder Lastwagen Tausende von Litern Treibstoff in CO 2 , giftige Abgase und Rußpartikel um. Die dramatischen Auswirkungen des dadurch verstärkten Klimawandels wurden in Kapitel 3 geschildert. Zu einer tiefen Erschütterung des Vertrauens in die Wirtschaft führte nicht zuletzt die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008-10, die zu einem gewaltigen Rückgang des Wirt‐ schaftswachstums und weltweit 34 Millionen Arbeitslosen führte: Auf der 398 7 Wirtschaftsethik <?page no="399"?> Jagd nach immer höheren Gewinnen gingen amerikanische und europäische Investment-Banken unverantwortlich hohe Risiken ein, bis die amerikanische Immobilienblase platzte (vgl. Anschauungsbeispiel 1 in Kap. 7.2). Angesichts solcher Ereignisse und ihrer teils verheerenden Konsequenzen zweifeln im‐ mer mehr Menschen an der Lebensdienlichkeit der Wirtschaft: Sind „Moral“ und „Wirtschaft“, „Ethik“ und „Ökonomik“ überhaupt miteinander vereinbar? Stehen sich moralische Sollensforderungen und wirtschaftliche Interessen nicht diametral entgegen? Stellt die Begriffsfügung „Wirtschaftsethik“ einen Widerspruch in sich dar? Historische Auseinanderentwicklung von Ethik und Ökonomik In den vormodernen Gesellschaften war das wirtschaftliche Handeln in eine bewährte soziokulturelle Lebensordnung eingebunden. Bis ins Spätmittelalter sorgten strenge Markt- und Zunftordnungen für die Beschränkung der Märkte im Sinne der geltenden moralischen und religiösen Wertvorstellungen (vgl. Ulrich 2016, 142f.). Aristoteles gab der „Ökonomie“ im 4. Jahrhundert v. Chr. ihren Namen: Zusammengesetzt aus griechisch „oikos“ („Haus“) und „nomos“ („Gesetz“) umfasste sie im Wesentlichen die Hausverwaltung und die Erfüllung der Aufgaben in Haus und Landwirtschaft (vgl. Meran 1991, 92f.). Hauptsäch‐ liches Ziel des Wirtschaftens war die Nahrungsbeschaffung für die Familie und die Sklaven des Hauses. Darüber hinausgehende Erwerbstätigkeiten und Handel galten als ethisch verwerflich (vgl. Aristoteles: Pol., 1257b). Wer nämlich durch Handel und Geldverleih Reichtum anhäufen wolle, dem gehe es nicht mehr um den Existenzerhalt und damit um die Grundvoraussetzung eines guten Lebens. Vielmehr ignoriere dieser den Mittelcharakter des Geldes und mache das Mittel zum Zweck an sich (vgl. ebd., 1258a,40-b,5). Eine Verselbständigung des Erwerbs- und Gewinnstrebens aus dem lebenspraktischen Zusammenhang galt in vormodernen Gesellschaften als anstößig. Die Ökonomie des Aristoteles war integriert in seine Politik, und beide zusammen bildeten mit der Ethik eine enge Einheit. Allen drei Disziplinen der praktischen Philosophie ging es letztlich um das Glück der Einzelnen und um das noch viel schönere und erhabene Ziel der bestmöglichen Ordnung des Gemeinwesens und das Glück aller Bürger (vgl. NE, 1094a,27-b,10). Angesichts dieser Einordnung und der klaren normativen Ausrichtung der aristotelischen Wirtschaftslehre scheint sie eher als „Wirtschaftsethik“ bezeichnet werden zu müssen (vgl. Meran 1991, 92f.). Obwohl sich viele große Denker der Antike und des Mittelalters der Unter‐ suchung ökonomischer Zusammenhänge widmeten, setzt man den Beginn der modernen Wirtschaftswissenschaft als einer einzelwissenschaftlichen Theo‐ 399 7 Wirtschaftsethik <?page no="400"?> rie bei Adam Smith und dessen 1776 erschienenem Hauptwerk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations („Wohlstand der Nationen“) an (vgl. Suchanek 2007, 35). Nach weit verbreitetem heutigem Verständnis handelt es sich bei der modernen Wirtschaftswissenschaft um eine empi‐ rische, deskriptive Sozialwissenschaft (vgl. Lenk u. a. 1992, 11 f.). Denn sie beschreibt die Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenlebens, genauer die wirtschaftlichen Beziehungen, ohne (explizite) Empfehlungen bezüglich der Ziele oder moralischen Regeln wirtschaftlichen Handelns abzugeben. Der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaft selbst hat zwar seine ökonomische Theorie stets als Teil seiner Moralphilosophie betrachtet (vgl. Aßländer 2007, 7). Während er aber in seinem Frühwerk Theorie der ethischen Gefühle das moralische Verhalten der Menschen zu erklären versuchte, scheint sich bei seiner Analyse der Funktionsweise einer Volkswirtschaft und der Motive des Wirtschaftens in seinem Spätwerk Der Wohlstand der Nationen das ökonomische Denken partiell verselbständigt zu haben (vgl. ebd., 152). Das ungeklärte systematische Verhältnis von Ethik und liberaler Ökonomie wird in der Sekundärliteratur als Adam-Smith-Problem diskutiert (vgl. Ulrich 2016, 143). Der Nährboden für die Herauslösung der Ökonomik aus der engen Verflochtenheit mit Politik und Ethik war aber klarerweise der klassische Liberalismus, als dessen Begründer gleichfalls Smith gilt: Der Liberalismus plädiert für größtmögliche Freiheit des einzelnen Individuums und mög‐ lichst geringe Eingriffe des Staates in die individuelle Freiheit. Entsprechend fordert der Wirtschaftsliberalismus eine freie Marktwirtschaft, in der jeder Einzelne freien Zugang zum Markt hat und frei entscheiden kann, welche Güter er produzieren, kaufen oder konsumieren will (vgl. Meran 1991, 96 ff.). Staatliche Wettbewerbsbeschränkungen wie Subventionen oder Zölle werden abgelehnt. Die Aufgabe des Staates sei es lediglich, zum einen die Freiheit des Marktsubjekts, etwa in Form der Vertragsfreiheit, Gewerbe‐ freiheit oder Berufsfreiheit zu sichern, zum anderen das Privateigentum zu schützen. Die Durchsetzung dieser liberalen Prinzipien im 19. Jahrhundert schaffte die Grundlagen für die industrielle Revolution und den Kapitalis‐ mus. In der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erhält das private Eigentum an den Produktionsmitteln (Geld, Maschinen, Fabri‐ ken) größere Bedeutung als die anderen Wirtschaftsfaktoren wie Arbeits‐ kräfte, Energie oder Know-how. Zudem werden die marktwirtschaftlichen Prinzipien eigennütziger Gewinnerzielung und des Wettbewerbs radikali‐ siert und die Konkurrenz zwischen den Wettbewerbsteilnehmern geschürt. 400 7 Wirtschaftsethik <?page no="401"?> Infolge des verschärften Konkurrenzkampfes erhöhte sich der Zwang auf die Subjekte der „freien“ Marktwirtschaft, wettbewerbsfähig zu sein (vgl. Ulrich 2016, 148 f.). Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen sich die Marktteilnehmer im Wettbewerb behaupten, sei es als Arbeitnehmer oder als Unternehmer. So wird etwa von den Unternehmern verlangt, gegenüber den Konkurrenten die gleiche Leistung für weniger Geld zu produzieren oder bei gleichem Preis einen zusätzlichen Nutzen zu bieten. Wollen die Wirtschaftssubjekte „im Markt“ bleiben, müssen sie sich statt an persönli‐ chen Motiven und Vorlieben an den sachlichen Parametern des Marktes wie der Anzahl und Zahlungsbereitschaft potentieller Nachfrager und den Angeboten der Konkurrenten orientieren. Der sich somit entfaltende Markt scheint ein „sachlicher“, unpersönlicher Wirkungszusammenhang mit einer eigenen Gesetzlichkeit und Logik zu sein (vgl. ebd., 152 f.). Die Entwicklung hin zum Kapitalismus gestaltete sich als ein Prozess zuneh‐ mender Autonomisierung der Wirtschaft (Koslowski 1998, 200). Die wirt‐ schaftlichen Beziehungen lösten sich aus der Einbettung in die lebensweltlichen Handlungsorientierungen des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens. Man konzentrierte sich ganz darauf, mit knappen Mitteln den größtmöglichen Nutzen zu erzielen, d. h. die Ressourcen effizient zu nutzen (vgl. Ulrich 2002, 9). Die ökonomischen Prinzipien der Nutzenmaximierung, Effizienz und Gewinnorientierung begannen sich zu verselbständigen und Selbstzweckcha‐ rakter anzunehmen. Die Erwerbs- oder Nutzenmaximierung avancierte zum Endzweck des Wirtschaftens. Während bis ins späte Mittelalter eine Verselb‐ ständigung des Gewinnstrebens und der Kapitalanhäufung verpönt waren, werden sie jetzt als unverzichtbarer Grundmotor der Wirtschaft legitimiert. Waren die ökonomischen Motive und Interessen bislang gleichsam „normativ gehemmt“ durch die lebensweltlichen Ziele, werden sie jetzt „moralisch neu‐ tralisiert“ (vgl. Ulrich 2016, 142 bzw. Koslowski 1998, 201). Paradoxerweise profitierte der Kapitalismus dabei in protestantischen Gebieten von der Lebens‐ form der Gläubigen: Insbesondere im Calvinismus wurde der berufliche Erfolg nämlich als Zeichen göttlicher Auserwähltheit gedeutet. Da man sich aber nicht zu Lasten seines Erfolgsstrebens auf seinem Reichtum ausruhen und ihn genießen durfte, war man zu einer Kapitalanhäufung angehalten (vgl. Weber 1991, 137 und 167). Im Zuge der sich verselbständigenden Wirtschaft wurde die Gewinnerzielung und Profitmaximierung immer mehr für die Grundbe‐ stimmung menschlicher Rationalität gehalten (vgl. unten, Ökonomismus und Ökonomisierung). 401 7 Wirtschaftsethik <?page no="402"?> Von der materialen zur formalen Definition von Ökonomik In einer klassischen und materialen Begriffsbestimmung versteht man unter Wirtschaft oder Ökonomie generell einen Handlungszusammenhang zur planmäßigen Stillung der menschlichen Bedürfnisse (vgl. Nell-Breuning, 32). Im Vordergrund stehen dabei die Beschaffung und Verteilung knapper Güter, hauptsächlich materieller Güter, d. h. Waren, aber auch Dienstleis‐ tungen gegen Entgelt (vgl. Göbel, 87). Dank der Versorgung mit materiellen Gütern soll auf einer elementaren Ebene die menschliche Lebensgrundlage gesichert, auf einer höheren Stufe eines einmal erreichten Wohlstandsnive‐ aus der Handlungsspielraum der Menschen erweitert werden (vgl. Lenk u. a. 1992, 11; Ulrich 2016, 224; 228). In diesem engen Sinn hat die Wirtschaft also keineswegs Selbstzweckcharakter, sondern ist immer bezogen auf die gesell‐ schaftlichen Ziele der Existenzsicherung bzw. gesteigerter Handlungsmög‐ lichkeiten und erhöhter Lebensqualität. Wirtschaftswissenschaft oder Ökonomik wäre in diesem engen klassischen Verständnis (1) und material bestimmt diejenige wissenschaftliche Disziplin, die systematisch die grund‐ legenden Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten bei der Herstellung, der Verteilung und dem Verbrauch materieller Güter zur Bedürfnisbefriedigung untersucht (vgl. Brenner 2018, 97). Nachdem aber die Wirtschaft sich wie geschildert zunehmend verselb‐ ständigte und die aristotelische Verbindung von Ökonomik und Ethik verloren ging, trat auch der materiale Inhalt im Verständnis von Ökonomie und Ökonomik in den Hintergrund: In der realen Wirtschaft werden heute längst nicht mehr nur notwendige Güter für dringende menschliche Bedürf‐ nisse hergestellt, sondern häufig eine weitere Sorte eines Luxusguts. Als wirtschaftlich, d. h. ökonomisch rational gilt, was die Kosten der Herstellung eines beliebigen Produkts minimiert und den Gewinn maximiert - ganz unabhängig davon, ob damit ein objektiver Mangel beseitigt wird oder nicht (vgl. Göbel, 57). So wäre es auch ökonomisch rational, wenn ein Pharmakonzern ein hochwirksames Medikament für eine seltene Krankheit wegen eines zu geringen Profits vom Markt nimmt oder sogar Lebensmit‐ tel vernichtet werden, weil eine Überschussproduktion die Preise drückt. „Ökonomik“ wird in vielen neueren Einführungen in die Wirtschaftsethik häufig nicht mehr über den Gegenstandsbereich definiert, sondern über ein rein formales ökonomisches Prinzip, über eine bestimmte Art der Herangehensweise oder Interaktion (vgl. ebd., 56; 87; Homann u. a. 2013, 12; Lütge u. a., 7): Die Ökonomik im erweiterten Sinn (2) ist diejenige wissen‐ schaftliche Disziplin, die sich mit einem zweckrationalen, an (materiellem) 402 7 Wirtschaftsethik <?page no="403"?> Eigennutz orientierten Entscheiden oder Handeln oder mit Interaktionen auf der Grundlage von individuellen Vorteils- und Nachteilskalkulationen befasst. Der typische ökonomische Ansatz als eine Analysemethode des individuellen und kollektiven Verhaltens zeichnet sich durch den methodi‐ schen Ausgang von rationalen, eigeninteressierten Akteuren aus, die in Interaktionen stets auf ihren persönlichen Vorteil oder Nutzen ausgerichtet sind. Zu den wichtigsten Grundannahmen ökonomischer Modelle gehören fortan zum einen die ökonomische Rationalität (a), die mit möglichst geringem Mitteleinsatz ein subjektives Ziel optimal zu erreichen oder zu maximieren versucht, typischerweise den persönlichen Profit. Zum anderen ist es der sogenannte homo oeconomicus (b) als ein eigeninteressierter Mensch mit einer festen Präferenzordnung, der möglichst sofort und unter möglichst geringem Aufwand einen möglichst großen Nutzen erzielen will (vgl. Aßländer 2011, 48; Göbel, 60). Wirtschaft/ Ökonomie: Handlungszusammenhang zur planmäßigen Stillung menschlicher Bedürfnisse durch die effiziente Beschaffung und Verteilung von Gütern Zweck der Wirtschaft: - Sicherung der menschlichen Existenz durch die Produktion materieller Güter - Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und Steigerung der Lebensqualität 1) Wirtschaftswissenschaft/ Ökonomik im engen, materialen Verständnis: Empirische, deskriptive Wissenschaft, welche die grundlegenden Zusammen‐ hänge und Gesetzmäßigkeiten bei der Herstellung, der Verteilung und dem Verbrauch materieller Güter untersucht. ↕ 2) Wirtschaftswissenschaft/ Ökonomik im weiten, formalen Verständnis: Empirische, deskriptive Wissenschaft, die sich mit dem zweckrationalen, am Eigennutz orientierten und auf Gewinnmaximierung abzielenden Handeln auf der Grundlage von Vorteils-Nachteils-Kalkulationen befasst. methodische Grundannahmen dieses ökonomischen Modells: a) ökonomische/ instrumentelle Rationalität (zur Gewinnmaximierung) b) Mensch als homo oeconomicus (eigeninteressierter Nutzenoptimierer) Ökonomismus und Ökonomisierung der Lebenswelt Versteht man Ökonomik wie beschrieben als rein formale Methode der Analyse, muss sie sich keineswegs mehr ausschließlich auf den Bereich der traditionellen (Geld)Wirtschaft beziehen. Wie in verschiedenen Einführun‐ 403 7 Wirtschaftsethik <?page no="404"?> gen in die Wirtschaftsethik betont wird, können der ökonomische Ansatz, die ökonomische Fragestellung oder das ökonomische Verhaltensmodell vielmehr auch auf alle anderen gesellschaftlichen Subsysteme wie Kultur, Bildung, Recht oder Gesundheitsbereich sowie sämtliche Interaktions- und Beziehungsformen angewendet werden (vgl. Göbel, 87; Lütge u. a., 7). Öko‐ nomik ist dann statt einer Wirtschaftswissenschaft eine allgemeine „Theorie sozialer Handlungszusammenhänge“, die „Chancen und Probleme der Zu‐ sammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil“ untersucht bzw. sämtliche so‐ zialen Interaktionen in außerwirtschaftlichen Bereichen unter dem Schema individueller Vorteils-Nachteils-Kalkulationen betrachtet (vgl. Suchanek 2007, 36 f.; Homann u. a. 2013, 11 f.). Individuelles Handeln wird erklärt durch vorhandene Anreize oder die zu erwartenden Nachteile für den Handelnden. Institutionen interpretiert man als Regelsysteme, die durch Anreize und Sanktionen die eigeninteressierten Individuen zu einem sozial erwünschten Verhalten motivieren (vgl. Scherer, 14). Indem sie sich als ökonomische Theorie der Institutionen wie z. B. auch der Demokratie und der Erklärung menschlichen Verhaltens überhaupt anbietet, stilisiert sich die Ökonomik zur Leitdisziplin der Sozialwissenschaften (vgl. Meran 1991, 91). Kritiker sprechen angesichts dessen von der „Universalität des ökonomischen Prinzips“ und von einem „ökonomischen Imperialismus“ (Koslowski 2001, 2; Brenner 2018, 58). Letztlich reagiert die Ökonomik mit diesem Machtanspruch aber nur auf den oben beschriebenen, realiter bereits im Gang befindlichen Prozess der sogenannten Ökonomisierung der Lebenswelt. Doch was ist mit den Schlagwörtern „Ökonomisierung“ und „Ökonomismus“ genau gemeint? Grob gesprochen versteht man unter Ökonomismus und Ökonomi‐ sierung der Lebenswelt die Verabsolutierung der ökonomischen Denk‐ weise und Weltanschauung bzw. ihr Vordringen und ihre Vorherrschaft in immer mehr öffentlichen und privaten Lebensbereichen. Zu denken ist vornehmlich an das von der kapitalistischen Marktwirtschaft geförderte Denken in den Kategorien von Effizienz, Kosten-Nutzen-Kalkulationen und Gewinnmaximierung (vgl. Meran 1991, 90 f.; Ulrich 2016, 137 f.). Die ökono‐ mische Rationalität, bei der im Unterschied zur „praktischen Rationalität“ moralische Bewertungsmaßstäbe keine Rolle spielen, wird für die ganze Ver‐ nunft des Menschen gehalten (vgl. Ulrich 2002, 22). Sämtliche Tätigkeiten, Gegenstände und Beziehungen werden an ihrem „Marktwert“ gemessen und haben nur Bedeutung, soweit sie dem materiellen Wohlergehen förderlich sind. Probleme in allen Lebensbereichen werden vornehmlich unter ökono‐ 404 7 Wirtschaftsethik <?page no="405"?> mischen Gesichtspunkten betrachtet, wohingegen soziale, kulturelle und ethische ausgeblendet werden. Im Zeichen der ökonomischen Logik avan‐ ciert das Marktprinzip, d. h. das alleinige Walten des Gesetzes von Angebot und Nachfrage zum obersten gesellschaftlichen Organisationsprinzip (vgl. Ulrich 2002, 59). Sämtliche Formen zwischenmenschlicher Beziehungen werden auf Tauschbeziehungen oder Kunden-Anbieter-Beziehungen transformiert. Dies sind Beziehungen, die nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung strukturiert sind und dem wechselseitigen Vorteil die‐ nen. Durch den Tausch soll sich der Nutzen für alle Beteiligten erhöhen (vgl. dazu Thielemann, 80). Selbst von den Universitätsprofessoren verlangt man neuerdings, sie hätten ihre Studenten als „Kunden“ zu behandeln (vgl. ebd., 73). Bildung und Ausbildung seien als Güter oder Produkte zu betrachten, die man auf eine „Nachfrage“ zuschneiden solle. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten Hochschulen eher wie Unternehmen statt wie eine Behörde geführt werden. Der Wettbewerb bringe Qualität, so lautet dabei die Hoffnung. Auch die Politik mutiert zu einer „Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln“ (Ulrich 2016, 213). Obwohl sicherlich der Endzustand einer solchen Ökonomisierung aller Lebensbereiche nirgends erreicht ist, sind in unseren westlichen Industrienationen doch deutliche Tendenzen in diese Richtung zu erkennen. Ökonomismus: Verabsolutierung der ökonomischen Denkweise und Weltan‐ schauung Ökonomik als Leitdisziplin: Theorie sozialer Handlungszusammenhänge - ökonomische Rationalität: Denken in Kategorien von Effizienz, Kos‐ ten-Nutzen-Kalkulationen und Gewinnmaximierung - zwischenmenschliche Beziehungen: Tauschbeziehungen, Kunden-Anbie‐ ter-Beziehungen - oberstes gesellschaftliches Organisationsprinzip: Marktprinzip, Gesetz von Angebot und Nachfrage → Ökonomisierung der Lebenswelt: Durchdringung von immer mehr Lebens‐ bereichen durch ökonomische Denk- und Anschauungsweisen Kritik an der Ökonomisierung Die Kritik an der Ökonomisierung richtet sich meist gegen die „halbierte“, auf die instrumentelle oder Mittel-Zweck-Rationalität reduzierte Vernunft und das Menschenbild des homo oeconomicus. Weder sei der Mensch faktisch ein homo oeconomicus noch soll er ein solcher sein (vgl. dazu 405 7 Wirtschaftsethik <?page no="406"?> Homann u. a. 2013, 65 f.). Zahlreiche Untersuchungen der experimentellen Wirtschaftsforschung belegen, dass die meisten Menschen keineswegs aso‐ ziale und egozentrische Nutzenmaximierer sind, sondern vielmehr eine soziale und moralische Gesinnung haben (vgl. Göbel, 60; Aßländer 2011, 111). So handeln die meisten Probanden im sogenannten Ultimatumspiel nicht ökonomisch rational, sondern verzichten auf eine Belohnung, um Ungerechtigkeit oder Unfairness der Mitspieler zu bestrafen. Verhaltens‐ ökonomen versuchen solche Abweichungen vom Rationalitätsprinzip mit verschiedenen Präzisierungen zu erklären, ohne eine Revision des Modells für notwendig zu erachten (vgl. A. Schmidt, 210). Ganz generell wird der ökonomische Ansatz dahingehend verteidigt, dass es beim „Nutzen“ und den darauf gerichteten „subjektiven Präferenzen“ keineswegs nur um Gewinn in Form von Geld oder Kapital bzw. die Erfüllung isolierter Eigeninteressen geht. Vielmehr könne sich der Nutzen auch auf die Interessen anderer Menschen bzw. auf persönliche altruistische oder moralische Präferenzen z. B. für reziproke Fairness beziehen (vgl. ebd.; Homann 1992, 44). Auch können psychische, soziale oder ökologische Kosten im Nutzenkalkül berücksichtigt werden. Gegen diese Verteidigungsstrategie ist aus einer ethischen Perspektive jedoch Folgendes einzuwenden: Genauso wie im Utilitarismus haben moralische Prinzipien oder Kriterien wie Gerechtigkeit oder Rücksichtnahme auf Interessen und Rechte anderer Menschen im öko‐ nomischen Ansatz keine eigenständige systematische Bedeutung. Um sie als Orientierungsmaßstäbe für menschliches Handeln begründen und inhaltlich konkretisieren zu können, müsste man den Boden des ökonomischen (und auch utilitaristischen) Denkens verlassen (vgl. Ethik, 102 f.). Neben dieser empirischen Kritik am ökonomischen Menschenbild lautet die normative Kritik, der Mensch dürfe keinesfalls ein individualistischer, asozialer und amoralischer Nutzenoptimierer sein. Vielmehr soll er als sozia‐ les, moralisches und politisches Wesen seinen egozentrischen Standpunkt überwinden und sich für das Wohl anderer Menschen oder das Gemeinwohl engagieren (vgl. Brenner 2018, 163 ff.; Ulrich 2016, 201 f.). Der moralische Standpunkt verlangt wie gezeigt, die eigenen Interessen zu transzendieren und die Interessen aller vom Handeln Betroffenen in gleicher Weise zu be‐ rücksichtigen (vgl. Kap. 1.1). Wenig überzeugend wirkt angesichts dessen die Beteuerung, das homo oeconomicus-Modell sei ausschließlich für Dilemma‐ strukturen konzipiert, in denen ein moralisches bzw. kooperatives Handeln der Einzelnen zu ihrer Schlechterstellung führt (vgl. Homann u. a. 2013, 66 f.). Denn per definitionem „nützt“ moralisches Denken und Handeln nicht 406 7 Wirtschaftsethik <?page no="407"?> der persönlichen „Besserstellung“ des einzelnen Akteurs, sondern dient dem Wohl aller Beteiligten. Auch wenn sich das auf den persönlichen Nutzen oder das eigene Glück abzielende individualethische Streben nicht per se im Widerstreit mit dieser moralischen Bewertungsrichtung befindet, zeigt sich eine moralische Gesinnung vornehmlich in solchen Dilemmasituationen (vgl. Ethik, 32). Obschon die wiederholte Klarstellung, es handle sich beim homo oeconomicus statt um ein Menschenbild lediglich um ein methodolo‐ gisches Theoriekonstrukt oder eine „Als ob“-Modellannahme, wird zu Recht eingewendet: Modelle von egoistischen Nutzenoptimierern, Tauschbezie‐ hungen oder Kosten-Nutzen-Kalkulationen enthalten versteckte Wertungen und können das individuelle und kollektive Handeln beeinflussen, wie im wissenschaftsethischen Kapitel dargelegt wurde (vgl. Brenner 2018, 167 f.; Kap. 4.2). Wer in der Ökonomik fordert, man müsse immer vom schlimmstmöglichen Fall egoistischer Nutzenoptimierer ausgehen und alle Institutionen entsprechend gestalten, leistet einem solchen Verhalten gerade Vorschub im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung (vgl. Scherer, 15). Tatsächlich haben empirische Studien nachgewiesen, dass sich Wirtschafts‐ studenten im Laufe ihres Studiums das ökonomische Verhaltensmodell mehr und mehr zu Eigen machten (vgl. Scherer, 16). Was „nur“ Modell sein wollte, ist also Wirklichkeit geworden! Kritik an Ökonomismus und Ökonomisierung a) ökonomische Rationalität = nur halbe Vernunft (ohne ethisch-praktische Rationalität) b) homo oeconomicus: Der Mensch ist kein und soll kein Nutzenoptimierer sein. Achtung: - „Nutzen“ kann sich zwar auf altruistische Interessen oder moralische Präfe‐ renzen beziehen, aber moralische Prinzipien haben keinen systematischen Stellenwert - Modellannahmen über Menschen oder Beziehungsformen können ohne kri‐ tische Reflexion das Handeln der Einzelnen bzw. die soziale Realität verändern Zwei Modelle von Wirtschaftsethik Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lassen sich nun zwei grundlegend verschiedene Positionen in der Wirtschaftsethik erläutern: der dualistische (A) und monistische (B) Ansatz. Die meisten Grundpositionen der Wirtschaftsethik gehen im Sinne einer dualistischen Wirtschafts‐ 407 7 Wirtschaftsethik <?page no="408"?> ethik (A) davon aus, dass jemand moralisch handeln kann, ohne wirtschaft‐ lich (bzw. ökonomisch rational) zu handeln und umgekehrt (vgl. Neuhäuser, 160). Im Idealfall begründen zwar moralische und ökonomische Argumente die gleiche Handlungsweise. So sprechen z. B. für eine ökologische Land‐ wirtschaft sowohl ökonomische Argumente der Profitmaximierung mit Blick auf die steigende Nachfrage von Bioprodukten durch eine zahlungs‐ kräftige Kundschaft als auch moralische Argumente größerer Nachhaltig‐ keit und gesundheitsförderlicher Produkte. Dualistische Ansätze betonen aber die Gegensätzlichkeit oder zumindest Konfliktträchtigkeit zwischen dem Kosten-Nutzen-Prinzip der Ökonomik und den außerökonomischen moralischen Sollensforderungen der Ethik, weil sich moralisches Handeln häufig eben gerade nicht „rechnet“, sondern auf Kosten der (wirtschaftli‐ chen) Eigeninteressen geht (vgl. Lenk u. a. 1992, 14). Sie plädieren dafür, im Konfliktfall der Ethik, genauer der Sozial- oder Sollensethik den Vorrang zu geben (vgl. ebd., 18; Ulrich 2016, 130). Wirtschaftliches Handeln ist infolgedessen nur so lange ethisch legitim, als es sich im Rahmen allgemein anerkannter moralischer Prinzipien und Normen bewegt bzw. sich vom un‐ parteiischen Standpunkt der Moral aus als richtig erweist (vgl. ebd.; Göbel, 75). Ein moralisch gesinnter Landwirt würde auch dann die Option der nach‐ haltigen Anbauweise wählen, wenn dadurch der Profit geringer ausfiele. Bei dualistischen Ansätzen ist die Begründung moralischer Prinzipien wie Gerechtigkeit oder Menschenrechte wichtig, die dem ökonomischen Den‐ ken vorgeordnet oder übergeordnet sind (vgl. Vossenkuhl, 349). Ökonomik wird im engen, materialen Verständnis von Wirtschaft (1) aufgefasst, bei dem es um die Produktion, die Verteilung und den Verbrauch von Gütern geht. Wirtschaftsethik meint entsprechend diejenige Bereichsethik, die sich mit dem ethisch richtigen Handeln im Subsystem der Wirtschaft befasst bzw. ethische Normen auf das wirtschaftliche Handeln oder wirtschaftliche Strukturen anwendet (vgl. Göbel, 89; Brenner 2018, 98). Nur in diesem Verständnis ist die Wirtschaftsethik eine Ethik für die Wirtschaft und eine Bereichsethik der Angewandten Ethik. Im vorliegenden 7. Kapitel wird daher diese Form von Wirtschaftsethik im Zentrum stehen. Eine monistische Wirtschaftsethik (B) will ganz im Gegensatz zur dualistischen den Widerstreit von Moral und Ökonomie vermeiden, indem beide als zwei Seiten einer Medaille gedeutet werden (vgl. Lütge u. a., 10). Zum Zweck dieser Versöhnung braucht es allerdings beträchtliche „Um‐ bauten in der Theorie“, denn Wirtschaftsethik und auch allgemeine Ethik müssen ganz neu konzipiert werden (vgl. Homann u. a. 2013, 1). Bei diesem 408 7 Wirtschaftsethik <?page no="409"?> Modell geht man nicht von der Ethik als Ausgangsdisziplin, sondern von der Ökonomik im weiten Sinn (2) aus und überträgt im Zeichen des ökono‐ mischen Imperialismus die ökonomische Analysemethode auf den Bereich von Moral und Ethik: Moral wird als Gesamtheit von Handlungsregeln defi‐ niert, die allen beteiligten eigeninteressierten Handlungssubjekten auf lange Frist Vorteile bringen (vgl. Lütge u. a., 10 f.). Es wird als aussichtslos und unzumutbar bis menschenunwürdig betrachtet, von Menschen zu erwarten, langfristig gegen ihre eigenen Interessen zu verstoßen (vgl. Suchanek 2007, 8). Es handelt sich hier also um eine Ethik mit ökonomischen Methoden oder ökonomische Ethik und eine Moral innerhalb der Grenzen der Ökonomik oder Moralökonomik (vgl. Neuhäuser, 161; Ulrich 2016, 114). Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Begründung moralischer Normen, sondern die in der Ethik sonst nur stiefmütterlich behandelte Frage nach der Implementierung, d. h. ihrer Realisierung oder Durchsetzung „im Normalbetrieb moderner Gesellschaften“ (Homann u. a. 2013, 13). Damit sich z. B. eine Umstellung auf die gewünschte ökologische Landwirtschaft für alle Bauern „rechnet“ und der Widerstreit zwischen ökonomischen und moralischen Bewertungsmaßstäben verschwindet, brauche es eine Rahmenordnung mit entsprechenden Anreizen. Der systematische Ort der Moral sind also die politisch gestalteten Strukturen, sodass der Schwer‐ punkt statt auf der Akteursauf der Institutionenethik liegt (vgl. Noll 2013, 48): Wenn erst die richtigen Anreize gesetzt sind, würden sich sämtliche moralischen Appelle an die Gesinnung der Akteure erübrigen. Übersehen zu werden scheint dabei, dass sich die wirtschaftliche Rahmenordnung selbst ethisch legitimieren lassen muss und mindestens die Politiker, in Demokratien aber auch die Bürger, zu moralischem Denken und Handeln in der Lage sein müssten. Eine Wirtschaftsethik als angewandte Ökonomik statt als angewandte Ethik widerspricht ohnehin grundlegenden Annahmen der Ethik wie dem Verständnis der Menschen als autonomen und nicht zwangsläufig aus egoistischen Motiven handelnden Personen, und scheint eher eine Unterart des moralischen Egoismus und eine Ablehnung aller Wirtschaftsethik darzustellen (vgl. Neuhäuser, 161; Göbel, 98). 409 7 Wirtschaftsethik <?page no="410"?> A Wirtschaftsethik im eigentlichen Sinn einer angewandten Ethik: Bereichsethik, die sich mit den ethischen Problemen beim wirtschaftlichen Handeln befasst, d. h. bei der Herstellung, der Verteilung und dem Verbrauch materieller Güter zur planmäßigen Stillung menschlicher Bedürfnisse - Ausgangsdisziplin: Wirtschaft im engen/ materialen Sinn (1) - dualistischer Ansatz: Gegensätzlichkeit von Ethik und Ökonomik, Primat der Ethik - Akteursethik im Zentrum (Institutionenethik als Ergänzung) - Begründung moralischer Normen steht im Zentrum ↕ B Wirtschaftsethik als ökonomische Ethik oder angewandte Ökonomik: Teildisziplin der Ökonomik, die den systematischen Ort der Moral in einer Rahmenordnung erblickt, die durch geeignete Anreize langfristig allen eigeninte‐ ressierten Nutzenoptimierern Vorteile bringt - Ausgangsdisziplin: Ökonomik im weiten/ formalen Sinn (2) - monistischer Ansatz: Moral mit Eigeninteressen versöhnt - Institutionenethik statt Akteursethik - Implementierung moralischer Normen steht im Zentrum Kritik: - Nähe zum moralischen Egoismus - ökonomischer Imperialismus: Ethik mit ökonomischen Methoden - marginale Position, keine angewandte Ethik Ethische Grundlagen Aus Sicht einer ökonomischen Ethik oder Moralökonomik (B) haben Nor‐ men nur hypothetischen Charakter und müssen sich in der Praxis „bewähren“, indem sie den Menschen langfristig Vorteile bringen (vgl. Pies u.a., 267; Lütge, 61). In Frage kommen dann nur subjektivistische Begründungsmodelle, bei denen normative Sollensforderungen aus individuellen faktischen Interessen oder Präferenzen der Menschen abgeleitet werden (vgl. Ethik, 86f.). Subjektivis‐ tische Moralbegründungen liefern z. B. der Utilitarismus, die Vertragstheorie oder die Konsensethik. Gemäß der Konsensethik sind diejenigen Normen ethisch richtig, denen alle Individuen zustimmen können, für die sie Geltung haben sollen (vgl. Suchanek 2007, 18). Dabei reicht schon ein faktischer Konsens aus, ohne dass dieser wie in der Diskursethik bestimmten Kriterien wie „rational“ oder „gut begründet“ genügen müsste. Dagegen ist allerdings kritisch einzuwenden, dass nicht jeder faktische Konsens schon die normative Richtigkeit der konsensuell vereinbarten Normen verbürgt (vgl. Kap. 1.2). Gemäß der in der ökonomischen Ethik sehr einflussreichen Vertragstheorie 410 7 Wirtschaftsethik <?page no="411"?> (Kontraktualismus) sind Normen ethisch richtig, wenn sie sich als Ergebnis einer hypothetischen vertraglichen Übereinkunft denken lassen (vgl. Lütge, 61): Jeder soll sich in einem Gedankenexperiment in einen Natur- oder Urzu‐ stand hineinversetzen, in dem keine moralischen Regeln gelten, sondern nach Thomas Hobbes Schilderung ein totaler Kriegszustand aller gegen alle herrscht (vgl. Ethik, 107f.; Lütge u. a., 66f.). Die meisten dürften dann aufgrund ihrer langfristigen Interessen an ihrem Leben und ihrem Eigentum auf die persönli‐ che Freiheit verzichten, ihre spontanen Tötungswünsche oder Begierden nach dem Besitz fremden Eigentums auszuleben. Gegen diese subjektivistischen Begründungsmethoden ist allgemein zu Bedenken zu geben, dass die Moral hier instrumentalisiert wird und die so begründeten Normen eher strategisch klug als ethisch legitim sind. Die Akteure können Egoisten bleiben und handelten nicht moralisch aus Einsicht in die Richtigkeit der Normen, sondern lediglich moralkonform (vgl. Ethik, 111). Zudem lässt sich auf diese Weise immer nur eine Minimalmoral begründen, weil sich nur bezüglich elementarer Interessen wie z. B. denjenigen, nicht getötet, bestohlen oder betrogen zu werden, ein Konsens herstellen lässt. Es gäbe aber keine Normen zugunsten der Interessen benachteiligter oder kommunikationsunfähiger Minderheiten, zukünftiger Generationen oder zum Schutz von Tieren, weil diese nicht im Interesse aller egoistischer Nutzenoptimierer liegen. Vertreter einer Wirtschaftsethik im engen Sinn einer angewandten Ethik (A) legen jedoch großen Wert auf die Einsicht in die moralische Richtigkeit und Verantwortbarkeit einer Handlung, der gegenüber die per‐ sönlichen Interessen notfalls zurücktreten müssen (vgl. Ulrich 2002, 110 ff.). Moralisch richtig kann aus dieser wirtschaftsethischen Sicht genauso wie in der Sozial- oder Sollensethik allgemein nur sein, was sich von einem unparteiischen Standpunkt aus bei angemessener Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten als bestmögliche Handlung herausstellt. Als allgemeines Hilfsmittel zur Umsetzung des unparteiischen Standpunkts der Moral kann der hypothetische Rollentausch dienen (vgl. Ulrich 2002, 112): Man überlegt sich, ob das geplante Tun auch vom Standpunkt der Betroffenen aus mit ihren je eigenen Interessen bejaht werden kann. Im Unterschied zu den Vertretern der ökonomischen Ethik bevorzugen Wirt‐ schaftsethiker im engen Sinn objektivistische Begründungsmodelle, denen zufolge sich ein moralisches Sollen nicht auf faktische subjektive Interessen zurückführen lässt (vgl. Ethik, 116 f.). Als theoretische Grundlage dienen ihnen häufig konstruktivistische oder reflexive Ethikmodelle wie die Diskursethik oder der handlungsreflexive Ansatz, bei denen mora‐ 411 7 Wirtschaftsethik <?page no="412"?> lische Prinzipien und Normen zwar auch gewissermaßen von Menschen „konstruiert“ werden. Ihre Objektivität ergibt sich aber aus den notwendigen sprachlichen, sozialen und pragmatischen Voraussetzungen, die Menschen immer schon in Anspruch nehmen müssen, wenn sie moralisch denken und handeln (vgl. Kap. 1.2). Gemäß der von Steinmann/ Löhr und Ulrich bemühten Diskursethik ist diejenige Norm ethisch richtig, die von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet (vgl. Steinmann u. a., 67-84; Ulrich 2016, 130 f.). Berücksichtigt werden im Diskurs nicht alle faktisch vorhandenen Interessen, sondern nur diejenigen, die sich mit Gründen und Argumenten rechtfertigen lassen und somit „universalisierbar“, d. h. verallgemeinerbar sind. Expliziten Bezug auf den handlungsreflexiven Ansatz von Alan Ge‐ wirth nimmt der Wirtschaftsethiker Georges Enderle (vgl. Enderle, 148 ff.). Bei diesem Begründungsgang überlegt man sich, welche materiellen, sozia‐ len und institutionellen Voraussetzungen für menschliches Handeln absolut unabdingbar sind (vgl. Kap. 1.2; Ethik, 154 f.). Weil diese Güter für jedes Handlungssubjekt „objektiv“ notwendig sind, ihm aber von seinen Mitmen‐ schen streitig gemacht werden können, muss jeder seinen Mitmenschen ein moralisches Recht auf diese Güter einräumen. Ein (wirtschaftliches) Handeln ist folglich nur dann legitim, wenn dabei keine notwendigen hand‐ lungskonstitutiven Güter der Betroffenen eingeschränkt werden. Mittels dieses Ansatzes lassen sich Menschenrechte begründen, die in neueren Ansätzen der Wirtschaftethik als normative Orientierungsmaßstäbe für die Wirtschaft diskutiert werden (vgl. Neuhäuser, 162; Gesang, Kap. 5). Enderle hebt das moralische Recht auf menschenwürdige Existenzbedingungen hervor, insbesondere das Recht auf Existenzsicherung. Der Einzelne soll dabei den Existenzbedarf mithilfe seiner eigenen Fähigkeiten selbst decken können, weshalb er auch ein Recht auf Arbeit fordert. Darüber hinaus lassen sich etwa auch die Rechte auf Leben, physische und psychische Unversehrt‐ heit, Meinungsfreiheit und Würde im Sinn der Nicht-Instrumentalisierung und Willensfreiheit begründen (vgl. Jänichen, 158; Ulrich 2016, 261). Ohne explizite Bezugnahme auf Gewirth stellt Ulrich in Anlehnung an Amartya Sen eine Liste von sozialökonomischen Grundfähigkeiten zusammen, bei der er sich an „den formalen Dimensionen der Handlungsfähigkeit“ orien‐ tiert. Dazu zählen: die Fähigkeit, die eigenen Lebenszusammenhänge zu verstehen und sich im Leben orientieren zu können (Recht auf Erziehung und Bildung), die Fähigkeit, 412 7 Wirtschaftsethik <?page no="413"?> die eigene Persönlichkeit, Selbstbewusstsein und Selbstachtung entwickeln und in der Arbeitswelt zur Geltung bringen zu können (Recht auf unverletzliche Identität und angemessene Partizipation an Entscheidungsprozessen auch im Wirtschaftsleben); die Fähigkeit, soziale Zugehörigkeit zu entwickeln und als geachtete Person Beziehungen zu anderen Menschen pflegen zu können; (…); die Fähigkeit, seine wirtschaftliche Existenz wenn immer möglich aus eigener Kraft sichern zu können (Recht auf Berufsbildung, Recht auf Arbeit, faire Arbeitsbe‐ dingungen und angemessenen Lohn, …); die Fähigkeit, auch in wirtschaftlichen Notlagen ein menschenwürdiges Leben in Selbstachtung führen zu können (Recht auf Existenzsicherung und soziale Betreuung). (Ulrich 2016, 291 f.) Ökonomische Ethik (B) Begründen moralischer Normen = „Bewähren“ hypothetischer Konstrukte in der Praxis, indem sie den Menschen langfristig Vorteile bringen Ethischer Subjektivismus: Normative Aussagen lassen sich allein im Rekurs auf empirisch gegebene individuelle Interessen begründen. - Konsensethik: Ethisch richtig ist eine moralische Norm, wenn alle Indivi‐ duen ihr aufgrund ihrer persönlichen Interessen zustimmen können. - Vertragstheorie: Ethisch richtig ist eine moralische Norm, die sich als Ergeb‐ nis einer vertraglichen Übereinkunft zwischen eigeninteressierten Individuen denken lässt. Probleme: - faktischer Konsens verbürgt nicht normative Richtigkeit - nur „Minimalmoral“ bezüglich basaler allgemeinmenschlicher Interessen - Interessen z. B. von Tieren oder zukünftiger Generationen nicht berücksichtigt Wirtschaftsethik als Angewandte Ethik (A) Moralische Normen können nicht aus Prinzipien und Zielen der Wirtschaft selbst abgeleitet werden, sondern müssen unabhängig davon begründet werden. Grundlage: Standpunkt der Moral; Basisprinzip der Unparteilichkeit → Konkretisierungen des Basisprinzips: - hypothetischer Rollentausch - Prinzip Gerechtigkeit 413 7 Wirtschaftsethik <?page no="414"?> Ethischer Objektivismus: Die Gültigkeit moralischer Normen lässt sich unab‐ hängig von individuellen Interessen z. B. mittels reflexiver Begründungsverfahren aus den notwendigen sprachlichen, sozialen oder pragmatischen Bedingungen moralischen Denkens oder Handelns begründen. - Diskursethik: Ethisch richtig ist dasjenige wirtschaftliche Handeln, das von allen Betroffenen als Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung findet. - Handlungsreflexiver Ansatz: Ethisch richtig ist dasjenige wirtschaftliche Handeln, bei dem keine notwendigen handlungskonstitutiven Güter der Betroffenen eingeschränkt werden. Prinzip Nachhaltigkeit Wie sich im Rahmen der Naturethik zeigte, ist der moralische Standpunkt allerdings noch nicht universell genug, solange er sich nur auf Menschen beschränkt. Nicht berücksichtigt wird dabei nämlich die außermenschliche Natur. Seit ihren Anfängen ist die industrielle Produktion aber gekennzeich‐ net durch einen hohen Verbrauch von Naturgütern (vgl. Jänichen, 227). Infolge des stetigen weltweiten Wirtschaftswachstums steigt auch dieser Verbrauch dramatisch an, so dass wichtige nichtregenerierbare Ressourcen wie das Erdöl bald erschöpft sein könnten. Mit den in die Luft entlassenen Abgasmengen und der Vergiftung von Meeren und Böden zerstört der Mensch zusehends seine Lebensgrundlage (vgl. Kap. 3.1.1). Der in der Wirtschaftsethik weithin erschallende Ruf nach Nachhaltigkeit lässt sich durchaus noch vom Standpunkt eines universalistischen Anthropozentris‐ mus aus begründen, weil man auf die Interessen zukünftiger Generationen Rücksicht nehmen soll. So definiert man „Nachhaltigkeit“ häufig mit Be‐ zug auf die Brundtland Kommission (World Commission 1987) wie folgt: Nachhaltig ist eine Entwicklung, bei der die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen, ebenfalls ihre Bedürfnisse zu befriedigen, zu beeinträchtigen. Konkret wäre beispielsweise die Nutzung eines Waldes nachhaltig, wenn diesem nicht mehr Holz entnommen wird, als durch planmäßige Aufforstung wieder nachwachsen kann (vgl. Waibl, 187; Lütge u. a., 147). Ein nachhaltiges Wachstum in der Wirtschaft läge dann vor, wenn die Wirtschaftsleistung steigt und der Verbrauch an Ressourcen absolut gesehen sinkt (vgl. Gesang, 62). Aus der noch jungen ökophilosophischen „Deep Ecology“-Bewegung geht die Forderung nach einer Postwachstumsökonomie hervor, die anstelle der kapitalistischen Ziele des Wachstums und der Gewinnmaxi‐ mierung ein Null- oder Negativwachstum fordert (vgl. ebd., 63 f.). Bei 414 7 Wirtschaftsethik <?page no="415"?> Nachhaltigkeitsprogrammen bleiben jedoch die Interessen der Tiere meist unberücksichtigt, die in der industriellen Massentierhaltung oft für mög‐ lichst billige Eier, Felle oder Fleischprodukte großes Leid ertragen müssen. Das Tier scheint sozusagen „der blinde Fleck im Auge der Wirtschaftsethik“ zu sein (ebd., 245). Notwendig wäre daher eine Ergänzung durch pathozent‐ rische und biozentrische Prinzipien, die Rücksichtnahme auf das Leid bzw. das Wohl oder Gedeihen aller Lebewesen fordern (vgl. Kap. 3.2.1; 3.2.2). Prinzip Nachhaltigkeit (universeller Anthropozentrismus): Nachhaltig ist eine Entwicklung, bei der die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befrie‐ digt, ohne den zukünftigen Generationen die Möglichkeiten zu nehmen, ebenfalls ihre Bedürfnisse zu befriedigen. notwendige Ergänzung durch das biozentrische Moralprinzip: Ethisch rich‐ tig ist das wirtschaftliche Handeln, bei dem das Wohl aller betroffenen Lebewesen angemessen berücksichtigt wird. Prinzip Verantwortung Wie in den meisten anderen Bereichsethiken auch, spielt bei wirtschaftse‐ thischen Diskussionen das formale Prinzip Verantwortung eine bedeutende Rolle (vgl. Aßländer, 123 ff.; Göbel, 111 f.). Immer wieder stellt sich die Frage nach der Verantwortung für bestimmte negative Folgen wirtschaftlichen Handelns wie z. B. bei der Weltwirtschaftskrise von 2008: Sind einzelne Individuen verantwortlich zu machen, in diesem Fall etwa die Manager der spekulierenden Banken, bestimmte Institutionen wie Bankenaufsichten oder Börsen oder gar die Wirtschaftsordnung einer globalen freien Markt‐ wirtschaft insgesamt? Damit sind schon die drei verschiedenen Ebenen genannt, auf denen in der Wirtschaftsethik Verantwortung lokalisiert wird (vgl. Zimmerli u. a., 322 ff.; Noll 2013, 44): Auf der Mikroebene der einzelnen Wirtschaftsakteure betont man die moralische Pflicht und die Verantwor‐ tung des Einzelnen gegenüber seinen Mitmenschen und der Natur, sei es in seiner Eigenschaft als Konsument, Arbeitnehmer, Kapitalanleger oder Manager. Diese akteursethische Perspektive einer Konsumenten-, Mitar‐ beiter- und Führungsethik wird in Kapitel 7.3 eingenommen. Auf der Mesoebene hingegen geht es um die Unternehmen als Organisationen oder Institutionen, die Träger von kollektiver Verantwortung sein können. Für diesen in Kapitel 7.2 vorzustellenden Teilbereich der Wirtschaftsethik hat sich sinnigerweise der Begriff Unternehmensethik eingebürgert. Auf der Ordnungs- oder Makroebene schließlich werden die Wirtschaftssys‐ 415 7 Wirtschaftsethik <?page no="416"?> teme und politischen Ordnungen daraufhin untersucht, ob die Rahmenord‐ nung der Wirtschaft gerecht ist. Während der Begriff „Wirtschaftsethik“ bisweilen in einem engen Sinn auf diese Makroebene beschränkt und von der „Unternehmensethik“ abgegrenzt wird, soll er hier wie in anderen Einführungsbänden in einem weiten Sinn als Oberbegriff für alle drei Ebenen dienen (vgl. Aßländer 2011, 119 f.; Brenner 2018, 98; Göbel, 89). Demgegenüber wird als spezifischer Terminus für die Makroebene hier der Ausdruck Wirtschaftsordnungsethik verwendet. Diese typische Institu‐ tionenethik soll in Kapitel 7.1 zur Diskussion stehen. Individualistische und institutionalistische Verantwortungskonzepte im Zeichen einer Akteursbzw. Institutionenethik schließen sich keineswegs aus, sondern können sich vielmehr ergänzen. Ethischer Teil‐ bereich Adressaten; Untersuchungs‐ gegenstand Verantwortungskon‐ zepte Ordnungs-/ Makroebene (Kap. 7.1) Wirtschaftsord‐ nungsethik Wirtschaftssys‐ teme, politische Ordnungen institutionalistische Ver‐ antwortungskonzepte: Institutionenethik Mesoebene (Kap. 7.2) Unternehmens‐ ethik Unternehmen, Unternehmens‐ strukturen institutionalistische Ver‐ antwortungskonzepte: Institutionenethik Mikroebene (Kap. 7.3) Konsumenten-, Mitarbeiter-, Führungsethik Individuen als Konsumenten, Arbeitnehmer, Manager individualistische Ver‐ antwortungskonzepte: Akteursethik 7.1 Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik Aufgabe der Wirtschaftsordnungsethik ist der Vergleich der wertmäßi‐ gen Vor- und Nachteile verschiedener Wirtschaftssysteme und ihres poli‐ tischen Ordnungsrahmens. Anstelle anderer üblicher Bezeichnungen wie „Ordnungsethik“ (Noll 2013, 44) oder „Ordnungswirtschaftsethik“ (Waibl, 29) wird hier der Terminus „Wirtschaftsordnungsethik“ verwendet, weil der Untersuchungsgegenstand dieses wirtschaftsethischen Teilbereichs auf der Makroebene weder einfach die „Ordnung“ noch auch die „Ordnungswirt‐ schaft“ ist, sondern präziser die „Wirtschaftsordnung“. Wie in der Einleitung 416 7 Wirtschaftsethik <?page no="417"?> dargelegt, war der ursprüngliche Zweck der Wirtschaft die Versorgung der Menschen mit materiellen Gütern zur planmäßigen Stillung ihrer Bedürf‐ nisse. Dabei geht es nicht nur um die Sicherung der Existenz, sondern darüber hinaus um die Erweiterung des Handlungsspielraums und eine gesteigerte Lebensqualität. Um auf einer Makro- oder Ordnungsebene die Legitimität eines Wirtschaftssystems zu prüfen, ließe sich also eruieren, wie gut diese Ziele mit seiner Hilfe erreicht werden können. Da die Ziele aber sehr vage formuliert sind, fehlen handhabbare Kriterien. So sind weder die menschlichen „Bedürfnisse“ noch das „Existenzminimum“ oder gar die „Lebensqualität“ eindeutige feste Größen. Das normative Konzept Lebensqualität fasst die für ein selbstbestimmtes und würdiges gutes menschliches Leben notwendigen individuellen, sozialen, institutionellen und Umweltbedingungen zusammen (vgl. Kap. 2.2). Sobald einmal die elementare Schwelle der Grundsicherung der puren menschlichen Existenz überschritten ist, geht es nicht mehr um empirisch-deskriptive Fragen, sondern um normative Zielvorstellungen und Werthaltungen, die reflektiert werden müssen. Aus einer individualethischen Perspektive wäre allererst eine Theorie der Bedürfnisse erforderlich, weil diese bei Menschen anders als bei Tieren äußerst formbar und variabel sind. Wie sich zeigen wird, gehen die Haupttypen der Wirtschaftssysteme - häufig implizit - von sehr unterschiedlichen Vorstellungen von einem guten menschlichen Leben und von verschiedenen Menschenbildern aus. Sozialethisch betrachtet stellt sich darüber hinaus die Frage, wer denn genau von wie vielen materiellen Gütern zur Stillung seiner Bedürfnisse bzw. zur Steigerung seiner Lebensqualität profitieren soll. Sind es alle Mit‐ glieder einer Gesellschaft in genau gleichem Maß oder im Verhältnis zu ihren Bedürfnissen oder ihren Leistungen? Wie lassen sich ungleiche Verteilungen theoretisch rechtfertigen? Hier geht es um die zentrale Frage der politischen Ökonomie nach der Gerechtigkeit einer Wirtschaftsordnung, genauer nach der „austeilenden“ oder „distributiven Gerechtigkeit“ (vgl. Neuhäuser, 162). Sie ist zu unterscheiden von der „ausgleichenden“ oder „kommutativen Gerechtigkeit“ (Tauschgerechtigkeit), die sich auf den Tausch von Waren oder Leistungen zwischen Personen bezieht. Ziel der distributiven Ge‐ rechtigkeit ist es, materielle oder öffentliche Güter, Chancen, Rechte oder Pflichten „gerecht“ unter den Gesellschaftsmitgliedern zu verteilen. Weiter spezifizieren lässt sich diese Gerechtigkeit entweder als Gleichheit der Verteilungsregeln oder -verfahren für alle (Verfahrensgerechtigkeit), als Gleichheit in den Ausgangschancen (Chancengleichheit) oder als Gerech‐ 417 7.1 Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik <?page no="418"?> tigkeit in den Ergebnissen der Verteilung (Ergebnisgerechtigkeit). Zudem kann sie sich entweder als personale Gerechtigkeit auf das austeilende Handeln von Einzelpersonen beziehen oder als institutionelle Gerechtigkeit auf Institutionen wie Gesellschaftssysteme oder Wirtschaftsordnungen, in denen bestimmte Verteilungskriterien gelten. Diese zweite Art der in‐ stitutionellen Gerechtigkeit soll in diesem Kapitel zu den verschiedenen Wirtschaftssystemen im Zentrum stehen. Erschwert wird die Beantwortung obiger Fragen durch die Vielzahl verschiedener Gerechtigkeitstheorien. Aufgrund divergierender Gerechtigkeitsvorstellungen werden in der Wirt‐ schaftsethik verschiedene Wirtschaftssysteme bzw. -ordnungen bevorzugt (vgl. Neuhäuser, 162). Was im einen Wirtschaftssystem als „gerecht“ gilt, muss es in einem anderen also nicht zwangsläufig auch sein. Wirtschaftsordnungsethik: Teilbereich der Wirtschaftsethik, der sich mit der ethischen Legitimität von Wirtschaftssystemen (bzw. eines politischen Ordnungs‐ rahmens einer Wirtschaft) befasst relevante individualethische Konzepte: Theorien vom „guten Leben“, Bedürf‐ nis- und Wunschtheorien relevante sozialethische Konzepte: Theorien der Gerechtigkeit Gerechtigkeit distributive (austeilende) Gerechtigkeit Verteilung von Gütern kommutative (Tausch-) Gerechtigkeit Tausch von Gütern Verfahrensgerechtigkeit für alle gleiche Verteilungsregeln Chancengleichheit gleiche Chancen auf Gütererwerb Ergebnisgerechtigkeit gerechte Ergebnisse bei der Verteilung 7.1.1 Wirtschaftsliberalismus: Freie Marktwirtschaft Die Grundzüge des Markt- oder Wirtschaftsliberalismus und der freien Marktwirtschaft mit den Prinzipien „Freiheit“, „Wettbewerb“ und „Ge‐ winnmaximierung“ und dem zentralen „Recht auf Privateigentum“ wurden bereits in der Einleitung skizziert. Innerhalb des Wirtschaftsliberalismus unterscheidet man allerdings verschiedene Schulen, von denen hier nur die zwei wichtigsten vorgestellt werden sollen: der „klassische Liberalismus“ 418 7 Wirtschaftsethik <?page no="419"?> und der „Neoliberalismus“. Am ausführlichsten wird der klassische Libe‐ ralismus behandelt, weil er die liberalen Prinzipien und Überzeugungen am reinsten vertritt, die auch für die anderen Formen des Wirtschaftslibe‐ ralismus gelten. Entstanden im England des 18. Jahrhunderts wirkte er im sogenannten Laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und im Libertarismus des 20. Jahrhunderts fort und prägt noch heute weitgehend das ökonomische Denken der westlichen Welt (vgl. Vossenkuhl, 350). Die Voraussetzung für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung erblickt man in der Wirtschaftsordnung des Kapitalismus, der die ökonomische Freiheit der Konkurrenten im Wettbewerb sichert und Produktion und Konsum über den freien Markt steuert. Da diese ökonomische Denkform nicht auf die historische Epoche des klassischen Liberalismus beschränkt ist, spricht man alternativ vom Paläo- oder Altliberalismus (vgl. Ulrich 2016, 369). Um die ethische Legitimität dieser klassisch-liberalen Wirtschaftsform prüfen zu können, werden zunächst die entsprechenden Vorstellungen von „Gerechtigkeit“ und „gutem Leben“ herausgearbeitet. Nach einer kritischen Erörterung dieser Konzepte folgt dann die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtig dominierenden Neoliberalismus, also „Neu-Liberalismus“. Bei dieser Neubelebung des Wirtschaftsliberalismus in der Mitte des 20. Jahr‐ hunderts hat man auf einige Schwierigkeiten des klassischen Liberalismus reagiert. Wirtschaftsliberalismus Klassischer Liberalismus (Altliberalismus/ Paläoliberalismus) Neoliberalismus Klassischer Liberalismus Im klassischen Liberalismus bedeutet „Gerechtigkeit“ grob gesprochen größtmögliche Freiheit und Chancengleichheit für alle, ihre Bedürfnisse und Interessen zu erfüllen bzw. ihre individuellen Lebensentwürfe zu ver‐ wirklichen (vgl. Waibl, 123; Aßländer 2007, 120 f.). Gerecht sei diejenige Wirtschaftsordnung, in der sich jeder ungehindert von staatlichen oder gesellschaftlichen Einschränkungen und ungeachtet seines biographischen Hintergrunds am ökonomischen Geschehen beteiligen kann (vgl. Suchanek 2007, 101). Dies trifft zweifellos auf die liberale Marktwirtschaft zu, in der jeder je nach Leistungs- oder Investitionsbereitschaft Güter oder Leistungen 419 7.1 Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik <?page no="420"?> auf dem Markt präsentieren oder nachfragen kann. Knappe Güter erhält, wer am meisten bietet, und erfolgreich verkauft, wer günstiger produziert oder bessere Qualität zum gleichen Preis liefert. Da für alle Marktteilnehmer die gleichen Regeln gelten und niemand bevorzugt behandelt wird, kann man hier von einer Verfahrensgerechtigkeit sprechen (vgl. Lütge, 60). Das Marktgeschehen gleicht insofern einem „gerechten“ Sportwettkampf, bei dem auf alle Sportler die gleichen Regeln angewendet werden. Wirtschaft‐ liches Handeln wird als strategisches Wettkampfverhalten begriffen, und es gewinnt, wer am meisten investiert und die beste Leistung erbringt. Im uneingeschränkten Wettbewerb herrscht in diesem Sinn Leistungsgerech‐ tigkeit. Als ungerecht erscheint hingegen eine „Ergebnisgerechtigkeit“, die im Wettbewerb entstehende Ungleichheiten „auszugleichen“ versucht. In Analogie zum Sportkampf käme es z. B. bei einem Fußballspiel kaum jemandem in den Sinn, der Mannschaft mit 4: 0 Rückstand zwei zusätzliche Feldspieler zu gewähren, damit das Ergebnis „gerechter“ wird (vgl. Lütge, 63). Denn dies wäre ein Verstoß gegen die Verfahrensgerechtigkeit. Da insbesondere bei knappen Gütern oder großer Konkurrenz nicht alle den Zuschlag bekommen können, gibt es zwangsläufig Gewinner und Verlierer des Wettbewerbs (vgl. Noll 2013, 254). Ungleichverteilung an Gütern oder Gewinn scheint dem Marktprozess immanent zu sein. Wenn sich alle Anbieter und Nachfrager in einem idealen oder vollkom‐ menen Wettbewerb befinden, reguliert sich die Produktion und der Konsum ausschließlich über das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage auf dem M