Religionsökonomie
Einführung für Studierende der Religionswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften
0313
2023
978-3-8385-5912-4
978-3-8252-5912-9
UTB
Maren Freudenberg
Kianoosh Rezania
10.36198/9783838559124
Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft verstehen
Religion und Ökonomie stehen seit jeher in einer engen Wechselbeziehung. Diese beleuchten Maren Freudenberg und Kianoosh Rezania im Detail: Sie zeigen theoretische Ansätze und empirische Forschungsmethoden auf, die eine Brücke zwischen den beiden Disziplinen schlagen. Insbesondere gehen sie auf religiöse ökonomische Ethiken und deren wirtschaftliche Konsequenzen, auf Religionen als ökonomische Akteurinnen und auf das Marktmodell des Religiösen ein.
Das Buch richtet sich an Studierende und Dozierende der Religionswissenschaft und der Wirtschaftswissenschaften.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8252-5912-9 Maren Freudenberg Kianoosh Rezania Religionsökonomie Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft verstehen Religion und Wirtschaft stehen seit jeher in einer engen Wechselbeziehung. Diese beleuchten Maren Freudenberg und Kianoosh Rezania detailliert aus religionswissenschaftlicher und ökonomischer Perspektive: Sie zeigen theoretische Ansätze und empirische Forschungsmethoden auf, die eine Brücke zwischen den beiden Disziplinen schlagen. Besonders gehen sie-auf religiöse ökonomische Ethiken und deren sozioökonomische Auswirkungen, auf Religionen als ökonomische Akteure und auf neuere Weiterentwicklungen theoretischer Ansätze ein. Zahlreiche Leitfragen, Definitionen und Diskussionsfragen helfen beim Verständnis. Das Buch richtet sich an Studierende und Dozierende der Religionswissenschaft und der Wirtschaftssowie Sozialwissenschaften. Religionswissenschaft | Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Religionsökonomie Freudenberg | Rezania Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2023_02_10_5912-9_Freudenberg_Rezania_M_5912_RZ.indd Alle Seiten 2023_02_10_5912-9_Freudenberg_Rezania_M_5912_RZ.indd Alle Seiten 10.02.23 11: 30 10.02.23 11: 30 <?page no="1"?> utb 5912 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Dr. Maren Freudenberg ist akademische Rätin am Centrum für Religionswissenschaftliche Stu‐ dien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Dort ist sie als Religionssoziologin in Forschung und Lehre tätig und auch in den Bereichen Publishing und Wissenstransfer aktiv. Prof. Dr. Kianoosh Rezania hat die Professur für Westasiatische Religionsgeschichte am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum inne. Darüber hin‐ aus ist er Direktor der Graduiertenschule Meta‐ phern und Religion. <?page no="3"?> Maren Freudenberg / Kianoosh Rezania Religionsökonomie Einführung für Studierende der Religionswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559124 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5912 ISBN 978-3-8252-5912-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5912-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5912-9 (ePub) Umschlagabbildung: © tawanlubfah · iStockphoto Autorinnenfoto Maren Freudenberg: © Ruhr-Universität Bochum, S. Finke Autorenfoto Kianoosh Rezania: © Ruhr-Universität Bochum, K. Marquard Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 1 11 1.1 12 1.2 15 1.2.1 16 1.2.2 18 1.3 24 1.3.1 24 1.3.2 29 1.4 34 1.5 39 2 41 2.1 42 2.1.1 42 2.1.2 45 2.2 51 2.2.1 52 2.2.2 56 2.3 60 2.3.1 61 2.3.2 63 2.3.3 69 2.4 75 2.5 82 3 85 3.1 86 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionsökonomie: Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft . . . . . Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte und Zweige der Religionsökonomie . . . . . . . . . Die Geschichte der Religionsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . Zweige der Religionsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung des Lehrbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Religionswissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen . . . . . . . . Die Säkularisierungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Individualisierungs- und Privatisierungsthese . . . . . . . Qualitative Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.2 90 3.2.1 90 3.2.2 94 3.2.3 98 3.2.4 101 3.2.5 103 3.3 106 3.4 112 3.4.1 112 3.4.2 116 3.5 124 4 127 4.1 128 4.1.1 129 4.1.2 134 4.1.3 137 4.1.4 139 4.1.5 142 4.2 143 4.2.1 144 4.2.2 152 4.3 157 5 159 5.1 160 5.1.1 160 5.1.2 165 5.1.3 168 5.1.4 170 5.2 172 5.2.1 174 5.2.2 184 Theorie des Haushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Budget und Restriktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präferenzen und Indifferenzkurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marginalanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzenfunktion und Grenznutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Haushalt und seine optimale Entscheidung . . . . . . . . . Unternehmen und Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angebot und Nachfrage auf dem Markt . . . . . . . . . . . . . . . . Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Marktmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele . . . . Steuern und Zinsverbot im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fromme Stiftungen im Islam und Zoroastrismus . . . . . . . . Das Verbot des Wirtschaftsbetrugs im Judentum . . . . . . . . Christliche Wirtschaftsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Besitzverbot im Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen des Protestantismus in der westlichen Welt Auswirkungen des Islam im Nahen Osten . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionen als ökonomische Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Finanzierung religiöser Organisationen . . . . . . . . . . . . Klassifikationen der Finanzierung von Religion . . . . . . . . . Tempelökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertvernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Investition der Produzenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene . . . . . . Mikroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mesoebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 5.3 191 5.3.1 191 5.3.2 199 5.4 206 6 209 6.1 210 6.1.1 210 6.1.2 212 6.1.3 216 6.1.4 234 6.2 239 6.3 249 6.4 254 7 257 7.1 258 7.1.1 258 7.1.2 262 7.2 272 7.2.1 273 7.2.2 277 7.3 287 289 305 316 317 Vermarktung von Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Wirtschaftsstrategien in der Konsumkultur . . . . Entwicklung von Religion im Neoliberalismus . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktmodelle der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der economics of religion-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökonomische Grundlage: Die rational choice-Theorie . . . . Elemente des economics of religion-Ansatzes . . . . . . . . . . . . Entwicklung des economics of religion-Ansatzes . . . . . . . . . Kritik am economics of religion-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ Religiöse Güter und religiöse Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterentwicklungen des -Homo oeconomicus-Ansatzes . . . . . . . Die Verhaltensökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typische Experimente der Verhaltensökonomie . . . . . . . . . Die Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialwissenschaftliche Grundlage: Der Neo-Institutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und die Neue Institutionenökonomik . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="9"?> Vorwort Im Sommersemester 2022, als wir zuletzt das Seminar „Grundlagen der Religionsökonomie“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum unterrichtet haben, haben wir große Teile des Manuskripts dieses Lehrbuchs als work-in-progress von unseren Studierenden lesen und kritisch kommentieren lassen. Für ihre Rückmel‐ dungen sind wir den Kursteilnehmenden ebenso dankbar wie diversen Kollegen und Kolleginnen, die Unterkapitel oder Abschnitte aufmerksam gegengelesen und uns wertvolle Hinweise und Anregungen gegeben haben. Danken möchten wir insbesondere Julio R. Robledo, Mikroökonom an der Ruhr-Universität Bochum, und André Kastilan, Sozialwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, für die Zeit, Sorgfalt und andauernde Unterstüt‐ zung bei den Korrekturschleifen der Textteile mit Bezug auf Ökonomie und quantitative Methoden. Unserer studentischen Hilfskraft Allegra Gold‐ strass sind wir ebenfalls zu besonderem Dank verpflichtet: Ihre sorgfältige sprachliche Korrektur und ihre inhaltlichen Hinweise waren sehr hilfreich. Danken möchten wir darüber hinaus unseren geschätzten Kolleginnen und Kollegen am CERES für wertvolle Anregungen und konstruktive Kritik: Iris Colditz, Anna Kira Hippert, Volkhard Krech, Jonna-Margarethe Mäder, Jens Schlamelcher, Dunja Sharbat Dar und Jan-Ulrich Sobisch. Ferner sind wir Martin Lutz, Wirtschaftshistoriker an der Humboldt-Universität zu Berlin, sowie Michael Kleinod, Soziologe und Ethnologe an der Universität Köln, für ihr offenes Ohr und ihren kritischen Blick sehr dankbar. Auch die Vorstellung und kritische Diskussion der Lehrbuchstruktur in einem frühen Stadium im Rahmen eines Workshops des Arbeitskreises Religion und Wirtschaft (CERES, HU Berlin und zahlreiche weitere Beteiligte) war für die Entwicklung des Bandes außerordentlich hilfreich. Hinweis | Gendern Ein Thema möchten wir vorab explizit ansprechen: das Gendern. Die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit gendergerechter Sprache war für uns vor dem Hintergrund aktueller und berechtigter Debatten ein langer, lehrreicher Weg. Als wir Anfang 2021 mit der Arbeit am Lehrbuch begannen, hatten wir die Idee, durchweg das generische Femi‐ <?page no="10"?> ninum, stellvertretend für alle Geschlechter, zu verwenden - denn Spra‐ che hat Macht und kann Gesellschaften verändern, auch in Bezug auf Geschlechterwahrnehmungen. Nach dem Verfassen von zwei Kapiteln wurde aber klar, wie problematisch die Verwendung des generischen Femininums sein würde, da man sinnvoll natürlich nur dann gendern kann, wo tatsächlich Personen gemeint sind. Spricht man aber von abstrakten Kategorien, z. B. von Haushalten oder Unternehmen als Akteuren, so ist das Femininum „Akteurinnen“ unsinnig, da Haushalte und Unternehmen keine Personen sind. Daraufhin entschieden wir uns, nur diejenigen Nomen zu gendern, die auf Personen verweisen, und alle anderen Nomen nicht zu gendern. Zwei weitere Kapitel schrieben wir auf diese Weise und stellten fest, dass diese Unterscheidung den Text deutlich verwirrender machte als notwendig. Dieses Feedback bekamen wir auch von unseren Studierenden: Der Großteil meldete uns nach der Lektüre der Kapitelentwürfe zurück, dass Gendersternchen und Mehrfachnennung verschiedener Geschlechter beim Lesen zu sehr von den Inhalten abgelenkt hätten. Zuletzt haben wir uns des Sprachflusses wegen entschieden, in diesem Lehrbuch das übliche generische Maskuli‐ num, stellvertretend für alle Geschlechter, zu verwenden. Bei konkreten Beispielen überlassen wir dafür Frauen den Vortritt. Diese Lösung ist sicherlich nicht optimal, wird der Aufgabe dieses Lehrbuchs - nämlich der Wissensvermittlung zum Thema Religionsökonomie - aus unserer Perspektive aber am besten gerecht. Wir haben das sprachliche Gendern im hiesigen Rahmen also aufgegeben, nicht aber unser Engagement für die Geschlechtergleichstellung. 10 Vorwort <?page no="11"?> 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung Leitfragen des Kapitels ● Was ist Religion? Was ist Wirtschaft? Wie hängen diese beiden Bereiche der Gesellschaft zusammen? ● Was ist die Religionswissenschaft? Was ist die Ökonomie? Wie hängen diese beiden Bereiche der Wissenschaft zusammen? ● Wie haben sich die Kerndisziplinen der Religionsökonomie, die Reli‐ gionswissenschaft und die Ökonomie, fachgeschichtlich entwickelt? ● Wie hat sich die Religionsökonomie fachgeschichtlich entwickelt und was sind ihre zentralen Zweige? ● Wie ist das vorliegende Lehrbuch gegliedert und zu nutzen? Dieses Lehrbuch richtet sich einerseits an Studierende und Lehrende der Re‐ ligionswissenschaft, die sich für Wirtschaft, Ökonomie (Wirtschaftswis‐ senschaft) und wirtschaftswissenschaftliche Forschungsweisen mit Blick auf Religion interessieren. Andererseits richtet es sich an Studierende und Lehrende der Ökonomie, die sich für Religion und Religionswissenschaft aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive interessieren. Das Lehrbuch zielt also darauf ab, die beiden Disziplinen Religionswissenschaft und Öko‐ nomie näher zusammenzubringen, indem es jeweils knapp in sie einführt und die Religionsökonomie als Schnittstelle zwischen den beiden mit ihren verschiedenen Perspektiven und Schwerpunkten vorstellt.- In dieser Einleitung erläutern wir zu Beginn die beiden zentralen Begriffe Religion und Wirtschaft (→ Kapitel 1.1). Es folgt ein knapper Überblick über die historische Entwicklung der Religionswissenschaft einerseits (→ Kapitel 1.2.1) und der Ökonomie andererseits (→ Kapitel 1.2.2) als die beiden Kern‐ fächer der Religionsökonomie. Sodann führen wir in die Religionsökonomie als eigenständige Disziplin ein, indem wir sowohl ihre Geschichte skizzieren (→ Kapitel 1.3.1) als auch ihre unterschiedlichen Zweige vorstellen (→ Ka‐ pitel 1.3.2). Zuletzt wird die Gliederung des Lehrbuchs zur Orientierung für unsere Leserschaft erläutert (→-Kapitel 1.4). <?page no="12"?> 1.1 Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft Was hat Religion mit Wirtschaft zu tun? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen diesen beiden Bereichen der Gesellschaft? Antworten auf diese Fragen fallen sehr vielfältig aus, da die Verbindungen komplex und verflochten sind. Deswegen ist es wichtig, zuerst zu klären, was mit Religion und was mit Wirtschaft gemeint ist. In diesem Lehrbuch werden Religion und Wirtschaft als zwei ausdif‐ ferenzierte gesellschaftliche Teilsysteme verstanden. Moderne Gesell‐ schaften zeichnen sich durch die zunehmende Differenzierung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Recht, Religion, und anderen Feldern aus; es handelt sich hierbei um jeweils separate Teilsysteme oder Hand‐ lungssphären, die nach eigenen Logiken und Rationalitäten funktionieren (→ Kapitel 2.1 und 2.2). Diese Perspektive beruht auf der vom deutschen Soziologen Niklas Luhmann entwickelten Systemtheorie, in die wir hier nur oberflächlich einführen können. Luhmann geht von sozialen Teilsystemen als Kommunikationssysteme aus, die sich jeweils einem bestimmten Gegen‐ stand bzw. einer bestimmten Aufgabe widmen; dies ist ihre gesellschaftliche Funktion. Die Aufgabe des Teilsystems Religion sei die Bewältigung von Kon‐ tingenz, d. h., Erklärungen dafür zur Verfügung zu stellen, warum die Welt so ist, wie sie ist, und nicht anders (Luhmann 2002). Das Teilsystem Religion beziehe sich in seiner Kommunikation dabei auf den binären Code Imma‐ nenz/ Transzendenz - es verweise also auf das, was beobachtbar, greifbar, be‐ kannt (immanent) sei, aber auch auf das, was unbeobachtbar, un(be)greifbar, unbekannt (transzendent) sei. Zum Beobachtbaren und Greifbaren gehören z. B. religiöse Rituale und Artefakte; man denke an hinduistische Pujas, aufwendige Tempelrituale mit ihren Götterstatuen, Öllampen, Opfergaben und vielem mehr. All diese Dinge verweisen jedoch auf das Unbeobachtbare, Unbekannte, Transzendente im hinduistischen Glaubenssystem, also die Vielzahl von Göttern und Göttinnen, an welche die Anhänger glauben und welche sie verehren. Religion ist in dieser Perspektive überall auffindbar, wo mit immanenten Mitteln auf das Transzendente verwiesen wird - mit anderen Worten, wo über die Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz kommuniziert wird. Wie wir in diesem und im folgenden Kapitel für Einsteiger in die Religionswissenschaft erläutern, geht es dabei nicht um Werturteile über Religion oder über den Wahrheitsgehalt verschiedener Religionen; diese Fragen sind religiöse und theologische und können nur 12 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="13"?> von Religionen selbst, nicht aber der Wissenschaft, beantwortet werden. Aus differenzierungstheoretischer Sicht gehen wir von Religion als gesell‐ schaftlichem Teilsystem aus, das durch Kommunikation über Immanenz und Transzendenz, über das Beobachtbare und das Unbeobachtbare, Kon‐ tingenzbewältigung leistet. Religion Religion ist ein gesellschaftliches Teilsystem, das durch die Kommuni‐ kation über das Immanente und das Transzendente Kontingenzbewäl‐ tigung leistet. Die Wirtschaft ist mit Luhmann ebenfalls ein aus Kommunikation beste‐ hendes soziales Teilsystem, das seinerseits mit dem Lösen wirtschaftlicher Probleme betraut ist (Luhmann 1994). Der binäre Code des Teilsystems Wirtschaft lautet Zahlung/ Nichtzahlung - es verweist also auf finanzielle Transaktionen (bzw. andere Formen des Austauschs). Das Bezahlen an der Supermarktkasse und die monatliche Überweisung eines bestimmten Betrags auf ein Sparkonto gehören also gleichermaßen zum Teilsystem Wirtschaft wie ein spontaner Kauf auf dem Flohmarkt und das Überziehen des Girokontos vor Monatsende; Letzteres ist ein Beispiel für Nichtzahlung, da nicht genug Geld auf dem Konto vorhanden ist und die Bank einspringen muss. Wirtschaft finden wir in dieser Perspektive also immer dort vor, wo es um Finanz- und Warentransaktionen geht, ob seitens großer DAX-Konzerne oder im mittelalterlichen Marktsetting. Wichtig ist dabei, dass das Teilsys‐ tem Wirtschaft nicht auf die Mikroebene, also einen einzigen Haushalt oder ein Unternehmen, zu beschränken ist, sondern auf der Makroebene das Wirtschaften ganzer Gesellschaften ausmacht (s. → Kapitel 3.1 zur Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroökonomie). Wirtschaft und Ökonomie Wirtschaft ist ein gesellschaftliches Teilsystem, das durch die Kommu‐ nikation über Zahlung bzw. Nichtzahlung das Lösen wirtschaftlicher Probleme zur Aufgabe hat. Wir verwenden in diesem Lehrbuch die Bezeichnung „Ökonomie“ für die Wirtschaftswissenschaft, die wissenschaftliche Disziplin, die sich 1.1 Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft 13 <?page no="14"?> mit der Wirtschaft beschäftigt. Wenn wir nicht auf die Disziplin, sondern auf ihren Gegenstand verweisen, sprechen wir von der Wirtschaft. In der Systemtheorie Luhmanns sind Teilsysteme selbstreferentiell, d. h. auf sich bezogen; sie reduzieren Komplexität durch Abgrenzung zur Umwelt. Gleichzeitig beeinflussen sie sich im Zuge der eigenen Entwicklung aber gegenseitig. Als Beispiel können wir den Wandel von Tauschhandel hin zu Geldtransaktionen im Teilsystem Wirtschaft nehmen. Als im Laufe der Geschichte monetäre, d. h. auf Geld beruhende, Zahlungssysteme den Tauschhandel ablösten, hatte dies auch auf andere gesellschaftliche Teil‐ systeme eine Auswirkung. Religiöse Akteure waren zunehmend auf das Erwirtschaften von Geld als Einkommen angewiesen, um sich finanzieren zu können, d. h. Gebäude und Ländereien, aber natürlich auch Personal zu unterhalten. Eine Tempelanlage, eine Synagoge, eine Kirche oder eine Moschee ist eine religiöse Organisation, gleichzeitig macht sie aber auch eine wirtschaftliche Einheit aus. In welchem Teilsystem, ob Religion oder Wirtschaft, sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt bewegt, hängt vom Gegenstand der Kommunikation ab. Geht es um Seelenheil im Jenseits, also um eine Art von Kontingenzbewältigung, haben wir es mit Religion zu tun. Geht es um das Begleichen von Rechnungen und das Vermeiden von unnötigen Kosten und sogar Schulden, haben wir es mit dem Teilsystem Wirtschaft zu tun. Grundlegende Begriffe: Organisation und Institution Eine Organisation ist eine bestimmte Sozialform, also ein Rahmen, in‐ nerhalb dessen Individuen agieren (zu Sozialformen s. → Kapitel 6.1.2). Organisationen sind hierarchisch gegliederte Sozialverbände, die Mitglieder sachlich einbeziehen und von formalisierten Interaktionsre‐ geln geprägt sind. Der amerikanische Ökonom Douglass C. North definiert Institutionen als die „Spielregeln“ einer Gesellschaft (1990). Damit sind formelle und informelle Handlungsbeschränkungen gemeint. Auf diesen sehr breiten Institutionenbegriff kommen wir in diesem Lehrbuch immer wieder zurück, insbesondere, wenn wir von religiösen Institutionen sprechen. 14 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="15"?> Die Unterscheidung zwischen dem Teilsystem Religion und dem Teilsystem Wirtschaft ist freilich eine analytische - in der Realität sind es oft dieselben Menschen bzw. dieselben Organisationen, die zwischen beiden (und ande‐ ren Teilsystemen) kommunikativ hin- und herwechseln. Die analytische Trennung zwischen Religion und Wirtschaft ermöglicht es uns, relativ genau festzulegen, worauf wir mit den Begriffen „Religion“ und „Wirtschaft“ jeweils verweisen. Das wiederum erleichtert die Untersuchung der empiri‐ schen Realität. Stellen wir uns als Beispiel eine christliche Kirche vor, vor deren Pforten eine große Anzahl an Menschen Almosen erbittet, weil sie aufgrund niedriger Löhne und steigender Lebenskosten in zunehmender Armut lebt. Im Sinne des religiösen Gebots der Nächstenliebe müsste die Kirche den Bittstellern ihren theologischen Dogmen der Barmherzigkeit gemäß helfen. Gleichzeitig sieht sie sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie selbst über begrenzte Ressourcen verfügt und auf eine stabile finanzielle Basis angewiesen ist, um zu überleben und auch in Zukunft für ihre Mitglieder da zu sein. Aus systemtheoretischer Perspektive wird an dieser Stelle deutlich, wo wir es mit Religion und wo wir es mit Wirtschaft zu tun haben: Die Spannungen zwischen den Eigenlogiken der beiden Teilsysteme, Kontingenzbewältigung im Teilsystem Religion einerseits („Wie kann den Bittstellern der Grund für ihre Armut theologisch erklärt und ihnen im Sinne des Glaubens geholfen werden? “) und Lösung von Wirtschaftsproblemen im Teilsystem Wirtschaft andererseits („Wie kann das Überleben der Kirche gesichert werden, um langfristig zu bestehen? “) sind ersichtlich. Da die Kirche in dieser Sichtweise zwangsläufig Teil beider Teilsysteme ist, kann es keine absolut zufriedenstellende Lösung, sondern nur einen Kompromiss geben (z. B. die geistig-emotionale Betreuung der Bittsteller statt finanzieller Unterstützung). Hiermit haben wir die analytische Grundlage für die weitere Erörterung der Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft geschaffen. Nun wenden wir uns der Entwicklung der Religionswissenschaft einerseits und der Ökonomie andererseits als Kerndisziplinen der Religionsökonomie zu. 1.2 Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie Die Religionsökonomie stellt die Schnittstelle zwischen Religionswis‐ senschaft und Ökonomie dar. Die historische Entwicklung dieser beiden 1.2 Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie 15 <?page no="16"?> Kerndisziplinen kann hier nur sehr knapp skizziert werden; interessierte Leser seien auf die zitierten Standard- und Überblickswerke verwiesen, um sich jeweils detaillierter einzulesen. 1.2.1 Religionswissenschaft Die moderne Religionswissenschaft ist aus der Religionskritik der Auf‐ klärung entstanden. Denker wie Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Feuerbach und Karl Marx stellten Religion aus unterschied‐ lichen Perspektiven in Frage, da sie sie nicht mit der in der Aufklärung so zentralen Idee der Vernunft in Einklang bringen konnten. Aus der Reli‐ gionskritik heraus entwickelte sich die Religionsphänomenologie, die im Gegensatz zu religionskritischen Perspektiven bestrebt war und ist, das „Wesen“ der Religion zu entdecken. Sie stellt substanzielle Definitionen von Religion bereit, indem sie Religion über ihre Gottheiten und Vorstellungen des Heiligen definiert. Damit stellt sie eine von mehreren Reaktionen auf die Religionskritik dar; weitere sind z. B. die historisch-kritische Methode der Bibelexegese und der religiöse Fundamentalismus. Klassische Vertreter der Religionsphänomenologie sind u. a. Friedrich Schleiermacher (1768-1834), Rudolf Otto (1869-1937), dessen Werk Das Heilige (1917) zu den einfluss‐ reichsten religionswissenschaftlichen Veröffentlichungen des 20. Jahrhun‐ derts zählt, und Mircea Eliade (1907-1986). Die Religionsphänomenologie erfährt heute ihrerseits grundlegende Kritik, da ihre Wissenschaftlichkeit angezweifelt wird: Auf ihrer Suche nach dem „Wesen“ der Religion läuft sie selbst Gefahr religiöse Aussagen zu machen. Die Philologie hat ihren Einfluss durch den Sprach- und Religionswis‐ senschaftler Friedrich Max Müller (1823-1900) genommen, dem heute die Gründung der Religionswissenschaft als Disziplin angerechnet wird. Durch ihn emanzipierte sich die Religionswissenschaft von der Theologie und entwickelte sich nach dem Vorbild der vergleichenden Sprachwissenschaft als komparatistische Disziplin weiter. Müller gab in der Reihe The Sacred Books of the East eine Vielzahl religiöser Texte aus West- und Ostasien in Übersetzung heraus und machte diese Schriften damit erstmals europäi‐ schen Lesern zugänglich. Dieses monumentale Projekt legte die Grundlage für vergleichende und historische Arbeiten über das Christentum, den Islam, den Zoroastrismus, den Buddhismus, den Hinduismus, den Daoismus und den Konfuzianismus, womit die Religionswissenschaft einen eigenen 16 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="17"?> Geltungsbereich und Schwerpunkt, unabhängig von der evangelischen und der katholischen Theologie, entwickeln konnte. Auch die Religionsethnologie hat die Religionswissenschaft fachge‐ schichtlich stark geprägt. Edward Burnett Tylor (1832-1917) gilt als Be‐ gründer der Ethnologie und auch der Religionsethnologie. Er entwickelte ein Vier-Phasen-Modell der Religionsentwicklung, das von Animismus über Polytheismus und Monotheismus zur Wissenschaft führt. In dieser evolutionistischen Haltung war er bei weitem nicht allein; der schottische Sozialanthropologe James George Frazer (1854-1941) z. B. entwickelte ein dreistufiges Modell der Menschheitsgeschichte, bestehend aus Magie, Religion und Wissenschaft. Beide Ansätze sind als linear und determinis‐ tisch kritisiert worden; in der Realität sind solche verallgemeinernden Entwicklungsprozesse nicht nachweisbar und laufen vielmehr (aus heu‐ tiger Perspektive selbstverständlich) nach kontextspezifischen Mustern ab. Auch der polnisch-britische Ethnologe Bronisław Malinowski (1884- 1942) arbeitete mit den Begriffen Magie, Religion und Wissenschaft, wobei sein theoretischer Beitrag im Vergleich zu seinen empirischen Arbeiten heute als wesentlich weniger relevant bewertet wird. Als Begründer der ethnologischen Methode der Feldforschung beeinflusste er die empirische Religionsforschung auf entscheidende Weise. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Beiträge der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas (1921-2007), insbesondere ihre Studie zu Reinheit und Unreinheit, Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo (1966), sowie des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz (1926-2006), dem einflussreichsten Vertreter der symbolischen Anthropologie, zu nennen. Zuletzt ist die Religionssoziologie als prägende Teildisziplin der Religi‐ onswissenschaft zu nennen (→ Kapitel 2.2). Die Religionssoziologie begreift Religion von ihren Anfängen an als sozialen Sachverhalt. Der französische Soziologe Émile Durkheim (1858-1917), einer der Gründerväter der Religi‐ onssoziologie, spricht in seinem Grundlagenwerk Les formes élémentaires de la vie religieuse (Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1912) von Religion als „sozialer Tatsache“ (fait social), die zur gesellschaftlichen Integration beiträgt. Somit liefert Durkheim eine funktionale Definition von Religion, indem er ihre Funktion definiert. Einen anderen Ansatz verfolgte der deutsche Soziologie Georg Simmel (1858-1918), laut dem subjektive Religiosität die Gesellschaft transzendiert und Religion somit nicht in einer sozialen Integrationsfunktion aufgeht. Für Simmel besteht Religion aus Wechselwirkungen zwischen der Beziehung des Individuums 1.2 Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie 17 <?page no="18"?> zur Gesellschaft einerseits und zu Gott andererseits. Sein Zeitgenosse Max Weber (1864-1920), der Gründervater der deutschen Soziologie und Religionssoziologie, hat seinen Ansatz der verstehenden Soziologie in einer Reihe von Werken ausgearbeitet, die für die Religionsökonomie bedeutend sind und in diesem Lehrbuch genauer besprochen werden; darunter Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (2013 [1920]), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie (2006 [1922]) und Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (v. a. 1989 [1915-1920] und 1996 [1915-1920]) (→ Kapitel 4.2.1). Er geht dabei davon aus, dass sinnhaftes Handeln in sozialer Interaktion (und nicht isoliert) geschieht und dass Religion den höchsten Sinn in einer Gesellschaft stiftet. Auch neuere Ansätze der Religionssoziologie werden wir im vorliegenden Lehrbuch besprechen, darunter insbesondere die religionssoziologischen Arbeiten Pierre Bourdieus (→ Kapitel 6.2) und den wissenssoziologischen Ansatz Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns (→ Kapitel 7.2.1). Weitere Teil‐ disziplinen der Religionswissenschaft sind die Religionspsychologie, die Religionsgeografie, die Religionsästhetik und eben die Religionsökonomie. Im Rahmen dieses Lehrbuchs unterscheiden wir in Anlehnung an Hock (2014, 7) zwischen der gegenwartsbezogenen, der historischen und der systematischen Religionswissenschaft: Unter gegenwartsbezogener Religionswissenschaft verstehen wir die Erforschung zeitgenössischer Religionen durch sozialwissenschaftliche Methoden; die historische Reli‐ gionswissenschaft beschäftigt sich mit Religion und religiösen Entwick‐ lungen in der Geschichte anhand von Texten und Artefakten; und die systematische Religionswissenschaft widmet sich der vergleichenden Analyse sowohl historischer als auch gegenwärtiger religiöser Phänomene bzw. Forschungsergebnisse. Für die Religionsökonomie haben alle drei Zweige der Religionswissenschaft großes Potential, da ihre Gegenstandsbe‐ reiche und Methoden gleichermaßen relevant für die Untersuchung der Schnittstellen zur Wirtschaft sind. 1.2.2 Ökonomie Als Gründervater der Ökonomie gilt der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith (1723-1790). Mit seinem Hauptwerk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) legte er die noch heute gültigen Grundlagen der Ökonomie. Smith war in seinem Denken von den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen sowohl in seinem schottischen 18 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="19"?> Heimatland als auch in den Kolonien der „Neuen Welt“ geprägt, die im gleichen Jahr geschahen, in dem die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erlangten. In Wealth of Nations geht er ganz basal davon aus, dass jedes Individuum seine materielle Lebensgrundlage so sehr wie möglich verbessern möchte, und bringt dies mit dem allgemei‐ nen Wirtschaftswachstum einer Gesellschaft zusammen. Für ihn liegen dem wirtschaftlichen Geschehen Tauschvorgänge zugrunde, wobei er den Tausch als einen angeborenen Hang betrachtet. Seine These lautet dabei, dass das Bestreben des Einzelnen, seine Lebensgrundlage zu verbessern, die Handelsaktivitäten der gesamten Gesellschaft vermehrt und somit ihr Wohlstandsniveau durch Wirtschaftswachstum insgesamt steigt. Sein Werk zeichnet sich dabei vor allem durch sein Verständnis von Wettbewerb aus: Der Markt als Wettbewerbsarena sei der zentrale Organi‐ sationsmechanismus wirtschaftlichen Handelns. Hier versuchen Marktteil‐ nehmer ihre eigenen Interessen gegen die Interessen anderer durchzusetzen, wodurch sich ein Gleichgewicht einstelle; dadurch wiederum werde die Arbeitskraft optimal eingesetzt, um Produktion anzuregen. Ein zentraler Begriff in seinem Werk ist Arbeit als Quelle des Wohlstands von Nationen, wobei die Arbeitsteilung zur Steigerung der Produktivität eine zentrale Rolle spielt. Obwohl Smith nicht mit den Konzepten von Angebot und Nachfrage arbeitete - diese wurden ca. 100 Jahre später eingeführt - erkannte er bereits, wie wichtig Preise zur Regulation des Marktgleichgewichts (→ Kapitel 3.4) sind: Sie drücken Knappheit aus, regen die Produktion an und lassen den Wert knapper Ressourcen steigen. Hier kommt seine berühmte Metapher der „unsichtbaren Hand“ ins Spiel, die er bereits in einer älteren Publikation, The Theory of Moral Sentiments (1759), erwähnte: Unter optimalen Bedingungen profitierten bei einer wirtschaftlichen Transaktion beide Teilnehmer, jeweils durch ihre Eigeninteressen gesteuert, und dadurch die Gesamtgesellschaft. Es war Smiths erklärtes Ziel in The Wealth of Nations, eine praktische Anleitung für allgemein steigenden Wohlstand durch die Wirtschaftsbeteiligung aller Gesellschaftsmitglieder zu bieten. Seine These führte zur Forderung nach Nichtintervention des Staates im wirtschaftlichen Handel (Laissez-Faire-Re‐ gel). Ein weiterer Aspekt von Smiths Arbeit ist für die Religionsökonomie von besonderer Bedeutung: Menschen agieren nicht nur eigennützig, sondern empfinden Sympathie mit ihren Mitmenschen (Friedman 2021; Gabler Wirtschaftslexikon, „Smith“). Schmidtchen (2000, 11) zufolge hat Smith 1.2 Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie 19 <?page no="20"?> sogar die „Grundlagen für die Ökonomik der Religion“ gelegt: „In einem weitgehend ignorierten Kapitel seines Buchs ,Wohlstand der Nationen‘ vertritt der Begründer der Nationalökonomie Adam Smith die Ansicht, daß die Geistlichen genauso durch Selbstinteresse motiviert seien wie die Produzenten weltlicher Güter; daß Marktkräfte das Verhalten von Kirchen so beeinflussen, wie sie dies bei ,normalen‘ wirtschaftlichen Unternehmen auch tun“. Smiths Werk The Wealth of Nations ist als das wichtigste Werk einer ökonomischen Lehre zu betrachten, die als Klassik bezeichnet wird. Die Klassik beschäftigt sich vor allem mit dem wirtschaftlichen Verhalten von Individuen, die ihren Eigennutzen zu maximieren streben; soziales Verhalten wird hier nicht berücksichtigt. Die Auffassung des Individuums ist in der klassischen Lehre geprägt vom Modell des Homo oeconomicus, dem uneingeschränkt rational handelnden Wirtschaftsakteur. In jeder Ent‐ scheidungssituation stehen ihm unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die durch Restriktionen, wie z. B. ein begrenztes Budget, beschränkt sind. Er entscheidet sich im klassischen Paradigma für jene Handlungsmöglichkeit, die seinen Eigennutzen nach seinen Präferenzen (→ Kapitel 3.2.2) maximiert (Dreher 2022, 9; Gabler Wirtschaftslexikon, „Homo oeconomicus“). Homo oeconomicus Als Homo oeconomicus wird in der Ökonomie das Modell des Individu‐ ums als Wirtschaftsakteur bezeichnet, der sich stets rational verhält, d. h., sein Handeln auf die Maximierung seines Eigennutzens ausrichtet. Ihrem bedeutendsten Vertreter, Adam Smith, folgend, geht die Klassik davon aus, dass die Nutzenmaximierung einzelner Akteure der allgemeinen gesell‐ schaftlichen Wohlfahrt dient. Hierauf basiert der Ansatz des klassischen Liberalismus, der die Freiheit von Wirtschaftsakteuren und somit die wei‐ testgehende Zurückhaltung des Staates fordert. Das Marktgleichgewicht ist ein weiteres grundlegendes Konzept der klassischen Lehre. Bei freier Marktbeteiligung der Wirtschaftsakteure erreiche der Markt langfristig ein Gleichgewicht, das sowohl für Produzenten als auch für Konsumenten gewinnbzw. nutzenmaximierend sei: „Den Preis, der sich aufgrund der eingesetzten Arbeitsmenge ergibt, bezeichnet die klassische Lehre als natür‐ lichen Preis. Der Marktpreis kann nur temporär um diesen schwanken, falls 20 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="21"?> es zu Abweichungen von Angebot und Nachfrage kommt; langfristig muss er mit dem natürlichen Preis übereinstimmen“ (Gabler Wirtschaftslexikon, „klassische Lehre“). Die klassische Lehre akzentuiert die Produktionsseite des Marktes gegenüber der Konsumentenseite. Lediglich die Produktions‐ kosten und nicht die Nachfrage bestimmen den Preis eines Gutes. Letztere bestimme nur die getauschten Mengen des Gutes am Markt. Die wichtigsten Vertreter der klassischen Lehre sind die angelsächsischen Ökonomen Adam Smith, David Ricardo (1772-1823), Thomas Robert Malthus (1766-1834) und John Stuart Mill (1806-1873) sowie der französische Ökonom Jean-Baptiste Say (1767-1832) und der deutsche Ökonom Johann Heinrich von Thünen (1783-1850). Die klassische Lehre entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts zur Neoklassik weiter. Die Neoklassik übernimmt die beiden zentralen Annahmen der Klassik, den Homo oeconomicus sowie das allge‐ meine Marktgleichgewicht, befasst sich jedoch „primär mit dem Problem der Allokation knapper (vollbeschäftigter) Ressourcen“ (Gabler Wirtschaftslexi‐ kon, „Neoklassik“). Allokation verweist in diesem Zusammenhang auf eine Verteilung, die vorhandene Bedürfnisse optimal befriedigt. Im Gegensatz zur klassischen Lehre arbeitet die Neoklassik mit der Marginalanalyse, die statt der Gesamtkosten bzw. dem Gesamtnutzen minimale Veränderungen von Kosten und Nutzen betrachtet (→ Kapitel 3.2.3). Die neoklassische Theorie hebt die Bedeutung des Marktpreises stärker hervor als die Klassik dies tut. Während die Klassik den Preis eines Gutes über die Produktions‐ kosten erklärt, wird er in der Neoklassik durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage am Markt bestimmt. Die wichtigsten Vertreter der Neoklassik sind der englische Logiker und Ökonom William Stanley Jevons (1835-1882), der österreichische Ökonom Carl Menger (1840-1921) und der französische Ökonom Marie Esprit Léon Walras (1834-1910), der ein vollständig durch Gleichungen beschriebenes Konkurrenzgleichgewichts‐ modell entwickelte. Sowohl die Klassik als auch die Neoklassik werden für ihre restriktiven Annahmen, insbesondere für ihr auf den Eigennutz reduziertes Modell, stark kritisiert. Die neueren Ansätze der Ökonomie nehmen diese Kritik auf, berücksichtigen das Individuum in seiner sozialen Umgebung und beziehen seine sozialen Präferenzen mit ein (→ Kapitel 7.1). Die Ökonomie unterscheidet zwischen der wirtschaftlichen Mikro- und Makroebene und somit wissenschaftlich zwischen der Mikroökonomie und der Makroökonomie. Die Mikroökonomie ist eine Entscheidungslehre; sie befasst sich damit, wie Akteure ihre Entscheidungen treffen. Dabei nimmt 1.2 Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie 21 <?page no="22"?> sie die Individualität der Wirtschaftsakteure - Haushalte, Unternehmen und Staat - in den Blick und untersucht das Verhalten dieser Akteure sowie das Zusammenwirken ihrer Handlungen am Markt. Die Makroökonomie betrachtet hingegen das Wirtschaftsgeschehen als Ganzes und untersucht Angebot und Nachfrage aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive, indem sie Haushalte oder Unternehmen durch Aggregation zu einem Sektor zusam‐ menfasst. Sie stützt sich dabei auf die mikroökonomische Modellbildung (→ Kapitel 3). Somit bauen sowohl die Mikroals auch die Makroökonomie auf der (Neo-)Klassik auf (Gabler Wirtschaftslexikon, „Mikroökonomik“ und „Makroökonomik“). Während die (Neo-)Klassik allein in der Ökonomie beheimatet ist, hat sich die Wirtschaftssoziologie zu unterschiedlichen Maßen aus der Ökonomie und der Soziologie gespeist und sich, vor allem in Deutschland, Frank‐ reich und den USA, in verschiedene Richtungen entwickelt. Die einzelnen Stränge sind durch ihr Bestreben vereint, ökonomische Analysen auf eine sozialwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Laut den amerikanischen und schwedischen Soziologen Mark Granovetter und Richard Swedberg (2011) zeichnet sich die Wirtschaftssoziologie durch drei zentrale Grundannahmen aus: (1) wirtschaftliches Handeln ist eine Form sozialen Handelns; (2) wirtschaftliches Handeln ist sozial situiert bzw. eingebettet; und (3) ökonomische Institutionen sind sozial konstruiert (s. → Kapitel 7.2 zur sozialen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, insbesondere auch von Institutionen). Aus diesen Prämissen ergibt sich vor allem, dass die Wirtschaftssoziologie nicht auf dem abstrakten Modell des Homo oeco‐ nomicus aufbaut, sondern konkrete soziale Interaktionen und die dazuge‐ hörigen sprachlichen, kulturellen und Zeichenelemente untersucht. Statt des in der (Neo-)Klassik üblichen ausschließlichen Fokus auf Eigeninteresse werden hier Elemente wie Vertrauen, Normen, Status, Machtverhältnisse und Ähnliches in die Analyse einbezogen; dies ist mit sozialer Situiertheit bzw. Einbettung gemeint. Individuen werden innerhalb von sozialen Struk‐ turen und Beziehungsnetzwerken - bzw. Institutionen, hier verstanden als Handlungsanleitungen - sozialisiert und geprägt; sie bewegen sich nicht isoliert in luftleerem Raum. An dieser Stelle kann nur knapp in die grundlegenden Werke und Denker der Wirtschaftssoziologie eingeführt werden. Die deutsche Wirtschaftsso‐ ziologie ist aus dem sogenannten Methodenstreit der 1880er-Jahre in der Ökonomie hervorgegangen, der auf zwei unterschiedliche ökonomische Denkrichtungen zurückzuführen war: die eher geschichtswissenschaftlich 22 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="23"?> und soziologisch orientierte Historische Schule der deutschen Ökonomen und ihr neoklassisches britisches Pendant, also eine auf die Neoklassik ausgerichtete Denkrichtung. Die Neoklassik ging als Siegerin aus dem Methodenstreit hervor, woraufhin die Wirtschaftssoziologie als parallele, soziologisch fundierte Disziplin an Bedeutung gewann. Ihr Hauptvertreter in Deutschland war der Soziologe Max Weber, dessen Werke zumindest in Teilen in diesem Lehrbuch behandelt werden (→ Kapitel 4.2.1). Er entwi‐ ckelte die verstehende Soziologie und legte in Wirtschaft und Gesellschaft (2006 [1922]) eine noch heute relevante Grundlage, die Themen wie Macht und Autorität ebenso diskutiert wie den Sinn menschlichen Handelns, auch und gerade mit Blick auf die Wirtschaft moderner Gesellschaften. Aus wirtschaftssoziologischer Perspektive wichtige Zeitgenossen Webers waren u. a. Werner Sombart (Der moderne Kapitalismus, 1927) und Georg Simmel (Die Philosophie des Geldes, 1900). Diese Werke beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Herausforderungen des Kapitalismus und waren bestrebt, die Wirtschaftssoziologie neben der Neoklassik der Ökonomie zu etablieren. Etwas anders sah die Situation in Frankreich aus. Die um den Soziolo‐ gen Émile Durkheim gruppierte französische Wirtschaftssoziologie, aus einer anderen intellektuellen Tradition kommend als die deutsche, war interessiert die neoklassische Wirtschaftstheorie zu ersetzen (Swedberg 1991). Durkheim selbst thematisierte statt des Kapitalismus die Industrie‐ gesellschaft und ihren mangelnden sozialen Zusammenhalt; sein Ansatz nahm vor allem kollektive Repräsentationen einer Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf individuelles Verhalten in den Blick, z. B. in Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (im Origi‐ nal: De la division du travail social, 1893). Ein wichtiger Schüler Durkheims war sein Neffe Marcel Mauss (1872-1950), der in seinem Werk Essai sur le don: forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques (1925; deutsche Übersetzung: Die Gabe, 1968) die Gabe als eine triadische Tauschbeziehung, also als Verpflichtung vom Geben, Empfangen und Erwidern, darstellte (→-Kapitel 5.2.1). In den USA entwickelte sich eine Wirtschaftssoziologie wesentlich spä‐ ter als in Europa, erst in den 1950er-Jahren, und eher unter der Rubrik „Wirtschaft und Gesellschaft“. Es wird vermutet, dass dies der Indifferenz amerikanischer Ökonomen geschuldet sein könnte, die die Soziologie aus‐ schließlich auf „soziale“ Themen beschränkt sehen wollten (Swedberg 1991). Nichtsdestotrotz leisteten auch amerikanische Wissenschaftler relevante Beiträge zur Wirtschaftssoziologie, darunter der Soziologe Talcott Parsons 1.2 Historische Entwicklung der Kerndisziplinen der Religionsökonomie 23 <?page no="24"?> in seiner Abhandlung Der Kapitalismus bei Sombart und Max Weber (1927) und der Wirtschaftsethnologe Karl Polanyi in seinem bekanntesten Werk The Great Transformation (1944), das das Konzept der selbstregulierenden Märkte kritisch hinterfragt. Dieses Lehrbuch geht im Anschluss an die Neue Institutionenökonomik in → Kapitel 7.2 auf die new economic sociology Mark Granovetters ein, der die Theorie der sozialen Einbettung wirtschaftlichen Handels federführend weiterentwickelte (1985, 2017). Neben der Neoklassik spielt die Wirtschaftssoziologie für die Religions‐ ökonomie eine wichtige Rolle, da sie verschiedene Ansätze beinhaltet, um die neoklassischen Grundlagen der Ökonomie zu erweitern. Im folgenden Abschnitt wenden wir uns nun der Religionsökonomie als eigene Disziplin zu. 1.3 Geschichte und Zweige der Religionsökonomie 1.3.1 Die Geschichte der Religionsökonomie Die Religionsökonomie als die Schnittstelle zwischen Religionswissenschaft und Ökonomie kann relativ weit in der Geschichte der beiden Disziplinen zurückverfolgt werden. Adam Smith, der Gründer der Ökonomie, wurde in diesem Zusammenhang ja bereits erwähnt. Auch Karl Marx hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts Religion in seine Ausführungen zum Kapitalismus einbezogen, wenn auch recht einseitig entweder als Flucht vor der ausbeu‐ terischen Realität der Arbeitswelt oder als Protest gegen ebendiese. Auch Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel und andere haben die Zusam‐ menhänge zwischen Religion und Wirtschaft im frühen 20. Jahrhundert aus verschiedenen Perspektiven soziologisch thematisiert. Die neuere Religionsökonomie geht auf die 1970er-Jahre zurück. Sie ist gerade im anglophonen Raum von der Neoklassik geprägt und baut stark auf dem Modell des Homo oeconomicus auf. Sie wurde zuerst nur von Ökonomen und ohne Beteiligung der Religionswissenschaft entwickelt. Die religionsökonomische Forschung im engeren Sinne nahm mit dem Artikel „Household Allocation of Time and Church Attendance“ von den amerikanischen Ökonomen Corry Azzi und Ronald Ehrenberg (1975) ihren Anfang. Die Autoren entwickelten ein Zeitallokationsmodell, das reli‐ giöse Teilhabe misst (→ Kapitel 5.2.1). Obwohl sie religiöse Teilhabe zuerst ausschließlich als Kirchenbeteiligung auffassten, konnten sie mithilfe ihres 24 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="25"?> ökonomischen Modells zeigen, dass das religiöse Handeln von Akteuren von der ökonomischen Ratio bestimmt wird. Dieses Modell konnte Phänomene wie die höhere religiöse Beteiligung von Frauen im Vergleich zu Männern und von älteren im Vergleich zu jüngeren Menschen erklären. Der wahrscheinlich bekannteste Forschungsstrang innerhalb der Religi‐ onsökonomie ist der in den 1980er-Jahren in den USA entstandene econo‐ mics of religion-Ansatz, der es sich (nicht zuletzt als kritische Reaktion auf das Säkularisierungsparadigma) zum Ziel machte, die anhaltend hohen Religiositätsraten in den USA - im Sinne von Kirchenzugehörigkeit und aktiver Teilnahme - zu erklären (→ Kapitel 6.1). Die grundlegende These lautet, dass die Deregulierung des religiösen Marktes den Wettbewerb unter religiösen Anbietern erhöht (weswegen sich der Ansatz als dezidiert anbieterorientiert, als supply-side approach, versteht) und dadurch die Re‐ ligiositätsraten einer Gesellschaft insgesamt, hier als „religiöse Vitalität“ betitelt, zunimmt (Stark und Finke 2000). Wurde dieser Ansatz dort Anfang der 1990er-Jahre bereits zum „new paradigm“ (Warner 1993), zum neuen theoretischen Paradigma der Religionssoziologie, ausgerufen und seitdem verschiedentlich weiterentwickelt, wird er in Europa deutlich kritischer rezipiert (→ Kapitel 6.1.4). Er basiert auf der rational choice-Theorie, welche den homo oeconomicus in den Mittelpunkt stellt, und untersucht individuel‐ les religiöses Handeln auf dieser Grundlage. Die Anwendung des neoklassischen Modells ist vielfach kritisiert und in verschiedene Richtungen weiterentwickelt worden. Eine Richtung bildet dabei die Verhaltensökonomie (→ Kapitel 7.1). Sie baut wie die Neoklas‐ sik auf dem Homo oeconomicus auf, erweitert das Modell jedoch, indem das Individuum nicht mehr als ausschließlich seinen eigenen Nutzen maximie‐ rend aufgefasst, sondern als ein soziales Wesen verstanden wird, das sich auch für die Nutzen der Menschen in seinem Umfeld interessiert. Während die Verhaltensökonomie auf der Ebene einzelner Akteure arbeitet und ihre Kooperationsfähigkeit unter Berücksichtigung psychischer Faktoren im Rahmen der Spieltheorie in den Blick nimmt, setzt die Neue Instituti‐ onenökonomik in ihrer Weiterentwicklung des neoklassischen Modells auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene an (→ Kapitel 7.2). Sie fokussiert den Einfluss von Institutionen als gesellschaftliche „Spielregeln“ auf soziales Verhalten, insbesondere unter Berücksichtigung von Pfadabhängigkeiten als Einschränkungen gesellschaftlicher Entwicklungsoptionen. Ein zweiter, jüngerer Schwerpunkt der angloamerikanischen Religions‐ ökonomie ist die Untersuchung religiösen Wandels im Spätkapitalis‐ 1.3 Geschichte und Zweige der Religionsökonomie 25 <?page no="26"?> mus. Hier geht es um die Einflüsse von Globalisierung, Modernisierung, dem Neoliberalismus und der Konsumkultur auf Religion. Diese Studien sind sozialbzw. kulturwissenschaftlich angelegt und fokussieren oftmals insbesondere die Rolle von Populärkultur, sozialen Medien und Marketing‐ strategien an der Schnittstelle von Religion und Wirtschaft (→ Kapitel 5.3). Entsprechend lassen sie ökonomische Methoden und Modellierungen außen vor. Die deutschsprachige Religionsökonomie war dagegen von Beginn an breiter in ihrer Bearbeitung des Nexus Religion und Wirtschaft aufgestellt. Die bedeutendste Figur ist hier der deutsche Religionswissenschaftler und klassische Philologe Burkhard Gladigow. In den 1990er-Jahren etablierte er mit seinen Kollegen und Schülern in Tübingen die Religionsökonomie als eine „Bindestrich-Disziplin“ (Gladigow 1995, 255) und Subdisziplin der Religionswissenschaft. Ausgehend von der Wechselbeziehung zwischen Religion und Ökonomie untersuchten Christoph Auffarth (1995) und Jörg Rüpke (1995) die griechische und die römische Tempelökonomie, Thomas Hoffmann und Günter Kehrer (1995) die Finanzierung von Religion in DDR. Diese Beiträge wurden zusammen mit Gladigows Einführungsartikel „Religionsökonomie - Zur Einführung in eine Subdisziplin der Religions‐ wissenschaft“ als Teil eines Sammelbandes publiziert und legten somit den ersten Baustein der deutschen Religionsökonomie im disziplinären Sinne. Die Religionsökonomie geht aus Gladigows Perspektive weit über die An‐ wendung der rational choice-Theorie hinaus; Koch bezeichnet seinen Ansatz als „a systematic approach that outlines an independent field of research and relates cultural, historical, and economic theories while especially drawing from the latter [the economy of religion]“ (2021, 319). Gladigows Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Religion und Wirtschaft geht deutlich weiter zurück als sein Artikel von 1995. Schon seit 1974 setzt er sich mit der Entwicklung von Jenseitsvorstellungen aus ökonomischer Perspektive auseinander, wobei er betrachtet, wie die Seele (als eine Institution) konzipiert wird, um das Leben vor dem Tod und das Leben nach dem Tod in Verbindung zu setzen. In der griechischen Antike stellte man sich das irdische und das postmortale Leben zuerst unabhängig voneinander vor und setzte die beiden erst später in einen ökonomischen Zusammenhang, indem man den Taten im Diesseits einen Einfluss auf das Leben im Jenseits unterstellte (Gladigow 1974, 290). Gladigow hebt somit den ökonomischen Aspekt der religiösen Institution der Seele hervor und nimmt eine ökonomische Perspektive auf diese historische Entwicklung ein. 26 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="27"?> Wie Koch (2021, 321) betont, überrascht diese Perspektive nicht, weil Reli‐ gionen selbst in ihren Jenseitsvorstellungen eine wirtschaftliche Perspektive einnehmen, wie z. B. die Verwendung von Metaphern wie Rechnungslegung und Buchführung zeigen (Gladigow 2009, 133). Gladigow führt das Hervor‐ treten einer Gesamtbetrachtung des Lebens über den Tod hinaus zum Teil auf veränderte ökonomische Bedingungen zurück: „Verlust einer intakten Landwirtschaft, als Folge davon landfahrender Handel und Handwerk, Söldnertum‚ Großstadtbildung […] führen zu einer Verunsicherung des Lebensgefühls, die sich einerseits in Schuldgefühlen und andererseits in Rachebedürfnis über den Tod hinaus äußert“ (Gladigow 2002, 105).- Menschliche Leistung und göttliche Gegenleistung, z. B. im Kontext des Opferrituals (→ Kapitel 5.2.1), bilden Gladigows Ausgangspunkt für die Religionsökonomie: „Eine Anwendung einfacher ökonomischer Beschrei‐ bungsmuster auf religiöses Handeln ist so lange plausibel und kohärent, wie zwischen menschlicher (Vor-)Leistung und göttlicher Gegenleistung eine Äquivalenz-Beziehung besteht“ (Gladigow 2009, 129). Die Jenseitsreligionen erweitern die Tauschbeziehung mit Göttern um eine jenseitige Gegenleis‐ tung, wobei eine kausale Beziehung zwischen den diesseitigen Taten und dem jenseitigen Leben durch eine über das irdische Leben hinausgehende Instanz namens Seele, eine Art Konto, hergestellt wird: „Die Seele läuft als Kontokorrent ‚neben dem Leben‘ des Menschen her, in ihr und an ihr notieren sich alle positiven und negativen ‚Einträge‘“ (Gladigow 2009, 133; s. ebenfalls Koch 2021, 329 f.). Wie oben dargestellt, betrachtet Gladigow Religion als eine Art Kontin‐ genzbewältigung: „Religion gehört im weitesten Sinne zu einem ‚Riskma‐ nagement‘“ (Gladigow 2009, 132), so auch als Bewältigung wirtschaftli‐ cher Kontingenz: „In das einfache do-ut-des-Prinzip sind natürlich sehr schnell Kontingenzen eingebaut worden („do ut possis dare“), die das Problem des ‚Leistungsverzugs‘ zu lösen in der Lage waren und trotzdem die Erwartung auf eine Gegenleistung aufrecht erhielten“ (Gladigow 2009, 129). Somit ist Religion in der Lage, das ökonomische Problem des Leistungsver‐ zugs, z. B. das Ausbleiben der Erfüllung einer Bittgabe durch die Götter, religiös zu lösen. Gladigows Herangehensweise an die Religionsökonomie ist eine sozio‐ logisch informierte und lässt die rational choice-Theorie fast vollkommen beiseite; in seinem jüngeren Überblicksbeitrag (Gladigow 2009) über die Religionsökonomie kommt er ohne Verweis auf die Religionsökonomen wie Bainbridge, Finke, Iannaccone und Stark aus. „Nach ganz anders gear‐ 1.3 Geschichte und Zweige der Religionsökonomie 27 <?page no="28"?> teten, auf Maximierungsstrategien ausgerichteten Vorläufern im 19. Jahr‐ hundert, hat Peter L. Bergers Markt-Modell für religiöse Alternativen eine Forschungsrichtung vorgegeben, die das Schema von Produkt-Wahl und rationaler Kalkulation in die Diskussion einbrachte“ (Gladigow 2009, 139 f.). Der deutsche Ökonom Dieter Schmidtchen hat die deutsche Religionsöko‐ nomie ebenfalls geprägt wie vorangetrieben. Neben seinem ausführlichen und das Feld organisierenden Artikel in einem Sonderheft der Zeitschrift für Religionswissenschaft zur Religionsökonomie (Schmidtchen 2000), führ‐ ten er und Achim Mayer, ebenfalls ein deutscher Ökonom, sehr früh die Neue Institutionenökonomik in die religionsökonomische Forschung ein (Schmidtchen und Mayer 1997; Mayer 1996; Schmidtchen und Mayer 1993), wobei sie das Verhalten der römisch-katholischen Kirche im Mittel‐ alter in Bezug auf Institutionen wie Paradies, Hölle und Fegefeuer untersuchten (→ Kapitel 5.2.2). Das Besondere an ihrer Forschung besteht in der präzisen ökonomischen Modellierung ausgewählter historischer religiöser Institutionen und somit der Veranschaulichung der ökonomischen Ratio einiger geschichtlicher Entwicklungen. Diese erfolgversprechende Herangehensweise wurde bislang innerhalb der Religionsökonomie jedoch kaum aufgegriffen, ähnlich wie der Ansatz Burkhard Gladigows.- Eine Synthese der auf die rational choice-Theorie konzentrierten anglo‐ amerikanischen Religionsökonomie und der eher historisch und sozio‐ logisch orientierten deutschen Religionsökonomie versucht die deutsche Religionswissenschaftlerin Anne Koch in ihrem Buch Religionsökonomie. Eine Einführung. Es stellt nicht nur die einzige Monografie in diesem Bereich bis dato dar, sondern ist auch der einzige Versuch einer Synthese bislang. Das vorliegende Lehrbuch setzt diesen Versuch fort, wobei es zum einen bemüht ist, die mikroökonomische Modellierung als ein Standbein der Disziplin für die religionswissenschaftliche Forschung zugänglich zu machen und zum anderen die Erweiterungen der streng ökonomischen Erforschung der Religion um die relevanten soziologischen Theorien hervorzuheben. Nach diesem Einblick in die Geschichte der Religionsökonomie werden wir uns im nächsten Abschnitt mit ihren verschiedenen Bereichen befassen. Zu betonen ist, dass die Untersuchung des Konnex Religion und Wirtschaft älter als die Disziplin Religionsökonomie ist, wie Gladigow betont: „Beson‐ dere Fälle unserer allgemeinen Fragestellung sind in der Forschung schon länger angesprochen worden, ohne daß freilich die Perspektive ökonomi‐ scher Strategien dabei konsequent mitbedacht worden ist“ (2009, 130). 28 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="29"?> 1.3.2 Zweige der Religionsökonomie Wie einleitend dargestellt, befasst sich die Religionsökonomie mit der Inter‐ aktion zwischen den beiden gesellschaftlichen Teilsystemen Wirtschaft und Religion. Als akademische Disziplin liegt sie an der Grenze zwischen Religi‐ onswissenschaft und Ökonomie. Somit wird der von der Religionsökonomie abzudeckende Bereich von den Wechselbeziehungen zwischen den vier Komponenten Religion, Wirtschaft, Religionswissenschaft und Ökonomie bestimmt. Innerhalb der Religionsökonomie gibt es jedoch unterschiedliche Ansätze, den eigenen Gegenstandsbereich in verschiedene Zweige zu tei‐ len, einzuordnen und zu systematisieren. Bevor wir die diesem Lehrbuch zugrunde liegende Systematisierung der Religionsökonomie erläutern, fassen wir vorab sehr knapp einige bestehende Einordnungen zusammen, um uns anschließend teilweise von diesen abzugrenzen. Wir konzentrieren uns dabei auf Ansätze aus dem deutschsprachigen Raum, da diese wie oben erläutert über die in der angloamerikanischen Religionsökonomie so dominante Neoklassik hinausgehen. Dieter Schmidtchen unterscheidet in einem der ersten Systematisierungs‐ versuche der „Ökonomik der Religion“ (2000) vier Bereiche: (1) die Theorie rationaler Entscheidung, also die rational choice-Theorie; (2) die ökono‐ mische Analyse der Religion, darunter Haushaltsproduktion, religiöses Humankapital, Glaube als Versicherung, religiöse Gruppen/ Institutionen und religiöse Märkte; (3) ökonomische Konsequenzen der Religion, darunter Max Webers Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, die individuelle Ebene und die Neue Institutionenökonomik; und (4) religions‐ politische Folgerungen. Anne Koch unterscheidet im Aufsatz „Zur Interdependenz von Religion und Wirtschaft - Religionsökonomische Perspektiven“ (2007) ebenfalls zwischen vier Perspektiven: (1) Religion als Wirtschaftsfaktor, d. h. die Finanzierung und der ökonomische Nutzen von Religion(en); (2) das Ver‐ hältnis von Religion und Wirtschaft in kulturtheoretischem Kontext, also „wie religiöse Überzeugungen und Wirtschaftsverhalten Mentalitäten in einer Kultur ausbilden“ (2007, 49); (3) ökonomische Theorien als Gegenstand der Religionswissenschaft, u. a. der economics of religion-Ansatz; und (4) ökonomische Theorien als Modelle der Religionswissenschaft, v. a. Verhal‐ tensökonomie und Neue Institutionenökonomik. In ihrer einige Jahre später veröffentlichten, oben bereits erwähnten Einführung in die Religionsökonomie (2014) konzentriert sich Koch auf 1.3 Geschichte und Zweige der Religionsökonomie 29 <?page no="30"?> drei Bereiche: (1) die Wissensgeschichte von Religion und Wirtschaft, u. a. mit Fokus auf Wirtschaftsethnologie, Wirtschaftssoziologie und Kulturwis‐ senschaft; (2) ökonomische Theorien als Modelle der Religionsökonomie, darunter Pierre Bourdieus Ökonomie symbolischer Güter, die Marktmodelle Peter L. Bergers und des economics of religion-Ansatzes, die Verhaltens‐ ökonomie, die Neue Institutionenökonomik und die Kulturökonomie; und (3) ökonomische Theorien als Gegenstand der Religionsökonomie, mit Fokus auf ökonomische Theorien und Literatur, den Komplex der Ökono‐ misierung, Kommerzialisierung und Kommodifizierung sowie islamisches Wirtschaften und muslimische Konsumkultur. Im 2018 erschienenen Handbuch Religionssoziologie unterscheidet der deutsche Sozial- und Wirtschaftshistoriker Martin Lutz in seinem Über‐ blicksbeitrag „Religion und Wirtschaft“ drei Dimensionen: (1) Religion als abhängige Variable, d. h. das Marktmodell und der economics of religion-An‐ satz; (2) Religion als unabhängige Variable, also die wirtschaftlichen Kon‐ sequenzen von Religion auf individuelles Handeln und die Entwicklung von Wirtschaftssystemen; und (3) eine institutionentheoretische Perspektive im Sinne des Neo-Institutionalismus und der Neuen Institutionenökonomik. Hierzu möchten wir anmerken, dass die Unterscheidung zwischen Reli‐ gion als abhängiger und als unabhängiger Variable in der Literatur gängig und sinnvoll ist; allerdings hat sich aus unserer Perspektive ein Kategori‐ enfehler eingeschlichen. In der Regel ist mit Religion als unabhängiger Variable ihr Einfluss auf Wirtschaft gemeint: Religion ist die Konstante, von der aus man „Reaktionen“ im Bereich Wirtschaft untersucht. Ein klassisches Beispiel ist die berühmte These der Unterentwicklung der isla‐ misch geprägten Länder: Islamische Institutionen wie z. B. das Zinsverbot hätten die Kapitalanhäufung und somit die wirtschaftliche Entwicklung unabsichtlich verhindert (→ Kapitel 4.2.2). So weit, so gut. Mit Religion als abhängiger Variable wird dann auf Ansätze verwiesen, die ökonomische Methoden zur Untersuchung von Religion heranziehen, z. B. den economics of religion-Ansatz. Dabei müsste allerdings, wenn Religion die abhängige Variable wäre, Wirtschaft (und nicht wirtschaftswissenschaftliche Untersu‐ chungsmethoden) die unabhängige Variable sein; es müsste also darum gehen, wie Wirtschaft Religion beeinflusst - und nicht, wie man Religion mit ökonomischer Modellierung untersuchen kann. Denn wir haben es auf der Objektebene mit den gesellschaftlichen Teilsystemen Religion und Wirtschaft zu tun und auf der Metaebene mit den Methoden der Religions‐ wissenschaft und der Ökonomie, um die Interaktion von Religion und 30 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="31"?> Wirtschaft auf der Objektebene zu untersuchen (zur Objekt- und Metaebene s. →-Kapitel 2.1.1) Dieses Lehrbuch systematisiert das Feld Religionsökonomie anhand von drei Bereichen, die in vier Kernkapitel (Kapitel 4 bis 7) behandelt werden: Der erste Bereich betrifft den Einfluss von Religion auf Wirtschaft; der zweite Bereich betrifft umgekehrt den Einfluss von wirtschaftlichen Logiken im Teilsystem Religion; der dritte Bereich betrifft ökonomische Prämissen bzw. Methoden zur Untersuchung des Verhältnisses von Wirtschaft und Re‐ ligion. Somit befinden sich die ersten beiden Bereiche auf der Objektebene, da es um die Interaktion dieser beiden gesellschaftlichen Teilsysteme geht; der dritte Bereich ist auf der wissenschaftlichen Metaebene zu verorten. Im Folgenden werden die Bereiche knapp mit Verweisen auf die Kapitel des Lehrbuchs vorgestellt, in welchen sie genauer erläutert werden. - 1. Bereich: Der Einfluss von Religion auf Wirtschaft Dieser Bereich behandelt religiöse ökonomische Ethiken und ihre wirt‐ schaftlichen Konsequenzen. Hier werden normativ-religiöse Vorgaben für wirtschaftliches Handeln ebenso in den Blick genommen wie das Handeln selbst und seine breiteren sozioökonomischen Auswirkungen. Untersucht werden konkrete religiöse Ge- und Verbote mit Bezug auf das ökonomische Handeln von Individuen und Organisationen, z. B. Steuervor‐ gaben und Zinsverbote im Islam, die historische Entwicklung der frommen Stiftung im Zoroastrismus und ihr Übergang zum Islam, das Verbot des Wirtschaftsbetrugs im Judentum oder das im Pfingstlertum weit verbreitete Wohlstandsevangelium (→ Kapitel 4.1). Die Verhaltensökonomie unter‐ sucht den Effekt von Religiosität auf individuelles ökonomisches Verhalten (→ Kapitel 7.1); andere Ansätze diskutieren gesamtgesellschaftliche sozio‐ ökonomische Auswirkungen der religiösen Regulierung der Wirtschaft, wie z. B. des Protestantismus und des Islam auf die von diesen Religionen geprägten Weltregionen (→-Kapitel 4.2). Auch in der institutionentheoretischen Forschung ist der Einfluss von Religion auf Wirtschaft seit den 1990er-Jahren fest verankert, sowohl in historischen Analysen als auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion. So spielt der Religionsbegriff in der kulturhistorischen Erweiterung der Neuen Institutionenökonomik eine zentrale Rolle bei der Konzeptionali‐ sierung informeller Einflussfaktoren auf wirtschaftliches Handeln auf ideeller Ebene, wenn er auch vage bleibt (wie der Institutionenbegriff 1.3 Geschichte und Zweige der Religionsökonomie 31 <?page no="32"?> selbst). Prominent sind hierfür insbesondere die Arbeiten des Wirtschafts‐ historikers Douglass C. North (1990) zu den shared mental models sozialer Gruppen, die sich in institutionellen Arrangements manifestieren können und damit ökonomische Praxis prägen (→-Kapitel 7.1). - 2. Bereich: Der Einfluss von Wirtschaft auf Religion Der zweite Bereich beleuchtet Religionen als ökonomische Akteure, also das Greifen wirtschaftlicher Logiken im Teilsystem Religion. Genau wie die Wirtschaft für Gesundheit oder Bildung relevant sein kann, so ist sie auch für Religion relevant. Ein Krankenhaus muss sich finanzieren, eine Universität auch, genauso ein hinduistischer Tempel oder eine christliche Kirche. Darüber hinaus müssen sich Religionen nicht nur finanzieren, sie vermarkten sich teilweise auch aktiv. Es ist wichtig zu betonen, dass es hier also nicht um die Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden auf den Gegenstandsbereich Religion geht, sondern um das inhaltliche „Über‐ schwappen“ der Logiken des gesellschaftlichen Teilsystems Wirtschaft auf das Teilsystem Religion. Religionen waren und sind-ökonomische Akteure, z. B. als Arbeitgeber oder Immobilienbesitzer. Auch wenn das Thema der Finanzierung von Religionen (→ Kapitel 5.1) für die Religionsökonomie naheliegend erscheinen mag, wurde es in der Religionsökonomie, insbeson‐ dere in ihrem angloamerikanischen Strang, vernachlässigt. Zahlreiche, teilweise sehr unterschiedliche Studien zur Vermarktung von Religion beschäftigen sich einerseits mit religiösen Wirtschaftsstra‐ tegien in der spätkapitalistischen Konsumkultur und andererseits mit der Entwicklung von Religion im Neoliberalismus (→ Kapitel 5.3). Eine Reihe von Werken fokussiert die Wirtschaftsstrategien religiöser Akteure, u. a. mit den Schwerpunkten Konsumkultur, Kommodifizierung und Bran‐ ding oder Vermarktung durch Medien und Populärkultur, während ein an‐ derer Diskursstrang die durch den Neoliberalismus und Konsumismus verursachten Verschiebungen und Transformationen im religiösen Feld in den Blick nimmt. Ein weiterer in diesem Bereich wichtiger Ansatz ist die auf Max Weber aufbauende Feldtheorie Pierre Bourdieus (2000), die vom Wettbewerb zwischen Akteuren in bestimmten Positionen der Sozialstruktur mittels und um verschiedene Kapitalsorten ausgeht (→ Kapitel 6.2). Gerade in Abgrenzung zum economics of religion-Ansatz (s. 3 Bereich unten) stellt besonders die Ausarbeitung des Habituskonzepts als Verkörperung histori‐ 32 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="33"?> scher und gesellschaftlicher Strukturen, die individuelles Handeln anleiten, einen zentralen analytischen Referenzpunkt dar, der sich sowohl von der rational choice-Theorie als auch vom Konzept der begrenzten Rationalität im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik unterscheidet. Ferner zu nennen ist hier die Konzeptionalisierung religiöser Güter und deren Verteilung auf dem Markt nach Jörg Stolz (2006), der eine Synthese aus Bourdieus bzw. Webers Ansatz mit der economics of religion anstrebt. - 3. Bereich: Ökonomische Methoden zur Untersuchung von Religion Der dritte Bereich religionsökonomischer Forschung bedient sich ökonomi‐ scher Methoden, um Religion zu untersuchen. Hier liegt der Fokus insbe‐ sondere auf der ökonomischen Modellierung. Individuelles oder organisati‐ onales religiöses Handeln wird mit ökonomischen Modellen repräsentiert. Zu beachten ist, dass hierbei das Verhalten der religiösen Akteure sowohl als Konsumenten als auch als Produzenten untersucht werden kann (→ Kapitel 5.2). Prominent ist hier ebenfalls der bereits mehrfach erwähnte economics of religion-Ansatz, der als Kritik am Säkularisierungsparadigma in der angloamerikanischen Wissenschaftslandschaft seit den 1980er-Jahren von Religionssoziologen und Ökonomen entwickelt wurde (→ Kapitel 6.1). Er fußt auf der oben erläuterten rational choice-Theorie und geht von einem religiösen Markt aus, der aus Produzenten und Konsumenten religiöser Güter und Dienstleistungen besteht und dessen Fortbestand durch die konstant hohe Nachfrage nach Religion gesichert ist. Die Akteure verhalten sich gemäß dem Modell des Homo oeconomicus nutzenmaximierend; der Wettbewerb unter Produzenten sei umso höher, je deregulierter der religiöse Markt sei, d. h., je weniger staatliche Eingriffe es z. B. durch die Förderung einer bestimmten (Staats-)Religion gebe. Dabei versteht sich die economics of religion als angebotsorientierter (supply-side-)Ansatz: Re‐ ligiösen Produzenten wird eine Schlüsselrolle eingeräumt, da sie durch ihre Produkte und Dienstleistungen die (latent immer vorhandene) Nachfrage seitens der Konsumenten „aktivieren“. Aufgrund zahlreicher konzeptueller Schwächen, u. a. der sehr begrenzten Anwendbarkeit des Modells über die amerikanische Religionslandschaft hinaus, erfährt der Ansatz besonders außerhalb der USA grundlegende und anhaltende Kritik. Unser Systematisierungsvorschlag weist gleichermaßen Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu den oben kurz skizzierten Einordnungen des Feldes 1.3 Geschichte und Zweige der Religionsökonomie 33 <?page no="34"?> auf. Auffallend ist, dass der economics of religion-Ansatz jeweils als eigenes Forschungsfeld identifiziert wird. Schmidtchen unterscheidet, anders als wir es in diesem Lehrbuch tun, zwischen dem rational choice-Ansatz und der „ökonomische[n] Analyse der Religion“ (2000, 15), wobei er mit letzte‐ rem nicht nur Ansätze miteinbezieht, die ökonomische Methoden nutzen (z. B. Haushaltsproduktion und religiöses Humankapital), sondern auch die sozialwissenschaftliche Untersuchung religiöser Gruppen bzw. Institu‐ tionen und religiöser Märkte. Koch (2014, 2007) unterscheidet zwischen ökonomischen Theorien einerseits als „Gegenstand der Religionswissen‐ schaft“ (economics of religion) und ökonomischen Theorien andererseits als „Modelle der Religionswissenschaft“ (Verhaltensökonomie, Neue Instituti‐ onenökonomik); wie wir im folgenden Unterkapitel erläutern, rahmen wir die Verhaltensökonomie und die Neue Institutionenökonomik jeweils als eine Erweiterung neoklassischen Lehre der economics of religion.- Lutz (2018) unterscheidet Untersuchungen, die Religion als unabhängige bzw. abhängige Variable fassen. Oben haben wir den Kategorienfehler in dieser in der Literatur gängigen Einteilung kurz erläutert - nämlich, dass der economics of religion-Ansatz Religion als abhängige und Wirtschaft als unabhängige Variable setzt, wobei hier wirtschaftswissenschaftliche Metho‐ den eigentlich die „unabhängige“ Variable wären. Vor diesem Hintergrund verzichten wir auf die Bezeichnungen „abhängige“ und „unabhängige“ Variable und sprechen vom Einfluss von Religion auf Wirtschaft einerseits, vom Einfluss von Wirtschaft auf Religion andererseits und zuletzt von der Anwendung ökonomischer Methoden auf den Gegenstand Religion. 1.4 Gliederung des Lehrbuchs Wie in dieser knappen Einführung in die Religionsökonomie bereits ersicht‐ lich geworden ist, handelt es sich um ein interdisziplinäres Themenfeld, das auf komplexe Weise von der Religionswissenschaft, der Ökonomie und weiteren Disziplinen gespeist wird. Wir verstehen es als unser Ziel, im Rahmen dieses Lehrbuchs die Religionsökonomie für Interessierte beider Disziplinen zugänglich zu machen; in diesem Sinne ist es für Studierende und Dozierende sowohl der Religionswissenschaft als auch der Ökonomie konzipiert. Der Schwerpunkt innerhalb dieser beiden Disziplinen liegt auf der Religionssoziologie einerseits und der Mikroökonomie andererseits 34 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="35"?> (mit ihren jeweiligen Schnittstellen zur Wirtschaftssoziologie), da dies die wichtigsten Teildisziplinen der Religionsökonomie sind. Das Lehrbuch führt in Kapitel 2, „Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft“, in den Gegenstand und eine Auswahl qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden der Religi‐ onswissenschaft ein und richtet sich damit insbesondere an Studierende der Ökonomie. Es fasst die Perspektive des Fachs auf Religion knapp zusammen und erläutert grundlegende Begriffe und Ansätze, darunter den methodologischen Agnostizismus sowie die komparatistische Vorge‐ hensweise. Die historische, die gegenwartsbezogene und die systematische Religionswissenschaft werden als drei Zweige der Disziplin vorgestellt und der Fokus mit Blick auf die Religionsökonomie im Weiteren insbesondere auf die Systematik, darunter besonders die Religionssoziologie, gelegt. In den Unterkapiteln zu Säkularisierung und Individualisierung als zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen wird eine modernisierungstheoretische Grundlage geschaffen, auf die in den folgenden Kapiteln immer wieder zurückgegriffen wird. Die beiden letzten Teile des Kapitels bieten einen Überblick über qualitative und quantitative Forschungsmethoden in der Religionswissenschaft. Zu ersterem gehört die Konzeption von qualitativen Projekten (Forschungsdesign) ebenso wie deren Durchführung. Der Fokus liegt dabei auf Interviews und Beobachtung als grundlegende Erhebungs‐ methoden sowie auf Grounded Theory und Sequenzanalyse als klassische Auswertungsmethoden. Die kurze Einführung in die quantitative Datenana‐ lyse konzentriert sich auf die Grundlagen der deskriptiven Statistik und der Inferenzstatistik. Denjenigen Lesern, die mit qualitativer bzw. quantitativer Forschung vertraut sind, ist dabei klar, dass diese knappen Überblicke keinesfalls Vollständigkeit beanspruchen können. Ziel der Unterkapitel ist es ausdrücklich, Studierende beispielhaft an die Forschungsmethoden heranzuführen. Kapitel 3, „Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikro‐ ökonomie“, spricht v. a. Studierende der Religionswissenschaft an und bietet eine vereinfachte Einleitung in die Mikroökonomie. Es erklärt mikro‐ ökonomische Grundbegriffe und stellt die Grundlage mikroökonomischer Modellierung vor, auf die wir im Laufe des Lehrbuchs immer wieder zurückkommen. Dabei werden Begriffe wie Haushalt, Präferenzen und Nutzenmaximierungsprinzip, die der Religionsökonomie wie der Mikroöko‐ nomie zugrunde liegen, erläutert. Es wird gezeigt, wie die Mikroökonomie sich dem Problem des Treffens von Entscheidungen nähert und wie sie 1.4 Gliederung des Lehrbuchs 35 <?page no="36"?> das Treffen optimaler Entscheidungen seitens Individuen modelliert. Die Haushalte bilden als Konsumenten dabei die eine Seite der Medaille. Die jüngere religionsökonomische Forschung berücksichtigt zunehmend auch die andere Seite, die Anbieter. Wie das Verhalten eines Unternehmens, eines Produzenten, modelliert wird - die Grundlage der religionsökonomischen Betrachtung religiöser Anbieter - wird ebenfalls in diesem Kapitel erläutert. Ein anderes ökonomisches Konzept, das in der Religionsökonomie viel Verwendung findet, ist das Marktmodell, welches erläutert, wie Nachfrage und Angebot sich auf dem Markt treffen und den Preis bestimmen. Ein mikroökonomisches Grundverständnis dieses Modells soll der Leserschaft zu einer kritischen Reflektion über seine Anwendung in der Religionsöko‐ nomie verhelfen. Kapitel 3 zielt somit darauf, Studierende der Religionswis‐ senschaft auf die Lektüre religionsökonomischer Literatur vorzubereiten und sie zu befähigen, religionsökonomische Theorien besser zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. Zudem bereitet das Kapitel die Leser auf die Anwendung der Mikroökonomie in der Religionsforschung vor. Kapitel 2 und 3 sind also fakultativ zu behandeln; wenn Sie sich mit der Religionswissenschaft bzw. der Mikroökonomie hinreichend auskennen, können Sie diese Kapitel überspringen, ohne Verständnisprobleme in den Folgekapiteln befürchten zu müssen. Kapitel 4, „Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen“, beleuchtet einen der oben besprochenen Zusammen‐ hänge von Religion und Wirtschaft, nämlich den Einfluss von Religion auf Wirtschaft. Es diskutiert dazu zuerst beispielhaft verschiedene religiöse Ethiken, die Ge- oder Verbote für wirtschaftliches Handeln aufstellen. Der Schwerpunkt liegt hier auf Steuern und Zinsverboten im Islam, es kommen aber auch religiöse Stiftungen im Zoroastrismus sowie das Verbot des Wirtschaftsbetrugs im Judentum und das Besitzverbot im Buddhismus zur Sprache. Verschiedene christliche Wirtschaftsethiken werden ebenfalls kurz beleuchtet, bevor der Fokus im zweiten Teil des Kapitels auf sozioökono‐ mische Auswirkungen der im ersten Teil besprochenen Ge- und Verbote schwenkt. Hier setzen wir uns vertieft mit der Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftsformen in protestantischen Kontexten nach Max Weber sowie der Analyse „schleppender“ Wirtschaftsentwicklung islamischer Länder von Timur Kuran auseinander. Die Arbeiten Webers und Kurans sind nicht nur ob ihrer inhaltlichen Argumentation bzgl. der Auswirkungen des Protestantismus bzw. des Islams auf die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Gesellschaften und die jeweiligen Wechselwirkungen zwischen religiösen 36 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="37"?> Ethiken und wirtschaftlichem Handeln interessant. Sie stellen darüber hinaus zwei verschiedene disziplinäre Ansätze dar, nämlich einen soziologi‐ schen und einen ökonomischen, die den Einfluss von Religion auf Wirtschaft bzw. wirtschaftliche Entwicklung untersuchen. Trotz (bzw. gerade wegen) aller Unterschiede - nicht zuletzt der verschiedenen historischen Kontexte, denen sie entsprungen sind - lohnt sich der vergleichende Blick, um das religionsökonomische Potential der beiden Studien herauszuarbeiten. Kapitel 5, „Religionen als ökonomische Akteure“, beleuchtet das umgekehrte Verhältnis von Religion und Wirtschaft, nämlich den Einfluss von Wirtschaft auf Religion bzw. die Verbreitung wirtschaftlicher Logiken im religiösen Feld oder dem Teilsystem Religion. Dazu nimmt es zuerst die Finanzierung von Religion und religiösen Organisationen und ihre Finanzierungsformen in den Blick. Dabei wird sowohl Geldals auch Zeit‐ investition sowie Investition in Religion seitens der Konsumenten sowie der Produzenten berücksichtigt. Während dabei die wirtschaftlichen Verhält‐ nisse im Teilsystem Religion auf der objektsprachlichen Ebene vorgestellt werden, stellt der folgende Teil dar, wie die ökonomische Modellierung für die Untersuchung religiöser Institutionen oder des Verhaltens religiöser Organisationen verwendet werden können. Dabei werden Modellierungen auf der Mikroebene, der Haushaltsebene, und der Mesoebene, der Ebene ei‐ ner größeren religiösen Organisation wie der römisch-katholischen Kirche, vorgestellt.- Im dritten Teil des Kapitels beschäftigen wir uns mit der Vermarktung verschiedener Religionen; es geht also nicht mehr um das reine „Überleben“ als wirtschaftliche Akteure, sondern um das explizite Streben nach Wachs‐ tum und gefestigter Stellung in den jeweiligen Religionslandschaften durch Selbstvermarktung. Der Einfluss spätkapitalistischer wirtschaftlicher Logi‐ ken des Konsumismus und Neoliberalismus auf Religionen werden z.-B. im Bereich des religiösen Marketings und Brandings ersichtlich, das in Juden‐ tum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus gleichermaßen eine Rolle spielt. Religionen bzw. religiöse Akteure müssen sich nicht vermarkten; dies unterscheidet die Vermarktung von der Finanzierung, von der religiöse Akteure unbedingt abhängig sind. Zunehmend partizipieren sie aber in der Selbstvermarktung, um an Sichtbarkeit und Anhängerschaft zu gewinnen. Dieser Prozess hat wiederum Auswirkungen auf die Entwicklungen von Religionen und religiösen Akteuren. Das Wechselverhältnis wird in diesem Unterkapitel genauer beleuchtet. 1.4 Gliederung des Lehrbuchs 37 <?page no="38"?> Kapitel 6, „Marktmodelle der Religion“, widmet sich unterschiedli‐ chen Ansätzen, die Religion als Wettbewerbsarena konzipieren. Allen voran steht der bislang wohl bekannteste Zweig der Religionsökonomie, der economics of religion-Ansatz. Wie oben bereits erläutert, wurde er ab den 1980er-Jahren in den USA als Kritik am Säkularisierungsparadigma (→ Ka‐ pitel 2.2.1) entwickelt und fußt in der rational choice-Theorie und ihrem Modell des Homo oeconomicus (→ Kapitel 1.2.2). Der Ansatz hat grund‐ sätzliche Kritik erfahren und wird von seinen Verfechtern umso überzeugter angewandt und weiterentwickelt. Wir diskutieren die Kritik ausführlich, um zu zeigen, inwiefern basale Prämissen ökonomischer Modellierung (→ Kapitel 3) nicht bzw. nicht korrekt integriert wurden. In diesem Sinne be‐ leuchtet das Kapitel also eine weitere Dimension des Verhältnisses zwischen Religion und Wirtschaft, wie wir sie oben vorgestellt haben: die Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden zur Untersuchung von Religion.- Im zweiten Teil des Kapitels wird ein alternativer Ansatz vorgestellt, der das religiöse Feld ebenfalls als Wettbewerbsarena versteht, allerdings auf grundlegend unterschiedlichen Prämissen aufbaut. Statt vom Homo oeco‐ nomicus geht Pierre Bourdieus Feldtheorie von ökonomischem Handeln aus, das durch das Zusammentreffen von Habitus und Feld geformt ist. Damit erweitert Bourdieu weitere religionssoziologische Arbeiten Max Webers, die in diesem Kapitel ebenfalls angerissen werden. Abschließend wird ein Ansatz von Jörg Stolz vorgestellt, der eine Synthese von Bourdieu und Weber mit dem economics of religion-Ansatz mit Bezug auf religiöse Güter anstrebt. In Kapitel 7, „Religionsökonomische Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes“, werden zwei in der gegenwärtigen Re‐ ligionsökonomie zentrale, genuin interdisziplinäre Ansätze erläutert, die das Modell des Homo oeconomicus aus unterschiedlichen Perspektiven als unzulänglich kritisieren und es jeweils erweitern. Im ersten Teil beschäfti‐ gen wir uns mit der Verhaltensökonomie, die an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Psychologie entstanden ist. Die Verhaltensökonomie vertritt nicht dieses Modell der (neo-)klassischen Lehre der Ökonomie; sie betrachtet das Individuum als ein soziales Wesen, das sich nicht nur für seinen Eigennutzen, sondern auch den Nutzen seiner Mitmenschen interessiert. Dieser Teil stellt die Methoden der Verhaltensökonomie und einige religi‐ onsökonomische Forschungen vor. Die Neue Institutionenökonomik ist ein ökonomisch-sozialwissenschaft‐ licher Ansatz, der mikroökonomische Vorgehensweisen zugrunde legt, um soziales Verhalten mit besonderem Blick auf die Institutionen einer 38 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="39"?> Gesellschaft zu erklären. Der Institutionenbegriff ist innerhalb dieser Un‐ terdisziplin nie einheitlich definiert worden; ganz basal wird meist von den „Spielregeln“ einer Gesellschaft als den formellen und informellen Handlungsbeschränkungen nach Douglass C. North ausgegangen. Die Neue Institutionenökonomik ist insofern interdisziplinär, als dass sie stark vom Neo-Institutionalismus der Organisationssoziologie geprägt ist, in welchen ebenfalls grundlegend eingeführt wird. Durch das Zusammenspiel ökono‐ mischer und organisationstheoretischer Annahmen und Vorgehensweisen wird hier - als Spiegelung zu den ökonomischen und psychologischen Ansätzen der Verhaltensökonomie - einer der bedeutendsten religionsöko‐ nomischen Ansätze mit Blick auf die gesellschaftliche Mesoebene (zu Ge‐ sellschaftsebenen s. →-Kapitel 2.2.1) vorgestellt. Wir haben bereits erwähnt, dass das Lehrbuch für Studierende und Lehrende der Religionswissenschaft und der Ökonomie - als eine Einladung zur Annäherung - konzipiert ist. Natürlich kann es darüber hinaus von allen fachlich Interessierten gelesen werden. Die Kapitel sind so aufgebaut, dass man sie als grundlegende Literatur im Seminar lesen kann, z. B. im wöchentlichen Wechsel mit Primärliteratur, um bestimmte Bereiche zu vertiefen. In allen folgenden Kapiteln sind Diskussionsfragen, Übungs‐ aufgaben und Ähnliches vorhanden, um Austausch in der Gruppe und eine intensivere Beschäftigung mit dem Material zu fördern. Jedes Kapitel beginnt der Übersicht halber mit einer Reihe Leitfragen, die in den Unter‐ kapiteln beantwortet werden. In Grauboxen werden zentrale Begriffe und Zusammenhänge definiert und wiederholt; in Kästen stehen weiterführende Informationen, z. B. in Form von inhaltlichen Exkursen, zur Verfügung. Jedes Kapitel schließt mit einer Übersicht weiterführender Literatur, die zur Orientierung für die vertiefende Lektüre knapp grundlegende Werke zusammenfasst. 1.5 Weiterführende Literatur Gladigow, Burkhard. 2009. „Religionsökonomie. Zwischen Gütertausch und Gratifikation.“ In: Aspekte der Religionswissenschaft, herausgegeben von Richard Faber und Susanne Lanwerd, 129-40. Würzburg. In diesem Überblicksartikel zur Religionsökonomie wird zum einen in die Religionsökonomie als eine Disziplin der Religionswissenschaft 1.5 Weiterführende Literatur 39 <?page no="40"?> eingeführt und zum anderen werden besonders die Schwerpunkte der deutschen Religionsökonomie erläutert. Er zeigt z. B., wie Religionen selbst eine ökonomische Perspektive auf religiöse Sachverhalte, wie das Ritual oder das postmortale Seelenheil, einnehmen. Koch, Anne. 2014. Religionsökonomie. Eine Einführung. Stuttgart: W. Kohl‐ hammer. Dieser Einführungsband ist der bislang einzige seiner Art und verfolgt das Anliegen, die eher historisch-kulturwissenschaftliche bzw. sozio‐ logisch orientierte Religionsökonomie mit dem im anglophonen Raum so dominanten neoklassischen rational choice-Paradigma zusammen‐ zubringen und zu synthetisieren. McCleary, Rachel M. 2011. The Oxford Handbook of the Economics of Religion. Oxford: Oxford University Press. Das Handbuch bietet auf Grundlage der rational choice-Theorie Einbli‐ cke in unterschiedliche Aspekte der Religionsökonomie, darunter die Regulierung des religiösen Marktes, der Einfluss von Humankapital und ein zentraler Beitrag zu religiöser Finanzierung von Laurence R. Iannaccone und Feler Bose (s. →-Kapitel 5.1.1). Schmidtchen, Dieter. 2000. „Ökonomik der Religion.“ Zeitschrift für Religi‐ onswissenschaft 8: 11-43. Dieser Artikel führt in die Religionsökonomie als Disziplin an der Schnittstelle zwischen Religionswissenschaft und Ökonomie ein. Er erläutert sowohl ökonomische als auch religionswissenschaftliche An‐ sätze zusammenfassend und ordnet sie in vier Bereiche ein: die rational choice-Theorie, die ökonomische Analyse der Religion, ökonomische Konsequenzen der Religion und religionspolitische Folgerungen. 40 1 Religionsökonomie: Eine Einleitung <?page no="41"?> 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft Leitfragen des Kapitels ● Wie blickt die Religionswissenschaft auf ihren Gegenstand Reli‐ gion? Was unterscheidet Religion und Religionswissenschaft? ● Was versteht man in der Religionswissenschaft unter Säkularisie‐ rung und Individualisierung? Warum sind diese Begriffe so wichtig, um die Entwicklung von Religion in der Moderne zu verstehen? ● Wie funktioniert qualitativ-empirische Forschung? Welche Erhe‐ bungs- und Auswertungsmethoden gibt es? ● Wie funktioniert quantitative Datenanalyse? Dieses Kapitel stellt führt in die Religionswissenschaft als eigenständige Disziplin ein. Es ist insbesondere für Studierende der Ökonomie geschrie‐ ben, die mit der Religionswissenschaft bislang noch keine oder nur wenig Berührung hatten und sich der Disziplin annähern möchten. Dazu wird in → Kapitel 2.1 zuerst der Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft, nämlich Religion, erläutert und die Unterschiede zur Religionswissenschaft als Disziplin skizziert. → Kapitel 2.2 stellt mit besonderem Fokus auf die Religionssoziologie als Teilbereich der Religionswissenschaft zwei zentrale Paradigmen in der Erforschung von Religion in der Moderne vor, nämlich die Säkularisierungsthese und die Individualisierungsbzw. Privatisierungs‐ these, da unterschiedliche Zweige der Religionsökonomie auf diese Para‐ digmen Bezug nehmen. → Kapitel 2.3 und 2.4 erläutern qualitative bzw. quantitative Methoden der Datenerhebung und -auswertung, wie sie in der Religionswissenschaft als Sozialwissenschaft Anwendung finden. Wie alle anderen Kapitel des Lehrbuchs schließt auch dieses Kapitel mit einem kurzen Überblick über einige weiterführende Literatur (→-Kapitel 2.5). <?page no="42"?> 2.1 Religion und Religionswissenschaft 2.1.1 Was ist Religion? Der Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft ist die Erforschung von Religion als Glaubens- und Praxisgefüge bzw. von Religionen als organisierte Ausprägungen dieser Gefüge. Dazu zählen neben den weltweit verbreiteten Religionen des Christentums, Islams, Buddhismus und hinduistischer Ausprägung z. B. der Jainismus auf dem indischen Subkonti‐ nent, die Shinto-Religion Japans, aber auch z. B. indigene Religionen Nord- und Lateinamerikas, Afrikas und Australiens. Die Religionswissenschaft befasst sich nicht nur mit Religionen in der Gegenwart, sondern auch mit historischen Religionen, darunter denen des antiken Griechenlands oder des Römischen Reichs, aber auch der alten Ägypter und der Region Meso‐ potamiens. Einige dieser Religionen, wie der Manichäismus, waren ehemals weit verbreitet und sind jetzt ausgestorben; andere, wie der Zoroastrismus, haben eine lange Geschichte und sind sogar heute noch vertreten. Neue religiöse Bewegungen, von Scientology und der Hare Krishna-Bewegung über die koreanische Unification Church, deren Anhänger auch als Moonies bekannt sind, bis hin zur Anthroposophie und ähnlich esoterisch-spirituel‐ len Gruppierungen sind ebenfalls Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung. Teilweise werden auch Bereiche in den Blick genommen, deren Bezug zu Religion weniger eindeutig ist, so z. B. der Nationalsozialismus oder der Kapitalismus als Religion. Was ist also Religion? Diese Frage hat die Religionswissenschaft von Beginn an beschäftigt, und es gibt bis heute unterschiedliche Antworten darauf. Manche Ansätze legen substantielle Definitionen zugrunde, die Religion inhaltsbezogen fassen wollen, also ausgehend von Gottesvorstel‐ lungen, Glaubensgrundsätzen und ähnlichem. Andere ziehen funktionale Definitionen heran, um Religion zu erklären. Bei dem bekannten fran‐ zösischen Soziologen Émile Durkheim hat Religion z. B. die Funktion der gesellschaftlichen Integration, trägt also zu sozialem Zusammenhalt bei (→ Kapitel 1.2.1). Die durch die postkoloniale Theorie inspirierte diskurstheoretischen Religionsdefinition geht davon aus, dass das, was „Religion“ ist, immer davon abhängt, wie der Begriff in kommunikativen Prozessen - in Diskursen - mit Inhalt gefüllt wird. Religion wird nach dieser Lesart in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich verstanden, und man 42 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="43"?> könne nicht pauschal für jeden gesellschaftlichen Kontext, jede religiöse Tradition, jede historische Epoche definieren, was Religion ausmacht. Dies sei vielmehr Aushandlungssache der beteiligten religiösen Akteure. Wie in → Kapitel 1.1 erläutert, wird Religion im Rahmen dieses Lehr‐ buchs aus differenzierungstheoretischer Perspektive als gesellschaftliches Teilsystem, das durch Kommunikation über Immanenz und Trans‐ zendenz - das Beobachtbare und das Unbeobachtbare, das Greifbare und das Un(be)greifbare, das Bekannte und das Unbekannte - Kontingenzbe‐ wältigung leistet, also Erklärungen dafür zur Verfügung stellt, warum die Welt so ist, wie sie ist. Diese Erklärungen fallen je nach Kontext unterschiedlich aus. Die Kommunikation über Immanenz und Transzendenz zur Kontingenzbewältigung nennen wir religiöse Kommunikation oder Kommunikation in der Objektsprache. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Kommunikation sowohl verbal als auch non-verbal stattfindet: Hand‐ lungen und Verhalten gehören in diesem Sinne genauso zur Objektsprache wie der verbale Austausch. Die Aufgabe der Religionswissenschaft ist es, von der Objektebene auf die Metaebene zu abstrahieren und die Inhalte religiöser Kommunikation nicht zu reproduzieren, sondern zu sortieren und analysieren. Kommunikation in der wissenschaftlichen Metasprache ist dann entsprechend religionswissenschaftliche Kommunikation. Objektsprache und Metasprache Unter Objektsprache verstehen wir Aussagen und Handlungen, die Akteure „im Feld“ vornehmen. Die Metasprache ist die Kommunikation über die Objektsprache: Sie sortiert und analysiert die Aussagen und Handlungen im Feld und abstrahiert sie somit auf die wissenschaftliche Ebene. Dabei hat die Religionswissenschaft eine Reihe von disziplinären Zugängen zur Auswahl, durch die der jeweilige Untersuchungsgegenstand beleuchtet werden kann, darunter die Religionsgeschichte, die Religionsethnologie, die Religionspsychologie, die Religionsgeografie, die Religionssoziologie, und eben die Religionsökonomie. Jeder dieser Zugänge nimmt unterschiedliche Aspekte in den Blick und arbeitet mit eigenen Methoden. In diesem Sinne ist die Religionswissenschaft ein interdisziplinäres Untersuchungsfeld, das die sozialen sowie die individuellen Dimensionen des Religiösen ebenso in den 2.1 Religion und Religionswissenschaft 43 <?page no="44"?> Blick nimmt wie die historischen, kulturellen, materiellen, umweltbezoge‐ nen, ökonomischen Dimensionen und viele mehr. Was ist Religion? Religion ist ein soziales Teilsystem, das über Transzendenz und Im‐ manenz kommuniziert. Damit ist die Unterscheidung zwischen dem Beobachtbaren und dem Unbeobachtbaren, dem Greifbaren und dem Un(be)greifbaren, dem Bekannten und dem Unbekannten gemeint. Ziel der Kommunikation über diese Aspekte ist die Bewältigung von Kontin‐ genz, also die Bereitstellung von Erklärungen dafür, warum die Welt so ist, wie sie ist, und nicht anders. Bei diesem Religionsverständnis handelt es sich um eine differenzierungstheoretische Religionsdefinition, die Religion als ausdifferenziertes gesellschaftliches Teilsystem versteht. Übungsfrage | Bei welchen der folgenden Aussagen handelt es sich um religiöse Kommunikation, bei welchen um religionswissenschaftliche Kommunikation? Diskutieren Sie jeweils die Unterschiede. Woran erkennt man Objektsprache, woran Metasprache? ● „Es nehmen stets viele Menschen an der Puja im Tempel des Städt‐ chens teil - ein Zeichen dafür, dass diese Region sehr hinduistisch geprägt ist.“ ● „Es ist wichtig, dass die Türen der Kirche immer offenstehen, um Menschen Zuflucht zu bieten. Das Gebot der Nächstenliebe ist in der Bibel verankert.“ ● „Buddha hat seine Lehren mündlich verfasst. Sie basieren auf seiner Lebenserfahrung und stellen Verhaltensregeln auf. Sie wurden schriftlich im Heiligen Pali-Kanon überliefert.“ ● „Der Islam gewinnt in Deutschland mit zunehmender Anhänger‐ zahl an Bedeutung, da sich Fragen rund um Integration und Ab‐ grenzung stellen.“ ● „Ob Jahwe, Gott oder Allah - die Kraft des Schöpfers ist unermess‐ lich.“ 44 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="45"?> 2.1.2 Was ist Religionswissenschaft? Im Unterschied zu den Theologien - ob evangelisch, katholisch, islamisch oder anderen - widmet sich die Religionswissenschaft ihrem Gegenstand aus neutraler, d. h. nichtkonfessioneller Perspektive. Man spricht hier vom sogenannten methodologischen Agnostizismus (z. B. Knoblauch 1999): Ein Agnostiker ist eine Person, die der Überzeugung ist, dass man nicht wissen kann, ob es einen Gott, Götter oder übernatürliche Wesen gibt. Er unterscheidet sich von dem Atheisten, der überzeugt ist, dass es keine Götter oder übernatürlichen Wesen gibt, und von dem Gläubigen, der wiederum überzeugt ist, dass es sie gibt. Der methodologische Agnostizismus bezeich‐ net also einen wissenschaftlichen Standpunkt, dem es explizit nicht um das Belegen der Existenz oder Nichtexistenz des Göttlichen geht, sondern um das bewusste Ausklammern religiöser „(Un-)Wahrheiten“. Was religiös „wahr“, „richtig“ oder „falsch“ ist, ist stets Gegenstand der Religionen selbst bzw. der Theologie (weswegen die Begriffe hier Anführungsstriche gesetzt werden). Jegliche Wissenschaft findet an der Beantwortung religiöser Fra‐ gen eine natürliche Grenze, die die Wissenschaft nicht überschreiten kann, da derlei Fragen mit wissenschaftlichen Methoden schlicht nicht beantwort‐ bar sind. Der Religionswissenschaft geht es vielmehr um das neutrale, nicht wertende Untersuchen von Religion und religiösen Phänomenen. Diese Abgrenzung zu Religion und Theologie ist gerade im deutschen Wissenschaftssystem stark ausgeprägt und wird immer wieder betont. Auf dieser Basis arbeitet die Religionswissenschaft vergleichend: Die vergleichende Arbeit stellt einen grundlegenden methodischen Ansatz dar. Durch den Vergleich können einerseits Gemeinsamkeiten und Unter‐ schiede zwischen verschiedenen Religionen oder religiösen Phänomenen herausgearbeitet werden. Andererseits wird in der Religionswissenschaft grundlegender die Meinung vertreten, dass man Religion bzw. religiöse Phänomene überhaupt nur durch den Vergleich greifen und dann vor dem Hintergrund unterschiedlicher Fragestellungen untersuchen kann. Wichtig ist bei vergleichenden Arbeiten das Festlegen eines sogenannten tertium comparationis, eines Vergleichspunkts, anhand dessen der Vergleich aufgezogen wird (z. B. Krech 2006). Interessiert man sich z. B. für den Islam einerseits und eine hinduistische Religion andererseits, so muss spezifiziert werden, welche Aspekte genau miteinander verglichen werden sollen: die Durchführung bestimmter Rituale, die Entwicklung religiöser Rollen, Jenseitsvorstellungen, genderbasierte Arbeitsteilung, die Rolle von 2.1 Religion und Religionswissenschaft 45 <?page no="46"?> Materialität im religiösen Alltag und die durchschnittliche Zeitinvestition in religiöse Praxis sind allesamt denkbare Themen. Interessiert man sich hingegen für religiösen Synkretismus, d. h. die Vermischung verschiedener religiöser Traditionen, so ist auch hier der Vergleich in der Untersuchung der verschiedenen Elemente verankert, die zusammengefügt wurden, um eine neue Religion zu formen; so z. B. die Verbindung animistischer Vorstel‐ lungen amerikanischer Ureinwohner und christlicher Lehren, die sich im Zuge der Eroberung von Nord- und Lateinamerika weit verbreiteten. Viele weitere Beispiele für die vergleichende Religionsforschung auf Grundlage des methodologischen Agnostizismus sind denkbar. Die wissenstheoretische Rahmung bzw. epistemologische Grundlage religionswissenschaftlicher Forschung legt fest, wie mit der Frage nach Wissen umgegangen wird. Wie wird Wissen abgeleitet und strukturiert? Mit welchen Werkzeugen wird es erlangt? Was sind die Grenzen dessen, was wir wissen können? Welchen Beitrag stellen religionswissenschaftliche Forschungsergebnisse somit für die Wissenschaft dar? Die Epistemologie oder Wissenstheorie ist ein abstrakt-philosophischer Zweig der Wissen‐ schaft, der für die Religionswissenschaft in ihrer Abgrenzung zur Theologie besonders relevant ist. Wie oben erläutert, ist der Blick auf den Gegenstands‐ bereich der Religion in beiden Disziplinen ein grundsätzlich anderer. Die Religionswissenschaft fragt nicht nach dem Wahrheitsgehalt religiöser Sym‐ bolsysteme oder danach, ob Glaubensgrundsätze und Praktiken „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „schlecht“ sind. Sie interessiert sich vielmehr für die Auswirkungen von Religion auf soziale Interaktion und Gesellschafts‐ systeme (in der Religionsethnologie bzw. -soziologie), auf wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftliches Handeln (in der Religionsökonomie), auf individuelles und kollektives Verhalten (in der Religionspsychologie bzw. der Sozialpsychologie), auf psychologische Prozesse (in der Kogniti‐ onsforschung bzw. Neurowissenschaft) und dergleichen mehr. Insofern geht es hier nicht um religiöses Wissen, sondern um Religion als die auf der individuellen und der sozialen Ebene beobachtbare, greifbare, vorhandene Kommunikation über das Unbeobachtbare, das Un(be)greifbare, das nicht Vorhandene. In der Generierung von Wissen wird zwischen drei Vorgehensweisen des logischen Denkens unterschieden: Deduktion, Induktion und Abduktion (z. B. Reichertz 2015). Bei der Deduktion wird ein bekannter theoretischer Grundsatz, eine Regel, auf einen neuen empirischen Fall, den es zu un‐ tersuchen gilt, angewandt. Wenn z. B. eine Religionshistorikerin davon 46 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="47"?> ausgeht, dass alle Götter der griechischen Antike anthropomorph - von menschenähnlicher Gestalt - dargestellt sind und diese Regel verifizieren möchte, so untersucht sie alle Götterdarstellungen, zu denen sie Zugang findet, auf ihre äußerliche Ähnlichkeit zu Menschen hin. In diesem Sinne ist deduktives Vorgehen tautologisch - es wird nichts Neues besagt -, aber auch verifizierend bzw. falsifizierend - die Regel bestätigend oder widerlegend: Stimmt die zugrunde gelegte theoretische Annahme, in diesem Fall, dass alle Götter anthropomorph dargestellt sind, so stimmt auch das Ergebnis ihrer Anwendung, nämlich Götterdarstellung von ausschließlich menschenähnlicher Gestalt. Bei der Induktion wird der empirische Fall nach seinen Eigenschaften untersucht und die Ergebnisse des Fallbeispiels auf andere Fälle übertragen und zur Regel gemacht. Es bestehen dabei keine theoretischen Vorannah‐ men; es geht also nicht um die Bestätigung oder Wiederlegung einer gültigen Regel, sondern um das Erkennen einer Regel aus dem Material heraus und ihr Übertragen auf weiteres Material. Unsere Religionshistorikerin interessiert sie sich z.-B. für Götterdarstellungen in der nordischen Kosmo‐ logie. Sie geht ohne Vorwissen ins Feld und untersucht vergleichend alle Fallbeispiele, die ihr zwischen die Finger kommen, um daraus eine Regel abzuleiten, wie nordischer Götter dargestellt werden. Die dritte Vorgehensweise der Wissensgenerierung geht anders vor. Wenn unsere Religionshistorikerin im Laufe ihrer Forschung feststellt, dass nicht alle griechischen Götterdarstellungen von menschenähnlicher Gestalt sind - wenn die Annahme ausschließlich anthropomorpher Darstellungen also falsifiziert (widerlegt) wird -, muss sie eine neue Regel finden, um den abweichenden Fall zu erklären; z. B., dass bestimmte Götter auch in Tiergestalt dargestellt werden. Dieses Vorgehen nennt man Abduktion, eine Kombination von Deduktion und Induktion: eine neue Regel wird ge‐ funden, um den empirischen Fall aufgrund des Resultats der Untersuchung zu erklären. Deduktion, Induktion und Abduktion ● Die Deduktion wendet eine existierende Regel zur Verifizierung (Bestätigung) oder Falsifizierung (Widerlegung) auf einen Fall an. ● Die Induktion untersucht einen Fall auf seine Eigenschaften hin und überträgt die Ergebnisse auf andere Fälle. 2.1 Religion und Religionswissenschaft 47 <?page no="48"?> ● Die Abduktion entwickelt eine neue Regel, um empirische Fälle zu erklären, die mit der ursprünglichen Regel nicht zu erklären sind. Diese drei wissensgenerierenden Vorgehensweisen sind in der Religions‐ wissenschaft gleichermaßen legitim, dienen sie doch jeweils wichtigen wissenschaftlichen Zielen: der Verifizierung (Bestätigung) bzw. Falsifizie‐ rung (Entkräftigung) und Weiterentwicklung bestehender Theorien und Paradigmen sowie der Entwicklung neuer theoretischer Ansätze und zugleich auch der Untersuchung neuen, bisher unbekannten oder unterbe‐ forschten empirischen Materials. Wie aber verschafft man sich Zugang zu der Vielfalt an Religionen in Geschichte und Gegenwart? Für historische Religionen bzw. Religionsentwicklungen sind Texte und Gegenstände ein zentraler Zugang. Unser Wissen z. B. über die die altägypti‐ sche und altgriechische Religion, aber auch über das Christentum im tiefsten Mittelalter speist sich aus in Stein gemeißelte Hieroglyphen, Abbildungen, Statuen, Texten, Textfragmenten und dergleichen mehr. In diesem Zusam‐ menhang sprechen wir von der historischen Religionswissenschaft, die auf Archivarbeit bzw. der Untersuchung religiöser Artefakte beruht. Zu Religionen der Gegenwart können wir uns auf vielfältigere Weise Zu‐ gang verschaffen, da ungleich mehr Informationen über sie zur Verfügung stehen: Nicht nur über Texte und Gegenstände, die wir im Internet, in religiösen Veröffentlichungen, in populärkulturellen Formaten wie Filmen und Dokumentationen und Ähnlichem vorfinden, sondern vor allem auch in der direkten Interaktion mit Glaubensanhängern können wir Daten (empirisches Material) sammeln. Religionsforschung, die auf der Erhebung und Auswertung solcher Daten beruht, nennt man gegenwartsbezogene Religionswissenschaft. Wenn es dann um das Sortieren, Vergleichen, Analysieren und Systematisieren von Forschungsergebnissen sowohl der historischen als auch der gegenwartsbezogenen Religionswissenschaft geht, haben wir es mit der systematischen Religionswissenschaft zu tun, die sich oft der Methoden der Kultur- und Sozialwissenschaften bedient. Unsere Leser seien darauf hingewiesen, dass andere Ansätze nur zwischen der systematischen und der historischen Religionswissenschaft unterscheiden; dies stiftet jedoch Verwirrung, da damit suggeriert wird, dass die historische Religionswissenschaft nicht theoriegeleitet und die systematische Religions‐ wissenschaft ausschließlich gegenwartsorientiert arbeite. 48 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="49"?> Drei Zweige der Religionswissenschaft ● Die historische Religionswissenschaft untersucht Religion und Religionsentwicklung in der Geschichte anhand von Texten und Artefakten. ● Die gegenwartsbezogene Religionswissenschaft untersucht Re‐ ligion in der Gegenwart in der Interaktion mit Glaubensanhängern und anhand der Texte und Gegenstände, die für diese Bedeutung haben. ● Die systematische Religionswissenschaft sortiert, vergleicht, analysiert und systematisiert die Forschungsergebnisse der histori‐ schen und der gegenwartsbezogenen Religionswissenschaft. Die historische Religionswissenschaft, auch Religionsgeschichte genannt, ist auch und gerade aus religionsökonomischer Perspektive von Interesse. Sie ist mit der Rekonstruktion der historischen Entwicklung von Religionen, ob gesamte Traditionen oder einzelne Strömungen bzw. Schulen innerhalb derselben, befasst und zieht zu diesem Zweck unterschiedliche Quellen heran: kanonische Schriften und andere religiöse Texte, religionsgeschicht‐ liche Dokumente, mündliche Überlieferungen, nonverbale Quellen wie Malerei oder Musik und natürlich Objekte und Artefakte. Zur Untersuchung stehen der Religionsgeschichte eine Reihe historisch-kritischer Methoden zur Verfügung, welche die Quellen jeweils in ihrem historischen Kontext und unter Berücksichtigung der Umstände der Überlieferungen in den Blick nehmen. Die Religionsgeschichte ist sowohl fachgeschichtlich als auch methodisch eng mit den Philologien verbunden, da literarische Quellen oft in nicht mehr geläufigen und überwiegend ausgestorbenen Sprachen verfasst sind. Die philologisch orientierte historische Religionswissenschaft teilt mit der gegenwartsbezogenen Religionswissenschaft die Arbeit mit Texten. Die beiden Zweige unterscheiden sich dabei darin, wie sie ihre Texte für die Religionsforschung gewinnen und zugänglich machen. Bis eine Philologin eine Quelle in einer religionswissenschaftlich verwendbaren Übersetzung vorlegt, ist es ein langer Weg. Die Quellen sind Handschriften, Inschriften, Dokumente auf Pergament, Papyrus, Papier, usw., oft geschrieben in einer nicht leicht lesbaren Schrift. Nachdem sie den Text gelesen hat, muss sich die Philologin mit der Syntax (dem Satzbau und der Satzstruktur) sowie der 2.1 Religion und Religionswissenschaft 49 <?page no="50"?> Semantik (der Bedeutung) der Sätze auseinandersetzen. Die Erschließung der Bedeutung der Wörter und somit der mit ihnen bezeichneten Begriffe ist also die wichtigste Arbeit der religionsgeschichtlichen Forschung. In der jüngeren Zeit verwenden Philologen und Religionshistoriker zunehmend Korpusansätze, wobei sie sich nicht nur auf Einzeltexte konzentrieren, sondern auch größere Gruppen von Texten analysieren. Dabei setzen sie Methoden der Korpuslinguistik zur Erschließung und Aufbereitung des Textkorpus ein; zur Analyse desselben werden Methoden der Computerlinguistik und Digital Humanities angewandt. Bei der philo‐ logischen Analyse von Einzeltexten kommt vor allem die Hermeneutik zum Einsatz, bei größeren Textkorpora werden vor allem quantitative Methoden verwendet. Durch das sogenannte „Zoom-In und Zoom-Out“-Verfahren werden oft beide Methoden kombiniert, d. h. quantitative Ansätze für den größeren Überblick mit qualitativen Ansätzen für eine detaillierte Analyse. Nachdem die Texte wie auch immer für eine religionsbezogene Forschung aufbereitet sind, werden sie in Bezug auf verschiedene Theorien und unter Anwendung unterschiedlicher Methodologien erforscht. Da die philologisch orientierte historische Religionswissenschaft mit historischen Quellen zu tun hat, beschäftigt sie sich vor allem mit der Religionsgeschichte und historischen Entwicklungen - immer aus vergleichender Perspektive. Erläuterung-| Methode und Methodologie Diese zwei ähnlichen Begriffe bezeichnen unterschiedliche Dinge, die beide sehr wichtig für die religionswissenschaftliche Forschung sind. Eine Methode ist eine Vorgehensweise, um Daten zu sammeln oder auszuwerten (→ Kapitel 2.3): Man kann ein Interview durchführen, ein Objekt untersuchen oder einen Text analysieren. Es handelt sich also um einen Schritt in einem größeren Prozess. Unter Metho‐ dologie hingegen versteht man den theoretischen Rahmen eines Vorgehens in Bezug auf seine Methoden, mit anderen Worten die Theorie hinter der Methodenanwendung. In → Kapitel 2.3.3 wird die Grounded Theory als eine bedeutungsvolle Methodologie insbesondere der gegenwartsbezogenen Religionswissenschaft vorgestellt, da sie Methoden der Datenerhebung und -auswertung in einen größeren Analyseprozess integriert. 50 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="51"?> Die Religionssoziologie ist eine für die Religionsökonomie wichtige Teil‐ disziplin der Religionswissenschaft mit starker systematischer Ausprägung. Sie interessiert sich für die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Religion und die wechselseitigen Auswirkungen von Religion und Gesellschaft aufeinander (Krech 1999). Religiöse Phänomene wurden von einem der Gründerväter der Religionssoziologie, dem französischen Soziologen Émile Durkheim, als soziale Tatsachen (faits sociaux) gefasst. Die Religions‐ soziologie nimmt religiöses Handeln und Verhalten von Individuen und Gruppen, z. B. in Form von Ritualen, in den Blick; sie erforscht Religion im Rahmen sozialer Interaktion. Zentrale Fragestellungen lauten z. B., wie religiöse Erfahrung individuelles und kollektives Handeln beeinflusst und welche Auswirkungen dieser Prozess auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft hat. Unterschiedliche Formen religiöser Gemeinschaft (auch Sozialformen genannt, s. → Kapitel 6.1.2), z. B. Gruppen, Organisationen, Märkte, Bewegungen, Events oder Netzwerke, stehen hier gleichermaßen im Mittelpunkt wie die Ausbildung religiöser Rollen und die Entwicklung religiöser Autorität. Einige zentrale Autoren der Religionssoziologie haben wir bereits in → Kapitel 1.2.1 kennengelernt, darunter Karl Marx, Émile Durkheim und Niklas Luhmann, da sie auch Einfluss auf die Religionsökonomie hatten. Auf weitere, nicht weniger wichtige Autoren gehen wir in vertiefenden Abschnitten des Lehrbuchs ein, um ihren religionsökonomischen Beitrag detailliert zu besprechen, vor allem auf Max Weber (→ Kapitel 4.2.1) und Pi‐ erre Bourdieu (→ Kapitel 6.2), aber auch auf andere. Die Religionssoziologie ist mit der Analyse des Wandels moderner Gesellschaften befasst, darunter auch dem globalen Austausch von Ideen und Gütern. Dies hat sie mit der Ökonomie gemeinsam, wenn beide Disziplinen auch ganz anders vorgehen. Ein genauerer Blick auf grundlegende religionssoziologische Prämissen ist wichtig, da in unterschiedlichen Zweigen der Religionsökonomie immer wieder auf sie Bezug genommen wird. Im folgenden Abschnitt werden mit Theorien der Säkularisierung und Individualisierung bzw. Privatisierung zwei zentrale Paradigmen der Religionssoziologie vorgestellt. 2.2 Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen Insbesondere die systematische Religionswissenschaft, vor allem vertreten durch die Religionssoziologie, hat im Laufe des 20. Jahrhunderts diverse 2.2 Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen 51 <?page no="52"?> theoretische Ansätze hervorgebracht, die die Rolle der Religion in der Moderne untersuchen und erklären möchten. In diesem Teilkapitel werden zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen erläutert, auf die in der Religionsökonomie und damit auch in diesem Lehrbuch immer wieder zurückgegriffen wird. 2.2.1 Die Säkularisierungsthese Die Säkularisierungsthese besagt im Kern, dass Religion in modernen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung verliert; manche Vertreter der These gehen sogar davon aus, dass Religion in der Moderne irgendwann vollkommen verschwinden wird. In diesem Zusammenhang ist zuerst einmal wichtig zu klären, was genau mit modernen Gesellschaften bzw. der Moderne gemeint ist. Hier unterscheiden Volker H. Schmidt (2013) und andere zwischen (1) der eurozentrischen Moderne, deren Beginn entweder (a) mit der Protestanti‐ schen Reformation, der Renaissance und den Erkundungsreisen der der Portugiesen und Spanier im 15. und 16. Jahrhundert einhergeht oder (b) mit den politischen und industriellen Revolutionen des 18. Jahrhunderts ihren Lauf nimmt; (2) der westzentrischen Moderne ab 1870, als Europa durch den wirtschaftlichen Aufstieg der ehemaligen Kolonie und nun unabhängigen Nation USA sein Weltwirtschaftsmonopol verliert; und (c) der polyzentrischen Moderne ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, die durch Entkolonialisierung und Globalisierung veränderte Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Regionen der Welt mit sich bringt. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch die zunehmende Diffe‐ renzierung gesellschaftlicher Teilsysteme oder Handlungssphären aus, z. B. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Gesundheit, Bildung, Kultur, Religion, usw. Wo diese Handlungssphären in vormodernen Gesellschaften noch nicht im gleichen Maße wie in der Moderne ausdifferenziert waren - man denke an Europa im Mittelalter, in welchem das Christentum nicht nur religiöse Angelegenheiten, sondern z.T. auch Bildung, Wissenschaft und Gesundheit (z. B. in Klosterschulen) sowie Wirtschaft (z. B. im transeuro‐ päischen Handel) und Politik (durch enge Verflechtungen mit weltlichen Herrschern) gestaltete und (mit)verantwortete -, verselbstständigen sie sich zunehmend in modernen Gesellschaften. Sie entwickeln eigene Semanti‐ ken (Bedeutungen und Inhalte) und Funktionslogiken, statt Werte und Normen zu teilen. Pollack und Rosta veranschaulichen: „Die Politik kann 52 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="53"?> nicht vorgeben, was wissenschaftlich wahr ist, die Wissenschaft nicht, was als schön empfunden wird, die Kunst nicht, was man glauben soll. Schon gar nicht kann die Moral diktieren, wie wirtschaftlich gehandelt wird“ (2015, 39). So operieren alle gesellschaftlichen Teilsysteme gemäß eigener Regeln, um dynamisch und leistungsorientiert zur gesamtgesellschaftlichen Integration beizutragen. Individuen müssen sich in ausdifferenzierten Gesellschaften ohne traditionelle Interpretationsmuster eigenverantwortlich zurechtfinden und die gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Teilsystemen in Form unterschiedlicher Rollen (z. B. Student, Konsument, Familienmitglied, Kulturschaffende, Wähler, Patient, usw.) navigieren. Dabei fungiert die gesellschaftliche Mesoebene der Organisationen, Verbände und Vereine als wichtiges Verbindungsglied zwischen dem Einzelnen (Mikroebene) und der Gesamtgesellschaft (Makroebene). Für das Individuum bedeutet die vertikale Differenzierung - das „Auseinanderziehen“ der drei Ebenen der Gesellschaft - also einerseits die Loslösung aus festen Strukturen und Traditionen, andererseits den Verlust von Orientierung und Sicherheit (→-Kapitel 2.2.2). Religionssoziologischer Exkurs-| Gesellschaftliche Ebenen Auf der gesamtgesellschaftlichen oder Makroebene untersucht die Religionssoziologie die allgemeine Akzeptanz religiöser Werte und Normen in einer Gesellschaft sowie damit zusammenhängende Wand‐ lungsprozesse - z. B. Säkularisierung, Individualisierung, Rationalisie‐ rung und Postsäkularisierung, also die schwindende Bedeutung von Religion, der Wandel religiöser Formen, die zunehmende Bedeutung von wissenschaftlichen Erklärungsansätzen und der daraus resultie‐ rende Einstellungswandel, welcher Religion und Wissenschaft in seinem Weltbild zu vereinen sucht. Aus religionssoziologischer Perspektive setzt sich die Mesoebene als Zwischenebene zwischen Makro- und Mikroebene zusammen aus religiösen Organisationen, Netzwerken, vergemeinschafteten Bezie‐ hungen (die sich durch ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl auszeichnen) und Prozessen der Vermarktlichung (s. → Kapitel 6.1.2). Die Mesoebene hat demnach eine vermittelnde Funktion zwischen Individuum und Gesellschaft inne, indem auf ihr Einzelinteresse gebündelt werden. 2.2 Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen 53 <?page no="54"?> Die religionssoziologische Mikroebene besteht aus den kleinsten so‐ zialen Einheiten religiöser Praxis: Hier werden individuelle Normen, Werte, Handlungsmotivationen und Interessen sowie soziale Interak‐ tion untersucht, so z. B. ein Wandel institutionalisierter Religion hin zu individuell-synkretischen Mischformen. (Vgl. v.-a. Ludwig/ Heiser 2014) Modernisierungstheorien argumentieren im Rahmen der Säkularisierungs‐ these aus unterschiedlichen Perspektiven, dass Religion in modernen Ge‐ sellschaften zunehmend an Bedeutung verliert. Dies sei verschiedensten Faktoren geschuldet (s. z.-B. Heiser 2018, Pickel 2011): ● Durch zunehmende Rationalisierung bietet das Teilsystem Wissen‐ schaft, welches auch die Technik beinhaltet, Erklärungen der Welt und Antworten auf Sinnfragen, die ehemals von Religion bearbeitet wurden. Religiöse Antworten werden unglaubwürdiger. ● Im Zuge der Industrialisierung ersetzen das Arbeitsleben und die Identifikation mit dem eigenen Beruf bzw. der Berufsgruppe Religion als Identitätsstifter. ● Durch die weitgehende Demokratisierung moderner Gesellschaften ersetzen humanistische, auf das Individuum fokussierte Werte religiöse Weltbilder, die Gott und Kirche (bzw. Götter und religiöse Institutionen) in den Mittelpunkt stellen. ● Gesellschaftliche Bürokratisierung führt zu Versachlichung sowohl von Organisationsstrukturen als auch von individuellem Handeln. Da‐ durch wird religiösen Strukturen und Entscheidungsgrundlagen die Legitimität entzogen. ● Durch Verstädterung werden Rationalisierung, Bürokratisierung und Industrialisierung verstärkt und Religion die kommunale Grundlage entzogen. ● Wohlstandssteigerung reduziert Unsicherheit, Risiko und Kontingenz (also die prinzipielle Ungewissheit, warum Dinge so sind, wie sie sind, und nicht anders), wodurch Religion als ehemals zuständig für das Bearbeiten dieser Faktoren überflüssig wird. ● Die Pluralisierung von Weltanschauungen und Lebensentwürfen un‐ terminiert den Absolutheitsanspruch von Religion und trägt so zu ihrer Unglaubwürdigkeit bei. 54 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="55"?> Die Säkularisierungsthese Differenzierungstheoretische Auslegungen der Säkularisierungs‐ these gehen davon aus, dass sich Religion in modernen Gesellschaften zu einem gesellschaftlichen Teilsystem mit eigener Logik und eigen‐ verantwortlichem Spezialbereich ausdifferenziert. Modernisierungs‐ theoretische Auslegungen besagen, dass Religion in der Moderne zunehmend an Bedeutung verliert; manche Vertreter nehmen sogar an, dass Religion irgendwann vollkommen verschwinden wird. Zahlreiche religionssoziologische Denker haben Beiträge zur Säkularisie‐ rungsthese geleistet, darunter Auguste Comte (1798-1857), Émile Durkheim (1858-1917), Max Weber (1884-1920), Niklas Luhmann (1927-1998), David Martin (1929-2019) und Steve Bruce (*1954). In dieser kurzen Einleitung kann auf sie nicht weiter eingegangen werden. Wir wollen aber einen genaueren Blick auf den amerikanische Soziologen Peter L. Berger (1929- 2017) werfen, der die Säkularisierungsdebatte entscheidend mitgeprägt hat. In seinem 1967 erschienenen Buch The Sacred Canopy: Elements of a Sociological Theory of Religion (deutsche Übersetzung: Zu Dialektik von Re‐ ligion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie) argumentierte Berger, dass zunehmende religiöse Pluralisierung einen Plausibili‐ tätsverlust einzelner Religionen zur Folge hat, da sie ihren jeweiligen Absolutheitsanspruch dem Individuum gegenüber in Anbetracht konkurrie‐ render religiöser Weltbilder und Glaubenssysteme nicht glaubwürdig auf‐ rechterhalten können. Auch säkulare Weltanschauungen, so Berger, treten mit religiösen in Konkurrenz. Das Individuum nehme die Weltanschauung, in die es hineingeboren wurde, nicht länger als automatisch gegeben und selbstverständlich hin, sondern hinterfrage sie vor dem Hintergrund anderer Weltanschauungen, die ihm in seinem religiös wie säkular pluralen Umfeld alternativ zur Verfügung stehen. In weiteren Arbeiten konzeptualisiert Berger den Wettbewerb zwischen Plausibilitätsstrategien als Markt, auf dem unterschiedliche Werte zum Angebot stehen (1963, 1973). War Berger anfangs ein Verfechter der Säkularisierungsthese, wandte er sich seit den 1990er-Jahren immer mehr davon ab (1999) und konzentrierte sich stattdessen auf die Analyse religiöser Pluralität in westlichen Gesellschaften (2015). 2.2 Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen 55 <?page no="56"?> Diskussionsfrage | Wie überzeugend ist Bergers Argument, dass reli‐ giöse Pluralisierung mit dem Plausibilitätsverlust einzelner Religionen einhergeht? Bestärkt religiöse Pluralisierung die Plausibilität einzelner Religionen nicht sogar, da ihre Anhänger umso vehementer für sie einstehen? Die Säkularisierungsthese wurde vielfach für das deterministische und lineare Argument kritisiert, dass Religion in modernen Gesellschaften zwangsläufig an Bedeutung verliert. Immerhin gibt es zahlreiche empirische Belege dafür, dass sich Religion außerhalb Europas wachsender Beliebtheit erfreut - man denke nur an das globale Pfingstlertum, die Befreiungstheo‐ logie in Lateinamerika oder den Evangelikalismus in Ost- und Südostasien sowie im subsaharen Afrika. In diesem Sinne kann die Säkularisierungsthese als eurozentrisch bewertet werden, da Europa mit seinen sinkenden Religi‐ ositätsraten seit dem 20. Jahrhundert eine Ausnahme bildet. Sie ist darüber hinaus theoretisch insofern fehleranfällig, als dass sie von vorneherein die Möglichkeit verkennt, dass sich Religion und Moderne gegenseitig befruchten (können). Indem sie von der unbedingten Abhängigkeit der Religion von Prozessen der Moderne ausgeht, beraubt sie sich des Blickes für potenzielle andere Wechselwirkungen zwischen den beiden. Zuletzt wird sie für ihre mangelnde mikro-empirische Grundlage kritisiert, da sich ihre Ansätze größtenteils auf der Makro- und der Mesoebene der Gesellschaft bewegen (Pollack und Rosta 2015; Heiser 2018). Aus dieser Kritik heraus entstand in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Individualisierungsbzw. Privatisierungsthese in der Religionswissenschaft, die Gegenstand des folgenden Abschnittes sind. 2.2.2 Die Individualisierungs- und Privatisierungsthese Aus der zunehmenden Kritik an der Säkularisierungsthese entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die These religiöser Indi‐ vidualisierung bzw. Privatisierung. Sie besagt im Kern, dass Religion in der Moderne weder zunoch abnimmt, sondern sich in ihrer Form verändert: Glaubensgrundsätze und religiöse Praktiken lösen sich aus ihren institutionellen Kontexten, während Menschen neue, eklektische und synkretistische Überzeugungen und Praktiken entwickeln, die sich also aus verschiedensten Quellen speisen, neu zusammengesetzt werden, sich dadurch vermischen und so teilweise ganz neue Formen hervorbringen. 56 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="57"?> Schwindende Kirchenmitgliedschaft weist demnach nicht darauf hin, dass Religion in der Moderne an Bedeutung verliert, sondern vielmehr darauf, dass sie sich in den individuellen, privaten Bereich verlagert und somit einen Prozess der Individualisierung unterläuft. Dies bedeutet darüber hinaus allerdings nicht, dass organisierte bzw. institutionalisierte religiöse Formen vollständig verschwinden. Vielmehr können individualisierte und institu‐ tionalisierte Religion u. U. Hand in Hand gehen, z. B., wenn jemand sowohl Mitglied in einer christlichen Kirche ist, als auch hinduistisch grundiertes Yoga oder Zen-buddhistische Meditation praktiziert, oder esoterische Prak‐ tiken wie Astrologie gleichermaßen verfolgt wie die islamische Pilgerreise nach Mekka. Auf diese Weise möchte die Individualisierungsthese den weiterhin hohen Grad organisierter Religiosität in weiten Teilen der Welt gleichermaßen erklären wie den Anstieg individualisiert-synkretistischer religiöser Praktiken in westlichen Industrieländern. Der Begriff Individualisierung geht zurück auf den deutschen Sozio‐ logen Ulrich Beck. In Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Mo‐ derne (1986) argumentiert er, dass Gesellschaften in der „zweiten Moderne“ die negativen Konsequenzen des technisch-ökonomischen Fortschritts im Zuge von Wohlstandssteigerung und funktionaler Differenzierung wahr‐ nehmen. Diese „reflexive Modernisierung“ sei auf der Ebene der Indivi‐ duen eingebettet in einen dreischrittigen Prozess der Individualisierung. Zunehmender Wohlstand und Lebenserwartung, höhere Bildung, bessere Gesundheitsversorgung usw. eröffnen Menschen neue Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten; sie werden (1) herausgelöst aus bzw. freigesetzt von „historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditi‐ onaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge“ (1986, 206). Dies gehe mit (2) dem „Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungsweisen, Glauben und leitende Normen“ (ebd.) einher; dieser Stabilitätsverlust als „Entzauberungsdimension“ lege den Einzelnen die Verantwortung zur Formung der eigenen Biografie bzw. der Gestaltung der persönlichen Zukunft auf. Gleichzeitig werde das Individuum (3) durch die Arbeit und neue, teils freiwillige Gemeinschaften und Lebensformen (z. B. Freundeskreise) in soziale Strukturen wiedereingebunden („Reinte‐ grationsdimension“). Für die Sphäre der Religion gilt dieser Prozess laut Beck genauso: Menschen werden aus institutionalisiert-religiösen Struktu‐ ren herausgelöst, indem sie vor dem Hintergrund zunehmender religiöser Pluralität erkennen, dass es keine einzige religiöse „Wahrheit“ gibt, sondern unterschiedliche Religionen jeweils eigene Wahrheitsansprüche mit sich 2.2 Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen 57 <?page no="58"?> bringen. Durch die eigene Wahl an Glaubenselementen und Praktiken, die sie als ansprechend, erstrebenswert, usw. empfinden, werden sie letztendlich in religiöse Strukturen wiedereingebunden (Beck 2008). Der wichtigste religionssoziologische Vertreter der Individualisierungs‐ these ist Thomas Luckmann, der bereits seit den 1960er-Jahren zu die‐ sem Thema publizierte. Er beeinflusste die deutsche Religionssoziologie erheblich, die sich daraufhin seit den 1980er-Jahren von dem bis dahin ausschließlich quantitativen Ansatz der Kirchensoziologie (die sich auf statistische Untersuchungen bzgl. der Mitgliedschaft vor allem der katho‐ lischen und evangelischen Kirchen konzentrierte) löste und sich seitdem zusätzlich mit qualitativen Studien individueller Religiosität befasste. In seinem Werk Die Unsichtbare Religion (1991) argumentiert Luckmann, dass Religion in der Spätmoderne in dem Sinne „unsichtbar“ ist, als dass ihre vielfältigen Formen oftmals nicht direkt als religiös erkennbar sind, da sie sich aus ihren institutionellen Verankerungen gelöst haben. Er plädiert für an soziologische Theorie gekoppelte qualitative empirische Religionsforschung, um den seines Erachtens einseitigen Blick der quantitativ ausgelegten Kirchensoziologie zu überwinden (s. zur ein‐ seitigen Schwerpunktsetzung auch der Religionsökonomie auf Kirchenmit‐ gliedschaft auch → Kapitel 1.3). Er fasst individualisierte Religion als eine distinkte historische Form von Religion auf und verfolgt damit weiterhin den sozialkonstruktivistisch-wissenssoziologischen Ansatz, den er 1967 zusammen mit Peter L. Berger in Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie vorstellte (→-Kapitel 7.2.1). Die Individualisierungsthese Die Individualisierungsthese geht von einem Formwandel der Religion in der Moderne aus. Sie besagt, dass sich Glaubensgrundsätze und Prak‐ tiken aus institutionalisierten Kontexten lösen und Individuen eigene, eklektische und synkretistische Religiositätsformen entwickeln, die sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen und vermischen. Die Indi‐ vidualisierungsthese entstand als Kritik an der Säkularisierungsthese. Die Individualisierungsthese wird mit verschiedenen Ausrichtungen und Schwerpunkten von unterschiedlichen Religionssoziologen besonders (aber nicht ausschließlich) mit Blick auf westliche Industrienationen vertreten. Beispielhaft seien hier einige Autoren genannt: Bellah et al. prägen in ihrer 58 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="59"?> ursprünglich 1985 publizierten Studie Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life den Begriff „Sheilaism“ als Synonym für Individualisierung und religiösen Eklektizismus, also die individuelle Neuzusammensetzung unterschiedlichster religiöser Glaubensüberzeugun‐ gen und Praktiken. Er geht zurück auf eine Interviewpartnerin namens Sheila, die ihren persönlichen Glauben folgendermaßen definiert: „I believe in God. I’m not a religious fanatic. I can’t remember the last time I went to church. My faith has carried me a long way. It’s Sheilaism. Just my own little voice…It’s just try to love yourself and be gentle with yourself “ (1985, 221). Die Autoren arbeiten in dem Band verschiedene Dimensionen von Individualismus in der amerikanischen Gesellschaft der Moderne heraus, darunter auch die religiöse. Die britische Soziologin Grace Davie prägte in ihrer Studie Religion in Britain Since 1945 (1994) den Ausdruck „believing without belonging“, um das zentrale Forschungsergebnis zu‐ sammenzufassen, dass vielen Briten sich nach wie vor als religiös bezeich‐ nen, auch wenn sie nur noch selten oder gar nicht mehr in die Kirche gehen. Die deutschen Soziologen Winfried Gebhardt, Martin Engelbrecht und Christoph Bochinger untersuchen in ihrer Studie Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion - Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur (2005) die „Selbstermächtigung religiöser Subjekte“, die die Kontrolle seitens institutionalisierter Religion über ihren persönli‐ chen Glauben ablehnen und als „spirituelle Wanderer“ von einer Vielzahl religiöser und spiritueller Formen ausgehen, die jeder Person gleichermaßen zugänglich sind. Ein wichtiger Beitrag dieser Studie ist die Erkenntnis, dass sich individualisierte und institutionalisierte Religion nicht ausschließen, sondern durchaus miteinander vereinbar sind. Wie die Säkularisierungsthese wird auch die Individualisierungsbzw. Privatisierungsthese teilweise kritisch rezipiert. Der spanische Religions‐ soziologe José Casanova widerspricht Luckmanns These religiöser Privati‐ sierung in dem Werk Public Religions in the Modern World (1994), einer vergleichenden Analyse von Religiosität in Spanien, Polen, Brasilien und den USA. Casanova kommt zu dem Schluss, dass moderne Gesellschaften sich vielmehr durch öffentliche Religion auszeichnen, die ein wichti‐ ger Motor zivilgesellschaftlichen Engagements auf der Mesoebene ist. Er argumentiert, dass Europa einen Sonderfall darstellt, der im Paradigma der Individualisierungsthese fälschlicherweise als global gültig aufgefasst wird. Darüber hinaus werde Religion in diesem Paradigma oftmals zu diffus definiert; wenn Religion „unsichtbar“ ist, sei ihre empirische Beobachtung 2.2 Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen 59 <?page no="60"?> schwierig bis fast unmöglich, da man ausschließlich auf die Aussagen der Betroffenen zurückgeworfen sei. Diskussionsfrage | Trifft die These religiöser Privatisierung oder die These öffentlicher Religion eher auf Deutschland zu? Was sind Beispiele für privatisierte und öffentliche Religion in Deutschland? Wo die modernisierungstheoretische Auslegung der Säkularisierungsthese vom definitiven Verschwinden von Religion in der Moderne ausgeht (und sich somit analytisch die mögliche Einsicht verbaut, dass Religion in einem konstitutiven Wechselverhältnis mit der Moderne steht; → Kapitel 2.2.1), ist zur Individualisierungsthese kritisch anzumerken, dass sie von Religion als anthropologischer Konstante ausgeht, womit sie sich analytisch der möglichen Erkenntnis beraubt, dass Religion in der Moderne tatsächlich weniger wichtig wird - aber auch, dass institutionalisierte Religion in weiten Teilen der Welt weiterhin eine große Anhängerschaft genießt. Ferner wird Individualisierung zu einem quasi überdominanten Paradigma, das andere mögliche Quellen der Entscheidungskraft (z. B. Sozialisation und demogra‐ fischen Hintergrund) ignoriert. Zuletzt entstehen durch den qualitativen Fokus auf die Mikroebene blinde Flecken auf der Meso- und Makroebene, und größere gesellschaftliche Zusammenhänge finden nicht die notwendige Berücksichtigung (zur Kritik s. Pickel 2011). Mit dieser kurzen Einführung in die zentralen religionssoziologischen Paradigmen der Säkularisierung und Individualisierung bzw. Privatisierung sind grundsätzliche Perspektiven und Prämissen der Disziplin skizziert, die zum Verständnis der in diesem Lehrbuch erläuterten Ansätze hilfreich sind. Im folgenden Teilkapitel wenden wir uns der qualitativen Sozialforschung in der Religionswissenschaft zu. 2.3 Qualitative Forschungsmethoden Dieser Abschnitt bietet eine knappe Einführung in ausgewählte qualita‐ tiv-empirische Forschungsmethoden der Religionswissenschaft. Damit sind vor allem Methoden gemeint, die in der Religionsanthropologie, Religi‐ onssoziologie und Religionspsychologie angewendet werden. Ziel ist es, Studierende der Ökonomie an qualitative Datenerhebung und -auswertung heranzuführen, um nicht zuletzt den methodologischen Fokus der Religions‐ 60 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="61"?> ökonomie zu erweitern, die bislang stark auf quantitative Datenerhebungen (→ Kapitel 2.4 und 6.1) sowie auf ökonomischer Modellierung (→ Kapitel 3 und 5.2) beruht. Im Folgenden werden Interviews und Beobachtung als die wichtigsten qualitativen Methoden der Datenerhebung vorgestellt (→ Kapitel 2.3.2). Die Grounded Theory-Methodologie und die Sequenzanalyse der Objektiven Hermeneutik, die nicht nur für Texte, sondern auch für Bilder weiterentwi‐ ckelt wurde, werden als zwei zentrale Methoden der Datenauswertung (→ Kapitel 2.3.3) erläutert. Das Zusammenspiel beider Vorgehensweisen, der Datenerhebung und der Datenauswertung, bildet den Kern der qua‐ litativ-empirischen Religionsforschung. Wir beginnen allerdings mit der Konzeption qualitativer Forschungsprojekte. 2.3.1 Forschungsdesign Die Konzeption oder Vorbereitung von Forschungsprojekten wird auch Forschungsdesign genannt. Das Forschungsdesign beinhaltet neben der thematischen Eingrenzung und Benennung der konkreten Leitfragen eines Projekts den gesamten Aufbau eines Vorhabens und das Zusammenspiel seiner Teile. Darunter fällt die wissenstheoretische Rahmung und damit zusammenhängende Vorgehensweise, die Abgrenzung des Forschungsfelds, die Begründung der Kombination bestimmter Erhebungs- und Auswer‐ tungsmethoden, die Wahl eines Formats zur Ergebnissicherung sowie die bewusste Reflexion der eigenen Rolle als Forscher im gesamten Prozess. Teil des Forschungsdesigns ist es, das Erkenntnisinteresse eines Pro‐ jektes abzustecken, um das Vorhaben thematisch einzugrenzen. Dies ist von entscheidender Wichtigkeit, da Forschungsprojekte, die zu breit oder unpräzise gefasst sind, meist nicht erfolgreich durchgeführt werden können. Eine klare und erreichbare Zielsetzung ist also gefragt, die sowohl inhaltliche Fokussierung ermöglicht, die für einen soliden Beitrag zu wissenschaftlichen Diskursen notwendig ist, als auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen des bzw. der Forschenden angemessen einplant. Damit einher geht eine klar formulierte Leitfrage und eine knappe Liste von Forschungsfragen, die in Form eines roten Fadens im Laufe des Forschungsprozesses der Orientierung dienen. Die Forschungsfragen sind dabei nicht in Stein gemeißelt; so wichtig ihre frühzeitige Formulierung ist, so notwendig ist es oftmals auch, sie im Laufe des Prozesses anzupassen. Wenn die Datenerhebung und -auswertung z. B. andere als die erhofften 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 61 <?page no="62"?> Ergebnisse liefert oder unvorhergesehene Ereignisse im Forschungsablauf eintreten - bestimmte Interviewpartner stehen nicht zur Verfügung, eine Forschungsreise kann nicht wie geplant durchgeführt werden, usw. -, muss die Fragestellung angepasst und u. U. auch das gesamte Projekt umstruktu‐ riert werden. Und oft kommen während der Forschung neue Fragen auf, deren Beantwortung möglicherweise wichtiger ist als die Beantwortung der ursprünglichen Fragen. Die Eingrenzung des Forschungsfeldes ist ein weiterer wichtiger Bestandteil des Forschungsdesigns und dient ebenfalls zur inhaltlichen Fokussierung und zum sinnvollen Einsatz vorhandener Ressourcen. Was soll untersucht werden, was nicht? Mit welchen Methoden sollen Daten erho‐ ben, mit welchen sollen sie ausgewertet werden (→ Kapitel 2.3.2 und 2.3.3) - und warum ist die Wahl dieser Methoden(kombination) sinnvoll? Welche theoretischen Ansätze und Konzepte sollen zur Erläuterung zugrunde gelegt werden? In welchem Verhältnis stehen Theorie und Methode? Die Fragen hängen eng mit der Wahl deduktiver, induktiver und/ oder abduktiver Vorgehensweisen (→ Kapitel 2.1.2) zusammen, da z. B. die theoretische Grundlage bei der Deduktion eine wesentlich größere Rolle einnimmt als bei der Induktion. Der Sozial- und Bildungsforscher Uwe Flick, der eine Vielzahl an Lehr- und Handbüchern zu qualitativer Sozialforschung veröffentlicht hat, unter‐ scheidet zwischen fünf grundlegenden Basisdesigns (2015): Fallstudien, die einen bestimmten Fall beschreiben oder rekonstruieren, um ihn genau zu untersuchen; Vergleichsstudien, die mehrere Fälle heranziehen, um Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und Unterschiede zu kontrastieren; retrospektive Studien, die insbesondere in der Biografieforschung zum Tragen kommen und rückblickend Prozesse und Ereignisse analysieren; Momentaufnahmen als Zustands- und Prozessanalysen zum Zeitpunkt der Forschung; und Längsschnittstudien, die Prozesse über einen länge‐ ren Zeitraum hinweg durch wiederholte Erhebungen untersuchen. In der qualitativ-empirischen Religionsforschung wird vor allem mit Fall- und Vergleichsstudien, teils auch mit retrospektiven Studien und Momentauf‐ nahmen gearbeitet. Die Wahl eines Basisdesigns erleichtert die Forschungs‐ vorbereitung insofern, als dass damit wichtige Entscheidungen bezüglich der Zielsetzung und Eingrenzung getroffen werden. Zuletzt soll die Reflexion der eigenen Rolle als Forscher und die entsprechende Integration in den Gesamtprozess in der Projektkonzeption nicht fehlen. Jeder Einzelne bringt bestimmte Voraussetzungen mit sich, 62 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="63"?> die den Forschungsprozess auf unterschiedliche Weise beeinflussen können. Gehe ich verhältnismäßig unvoreingenommen ins Feld oder bringe ich be‐ stimmte Wertungen, Erwartungen oder gar Vorurteile (ob positive oder ne‐ gative) mit? Wie wirken sich demografische und biografische Faktoren wie mein Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund und Milieu möglicherweise auf den Forschungsprozess aus? Wird dadurch der Zugang zu Personen und Informationen erleichtert oder erschwert? Inwiefern bin ich dadurch in meiner Perspektive auf meinen Forschungsgegenstand geprägt? Die Reflexion dieser und ähnlicher Fragen sollen nicht nur einem möglichst reibungslosen Forschungsprozess zuträglich sein, sondern vor allem auch dazu beitragen, normative Verzerrungen zu vermeiden und eine „neutrale“ Perspektive einzunehmen. Umgekehrt ist auch die Position der Interview‐ partner und weiterer beteiligter Individuen im Feld vor dem Hintergrund möglicher Asymmetrien sorgfältig zu reflektieren. Das Forschungsdesign ● Thematische Eingrenzung, Klärung des Erkenntnisinteresses ● Formulierung der Leit- und Forschungsfragen ● Eingrenzung des Forschungsfeldes und Planung des empirischen Vorgehens ● Reflexion der eigenen Rolle im Feld 2.3.2 Datenerhebung Ist ein Forschungsprojekt konzipiert und vorstrukturiert, wendet man sich der Erhebung und Auswertung von Daten zu. Die wichtigsten Erhebungs‐ methoden der qualitativ-empirischen Religionsforschung sind verschiedene Formen von Interviews und Beobachtungen. Übersicht: Verschiedene Interviewarten ● Leitfadeninterview (z. B. systematisierendes Experteninterview, theoriegenerierendes Experteninterview, Fokusinterview) ● Narratives Interview (z.-B. biografisches Interview) ● Ethnografisches Interview 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 63 <?page no="64"?> Grundsätzlich wird beim Interview zwischen dem Leitfadeninterview und dem narrativen Interview unterschieden. Das Leitfadeninterview wird durch den Leitfaden, eine vorher vorbereitete Liste an Fragen und Unter‐ fragen, strukturiert, das narrative Interview hingegen beginnt mit einer einleitenden Frage als Erzählaufforderung, die die befragte Person in aller Ausführlichkeit, ohne Unterbrechungen und ohne weitere Vorgaben beant‐ worten kann. Welche Interviewform man wählt, hängt von den Inhalten und Zielen der Studie ab. Geht es um Handlungsprozesse und Ereignisverkettun‐ gen bzw. wie die Befragten sie rückblickend strukturieren, so ist die narrative Form des Interviews zielführender als das Leitfadenformat, das durch seine thematischen Nachfragen die narrative Struktur der Befragten unterbricht (Küsters 2014). Geht es aber darum, Interviewpartner zu bestimmten The‐ matiken bzw. unterschiedlichen Aspekten eines Themas zu befragen, dann bietet der vorgefertigte Leitfaden eine Struktur des Gesprächs, die sicher‐ stellt, dass möglichst alle relevanten Punkte angesprochen werden und die befragte Person zu ihnen Stellung nehmen kann. In diesem Sinne beruht das Leitfadeninterview „auf der bewussten methodologischen Entscheidung, eine maximale Offenheit (die alle Möglichkeiten der Äußerung zulässt) aus Gründen des Forschungsinteresses oder der Forschungsprogrammatik einzuschränken“ (Helfferich 2014, 560). Der Leitfaden kann dabei sehr unterschiedlich ausgearbeitet sein, ob in Form von explizit formulierten Fragen und Unterfragen oder zentralen Stichworten, die mit Bitte um Erläuterung in einer bestimmten Reihenfolge genannt werden. Narrative Interviews nutzen „locker“ formulierte Leitfäden teilweise im Nachfrageteil des Interviews, in welchem nach Beendigung des Erzählflusses der befragten Person gezielt auf besonders wichtige Themen eingegangen wird. Eine besondere Form des Leitfadeninterviews ist das Experteninter‐ view, in welchem es um besonderes Wissen geht, das die befragte Person aufgrund der Ausübung einer bestimmten Rolle oder auch nichtprofessio‐ neller, eingehender Erfahrung in einem bestimmten Themenbereich hat. In diesem Sinne gilt nicht nur berufliches Wissen, z. B. zu institutionellen Abläufen oder spezifischen Themenbereichen, sondern auch informelle Erfahrung als Expertise. Das Experteninterview kommt typischerweise zum Einsatz, wenn das Forschungsprojekt auf das Zusammentragen und Analysieren schwer zugänglicher Informationen ausgerichtet ist und es weniger um die persönlichen Befindlichkeiten und Präferenzen der Be‐ fragten geht. Hier wird ferner zwischen dem systematisierenden und theoriegenerierenden Experteninterview unterschieden; ersteres trägt 64 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="65"?> Informationen systematisch, aber ohne weitere Reflexion zusammen, letz‐ teres rekonstruiert das Wissen und seine Einbettung im Feld, d. h., das Wissen selbst wird zum Gegenstand der Analyse (Pickel und Sammet 2014). Eine weitere Unterform des Leitfadeninterviews ist das Fokusinterview, das sowohl mit Einzelpersonen als auch in Gruppen durchgeführt werden kann. Das Interview wird typischerweise mit der Vorgabe eines Problems oder Dilemmas als „Stimulussituation“ (Helfferich 2014, 569) eingeleitet; die Befragten sollen sich durch das subjektive Erleben dieses Stimulus in die Situation hineinversetzen können, um das Problem zu diskutieren und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Das Fokusinterview ist thematisch also sehr eingeschränkt, wobei die Befragten in ihren Antworten trotz der Begrenzung so wenig wie möglich beeinflusst werden sollen. Die Regel der Nichtbeeinflussung gilt selbstverständlich für alle Formen des Interviews; Ziel ist es, die Befragten in ihren Antworten möglichst nicht zu lenken, also keine suggestiven Fragen zu stellen. Suggestive Fragen regen durch ihre Wortwahl und Formulierung zu bestimmten Antworten an, z. B., wenn sie einleitend mit dem Halbsatz „Denken Sie nicht auch, dass…? “ beginnen. Dadurch wird den Befragten signalisiert, dass sie auf eine gewisse Weise antworten sollten, in diesem Fall bejahend. Wenn man dieselbe Frage offener formuliert mit „Was denken Sie über…“ bzw. „Was ist Ihre Meinung zu…“ einleitet, so wird den Befragten mehr Spielraum gegeben und die Antworten fallen tendenziell nicht verzerrt aus. Dass Befragte ein Stück weit stets sozial erwünscht antworten, d. h., ihre Antworten so formulieren, dass sie eher auf Zustimmung als auf Abneigung stoßen, ist ein bekanntes Problem der empirischen Sozialforschung (z. B. Reinecke 1991). Durch nichtsuggestive, neutral formulierte Fragen kann dem entgegengewirkt werden, um aussagekräftige Antworten und damit solide Daten zu erhalten. Diskussionsfrage | Welche Strategien über das Formulieren nichtsug‐ gestiver Fragen hinaus fallen Ihnen ein, um im Interview das Problem der sozialen Erwünschtheit zu reduzieren? Denken Sie beim Diskutie‐ ren auch an den größeren Interviewkontext. Neben der sorgfältigen Vorbereitung der Interviewfragen ist die Ausgestal‐ tung der eigentlichen Interviewsituation entscheidend für den Erfolg der Datenerhebung. Die befragte Person sollte sich möglichst wohlfühlen; das gelingt einerseits z. B. dadurch, dass sie einen geeigneten Treffpunkt 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 65 <?page no="66"?> aussucht. Andererseits sollte sie als Expertin (unabhängig von der Art des Interviews) verstanden werden und der Forscher sich selbst als Lernender in dieser Situation auffassen. Dadurch wird eine respektvolle, anregende Inter‐ viewsituation geschaffen, die einem positiven Gesprächsverlauf zuträglich ist. Wichtig ist zu Beginn eines jeden Interviews, die Erlaubnis der Befragten zur Aufzeichnung des Gesprächs einzuholen. Die Audio- oder Videoauf‐ zeichnung des Interviews sind für die anschließende Transkription - die wörtliche Niederschrift des Gesprächs - notwendig, da dieser Text die Grundlage der Auswertung (→ Kapitel 2.3.3) darstellt (zu Transkription s. Fuß und Karbach 2019). Ein weiteres wichtiges Instrument der Datenerhebung in der qualita‐ tiv-empirischen Religionsforschung ist die wissenschaftliche Beobach‐ tung. Durch sie gelangt man an andere Einsichten als durch Interviews, vor allem an unreflektierte, unbeabsichtigte oder unbewusste Handlungsabläufe und Zusammenhänge, die in individuellem Verhalten sowie sozialer Inter‐ aktion offenkundig werden. Erläuterung-| Verschiedene Beobachtungsformen ● offene bzw. verdeckte Beobachtung, bei der sich der Forscher als solcher zu erkennen gibt oder eben nicht ● nichtteilnehmende bzw. teilnehmende Beobachtung, bei der der Forscher sich passiv bzw. aktiv am Geschehen beteiligt ● systematische bzw. unsystematische Beobachtung, die ent‐ sprechend stärker oder schwächer strukturiert ist ● natürliche bzw. künstliche Beobachtung, die also entweder in einem natürlichen Umfeld oder in einer künstlich herbeigeführten Situation (z.-B. einem Labor) stattfindet ● Selbstbzw. Fremdbeobachtung, also der Beobachtung der eigenen Person oder anderer am Geschehen Beteiligter (s. Thierbach und Petschik 2014) Die Art und Dauer einer Beobachtung variieren (wie die Wahl unter‐ schiedlicher Interviewformen) je nach Fragestellung und Zielsetzung eines Forschungsprojektes. Wenn eine Organisationssoziologin sich z. B. für die bürokratischen Abläufe und internen Entscheidungsprozesse in einer 66 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="67"?> religiösen Organisation interessiert, ist eine offene, nichtteilnehmende, systematische, natürliche Fremdbeobachtung denkbar, in deren Rahmen sie einer Reihe zeitlich begrenzter interner Meetings und Besprechungen der Organisationsmitarbeiter beiwohnt. Wenn hingegen eine Ethnologin im Rahmen ihrer Dissertation ein Jahr lang Feldforschung im laotischen Hochland in Südostasien macht und bei der ethnischen Minderheit der Hmong lebt, ist dies eine offene, teilnehmende, unsystematische, natürliche Fremdbeobachtung, in deren Rahmen sie an allen möglichen Abläufen und Ritualen im Dorf und dessen Großfamilien teilnimmt. Viele weitere Kombinationen sind denkbar. Jede Form der Beobachtung bringt Herausforderungen mit sich. Bei offenen, teilnehmenden Beobachtungen stellt sich die Frage, inwiefern die Anwesenheit des Beobachters den Ablauf der Ereignisse beeinflusst und die Ergebnisse somit verzerrt. Bei der verdeckten Beobachtung stellen sich teils forschungsethische Fragen, z. B. inwiefern die Beteiligten ein Recht darauf haben zu wissen, dass sie beobachtet werden. Bei systematischen Beobachtungen droht eine Verengung der Perspektive des Beobachters durch die vorherige Festlegung auf bestimmte Aspekte; bei der unsyste‐ matischen Beobachtung wiederum ist das vollständige Auffassen alles Geschehenden wegen der enormen Anzahl an Aspekten nicht möglich. Bei der Selbstbeobachtung stellt sich die grundsätzliche Frage, inwiefern die eigene Perspektive auf sich selbst nicht von vorneherein verzerrt ist und vieles mehr. Diese Problematiken in Zusammenhang mit verschiedenen Beobach‐ tungsformen gilt es zu reflektieren und wo möglich zu vermeiden, ganz wie suggestive Fragen bei Interviews. Genau wie das Problem der sozialen Er‐ wünschtheit bei Interviewantworten werden die hier skizzierten Probleme jedoch nicht gelöst werden; stattdessen muss man das für das eigene For‐ schungsprojekt am besten geeignete Beobachtungsformat identifizieren und die damit einhergehenden Einschränkungen und Begrenzungen sowie die Vorteile offen reflektieren. Wie bei Interviews auch sollte der respektvolle Umgang auf Augenhöhe mit allen an der Beobachtungssituation Beteiligten selbstverständlich sein. Beobachtungen ermöglichen den Einsatz aller fünf Sinne. Oftmals kon‐ zentriert man sich auf das, was man sehen und hören kann, aber auch Gerüche, Geräusche, Eindrücke der räumlichen sowie zwischenmenschli‐ chen Atmosphäre sowie der Einbezug von Gegenständen und ähnlichem spielen in die Beobachtung hinein. Aus diesem Grund ist es ratsam, bei aller 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 67 <?page no="68"?> Offenheit eine Forschungsfrage im Hinterkopf zu haben, die Orientierung inmitten der Vielzahl von gleichzeitig stattfindenden Ereignissen in der Beobachtungssituation bietet. So fällt die Fokussierung mitunter leichter. Wenn die Forschungsfrage z. B. nach der Durchführung eines religiösen Rituals fragt, muss der Forscher die Aufmerksamkeit breit streuen, um möglichst alle Aktivitäten, die in Zusammenhang mit dem Ritual stehen, zu erfassen. Andererseits ist dadurch klar, dass profane Aktivitäten wahr‐ scheinlich nicht unmittelbar relevant zur Beantwortung der Fragestellung sind (was nicht bedeutet, dass ihnen gar keine Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte). Wenn möglich, macht man bereits während der Beobachtungssituation kurze Notizen, die später als Gedächtnisstütze fungieren. Unmittelbar nach der konkreten Beobachtungssituation sollte ein möglichst detailliertes Beobachtungsprotokoll angefertigt werden, in dem alle Beobachtungen und damit zusammenhängenden Gedanken festgehalten werden. Je länger man mit der Protokollierung wartet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, wichtige Dinge zu vergessen. Thierbach und Petschick (2014) geben als Faustregel an, dass das Protokollieren mindestens so lange wie die Beob‐ achtung selbst dauern sollte, was für zeitliche begrenzte Beobachtungen sicherlich sinnvoll ist (die Ethnologin aus unserem obigen Beispiel muss mit weniger Zeit auskommen, da sie über den Tag hinweg eine Vielzahl an Beobachtungen durchführt). Dabei sollte man sich primär auf das tatsächlich Beobachtete konzentrieren - was ist passiert, was wurde gesagt, usw. - und nur in zweiter Linie auf eigene Ideen, Interpretationen und Gefühle in der Beobachtungssituation eingehen. Der dabei entstehende Text - sowohl die in der Beobachtungssituation festgehaltenen Notizen als auch das hinterher angefertigte Protokoll - bildet als subjektive Wiedergabe der erlebten Situation die Grundlage der Datenauswertung (ähnlich wie das Interviewtranskript). Im nächsten Abschnitt wenden wir uns der Auswertung von Beobachtungsprotokollen, Interviewtranskripten und anderen Datensätzen in Text- und Bildform zu. Aufgabe | Führen Sie eine eigene kurze Beobachtung durch. Überlegen Sie sich dazu ein Setting, dass sich aus forschungspragmatischen Gründen anbietet, d. h., zu dem Sie problemlos Zugang haben, und formulieren Sie eine Leitfrage für die Beobachtung. Beobachten Sie 15-30 Minuten und machen dabei wenn möglich Kurznotizen, die 68 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="69"?> ihre Leitfrage helfen zu beantworten. Schreiben Sie anschließend ein ausführliches Beobachtungsprotokoll. 2.3.3 Datenauswertung Liegen die Daten nach der Erhebungsphase vor - klassischerweise in Textform - wendet man sich der Frage der Auswertung zu. Dies ist ein entscheidender Schritt in qualitativ-empirischer Forschung, da das von den Interviewpartnern Gesagte, das vom Forscher Beobachtete, alle im Feld vorgefundenen Informationen von der Objektsprache auf die Me‐ tasprache transferiert werden müssen (→ Kapitel 2.1.1). Mit anderen Worten werden die Aussagen und Informationen im Feld nicht „für bare Münze“ genommen, sondern vor dem Hintergrund der Fragestellung und des Erkenntnisinteresses des Projektes analysiert und somit wissenschaft‐ lich abstrahiert, um die Ergebnisse im Sinne der Güte gültig, zuverlässig, standardisiert und reproduzierbar zu erarbeiten (→ Kapitel 2.3.1). Ein einfaches Beispiel für die Abstraktion von Objektauf Metasprache wäre ein Forschungsprojekt, das sich mit dem aktuellen Wandel einer bestimmten Religionsgemeinschaft beschäftigt. Wenn Mitglieder der Gemeinschaft in Interviews beteuern, dass sie sich innovativ verändert und auf dynamische Art neue Elemente aufnimmt (Objektebene), bedeutet das nicht unbedingt, dass Wandel auf diese Weise tatsächlich geschieht. Die Forscherin muss die Daten gemäß wissenschaftlicher Standards auswerten (Metaebene) um zu zeigen, inwiefern und warum Wandel stattfindet und es sich nicht z. B. um Wunschdenken oder Optimismus seitens der Beteiligten handelt. Es gibt eine Vielzahl an Methoden und Methodologien der Datenauswer‐ tung, in die auf den folgenden Seiten nur ein kleiner Einblick gegeben werden kann. Dabei ist es wichtig im Hinterkopf zu halten, dass es nicht die eine „richtige“ Auswertungsmethode gibt, sondern die Wahl derselben vom Forschungsinteresse und nicht zuletzt dem Datensatz selbst abhängt. Wir konzentrieren uns im Folgenden beispielhaft auf zwei ganz unterschiedlich vorgehende Ansätze, die zu jeweils anderen Zwecken eingesetzt werden können: Die Grounded Theory-Methodologie und die Sequenzanalyse der Objektiven Hermeneutik. Interessierte Leser sind an diverse weiterführende Literatur in Form von Hand- und Lehrbüchern zu Auswertungsmethoden verwiesen, darunter zur Qualitativen Inhaltsanalyse, Narrationsanalyse, 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 69 <?page no="70"?> Diskursanalyse, der dokumentarischen Methode und vielem mehr (z. B. Flick et al. 2015; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014; Baur und Blasius 2014). Die Grounded Theory-Methodologie (GTM) wurde von den amerika‐ nischen Soziologien Barney Glaser und Amseln Strauss seit den 1960er-Jah‐ ren entwickelt und erstmals im Band The Discovery of Grounded Theory (1967) vorgestellt. Seitdem ist die Methodologie von Glaser, Strauss und einer neuen Generation Wissenschaftler, darunter der amerikanischen Soziologin Kathy Charmaz, in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt worden. Generell bewegt sich die GTM zwischen induktivem und abduktivem Vor‐ gehen (→ Kapitel 2.1.2), d. h., sie erschließt neues empirisches Material und generiert aus ihm heraus neue theoretische Ansätze (grounded im Sinne von „geerdet“ oder im Material verankert). Die Daten werden auf unterschiedliche Weise gesammelt: durch Beobachtungen, informelle Ge‐ spräche, strukturierte Einzel- und Gruppeninterviews, Umfragen, in Form diverser Dokumente, usw. Dabei geschehen die Datenerhebung und die Datenauswertung gleichzeitig; nach Durchführung eines Interviews oder einer Beobachtung wird zeitnah das Transkript bzw. Protokoll angefertigt und die Auswertung durch vergleichendes Kodieren vorgenommen. Beim Kodieren werden unterschiedliche Segmente des Textes - einzelne Wörter bis hin zu mehreren Zeilen - mit Codes versehen, welche das Segment als Label („Etikett“) zusammenfassen und einordnen. Dies geschieht verglei‐ chend und vor dem Hintergrund der Fragestellung, d. h. mit Blick auf weitere Teile des Materials und dem Erkenntnisinteresse des Projekts. Das Kodieren erfolgt in mindestens zwei, oft auch drei bis vier Schritten (Charmaz 2006): offenes, fokussiertes (oder selektives), axiales und theore‐ tisches Kodieren. Das offene Kodieren bleibt in seiner Etikettierung der Textsegmente noch nah am Text; es geht hier um die Interpretation dessen, was im Material passiert anhand kurzer, präziser Codes. Die Segmente und daraus entstehenden Codes werden fortwährend mit anderen Segmenten und Codes verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede über Da‐ tensätze (also einzelne Interviewtranskripte, Beobachtungsprotokolle oder Dokumente) hinaus zu entdecken. Beim fokussierten bzw. selektivem Kodieren werden die häufigsten bzw. bedeutungsvollsten Codes - diejenigen, die das Material am sinnvolls‐ ten und analytisch ertragreichsten zusammenfassen - identifiziert, um das bereits kodierte und das neue Material weiter zu bearbeiten mit dem Ziel, übergeordnete Kategorien abzuleiten, die die Forschungsfrage beantwor‐ ten können. Es geht also um die Verfeinerung und Präzisierung der Analyse 70 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="71"?> durch besonders ertragreiche Codes einerseits und die Entwicklung einer Theorie aus dem Material heraus durch die Kategorienbildung andererseits. Dabei werden die Codes weiter vom Material abstrahiert als vorher, d. h. noch genereller gefasst, und die Kategorien mit Eigenschaften unterfüttert, die sich aus den Codes ableiten. Die Kategorien spiegeln idealerweise die „Beobachtungen“ des Forschers am Material hinsichtlich der Forschungs‐ frage(n) wider, stellen also Antworten auf sie dar. Beim axialen Kodieren werden die Eigenschaften und Dimensionen der Kategorien weiter ausgearbeitet und mit denen der anderen Kategorien abgeglichen, um das Material weiter zu ordnen und ggf. anders zusam‐ menzufassen. Es kann z. B. festgestellt werden, dass die Eigenschaften einer Kategorie den Eigenschaften einer oder mehrerer anderer Kategorien ähneln, sodass sie aufgelöst und ihre Eigenschaften entsprechend anderen zugeordnet werden. Der Schritt des theoretischen Kodierens schließlich löst sich vom Material und bezieht existierende Theorien in Form von eigenen Codes in die Analyse ein. Theoretische Codes sind also nicht aus dem Material abgeleitet, sondern werden von außen hinzugezogen, um die Aussagekraft der aus den Daten generierten grounded Theorie zu verstärken und ihren Anschluss an bereits bestehende Theorien und Ansätze zu gewährleisten. Die Gleichzeitigkeit der Datenerhebung und -auswertung in der GTM ermöglicht das theoretische Sampling im Sinne einer fortlaufenden An‐ passung des Materials und der Codes bzw. Kategorien. Sowohl die Daten‐ erhebung als auch die Auswertung können im Forschungsprozess flexibel verändert bzw. präzisiert werden. Stellt eine Forscherin z. B. fest, dass im Rahmen ihrer Studie vor allem Interviews mit einer bestimmten Zielgruppe hilfreich sind, kann sie die Datenerhebung auf diese Gruppe fokussieren. Stellt sie beim Kodieren und Kategorisieren fest, dass eine bestimmte Dimension des Forschungsthemas nicht angesprochen wird, passt sie den Leitfaden für die Interviews an. Durch das gleichzeitige Auswerten wird die Erhebung also strukturiert und mit jedem neuen Datensatz die Codes bzw. Kategorien verfeinert, was der Forscherin gleichzeitig Orientierung bietet und Überforderung vermeidet. Ein wichtiger begleitender Schritt in diesem Prozess ist das Verfassen von Memos als konzeptuelle, analytische und theoretische Notizen, die die Reflektion des Erarbeiteten fördern sollen. Diese können sich auf bislang übersehene Verbindungen mit Material, auf Ungenauigkeiten in Codes und Kategorien, auf allgemeinere Ideen und 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 71 <?page no="72"?> Frage sowie auf Bezüge zur theoretischen Literatur und vieles mehr beziehen (Thornberg und Charmaz 2014). Der Datenerhebungs- und Datenauswertungsprozess ist in der GTM abgeschlossen, wenn theoretische Sättigung erreicht ist, wenn also neues Material keine neuen Erkenntnisse im Sinne von zusätzlichen Codes oder Kategorieeigenschaften liefert. Die Anwendung der GTM bietet sich ins‐ besondere für Forschungsprojekte an, die das Zusammentragen von Infor‐ mationen über bisher wenig beforschte empirische Zusammenhänge als Anliegen haben. Die Grounded Theory-Methodologie (GTM) Im Rahmen der GTM geschehen Datenerhebung und -auswertung gleichzeitig. Interviewtranskripte, Beobachtungsprotokolle etc. werden in einem dreischrittigen Verfahren kodiert, um Kategorien abzuleiten und auszuarbeiten. In einem vierten Kodierschritt können aus der Theorie abgeleitet Codes „extern“ hinzugezogen werden, um die Aussa‐ gekraft der Analyse zu vergrößern. Durch theoretisches Sampling wird der Analyseprozess laufend angepasst und verfeinert. Das Verfassen von Memos ist in diesem komplexen Prozess hilfreich. Ist theoretische Sättigung erreicht, sind Erhebung und Auswertung beendet. Das zweite Verfahren zur Datenauswertung, das in diesem Abschnitt ge‐ nauer erläutert wird, ist die Sequenzanalyse in der Objektiven Hermeneu‐ tik. Die Objektive Hermeneutik ist ein rekonstruktives Verfahren der Text‐ interpretation, das auf die Sinnrekonstruktion von in Textform vorliegender Kommunikation abzielt. Es wurde seit den 1970er-Jahren von dem deutschen Soziologen Ulrich Oevermann entwickelt und seitdem unterschiedlich an‐ gewandt und weiterentwickelt, u. a. auch auf Bilder (Oevermann et al. 1979; Betz und Kirchner 2016; Radermacher 2020). Das Adjektiv „objektiv“ bezieht sich dabei auf eine kontrollierte Vorgehensweise, die standardisiert und reproduzierbar ist. Die Sequenzanalyse zielt in diesem Sinne darauf ab, die latente Sinnstruktur zu rekonstruieren, die in einem Datensatz - einem Fall - vorhanden ist. Dabei geht die Methode davon aus, dass einem jeden Fall bestimmte, verdeckte (deswegen „latente“) Bedeutungsmuster zugrunde liegen, welche nur durch die analytische Auswertung aufgedeckt werden können, da sie von den Interviewpartnern nicht verbalisiert werden. 72 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="73"?> Die Sequenzanalyse basiert (wie die GTM auch) auf der Auswertung von Texten, die Protokolle genannt werden (z. B. Interviewtranskripte). Die eigentliche Analyse geschieht nicht primär durch den Forscher als Einzelperson, sondern in großen Teilen in einer Gruppe von mindestens drei Personen. Eine maximale Gruppengröße ist nicht vorgeschrieben, die Erfahrung zeigt jedoch, dass fünf Personen ein sinnvolles Maximum zum fokussierten Arbeiten ist. Dabei ist der Forscher der Einzige, der das Material in seiner Gänze kennt; er bereitet es für die Analyse vor, indem er einzelne Passagen vorab aussucht und so aufbereitet, dass die Gruppenmitglieder zu Beginn nur eine Sequenz, bestehend aus einem Wort oder wenigen Wörtern, sehen. Im Laufe der Analyse werden dann Schritt für Schritt weitere Sequenzen aufgedeckt, wobei die Analysegruppe jeweils alle mög‐ lichen Sinnzusammenhänge diskutiert. Dadurch, dass außer dem Forscher niemand weiß, was Thema oder Zielsetzung der Studie ist und um welches Material es sich bei der Passage handelt, ist niemand von sogenannten fallspezifischem Kontextwissen beeinflusst. Das Diskutieren der möglichen Sinnzusammenhänge als assoziative „Gedankenexperimente“ nennt man die Entwicklung von Lesarten. Verschiedene Lesarten werden gesammelt und mit jeder neuen Sequenz darauf geprüft, ob sie nach wie vor sinnhaft sind vor dem Hintergrund des entstehenden größeren Zusammenhangs. Man spricht hier von der „Anschlussfähigkeit“ unterschiedlicher Lesarten (Wernet 2014); stellt sich eine Lesart beim Aufdecken weiterer Sequenzen als nicht anschlussfähig heraus, so wird sie von der Analysegruppe als möglicher Schlüssel zur latenten Sinnstruktur des Falles verworfen. Hinter dieser Vorgehensweise verbirgt sich die Annahme, dass unter‐ schiedliche (und unterschiedlich lange) Sequenzen deswegen auch ohne Kontextwissen verständlich sind, da sie auf unbewussten sozialen Re‐ geln (d. h. der latenten Sinnstruktur) basieren, die in Kommunikation zum Ausdruck kommen. Da diese Regeln unbewusst sind und sich nur latent äußern, kann man auf der manifesten Ebene - auf der Ebene der Intention, der beabsichtigten Aussage der Interviewpartner - auf sie nicht zugreifen. Aus diesem Grund wird den Mitgliedern der Analysegruppe vorab das Thema, die Art des Materials und Informationen zu den Beteiligten nicht mitgeteilt: Statt von der manifesten Ebene, der Ebene des Gesagten, beeinflusst zu werden, sollen sie allgemeines Wissen einsetzen, um mögliche Sinnzusammenhänge zu identifizieren und durch das Aufdecken weiterer Sequenzen bestimmte Lesarten zu bestätigen und andere zu verwerfen. 2.3 Qualitative Forschungsmethoden 73 <?page no="74"?> Diskussionsfrage-| Inwiefern wird sichergestellt, dass die Mitglieder der Analysegruppe alle potenziellen Lesarten identifizieren? Diskutie‐ ren Sie, was die Voraussetzungen dafür sind, dass ihnen keine Lesarten „durch die Lappen“ gehen. Denken Sie dabei auch an die Zusammen‐ setzung der Gruppe. Die Bestätigung der Lesarten dient der Bildung der Fallstrukturhypothese und der Fallstrukturgeneralisierung. Die Fallstrukturhypothese ist die wissenschaftlich fundierte Vermutung darüber, welche Struktur dem vor‐ liegenden Fall zugrunde liegt. Anders gesagt: Wenn alle Kommunikation von unbewussten sozialen Regeln geprägt ist, welche Regeln prägen diesen speziellen Fall? Welche latente Sinnstruktur lässt sich identifizieren? Ist die Fallstrukturhypothese erstellt, so wird im nächsten Schritt der Analyse teilweise und kontrolliert Kontextwissen eingeführt, um die entwickelte Hypothese mit dem tatsächlichen Fall in Verbindung zu bringen. Das bedeu‐ tet, dass Informationen über den empirischen Fall in die Runde gegeben werden, aber auch Informationen zur wissenschaftlichen Einschätzung der empirischen Tatsachen. Dies dient dazu zu prüfen, ob die Hypothese auf den Fall passt. Ist dies der Fall, so wird die Hypothese am ganzen Material getestet. Passt sie durchgehend, so kann die Fallstrukturgeneralisierung verschriftlicht werden. Passt sie nicht, so muss aus einer alternativen Lesart, die von der Gruppe erarbeitet wurde, eine andere Hypothese generiert werden. Die Sequenzanalyse Die Sequenzanalyse zielt darauf ab, die latente Sinnstruktur eines vor‐ liegenden Textes zu rekonstruieren. Dafür wird in der Analysegruppe Sequenz für Sequenz vorgegangen, um Lesarten zu entwickeln, zu verfeinern und auszuschließen. Die Fallstrukturhypothese identifiziert die Struktur des im Material vorliegenden Falls und wird am gesamten Material getestet, um zur Fallstrukturgeneralisierung zu gelangen. Wie die Grounded Theory-Methodologie ist die Sequenzanalyse eine klein‐ teilige, zeitintensive Analyseform, die Geduld und Konzentration erfordert. Anders als die GTM hat sie den Vorteil, dass nicht große Mengen an Daten untersucht werden, sondern nur ausgewählt Passagen; da die Fallstruktur an verschiedenen Stellen des Materials gleichermaßen festgemacht werden 74 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="75"?> kann, sind auch kurze Passagen in diesem Sinne „repräsentativ“ für das ge‐ samte Protokoll. Dafür geht sie „tiefer“ in einzelne Stellen im Material als die GTM. Die Sequenzanalyse bietet sich insbesondere für Forschungsprojekte an, die an latenten Bedeutungsebenen empirischer Phänomene interessiert sind. Im folgenden Kapitel wenden wir uns der quantitativen Datenanalyse zu. 2.4 Quantitative Datenanalyse Die quantitative Datenanalyse hat grundsätzlich andere Ziele und Vorge‐ hensweisen als die qualitative Datenanalyse. Sie wird angewandt, um einen Überblick über größere demografische Einheiten zu gewinnen, z. B. über alle Angehörigen einer Universität, eines Bundeslandes, oder der Gesamt‐ bevölkerung eines Landes. Sie geht dabei in der Regel deduktiv vor, möchte bestehende Annahmen also verifizieren (bestätigen) oder falsifizieren (wi‐ derlegen). Die quantitative Datenanalyse kann in der Religionswissenschaft z. B. statistische Informationen zu Religionszugehörigkeit, Zeitinvestition in Religion oder dem Zusammenhang von Vertrauen und Geschlecht innerhalb einer religiösen Gemeinschaft erheben. Anders als die qualitative Religions‐ forschung geht sie größtenteils nicht induktiv oder abduktiv vor. In der quantitativen Datenanalyse arbeiten wir mit Variablen. Variablen sind Merkmale empirischer Daten. Man unterscheidet zwischen quantitati‐ ven und qualitativen Variablen: Quantitative Variablen sind auf einer Skala messbare Merkmale; demgegenüber sind qualitative Variablen nicht metrisch messbar. Bei einer Untersuchung der Hingabe zu Gott seitens Frauen im Vergleich zu Männern in einer muslimischen Gemeinde können wir eine quantitative Variable „Gebetszeit pro Tag“ definieren, die leicht in Stunden und Minuten gemessen werden kann. Dahingegen kann man den „Grad“ des Glaubens an Gott schwerer quantifizieren. Die Variable „Geschlecht“ kann man wiederum mit den Werten 0 für Mann und 1 für Frau repräsentieren. Da diese Werte jedoch nicht auf einer Skala stehen, d. h., 1 für Frau nicht mehr ist als 0 für Mann, ist die Variable Geschlecht eine qualitative kategoriale Variable und keine numerische. Die numerische Variable, z. B. die Gebetszeit pro Tag, kann in einer Umfrage in Intervallen abgefragt werden, z. B. 0-15 Min., 16-30 Min., 31-45 Min., 45-60 Min. und mehr als eine Stunde pro Tag. Bei den quantitativen Variablen unterscheidet man diskrete Variablen und stetige Variablen. Der Wert der stetigen 2.4 Quantitative Datenanalyse 75 <?page no="76"?> Variablen ändert sich kontinuierlich, so z. B. Ihre Zeitinvestition in den Kurs Religionsökonomie. Eine andere eventuell für Ihren Erfolg in diesem Kurs einschlägige Variable ist die Anzahl der religionsökonomischen Texte, die sie für den Kurs lesen. Der Wert dieser Variable ändert sich nicht stetig: Sie lesen einen Text, zwei Texte oder hoffentlich viel mehr. Eine weitere wichtige Unterscheidung bei den Variablen ist die Unter‐ scheidung zwischen abhängigen (zu erklärenden bzw. endogenen) und unabhängigen (erklärenden bzw. exogenen) Variablen. Die unabhängigen Variablen sind diejenigen, deren Wert nicht von dem Wert anderer Varia‐ blen innerhalb des Modells - und nur innerhalb des Modells - abhängig ist. Ein Modell ist dabei eine Abbildung der Realität durch Abstraktion und Vereinfachung (→ Kapitel 3.1). Der Wert der abhängigen Variablen hingegen hängt vom Wert anderer im Modell einbezogener Variablen ab. Möchte man z. B. das Wohlbefinden einer Gruppe von Menschen in Relation zu ihrer Gebetszeit feststellen, ist die Gebetszeit die unabhängige und das Wohlbefinden die abhängige Variable. Wenn man aber das Modell erweitert und das Einkommen und die Arbeitszeit mit einschließt, kann man die Gebetszeit als abhängig vom Einkommen und der Arbeitszeit betrachten und diese zwei letzteren Merkmale als unabhängige Variablen definieren. Die Messwerte, die im Rahmen einer Datenerhebung, einer Umfrage oder eines Experimentes erhoben werden, nennt man quantitative Daten. Die Gesamtheit aller Daten wird als Datensatz bezeichnet. Unabhängige und abhängige Variablen Eine unabhängige Variable, auch erklärende bzw. exogene Variable genannt, ist eine Variable, deren Wert nicht vom Wert anderer Variablen innerhalb des Modells abhängt. Eine abhängige Variable, also eine zu erklärende bzw. endogene Variable, ist eine Variable, deren Wert vom Wert anderer Variablen innerhalb des Modells abhängt. Korrelation bedeutet, dass zwischen zwei Variablen ein Zusammenhang besteht. Eine positive Korrelation zwischen Variable a und b bedeutet, dass der Wert der Variable a steigt, wenn der Wert der Variable b steigt, und umgekehrt! Eine negative Korrelation zwischen diesen Variablen bedeu‐ tet, dass der Wert der Variable a steigt, wenn der Wert der Variable b sinkt, und umgekehrt. Wichtig zu betonen ist, dass Korrelation von Kausalität zu unterscheiden ist. Kausalität bedeutet eine Ursache-Wirkung-Beziehung 76 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="77"?> zwischen zwei Variablen. Es kann zwischen zwei Variablen eine Korrelation bestehen, die aber keine kausale Beziehung sein muss. Übungsfrage | Worin besteht der Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation? Da es in der Regel aus Zeit- und Kostengründen nicht möglich ist in einer Vollerhebung Daten über alle Elemente einer Grundgesamtheit (z. B. der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland) zu erheben, werden in der sozialwissenschaftlichen Praxis repräsentative Stichproben (Teiler‐ hebungen) aus dieser Grundgesamtheit gezogen. Bei der Analyse der hierbei generierten Daten lassen sich zwei grundlegende Verfahrensformen unterscheiden: Die deskriptive Statistik beschränkt sich auf Aussagen über die befragten (oder beobachteten) Teilnehmenden. Möchte man jedoch anhand der Daten aus der Stichprobe Aussagen über die Grundgesamtheit treffen, wendet man Methoden der Inferenzstatistik an. Stellen Sie sich vor, dass wir in einer Stichprobe aus dem Ruhrgebiet im Jahr 2022 mit 1000 Teilnehmenden eine negative Korrelation zwischen Stundenlohn und Gebetszeit feststellen. Damit wir feststellen können, inwieweit diese Korre‐ lation für die Grundgesamtheit, das Ruhrgebiet im Jahr 2022, signifikant ist, müssen wir im Rahmen der Inferenzstatistik einen Signifikanztest (s. u.) durchführen. Dieser Test zeigt auf, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Aussage auch auf die Grundgesamtheit zutrifft. Die basalen statistischen Werte in der deskriptiven Statistik sind Häu‐ figkeit und Häufigkeitsverteilung, Mittelwert, Median, Modus, Minimum, Maximum, Standardabweichung und Korrelationskoeffizient. Im Weiteren gehen wir genauer auf sie ein. Die Häufigkeitsverteilung beschreibt, wie oft ein bestimmtes Merkmal in einer Stichprobe vorkommt. Stellen wir uns eine Stichprobe mit n = 226 Haushalten vor, die zu ihrer Zeitinvestition in Re‐ ligion befragt wurden. Die Häufigkeitsverteilung der religiösen Aktivitäten, die die Mitglieder eines Haushaltes wöchentlich durchschnittlich zu Hause oder in einer privaten Umgebung durchführen (Gebet, Meditation, weitere Rituale, Lektüre zu religiösen Themen, etc.) kann z. B. folgendermaßen aussehen: 2.4 Quantitative Datenanalyse 77 <?page no="78"?> Zeitinvestition absolute Häufigkeit relative Häufigkeit 0 107 47,3 < 1 Stunde 49 21,7 1-3 Stunden 38 16,8 4-5 Stunden 14 6,2 6-10 Stunden 13 5,8 11-15 Stunden 2 0,9 16-20 Stunden 2 0,9 21-30 Stunden 1 0,4 > 31 Stunden 0 0 Summe 226 100 % Tabelle 2.1: Beispielhafte Häufigkeitsverteilung von Zeitinvestition in Religion Der Mittelwert, oder das arithmetische Mittel, ist ein statistisches Maß, das einen Überblick über alle Werte vermittelt. Er lässt sich durch die Division der Summe aller Werte der Variable durch die Anzahl der Werte ermitteln: M = 1 n ∑ i = 1 n x i Eine andere statistische Kennzahl für den Überblick über alle Werte ist der Median. Der Median ist der in der Mitte liegende Wert einer nach der Größe sortierten Datenreihe. Bei der geraden Anzahl der Werte eines Datensatzes ergibt sich der Median durch den Mittelwert der zwei in der Mitte liegenden Werte. Ein weiteres Lagemaß der deskriptiven Statistik ist der Modus (oder auch Modalwert). Der Modus ist der Wert einer Variable, der in der Stichprobe am häufigsten vorkommt. Übungsfrage | Bei den Noten einer zehnköpfigen Gruppe der Teil‐ nehmenden im Seminar Religionsökonomie handelt es sich um den Datensatz (2; 1,7; 2,3; 1,3; 2,3; 1; 2,7; 1,3; 2,7; 3). Ermitteln Sie den Mittelwert, den Median und den Modus der Noten. 78 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="79"?> Bei einer Variable ist nicht nur wichtig, was ihr Mittelwert ist, sondern auch, wie die Werte um den Mittelwert verteilt sind. Bei den beiden folgenden Datenreihen (1,7; 2; 2,3) und (1, 1, 3, 3) ist der Mittelwert 2, dennoch liegt in der ersteren Datenreihe eine schwache Streuung (dispersion) vor, in der letzteren eine starke. Das Streuungsmaß kann mit verschiedenen statistischen Kennzahlen gemessen werden. Ein klassisches statistisches Maß, um die Streubreite der Daten um den Mittelwert zu zeigen, ist die Standardabweichung. Die Standardabweichung (standard deviation; SD) zeigt die durchschnittliche Entfernung aller Werte von deren Mittelwert. Je größer ihr Wert, desto stärker ist die Streuung des Datensatzes. Die Standardabweichung lässt sich mit der folgenden Formel berechnen, wobei M den Mittelwert, w i jeweils einen Wert und n die Anzahl der Werte repräsentieren: SD = ∑ i = 1 n x i − M 2 n Übung: Berechnen Sie die Standardabweichung für die drei obigen Datensätze. Es gibt weitere Streuungsmaße, die wir hier nicht diskutieren; sie werden durch Statistikprogramme per Computer errechnet und wir müssen es nicht selbst tun. Es ist jedoch sehr wichtig, eine klare Vorstellung über diese Werte zu haben, um ein geeignetes Streuungsmaß zur Repräsentation der Streuung der Daten wählen zu können. Bis jetzt haben wir die Verteilung der Werte einer einzigen Variable betrachtet. Man kann jedoch auch die Relation zwischen verschiedenen Variablen untersuchen. Wenn man z. B. die Werte zweier Variablen in Beziehung zueinander betrachtet, spricht man von der bivariaten Vertei‐ lung. Nehmen wir uns abermals das obige Beispiel der Zeitinvestition von Haushalten in Religion vor. Wir können die durchschnittliche wöchentliche Zeitinvestition der Haushalte in Religion z. B. in Beziehung zu ihrem Ein‐ kommen setzen und dabei hypothetisch feststellen, dass die Zeitinvestition sinkt, je mehr das Einkommen steigt. Um die Stärke und Richtung dieser Korrelation zu untersuchen, ziehen wir den Korrelationskoeffizienten heran. Der Korrelationskoeffizient hat einen Wert zwischen -1 und 1. Negative Werte kennzeichnen negative Korrelationen. Je höher der abso‐ 2.4 Quantitative Datenanalyse 79 <?page no="80"?> lute Wert des Korrelationskoeffizienten, desto stärker ist die Korrelation zwischen den beiden Variablen. Demzufolge steht 0 für die Abwesenheit eines Zusammenhangs. In der Sozialforschung generell und spezifisch in der Religionsökonomie kann man die Analyse kaum auf bivariate Verteilung begrenzen; Es ist oft notwendig, die Verteilung einer größeren Anzahl von Variablen gleichzeitig zu betrachten. Diese Herangehensweise nennt sich multivariate Analyse. Wir interessieren uns kaum für die Beobachtung von Verhältnissen innerhalb der Stichprobe, sondern möchten die Stichprobe dazu nutzen Phänomene in der Grundgesamtheit zu studieren. Zur Verallgemeinerung der Beobachtungen in der Stichprobe auf die Grundgesamtheit verwenden wir die Inferenzstatistik. Bei diesem verallgemeinernden Schritt muss geklärt werden, inwieweit der beobachtete Effekt in der Stichprobe für die Grundgesamtheit signifikant ist. Mit anderen Worten muss belegt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein beobachteter Effekt in der Stichprobe zufällig entstanden und in der Grundgesamtheit gar nicht vorhanden ist. Dafür verwendet man sogenannte Signifikanztests. Bei der oben genannten hypothetischen Korrelation stellt sich die Frage, ob die Beobachtung, dass mit steigendem Einkommen die Zeitinvestition eines Haushalts in Religion sinkt, für die Grundgesamtheit signifikant ist; wir müssen also einen Signifikanztest durchführen. Dieser zeigt, inwie‐ weit ein Zusammenhang zwischen Variablen besteht, der über den Zufall hinausreicht. Wir stellen dafür eine 0-Hypothese auf, die unserer Beob‐ achtung, der Alternativhypothese, widerspricht. Wenn unsere Alternativ‐ hypothese lautet, es bestehe eine Korrelation zwischen der Zeitinvestition der Haushalte und ihrem Einkommen, dann lautet die 0-Hypothese, dass in der Grundgesamtheit keine Korrelation besteht. Für die statistische Signifikanz ist das Signifikanzniveau zentral. Es bestimmt die größtakzeptierte Wahrscheinlichkeit der fälschlichen Ableh‐ nung der Nullhypothese; mit anderen Worten: Es zeigt, mit welcher Wahr‐ scheinlichkeit eine falsche Aussage mit der Alternativhypothese über die Grundgesamtheit getroffen wird. Liegt die Wahrscheinlichkeit unter dem Signifikanzniveau, sind die Ergebnisse statistisch signifikant und die Alter‐ nativhypothese kann angenommen werden; in unserem Beispiel bestünde also eine negative Korrelation zwischen Einkommen und Zeitinvestition in Religion in der Grundgesamtheit. Liegt sie hingegen darüber, sind die Ergebnisse statistisch nicht signifikant und die Alternativhypothese kann nicht angenommen werden; d. h., es bestünde keine Korrelation zwischen 80 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="81"?> den Variablen in der Grundgesamtheit. Diese Wahrscheinlichkeit wird mit Statistiksoftware berechnet; dennoch muss man in der Lage sein, die Ergebnisse richtig zu interpretieren. Ein praktischer Hinweis „In den Sozialwissenschaften wird meist rein konventionell eine Wahrscheinlichkeit von 5 % als Grenze zwischen „zufälligen“ und „überzufälligen“ Ereignissen betrachtet“ (Schnell, Hill und Esser 2005, 450). Die Interpretation des Signifikanztests Vorsicht! Der Signifikanztest beweist nicht die Existenz eines Effekts. Ferner sagt er nichts über die messbare Stärke noch über die qualitative Bedeutung eines Effekts aus. Daher ist wichtig, das Ergebnis des Signi‐ fikanztests richtig zu interpretieren (s. Schnell, Hill und Esser 2005, 452-454). Ein Maß zur Bestimmung der Stärke eines Effektes, in diesem Fall des Einflusses einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable, ist der Regressionskoeffizient. Wenn der Einfluss mehrerer unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variable untersucht wird, spricht man von der multiplen Regression: „Bei einer multiplen Regression gibt ein Regressi‐ onskoeffizient an, um wieviel Einheiten die abhängige Variable ansteigt, wenn die jeweilige unabhängige Variable um eine Einheit anwächst und alle anderen unabhängigen Variablen konstant bleiben“ (Schnell, Hill und Esser 2005, 456). Das einfachste Modell zur Repräsentation des Einflusses einer unabhängigen Variablen auf eine abhängige Variable ist die lineare Regression. Diese modelliert die Beziehung zwischen den beiden Variablen als eine Gerade: 2.4 Quantitative Datenanalyse 81 <?page no="82"?> V abℎängig = i = 1 n R i V iunabℎängig + C (Regressionsgerade), wobei R der Regressionskoeffizient ist. Mittels der Regressionsanalyse, die von (vielen) Statistik-Softwares angeboten wird, können die Regressions‐ koeffizienten festgestellt werden. Der Regressionskoeffizient Der Regressionskoeffizient gibt bei multiplen Regressionen an, wie sehr sich die abhängige Variable ändert, wenn eine unabhängige Variable um eine Einheit zunimmt und sämtliche andere unabhängige Variablen konstant bleiben. Diese knappe Einführung in die quantitative Datenanalyse schließt das Kapitel zu Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft ab. Im folgenden Kapitel wenden wir uns dem Gegenstand und den Methoden der Mikroökonomie zu. 2.5 Weiterführende Literatur - Religion und Religionswissenschaft Hock, Klaus. 2014. Einführung in die Religionswissenschaft. Darmstadt: Wis‐ senschaftliche Buchgesellschaft. Gut strukturierte Einführung in die Disziplin, welche neben dem Religionsbegriff und der Religionsgeschichte vor allem religionsphä‐ nomenologische, religionssoziologische, religionsethnologische und religionspsychologische Zugänge vorstellt und wissenschaftliche Reli‐ gionsforschung in mehreren Kapiteln aus der Metaperspektive disku‐ tiert, auch in Abgrenzung zur Theologie. Pickel, Gert. 2011. Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themen‐ bereiche. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 82 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="83"?> Übersichtliche und umfassende Einführung in die zentralsten Werke, Paradigmen und theoretischen Ansätze der Religionssoziologie. Ein knapper Überblick über Forschungsmethoden und aktuelle empirische Forschungsergebnisse wird ebenfalls geliefert. - Zwei zentrale religionssoziologische Paradigmen Berger, Peter L. 1967. The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion. New York: Anchor Books Editions. Kernwerk der Religionssoziologie und entscheidender Beitrag zum Säkularisierungsparadigma. Es argumentiert, dass religiöse Pluralisie‐ rung zwangsläufig zur Schwächung von Religionen führt, da diese ihren Absolutheitsanspruch („Plausibilitätsstrukturen“) bei wachsen‐ der Vielfalt nicht mehr erfolgreich vertreten können. Luckmann, Thomas. 1991. Die Unsichtbare Religion. Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp. Das Werk entwickelt die Privatisierungsthese, laut derer Religion in der Moderne an öffentlicher Sichtbarkeit verliert und sich zunehmend im privaten Bereich abspielt. - Qualitative Forschungsmethoden Baur, Nina und Jörg Blasius (Hrsg.). 2014. Handbuch Methoden der empiri‐ schen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer. Das ausführliche Handbuch (über 1000 Seiten) führt in übersichtlichen Kapiteln in verschiedenste Aspekte der Methoden der empirischen Sozialforschung ein. Es werden sowohl qualitative als auch quantitative Erhebungs- und Auswertungsmethoden vorgestellt, diskutiert und beispielhaft angewandt. Flick, Uwe, Ernst von Kardoff und Ines Stein (Hrsg.). 2015. Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg: Rowohlt Verlag. 2.5 Weiterführende Literatur 83 <?page no="84"?> Das ebenfalls ausführliche Handbuch bietet eine detaillierte Einfüh‐ rung in qualitative Forschung, indem es unterschiedliche Theorien, Methodologien und „paradigmatische Forschungsstile“ vorstellt und daran anknüpfend auf Praxis und Kontext qualitativer Forschung eingeht. - Quantitative Datenanalyse Schnell, Rainer, Paul Bernhard Hill, und Elke Esser. 2005. Methoden der empirischen Sozialforschung. 7. Auflage. Berlin; Boston: De Gruyter Olden‐ bourg. Einführungen in die Statistik sind ähnlich zahlreich wie Einführungen in die Mikroökonomie (→ Kapitel 3). Unsere Überblick hier ist stark angelehnt an das neunte Kapitel der siebten Ausgabe von Schnell, Hill und Esser. Auf den Seiten 471-3 finden Sie weiterführende Literatur zur Statistik, von denen zwei Einführungen für Studierende der Reli‐ gionsökonomie leicht(er) verdaulich erscheinen: Kennedy (1993) (die zweite durchgesehene Auflage) sowie Beck-Bornholdt und Dubben (2010) (siebte Auflage). 84 2 Einführung in Gegenstand und Methoden der Religionswissenschaft <?page no="85"?> 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie Leitfragen des Kapitels ● Was sind grundlegende ökonomische Prämissen? ● Was ist ein Haushalt und was sind die ökonomischen Begriffe, die für die ökonomische Modellierung des Haushaltes notwendig sind? ● Was ist ein Unternehmen und wie verhalten Unternehmen sich ökonomisch? ● Was passiert am Markt, an dem Angebot und Nachfrage aufeinan‐ derstoßen? Dieses Kapitel bietet Studierenden der Religionswissenschaft eine verein‐ fachte Einführung in die Mikroökonomie, mit besonderem Blick auf die Grundannahmen der Disziplin und auf die mikroökonomische Modellie‐ rung. Eine gründliche Auseinandersetzung damit soll Sie dazu befähigen, mikroökonomische Modellierung in der Religionsökonomie besser zu ver‐ stehen und religionsökonomische Theorien auf dieser Grundlage kritisch hinterfragen zu können. Nach einer kurzen Einleitung (→ Kapitel 3.1), die einen Überblick über die Mikroökonomie liefert, stellen wir in → Kapitel 3.2 die Theorie des Haushaltes und die zentrale Annahme vor, dass ein Haushalt seinen Nutzen stets zu maximieren versucht. Im Zuge dessen werden auch die Präferenzen, die er verfolgt, sowie die Restriktionen, auf die er dabei stößt, behandelt. An‐ schließend wird demonstriert, wie dem Haushalt die optimale Entscheidung gelingen kann, d. h., wie er seinen Nutzen maximiert. → Kapitel 3.3 bringt die Angebotsseite ins Spiel, welche in der jüngeren Religionsökonomie zumindest theoretisch stärker in Betracht gezogen wird, und setzt sich damit auseinander, wie ein Unternehmen ökonomisch funktioniert. In →-Kapitel 3.4 stellen wir die Angebots- und die Nachfrageseite einander gegenüber und präsentieren anschließend das sogenannte Marktmodell, im Rahmen dessen die beiden Seiten in Interaktion treten. <?page no="86"?> 3.1 Einleitung Wie bereits in → Kapitel 1 dargestellt, möchte die Ökonomie Entschei‐ dungsprozesse erklären und Entscheidungen vorhersagen. Dabei geht sie von der Prämisse aus, dass Wirtschaftsakteure rationale Entscheidun‐ gen treffen, bei ihren Entscheidungen also abwägen, inwieweit sie von jeder Entscheidung profitieren. Mit anderen Worten versuchen sie ihren Nutzen zu maximieren. Zur grenzenlosen Nutzenmaximierung braucht man unendliche Ressourcen, die im Leben, wie es wir kennen, nicht vorhan‐ den sind (dies mag im postmortalen Leben, das uns die Religionen nach dem Tod in unterschiedlichen Versionen versprechen, anders sein! ). Das Aufeinandertreffen von nicht zu sättigenden Bedürfnissen und begrenzte Ressourcen nennt sich Knappheit, eine weitere Prämisse der Ökonomie. Um ein Fantasiebeispiel aus dem Religionsfeld zu bringen (Beispiel A): Stellen Sie sich vor, dass eine fromme Christin von Freundinnen zu einem sonntäglichen Brunch eingeladen wird. Da der Sonntag lediglich einen einzigen Vormittag hat, sie aber gerne sowohl an der Messe in der Kirche als auch an der geselligen Mahlzeit mit ihren Freundinnen teilnehmen möchte, steht sie vor der Entscheidung, zwischen den beiden Optionen zu wählen. Die Ökonomie geht davon aus, dass die Christin diese Entscheidung rational trifft, indem sie abwägt, ob die Teilnahme an der Messe oder am Brunch ihre Bedürfnisse in höherem Maße stillt (rationale Entscheidung). Zwei ökonomische Prinzipien Von Nutzenmaximierung spricht man, wenn Wirtschaftsakteure ver‐ suchen, die bestmögliche Entscheidung zu treffen und somit ihren Nut‐ zen zu maximieren. Ressourcenknappheit bezeichnet die Tatsache, dass Wirtschaftsakteure ihre Entscheidungen immer unter Restriktio‐ nen treffen müssen. Das Knappheitsprinzip ist für die Ökonomie grundlegend, sodass man ein Mittel ein ökonomisches Gut nennt, wenn mehr Bedarf nach ihm besteht, als durch die zur Verfügung stehende Menge gedeckt werden kann. Selbst wenn einige Güter in höheren Mengen zur Verfügung stehen, als zur Deckung des Bedarfs der Akteure notwendig ist, ist ihre Möglichkeit in diese Güter zu investieren durch ihr begrenztes Einkommen eingeschränkt. Diese Knappheit ist die Voraussetzung für die Einforderung eines Preises. 86 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="87"?> Diese Voraussetzung gilt auch für religiöse Güter. Wenn z. B. das Paradies als ultimative Form der Erlösung für alle erreichbar wäre, könnte die Religion dafür keinen Preis in Form einer bestimmten Lebensführung oder Ähnlichem einfordern. Diskussionsfrage | Die Eigenschaft der Knappheit trifft auf materielle Güter und Dienstleistungen zu. Inwieweit trifft sie ebenfalls auf reli‐ giöse Güter zu? Welche religiösen Güter können Sie nennen, die als ökonomische Güter betrachtet werden können, und welche nicht? Die Mikroökonomie setzt voraus, dass Wirtschaftsakteure das Recht zur Durchführung ökonomischer Handlungen besitzen. Die Institutionen, die dieses Recht regulieren, werden in der Mikroökonomie einfach vorausge‐ setzt und nicht thematisiert. Institutionen werden hier als gesellschaftlich akzeptierte und das Handeln erleichternde Regelsysteme verstanden. Als Beispiel kann man Eigentumsordnungen, Geld oder die Ehe nennen. Die Mikroökonomie wurde dafür kritisiert, dass sie Institutionen nicht in ihre Modellierung einbezieht. Daraus entwickelte sich in den letzten Jahrzehn‐ ten eine neue ökonomische Richtung, die gerade diesen Mangel beheben möchte: Die Neue Institutionenökonomik (→-Kapitel 7.2) ist ein Zweig der Volkswirtschaftslehre, der sich mit den Einflüssen von Institutionen auf ökonomische Einheiten befasst. Nutzenmaximierende Entscheidungen sind auf unterschiedlichen Ebenen zu treffen: Aus ökonomischer Perspektive ist jedes Individuum bemüht, seinen Nutzen zu maximieren. Ebenso verhält es sich im Falle einer Familie, einer Firma, eines Konzerns oder auch einer Nation. Dabei haben sich zwei Teilgebiete der Ökonomie entwickelt: die Mikro- und die Makroökonomie. Wie die Namen sagen, beschäftigt sich die Mikroökonomie mit relativ kleinen ökonomischen Einheiten, typischerweise einzelnen Wirtschaftsak‐ teuren, wie z. B. einem Individuum, einem Haushalt oder einer Firma. Die Makroökonomie hingegen setzt sich mit Entscheidungen von aggregierten Größen, dem Volk oder der Nation, oder volkswirtschaftlichen Zusammen‐ hängen wie z. B. der Wachstumsrate, dem Bruttoinlandsprodukt, dem Zinssatz oder der Inflation auseinander. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns lediglich mit der Mikroökonomie. Wirtschaftsakteure werden in der Mikroökonomie in Haushalte (oder Konsumenten), Unternehmen (oder Produzenten) und den Staat einge‐ teilt. Während das ökonomische Handeln der ersten beiden Typen aus 3.1 Einleitung 87 <?page no="88"?> der Maximierung des eigenen Nutzens bzw. Gewinns besteht, zielt ein wohlwollender Staat darauf ab, die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt zu maximieren. Wohlfahrt wird dabei als Aggregation des Nutzens aller Haushalte und des Gewinns aller Unternehmen definiert. Ökonomen arbeiten wie viele andere Wissenschaftler mit Modellen. Wenn Sie das Wort ‚Modell‘ in Zusammenhang mit der Ökonomie lesen, denken Sie wahrscheinlich zuerst an komplexe mathematische Formeln. Modellierung hat jedoch die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, indem sie viele für die Fragestellung irrelevante Gegebenheiten der Realität aus‐ blendet, um die bedeutenderen Faktoren hervortreten zu lassen. Wenn Sie eine Bergtour im Schweizer Wallis planen möchten, werden Sie mit einer Karte, auf der der exakte Ort jedes Steinchens gekennzeichnet ist, nicht viel anfangen können. Vermutlich ist es wichtiger, die Entfernung der Hütte zum Ausgangspunkt und die Neigung des zu erklimmenden Grates zu erfahren. Modelle erhöhen bewusst den Grad der Abstraktion und reduzieren Komplexität. Während diese Herangehensweise in vielen Wissenschaftsbereichen völlig akzeptiert ist, tun sich die Geisteswissen‐ schaften immer noch schwer, sich mit der Modellierung anzufreunden. Für die Religionsökonomie führt jedoch kein Weg daran vorbei. Während die Ökonomie Modelle nicht nur für das Erklären von Entscheidungsprozessen, sondern auch für Vorhersagen der Entscheidungen verwendet, möchten wir in der Religionsökonomie ökonomischen Modelle nicht dazu verwenden, das Verhalten religiöser Akteure zu prognostizieren, sondern um wissen‐ schaftliche Hypothesen zu bilden, die wir dann, wie Ökonomen auch, empirisch überprüfen können. Die Überprüfung eines Modells durch Beobachtung bildet, wie in allen anderen Wissenschaftszweigen, einen unumgänglichen Bestandteil der Ökonomie. Wenn die mathematische Modellierung eines ökonomischen Sachverhaltes harmonisch erscheint, bedeutet dies nicht, dass das Modell die Realität in geeigneter Weise abbildet. Nur mit empirischer Beobachtung können wir eine Aussage über die Qualität unseres Modells treffen. Das Modellkonzept muss in Bezug auf die Religionsökonomie besonders hervor‐ gehoben werden, weil eine ökonomische Perspektive auf Religion nicht den Anspruch erhebt, alle religiösen Phänomene zu erklären. Sie versucht stattdessen lediglich einen Teil davon aus einem bestimmten Blickwinkel zu analysieren, wie auch die Ökonomie nur einen Teil des Verhaltens eines Sozialsystems beleuchten kann. 88 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="89"?> Das ökonomische Modell Ein ökonomisches Modell bildet die Realität ab, indem es Zusammen‐ hänge durch Abstraktion veranschaulicht und sie durch Vereinfachung besser verständlich macht. Modelle bestehen aus zwei Arten von Variablen: unabhängigen (exogenen) und abhängigen (endogenen) Variablen. Die unabhängigen Variablen sind im Modell die erklärenden Variablen und die abhängigen sind die zu erklärenden Variablen. Wie an den Bezeichnungen bereits erkennbar, handelt es sich bei ersteren um von außen vorgegebene Variablen, während letztere von ersteren erklärt werden. Wenn wir z. B. die Veränderungen der Nachfrage in Abhängigkeit vom Preis untersuchen möchten, können wir ein Modell konstruieren, in dem der Preis eine unabhängige Variable bildet und die Nachfrage eine abhängige. Die Annahmen des Modells definieren die Beziehungen zwischen den Variablen (→ Kapitel 2.4). Das Modell soll die Beziehung der abhängigen Variablen zu den unabhängigen als deren Funk‐ tion bestimmen. Wie oben dargestellt, reduziert ein Modell die Komplexität durch das Ausblenden von weniger relevanten Faktoren. Aber was relevant ist und was weniger relevant, wird durch die Fragestellung bestimmt. Die Fragen, die das Modell beantworten soll, sind ausschlaggebend dafür, welche Faktoren als Variablen ins Modell aufgenommen werden müssen. Die Bestimmung der exogenen Variablen, d. h. der relevanten Faktoren, ist deswegen ein zentraler Schritt der Modellierung. In unserem obigen Beispiel A könnten wir z. B. vermuten, dass die Anzahl der zum Brunch eingeladenen Gäste und die Stärke ihrer Beziehung zur Christin wichtige Faktoren in ihrer Entscheidung sind, während die Farbe ihrer Kleidung kaum eine Rolle spielt. In der Mikroökonomie beschäftigen wir uns mit dem Modell des voll‐ kommenen Marktes. Dieses Modell setzt eine Reihe von vereinfachenden Annahmen voraus, wie z. B., dass der Güteraustausch an einem (fiktiven) Ort stattfindet und somit die Transaktionskosten, darunter die Informationsver‐ arbeitungs-, Kommunikations- und Transportkosten, ausgeblendet werden können (räumliche Konstanz), dass der Austausch zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet (zeitliche Konstanz), dass allen Akteure sämtliche Informationen zu den Gütern zur Verfügung stehen, dass sie diese Informa‐ tionen uneingeschränkt verarbeiten können, usw. (Frambach 2013, 19). Die Überprüfung des Modells in der Realität ist aus dem Grund wichtig, weil in der Empirie nicht nur die im Modell vorhandenen Gegebenheiten, 3.1 Einleitung 89 <?page no="90"?> sondern alle in der Realität existierenden Faktoren aktiv sind. Zudem herrscht in der Realität eine tatsächliche Beziehung zwischen Faktoren und nicht eine modellhafte. Wenn sich die Hypothesen, die sich aus dem Modell ergeben, empirisch verifizieren lassen, dann dürfen wir sie als Theorie betrachten. 3.2 Theorie des Haushaltes Die folgenden Abschnitte mögen für einen geisteswissenschaftlichen Ge‐ schmack etwas zu trocken und mathematisch ausfallen. Dies ist jedoch notwendig, damit wir die ökonomische Modellierung verstehen und anwen‐ den können. Es geht nicht darum, dass Sie jedes Detail der mathematischen Formeln verstehen; sie sind ein Mittel, um das ökonomische Modell darzu‐ stellen. Im Folgenden werden einige Abkürzungen verwendet, darunter: x: die Menge (eines Gutes etc.) n: die Anzahl (der Güter etc.) p: der Preis (eines Gutes etc.) f: eine mathematische Funktion, die die Abhängigkeit einer (abhängi‐ gen) Variable von den anderen Variablen des Modells formuliert. 3.2.1 Budget und Restriktion Haushalte sind eine Art von Wirtschaftsakteur. Im Grunde genommen besteht ein Haushalt aus einem Individuum oder mehreren Personen, die im mikroökonomischen Modell als eine Einheit betrachtet werden. Der Haushalt Der Haushalt ist die kleinste konsumierende Wirtschaftseinheit. Es kann ein Individuum, aber auch eine Familie sein. Beispiele für religiöse Haushalte sind eine Ritualteilnehmerin oder eine in einer religiösen Gemeinschaft engagierte Familie. 90 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="91"?> Haushalte haben Bedürfnisse, die sie durch den Konsum von Gütern und Dienstleistungen befriedigen. Zu diesem Zweck haben sie ein begrenztes Budget. Wie ein Haushalt seine Einkünfte erreicht, ist hier nicht von Interesse. In unserem Modell sehen wir ein Budget für einen Haushalt vor, ohne zu berücksichtigen, wie es zustande kommt. Wie ein Haushalt seine Bedürfnisse befriedigt, bedeutet mikroökono‐ misch, welche Mengen von welchen am Markt angebotenen Gütern er konsumiert. Jede Kombination von gewissen Mengen von Gütern nennen wir Güterbündel. Das Güterbündel ist somit eine Zusammenstellung der gewünschten Konsummengen vorhandener Güter: {x 1 , x 2 , …, x n }, wobei x i die Menge des zu konsumierenden Gutes i bezeichnet. Wenn sich ein Haushalt ein Güterbündel mit seinem Budget leisten kann, wird es als mögliches Güterbündel bezeichnet (Frambach 2013, 24). Nehmen wir an (Beispiel B), dass einer Person (die in der Mikroökonomie als ein Haushalt aufgefasst werden kann) neben der in Arbeit und Regeneration investierten Zeit ein vierstündiges tägliches Zeitbudget zur Verfügung steht, das sie in den Kauf von Gütern wie Sport, Büchern oder Gebeten investieren kann. Ein Güterbündel von einer halben Stunde Sport, zwei Stunden Lesen und einer Stunde Gebet erweist sich als ein mögliches Güterbündel. Wenn wir berücksichtigen, dass jedes Gut am Markt mit einem bestimmten Preis zu kaufen ist, dann ist ein Güterbündel möglich, wenn: ∑ i = 1 n p i . x i ≤ Y Die Menge aller möglichen Güterbündel mit einem Budget nennt sich Budgetmenge. Sind alle Güterbündel in einer Budgetmenge für uns von Relevanz? Im obigen Beispiel B verplant der Haushalt nur 3,5 Stunden des ihm zur Verfügung stehenden Budgets. Das dargestellte Güterbündel ist möglich, aber bestimmt nicht ein bestmöglicher, weil es das Budget nicht vollständig ausschöpft. Man kann sich vorstellen, dass die übrig gebliebene halbe Stunde in ein weiteres Gut - z. B. in Gebet - investiert wird. Somit sind wir lediglich an Güterbündeln interessiert, bei denen: 3.2 Theorie des Haushaltes 91 <?page no="92"?> ∑ i = 1 n p i . x i = Y (Budgetgleichung) Die Bezeichnung des Individuums als Homo oeconomicus soll hervorheben, dass es in Bezug auf seine Präferenzen → Kapitel 3.2.2) die bestmögliche Entscheidung trifft, also seinen Nutzen maximiert. Somit entscheidet er optimal. Der Begriff „optimieren“ umfasst zwei Gegebenheiten: erstens den Versuch, die optimale Entscheidung zu treffen; zweitens die vorhandenen Restriktionen, die begrenzten Möglichkeiten bei den Entscheidungen (also dass nur einige Entscheidungen möglich sind) zu berücksichtigen. Wenn die Christin unseres obigen Beispiels A im gleichen Moment an zwei verschiedenen Orten präsent sein könnte, bräuchte sie sich nicht zwischen Brunch und Kirchenbesuch zu entscheiden. Die Restriktionen können als Budgetrestriktionen modelliert werden, z. B. begrenzte(s) Zeit, Geld oder andere Ressourcen. Durch die Verwendung einer begrenzten Ressource für einen bestimmten Zweck kann diese für einen anderen Zweck nicht mehr eingesetzt werden (Zielkonflikt). Opportunitätskosten sind die Kosten, die dem Konsumenten durch den Verzicht auf ein Gut entstehen, wenn er ein anderes Gut konsumiert. Wenn sich die Christin also für den Brunch im Freundeskreis entscheidet, kann sie nicht an der Messe teilnehmen. Somit stellt die verpasste Teilnahme an der Messe ihre Opportunitätskosten für den Konsum des Gutes Brunch dar. Dabei ist hervorzuheben, dass die Kosten hier keinen monetären Wert haben, sondern einen Umtauschwert, d. h. die Anzahl von Einheiten eines anderen Gutes, die ein Haushalt für eine Einheit von diesem Gut bezahlen muss. Wenn der Haushalt des Beispiels B eine Stunde täglich ins Gebet (Religion) statt in eine Freizeitaktivität wie Sport oder Lesen investiert, kann er sich ein besseres postmortales Leben erhoffen. Durch die Zeitinvestition ins Gebet entstehen ihm Kosten, die dem Nutzen aus einer einstündigen Investition in Freizeit gleichen. Die Arbeit mit Op‐ portunitätskosten im ökonomischen Modell erlaubt den Vergleich zwischen möglichen Entscheidungen. Durch die Zuordnung von Opportunitätskosten zu einer Freizeitaktivität einerseits und zum Gebet andererseits werden die beiden Güter vergleichbar. Das ökonomische Modell kann dann zeigen, wie ein Entscheidungsträger seinen Nutzen maximiert. Nun reduzieren wir zur Vereinfachung die Anzahl der Güter auf zwei. Stellen Sie sich vor (Beispiel C), dass Sie als Studentin über ein monatliches Budget von 450 € für die Ernährung Ihres Geistes und Körpers, in Form von 92 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="93"?> Büchern und Lebensmitteln, verfügen. Die Budgetrestriktion lässt sich wie folgt formulieren: p b x b + p l x l = Y (b für Buch und l für Lebensmittel) Die folgende Gleichung, die Auflösung der Budgetgleichung nach der Menge des Gutes Buch, beschreibt die Budgetgerade. Sie zeigt Ihnen, wie viele Bücher Sie sich leisten können, wenn Sie eine bestimmte Menge von Lebensmitteln konsumieren: x b = Y p b − p l p b x l Wenn der Preis für Lebensmittel pro Kilo durchschnittlich 5 € und für jedes Buch 15-€ ist, dann ergibt sich: x b = 30 − 13 x l Lebensmittel Buch 90 30 Budgetmenge Budgetgerade Abbildung 3.1: Budgetgerade und Budgetmenge Abbildung 3.1: Budgetgerade und Budgetmenge Die entsprechende Budgetgerade ist in → Abbildung 3.1 dargestellt. Die Budgetgerade teilt die Fläche in zwei Bereiche: der Bereich unter der Budgetgerade umfasst alle Güterbündel, die die Konsumentin sich leisten kann, und nennt sich Budgetmenge (z. B. 60 kg Lebensmittel und 4 Bücher); der obere Bereich schließt die Güterbündel ein, deren Preise das Budget der Konsumentin übersteigen (z. B. 70 kg Lebensmittel und 7 Bücher). Die 3.2 Theorie des Haushaltes 93 <?page no="94"?> Güterbündel auf der Budgetgerade erschöpfen das Budget. Die Steigung der Budgetgerade zeigt das Verhältnis der Güterpreise. In unserem Beispiel C muss die Konsumentin für jedes Buch, das sie zusätzlich kaufen möchte, auf drei Einheiten Lebensmittel verzichten; d. h. die Opportunitätskosten für ein Buch sind drei Kilo Lebensmittel. Erläuterung-| Koordinatenachse Ein zweidimensionales Koordinatensystem besteht aus einer horizon‐ talen x-Achse, auf welcher die unabhängige Variable dargestellt wird, und einer vertikalen y-Achse, auf welcher die abhängige Variable dargestellt wird. In der Ökonomie hat sich allerdings die Darstellungs‐ weise eingebürgert, den Preis als abhängige Variable auf der x-Achse darzustellen. Übungsfrage | Was passiert, wenn sich der Lebensmittelpreis im Beispiel C verdoppelt, der Buchpreis aber konstant bleibt? Zeichnen Sie die neue Budgetgerade und vergleichen Sie die beiden Budgetgeraden. Was passiert, wenn sich das Budget auf 500 € erhöht? In welchem Fall sind die Budgetgeraden parallel? Wann erhöht sich die Fläche unter der Budgetgerade und wann reduziert sie sich? Das Beispiel mit nur zwei Gütern ist sehr simpel. In Wirklichkeit konsumie‐ ren Haushalte meistens mehr als nur zwei Güter. Wenn mehr als zwei Güter im Spiel sind, dann kommt man zur grafischen Darstellung des Verhältnisses der Mengen, Preise und des Budgets mit einer zweidimensionalen Fläche nicht mehr aus; stattdessen benötigt man einen mehrdimensionalen Raum. Um diese komplexe Situation zu vermeiden, stellt man das im Fokus stehende Gut auf der y-Achse dar und fasst alle anderen Güter auf der x-Achse zusammen. 3.2.2 Präferenzen und Indifferenzkurve In unserem Beispiel C von einem Haushalt mit einem Budget von 450 € für Bücher und Lebensmittel pro Monat können wir uns unterschiedliche Budgetmengen vorstellen, z. B. 5 Bücher und 75 kg Lebensmittel oder 10 Bücher und 60 kg Lebensmittel. Beide Güterbündel sind möglich und 94 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="95"?> erschöpfen das Budget, aber ein Haushalt könnte sie unterschiedlich stark bevorzugen. Das bedeutet, dass die Haushalte sich bei ihren Entscheidungen an ihren Präferenzen orientieren. Zudem können verschiedene Konsumen‐ ten unterschiedliche Präferenzen haben: Die eine Studentin möchte lieber mehr Bücher kaufen als die andere. Um die optimale Entscheidung treffen zu können, muss ein Haushalt in der Lage sein, seine Präferenzen zu ordnen, d. h., bestimmen zu können, ob das Güterbündel g i gegenüber g j präferiert wird (g i ≽ g j ), weniger präferiert wird (g i ≼ g j ), oder indifferent ist (g i ~ g j ). Wir gehen davon aus, dass jeder Haushalt seine möglichen Güterbündel nach seinen Präferenzen in eine Reihenfolge setzen kann, die wir Präfe‐ renzordnung nennen. Ein Güterbündel ist optimal, wenn es „angesichts des gegebenen Budgets den höchsten Platz in der Präferenzordnung einnimmt“ (Frambach 2013, 27). Bezüglich der Präferenzordnung werden einige Axiome angesetzt, von denen die beiden ersten die Minimalerfordernisse an die Präferenzordnung darstellen (Frambach 2013, 29-35): 1. Vollständigkeit: Es wird vorausgesetzt, dass der Konsument alle Gü‐ terbündel in eine Rangfolge setzen kann. Das bedeutet: entweder x 1 ≼ x 2 oder x 1 ≽ x 2 oder x 1 ~ x 2 . 2. Transitivität: Für drei Güterbündel x 1 , x 2 und x 3 gilt: Wenn x 1 gegenüber x 2 und x 2 gegenüber x 3 bevorzugt werden, dann wird x 1 gegenüber x 3 bevorzugt: x 1 ≽ x 2 und x 2 ≽ x 3 ⇒ x 1 ≽ x 3 3. Konvexität drückt aus, dass die Haushalte diejenigen Güterbündel mit mehreren unterschiedlichen Gütern denjenigen Güterbündeln mit weniger unterschiedlichen Gütern vorziehen. Für unser Beispiel C würde diese Prämisse bedeuten, dass ein Haushalt ein Güterbündel von zwei Büchern und 84 kg Lebensmittel gegenüber einem Buch und 87 kg Lebensmittel präferiert. Eine Erweiterung dieses Prinzips, die beschränkte Substituierbarkeit, nimmt an, dass die Konsumenten nicht bereit sind, auf den Konsum eines Gutes vollständig zu Gunsten eines anderen Gutes zu verzichten. Diskussionsfrage | Wenn religiöse Menschen die endgültige Erlösung durch ihre Religion anstreben, dann liegt die Annahme nahe, dass sie ihr gesamtes Budget in ihre Religion investieren sollten - dass z. B. alle Christen Priester oder Pastorinnen werden. Oder nicht? Warum? 3.2 Theorie des Haushaltes 95 <?page no="96"?> In Wirklichkeit wäre die Liste der Präferenzen sehr lang, wenn alle mögli‐ chen Güterbündel in eine Rangfolge gesetzt werden müssten. Daher werden die Präferenzen des Haushalts mithilfe von Indifferenzkurven grafisch dargestellt: Die Indifferenzkurve (indifference curve; IC) ist die Menge aller Güterbündel, zwischen denen der Haushalt indifferent ist, die also gleichrangig präferiert werden. Bei nur zwei Gütern, deren Mengen auf zwei Achsen (wie in → Abbildung 3.2) angegeben werden, stellt jeder Punkt auf dieser Fläche ein Güterbündel dar. Wir können die Güterbündel mit Gera‐ den, ausgehend vom Ursprung, miteinander verbinden. Dann gilt: Je ferner das Güterbündel vom Ursprung, desto stärker wird es präferiert (Nichtsät‐ tingungsprinzip). Wenn wir nun die gleichermaßen präferierten Güterbün‐ del auf unterschiedlichen Geraden miteinander verbinden, entsteht eine Indifferenzkurve. Zu beachten ist, dass diese Geraden nur Hilfsmittel sind: Sie zeigen Güterbündel mit unterschiedlichen Präferenzen an und helfen uns, die Indifferenzkurve zu zeichnen. Durch jedes Güterbündel verläuft eine und nur eine Indifferenzkurve. Im Vergleich miteinander werden jene Güterbündel auf einer Indifferenzkurve, die weiter vom Ursprung entfernt sind, allen Güterbündeln gegenüber präferiert, welche sich auf einer dem Ursprung näheren Indifferenzkurve befinden. Lebensmittel Buch 90 30 Budgetmenge Budgetgerade Abbildung 3.1: Budgetgerade und Budgetmenge Abbildung 3.2: Entstehung einer Indifferenzkurve (Quelle: Frambach 2013, Abb. 2.5) Jedes beliebige Güterbündel liegt auf einer und nur einer Indifferenzkurve. Somit teilt eine Indifferenzkurve, wie die Budgetgerade, die Güterfläche in zwei Bereiche ein: eine Bessermenge oberhalb der Indifferenzkurve und eine Schlechtermenge unter ihr. Damit ermöglicht die Indifferenz‐ 96 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="97"?> kurve den Vergleich von zwei nicht direkt vergleichbaren Güterbündeln (s. → Abbildung 3.3). Wenn z. B. Güterbündel x 1 mehr Bücher und weniger Lebensmittel als Güterbündel x 2 beinhaltet, dann lassen sie sich nicht direkt vergleichen. Das Güterbündel x 1 lässt sich allerdings mit einem Güterbündel auf seiner Indifferenzkurve vergleichen, das genauso viele Lebensmittel wie im Güterbündel x 2 beinhaltet, nennen wir es x´. Da x´ mehr Bücher als x 2 beinhaltet, wird es vom Haushalt x 2 gegenüber bevorzugt. Da x 1 und x´ auf einer Indifferenzkurve liegen, ist der Haushalt zwischen ihnen indifferent, d. h., sie erscheinen ihm in seiner Nutzenabwägung als gleichrangig. Aus dem Transitivitätsprinzip ergibt sich folglich, dass der Haushalt x 1 gegen‐ über x 2 präferiert. Lebensmittel Buch 90 30 Budgetmenge Budgetgerade Abbildung 3.1: Budgetgerade und Budgetmenge Abbildung 3.3: Vergleich der Güterbündel mit unterschiedlichen Gütermengen Übungsfrage | Erklären Sie, warum ein Güterbündel nicht auf zwei unterschiedlichen Indifferenzkurven liegen kann! Erläuterung-| Konkavität und Konvexität Eine Kurve ist streng konkav, wenn ihre Wölbung nach oben zeigt. Umgekehrt wird sie als streng konvex bezeichnet, wenn ihre Wölbung nach unten zeigt. In der Mathematik werden Funktionen streng konkav oder streng konvex genannt. Streng konkav ist eine Funktion, wenn ihr Graph oberhalb jeder Geraden liegt, die zwei beliebige Punkte auf dem Graphen verbindet. Dementsprechend wird 3.2 Theorie des Haushaltes 97 <?page no="98"?> eine Funktion streng konvex genannt, wenn ihr Graph unterhalb jeder Geraden liegt, die zwei beliebige Punkte auf dem Graphen verbindet. Übungsfrage-| Welche Aussage ist richtig? Warum? ● Die Indifferenzkurven eines Konsumenten dürfen sich nicht schneiden. ● Die Indifferenzkurven eines Konsumenten dürfen die Achsen schneiden. ● Die Indifferenzkurven eines Konsumenten verlaufen steigend. ● Die Indifferenzkurven eines Konsumenten sind konkav. 3.2.3 Marginalanalyse Zur Ermittlung der optimalen Entscheidung ermöglicht das ökonomische Modell den Vergleich der Gesamtnutzen jeder Entscheidung. Die optimale Entscheidung ist die mit dem höchsten Nutzen bei gegebener Budgetmenge. Eine alternative Herangehensweise hierzu ist, die Nutzenunterschiede zu beobachten. So kann man feststellen, ob die Nutzen sich mit einer minimalen Änderung erhöhen oder reduzieren. Diese Herangehensweise, die Betrach‐ tung von Veränderungen anstatt von Absolutwerten, nennt sich Marginal‐ analyse. Der Begriff marginal bezeichnet den Unterschied zwischen zwei Alternativen, wenn diese sich nur in einer einzigen Einheit unterscheiden. In der Marginalanalyse arbeitet man anstatt mit Gesamtnutzen mit Grenz‐ nutzen (marginal utility; MU): „Der Grenznutzen der Nutzenfunktion gibt an, um wieviel der Nutzen sich verändert, wenn die Gütermenge x um eine marginale Einheit verändert wurde“ (Frambach 2013, 40). Die Steigung der Indifferenzkurve drückt das Präferenzverhältnis des Haushalts beim Tausch eines Gutes mit einem anderen aus. Deswegen wird sie als Grenzrate der Substitution (GRS; marginal rate of substitution) bezeichnet. Sie gibt an, zu welcher Rate der Haushalt bereit ist, eine Einheit eines Gutes gegen ein anderes Gut (oder eine Güterkombination) zu tau‐ schen. Das Konvexitätsprinzip besagt, dass ein Haushalt Mischungen präferiert. Je weniger Einheiten von einem Gut der Haushalt konsumiert hat, umso wertvoller sind diese Einheiten für den Haushalt. Deshalb verläuft eine Indifferenzkurve meistens konvex fallend. Wenn die Indifferenzkurve linear 98 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="99"?> verläuft, ist das Austauschverhältnis zwischen den Gütern konstant, was relativ selten vorkommt. Abbildung 3.4: Bestimmung der Grenzrate der Substitution Buch Lebensmittel x 1 2,0 4,4 1 3 x 2 4 2 1,2 0,8 x 3 x 4 Abbildung 3.4: Bestimmung der Grenzrate der Substitution Die in → Abbildung 3.4 gezeichnete Indifferenzkurve zeigt, dass eine lesefreudige (! ) Studentin (gerade noch) bereit ist, ein Buch mit 2,4 kg Lebensmitteln zu substituieren, wenn sie zuvor 4,4 kg Lebensmittel und nur ein Buch konsumiert hat (Güterbündel x 1 ). Zu beachten ist, dass die Steigung der Indifferenzkurve an verschiedenen Punkten unterschiedlich sein könnte, d. h., dass die Zahlungsbereitschaft eines Haushaltes von seinem vorausgegangenen Konsum abhängt. Wenn der Haushalt bereits drei Bücher konsumiert hat, reduziert sich die Grenzrate der Substitution auf 0,4 kg Lebensmittel; d. h., mit zunehmendem Konsum eines Gutes ist jeder Haushalt eher dazu bereit, auf den weiteren Konsum des bereits kon‐ sumierten Gutes zu Gunsten des weniger konsumierten Gutes zu verzichten (Gesetz der fallenden Grenzrate der Substitution). Achtung: Der Begriff Zahlungsbereitschaft verweist nicht immer auf monetäre Zahlung, sondern kann auch eine Zahlung in Form von Gütertausch ausdrücken. Allerdings lässt sich die Grenzrate der Substitution leicht in eine monetäre Grenzzahlungsbereitschaft umdenken, indem das Gut 2 als Einkommen vorgestellt wird, stellvertretend für alle Güter, die ein Haushalt abzugeben bereit ist, um eine weitere Einheit von Gut 1 zu bekommen. Somit bezeichnet die Grenzzahlungsbereitschaft die Summe, die ein Haushalt für eine zusätz‐ liche Mengeneinheit eines Gutes zu zahlen bereit ist. Die Grenzrate der Substitution lässt sich algebraisch folgendermaßen ausdrücken: Δx l Δx b 3.2 Theorie des Haushaltes 99 <?page no="100"?> Grenzrate der Substitution bei Güterbündel x1: Δx l Δx b = 2, 0 − 4, 4 2 − 1 = 2, 4 Grenzrate der Substitution bei Güterbündel x3: Δx l Δx b = 0, 80 − 1, 2 4 − 3 = 0, 4 Erläuterung-| Mathematische Funktion und Ableitung Eine mathematische Funktion schreibt jedem Element der Definiti‐ onsmenge ein einziges Element der Wertemenge zu. Mithilfe der Differentialrechnung können wir die lokalen Veränderungen einer Funktion untersuchen. Die Ableitung einer Funktion gibt an, wie sich die Funktionswerte ändern, wenn sich die Eingabewerte marginal verändern. Wenn wir die Indifferenzkurve algebraisch als eine Funktion darstellen, dann können wir die Grenzrate der Substitution an jedem Punkt auf der Kurve durch die Differentialrechnung berechnen. Damit sind wir nicht mehr gezwungen, die Grenzrate der Substitution gegen eine volle Einheit des Gutes 1 zu betrachten, sondern können die Grenzrate für die Substitutionen gegen eine unendlich kleine Einheit rechnen (∆x 1 → 0). Wenn die Veränderungen minimal sind, dann verwendet man dx 2 dx 1 anstatt Δx 2 Δx 1 , welche die exakte Steigung der Indifferenzkurve angibt. Grenzrate der Substitution von Gut 2 durch Gut 1: dx 2 dx 1 Durch die Differentialrechnung können wir bei jeder konsumierten Menge berechnen, welche Menge von Gut 2 der Haushalt bekommen müsste, damit er bereit wäre, auf eine kleinstmögliche Menge von Gut 1 zu verzichten. Viel wichtiger ist es allerdings beobachten zu können, wie sich die Grenzrate der Substitution bei steigendem Konsum eines Gutes generell ändert. 100 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="101"?> Diskussionsfrage | Stellen Sie sich vor, eine gläubige Muslimin hat genug Geld, um entweder eine Ausgabe des Koran zu kaufen oder einen Gedichtband. Inwiefern hängt ihre Entscheidung, welches Buch sie kauft, davon ab, welche Bücher sie bereits besitzt oder noch nicht? Wie hängt also der Konsum eines religiösen Gutes mit dem eines nichtreligiösen Gutes und dem vorhandenen Einkommen zusammen? 3.2.4 Nutzenfunktion und Grenznutzen Wir sind davon ausgegangen, dass jeder Haushalt seine Präferenzen in Form von Vergleichen zwischen Güterbündeln äußern kann. Er kann sämtliche Güterbündel paarweise miteinander vergleichen und festlegen, welches er bevorzugt. Auf diese Weise kann er eine Präferenzordnung erstellen und jeder Präferenz einen Rang zuordnen. Nun stellen wir uns vor, dass der Haushalt jeder Präferenz eine Zahl zuordnet, damit er seine Güterbündel anhand dieser sortieren kann. Diese Zahl, der Nutzenwert, hat keinen absoluten kardinalen Wert. Sie repräsentiert lediglich die Sortierung der Güterbündel nach den Präferenzen eines Konsumenten. Über den genauen Unterschied der Nutzenwerte lässt sich nichts aussagen; Eine Aussage wie „Güterbündel x 1 wird dreimal stärker bevorzugt als x 2 “ ist z. B. nicht möglich. Deswegen spricht man vom ordinalen Nutzenkonzept, da die Nutzenwerte die Güterbündel sortieren. Die Beziehungen zwischen den Variablen eines ökonomischen Modells können am prägnantesten in algebraischen Funktionen formuliert werden. Durch diese kann man beobachten, welche Relation zwischen den unabhän‐ gigen Variablen herrscht und wie sich die abhängigen Variablen ändern, wenn sich die unabhängigen Variablen ändern. Nun stellen wir uns eine algebraische Funktion f(x) vor, die jedem Güterbündel x i einen Nutzenwert f(x i ) zuweist, anhand dessen sich die Güterbündel sortieren lassen. Die Funktion nennt sich (ordinale) Nutzenfunktion (utility function; u) und repräsentiert die Präferenzen des Haushaltes. Bei der Nutzenfunktion f(x) gelten (i ≠ j): 3.2 Theorie des Haushaltes 101 <?page no="102"?> x i ≽ x j ↔ f(x i ) ≥ f(x j ) x i ~ x j ↔ f(x i ) = f(x j ) x i ≼ x j ↔ f(x i ) ≤ f(x j ) Algebraisch gesprochen ist Grenznutzen des Gutes i die partielle Ableitung der Nutzenfunktion: du dx i . Hier sollten Sie wieder an das Konzept der Modellierung denken. Eine Nutzenfunktion repräsentiert die Präferenzen eines Haushalts. Welche Prä‐ ferenzen der Haushalt in Wirklichkeit hat, wird nicht von der Nutzenfunk‐ tion bestimmt. Übungsfrage | Ergänzen Sie die folgenden Sätze mit diesen Optionen: größeren, gleichen, oder kleineren. ● Zwei auf derselben Indifferenzkurve liegende Güterbündel haben ____________ Nutzenwert. ● Das Güterbündel x 1 , dessen Indifferenzkurve niedriger als die Indifferenzkurve des Güterbündel x 2 liegt, hat einen ____________ Nutzenwert im Vergleich zum Nutzenwert von x 2 . Da eine Nutzenfunktion lediglich die Präferenzen eines Haushaltes sortiert, lassen sich diese mit verschiedenen Nutzenfunktionen abbilden. Übungsfrage | Wenn f(x) die Nutzenfunktion eines Haushaltes dar‐ stellt, welche der folgenden Funktionen können genauso wie seine Nutzenfunktion verwendet werden? ● 4f(x) ● ¼f(x) ● f(x) + 4 ● f(x)---4 ● [f(x)] 4 ● 1 f (x) 2 ● log[f(x)] 102 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="103"?> 3.2.5 Der Haushalt und seine optimale Entscheidung Bis jetzt haben wir die Budgetrestriktion in Form von Budgetgeraden sowie Präferenzen in Form von Indifferenzkurven und der Nutzenfunktion besprochen. Ihre Kombination ermöglicht es, das Haushaltsoptimum zu finden. Der Tangentialpunkt, der Berührungspunkt der Budgetgerade mit der höchsten sie berührenden Indifferenzkurve, ergibt das optimale Güterbündel (s. → Abbildung 3.5). Dieser Punkt ergibt sich aus zwei grund‐ legenden Annahmen: erstens, dass das optimale Güterbündel nicht unter der Budgetgerade, sondern genau darauf liegt, und zweitens der Konvexität, die besagt, dass der Konsument ein gemischtes Güterbündel gegenüber einem Güterbündel mit einem einzigen Gut präferiert. Wenn wir beim Güterbündel A auf → Abbildung 3.5 beginnen und uns auf der Budgetgerade nach rechts bewegen, verlassen wir die Indifferenzkurve I 1 und befinden uns in ihrer Bessermenge. Das bedeutet, dass das Güterbündel A nicht optimal ist. Die Bewegung nach rechts muss so lange fortgesetzt werden, bis eine weitere marginale Bewegung zur Verringerung der Präferenz führt (bis zum Punkt B). Abbildung 3.5: Der optimaler Konsumplan I 1 I 0 I 2 x 1* x 2* x 1 x 2 Y P 2 A B Y P 1 Abbildung 3.5: Der optimaler Konsumplan Der Tangentialpunkt von Indifferenzkurve und Budgetgerade hat die Eigen‐ schaft, dass die Steigung der Indifferenzkurve und der Budgetgerade am Tangentialpunkt gleich sind: 3.2 Theorie des Haushaltes 103 <?page no="104"?> Steigung der Indifferenzkurve = Steigung der Budgetgerade Was besagt aber diese Gleichung ökonomisch? Wie wir gelernt haben, zeigt die Steigung ● der Indifferenzkurve an einem gewissen Punkt (nämlich dem das konsumierte Güterbündel kennzeichnenden Punkt), wie viele Einheiten von Gut G 2 der Haushalt bereit ist für eine weitere Einheit von Gut G 1 zu bezahlen, wenn er bereits bestimmte Mengen an Einheiten von G 1 und G 2 konsumiert hat. ● der Budgetgerade an einem gewissen Punkt, wie viele Einheiten von Gut G 2 der Haushalt für eine weitere Einheit von Gut G 1 bezahlen muss, wenn er bereits bestimmte Mengen an Einheiten von G 1 und G 2 konsumiert hat. Wenn wir → Abbildung 3.5 auf diese Weise interpretieren, heißt es, dass am Punkt A die Bereitschaft des Haushaltes für die Bezahlung einer weiteren Einheit von G 1 höher ist als der Preis, den er in der Tat bezahlen muss; sprich, die Steigung der Indifferenzkurve ist steiler als die der Budgetgerade (d. h., der Betrag der Steigung der Indifferenzkurve ist höher als der der Budgetge‐ rade). Daher wird der Haushalt eine weitere Einheit von G 1 konsumieren und diesen Konsum mit den vom Preisverhältnis (Steigung der Budgetgerade) bestimmten Mengen von G 2 bezahlen. Somit muss das optimale Güterbündel auf der Budgetgerade rechts von A liegen. Am Tangentialpunkt ist dann die Bereitschaft des Haushalts zur Bezahlung einer weiteren Einheit von G 1 gleich hoch wie sein Preis. Steigung der Indifferenzkurve = Steigung der Budgetgerade Grenzrate der Substitution = Steigung der Budgetgerade GRS = dx 2 dx 1 = − p 1 p 2 Diese Bestimmung lässt sich auf mehrere Güter erweitern, indem das optimale Güterbündel „dann erreicht ist, wenn für jedes beliebige Paar von Gütern die Grenzrate der Substitution dem umgekehrten Verhältnis der Preise der beiden Güter entspricht“ (Frambach 2013, 42): 104 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="105"?> GRS = dx j dx i = − p i p j , i, j = 1, …, n; i ≠ j Bei dem vorgestellten Modell handelt es sich um die Geometrische Be‐ stimmung des Haushaltsoptimums. Wir können das Haushaltsoptimum mithilfe der Nutzenfunktion analytisch bestimmen (Frambach 2013, 43 f.). Dies bedeutet, ein mögliches Güterbündel mit dem höchsten Nutzenwert herauszufinden: max x i u = f x 1 , ..., x n u.d.N . i = 1 n p i x i ˙ ≤ Y In Anbetracht der Tatsache, dass der Haushalt sein gesamtes Budget aus‐ schöpft, gilt für den höchsten Nutzenwert Folgendes: max x i u = f x 1 , ..., x n u.d.N . i = 1 n p i x i ˙ = Y Der Vorteil einer Analytischen Bestimmung des Haushaltsoptimums ist, dass man nicht für jede Kombination von Einkommen des Haushaltes und Güterpreisen eine neue Grafik erstellen muss. Um die Maximalwerte einer Funktion unter bestimmten Nebenbedingun‐ gen herauszufinden, verwendet man das Lagrange-Verfahren. Das ist eine Methode zur Lösung von Optimierungsaufgaben unter Nebenbedingungen, die als Gleichung ausgedrückt werden können. Aus dem Prinzip der Nutzenmaximierung geht der folgende Schluss hervor. Wenn wir davon ausgehen, dass die Entscheidungsträger ihren Nutzen maximieren, dann müssen wir annehmen, dass sie es irgendwann getan haben und ihre Entscheidungen nicht mehr ändern, weil sie dadurch nur ihren Nutzen verringern würden. Nachdem wir in diesem Kapitel den Haushalt als Konsumenten aus der mikroökonomischen Perspektive beleuchtet haben, wenden wir uns im nächsten Kapitel dem Unternehmen als Produzenten zu. 3.2 Theorie des Haushaltes 105 <?page no="106"?> 3.3 Unternehmen und Produktion Im folgenden Kapitel werden folgende Abkürzungen zusätzlich zu den oben vorgestellten Abkürzungen verwendet: x: Outputmenge r: Faktoreneinsatzmenge a: Produktionskoeffizient q: Einheitspreis für einen Produktionsfaktor Ein Unternehmen, ein Produzent, bietet Güter und Dienstleistungen an, die es unter dem Einsatz von Produktionsfaktoren produziert. Das Ziel der Unternehmung ist Gewinnmaximierung, wobei der Gewinn den Erlösen abzüglich der Kosten entspricht. Erlöse ergeben sich aus der Summe der Multiplikation der Stückpreise mit den Stückzahlen. Die Produktionskos‐ ten bestehen aus den finanziellen Aufwendungen, die ein Unternehmen für den Einsatz von Produktionsfaktoren erbringen muss. Diese werden generell in drei Arten unterteilt: Arbeit, Kapital und Boden. Wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiter bezahlt, erhält es ihre Arbeitskraft, den Produktionsfaktor Arbeit, gegen Lohn und lässt diese Arbeitskraft in seine Produktion einfließen. Aus der Nutzung des Produktionsfaktors Kapital entstehen einem Unternehmen Kosten in Form von Zinsen, die es gegen das Leihen von Kapital bezahlen muss, wenn es z. B. bei einer Bank einen Kredit aufnimmt. Aus der Anmietung bzw. Pachtung einer Bodenfläche, der Nutzung des Produktionsfaktors Boden, entstehen ihm Kosten in Form von Grundrente (Frambach 2013, 23). Um ein Beispiel aus der Religion zu bringen (Beispiel D), können wir uns eine christliche Kirche als Unterneh‐ men vorstellen, die Kinderbetreuung als Dienstleistung anbietet. Durch die Bezahlung ihrer Mitarbeiter in der Kinderbetreuung entstehen ihr Kosten durch den Produktionsfaktor Arbeit. Nehmen wir an, dass sie einen Kredit aufnehmen muss, wodurch ihr Kosten durch den Produktionsfaktor Kapital entstehen. Zudem muss sie ein Gebäude für ihre Kindertagesstätte mieten, wodurch Kosten durch den Produktionsfaktor Boden entstehen. Diese drei unterschiedlichen Arten von Produktionsfaktoren müssen wir in unserer Modellierung allerdings nicht berücksichtigen. Die Kosten ergeben sich einfach aus der Summe der Multiplikation von Faktorpreisen mit den Faktoreinsatzmengen. Das Ziel eines Unternehmens ist vergleichbar mit 106 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="107"?> dem Ziel eines Haushaltes: Ein Haushalt maximiert seinen Nutzen, ein Unternehmen maximiert seinen Gewinn (s. Frambach 2013, 73). Ein Unternehmen produziert Output unter dem Einsatz von Inputs. Bei einer Käserei (Beispiel F) konstituiert die Milch ihr Input, der Käse, das Produkt der Käserei, ihr Output. Ein Unternehmen ist mit zwei Fragen konfrontiert: Bei der ersten Frage, nach der Technologie, geht es darum, wie ein Unternehmen eine gegebene Outputsmenge produziert. Die zweite Frage bestimmt, wie viel es bei gegebenem Preis und gegebener Nachfrage auf dem Markt von einem Output produziert. Die Technologie bestimmt die Kombination von Inputs und Outputs, den Produktionsplan. Nicht alle Produktionspläne lassen sich allerdings realisieren. Eine Landwirtin mit einem Hektar Anbaufläche kann z. B. keine 20 Tonnen Weizen produzieren. Dieser Produktionsplan ist nicht realisierbar. Von Interesse sind im ökono‐ mischen Modell lediglich die (technisch) realisierbaren Produktionspläne. Diese Menge nennt sich Technologiemenge. Allerdings sind nicht alle diese Pläne effizient. Wenn man unter Einsatz von geringeren Faktorenein‐ satzmengen gleiche Ausbringungsmengen produzieren kann, ist der Pro‐ duktionsplan nicht effizient. Ein technisch effizienter Produktionsplan bedeutet, dass der Produzent für die Produktion der gegebenen Ausbrin‐ gungsmenge nicht weniger Input einsetzen kann, oder anders ausgedrückt: Unter dem Einsatz der gegebenen Inputmengen ist ein Produktionsplan mit höherer Ausbringungsmenge nicht realisierbar. Die Produktionsfunktion repräsentiert die Gesamtheit aller technisch effizienten Produktionspläne. → Abbildung 3.6 zeigt die Technologiemenge als eine schraffierte Fläche, deren Rand die Produktionsfunktion darstellt. Wie wir bei Haushalten von Indifferenzkurve gesprochen haben, die Menge aller Güterbündel, zwischen denen der Haushalt indifferent ist (→ Kapitel 3.2.2), spricht man bei Unter‐ nehmen von der Isoquante. Sie ist die Menge „aller Faktorkombinationen zwischen zwei beliebigen Inputs, mit denen eine bestimmte Outputmenge technisch effizient hergestellt werden kann“ (Frambach 2013, 79). Wie die Indifferenzkurve wird die Isoquante grafisch mit einer gewölbten Kurve dargestellt. 3.3 Unternehmen und Produktion 107 <?page no="108"?> Abbildung 3.6: Die Produktionsfunktion (Quelle: Frambach 2013, Abb. 3.1) In unserer Modellierung berücksichtigen wir einfachheitshalber lediglich die einfache Produktion, d. h. die Produktion eines einzigen Gutes. Dies bedeutet, dass ein Unternehmen mehrere Inputs einsetzt, um ein Produkt zu produzieren. Die Produktionsfunktion x ist dann eine Funktion der Fak‐ toreneinsatzmengen r 1 , r 2 , …, r n .: x = f (r 1 , r 2 , …., r n ), wobei x die Outputmenge nach einem effizienten Produktionsplan und r i die Einsatzmenge des Faktors i kennzeichnet. Wie im Haushaltsmodell interessieren wir uns vor allem für die Grenz‐ raten. Hier definieren wir die Grenzproduktivität, oder den partiellen Grenzertrag des Faktors i, als die Veränderungen der Outputmenge x, wenn unter sonst gleichen Bedingungen eine zusätzliche Einheit von diesem Faktor in die Produktion fließt: dx dr i ist die partielle Ableitung der Produkti‐ onsfunktion. Die Grenzrate der technischen Substitution „gibt an, auf welche Menge r 2 bzw. r 1 man verzichten muss, wenn eine Einheit des Inputs 1 bzw. 2 mehr eingesetzt wird, unter der Voraussetzung, dass das Outputniveau bei‐ behalten wird“ (Frambach 2013, 80). Wie die Steigung der Indifferenzkurve bei Haushalten der Grenzrate der Substitution gleicht (→ Kapitel 3.2.5), so gleicht bei Unternehmen die Steigung der Isoquante der Grenzrate der technischen Substitution. Wenn es zur Herstellung einer Ausbringungsmenge x nur eine technisch effiziente Produktionsfunktion gibt, nennt sich diese limitationale Produk‐ tionsfunktion. Linear-limitational ist eine Produktionsfunktion, wenn 108 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="109"?> „noch ein proportionales Verhältnis zwischen den in festem Verhältnis stehenden Inputmengen (r 1 , …, r n ) und dem Output x“ (Frambach 2013, 87 f.) besteht. Zur Herstellung von Sudras z. B., den religiösen Hemden, die Zoroastrier als erste Kleidungsschicht anziehen müssen, braucht ein zo‐ roastrisches Unternehmen Stoff und Arbeitszeit. Die Ausbringungsmenge, die Anzahl der produzierten Sudras, steht in einem proportionalen Ver‐ hältnis zu den Inputs: Um die Ausbringungsmenge zu verdoppeln, muss das Unternehmen die Inputmengen verdoppeln. Wenn in einer linear-li‐ mitationalen Produktionsfunktion n Faktoren mit Produktionskoeffizient a 1 , …, a n = r 1 x , …, r n x zur Produktion eines Gutes eingesetzt werden, kann man mit den Faktoreneinsatzmengen (r 1 , …, r n ) folgende Outputmenge erwarten: x = min r 1 a 1 , …, r n a n Die obige Formel ist lediglich die algebraische Formulierung dessen, was man sich intuitiv von einer linear-limitationalen Produktion vorstellt. Bis jetzt haben wir uns insbesondere auf die Relation zwischen der Aus‐ bringungsmenge und den Faktoreneinsatzmengen in der Produktionsfunk‐ tion konzentriert. Darüber hinaus sind wir jedoch auch daran interessiert, die Ausbringungsmenge mit Produktionskosten in Verbindung zu setzen. Diese lässt sich ziemlich einfach kalkulieren, wenn wir den Einheitspreis jedes Faktors, q i , kennen: C = ∑ i = 1 n q i ⋅ r i Die Kosten sind zweierlei Art: Fixe Kosten „sind solche, die immer anfallen, egal welche Ausbringungsmenge im Unternehmen hergestellt wird“; varia‐ ble Kosten „sind dagegen solche, die sich mit der Menge des hergestellten Gutes bewegen“ (Frambach 2013, 94). In unserem Beispiel F sind die Kosten, die die Käserei für ihr Gebäude einmal bezahlt hat, sowie die Löhne der Mitarbeiter, falls sie fest angestellt sind, fixe Kosten. Die Kosten für Milch sind variable Kosten. Wir definierten die Produktionsfunktion x als eine Funktion der Fakto‐ reneinsatzmengen r 1 , r 2 , …., r n .: x = f (r 1 , r 2 , …., r n .). Folglich können wir 3.3 Unternehmen und Produktion 109 <?page no="110"?> x als eine Funktion der Produktionskosten repräsentieren: x = f(C), deren Kehrfunktion dann die Produktionskosten in Abhängigkeit von der Aus‐ bringungsmenge repräsentiert: C(x). Hiernach lassen sich die Stückbzw. Durchschnittskosten als die Produktionskosten pro Ausbringungsmenge darstellen: C(x) x . Grenzkosten „geben an, um wie viel die Kosten sich verändern, wenn die Ausbringungsmenge um eine Einheit verändert würde“ (Frambach 2013, 95). Die Kostenfunktion gibt jeweils die minimalen Herstellungskosten für jede vorgegebene Ausbringungsmenge unter der Bedingung technisch effi‐ zienter Produktion an. Bei den linear-limitationalen Produktionsfunktionen lässt sich die Kostenfunktion ziemlich einfach bestimmen. Da diese Funktion technisch effizient sein soll, gilt: x = r 1 a 1 = … = r n a n oder: r i = a i . x Daraus ergibt sich: C = ∑ i = 1 n q i ⋅ r i = ∑ i = 1 n q i ⋅ a i ⋅ x = ∑ i = 1 n q i ⋅ a i ⋅ x = c ⋅ x wobei c eine Konstante ist. Die obige Formel zeigt, dass die Kosten in einem linearen Verhältnis zur Ausbringungsmenge stehen (s. →-Abbildung 3.7). 110 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="111"?> C(x) x (q 1 · a 1 + … + q n · q n ) · x Abbildung 3.7: Kostenfunktion bei linear limitationaler Produktionsfunktion (Quelle: Fram‐ bach 2013, Abb. 3.33) Bis jetzt haben wir die Kosten in Abhängigkeit der Ausbringungsmenge betrachtet. Diese Betrachtung war auf eine technisch effiziente Produktion fokussiert, also wie ein Unternehmen eine gewisse Ausbringungsmenge seines Gutes (oder seiner Dienstleistung) mit minimalen Kosten produzieren kann. Wenn ein Unternehmen seinen Gewinn maximieren möchte, muss es aber nicht nur seine Kosten, sondern auch seine Erlöse berücksichtigen. Hierzu soll das Konzept des Grenzerlöses in Entsprechung zu den Grenz‐ kosten vorgestellt werden. Der Grenzerlös gibt an, um wie viel die Erlöse sich verändern, wenn die Ausbringungsmenge um eine Einheit verändert wird: dE dx . Die gewinnbringende Ausbringungsmenge x* ergibt sich dann aus dem Folgenden: dE x* dx = dC x* dx = p Die obige Formel besagt, dass die gewinnmaximierende Ausbringungs‐ menge dann zustande kommt, wenn der Grenzerlös den Grenzkosten gleicht. Die Mitberücksichtigung von Erlösen, die ein Unternehmen am Markt erzielt, bringt uns zum Marktmodell, das wir im nächsten Kapitel diskutieren. 3.3 Unternehmen und Produktion 111 <?page no="112"?> 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 3.4.1 Angebot und Nachfrage Bei dem in der Ökonomie am häufigsten angewendeten Modell handelt es sich um das Angebot-Nachfrage-Modell. Es modelliert das Geschehen am Markt, wobei der Markt als Interaktion von Angebot (supply) und Nachfrage (demand) definiert wird. Es bestimmt, (1) welche Menge eines Produkts (2) zu welchem Preis auf dem Markt zwischen Anbietern und Nachfragern gehan‐ delt wird. Diese beiden Komponenten bilden die endogenen (abhängigen) Variablen (→ Kapitel 3.1) unseres Modells. Die weiteren Kriterien, wie die Produktionskosten der Anbieter oder das Einkommen der Nachfrager, sind exogene (unabhängige) Variablen. Bei der Bestimmung eines Marktes stellt sich die Frage nach der Eingrenzung eines Marktes sowohl im Sinne der abgedeckten Fläche (z. B. ein Obstmarkt in Bochum, oder in NRW, oder in Deutschland), als auch im Sinne der einzubeziehenden Produkte (z. B. Äpfel, oder Obst, oder Obst und Gemüse, oder Lebensmittel). Diskussionsfrage | Können Sie gleichermaßen die Eingrenzung eines Religionsmarktes erklären? Für die Modellierung des Marktes wird in der Mikroökonomie oft das Modell des vollkommenen Marktes verwendet. Wie alle (ökonomi‐ schen) Modelle basiert dieses auf vielen die Wirklichkeit vereinfachenden Prämissen. Dabei wird z. B. angenommen, dass die Transaktionskosten, die Kommunikations- und Transportkosten sowie die Informationsverarbei‐ tungszeit allesamt gleich null sind und das wirtschaftliche Handeln an einem einzigen Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet. Zudem wird vorausgesetzt, dass die Wirtschaftsakteure über vollständige Informationen bezüglich aller Güter und Dienstleistungen verfügen und ihre Handlungen keinerlei Einfluss auf den Preis ausüben. Außerdem kann jeder Nachfrager und jeder Anbieter beliebig viel von einem Gut kaufen oder anbieten. Transaktionskosten Unter Transaktionskosten versteht man Kosten, die bei Marktbeteili‐ gung über den eigentlichen Kauf bzw. Verkauf von Gütern oder Dienst‐ 112 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="113"?> leistungen entstehen (darunter z. B. die Informationsbeschaffungskos‐ ten). Diskussionsfrage | Eine Grundannahme des Marktmodells besteht darin, dass alle Marktteilnehmer über die gleichen Informationen, z. B. in Bezug auf Preis und Qualität des Produktes, verfügen. Inwieweit trifft diese Prämisse auf religiöse Güter zu, die nach dem Tod konsu‐ miert werden? Wie bei einem Stand auf einem Obstmarkt gibt es in diesem Modell zwei Sei‐ ten: die Angebots- und die Nachfrageseite. Wir betrachten die beiden Seiten in diesem Kapitel getrennt, jedoch parallel, und wenden uns anschließend in →-Kapitel 3.4.2 dem Marktmodell in der Interaktion zu. Diskussionsfrage | Wie würden Sie den Markt religiöser Güter mo‐ dellieren: Wer bildet die Angebotsseite in Ihrem Modell, transzendente Akteure (Gottheiten) oder die Priester? Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung? Im Folgenden stehen D für Nachfrage (demand) und S für Angebot (supply). x(p) und r(p) ergeben die nachgefragte oder die angebotene Menge eines Gutes. In der folgenden Tabelle stellen wir die zwei Seiten des Marktes - Unter‐ nehmen, Anbieter bzw. Produzenten einerseits und Haushalte, Nachfrager bzw. Konsumenten andererseits - gegenüber: Angebot Nachfrage Anbieter Nachfrager Die angebotene Menge und der Preis stehen in einer positiven Korrelation (Gesetz des Angebots). Die nachgefragte Menge und der Preis stehen in einer negativen Korrelation (Gesetz der Nachfrage). Das heißt, die angebotene Menge nimmt mit steigendem Preis zu. Das heißt, die nachgefragte Menge nimmt mit steigendem Preis ab. 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 113 <?page no="114"?> Angebot Nachfrage Diese Korrelation lässt sich als eine Kurve darstellen, die Angebotskurve, wobei die angebotene Menge auf die x-Achse und der Preis auf die y-Achse übertragen wird. Diese Korrelation lässt sich als eine Kurve darstellen, die Nachfragekurve, wobei die nachgefragte Menge auf die x-Achse und der Preis auf die y-Achse übertragen wird. s. →-Abbildung 3.8 s. →-Abbildung 3.9 Das Angebot kann horizontal und ver‐ tikal vom Diagramm abgelesen werden: Die Nachfrage kann horizontal und ver‐ tikal vom Diagramm abgelesen werden: horizontal: die angebotene Menge bei einem bestimmten Preis horizontal: die nachgefragte Menge bei einem bestimmten Preis Bei einem Preis von 12 € sind die Verlage bereit, von einem bestimmten (! ) Buch bis zu 2000 Exemplare zu drucken. Bei einem Preis von 12 € ist die Leser‐ schaft bereit, von einem bestimmten (! ) Buch bis zu 3000 Exemplare zu kaufen. vertikal: der mindestens akzeptierte Preis bei einer bestimmten angebotenen Menge vertikal: der höchstens akzeptierte Preis bei einer bestimmten nachgefrag‐ ten Menge Damit die Verlage ein bestimmtes Buch mit einer Auflage von 3000 pro Jahr verlegen, muss der Preis mindestens 14 € sein. Damit die Leserschaft 4000 Exemplare eines bestimmten Buches pro Jahr kauft, darf der Preis 10 € pro Exemplar nicht überschreiten. Der Minimalpreis ist der Mindest‐ preis, den der Anbieter erzielen muss,-um bereit zu sein, eine weitere Einheit des Gutes zu produzieren. Ver‐ hält sich der Anbieter optimal, entspre‐ chen die Grenzkosten dem Minimal‐ preis. Der Reservationspreis ist die Zah‐ lungsbereitschaft des Nachfragers, um eine weitere Einheit des Gutes zu kon‐ sumieren. Bei steigendem Angebot nimmt der Mi‐ nimalpreis zu. Bei steigender Nachfrage nimmt die Zahlungsbereitschaft ab. Das heißt, je mehr man von einem Gut bereits angeboten hat, desto geringer ist der Gewinn der Produktion einer weiteren Einheit, und umso höher ist demzufolge der Minimalpreis. Das heißt, je mehr man von einem Gut bereits konsumiert hat, desto geringe‐ ren Nutzen zieht man aus dem Konsum einer weiteren Einheit und desto gerin‐ ger ist demzufolge die Zahlungsbereit‐ schaft. Das aggregierte Angebot S für einen bestimmten Preis ist gleich die Summe der angebotenen Mengen aller Anbieter (S 1 , S 2 etc.). Die aggregierte Nachfrage D für ei‐ nen bestimmten Preis ist gleich die Summe der nachgefragten Mengen aller Konsumenten (D 1 , D 2 etc.). 114 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="115"?> Angebot Nachfrage Die Angebotskurven aller individuellen Anbieter lassen sich dementsprechend zu einer einzigen aggregierten Ange‐ botskurve zusammenfassen. Die Nachfragekurven aller individuel‐ len Konsumenten lassen sich dement‐ sprechend zu einer einzigen aggregier‐ ten Nachfragekurve zusammenfassen. Dabei werden die Mengen addiert und nicht die Preise. Die angebotene Menge und Produkti‐ onskosten stehen in einer negativen Korrelation. Für die meisten Güter stehen die nach‐ gefragte Menge und Einkommen in ei‐ ner positiven Korrelation. Ein erwarteter Preisanstieg steht in ne‐ gativer Korrelation zum Angebot. Ein erwarteter Preisanstieg steht in po‐ sitiver Korrelation zur Nachfrage. Tabelle 3.1: Angebot und Nachfrage in Gegenüberstellung Buch (pro Jahr) Preis (Euro) 1000 2000 3000 4000 10 12 14 16 S Abbildung 3.8: Die Angebotskurve Abbildung 3.8: Die Angebotskurve 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 115 <?page no="116"?> Buch (pro Jahr) Preis (Euro) 1000 2000 3000 4000 10 12 14 16 D Abbildung 3.9: Die Nachfragekurve Abbildung 3.9: Die Nachfragekurve 3.4.2 Das Marktmodell In → Kapitel 3.2 haben wir gelernt, dass Haushalte optimale Entscheidun‐ gen treffen. Dabei haben wir untersucht, wie ein Haushalt anhand seiner Präferenzen seinen Nutzen maximiert. Des Weiteren haben wir diskutiert, wie ein Unternehmen sich ökonomisch verhält (→ Kapitel 3.3). In → Kapitel 3.4.1 haben wir Angebot und Nachfrage gegenübergestellt. Die angebotene oder nachgefragte Menge lässt sich nach diesem Modell im Verhältnis zu einem bestimmten Preis festlegen. Aber wer bestimmt den Preis und wie? Obwohl wir bei dem Angebot-Nachfrage-Modell vom Markt gesprochen haben, auf welchem die Anbieter die eine Seite und die Nachfrager die andere Seite darstellen, sind wir in unserem vereinfachten Modell von der Existenz eines einzigen Wirtschaftsakteurs ausgegangen, entweder eines Anbieters oder eines Nachfragers. In der Realität besteht der Markt jedoch nicht nur aus einem einzigen, sondern aus mehreren Haushalten sowie ihren Interaktionen. Zudem agieren diese nicht unabhängig voneinander, sondern reagieren aufeinander. Nun erweitern wir unser Modell um zusätzliche Anbieter und Nachfrager und fragen, wie sie am Markt ihre Entscheidungen treffen und ihre individuellen Präferenzen vertreten. Dabei sind wir nicht 116 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="117"?> mehr gezwungen, den Austauschpreis zwischen Anbietern und Nachfra‐ gern als vorbestimmt anzunehmen, sondern können den Austauschpreis eines Gutes als Ergebnis ihrer Interaktion kalkulieren. Durch diese Interak‐ tion erreicht der Markt nach einer gewissen Zeit das Gleichgewicht. Das Marktgleichgewicht wird durch den Schnittpunkt der Angebots- und der Nachfragekurve repräsentiert. Die Koordinaten dieses Punktes ergeben den Preis und die Menge der gehandelten Ware (s. → Abbildung 3.10). Somit stellt sich das Marktmodell als eine Gleichgewichtsanalyse dar. Buch (pro Jahr) Preis (Euro) 1000 2000 3000 4000 10 12 14 16 S D Abbildung 3.10: Das Marktgleichgewicht Abbildung 3.10: Das Marktgleichgewicht Das Marktgleichgewicht wird erreicht, wenn alle Entscheidungsträger ihr Verhalten optimiert haben und dieses nicht mehr ändern. Bei einem Grund‐ stückkauf möchte die Käuferin das Grundstück mit einem möglichst niedri‐ gen Preis kaufen und die Verkäuferin möchte es mit einem möglichst hohen Preis verkaufen. Der Kauf geschieht erst dann, wenn ein Gleichgewicht zustande kommt, die beiden Seiten also einen Preis festlegen, mit dem sie „zufrieden“ sind, also davon ausgehen, dass die andere Seite mit einem niedrigeren oder höheren Preis nicht einverstanden wäre. 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 117 <?page no="118"?> Preis (Euro) x 0 16 S D 1 D 0 x 1 x p 0 p 1 G 1 G 0 Abbildung 3.11: Zunahme der Nachfrage und die Entstehung eines neuen Gleichgewichts Das Marktmodell erlaubt Veränderungen in Angebot oder Nachfrage vor‐ herzusagen. Nimmt die Nachfrage beispielsweise zu (D 0 zu D 1 in → Abbil‐ dung 3.11), dann verschiebt sich der Gleichgewichtspunkt von G 0 zu G 1 . Dies bedeutet, dass sich sowohl der Preis als auch die Menge der gehandelten Ware erhöhen (p 0 zu p 1 und x 0 zu x 1 ). Übungsfrage | Analysieren Sie die drei anderen Änderungen, Ab‐ nahme der Nachfrage sowie Zu- und Abnahme des Angebots! Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf den Preis und die Menge? Das Marktmodell kann schnell zu komplex werden. Einfachheitshalber reduzieren wir die Anzahl der Marktgüter auf eins und die der Marktteil‐ nehmer auf zwei: ein Produzent und ein Konsument. Auch wenn diese Reduktion wie eine enorme Vereinfachung scheint, soll daran erinnert werden, dass sich ein realer Markt mit mehreren Unternehmen und Konsu‐ menten ausreichend gut mit diesem Modell nachbilden lässt, indem alle Produzenten zusammen als ein Unternehmen und alle Konsumenten als ein Haushalt zusammengefasst werden. Wie in vorherigen Kapiteln vorgestellt, schreiben wir jedem Produzenten und jedem Konsumenten eine Angebots- 118 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="119"?> bzw. Nachfragefunktion zu. Nun können wir eine einzige Angebotsfunktion aller Produzenten sowie eine einzige Nachfragefunktion aller Konsumenten unseres Modells durch das Aggregat dieser Angebots- und Nachfragefunk‐ tionen ableiten. Ähnlich ist das Verfahren mit nur einem Marktgut nützlich, wenn auch realitätsfern, da wir (wie im Falle des Haushaltsmodells) mehrere Güter zusammengefasst als ein Gut darstellen können. Die Gesamtnachfrage von Haushalten (Anzahl H) nach einem Marktgut mit dem Preis p lautet: x D (p) = ∑ ℎ = 1 H x ℎD (p) Die obige Gesamt- oder Marktnachfragefunktion eines Gutes gibt zu jedem Preis die Nachfragemenge aller Haushalte nach dem Marktgut an. Gleichermaßen lautet die Güterangebotsfunktion des Markts, also das Gesamtangebot von K Unternehmen von einem Gut mit dem Preis p, wie folgt: x S (p) = ∑ k = 1 K x kS (p) Abbildung 3.12: Das Gesamtangebot (oben) und die Gesamtnachfrage (unten) (Quelle: Frambach 2013, 4.1 und 4.2) Zu beachten ist, dass man von einem typischen Verlauf der Gesamtnach‐ frage- und Gesamtangebotsfunktion ausgehen kann. Ein typischer Verlauf 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 119 <?page no="120"?> bedeutet, dass die Nachfrage (das Angebot) und der Preis in einer negativen (positiven) Korrelation zueinander stehen: je höher der Preis, desto geringer die Nachfrage bzw. desto höher das Angebot. Es ist wohl möglich, dass die Nachfrage- oder Angebotsfunktionen einzelner am Markt beteiligter Haus‐ halte atypisch verläuft. Diese atypischen Verläufe verschwinden jedoch in der Gesamtnachfrage- und Gesamtangebotsfunktion. Empirisch geht man von Kurven für diese Funktionen, wie in der → Abbildung 3.12 dargestellt, aus. Der Austausch auf dem Markt findet folgendermaßen statt: „Erst wenn sich genügend Anbieter (Nachfrager) finden, die zu einem bestimmten Preis bereit sind genau die Menge zu verkaufen (kaufen), die die Nachfrager (Anbieter) zu diesem Preis auch tatsächlich zu kaufen (verkaufen) bereit sind, findet der wirkliche Tausch statt. Es ist also der Gleichgewichtspreis, der die Nachfragen und Angebote zum Ausgleich bringt. Die zugehörige (tatsäch‐ lich getauschte) Menge heißt Gleichgewichtsmenge. Grafisch ergibt sich das Gleichgewicht (s*, p*) auf einem einzelnen Markt aus dem Schnittpunkt der Gesamtnachfrage- und Gesamtangebotskurve. Da natürlich alle Punkte, sowohl auf der Gesamtnachfrageals auch auf der Gesamtangebotsfunktion, Ergebnisse individueller Optimierungskalküle sind, gilt dies selbstverständlich auch für den Gleichgewichtspunkt. [Mit anderen Worten]: die Realisation des Gleichgewicht‐ spunktes spiegelt eine Menge und einen Preis wider, bei dem die Wirtschaftssub‐ jekte ihre Nutzen bzw. ihre Gewinne maximiert haben“ (Frambach 2013, 122). Aber wie verhält es sich, wenn Nachfrage und Angebot (noch) nicht zum Ausgleich gekommen sind? Wenn der Markt sein Gleichgewicht noch nicht erreicht hat, wird entweder zu viel angeboten oder zu viel nachgefragt. Übersteigt die Angebotsmenge die Nachfragemenge, besteht ein Über(schuss)angebot. Übersteigt die Nachfragemenge die Angebotsmenge, besteht eine Über(schuss)nachfrage. Dies tritt auf, wenn der Preis eines Gutes oberhalb des Gleichgewichts‐ preises liegt. Dann sind die Konsumen‐ ten nicht bereit, die von den Produzen‐ ten produzierte Menge eines Gutes zum gegebenen Preis zu konsumieren. Diese tritt auf, wenn der Preis ei‐ nes Gutes unterhalb des Gleichge‐ wichtspreises liegt. Dann sind die Produzenten nicht bereit, die von den Konsumenten nachgefragte Menge ei‐ nes Gutes zum gegebenen Preis zu pro‐ duzieren. Tabelle 3.2: Marktgleichgewicht 120 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="121"?> Die Über(schuss)nachfrage (excessive demand) wird demgemäß wie folgt berechnet. Die entsprechenden Mengen zu Über(schuss)nachfrage und Über(schuss)angebot sind in →-Abbildung 3.13 zu sehen: e x (p) = x D (p) - x S (p) Überschussnachfrage, wenn e(p) > 0, Überschussangebot, wenn e(p) < 0 und Gleichgewichtspreis e(p*) = 0 Abbildung 3.13: Überschussnachfrage nach einem beliebigen Gut (nach Frambach 2013, 4.4) x S > x D x S x D x S < x D p * x * x p Abbildung 3.13: Überschussnachfrage nach einem beliebigen Gut (nach Frambach 2013, 4.4) Treffen sich die Gesamtnachfrage- und die Gesamtangebotsfunktion min‐ destens an einem Schnittpunkt, wird es ein Gleichgewicht geben, d. h., es gibt einen Preis p*, zu dem die Gesamtnachfrage und das Gesamtangebot gleich sind (e(p*) = 0). Es ist möglich, dass sich die Gesamtnachfrage- und die Gesamtangebotsfunktion in mehreren Schnittpunkten treffen. Wenn sie sich aber nur einmal schneiden, dann nennt man das Gleichgewicht eindeutig. Im Anschluss an das Marktmodell möchten wir hier noch das Renten‐ konzept vorstellen. Das Konzept bezeichnet den Vorteil, den Haushalte und Unternehmen gewinnen, wenn sie ein Gut zu einem Marktpreis aus‐ tauschen, der besser ist als der Preis, zu dem sie bereit wären, dieses Gut zu kaufen oder zu verkaufen. Wenn die Konsumenten bereit sind, eine 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 121 <?page no="122"?> gewisse Menge eines Gutes zu einem höheren Preis als dem Marktpreis zu kaufen, dann profitieren die Produzenten von den dadurch erzielten Erlösen. Die sogenannte Konsumentenrente lässt sich definieren als die „Differenz zwischen dem Preis, den ein Konsument für das Gut zu zahlen bereit ist, abzüglich des tatsächlich gezahlten Preises“ (Frambach 2013, 153). Dementsprechend definiert sich die Produzentenrente als die Differenz zwischen dem tatsächlich erzielten Preis und dem Preis, zu dem ein Produzent ein Gut zu verkaufen bereit wäre. Abbildung 3.14: Konsumentenrente I (Quelle: Frambach 2013, 4.27) a bc p 1* 1 2 3 4 5 β α x 1 x 1 x 2 p 1 B C a b A U 1 Abbildung 3.14: Konsumentenrente I (Quelle: Frambach 2013, 4.27) Die Konsumentenrente lässt sich durch die Situation veranschaulichen, in der ein Gut zuerst mit einem Preis c (wie in → Abbildung 3.14) auf dem Markt angeboten wird. Gemäß seinen Präferenzen ist der Konsument bereit, für die erste Einheit des Gutes den Preis a zu zahlen und für die zwei Einheiten den Preis b (a > b > c). Er kauft jedoch drei Einheiten des Gutes zum Preis c. Seine Konsumentenrente ist somit: KR = 1 · (a - c) + 1 · (b - c) 122 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="123"?> Konsumentenrente des Haushalts „Die Konsumentenrente eines Haushalts, der die Menge x 1 des Gutes 1 zum Preis p 1 nachfragt […] entspricht der Fläche unter der Nachfrage‐ kurve zwischen 0 und x 1 abzüglich der Fläche p 1 • x 1 also dem Betrag, den der Haushalt tatsächlich zahlt“ (Frambach 2013, 154; s. → Abbildung 3.15). Nachfragekurve x 1 p 1* p 1 x 1 KR = 0,5 . (p 1 - p 1* ) . x 1 KR p Abbildung 3.15: Konsumentenrente II (Quelle: Frambach, Abb. 4.28) Abschließend möchten wir kurz auf das Konzept der Wohlfahrt hinweisen. Wohlfahrt besteht aus der Addition von Konsumenten- und Produzenten‐ renten. Bei vollkommener Konkurrenz ist sie mit dem Gleichgewichtspreis am höchsten. Das bedeutet, dass alle Marktbeteiligten zusammengenommen vom Gleichgewichtspreis am meisten profitieren. In diesem Kapitel haben wir die Grundbegriffe der Ökonomie erläutert. Dies befähigt Sie, die religionsökonomische Fachliteratur, die ökonomische Begriffe und Modelle benutzt, sowie weitere Kapitel dieses Lehrbuches zu verstehen. Wir haben erklärt, wie man das ökonomische Verhalten konsumierender und produzierender Haushalte modellieren kann. In → Ka‐ pitel 5 z. B. werden wir mithilfe dieser Modellierungen das Verhalten religiöser Institutionen und Organisationen untersuchen. In → Kapitel 7 werden wir hierauf aufbauend Ansätze vorstellen, die die Mängel der Mikroökonomie in der religionsökonomischen Forschung aufheben sollten. Die Einführung ins Marktmodell erlaubt eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Anwendung auf die Interaktion der Religionen bzw. religiöser Organisationen sowie mit der Kritik über diese Anwendung, welche in →-Kapitel 6 besprochen werden. 3.4 Angebot und Nachfrage auf dem Markt 123 <?page no="124"?> 3.5 Weiterführende Literatur Allgemeiner Hinweis: Wenn Sie sich tiefer mit der Mikroökonomie auseinandersetzen möchte, sind Sie gut beraten, eine Vorlesung zur Mi‐ kroökonomie an einer Universität zu besuchen. Die Ökonomie ist fast an allen deutschen Universitäten vertreten. Da eine Einführung in die Mikroökonomie für diese Disziplin grundlegend ist, kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass man an fast jeder Universität eine derartige Lehrveranstaltung finden kann. Frambach, Hans A. 2013. Basiswissen Mikroökonomie. 3., überarb. und erw. Aufl. UTB Wirtschaftswissenschaften 8526. Konstanz: UVK. Eine gut strukturierte deutschsprachige Einführung bietet Frambachs Buch, publiziert in derselben Reihe wie dieses Lehrbuch, die wir diesem Kapitel zugrunde legen und oft zitieren. Nach einer Einleitung erläutert es die Theorie des Haushaltes, die Theorie der Unternehmung und die Markttheorie in drei ausführlichen Kapiteln. Das letzte Kapitel thematisiert das Marktversagen. Das Buch hebt wichtige Punkte in Form von Merksätzen, Definitionen und Zusammenfassungen hervor und schließt viele Beispiele und Übungen ein. Daher eignet es sich als eine Einführung sehr gut. Frank, Robert H, und Edward Cartwright. 2021. Microeconomics and beha‐ viour. Third edition. London: McGraw Hill. Eine ebenfalls empfehlenswerte Einführung ist dieses mehrfach aufge‐ legte Buch, das insbesondere ökonomisches Verhalten fokussiert (wie der Titel schon andeutet). Der erste Teil bietet eine Einführung in die Ökonomie (S. 1 - 50), Teil zwei und drei besprechen jeweils die Theorie des Konsumentenverhaltens (S. 51 - 262) und die Theorie der Firmen und Marktstruktur (S. 263 - 492). Durch die vielen Beispiele und Übungen eignet sich der Band zur Selbstlektüre. Pindyck, Robert S., und Daniel L. Rubinfeld. 2018. Mikroökonomie. 9. Aufl. Wi - Wirtschaft. München: Pearson Studium. 124 3 Einführung in Gegenstand und Methoden der Mikroökonomie <?page no="125"?> Dieses Buch bietet eine weitere ausführlichere Einführung in die Mikroökonomie. Es beginnt ebenfalls mit einer generellen Einführung in die Ökonomie (S. 23 - 100) und bespricht im zweiten Teil Verbrau‐ cherverhalten, Produktion sowie das Marktmodell (S.-101 - 451). Gabler Wirtschaftslexikon. 2009-2022. Springer Gabler. https: / / wirtschaftsle xikon.gabler.de. Eine zuverlässige Quelle für die Erläuterung wirtschaftswissenschaft‐ licher Termini ist das frei zugängliche Gabler Wirtschaftslexikon. 3.5 Weiterführende Literatur 125 <?page no="127"?> 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen Leitfragen des Kapitels ● Welche Vorschriften stellen Religionen in Bezug auf wirtschaftliches Handeln auf ? Welche Ge- und Verbote existieren in verschiedenen Traditionen und warum? ● Wie wirken sich die religiös-ökonomischen Ge- und Verbote einer Religion auf die Gesellschaft aus, in der sie eine tragende Rolle spielt? ● Welche weitreichenden Konsequenzen - zeitlich, räumlich und ge‐ samtgesellschaftlich - können sich daraus ergeben? Wie kann man diese mit sozialwissenschaftlichen bzw. ökonomischen Methoden untersuchen? Dieses Kapitel thematisiert Vorschriften, die Religionen in Bezug auf ökono‐ misches Handeln aufstellen, und die Konsequenzen, die sich im wirtschaft‐ lichen Handeln entsprechend daraus ergeben. Die grundsätzliche Frage lautet also, wie die Wirtschaft von der Religion reguliert wird. Religion ist dabei vornehmlich (jedoch nicht immer! ) als unabhängige Variable und die Wirtschaft als abhängige Variable zu betrachten. In → Kapitel 4.1 konzentrieren wir uns unter Betrachtung mehrerer Beispiele aus verschie‐ denen Religionen auf die religiös-ökonomischen Vorschriften selbst. Hier geht es ganz empirisch um Ge- und Verbote, die Religionen hinsichtlich ökonomischen Verhaltens aufstellen, also um explizite Vorschriften. In → Kapitel 4.2 werden daraufhin zwei wissenschaftliche Ansätze vorgestellt, die die sozioökonomischen Auswirkungen religiös-ökonomischer Ethiken auf der gesellschaftlichen Ebene untersuchen. Hier geht es u. a. um unbeab‐ sichtigte Konsequenzen, die sich aus breiteren historischen Entwicklungen ergeben haben. Wichtig ist, dass in diesem Kapitel - wie in der gesamten Religionsökonomie - der Begriff „Ökonomie“ nicht auf den Umgang mit Geld zu reduzieren ist. Eine religiöse ökonomische Ethik kann z. B. den Betrug oder das Glücksspiel verbieten. Dabei zielt die Vorschrift nicht auf <?page no="128"?> die Regulierung des Umgangs mit Geld, sondern auf die Regulierung des Umgangs der Individuen miteinander. 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele Die religiös-ökonomische Ethik legt die ökonomischen Vorschriften ei‐ ner Religion für deren Geltungsbereich dar. Sie schreibt die Regeln für ökonomisches Verhalten seitens der individuellen Anhänger sowie der Organisationen vor, die in der von dieser Religion geprägten Gesellschaft agieren. Somit betrifft die religiös-ökonomische Ethik zwei Ebenen: die individuelle (Mikroebene) und die gesamtgesellschaftliche (Makroebene; zu gesellschaftlichen Ebenen s. → Kapitel 2.2.1). Auf der Mikroebene schreibt sie Individuen sowie Familien vor, wie viele Steuern sie z. B. an religiöse Organisationen zu zahlen oder wie sie mit ihrem jährlichen Einkommen umzugehen haben. Auf der Makroebene gibt sie Organisationen vor, wie sie ökonomisch miteinander zu interagieren haben, wie z. B. Banken mit Darlehen und Krediten umgehen müssen, wie viele Zinsen sie beziehen dürfen und in welche Bereiche religiöse Organisationen die an sie gezahlten Spenden zu investieren haben. Wir sehen, dass somit zwei Bereiche der Gesellschaft, Religion und Wirtschaft, in Interaktion miteinander stehen. Die Religion versucht diese Interaktion zu regulieren. Somit ist die religiös-ökonomische Ethik nichts anderes als die Regulierung der Interaktion zweier Gesellschaftssysteme - Religion und Wirtschaft - durch die Religion. Wenn wir allerdings von Religion und Wirtschaft als Teilsysteme der Gesellschaft sprechen, müssen wir insbesondere mit Blick auf historische Gegebenheiten berücksichtigen, inwieweit sie in der Geschichte als Teilsysteme voneinander differenziert existiert haben, bis wann sie verflochten waren und ob sie noch verflochten sind. Aus ökonomischer Perspektive können wir fragen, warum die Religion versucht, die ökonomischen Interaktionen in der Gesellschaft zu regulieren. Wenn wir die ökonomische Grundmaxime Nutzenmaximierung in Betracht ziehen, können wir antworten, dass die Religion zum einen versucht, damit ihren eigenen Nutzen, zum anderen die Wohlfahrt der Gesellschaft (→ Kapitel 3.3.3) zu maximieren. An dieser Stelle ließe sich allerdings argumentieren, dass die Religion mit ihrem ökonomischen Gebot der ge‐ samtgesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung gegen die eigene Nutzenmaxi‐ mierung handelt. Aus ökonomischer Perspektive kann man aber am Prinzip 128 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="129"?> der Nutzenmaximierung festhalten, da die Religion den geringeren Nutzen ihres einzelnen Bereichs auf der Mikroebene gegen einen größeren Nutzen für alle Anhänger auf der Makroebene eintauscht. Viele Religionen in Geschichte und Gegenwart postulieren ethische Vorgaben für ökonomisches Verhalten. Oft wird in der Religionsökonomie in diesem Zusammenhang der Islam mit seinem Zinsverbot und dessen Konsequenzen für islamisch geprägte Staaten herangezogen. Um diese Perspektive zu erweitern, wird im Folgenden beispielhaft auf einige reli‐ giös-ökonomische Ethiken unterschiedlicher Religionen eingegangen. 4.1.1 Steuern und Zinsverbot im Islam Das Christentum verpflichtet seine Mitglieder bekanntermaßen zu einer Kirchensteuer, in Deutschland um die 9 % der Einkommenssteuer. Ein ähnliches islamisches Gebot, das ḫums („Einfünftel“), eine Art Einkom‐ menssteuer, schreibt vor, dass Muslime ein Fünftel ihrer Einkünfte für die öffentliche Nutzung vorsehen müssen. Die Vorschrift bezieht sich ursprüng‐ lich auf Kriegsbeute und wird in Koran 8: 41 begründet: „Und wisset: Was immer ihr erbeutet, so gehört Allah ein Fünftel davon und dem Gesandten, und den Verwandten, den Waisen, den Armen und dem Sohn des Weges“. Im islamischen Recht und in der koranischen Kommentartradition wird diskutiert, ob diese Vorschrift auch auf andere Einkunftsformen zutrifft. Schiitische Rechtsgelehrte vertreten eher die Ansicht, dass das Gebot das Vermögen generell und nicht nur das Beutegut betrifft. Es wird sogar berichtet, dass der Prophet bestimmte Personen, u. a. seinen Neffen ʿAlī b. Abī Ṭālib, der später der erste schiitische Imam wurde, mit dem Einsammeln und der Verwaltung des „Einfünftels“ beauftragt habe. Das „Einfünftel“ wird zum Teil für eine der Kardinalpflichten der Muslime gehalten. Wozu es verwendet werden darf, wird in den unterschiedlichen islamischen Traditionen verschieden gehandhabt. Ein Teil des „Einfünftels“, normaler‐ weise ein Fünftel, aber nach den unterschiedlichen Interpretationen des koranischen Verses von verschiedenen Rechtsgelehrten auch ein Viertel oder ein Drittel, wird Gott und seinem Propheten zugeteilt, vor allem um die Kaʿba aufrechtzuerhalten, d. h. zur Finanzierung der Religion (→ Kapitel 5.1). Das ḫums wird darüber hinaus für die Finanzierung der Bedürfnisse von Waisen und Armen in der islamischen Gesellschaft verwendet (Zysow und Gleave 2012). 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 129 <?page no="130"?> Diese Verwendung von ḫums bringt uns zu einer anderen, aber ähnlichen, (Kardinal-)Pflicht der Muslime: dem zakāt, einer Art Vermögenssteuer. Sie wird als die obligatorische Zahlung eines bestimmten Anteils bestimmter Kategorien des rechtmäßigen Vermögenszuwachses zugunsten der Armen und anderer ähnlicher Gruppen definiert. Der Begriff ist judeo-aramäischen Ursprungs („Rechtschaffenheit“), was den muslimischen Philologen der frühislamischen Zeit jedoch nicht bekannt war. Deswegen haben sie ihn aus dem Verb zakā, mit der Bedeutung „steigern“, „vermehren“ und „rein sein“, abgeleitet. In diesem Sinne versteht sich der Terminus als Steigerung des Vermögens, von dem ein zakāt bezahlt wird, was auch der Reinigung der von der zahlenden Person bei Anhäufung ihres Vermögens möglicherweise begangenen Sünden dienen soll. Diese Interpretation verdeutlicht den reli‐ giösen Aspekt dieses ökonomischen Gebots. Die Zahlung funktioniert dann nicht nur wie eine Vermögenssteuer, sondern auch wie eine Reinigung der zahlenden Person. Ähnlich funktioniert eine Art Kopfsteuer, die ebenfalls mit dem Terminus zakāt bezeichnet wird: zakāt al-fiṭr: eine Kopfsteuer, die jeder Muslim und jede Muslimin, unmündig oder erwachsen, am Ende des Fastenmonats Ramadan zahlen muss. Der gezahlte Betrag reinigt die Zahlenden von ihrem Fehlverhalten und anderen Unzulänglichkeiten wäh‐ rend der Fastenperiode und finanziert gleichzeitig den Armen ihr Essen am fiṭr-Fest. Mit diesen Steuerzahlungen werden somit im islamischen Recht zwei Sachverhalte miteinander verflochten: die Reinigung der Zahlenden und die Finanzierung der Bedürftigen. Somit legt uns zakāt ein Mittel in die Hand, um die Ausgaben für die Reinigung von Sünden in einem ökonomischen Modell zu errechnen. Unter islamischen Rechtsgelehrten gibt es keinen Konsens über die dem zakāt unterlegenen Vermögensarten, die Freibeiträge jeder Vermögensart, die Rate und die Rechnungsperiode. Ebenfalls ist der Zweck dieser Zahlung unklar, ob z. B. für Reue bei Fehlverhalten gezahlt werden muss. Auf jeden Fall ist die Rate für Muslime (z. B. 2,5 %) und die Angehörigen von religiösen Minderheiten (z. B. 10 %) unterschiedlich. Als die dem zakāt unterliegenden Vermögensarten werden historisch bedingt Tierbestand, Ernte, Gold und Silber, Minen und Schätze sowie Handelswaren aufgezählt. Die zakāt-Steuer wird in Saudi-Arabien, Libyen, Malaysia, Jemen, Pakistan und Sudan staatlich durchgesetzt, wobei dies in den letzteren drei Ländern sogar im Grundgesetz verankert ist. Inter‐ essanterweise wird zakāt in der islamischen Literatur metaphorisch z. B. für die Gebete verwendet, die eine Muslimin für eine andere, bereits verstorbene Muslimin aufsagt, die zu Lebzeiten selbst keine Gebete aufgesagt und somit 130 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="131"?> kein „Gebetsvermögen“ angehäuft hat (Zysow 2012). Diese metaphorische Verwendung ist ein Beispiel dafür, wie die Religion selbst eine ökonomische Perspektive auf die religiöse Praxis ihrer Angehörigen einnimmt. Eine weitere verpflichtende ökonomische Maßnahme im Islam ist das „Zinsverbot“. Im islamischen Recht und generell in islamischen Gesell‐ schaften wird oftmals das Verbot des ribā diskutiert. Ribā bezeichnet als terminus technicus spezifisch Zins oder Wucherzins sowie allgemein jede ungerechtfertigte Kapitalvermehrung, für die keine Gegenleistung erbracht wird. Der Koran erwähnt ribā in Zusammenhang mit der Zahlungsverpflich‐ tung des oben erläuterten zakāt: „Und was ihr an Ausgaben aufwendet, damit sie sich aus dem Besitz der Menschen vermehren, sie vermehren sich nicht bei Allah. Was ihr aber an Abgaben entrichtet im Begehren nach Allahs Angesicht … - das sind diejenigen, die das Vielfache erzielen“ (30: 39). Ein direktes Zinsverbot findet sich schwer im Koran, er betrachtet ribā aber dennoch als eine Praxis der Ungläubigen. Obgleich das Verbot des ribā nie angezweifelt wurde, setzte diesbezüglich bereits in der frühesten Phase der Entwicklung des islamischen Rechtes eine Meinungsverschiedenheit ein. Ribā Nach dem älteren islamischen Verständnis liegt ribā nicht nur bei einem Darlehen vor, wenn die Rückzahlung einer größeren Menge verlangt wird, sondern kann in Zusammenhang mit einer Reihe von Verträgen wie Darlehen, Schuld, und Verkauf zustande kommen, wenn ein Vorteil entsteht. Diskussionsfrage | Versuchen Sie mit Ihren Erkenntnissen aus dem Kapitel 3, insbesondere zum Marktmodell (→ Kapitel 3.3.3), einen Markt nach dieser islamischen Maxime zu modellieren und seine Konsequenzen zu diskutieren. Die islamischen Gesellschaften entwickelten Methoden, um mit diesem Ver‐ bot umzugehen; diese zogen die Zustimmung oder Ablehnung unterschiedli‐ cher Rechtsschulen nach sich (Schacht 2012). Somit blieb ribā in einem Span‐ nungsfeld der Interaktion zwischen Islam und Ökonomie verortet. Mit der Einführung zinsbasierter Banken in islamischen Ländern im 19. Jahrhundert erreichte die Debatte über die Zulässigkeit des ribā eine neue Ebene. Obwohl islamische Gesellschaften schon immer von Kreditmärkten profitiert hatten, 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 131 <?page no="132"?> wurden erst zu diesem Zeitpunkt dauerhafte autorisierte Institute mit der Berechtigung zur Annahme von Einlagen, Kreditvergabe, Geldüberweisung und ähnlichen Finanzdienstleistungen eingeführt. Die ähnlichste Institution zur Bank im islamischen Recht war das Bargeld-waqf, das wie eine fromme Stiftung, das waqf (→ Kapitel 4.1.2) auf Dauer eingerichtet wurde, um dem vom Stifter bestimmten Nutznießer zugute zu kommen. Das Bargeld-waqf beschränkte sich auf die Stiftung einer einzelnen Person und verfolgte weder Vermögenszuwachs noch Kapitalakkumulation. Die Möglichkeiten dieser islamischen Institution deckten jedoch nicht den Bedarf des rasch expandierenden globalen Handels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (→ Kapitel 4.2.2). Das Scheitern lokaler Bemühungen um die Gründung von islamkonformen Banken bahnte den Weg für die Etablierung ausländischer Banken, die zumindest anfangs nach ausländischem Recht arbeiteten, u. a. die Gründung der britischen New Oriental Bank im Jahre 1888 in Teheran. Anschließend wurden inländische Banken, u. a. die ägyptische Bank Misr, die türkische İş Bank und die iranische Bank Sepah, in den Jahren 1920, 1924 und 1925 gegründet. Diese Banken vergaben Kredite zu niedrigeren Zins‐ sätzen als Bargeld-waqfs und boten zusätzliche institutionelle Sicherheit, die die Einzelpersonen, die Verwalter der Bargeld-waqfs, nicht gewährleisten konnten (Kuran 2015; Basseer 1988). Ab den 1940er-Jahren intensivierte sich die Diskussion über das Zins‐ verbot mit dem Aufkommen des globalen islamischen Neo-Revivalismus. Diese Bewegungen forderten die Umwandlung der bestehenden politischen, rechtlichen, sozialstrukturellen und wirtschaftlichen Organisationen der muslimischen Gesellschaften nach islamischen Normen und Grundsätzen. Zur selben Zeit, vermutlich als eine Folge dieser verdichteten Diskussionen, tauchte im Persischen ein Neologismus zur Bezeichnung des Zinses, bahra, auf (Clawson und Floor 1988a). Damit versuchte sich die ökonomische Diskussion über den Zins zum Teil vom islamischen Verbot des ribā zu distanzieren. In der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts beschränkte sich das semantische Feld von ribā auf Zins und wurde hauptsächlich in Zu‐ sammenhang mit Zinsen bei Finanztransaktionen diskutiert. Mit dieser Uminterpretation des ribā suchten die islamischen Gesellschaften einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Zinsverbot und den wirtschaftlichen Anforderungen der globalisierten Welt. Deswegen entstand die Idee, dass der Islam Wucher (Realzinsen) statt „Zinsen“ (Nominalzinsen) verbiete. Die Neo-Revivalisten lehnten solche Uminterpretationen allerdings ab. In den 1970er-Jahren verlagerte sich die Diskussion um das ribā mit Blick auf die 132 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="133"?> enormen Geldüberschüsse der Anrainerstaaten des Persischen Golfs durch die Ölproduktion vom Religionsfeld in das Feld der Ökonomie. Als eine Strategie zum Einsatz dieser Überschüsse etablierten einige dieser Länder, darunter Saudi-Arabien, Kuwait und das Emirat Dubai, Finanzinstitute auf zinsfreier Basis. Somit setzte sich ein Finanzsystem namens Islamisches Bankwesen (Islamic Banking) oder PLS, dessen Entwicklung auf die späten 1930er-Jahre zurückgeht, schließlich in der Praxis durch (Saeed 1999, 51-75; Kuran 2004, 82-102). Profit and Loss Sharing PLS (Profit and Loss Sharing) wird durch Gewinn- und Verlustbeteiligung gekennzeichnet. Dabei werden Geldgeber und Kreditnehmer beide so‐ wohl am Gewinn als auch am Verlust der Unternehmung beteiligt. Es werden keine Zinsen gezahlt oder erhalten. Der Wettbewerb mit zinsbasierten Banken stellte das islamische Bankwe‐ sen vor ernsthafte Schwierigkeiten. Die Banken mussten ihren Kunden wettbewerbsfähige, d. h. zuweilen zinsbasierte, Produkte anbieten. Dies führte wiederum zu Verschiebungen im Verständnis von ribā. Die Kritiker des islamischen Bankwesens sahen kaum einen Unterschied zwischen den zinsbasierten und den islamischen Banken (Saeed 1999, 119-41). Islamische Bank „Die Satzung einer islamischen Bank schreibt vor, dass sie keine Zinsen erheben darf. Die Bank wird von einem Sharīʿa-Gremium geleitet, das darüber entscheidet, was als Zins gilt. Die Mitglieder dieser Gremien verfügen über eine Ausbildung im islamischen Recht, aber in der Regel nicht im Finanzwesen“ (Kuran 2015). In vielen islamischen Ländern entstand ein nationales Gremium, das die verschiedenen Auslegungen anzugleichen und die Einhaltung der Sharīʿa mit den Erfordernissen der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Finanzmarkt in Einklang zu bringen versucht. Seit 2001 arbeitet der Generalrat für islami‐ sche Banken und Finanzinstitute mit Sitz in Bahrain, der der Organisation für Islamische Zusammenarbeit angehört, an einer Harmonisierung der Regeln für die islamischen Finanzinstitute der Welt (Kuran 2015). In der 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 133 <?page no="134"?> Forschung wird die Ansicht vertreten, dass das islamische Verbot des ribā die Entwicklung des Nahen Ostens beeinträchtigt habe. Mit diesem Thema als eine Folge des islamischen Zinsverbots befassen wir uns im letzten Abschnitt dieses Kapitels (→-Kapitel 4.2.2). Diskussionsfrage | Kennen Sie andere Religionen, die Formen von (Wucher)zins verachten oder verbieten? Wie stand und steht z. B. das Christentum zum Zins? Ist hier eine historische Transformation zu verzeichnen? 4.1.2 Fromme Stiftungen im Islam und Zoroastrismus Neben den zwei in → Kapitel 4.1.1 vorgestellten obligatorischen steuer‐ ähnlichen Maßnahmen kennt der Islam auch fakultative Ausgaben. Eine islamische ökonomische Institution, die wie die zakāt-Steuer den Zahlenden Frömmigkeit zuschreibt, ist die fromme Stiftung. Obwohl das waqf im Gegensatz zum ḫums oder zakāt fakultativ ist, ist es in der islamischen Welt sehr verbreitet und besonders im Fall der größeren Stiftungen sehr prestigeträchtig. Daher findet man in der islamischen Geschichte nicht selten Fälle, in denen angesehene Persönlichkeiten, vor allem Könige, große fromme Stiftungen einrichteten. Waqf bedeutet, dass eine geschäftstüchtige Person unwiderruflich einen Teil ihres Eigentums in der Hoffnung auf (jenseitiges) Heil als gestiftet bestimmt. Dies sind in der Regel Immobi‐ lien, aber auch bewegliches, nutzenproduzierendes Eigentum, insbesondere Obstplantagen, Gärten und Vieh, oder auch Bücher. Die Erträge sind vom Stifter für bestimmte wohltätige Zwecke zu verwenden; somit wird das gestiftete Eigentum für unveräußerlich erklärt. Der Stifter bestimmt Perso‐ nen oder öffentliche Einrichtungen als Nutznießer der Erträge der Stiftung. Das islamische Recht kennt zwei Arten von frommen Stiftungen: zum einen die gemeinnützige Stiftung (waqf ḫairī), Einrichtungen zum Wohle der Gemeinschaft, wie z. B. Moscheen oder öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Straßen, Brücken usw.; zum anderen kleinere (Familien-)Stiftungen (waqf ahlī), die der Stifter für den Nießbrauch seiner Angehörigen einrichtet. In beiden Fällen muss die Stiftung einem wohltätigen Zweck gewidmet sein. Eine weitere Unterscheidung wird zwischen der Substanz, dem gestif‐ teten Vermögen, und dem aus dem Stiftungsvermögen erbrachten Ertrag getroffen. Letzterer wird zunächst für die Instandhaltung und den Betrieb der gestifteten Einrichtungen eingesetzt. Der Überschuss wird dann dem 134 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="135"?> Willen der stiftenden Person entsprechend verwendet. Zur Verwaltung ihrer Stiftung kann der Stifter einen Verwalter (mutawallī) ernennen. Es ist mög‐ lich, sowohl staatlich-religiöse Einrichtungen als auch private Personen, darunter auch Verwandte, als Nutznießer der Stiftung zu bestimmen. Daher bietet sich das waqf als Ausweg von Versteuerung oder Konfiszierung an (Peters 2012; Macuch 2009). Die Nutznießer von islamischen Stiftungen sind häufig religiöse Ein‐ richtungen wie Schreine. Bereits in der frühislamischen Zeit wurde die Administration dieser Stiftungen institutionalisiert. In Iran gab es bereits in dieser Periode ein besonderes Amt, dīwān-i awqāf, welches für diese Stiftungen verantwortlich war (Lambton 2012). In der islamischen Republik Iran gibt es die „Organisation für Stiftungen und Wohltätigkeiten“, die für alle Stiftungen ohne individuelle Verwaltung und weitere Wohltätigkeiten zuständig ist. Sie finanziert viele religiöse Aktivitäten: die Koran-Universität mit Zentren in mehreren Städten in Iran, Forschungszentren, Verlage und Publikationen sowie Betriebe und Produktionsstätten. Ihr Direktor wird unmittelbar vom religiösen Führer des Landes ernannt. Eine ähnliche religiös-ökonomische Institution wie das islamische waqf existierte bereits im Zoroastrismus, einer altiranischen Religion, deren Anfänge auf das Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. zurückgehen. Diese Institution war im Zoroastrismus wie im Islam sehr weit verbreitet. Die stark ausgeprägte Jenseitsvorstellung dieser Religion, die die eschatologischen Konzepte der abrahamitischen Religionen beeinflusste, führte zu einem Verantwortungsbewusstsein für die Versorgung der Seelen der Verstorbe‐ nen. Im sasanidischen Iran (3.-7. Jahrhundert n. Chr.) entstanden daher Stiftungen von Individuen mit dem Ziel, wohltätige Handlungen für das Wohlergehen a) der eigenen Seele oder b) der der Verwandten oder der Freunde zu finanzieren oder c) die Durchführung religiöser Zeremonien als Seelengedenkrituale zu gewährleisten. Aufgrund der Verantwortung jedes Menschen für das Schicksal seiner eigenen Seele gestaltete es sich als üblich, einen Teil des Vermögens (testamentarisch) für diese Zwecke zur Verfügung zu stellen. Signifikant ist die Bezeichnung dieser waqf-ähn‐ lichen Institution, „der Seele angehörend“ (Mittelpersisch: ruwānagān), welche die Finanzierung einer Wohltätigkeit in dieser Welt dem Konsum im Jenseits gegenüberstellt. Der Erblasser konnte den Zweck der für seine Seele bestimmten Stiftung, genannt „Vermögen der Seele“ (xwāstag ī ruwān), in seinem Testament festlegen, „für Rituale zu Gunsten der Seele“ (ruwān yazišn rāy) zur Finanzierung von Gedenkzeremonien nach ihrem Tod, oder 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 135 <?page no="136"?> einfacher „für das Seelen(heil)“ (ruwān rāy / pad ruwān). In diesem Fall hatte die verwaltende Person das Recht, den Stiftungsertrag auf jede Weise zu verwenden, die sie für die Seele am vorteilhaftesten hielt, z. B. die Finanzie‐ rung öffentlicher Einrichtungen (Straßen, Brücken, Bewässerungskanäle, usw.) oder als Almosen für die Armen und Bedürftigen. Wohlhabende und angesehene Zoroastrier, wie z. B. der berühmte sasanidische König Šābuhr I (R. 242-72), stifteten den Bau neuer Feuertempel mit einem Teil ihres Vermögens als „Vermögen des Feuers“. Wie das islamische waqf war diese zoroastrische Stiftung ein Mittel, um der Nachkommenschaft ein Einkom‐ men sicherzustellen, weil das Stiftungsvermögen von der Konfiszierung ausgenommen und erblich war. Eine spezielle Behörde, das „Archiv für religiöse Stiftungen“ (dīwān ī kardagān), registrierte die Stiftungen. Sie war darüber hinaus zuständig für „das Eigentum des Feuers“ (xīr/ xwēšīh ī ātaxš). Sowohl beim islamischen waqf als auch der zoroastrischen Seelenstiftung war es nicht erlaubt, das gestiftete Vermögen zu konsumieren, sondern es musste als ein Produktionsfaktor von einem Unternehmen eingesetzt wer‐ den, um Erträge zu erzielen, die wiederum für karitative Zwecke (ahlawdād) einzusetzen waren (Macuch 1991). Die zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen der zoroastrischen Seelenstiftung und dem islamischen waqf führen in der Forschung dazu, dass diese zoroastrische Institution, die selbst mit dem byzantinischen Recht in reziprokem Austausch gestanden haben mag, als eine Vorlage für die fromme islamische Stiftung betrachtet wird (Macuch 2009; 1994; 2004). In diesem und dem letzten Abschnitt haben wir Ge- und Verbote betrach‐ tet, die das ökonomische Handeln von Religionsgemeinden und ihren einzel‐ nen Mitgliedern bestimmen, d. h. wie die Religion die Ökonomie reguliert. Es gibt jedoch umgekehrt auch ökonomische Ziele, die durch religiöse Ge- und Verbote erreicht werden sollen. In diesem Fall wird dann die Religion von der Ökonomie reguliert. Hierfür lässt sich ein Beispiel aus dem Zoroastrismus anbringen: „[D]as sasanidische Recht entwickelte zahlreiche Strategien, die gerade eine Zersplitterung des Gesamtnachlasses […] der Familie verhin‐ dern sollten (wie z. B. die Förderung von endogamen Eheschließungen bis hin zum Kernfamilieninzest)“ (Macuch 2009, 29; zu den sozioökonomischen Konsequenzen der Zersplitterung des Nachlasses s. → Kapitel 4.2.2). Man kann nicht behaupten, dass die endogame Eheschließung als eine Maß‐ nahme gegen die Zersplitterung des Familieneigentums entwickelt wurde. Dennoch kann man den Zusammenhalt des Familieneigentums als eine 136 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="137"?> ökonomische Maxime betrachten, die die religiöse Norm der endogamen Eheschließung im sasanidischen Zoroastrismus intensivierte. 4.1.3 Das Verbot des Wirtschaftsbetrugs im Judentum Nachdem wir Beispiele aus dem Islam und dem Zoroastrismus betrachtet ha‐ ben, wenden wir uns nun dem Judentum zu, das ebenfalls eine ausgeprägte und detaillierte Wirtschaftsethik kennt. 120 der 613 biblischen Vorschriften (mizwot) sind wirtschaftsbezogene Gebzw. Verbote (dahingegen werden koschere Ernährung und Sexualethik von „nur“ je 26 mizwot geregelt; s. Kaplan 2015). Wirtschaft ist das häufigste Thema aller Traktate des Talmuds und wird in Form von Gesetzen (halachah) und narrativen Überlieferungen (aggadah) behandelt. Ganz grundlegend liegt der jüdischen Wirtschaftsethik das ehrliche Handeln und Arbeiten zugrunde, wobei materieller Reichtum nicht als Sünde aufgefasst wird, solange er in Maßen und nicht im Überfluss kultiviert wird: Viele mizwot setzen eine solide finanzielle Grundlage voraus, z. B. um die Ruhe des Schabbat und anderer Feiertage einzuhalten, um sich koscher zu ernähren, um zu spenden, um rituelle Gegenstände wie die am Türrahmen befestigten Schriftkapseln (mesusot) und die ledernen Gebetsriemen mit ihren Gebetswürfeln (tefillin) zu erwerben und vieles mehr. Umgekehrt wird Armut deshalb nicht als Tugend aufgefasst, da die Ge- und Verbote der Torah, also die fünf Bücher Mose, dann nur schwer eingehalten werden können und Übertritte drohen (Kaplan 2015). Ein zentrales Thema der jüdischen Wirtschaftsethik ist der Wirtschafts‐ betrug bzw. seine Vermeidung. In diesem Zusammenhang sind besonders die folgenden mizwot zu nennen (s. Kaplan 2015, 191-195): ● Um Preisbetrug (ona’a) und Wucher (hafkaʿat sheʿarim) zu vermeiden, sind Jüdinnen und Juden dazu angehalten, gerechte Preise für Waren und Dienstleistungen zu verlangen. Profite seitens der Verkäufer und Rabatte seitens der Käufer sind zwar legitim, aber nur insofern, als dass sie lediglich geringfügig von einer „gerechten Mitte“ abweichen. In Bezug auf lebensnotwendige Waren wie z. B. Nahrungsmittel ist die akzeptierte Marge des Abweichens schmaler als bei anderen Produkten und Dienstleistungen. 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 137 <?page no="138"?> Fokus: Zinsnehmen im Judentum Wenn das Zinsnehmen im Judentum laut des hafka’at šearim verboten ist, warum haben sich Juden beruflich vor allem im Bereich des Geldverleihs etablieren können? In der deutschen Geschichtswissenschaft wird das Narrativ der Aus‐ beutung der christlichen Bevölkerung als Auslöser für die mittelalter‐ liche Judenfeindlichkeit nach wie vor tradiert. Mittlerweile hat sich allerdings die Erkenntnis durchgesetzt, dass es eher die Projektion der negativen Dynamiken der Geldwirtschaft auf die jüdische Gemeinde, nicht das tatsächliche Ausmaß ihrer Tätigkeit im Geldhandel war, das zur Ablehnung führte. Der Geldhandel war nie ein jüdisches Monopol und auch nie exklusiver Lebenserwerb, auch wenn es Phasen und Regionen mit überproportionaler Repräsentation jüdischer Bürger in der Geldwirtschaft gab. Allerdings ist festzuhalten, dass die Torah nur das Zinsnehmen von jüdischen Mitmenschen verbietet, nicht aber von Anhängern anderer Religionen. Dieses „partikulare Zinsverbot“ wird auf die Tatsache zurückgeführt, dass es anderen Bevölkerungsgruppen durchaus er‐ laubt war, von Juden Zinsen zu verlangen. Da diese Asymmetrie ökonomisch nicht nachhaltig war, setzte sich ein universelles Zins‐ verbot nicht durch. Zusätzlich wird gemutmaßt, dass das israelitische Zinsverbot den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärkte und diese attraktiver für potenzielle Konvertiten machte (Kaplan 2015). ● Durch die Verbote der visuellen Täuschung (gnewat ayin) und der geistigen Täuschung (gnewat daʾat) soll vermieden werden, dass Verkäufer Waren und Dienstleistungen den Anschein eines höheren Wertes verleihen bzw. dass eine vermeintliche Schuld aufgrund von bevorzugter Behandlung bestünde. Damit zusammenhängend ist auch die bewusste Irreführung (lifney iṿer) untersagt. ● Korruption (nogea badawar) als „Missbrauch einer gesellschaftlichen Position für privaten Nutzen“ (Kaplan 2015, 194) wird in der jüdischen Wirtschaftsethik als zutiefst verachtenswert betrachtet. Schon den Ver‐ dacht auf Korruption gilt es zu vermeiden. Zum Beispiel dürfen Essens‐ spenden an Bedürftige nicht von den Spendensammlern zum eigenen Konsum gekauft werden. Selbst dann, wenn es keine Spendenabnehmer 138 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="139"?> mehr gibt. Auch Bestechung (shoḥad) ist entsprechend strengstens untersagt. Neben diesen konkret auf die Vermeidung von Wirtschaftsbetrug bezogenen Vorschriften gibt die jüdische Wirtschaftsethik zahlreiche Gebote zur Förde‐ rung der sozialen Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen Selbstbestimmung aller Glaubensanhänger vor. 4.1.4 Christliche Wirtschaftsethiken Wie in den anderen hier behandelten religiösen Traditionen auch, kann in Bezug auf das Christentum nicht von „der einen“ Wirtschaftsethik gesprochen werden. Verschiedene Strömungen innerhalb des Christentums legen die Bibel als grundlegende Glaubensorientierung teilweise sehr unter‐ schiedlich aus, und Interpretationen wandeln sich selbstverständlich auch im Laufe der Geschichte (Freudenberg et al. 2020). War es im Europa der vorreformatorischen Zeit noch ein zentrales Anliegen, eine „christliche Wirtschaft“ zu etablieren, so haben sich in der Moderne (→ Kapitel 2.2.1) unterschiedliche christliche Perspektiven auf das gesellschaftlich ausdifferenzierte Teilsystem Wirtschaft entwickelt. Im frühen 21. Jahr‐ hundert ist z. B. die lateinamerikanische Befreiungstheologie stark vom gesellschaftlichen Kontext geprägt, in dem sie entstand, vor allem dem Kampf gegen Armut, Unterdrückung, Frauenfeindlichkeit und eine als elitär wahrgenommene Oberschicht, die nur auf die eigene, nicht auf gesamtge‐ sellschaftliche Wohlfahrt konzentriert ist. Dieser Hintergrund ließ dort eine distinkte Wirtschaftsethik entstehen, die Themen wie gesellschaftlichen Wohlstand und Inklusion der ärmeren Bevölkerungsschichten fokussiert. Wie die oben besprochene jüdische Wirtschaftsethik, die auf der Torah beruht, existiert auch eine auf dem Neuen Testament aufbauende christliche Wirtschaftsethik, die dem Wohlstand an sich nicht kritisch gegenübersteht, solange dieser nicht destruktiv für Einzelne und die Gesell‐ schaft wird. In diesem Sinne sind zahlreiche Bibelpassagen damit befasst, wie arme und reiche Menschen zusammenleben können und sollten. Dabei wird der Umgang mit Armen als Maßstab dafür aufgefasst, wie moralisch richtig die Wirtschaft einer Gesellschaft ist. An dieser Stelle zeigen sich große Diskrepanzen zwischen einer solchen christlichen Wirtschaftsethik und z. B. der spätkapitalistischen, neoliberalen Wirtschaftsethik, die in → Kapitel 5.3 besprochen wird. In dem Zusammenhang sind vor allem biblische Lehren 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 139 <?page no="140"?> zum Thema Besitz relevant: In Maßen soll Besitz Menschen Freiheit von Armut und damit die Möglichkeit Gott zu verehren gewähren, da sie sich beispielsweise durch den Besitz von Haus und Hof keine Gedanken um ihre Lebensgrundlage machen müssen. Wenn Besitz aber selbst Besitz über Menschen ergreift, spricht die Bibel von „Idolatrie“ als Verblendung und Gier nach Macht (Meeks 2014, 11). Die Bibel unterscheidet ferner zwischen zwei Sorten von wirtschaftse‐ thisch legitimem Besitz: „persönlichem“ und „produktivem“ Besitz (Meeks 2014, 13). Unter persönlichen Besitz fallen konsumierbare Güter wie Wasser, Nahrung, Medizin etc., aber auch Arbeitskraft, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern und auf bestmögliche Art zu gestalten. Es geht hier also nicht nur um das reine Überleben, sondern um ein „gutes“ Leben. Produktiver Besitz hingegen umfasst Boden, Kapital und Einkommen - und somit das Recht, mehr zu besitzen, als zum Leben notwendig ist. Da diese Form von Besitz mit Macht über andere einhergeht (z. B. über diejenigen, die den Boden bewirtschaften oder Zinsen zahlen müssen), bedarf diese zweite Form von Besitz aus christlicher Perspektive einer größeren Legitimation. Nicht zuletzt aus der Sorge um Armut und die Ausbeutung Schwächerer betont die Bibel zusätzlich das Erlassen von Schulden, das Teilen von Reichtum und Wohlstand und das Spenden von Almosen, während Wucher und Diebstahl streng untersagt ist. Wie diese Ethik in der Praxis ausgelegt wird, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt: Allein innerhalb des täuferischen Spektrums im Protestantismus lehnen die Hutterer im Rahmen ihrer Gütergemeinschaft Privatbesitz fast gänzlich ab, während die Amischen und Mennoniten privates Eigentum im Kern ihrer Wirtschaftse‐ thiken nie abgeschafft haben. Ein weiteres, aber völlig entgegengesetztes Beispiel einer christlichen Wirtschaftsethik als Regulierung wirtschaftlichen Verhaltens ist das mittler‐ weile weit verbreitete Wohlstandsevangelium. Der Begriff Wohlstands‐ evangelium (prosperity gospel) ist insofern irreführend, als dass er eine einheitliche theologische Ausrichtung suggeriert. Tatsächlich handelt es sich aber um eine sehr diverse Reihe von Auslegungen, die in unterschied‐ lichen Strömungen des Christentums - vor allem seiner pfingstlerisch-cha‐ rismatischen Ausprägungen - eine Rolle spielen. In den USA wird es auch Health and Wealth Gospel genannt; seine Anhänger streben nach physischer, psychischer und emotionaler Gesundheit sowie materiellem Wohlstand als Zeichen göttlicher Auserwähltheit (Coleman 2016). Einer der prominentesten Vertreter des Wohlstandsevangeliums ist Joel Osteen, 140 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="141"?> Fernsehprediger und Pastor der größten Megakirche in den Vereinigten Staaten. Er predigt z. B., dass finanzieller und karrieretechnischer Erfolg im Berufsleben, „gesunde“ zwischenmenschliche Beziehungen im Privaten sowie das Meistern von gesundheitlichen und psychologischen Hürden im Alltag ein Beleg für die Gunst Gottes ist. Dabei müsse man Gott aktiv und selbstbewusst um finanziellen und beruflichen Erfolg, Gesundheit und emotionale Stabilität bitten, es gar von Gott fordern. Dann werde dieser das neue Auto, das neue Haus, die Beförderung auf der Arbeit usw. Realität werden lassen. Diese Interpretation des Wohlstandsevangeliums idealisiert Konsum und Reichtum und kodiert individuellen materiellen Wohlstand dabei als gottgewollt. Damit steht es in offensichtlichem Kontrast zu der oben skiz‐ zierten, stärker bibelbasierten Wirtschaftsethik. Es ist eher individuell-in‐ terpretativ als bibelnah: Worten wird in dieser Form des Wohlstandsevan‐ geliums eine fast magische Qualität zugeschrieben, da das laute Aussprechen positiver, selbstbestärkender Gedanken laut Osteen absolut notwendig ist, um Gottes Kraft zu entfalten (Bowler 2013): „Ich werde die Krankheit besiegen, da Gott es will! “, „Ich werde die Darlehenszusage bekommen, da Gott mir alles gibt, was mir zusteht! “, usw. Dabei wird nur am Rande auf die Bibel Bezug genommen. Im Mittelpunkt steht Osteens eigene Auslegung derselben. Diese entpuppt sich als eine neoliberale religiös-ökonomische Ethik, die wirtschaftliches und anderes Risikoverhalten seitens seiner An‐ hänger diskursiv bekräftigt und somit spätkapitalistische wirtschaftliche Ungleichheit nicht nur nicht thematisiert, sondern gänzlich beiseite wischt (s. dazu auch → Kapitel 5.3). Andere Auslegungen des Wohlstandsevange‐ liums sind in dieser Hinsicht weniger zugespitzt; sie alle verbindet aber die grundsätzliche Prämisse, dass eine spätkapitalistisch-wirtschaftsfreundliche Haltung und entsprechendes Handeln ein Zeichen göttlicher Auserwählt‐ heit ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Menschen, die wirtschaftlich erfolglos sind - die sich z. B. nicht aus Armut und von Krankheit befreien können - als nicht fromm genug und daher nicht von Gott bevorzugt gelten. Hier wird ersichtlich, dass das Wohlstandsevangelium typischerweise die Verantwortung für Wohlstand und Wachstum auf den Einzelnen abwälzt, statt es zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu machen - wiederum ganz anders als z. B. die zu Beginn des Abschnitts angesprochene Befrei‐ ungstheologie. 4.1 Religiöse ökonomische Ethik: Ausgewählte Beispiele 141 <?page no="142"?> 4.1.5 Das Besitzverbot im Buddhismus Das Besitzverbot im Buddhismus stellt ein weiteres anschauliches Bei‐ spiel für die Regulierung des Wirtschaftens dar. In dieser Religion ist den Ordinierten nur der Besitz von bestimmten Gegenständen erlaubt, die sie zum Leben bzw. Überleben brauchen, und zwar in einer bestimmten Anzahl: Bettelschale, Robe, Gürtel, Rasierklinge, Nadel, Wassersieb, Stock, Zahnputz-Holz, usw. Sie werden durch Speisegaben (Essensspenden) von Laien verpflegt, die ihre religiösen Verdienste im frühen Buddhismus haupt‐ sächlich in Form von Gabenspendenden für Ordinierte erwarben. Ansonsten sind auch die Laienanhänger gehalten, das Aufkommen von Hass und Gier zu vermeiden und andere Lebewesen möglichst nicht zu schädigen. Die Auswirkungen dieser Grundregeln auf das wirtschaftliche Leben der Laien sind sehr vielfältig. In Sri Lanka werden z. B. auch heute noch Teile von Anbau-Feldern und Obstbäumen wilden Tieren überlassen; die Menschen haben viele Rituale entwickelt, um sich von den unausweichlichen karmi‐ schen Folgen z. B. des Ackerbaus für andere Lebewesen wieder zu reinigen. Die hauptsächliche religiöse Praxis der Laien bleibt aber die Freigiebigkeit. Deshalb ist Wohlstand an sich nicht schlecht, sofern der Mensch freigiebig bleibt und sich nicht von seiner Gier beherrschen lässt. Mönche und Nonnen dürfen offiziell nicht einmal Speisen für später zurücklegen. Somit versteht es sich von selbst, dass sie formell auch kein Geld besitzen oder als Abgabe annehmen dürfen. Dieser ökonomische Leitsatz wird religiös begründet: Besitz führt zu Gier und Neid, diese zu unheilsamen Taten, die dann das Leid des Daseins nur vergrößern und das Erreichen des Nirvana unmöglich machen. Parallel dazu wird Besitzlosigkeit im Buddhismus kosmologisch durch die Vorstellung legitimiert, dass durch die Perioden der Ausdehnung und Kontraktion des Universums eine Art Kruste am Rande des kosmischen Ozeans entstand, den die Wesen aus Licht als erste feststoffliche Nahrung verwendeten. Dadurch entstanden Begehren, Gier und Neid, die als negative, zu vermeidende Eigenschaften dargestellt werden, welche Leid vergrößern und Heil unmöglich machen. Dieses ökonomische, aus der Zeit der Nichtsesshaftigkeit der Gemein‐ schaft der Ordinierten entstandene Gebot des Buddhismus konnte sich in den jüngeren Epochen allerdings nur schwer halten, da sich Strukturen herausbildeten, die zunehmend um Besitz herum gegliedert waren. Im Zuge dessen entwickelten sich Klöster als Gemeinschaftsbesitz, die von Verwaltern und Schatzmeistern koordiniert wurden und es Mönchen und 142 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="143"?> Nonnen ermöglichten, weiterhin quasi besitzlos zu leben. Auf diese Weise wurden althergebrachte religiös-ethische Elemente mit dem modernen Wirtschaftssystem in Einklang gebracht. Heutzutage ist zu beobachten, dass Mönche und Nonnen in T-Shirts gekleidet sind, oft ein Handy in der Hand haben und auch einmal mit dem Motorroller (der allerdings in Klosterbesitz ist) fahren. Hier muss einerseits zwischen Vergangenheit und Gegenwart, andererseits zwischen verschiedenen Schulen des Buddhismus und vor allem zwischen strengen und weniger strengen Auslegungen unterschieden werden. Selbst bei sehr strengen Handhabungen des Besitzverbots ist immer wieder ein Einreißen der Regelbefolgung zu beobachten, bis es zu Beschwerden kommt und der Abt die Zügel wieder strafft, insbesondere mit Blick auf die Kleidung. Der individuelle Besitz von Handys scheint sich aber zu halten, da er der notwendigen Arbeit und dem Gemeinschaftssinn des Klosters nicht entgegensteht, teilweise sogar zuträglich ist. So passen sich Regeln also teilweise an bzw. wandelt sich der Begriff des (Über-)Lebensnotwendigen in der modernen Gesellschaft (interessante Impulse zum Thema finden sich auch in der Zeitschrift südostasien information der Universität Heidelberg, so z.-B. Wagner 1996). Diskussionsfrage | Welche der in Kapitel 4.1 dargestellten Entwick‐ lungen gehen eher aus der Regulierung der Religion durch die Ökono‐ mie hervor, welche eher aus der Regulierung der Ökonomie durch die Religion? 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote Nachdem wir uns in diesem Kapitel bislang mit Beispielen für religiös-nor‐ mativen Vorgaben für wirtschaftliches Handeln beschäftigt haben, wenden wir uns nun den sozioökonomischen Auswirkungen dieses Prozesses zu. Wir beleuchten diese aus religionssoziologischer und ökonomischer Per‐ spektive, speziell mit Blick auf die Auswirkungen des Protestantismus im Westen und des Islam im Nahen Osten. Dazu wird im Folgenden die von Max Weber postulierte „Wahlverwandtschaft“ zwischen Kapitalismus und Protestantismus (→ Kapitel 4.2.1) sowie die vergleichsweise schwächere 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 143 <?page no="144"?> Wirtschaftsentwicklung islamisch geprägter Länder, wie sie von Timur Ku‐ ran untersucht wurde (→ Kapitel 4.2.2), näher in Augenschein genommen. 4.2.1 Auswirkungen des Protestantismus in der westlichen Welt Wenn es um die Auswirkungen protestantischer Wirtschaftsethiken in der westlichen Welt geht, kommt man um die Untersuchungen Max Webers, des Gründervaters der Soziologie und auch der Religionssoziologie, nicht umhin. Aus diesem Grund geht der vorliegende Abschnitt zuerst knapp auf sein Verständnis von Soziologie ein, bevor er sich einigen wichtigen Beiträgen des berühmten Autors widmet. Der 1864 in Erfurt geborene und 1920 in München verstorbene Jurist und Nationalökonom, der auch Philosophie und Geschichte studierte, verfasste diverse Schriften, unterstützt von seiner Frau Marianne Weber, die sein Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Sozio‐ logie 1922 posthum veröffentlichte. Hierin definiert Weber die Soziologie als eine Wissenschaft, die „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch […] ursächlich erklären will“ (2006 [1922], 11 f.). Handeln grenzt sich durch den subjektiven Sinn, den die handelnde Person ihren Hand‐ lungen beimisst, von schierem Verhalten ab und wird zu sozialem Handeln, sobald es „auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 2006 [1922], 12). Dabei unterscheidet Weber idealtypisch - d. h. als „Reinformen“ auf analytisch-abstrakter Ebene, die sich empirisch stets zu unterschiedlichen Graden vermischen - vier Arten von Handeln: zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln. Diese Unterscheidung ist gerade auch aus religionsökonomischer Perspektive aufschlussreich. Vier Arten des Handelns nach Weber ● Zweckrationales Handeln zielt darauf, den eigenen Nutzen zu maximieren, und ist somit am ehesten als ‚rational‘ im religionsöko‐ nomischen Sinn zu verstehen; ● Wertrationales Handeln orientiert sich am „ethischen, ästheti‐ schen, religiösen […] Eigenwert“ (Weber 2006 [1922], 32), also an normativen Kriterien; 144 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="145"?> ● Affektuelles Handeln ist rein emotional gesteuert, nicht reflexiv und dem schieren Verhalten am nächsten; ● Traditionales Handeln wird durch Routinen und Gewohnheiten geprägt; als „dumpfes […] Reagieren auf gewohnte Reize“ (Weber 2006 [1922], 32) ist es ebenfalls von niedriger Reflexion gekennzeich‐ net (s. auch Pickel 2011). Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung interessiert sich Weber einer‐ seits für die Erklärung individuellen Handelns, andererseits für dessen Bedeutung in Bezug auf breitere gesellschaftliche Entwicklungen, da er von einem Zusammenhang zwischen sozialer Klasse bzw. sozialem Status und bestimmten religiösen Überzeugungen und Handlungsmustern ausgeht. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Weber mit diesem handlungstheore‐ tischen Modell über eine rein „verstehende“ Soziologie hinausgeht, die ihm zurecht nachgesagt wird, und ein dezidiert sozialökonomisches Erkenntnisinteresse verfolgt (Kaesler 2014). Zu den wichtigsten religionssoziologischen Werken Webers gehören neben dem in Wirtschaft und Gesellschaft enthaltenen Kapitel zur Religi‐ onssoziologie gleichzeitig diejenigen, die das Verhältnis zwischen Religion und Wirtschaft untersuchen: einerseits das ursprünglich 1905 erschienene Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, andererseits das zwischen 1915 und 1920 publizierte Die Wirtschaftsethik der Weltreligio‐ nen. In beiden Schriften bezeichnet der Begriff „Ethik“ dabei nicht die theologischen Lehren der Religionen, die Weber genauer in Augenschein nimmt, sondern „die das wirtschaftliche Handeln leitenden Motive, deren Ursprünge er in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen sucht“ (Knoblauch 1999, 46) sowie unterschiedliche gesell‐ schaftliche Dynamiken, die dadurch kulturspezifisch und pfadabhängig - d. h. durch kulturelle Besonderheiten sowie vorangegangene Ereignisse bzw. Ereignisketten beeinflusst - in Gang gesetzt werden (zur Pfadabhän‐ gigkeit s. →-Kapitel 7.2.2). Weber fragt also nach dem Einfluss religiöser Überzeugungen auf ökonomisches Handeln und konstatiert einen Zusammenhang zwischen dem Protestantismus, zunehmender Ratio‐ nalisierung, der Ausbreitung des Kapitalismus und der dadurch immer dynamischeren gesellschaftlichen Modernisierung. Er spricht dabei von der „Entzauberung der Welt“ als „Ausschaltung der Magie als Heilsmittel“ 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 145 <?page no="146"?> (2013 [1920], 154; Hervorhebung i. O.), die den Protestantismus im Vergleich zum Katholizismus deutlich charakterisiert. Ausgangspunkt für diese These ist einerseits die Beobachtung, dass protestantische Glaubensanhänger sowohl finanziell als auch hinsichtlich ihres sozialen Status erfolgreicher seien und die Arbeit für sie einen höheren Stellenwert einnehme als für als Katholiken in Deutschland. Über Deutsch‐ land hinaus seien protestantische Staaten ökonomisch stärker aufgestellt als nichtprotestantische Länder. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kom‐ men? Andererseits schließt Weber vor diesem Hintergrund eine zweite Fra‐ gestellung an: Warum ist der moderne Betriebskapitalismus nur in Europa, der Wiege des Protestantismus, entstanden und nirgends sonst auf der Welt? Der moderne Betriebskapitalismus zeichnet sich laut Weber durch die rechtliche und buchhalterische Trennung von Privathaushalt und Erwerbs‐ betrieb aus, mit wachsendem Fokus auf die rationale Betriebsorganisation und ihre rationale Buchführung. Als Antwort auf diese zwei grundlegenden Fragen geht Weber von der Entwicklung einer protestantischen Ethik aus, die sich im Zuge der protestantischen Rationalisierung entwickelt und die zu einer Wahlverwandtschaft zwischen dem Protestantismus und dem Kapitalismus geführt hat. Mit der Idee der Wahlverwandtschaft bezeichnet Weber also keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Protestantismus und dem Kapitalismus, sondern eine „gegenseitige Be‐ einflussung“ (2013 [1920], 106) in dem Sinne, dass der Protestantismus an der Ausprägung einer bestimmten Form des Kapitalismus - nämlich eben des modernen Betriebskapitalismus - mitbeteiligt gewesen ist. Dabei betont er, dass „gewisse wichtige Formen kapitalistischen Geschäftsbetriebs notorisch erheblich älter sind als die Reformation“ (2013 [1920], 106; Hervorhebung im Original), dass der Protestantismus den Kapitalismus also ausdrücklich nicht hervorgebracht, sondern eine konkrete Ausprägung begünstigt hat. Weber geht davon aus, dass der Protestantismus eine rationalisierte Religion ist, da die darin fest verankerte Vorstellung einer direkten Bezie‐ hung zwischen dem Individuum und Gott - ohne die Kirche als Zwischen‐ instanz, wie es im Katholizismus der Fall ist - die Verantwortung des eigenen Seelenheils zunehmend auf die einzelnen Gläubigen verlagert und diese somit zur Selbstverpflichtung wird. Spendet der katholische Priester dem reumütigen und büßigen Sünder „Sühne, Gnadenhoffnung, Gewissheit der Vergebung“ (Weber 2013 [1920], 154), so steht das Sakrament der Beichte im Protestantismus nicht mehr zur Verfügung. Luther ging von der Idee des deus absconditus aus, des „verborgenen Gottes“, der für Gläubige 146 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="147"?> unerkennbar bleibt. Um den Zusammenhang - die Wahlverwandtschaft - zwischen Protestantismus und dem modernen Kapitalismus zu erläutern, zieht Weber einerseits die Berufskonzeption Luthers heran, die „in dem deutschen Worte ‚Beruf ‘ ebenso wie in vielleicht noch deutlicherer Weise in dem Englischen ‚calling‘ eine religiöse Vorstellung: […] die einer von Gott gestellte Aufgabe“ (Weber 2013 [1920], 96; Hervorhebung i. O.) beinhaltet. Der Einzelne fühle sich von Gott berufen, seiner Arbeit im Diesseits pflicht‐ bewusst und gewissenhaft nachzugehen. Andererseits fokussiert Weber die calvinistische Prädestinationslehre, laut derer das Seelenheil und der Gnadenstand aller Menschen von Geburt an feststehen und der Einzelne nichts an der göttlichen Entscheidung ändern kann. Der Unsicherheit, ob man nun zu den Auserwählten zähle oder nicht, werde durch Zeichen und Hinweise im Diesseits begegnet, die den eigenen Gnadenstatus belegen sollen. Dazu gehöre vor allem das emsige Befolgen der eigenen Berufung und der daraus resultierende materielle Erfolg in Form von Akkumulation von Kapital. Letzteres sei entscheidend, da es bei dem sich in diesem Zuge herausbildenden Geist des Kapitalismus nicht um materiellen Konsum und das Zur-Schau-Stellen von Reichtum gehe, sondern um Fleiß und Sparsamkeit als innerweltliche Askese: Die innerweltliche protestantische Askese […] wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern […] direkt als gottgewollt ansah. (Weber 2013 [1920], 193; Hervorhebung i.-O.) Einerseits lehne die protestantische Ethik also Prunk und Luxus als Zei‐ chen von Faulheit und Muße - Reichtum um des Reichtums Willen - ab, andererseits befürworte sie die Gewinnmaximierung als Selbstzweck, also die Anhäufung von Kapital zu Zwecken des Sparens und Reinvestie‐ rens als Zeichen göttlicher Auserwähltheit: „Die Vermögensanhäufung und Erschließung neuer Kapitalquellen ist ihm [dem Geist des Kapitalismus; MF&KR] die wesentliche Berufspflicht“ (Knoblauch 1999, 42). Weber spricht hier von „Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang“ (Weber 2013 [1920], 194; Hervorhebung i. O.), um sich seines Gnadenstandes bereits im Diesseits sicher sein zu können. Der kapitalistische Geist, der sich in diesem Zuge immer deutlicher herausbilde, sei geprägt von Sparsamkeit und 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 147 <?page no="148"?> Leistungsorientierung. Je klarer sich Kapitalbildung durch harte Arbeit als Selbstzweck etabliere, so folgerte Weber, desto mehr emanzipiere sich der Kapitalismus von seinen religiösen Wurzeln, bis er explizit religiöser Legi‐ timation nicht mehr bedürfe und sich sogar gegen diese wenden könne. Am Ende dieses Prozesses stand für Weber der nunmehr aus seinem religiösen Entstehungskontext vollends herausgelöste moderne Kapitalismus: Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es sein. Denn indem die As‐ kese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie […] jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigen‐ dem Zwange bestimmt […]. (Weber 2013 [1920], 200; Hervorhebung i.-O.) Weber spricht in diesem Zusammenhang von einem „stahlharten Gehäuse,“ in welchem „die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen“ (Weber 2013 [1920], 201) gewon‐ nen haben. Der kapitalistische Geist als ethisch-moralische Haltung auf der Mikroebene habe in der breiteren Rationalisierung der Lebensfüh‐ rung auf der Makroebene, einer gesellschaftlichen Systematisierung und Methodisierung, resultiert (s. auch Pickel 2011 und zu Gesellschaftsebenen →-Kapitel 2.2.1). Hier ist zu betonen, dass Weber nicht allein an der Entstehung des modernen Kapitalismus interessiert war, sondern darüber hinaus an der Rationalisierung sämtlicher Lebensbereiche in modernen Gesellschaften. Die puritanische Ethik setzte aus seiner Sicht Rationalisierungsprozesse auf Grundlage einer bestimmten Berufsidee in Gange, die aus der innerweltli‐ chen Askese entstehen konnte und zu einem „konstitutive[n] Bestandteil des modernen kapitalistischen Geistes und der modernen Kultur wurde“ (Kaesler 2014, 125). Dabei geht Weber nicht von einer Kausalität aus in dem Sinne, dass der Protestantismus zum Kapitalismus geführt habe, sondern von einer Wahlverwandtschaft zwischen diesen beiden Phänomenen. Der Soziologe und Weber-Forscher Dirk Kaesler argumentiert, dass sich Webers Analyse dieser Zusammenhänge auf drei Ebenen bewegt: die der sozioöko‐ nomischen Strukturen, die der handelnden Individuen bzw. sozialen Gruppen und die der religiösen Ordnung. Zwischen diesen drei Ebenen 148 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="149"?> […] finden Vermittlungen statt, die durch die beiden idealtypischen Konstrukte „Geist des Kapitalismus“ und „Innerweltliche Askese“ angedeutet sind. Dabei behauptete Weber keine kausale Adäquanz, sondern eine „sinnhafte“ Adä‐ quanz, d. h. er sagte nicht, wenn A (= Puritanismus) dann B (= Kapitalismus), sondern vielmehr: wenn A (= Kapitalismus) und B (= Berufsethos, Innerweltliche Askese) zusammentreffen, kann sich („Chance“) der moderne Kapitalismus als herrschende Wirtschaftsform durchsetzen und hat dieses in den von ihm unter‐ suchten historischen Fällen getan. (Kaesler 2014, 130; Hervorhebung MF&KR) Mit dieser Argumentation wandte sich Weber gegen die zu seiner Zeit gängige marxistische Vorstellung, dass die materiellen Verhältnisse einer Gesellschaft das Denken und Handeln - auch das religiöse Denken und Handeln - bestimmten. Stattdessen betonte er das Wechselverhältnis zwischen Ökonomie und Religion, zwischen Struktur und Kultur, wenn man so will. Die marxistische Kritik an Webers Argumentation wiederum konzentrierte sich einerseits dementsprechend auf die starke Betonung religiöser Überzeugungen, andererseits auf den als einseitig aufgefassten Fokus auf den Protestantismus. Dieser Kritik begegnete er mit seiner breit angelegten, vergleichenden Studie Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, die er zwischen 1911 und 1920 in der wissenschaftlichen Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik veröffentlichte. Es erschienen Un‐ tersuchungen zum Konfuzianismus und Taoismus (Weber 1989 [1915- 1920]), zum Hinduismus und Buddhismus (Weber 1996 [1915-1920]) und zum antiken Judentum (Weber 2005 [1911-1920]). Weitere Studien, u. a. zum Islam, waren geplant, wurden aber nicht mehr durchgeführt. Zum Vergleich der jeweiligen Wirtschaftsethiken dieser Religionen - d. h. der sich aus ihnen ableitenden wirtschaftlichen Handlungsorientierungen - beleuchtet Weber die jeweiligen sozialen, ökonomischen, historischen und auch geografischen Spezifika, um Zusammenhänge zwischen der so‐ zioökonomischen Situation und den religiösen Lehren in verschiedenen Gesellschaften herauszuarbeiten. Sein Ziel war es, die in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus konstatierte rationalistische Sonderent‐ wicklung Nordamerikas und Europas besser zu verstehen und modernisie‐ rungstheoretisch genauer verorten zu können. Die Ergebnisse dieses umfassenden Vergleichs können hier nur äußerst knapp zusammengefasst werden. Vor dem Hintergrund seiner Annahme des menschlichen Strebens nach Erlösung durch Religion vergleicht Weber die unterschiedlichen Religionen hinsichtlich ihres Erlösungsangebots. Wie 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 149 <?page no="150"?> gehen sie jeweils mit dem Problem der Theodizee um, dass es also (trotz oder wegen) höherer Mächte Leid in der Welt gibt? Dazu konzentriert er seine Analyse vor allem auf die die religiöse Ethik tragenden sozialen Schichten - Beamte, Krieger, Bauern, Bürger und Intellektuelle - und zeigt unterschiedliche Haltungen zur Welt in den verschiedenen Weltreligionen auf. Klassifikation religiöser Haltungen zur Welt nach Weber ● Weltbejahend vs. weltverneinend: Als politische Religionen sind der Konfuzianismus und Taoismus die einzigen weltbejahenden Re‐ ligionen, die Weber identifiziert. Die östlichen Erlösungsreligionen des Hinduismus und Buddhismus hingegen sind weltverneinend, da sie Erlösung durch die Flucht aus der Welt versprechen. Auch den Katholizismus, den Protestantismus und das antike Judentum klassifiziert Weber auf unterschiedliche Weise als weltverneinend (s. die nächsten Punkte). ● Weltabgewandt vs. weltzugewandt: Der Katholizismus mit sei‐ nem Ziel der Weltüberwindung ist weltabgewandt, wie Hinduismus und Buddhismus mit ihrem jeweiligen Ziel der Weltflucht auch; man spricht auch von außerweltlich orientierten Religionen. Der Protestantismus hingegen ist mit seinem Ziel der Weltbeherrschung weltzugewandt, ebenso wie das antike Judentum mit seiner Vorgabe der Schickung in die Welt, um Erlösung zu erzielen. Man spricht hier von innerweltlich orientierten Religionen. ● (Aktive) Askese vs. (passive) Mystik: Zwischen der aktiven Askese, in welcher sich Gläubige als Werkzeug Gottes auf Erden verstehen, um die Welt zu beherrschen (im Protestantismus), und der kontemplativen, weltflüchtigen Mystik (im Hinduismus und Buddhismus) gibt es die Zwischenstufen der weltflüchtigen Askese (der Katholizismus) und der innerweltlichen Mystik (das antike Judentum) (s. auch Knoblauch 1999, Pickel 2011). Diskussionsfrage | Halten Sie sich zwei oder drei religiöse Traditio‐ nen vor Augen, die Sie gut kennen. Wie würden Sie sie mit Weber jeweils idealtypisch in Bezug auf ihre religiöse Haltung zur Welt kategorisieren? 150 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="151"?> Es hat sich laut Weber also nur im Protestantismus eine innerweltliche Askese herausgebildet und rationalisiert; die Rationalisierungen der ande‐ ren Weltreligionen entwickelten sich allesamt in andere Richtungen. Die Rationalisierung des Protestantismus - und somit den Nährboden für die Herausbildung des modernen Kapitalismus - macht Weber später (in der Vorbemerkung seiner Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, die Veröffentlichung der hier besprochenen und weiteren Schriften in dreibän‐ diger Buchform) an verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen fest, deren Entwicklung sich zwischen Orient und Okzident (also zwischen Ost und West) deutlich unterscheiden: die zunehmend rationalen Wissenschaften; die Kunst mit ihrer rationalen harmonischen Musik und der Druckerpresse; die rationale und systematische Verwaltung und ihre Fachkräfte; der Staat mit seiner rationalen Verfassung, Gesetzgebung und Rechtsprechung; und die kapitalistische Wirtschaft. Den abendländischen Kapitalismus machte „die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit, die an den Chancen des Gütermarktes orientierte, rationale Betriebsform, die Tren‐ nung von Haushalt und Betrieb, die rationale Buchführung“ (Kaesler 2014, 191; Hervorhebung i. O.) aus. Weber versucht also in Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen aufzuzeigen, inwiefern die durch den Protestantismus vorangetriebene Rationalisierung aller Lebensbereiche zur Entstehung des modernen Kapitalismus in Europa und Nordamerika führte. Damit konzen‐ trierte er sich auf die sozioökonomischen Konsequenzen, die aus dem Zusammentreffen früher kapitalistischer Formen und der protestantischen innerweltlichen Askese resultierten. In seinen Zwischenbetrachtungen, die den Band zum Konfuzianismus und Taoismus abschließen, führt Weber das Argument aus, dass die Wertsphäre der Religion im Zuge der gesellschaftli‐ chen Rationalisierung und Modernisierung zunehmend mit anderen Wert‐ sphären - als gesellschaftliche Teilbereiche, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren - in Konflikt geraten kann: Das Erlösungsstreben der religiösen Wertsphäre stehe z. B. dem Gewinnstreben der ökonomischen Wertsphäre, dem Machtstreben der politischen Wertsphäre oder dem Wis‐ sensstreben der intellektuellen Sphäre gegenüber. In diesem Sinn stelle die rationalisierte protestantische Ethik eine Entschärfung des typisch katholischen Konflikts zwischen dem ökonomischen Streben nach Reichtum und dem religiösen Streben nach Erlösung dar, sei sie doch deshalb für das aufsteigende Bürgertum zu Webers Zeit attraktiv gewesen. Seit ihrer Veröffentlichung haben Webers Schriften sowohl Anerkennung als auch Kritik erfahren. Sein Zeitgenosse Werner Sombart, ebenfalls Sozio‐ 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 151 <?page no="152"?> loge und Ökonom, der mit Weber in engem Austausch stand, war von Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus in dem Maße angetan, dass er sein bereits erschienenes Hauptwerk Der moderne Kapitalismus (1927) überarbeitete und nochmals veröffentlichte. Die zahlreichen Werke zu Max Weber vom deutschen Soziologen Wolfgang Schluchter (z. B. 1991a, 1991b) bezeugen eine intensive und insgesamt sehr anerkennende Ausein‐ andersetzung mit dem berühmten Gründervater, ähnlich wie die des bereits erwähnten Dirk Kaesler, der in seinem Vorwort zu Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ein „Leseabenteuer“ (2013, 7) im positivsten Sinne verspricht und seine Leser auffordert, sich dem Text „voller Vorfreude und ohne Scheu“ (2013, 12) zu widmen. Auch Kaeslers Lehrbuch Max Weber. Einführung in Leben, Werk und Wirken (2014) schlägt eher einen anerkennenden als einen kritischen Ton an. Einer der dezidiertesten Kritiker Webers hingegen war der österreichische Soziologe Heinz Steinert, der Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus als „unwiderlegbare Fehlkonstruktion“ bezeichnete: Inhaltlich sei es „in praktisch allen Einzel‐ heiten und als Gesamtaussage nicht bestätigt“ worden (Steinert 2010, 20; Hervorhebung i. O.), gleichzeitig sei Weber als einer der Gründerväter der Soziologie aber so etabliert, dass „die zahlreichen Kritiken, die nicht nur die Ergebnisse, sondern die Logik der Begriffsbildung und des Arguments auseinandergenommen haben, an der außerordentlichen Wertschätzung […] nichts ändern konnten“ (Steinert 2010, 21). Über Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus hinausgehend wurde Webers Werk immer wieder dafür kritisiert, den Religionsbegriff nicht explizit zu definieren und sich stattdessen zu stark auf soziales Handeln und die sozioökonomischen Konsequenzen religiöser Orientierungen zu konzentrieren. Auch die zen‐ trale Stellung, die das Christentum und insbesondere der Protestantismus gegenüber nichtchristlichen Religionen in seiner Arbeit einnahm, stieß auf Kritik. Zuletzt wird seine Annahme als Modernisierungstheoretiker hinterfragt, dass Religion in der Moderne an Bedeutung verliere (s. zu Säkularisierung →-Kapitel 2.2.1). 4.2.2 Auswirkungen des Islam im Nahen Osten Als weiteres Paradebeispiel für einen Fall, in dem sich religiöse Werte stark auf die Ökonomie ausgewirkt haben, wird häufig der Islam im Nahen Osten aufgeführt. Es wird darauf hingewiesen, dass die meisten der 56 vorwiegend islamisch geprägten Länder der Welt unterentwickelt 152 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="153"?> seien, wenn ihre ökonomischen Leistungen anhand Kriterien wie dem Index der menschlichen Entwicklung, der Lebenserwartung, dem Alpha‐ betisierungsgrad und dem Bruttoinlandsprodukt (nicht jedoch z. B. der Vermögensverteilung) mit denen der Länder der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) verglichen werden. Ei‐ nige Wissenschaftler führen die Unterentwicklung dieser Länder auf den Islam und seine Institutionen zurück, während andere die Ursache der ökonomischen Stagnation des Nahen Ostens in historischen Ereignissen wie der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert oder dem Schwarzen Tod im 14. Jahrhundert sehen (Ashtor 1976, 249-79; Dols 1977, 255-80). Weber (2006 [1922], 623-27) betrachtet die Irrationalität des Islam als Haupthindernis jeglicher Reformen, u. a. auch ökonomischer Art. Wie Weber reicht es dem türkisch-amerikanischen Politikwissenschaftler und Ökonomen Timur Kuran nicht, den Grund hierfür nur in äußeren Umstän‐ den zu suchen. Seiner Ansicht nach kann auch die Rationalitätsthese nicht erklären, warum bis zur Einführung von Reformen im Nahen Osten so viel Zeit verging. In seinen zahlreichen Publikationen versucht Kuran die Frage zu beantworten, warum sich der Nahen Osten von einer im Vergleich zu den Ländern der westlichen Welt ökonomisch fortgeschrittenen Region zu einer rückständigen zurückentwickelte. Er sieht den Wendepunkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts und betrachtet die islamischen Institutionen (zum Institutionenbegriff s. → Kapitel 1.1) als Hauptgrund für die Stagnation der nahöstlichen Länder. Anstatt Institutionen der modernen Gesellschaft zu übernehmen, z. B. Gesetze, Regularien und Organisationsformen, hätten diese Länder an ihren traditionellen Institutionen festgehalten. Während ökonomische Aktivitäten im Nahen Osten eher atomistisch geprägt gewesen seien und daher meist nicht einmal eine Generation überlebt haben können, haben die meisten der heute fortgeschrittenen Länder bereits im 19. Jahr‐ hundert Institutionen entwickelt, mit deren Hilfe große Mengen an Geldern mobilisiert, individuelle Planungshorizonte überschritten und neue Produk‐ tionstechnologien genutzt werden konnten. Kuran weist darauf hin, dass sich die wirtschaftlichen Institutionen des Westens und des Nahen Ostens weniger unterscheiden, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen. Der frühe Islam sei besonders wirtschaftsfreundlich gewesen, habe eine positive Haltung zum Reichtum gehabt und habe dem Kapitalismus nicht im Wege gestanden (Rodinson 1974, 28-57). Die damals entwickelten ökonomischen Institutionen haben für die damaligen Bedürfnisse gereicht, jedoch nicht für die moderne globale Wirtschaft (Kuran 2011, 3-41). Kuran identifiziert 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 153 <?page no="154"?> verschiedene Institutionen, die die Rückständigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung im Nahen Osten bedingen. Institutionen kommt insbesondere in der Neuen Institutionsökonomik eine zentrale Rolle zu und sind in der religionsökonomischen Forschung von tragender Bedeutung (→ Kapitel 7.2.2 und 5.2.2). Im Folgenden gehen wir genauer auf das Erbrecht, das Gesellschaftsrecht und das Zinsverbot ein. Das islamische Erbrecht - so argumentiert Kuran - verhindert die Kapitalanhäufung. Der Koran beschränke die testamentarischen Rechte des Einzelnen auf ein Drittel seines Nachlasses, während der Rest den Kindern, Ehegatten, Eltern, Geschwistern und sogar entfernten Verwandten beiderlei Geschlechts zustehe. Obwohl eine Erbin normalerweise nur die Hälfte eines männlichen Erbes derselben Klasse geerbt habe, habe dieses Erbrecht im Arabien des 7. Jahrhunderts die wirtschaftliche Sicherheit und den sozialen Status der Frauen verbessert. Die Teilung des Erbes zwischen mehreren Personen habe jedoch oft zur Fragmentierung eines Vermögens oder zu einem Dutzend Miteigentümern eines Geschäftes geführt. Das Problem ist im frühislamischen Steuersystem zwar bekannt gewesen, und einige Maß‐ nahmen sind dagegen ergriffen worden, jedoch waren sie laut Kuran nicht effektiv genug. Im Gegensatz zum Islam habe das christliche Kirchenrecht nicht über ein standardisiertes Erbrecht verfügt, weshalb die Praxis leicht zu modifizieren gewesen sei. Bestimmte europäische Praktiken hätten ein Kind, in der Regel den ältesten Sohn, begünstigt. Somit sei es - anders als unter dem egalitaristischen Erbrecht des Islam - möglich gewesen, dass Besitz über Generationen intakt blieb. Während der islamische Egalitarismus für Frauen und Kinder vorteilhaft gewesen sei, habe er indirekt langfristig für negative Auswirkungen auf die Anhäufung von Kapital und somit auf die Wirtschaft im Nahen Osten gesorgt. Ein weiterer Faktor, der zur Vermögenszersplitterung geführt habe, sei die Polygamie gewesen, die insbesondere dort aufgetreten sei, wo es ein Vermögen in der Hand eines wohlhabenden Mannes gegeben habe (Kuran 2011, 31, 78-96). Diskussionsfrage | Welche der in → Kapitel 4.1 aufgeführten ökono‐ mischen (erbrechtlichen) Vorschriften haben eine Fragmentierung des Kapitals verstärkt und welche haben diese verhindert? Warum? Als weiteres Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung der islamisch geprägten Länder sieht Kuran die Abwesenheit des Konzepts einer dau‐ erhaften Gesellschaft (cooperation) in der islamischen Tradition. Im isla‐ 154 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="155"?> mischen Gesellschaftsrecht sei das Bestehen von Gesellschaften von den einzelnen Beteiligten abhängig gewesen und nichtig geworden, sobald ein Mitglied aus der Partnerschaft ausschied. Die Mitgliederanzahl sei zudem in der Regel stark begrenzt gewesen. Das islamische Gesellschaftsrecht habe sich beispielsweise von seinem römischen Pendant hauptsächlich darin unterschieden, dass es keine Bildung einer kollektiven Einheit erlaubt habe, die als unabhängiges Wirtschafts- und Rechtssubjekt habe fungieren können. Während römische Gesellschaften so ihre einzelnen Mitglieder problemlos überleben konnten, seien sie in der islamischen Tradition auf die Lebenszeit der Beteiligten begrenzt gewesen. Das waqf (→ Kapitel 4.1.2) konstituierte - so Kuran - die entwickelteste Form der islamischen Gesellschaft, die jedoch auch nicht selbstverwaltet war (Kuran 2011, 97-116). Nicht nur der Islam sprach im Altertum ein Zinsverbot aus. Zu Beginn des 2. Jahrtausends wurde der Zins auch im christlichen Europa unter Strafe gestellt. Dort, so argumentiert Kuran, wurde das Verbot jedoch bereits im 13. Jahrhundert infrage gestellt und seine Abschaffung dann durch die Reformation beschleunigt. Einige Denker des 18. Jahrhunderts versuchten gar, den Zins als tugendhaft darzustellen. Im 19. Jahrhundert sei er eine Selbstverständlichkeit geworden. In Anbetracht dessen stellt Kuran die Frage, warum das islamische Wirtschaftssystem so lange stagnierte und das Zinsverbot nicht ebenfalls abzuschaffen versuchte. Die Antwort liege in einem organisationsbezogenen Unterschied: „Right up to modern times, Middle Eastern financiers provided credit as individuals or through short-lived, small, and generally unspecialized partnerships. These finan‐ cial partnerships could not pool the deposits of more than a few savers, undertake clearance operations beyond the simplest, or supply credit to the masses“ (Kuran 2011, 156). Im Westen habe die Ausbreitung von Perso‐ nengesellschaften mit einer zunehmenden Zahl inaktiver Partner hingegen den Übergang zu Aktienbanken erleichtert, deren Aktionäre wenig über das Tagesgeschäft gewusst haben. Ein indigenes nahöstliches Pendant habe es lange nicht gegeben, und die Banken im Nahen Osten seien erst im 19. Jahrhundert aus dem Westen eingeführt worden, als der europäische Anteil am Welthandel bereits ca. 70 % erreicht hatte. Um an der globalen Expansion des Handels teilzuhaben, hätten die Unternehmen im Nahen Osten mehr Kredite benötigt als ihre eigenen Kreditinstitute zur Verfügung hätten stellen können. Das Fehlen von Banken und Aktienmärkten habe zudem die Versorgung der nahöstlichen Staaten mit inländischem Kapital eingeschränkt. In der zweiten Hälfte des 19.-Jahrhunderts und sogar später 4.2 Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote 155 <?page no="156"?> hätten Bauern im Nahen Osten Zinsen in Höhe von 20 % - 100 % zahlen müs‐ sen, während der landwirtschaftliche Zins in Europa bei ca. 4 % gelegen habe. Das entstandene Kreditvakuum im Nahen Osten haben die europäischen Banken gefüllt (→ Kapitel 4.1.2). Neben der Kreditmenge und dem Zinssatz haben sie den Vorteil genossen, vor ausländischen Gerichten klagen, aber auch verklagt werden zu können (Kuran 2011, 143-64). Die wirtschaftliche Stagnation des Nahen Ostens Kuran identifiziert einige islamische Institutionen als maßgebend für die wirtschaftliche Stagnation der islamischen Länder. Die wichtigsten davon sind: ● Das Erbrecht führte zur Vermögenszersplitterung und verhinderte die Kapitalanhäufung. ● Das Gesellschaftsrecht machte Gesellschaften von ihren einzelnen Mitgliedern abhängig und begrenzte somit ihr Fortbestehen auf die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder. ● Das Zinsverbot hinderte die Formierung von Kreditinstituten, die die von der Gesellschaft benötigten Kredite abdecken konnten. Kurans Argumentation lässt sich vor dem Hintergrund des in → Kapitel 1.1 eingeführten Zusammenhangs zwischen Religion und Wirtschaft wie folgt zusammenfassen: Die beiden Teilsysteme Religion und Wirtschaft differenzierten sich in der frühislamischen Gesellschaft nicht maßgebend aus; einen Unterschied zwischen dem säkularen und dem religiösen Lebens‐ bereich gab es nicht. Das islamische Recht, šarīʿa, deckte quasi alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche ab, u. a. Investitionen, Produktion und Tausch. Diese Tatsache führte dazu, dass auch ökonomische Institutionen von der Religion reguliert wurden. Im Gegensatz dazu entstand das Christentum im Kontext eines starken Staats, nämlich des Römischen Reiches. Dadurch war es gezwungen, sich eher auf Glauben und Moral zu konzentrieren und das wirtschaftliche und politische Leben möglichst zu ignorieren. Demge‐ genüber bereitete das islamische Recht kaum den Weg für die Institutionen, die für die moderne globale Wirtschaft notwendig gewesen wären. Somit hatte es vornehmlich nicht intendierte Konsequenzen für die Wirtschaft im Nahen Osten; in diesem Zusammenhang wird auch von Pfandabhängigkeit gesprochen (→-Kapitel 7.2.2). 156 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="157"?> 4.3 Weiterführende Literatur - Religiöse ökonomische Ethik An dieser Stelle müssen wir leider auf die Nennung einer zentralen Litera‐ turangabe verzichten. Wie unsere Darstellung der religiösen ökonomischen Ethik in Kapitel 4.1 zeigt, ist uns kein vergleichender Überblickstext über religiös-ökonomische Ethiken unterschiedlicher religiöser Traditionen aus religionsökonomischer Perspektive bekannt. Hierfür muss man stattdessen die Fachliteratur der einzelnen Disziplinen konsultieren, die eine bestimmte religiöse Tradition zum Gegenstand haben, und sich gezielt über die jeweili‐ gen Ethiken informieren. Für die besprochenen Themen in Kapitel 4.1 bietet die dort angegebene Literatur einen tieferen Einblick in die erwähnten Ge- und Verbote. - Sozioökonomische Auswirkungen religiös-ökonomischer Gebote Weber, Max. 2013 [1920]. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapi‐ talismus. Vollständige Ausgabe, herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. München: C.-H. Beck. Umfassend eingeleitete und kommentierte Ausgabe von Webers religi‐ onssoziologischem Standardwerk. Enthält zusätzlich Webers Schriften „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ (1920), „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘“ (1906) und Webers „Antikritiken“, seine kriti‐ schen Reaktionen auf verschiedene Kritiken (1907-1910). Weber, Max. 1989 [1915-1920]. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Kon‐ fuzianismus und Taoismus. Herausgegeben von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonso. Tübingen: Mohr Siebeck. Webers Einleitung und Zwischenbetrachtungen in diesem Band bieten einen guten Überblick über seinen vergleichenden religionssoziologi‐ schen Ansatz in Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen und beinhaltet Definitionen u. a. der Begriffe „Wirtschaftsethik“, „Theodizee“, „Erlö‐ sungsreligionen“, „soziale Träger“, sowie „Virtuosen-Religiosität“ und „Massen-Religiosität“. 4.3 Weiterführende Literatur 157 <?page no="158"?> Kuran, Timur. 2011. The long divergence: how Islamic law held back the Middle East. Princeton: Princeton University Press. Das Buch stellt das zentrale Werk zu den sozioökonomischen Aus‐ wirkungen des Islam im Nahen Osten dar. Der Autor trägt seine Forschungsergebnisse aus den vorangegangenen Jahrzehnten zusam‐ men und vertritt die These, dass die wirtschaftliche Rückständigkeit der nahöstlichen Länder nicht nur auf außerreligiöse Umstände zu‐ rückzuführen, sondern auch in Zusammenhang mit nicht intendierten Konsequenzen islamischer Institutionen zu betrachten sei. Kuran, Timur. 2004. Islam and Mammon: the economic predicaments of Islamism. Princeton: Princeton University Press. Das Buch erleichtert den Zugang zu Kurans wichtigsten Thesen bis zum Jahr 2004, die hier in Form einzelner Artikel zusammengestellt werden. Dadurch ergibt sich ein Gesamtbild der unterschiedlichen Argumente bzgl. des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Stagnation der nahöstlichen Länder und dem Islam. 158 4 Religiöse ökonomische Ethik und sozioökonomische Auswirkungen <?page no="159"?> 5 Religionen als ökonomische Akteure Leitfragen des Kapitels ● Wie finanzieren sich Religionen und welche Formen der Finanzie‐ rung von Religion gibt es? ● Wie kann man religiöse Phänomene mithilfe von ökonomischen Modellen untersuchen? Welchen Beitrag leisten sie? ● Wie vermarkten sich Religionen in der Konsumkultur? Welche Wirtschaftsstrategien haben sie entwickelt? ● Welchen Einfluss hat der Neoliberalismus auf die Entwicklung von Religion? Nachdem wir uns im vorherigen Kapitel mit den Einflüssen von Religion auf Wirtschaft beschäftigt haben - wie religiöse Normen und Ethiken wirtschaftliches Handeln und die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Ge‐ sellschaften beeinflussen können -, wenden wir uns in diesem Kapitel in gewissem Sinne dem umgekehrten Verhältnis zu: der Rolle von Wirtschafts‐ logiken im Teilsystem Religion. Religionen werden aus dieser Perspektive als ökonomische Akteure aufgefasst, die sich einerseits finanzieren müssen, andererseits teilweise auch aktiv vermarkten. Diese zwei Sachverhalte betreffen das Verhältnis von Religion und Wirtschaft auf der objektsprach‐ lichen Ebene. Auf der wissenschaftlichen Metaebene lassen sich religiöse Organisationen, Institutionen oder religiöses Verhalten aus ökonomischer Perspektive untersuchen. Dabei sprechen wir von der ökonomischen Mo‐ dellierung von Religion. Wir beginnen mit dem Thema Finanzierung von Religion (→ Kapitel 5.1): Wie finanzieren sich Religionen und welche Konsequenzen haben unterschiedliche Finanzierungsformen jeweils für die innere Struktur der Religionen? Dabei werden wir auf die Finanzierung von Religion sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart, Geldsowie Zeitinvestition und Investition seitens der Konsumenten sowie der Produzenden eingehen. → Kapitel 5.2 befasst sich mit der ökonomischen Modellierung religiöser Phänomene. Dabei werden drei Ebenen, die Mikro-, Meso- und Makroebene, definiert, wobei nur auf die zwei ersteren Ebenen eingegangen wird. <?page no="160"?> In → Kapitel 5.3 konzentrieren wir uns auf die Vermarktung von Religion. Auch hier sind Religionen als ökonomische Akteure zu begreifen, die sich über ihre reine Finanzierung hinaus zunehmend vermarkten, um Anhänger zu gewinnen, ihre öffentliche Sichtbarkeit zu erhöhen und oftmals auch finanziellen Gewinn zu machen. Obwohl es in der Geschichte viele Beispiele für religiöse „Eigenwerbung“ gibt, beschränkt sich dieses Teilkapitel auf die Vermarktung von Religionen in der spätkapitalistischen Konsumkultur und behandelt vor allem die Einflüsse des Neoliberalismus als politische und wirtschaftliche Ordnungsstruktur auf die aktuellen Entwicklungen im religiösen Feld. 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen In diesem Abschnitt werden wir uns damit befassen, wie sich eine Religion als ökonomischer Akteur finanziert. Er beschäftigt sich mit rein ökonomi‐ schen Sachverhalten, nämlich Investitionen in Religion. Dabei ist zu beach‐ ten, dass religiöse Organisationen wirtschaftliche Akteure des Teilsystems Wirtschaft sind. Als ein Unternehmen setzen sie ihre Produktionsfaktoren Arbeit (Einstellung von Arbeitskraft), Boden (Immobilienbesitz) und Kapital ein, um religiöse und nichtreligiöse Produkte zu produzieren. 5.1.1 Klassifikationen der Finanzierung von Religion Die Finanzmittel, die in eine Religion einfließen, lassen sich in zwei Klassen einteilen: Von direkter Finanzierung sprechen wir, wenn ein religiöses Gut direkt gekauft wird (oder eine religiöse Dienstleistung direkt vergütet wird) oder, anders gesagt, das Angebot eines religiösen Produzenten mit einem bestimmten Preis von einem Konsumenten nachgefragt wird. Als Beispiele lassen sich die Bezahlung an einen altgriechischen Tempel, der ein bestimmtes Ritual im Auftrag von Kunden vollzieht, die Vergütung eines indischen Priesters, der eine Hochzeitszeremonie durchführt oder die Entlohnung einer Koranrezitatorin für ihre Gebetsrezitation im Hause einer Verstorbenen anführen. Die indirekte Finanzierung ist gegeben, wenn die Mitglieder einer Gemeinde einen Beitrag unabhängig von ihren Nachfragen bezahlen und die religiöse Organisation im Gegenzug einige religiöse (und nichtreligiöse) Produkte für ihre Mitglieder produziert. Mit‐ gliedschaftsbeiträge in unterschiedlichsten Formen, z. B. Kirchensteuer 160 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="161"?> oder religiöse Stiftungen, gehören zur indirekten Finanzierung. Mit der Bezahlung des Mitgliedschaftsbeitrags kauft man sich die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde. Durch diese Zugehörigkeit ist es einem dann erlaubt, die von der Gemeinde produzierten Güter zu konsumieren. Die Beiträge werden von der Organisation - dem Produzenten - als Erlöse für die Güter‐ produktion eingesetzt. Ob diese Produkte von allen Mitgliedern konsumiert werden oder nicht, ist nicht von Belang. Mitglieder der katholischen Kirche zahlen ihre Kirchensteuer und die Heilige Messe findet regelmäßig statt, unabhängig davon, wie viele der Steuerzahler an der Messe teilnehmen. Entsprechend dieser beiden Finanzierungsformen kann man Religionen binär klassifizieren: a) Religionen, die sich eher indirekt finanzieren, wie z.-B. der Protestantismus in Deutschland, und b) Religionen, die sich direkt finanzieren, wie z.-B. Hindu-Religionen in Indien. Direkte und indirekte Finanzierung von Religion Es handelt sich um direkte Finanzierung von Religion, wenn Konsumen‐ ten religiöse Güter mit bestimmten Preisen von Produzenten kaufen. Von indirekter Finanzierung wird dann gesprochen, wenn die Mitglieder einer Organisation den Zugriff auf die von dieser produzierten Güter durch einen Beitrag erhalten, der von ihrem Konsum unabhängig ist. Es ist darauf hinzuweisen, dass eine Mischfinanzierung von direkter und indirekter Finanzierung nicht selten vorkommt. Wenn eine Steuerzahlerin an einer katholischen Messe partizipiert, zahlt sie wahrscheinlich zusätzlich auch eine Spende. Damit eine Hochzeitszeremonie, die direkt finanziert wird, in einer Kirche oder von einem Hindu-Tempel vollzogen werden kann, muss es eine Kirche oder einen Hindu-Tempel (als Organisation) geben. Diese religiösen Organisationen sind voraussichtlich zunächst indirekt, z. B. durch eine Stiftung, finanziert worden. Eine weitere Klassifizierung lässt sich aus der Einteilung der Ökonomie in die zwei Teilgebiete Mikro- und Makroökonomie (→ Kapitel 3.1) überneh‐ men. Man kann einerseits danach fragen, wie viel ein Individuum oder ein Haushalt in Religion investiert oder wie hoch die Erlöse und Kosten einer bestimmten religiösen Organisation als Unternehmen (→ Kapitel 3.3.1) ausfallen, sei es eine Kirche oder ein Tempel. Somit beschäftigt man sich mit der Finanzierung von Religion auf der Mikroebene (s. → Kapitel 2.2.1 zu gesellschaftlichen Ebenen und → Kapitel 5.2 zu Modellierung auf 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen 161 <?page no="162"?> diesen drei Ebenen). Andererseits kann man sich mit der Frage befassen, wie viel die Mitglieder einer Religion in diese investieren oder wie viel eine bestimmte Religion die Gesellschaft kostet. Diese Ebene zwischen Mikro- und Makroebene kann als Mesoebene bezeichnet werden. Auf der höchsten Ebene, der Makroebene, kann hingegen gefragt werden, wie viel die Mitglieder einer Gesellschaft generell in Religion investieren. Hier differenzieren wir dann nicht mehr zwischen verschiedenen Religionen. Auf dieser Ebene könnte es beispielsweise von Interesse sein zu vergleichen, wieviel eine Gesellschaft im Vergleich zu Kunst, Sport, Recht oder Bildung in Religion investiert. Die Ebenen der Finanzierung von Religion Eine trinäre Klassifizierung der Finanzierung von Religion geschieht auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Die Finanzierung von Religion auf der Mikroebene beschäftigt sich mit der Frage, wie viel Haushalte (auch Individuen) und Unternehmen in Religion investieren. Auf der Mesoebene stellt sich die Frage der Investition in eine bestimmte Religion durch alle Konsumenten und Produzenten dieser Religion. Auf der Makroebene wird nach der Gesamtinvestition in Religion ohne Dif‐ ferenzierung zwischen verschiedenen Religionen in einer Gesellschaft gefragt. Die wichtigsten Maßnahmen, die eine Religion zur Sicherstellung ihrer indirekten Finanzen ergreift, sind ihre ökonomisch-religiösen Gebote. Wie wir in → Kapitel 4.1 gesehen haben, tragen viele dieser Gebote zur Finanzierung von Religion bei: Religiöse Steuern, Spenden und fromme Stiftungen sind die größten Finanzquellen derjenigen Religionen, die sich eher indirekt finanzieren lassen. Nicht nur in Ländern wie Deutschland, in denen die Religionssteuer vom Staat erhoben wird, stellt die Kirchensteuer die größte Einkommensquelle dar. Die österreichischen katholischen und evangelischen Kirchen erheben ihren Kirchenbeitrag selbst: Er beträgt 1,1 % des steuerpflichtigen Einkommens für Katholiken und 1,5 % für Protestanten. Die Anzahl der Mitglieder der katholischen Kirche betrug im Jahr 2021 ca. 4,8 Mio., die der evangelischen Kirche, der viertgrößten 162 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="163"?> 1 Quelle: https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 304874/ umfrage/ mitglieder-in-rel igionsgemeinschaften-in-oesterreich/ ; letzter Zugriff 8.6.2022. 2 Quelle: https: / / kirchenfinanzierung.katholisch.at/ kirchenfinanzen; letzter Zugriff 8.6.2022. Religionsgemeinde Österreichs, ca. 272.000 1 . Nach dem Finanzbericht der österreichischen katholischen Kirche bezogen die katholischen Diözesen im Jahr 2020 ca. 483,7 Mio. € Kirchenbeitrag. Dieser machte 75,2 % ihrer Gesamteinnahmen (in Höhe von ca. 643 Mio. €) aus. Staatliche Leistungen bildeten mit 55,3 Mio. € (8,6 %) die zweitgrößte Einnahmequelle. Vermögens‐ verwaltung (Produktionsfaktor Kapital), Vermietungen (Produktionsfaktor Boden), Dienstleistungen (Produktionsfaktor Arbeit) und sonstige Erträge konstituierten die restlichen 104 Mio. € der Einnahmen (16,2 %). Demgegen‐ über machten die Personalkosten für die ca. 8.150 Beschäftigten in Höhe von ca. 404 Mio. € 63 % der Ausgaben den größten Ausgabeposten aus. Davon entfielen 236 Mio. € auf Laienmitarbeiter, 102 Mio. € auf die geistliche Kirchenführung („Klerus“) und 66 Mio. € auf die Altersversorgung. Die Bau- und Erhaltungskosten mit fast 40 Mio. € und der restliche Sachaufwand mit 200 Mio. €, bestehend aus Zuschüssen für Pfarreien und andere kirchliche Stellen, Kosten für Instandhaltung, Material und Energie etc., stellten wei‐ tere größere Ausgabeposten dar 2 . Übungsfragen-| ● Welcher Ebene kann die Information zur Finanzierung der öster‐ reichischen katholischen und evangelischen Kirchen zugeordnet werden, der Mikro-, Meso- oder Makroebene? ● Wie viel investieren Katholiken in Österreich durchschnittlich pro Kopf in Religion? Welcher Ebene ordnen Sie diese Frage zu, der Mikro-, Meso- oder Makroebene? ● Suchen Sie nach den entsprechenden Zahlen für die katholische und die evangelische Kirche in Deutschland. Vergleichen Sie Ihre Zahlen mit Österreich. Kostet Religion in Österreich und Deutsch‐ land gleich viel? Im Gegensatz zum europäischen Modell der Kirchenfinanzierung beziehen alle religiösen Einrichtungen in den USA ihre Einnahmen traditionell aus freiwilligen Spenden. Die amerikanischen Ökonomen Laurence Iannaccone und Feler Bose (2011) weisen darauf hin, dass amerikanische religiöse Orga‐ 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen 163 <?page no="164"?> nisationen mit vielen verschiedenen Finanzierungsmethoden, darunter Ver‐ mietung oder Verkauf von Kirchenbanken, Abonnements, Aktienverkäufen, Lotterien, Immobilienvermietungen usw. experimentierten, nachdem sie die Kirchensteuer als Finanzquelle verloren hatten. Gegenüber dem Beitragsmodell, dem z. B. in Deutschland herrschenden Finanzierungsmodell der christlichen Kirchen, als eine Art der indirek‐ ten Finanzierung durch Kirchensteuern finanzieren sich viele religiöse Organisationen durch das Angebot religiöser Güter mit vorbestimmten Preisen. Naheliegende Beispiele sind religiöse Güter wie Devotionalien, ein Hausaltar, ein Gebetsteppich, eine Bibel oder ein Koran. Einfache oder komplexe Reinheitsrituale, Initiationsrituale oder Gedenkzeremonien haben alle ihren Preis. Wer von einer solchen Dienstleistung Gebrauch machen möchte, muss den Preis monetär bezahlen. Religionsforschern ist ein solch explizit ökonomisches Verhalten aus der Religionsgeschichte sowie auch aus südasiatischen Gegenwartsreligionen bekannt. In unserer Zeit nutzen viele dieser Organisationen das Internet, um ihre Produkte am Markt anzubieten, wie die folgenden Beispiele zeigen. Zu beachten ist, dass diese Phänomene keine Neuerscheinungen von Gegenwartsreligionen oder moderner Kommunikation sind. Die Religionsgeschichte kennt jede Menge Beispiele dafür. Webauftritte verleihen diesen Angeboten lediglich eine erhöhte Sichtbarkeit. Wenn wir an die breitere Finanzierung von Religion denken, sollten wir allerdings berücksichtigen, dass diese nicht nur monetär verläuft. Ein Gebet oder ein Kirchenbesuch ‚kostet‘ im engsten Sinne des Wortes Zeit, die ebenfalls als eine Investition in Religion berücksichtigt werden muss. In einem ökonomischen Modell muss man die Zeitinvestition über Kompen‐ sation - die Zeit, die man theoretisch in Arbeit hätte investieren und somit Geld hätte verdienen können - in Geld umrechnen. Zudem werden nicht nur die Aktivitäten, die für die Religion vollzogen werden, sondern auch diejenigen, die der Religion wegen nicht verfolgt werden, als Finanzierung der Religion berücksichtigt. Religiöse Verbote und Reinheitsgebote belasten Haushalte und Unternehmen ökonomisch (→ Kapitel 4.1). Koscheres Essen belastet eine jüdische Familie zusätzlich, Alkoholverbot eine Muslimin und vegetarischer Verzehr eine Buddhistin, besonders wenn diese Personen als Minderheit in ihrer Umgebung leben. Den Zeugen Jehovas könnte sogar die Ablehnung einer notwendigen Bluttransfusion das Leben kosten. Das strenge Einhalten des Sabbats dürfte gesellschaftliche Konsequenzen und somit ‚Kosten‘ haben. Die manichäischen Mönche und Nonnen, die 164 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="165"?> 3 Quelle: https: / / www.siddhivinayak.org/ about-the-temple-architecture/ ; letzter Zugriff 19.06.2022. sich lebenslang dem Zölibat verpflichteten, mussten für ihre Religion auf sexuellen Genuss verzichten. 5.1.2 Tempelökonomie Die → Tabelle 5.1 listet die Produkte eines zweihundert Jahre alten hinduistischen Tempels, des Shree Siddhivinayak Ganapati Tempels am Prabhadevi in Mumbai, und ist ein Beispiel der Tempelökonomie. Der Tempel wurde am 19. November 1801 eingeweiht und ist Ganesha, einer der beliebtesten hinduistischen Gottheiten, gewidmet. Er bestand ursprünglich aus einem kleinen Bau mit einer Halle im alten architektonischen Stil, einem sanctum sanctorum, einem freien Raum, einem Verwaltungsbüro und einem Wassertank. Der Tempel wurde von 1990 bis 1993 renoviert. Unter Beibehaltung der Ganesha-Statue wurde er unter Verwendung von Marmor und Granit zu einem prächtigen sechsstöckigen Baukomplex mit vergoldeter Kuppel ausgebaut. Der Kostenaufwand für die Renovierung betrug drei Mio. Rupien. Das erste Stockwerk des Tempels wird hauptsächlich für religiöse Verehrung in Form des priesterlichen puja-Rituals oder für die konzentrierte Betrachtung des Gottesbildes (darśana) genutzt 3 . Die in → Tabelle 5.1 reproduzierte Liste gibt die Preise für die un‐ terschiedlichen Produkte dieses hinduistischen Tempels, nämlich seiner Rituale, an. Sie geht jedoch weit über eine reine Preisliste hinaus und lässt zu großen Teilen sowohl Kosten und Erlöse des Produzenten als auch Ausgaben und Nutzen der Konsumenten für jedes Produkt erschließen. Sie gibt die Rituallänge an, also die Zeit, die der Spezialist, ein hinduistischer Priester, für die Produktion des Gutes aufwenden muss. Wüssten wir über den Lohn hinduistischer Priester Bescheid, könnten wir diesen Zeitaufwand monetär errechnen. Dieser bildet den Produktionsfaktor Arbeit des Tem‐ pels. Zudem sollten wir den Produktionsfaktor Boden, zumindest die uns bekannten Renovierungskosten, anteilig mitberücksichtigen. Die Liste stellt die Erlöse des Unternehmens für jedes Produkt seinen Kosten gegenüber. Aus der Tabelle können wir nicht nur die Ausgaben der Konsumenten erschließen, sondern auch ihren Nutzen. Sie gibt einerseits an, wie viele Personen an einem bestimmten Ritual teilnehmen und davon profitieren dürfen. Anderseits bestimmt sie, welche Opfergaben (prasāda) und wie 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen 165 <?page no="166"?> 4 Segenreiche Asche mit verschiedenen symbolischen Bedeutungen, die selbst aus dem Opferritual gewonnen wird. viele davon in jedem Ritual gesegnet werden. Die Ritualteilnehmer können die gesegneten Opferspeisen zu sich nehmen, um das durch das Ritual produzierte Heil tatsächlich zu konsumieren, sie können sie für die daheim gebliebenen Familienmitglieder mitnehmen, um diese am Heil teilhaben zu lassen, sie können sie Bedürftigen schenken oder sie einfach auf dem Alter liegenlassen. Die Angaben zu den Opfergaben lassen uns das produzierte Heil in verschiedenen Ritualen vergleichen. Wenn in Ritual Nr. 5, das 45 Minuten lang und 1.001 Rupien teuer ist, im Vergleich zu Ritual Nr. 1, das 20 Minuten dauert und 101 Rupien kostet, sechs Laddus (eine kugelförmige indische traditionelle Süßspeise) anstatt zwei gesegnet werden, könnte man sagen, dass durch Ritual Nr. 5 mehr Heil produziert wird. Die maximale Anzahl der Teilnehmer beider Ritualen zeigt ebenfalls, dass doppelt so viele Menschen das in Ritual Nr. 5 produzierte Heil konsumieren können wie in Ritual Nr.-1. Nr. Ritual Länge (min) Preis (Ru‐ pien) Max. Zahl der Teilneh‐ mer Opfergaben 1 Avartan Panchamrut Puja 20 101 2 2 Laddus, 1 Kokos‐ nuss, 1 Banane, 1 Packung Vibhuti 4 2 2 Avartan Shodashop‐ char Puja 30 251 2 2 Laddus, 1 Kokos‐ nuss, 1 Banane, 1 Packung Vibhuti 3 Ashtottar Naam Puja 30 151 2 2 Laddus, 1 Kokos‐ nuss, 1 Banane, 1 Packung Vibhuti 4 5 Avartan Shodashop‐ char Puja 35 251 2 4 Laddus, 1 Kokos‐ nuss, 1 Banane, 1 Packung Vibhuti 5 11 Avartan Shodashop‐ char Puja 45 1.001 2-4 6 Laddus, 1 Kokos‐ nuss, 1 Banane, 1 Packung Vibhuti 6 Ashirvachan 10-15 1.500 2-4 1 Bildrahmen des Siddhivinayak, Ganesh Vastra 166 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="167"?> 5 Ein traditioneller indischer Pudding aus Grießmehl, Ghee, Zucker, Cashewnüssen und Rosinen. 6 Eine indische Süßigkeit aus Khoa (einem Milchprodukt), Zucker, Kardamom, Pistazien und Safran. 7 Quelle: https: / / www.siddhivinayak.org/ pooja-details/ ; letzter Zugriff 19.06.2022. Nr. Ritual Länge (min) Preis (Ru‐ pien) Max. Zahl der Teilneh‐ mer Opfergaben 7 Shree Satya‐ narayan Ma‐ hapuja 120 5.001 2-4 Sheera 5 8 Shree Satya Vinayak Ma‐ hapuja 120 5.555 2-4 Pedhas 6 9 Atharvas‐ hirsha Sa‐ hastravatan 120 8.888 2-4 5 Fruchtsorten 10 Sahastra Na‐ mavali 120 5.001 2-4 5 Fruchtsorten, 16 Laddus, 1 Ganesh Vastra, 1 kleine Pa‐ ckung getrockneter Früchte 11 Atharvas‐ hirsah Ha‐ van 300 100.000 25-30 Frühstück und Mit‐ tagessen für alle Anwesenden, 1 Ga‐ nesh Vastra, 5 Lad‐ dus, 1 Bildrahmen des Shree Siddhivi‐ nayak 12 2 Wheeler Vehicle Puja 15-20 501 2 2 Laddus, 2 Ko‐ kosnuss, 1 Foto of Lord Siddhivi‐ nayak, Holy Shen‐ dur 13 4 Wheeler Vehicle Puja 15-20 2.001 2-4 5 Laddus, 2 Kokos‐ nuss, 1 Foto des Siddhivinayak, hei‐ liges Shendur Tabelle 5.1: Liste der priesterlichen Rituale des Siddhivinayak Ganapati Tempel in Mumbai 7 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen 167 <?page no="168"?> 8 www.hajferdowsi.com; letzter Zugriff 17.04.2020 Der Siddhivinayak-Tempel und seine Produkte sind ein hervorragendes Beispiel für das Modell der direkten Finanzierung. Wie bereits erwähnt, gibt es dennoch des Öfteren Mischformen der Finanzierung von Religion. Der Islam finanziert sich wie das Christentum eher indirekt und in einer Ausprägung wie in der Islamischen Republik Iran vor allem staatlich. Den‐ noch gibt es eine hohe Anzahl an Produkten, die direkt zu kaufen sind. Zu Beginn der Coronakrise im Jahr 2020 hat ein islamischer Kleriker auf seiner Webseite 8 drei Produkte angeboten: Gebete gegen eine Coronainfektion für 44.444 Toman (1 Toman = 10 Rials), Gebete für die Genesung nach einer Coronaerkrankung für 66.666 Toman oder ein Sondergebet für 55.555 Toman. Zum Vergleich: Der Mindestlohn in Iran beträgt im Jahr 2022 ca. 4,2 Mio. Toman. 5.1.3 Wertvernichtung Ein historisches Phänomen, das die Finanzierung von Religion betrifft, wird kultische ‚Wertvernichtung‘ genannt. Das prägnanteste Beispiel ist der ägyptische Totenkult, in dem hochwertige Güter in nicht geringer Menge als Grabbeigaben genutzt und somit aus dem materiellen Warenkreislauf entnommen wurden. Dank Grabräubern kehrten sie dennoch zum Teil in den Warenkreislauf zurück. Ähnlich muss die einmal dem Tempel darge‐ brachte Ware für immer im Tempel verbleiben (Gladigow 2009), wobei die Grabbeigaben und Opfergüter aus emischer Perspektive als Investition ins Jenseits bzw. ins Heil zu betrachten sind. Derlei Investitionen haben volks‐ wirtschaftliche Konsequenzen, wie in der Literatur ausführlich diskutiert wird (z.-B. Greschat 1994). Ein weiteres Beispiel ist das Hākari-Ritual der polynesischen Maori auf Neuseeland. Hākari (‚Gabe, Geschenk‘) war ein periodisch stattfindendes Ritual, in dem eine größere Gruppe - eine Großfamilie, eine Sippe oder ein Stamm - ihre wandernden Gäste kollektiv im Rahmen eines Festessens mit beachtlichen Mengen an Speisen und Geschenken bewirtete. Die Speisen wurden auf einem hierfür gebauten hohen Holzgerüst, das ebenfalls hākari genannt wird, ausgelegt. Dem Festessen folgte eine längere Fastenzeit. Ein Augenzeuge berichtete, dass dreibis viertausend Maori in einem Hākari in 1844 „11 000 Körbe Kartoffeln, 100 große Schweine, 9 000 Haie und großzügige Vorräte an Mehl, Zucker und Reis […] sowie 1 000 Witney-De‐ 168 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="169"?> cken“ verschenkten. „Von dem großen Aufwand blieb am Ende, wenn alles aufgegessen und die Gäste wieder fortgezogen waren, außer einem Haufen Müll, nichts Sichtbares zurück. Volkswirtschaftlich betrachtet waren solche Hākari mithin keine sinnvolle Angelegenheit. So sahen es jedenfalls die in Neuseeland ansässigen Europäer“ (Greschat 1994, 86). Die Speisung einer kleinen Gruppe von Menschen mit Unmengen von Lebensmitteln macht aus volkswirtschaftlichem Blickwinkel tatsächlich keinen Sinn. Dieser ergibt sich aber dann, wenn man das Ritual als Investition in eine transzendente Ordnung betrachtet, die das gesamte Gesellschaftsgefüge der Maori aufrecht erhält (s. →-Kapitel 5.2.1 zu Gabe). Diskussionsfrage | Agierten die Maori nutzenmaximierend? Können wir ihr Verhalten als ökonomisch bezeichnen? Welchen ökonomischen Begriff können Sie hier zur Erklärung ihres Verhaltens gut einsetzen? Ein ähnliches Beispiel kennt der thailändische Theravāda-Buddhismus. Die thailändischen Bauern gewinnen aus ihrer jährlichen Ernte gewöhnlich Überschüsse, die sie allerdings nicht in eine Bank, sondern lieber ins Kloster investieren. Wie wir in → Kapitel 4.1.5 gelesen haben, werden Bettelmönche und -nonnen von buddhistischen Laien durch Almosen ernährt. Zudem ver‐ anstalten die Laien einmal im Jahr ein Fest namens Kathin, bei dem sie den Mönchen und Nonnen über deren täglichen Bedarf hinaus Gaben schenken, vor allem neue Gewänder, bestehend aus drei gelben Baumwolltüchern. Die oft kollektiv gesammelten Gaben für ein Kathin umfassen jedoch auch häusliche Gegenstände, Utensilien und große Bargeldspenden. Die Gaben werden in Prozessionen zum Kloster geführt. „Da Mönche in allem Maß halten sollen, also auch beim Essen, bleibt das meiste unberührt. Darüber machen sich dann die Klosterschüler her. Was auch sie nicht aufessen können, überläßt man den Hunden, zu deren Lieblingsplätzen buddhistische Klöster zählen“ (Greschat 1994, 89). Die Ethnologie kennt einen anderen Fall, der noch viel näher an ‚Wertver‐ nichtung‘ herankommt: das Ritual Potlach (wörtlich ‚Gabe, Geben‘) der Kwakiutl, eines nordamerikanischen Ureinwohnerstamms. Mit ritueller Rahmung ‚vernichten‘ oder verschenken sie ihr Eigentum: ehemals Boote, Tierfelle und Pelze, kostbare Öle sowie kunstvolle Schmuckplatten, heute zeitgenössische Gebrauchsgegenstände. Diese rituelle Handlung ist in der Weltanschauung der Kwakiutl begründet, die eine Ähnlichkeit zu der der Buddhisten (→ Kapitel 4.1.5) aufweist: Befreiung von Gier gilt als Endziel. 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen 169 <?page no="170"?> Die Urzeit sei von Selbstsucht und Raffgier geprägt gewesen, durch Potlach habe sich die Gier abgebaut und ohne Potlach kehre sie wieder zurück. Mit solchen Maßnahmen sammele man religiöse Verdienste, gutes Karma oder einen himmlischen Schatz; mit anderen Worten konvertiere man irdische in himmlische Währung (Greschat 1994, 84, 92-95). Das Potlach stellt als Ritual also ein traditionelles und soziales Gut dar (zu unterschiedlichen religiösen Gütern s. →-Kapitel 6.3). Die Beispiele zeigen, dass den beteiligten Akteuren die Investition in religiöse Institutionen wichtiger ist als die negativen volkswirt‐ schaftlichen Konsequenzen dieser Investition und dass sie das Jenseits dem Diesseits vorziehen. Der deutsche Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow, der die Religionsökonomie in Deutschland bedeutend prägte (→ Kapitel 1.3.1), weist darauf hin, „daß ‚die Alten‘ für das Jenseits in Stein gebaut hätten, für das Diesseits aber in (billigem) Holz“ (Gladigow 2009, 132). Dies gehe nicht zuletzt damit einher, dass man irgendwann davon ausgegangen sei, - in Griechenland z. B. ab ungefähr dem 5. Jahrhundert v. Chr. - dass das postmortale Leben länger dauere als das irdische: „In der Vorstellung des Totengerichts lange voraus konzipiert, verändert sich der Bewertungsrahmen von Leben und Nachleben durch die Konzeption der einen, koexistierenden und dauernden Seele dramatisch. Wenn das Leben nach dem Tode länger dauert als das vor dem Tode, zugleich durch die ‚Seele‘ miteinander verbunden ist, kann es sinnvoll sein, ‚in das Jenseits zu investieren‘“ (Gladigow 2002, 108). 5.1.4 Investition der Produzenten Bis jetzt haben wir besprochen, wie die Nachfrager, die Haushalte, Religion finanzieren. Diese Finanzierung geschieht auch durch den Konsum eines religiösen Produktes, das von einer religiösen Organisation produziert und angeboten wird. Dieser religiöse Produzent produziert wie alle anderen Unternehmen Güter und Dienstleistungen unter dem Einsatz von Produk‐ tionsfaktoren (→ Kapitel 3.3). Interessanterweise erweisen sich seine Pro‐ duktionskosten zum Teil nicht als Kosten für Religion, sondern als Erlöse von Religion. Stellen wir uns einen Tempel wie den Siddhivi‐ nayak-Tempel des obigen Beispiels mit einigen angestellten Priestern vor, der Rituale als Produkt des Tempels anbietet. Der Tempel verfügt über ein Gebäude und ein Grundstück und setzt somit den Produktionsfaktor Boden ein. Das Grundstück, das andersartig hätte verwendet werden können, z. B. 170 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="171"?> für einen Sportplatz, eine Schule oder ein Krankenhaus, wird für die Religion eingesetzt. Auf der Makroebene der Finanzierung betrachtet wird somit eine Ressource für Religion - und nicht etwa für Sport, Bildung oder Gesundheit - verwendet. Die Kosten, die der Tempel für das Grundstück trägt, Kaufpreis, Miete oder Pacht (Produktionsfaktor Boden), sind Investitionen in Religion. Der Tempel setzt zudem den Produktionsfaktor Arbeit ein, da die Priester, die im Tempel arbeiten, für ihre Arbeit bezahlt werden müssen. Wenn nun die Priester ‚arbeiten‘ und ihren Tempel Geld kosten, investieren sie gleichzeitig ihre Zeit in Religion. Investition von Konsumenten und Produzenten Nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten - religiöse Organi‐ sationen, die den Konsumenten religiöse Produkte anbieten - investie‐ ren in Religion. Die Erlöse von Religion auf der Meso- und Makroebene sind die Summe der Kosten der Konsumenten für religiöse Produkte in Form von Zeit und Geld sowie zum Teil die Produktionskosten der Produzenten. Diskussionsfrage | Wie ist es mit dem Gehalt oder Lohn der Priester? Dürfen wir dieses ebenfalls als eine Investition in Religion betrachten? Die am Tempel angestellten Priester sind religiöse Spezialisten (s. auch → Kapitel 6.2). Sie haben eine (normalerweise lange) Ausbildung hinter sich, haben also eine gewisse Zeit in Religion investiert, um Priester zu werden. Vedische Priester müssen bereits in ihrer Kindheit beginnen, die Ritualtexte auswendig zu lernen. Zoroastrische Priester mussten in der Antike zwei Jahre lang in ihrer Stadt und ein drittes Jahr bei Lehrern außerhalb ihres Wohngebietes studieren. Diese drei Jahre sind somit von Schülern und Lehrern in den Zoroastrismus investierte Zeit. Christen, die als Pfarrer in einer evangelischen Kirche arbeiten möchten, müssen evangelische Theologie studiert haben. Hier sollte man nicht nur die Studi‐ enzeit, sondern auch die Kosten, die der Staat für ihr Studium trägt, als Investition in den Protestantismus berücksichtigen. Zeit und Geld, die diese Personen eingesetzt haben, um ihre Expertise zu erwerben, sind ebenfalls Investitionen in Religion. Über ihr Studium hinaus müssen religiöse Spe‐ zialisten des Öfteren zusätzliche Ge- und Verbote beachten, die nur für den Klerus und nicht für Laien gelten. Im Gegenwartszoroastrismus z. B. 5.1 Die Finanzierung religiöser Organisationen 171 <?page no="172"?> müssen die Familien der Ritualpriester strenge Reinheitsgebote einhalten. Um rituelle Handlungsberechtigung zum Vollzug hochrangigerer Rituale zu erlangen, müssen sie zunächst ein einfacheres Ritual durchführen. Um die erlangte Handlungsberechtigung beizubehalten, dürfen sie nicht rituell verunreinigt werden. Diese zusätzlichen Kosten, die religiöse Spezialisten tragen müssen, um als solche zu fungieren, sollten wir ebenfalls als eine Form der Finanzierung von Religion betrachten. 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns damit, wie ökonomische Bezie‐ hungen innerhalb von Religion sowie zwischen Religion und anderen Teilsystemen zu modellieren sind. Der Abschnitt stellt die ökonomische Modellierung der Beziehungen zwischen den Akteuren innerhalb einer Religion oder zwischen unterschiedlichen Religionsgruppen vor. Darüber hinaus erläutert er, wie man religiöse Konzeptionen oder das Verhalten von Religion im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen aus ökonomischer Perspektive untersuchen kann. Oben haben wir von der Finanzierung der Religion auf drei Ebenen, der Mikro-, Meso- und Makroebene, gesprochen. Dementsprechend lässt sich das Verhalten religiöser Akteure auf diesen drei Ebenen modellie‐ ren. Auf der Mikroebene geht es darum, den Austausch zwischen Konsu‐ menten und Produzenten einer Religion modellhaft zu untersuchen. Die ökonomische Modellierung von Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Religion oder unterschiedlichen Religionen in einer Gesellschaft gehört der Mesoebene an. Auf dieser Ebene bewegt man sich, wenn z. B. das Verhalten zweier Schulen einer Religion aus einer ökonomischen Perspektive miteinander verglichen wird, wie sie z. B. versuchen, ihre Anhängerzahlen zu erhöhen oder Produkte anzubieten, die ihren Gewinn maximieren. Ähnlich und auf derselben Ebene lassen sich Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Religionen skizzieren. Konversion kann z. B. ein Phänomen sein, das man auf der Mesoebene aus ökonomischer Sicht untersuchen kann: Wie versuchen Konvertiten ihren Nutzen durch Konversion zu maximieren? Ebenfalls lässt sich auf dieser Ebene thematisieren, inwieweit das Verhalten einer bestimmten Religion in einem bestimmten Fall der Rationalität unterliegt, also nutzenmaximierend ist. Auf der höchsten gesellschaftlichen Ebene, der Makroebene, kann man 172 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="173"?> theoretisch die Beziehungen zwischen Religion als einem sozialen Teilsys‐ tem mit anderen Teilsystemen einer Gesellschaft, wie z. B. Kunst, Recht oder Gesundheit, ökonomisch vergleichen. In diesem Abschnitt werden wir nur die Modellierung auf der Mikro- und Mesoebene besprechen. Drei Ebenen der ökonomischen Modellierung Die ökonomische Modellierung religiöser Phänomene verläuft auf drei Ebenen: der Mikro-, Meso- und Makroebene. Auf der Mikroebene wird das Verhalten der Konsumenten und Produzenten einer Reli‐ gion(sgruppe) modelliert, auf der Mesoebene das Verhalten unterschied‐ licher Religionen oder Religionsschulen einer Gesellschaft und auf der Makroebene das Verhalten von Religion im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Bevor wir mit der Modellierung auf der Mikroebene fortfahren, verweisen wir kurz auf eine Klassifikation religiöser Produktion laut Iannaccone und Bose (2011): Sie unterscheiden zwischen kollektiv und privat produzier‐ ten religiösen Gütern. Einige Religionen haben eine stärkere kollektive Produktion und operieren wie Vereine. Andere operieren eher wie Unter‐ nehmen und produzieren private Güter, die von einzelnen Haushalten konsumiert werden könnten. Die abrahamitischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - produzierten eher kollektive Güter; dagegen ten‐ dierten die amerikanischen ‚New Age‘-Bewegung, die japanische Shintō-Re‐ ligion, die griechisch-römische Religion oder die Hindu-Religionen zur Pro‐ duktion privater Güter. Die Autoren halten an der Nutzenmaximierung für beide Produktionsarten fest, weisen aber darauf hin, dass für die kollektive Güterproduktion die Kollektivität und somit die Anzahl der Gemeindemit‐ glieder das wichtigere Kriterium in der Nutzenfunktion der Konsumenten ist: Je größer die Gemeinde, desto preiswerter das produzierte Gut und desto höher der Nutzen für die Gemeinde und ihre Mitglieder. Dabei kann eine Be‐ ziehung festgestellt werden zwischen Religionen mit kollektiver Produktion und Tendenz zu indirekter Finanzierung in Form von Mitgliederbeiträgen sowie zwischen Religionen mit privater Güterproduktion und Tendenz zu direkter Finanzierung, eben durch diese Güterproduktion. 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 173 <?page no="174"?> 5.2.1 Mikroebene Für die Modellierung der Beziehungen zwischen Konsumenten und Produ‐ zenten auf der Mikroebene bieten sich das Ritual und der rituelle Tausch von Opfergaben als ein geeignetes Fallbeispiel an. Auf die Bedeutung von Gaben und Gabentausch verweist der französische Soziologe, Ethnologe und Religionswissenschaftler Marcel Mauss (1872-1950) in seinem Werk Die Gabe : Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1968; französisches Original 1925). Mauss wirkte stark in der berühmten, von seinem Onkel Émile Durkheim gegründeten Zeitschrift L’Année socio‐ logique mit, in der die Forschungsergebnisse der beiden sowie der weiteren Mitglieder der Année sociologique-Gruppe publiziert wurden. 1931 wurde er zum Lehrstuhlinhaber für Soziologie am Collège de France berufen, wo er wegen seiner jüdischen Abstammung nur bis 1940 lehren durfte. Mauss versteht die Gabe als eine dreifache Verpflichtung bestehend aus Geben, Empfangen und Erwidern. Er stellt die Hypothese auf, dass wirtschaftliche Tauschbeziehungen auf dem Gabentausch basieren. Das Geben einer Gabe verpflichte Empfänger, die Gabe zu erwidern. Somit übe die gebende Partei Macht auf die empfangende Partei aus. Theoretisch bestehe die Möglichkeit, das Empfangen der Gabe abzulehnen, was in der Praxis allerdings selten geschehe. Die dreifache Verpflichtung der Gabe, das Geben, das Empfangen und das Erwidern, bedeute zugleich eine dreifa‐ che Unmöglichkeit deren Ablehnung. Somit sichere die Gabe ihre eigene Zirkulation (Papilloud 2021). Dass das Modell von Mauss sich insbesondere zum Verständnis von wirtschaftlicher Interaktion mit transzendenten Ak‐ teuren, z. B. Gottheiten, als hilfreich erweist, zeigen zwei unterschiedliche Opferarten mit demselben Ziel: Bittgaben, wenn die Opfergabe dem Er‐ widern vorausgeht, und Dankesgaben (oder Opfer ex voto), wenn ein Gelübde abgelegt, auf das Erwidern der Götter gewartet und das Opfer erst dann dargebracht wird, wenn der Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Entweder geht das immanente Individuum oder ein transzendenter Gott in Vorzahlung und nimmt so das Risiko in Kauf, dass seine Gabe unerwidert bleibt. Dass die beiden Seiten das Risiko als gering einschätzen, lässt sich laut diesem Ansatz auf die dreifache Verpflichtung Geben - Empfangen - Erwidern zurückführen. Die beiden Fälle funktionieren, weil in diesem einfachen do-ut-des-Prinzip die Erwartung einer Gegenleistung aufrechter‐ halten bleibt, auch wenn natürlich die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich das Erwidern der Gabe verzögert (Gladigow 2009). 174 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="175"?> Abb. 5.1a: Die triadische Tauschbeziehung mit einem transzendenten Akteur a) in Ritual b) allgemein Gottheit Priester Patron transzendenter Akteur Produzent Konsument a) b) Abbildung 5.1: Die triadische Tauschbeziehung mit einem transzendenten Akteur a) in Ritual b) allgemein Diese triadische Tauschbeziehung entfaltet sich im (indo-iranischen) Ritual in einer triadischen Akteursbeziehung. Im Ritual stehen die Priester nicht nur in einer isolierten Tauschbeziehung zu den Göttern, sondern haben zudem auch Patronen, zu denen eine reziproke Beziehung besteht (s. → Ab‐ bildung 5.1 a)) (Hintze 2004). Aus religionsökonomischer Perspektive kann man diese drei Funktionen allerdings allgemeiner fassen. Man kann von drei Akteuren und ihren Tauschbeziehungen ausgehen: a) dem Nachfragenden bzw. dem Konsumenten b) dem Anbieter bzw. dem Produzenten und c) transzendenten Akteuren (s. → Abbildung 5.1 b)). Dieses Modell versteht 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 175 <?page no="176"?> somit sogar die Transzendenz als einen ökonomischen Akteur. Die Götter agieren ebenfalls ökonomisch und sind an Nutzenmaximierung interessiert: Ihre Belohnung hat ihren Preis. Sie wird nur dann gewährt, wenn die Götter ausreichend gepriesen werden. Unser triadisches Modell bedarf allerdings einer Ergänzung, da man zwischen dem Konsumenten und dem Nachfragenden unterscheiden sollte. Viele Rituale werden zugunsten einer dritten Person in Auftrag gegeben, z. B. von Kindern zum Seelenheil eines verstorbenen Elternteils. Der Auf‐ traggeber beauftragt einen religiösen Produzenten, welcher unter dem Ein‐ satz des Produktionsfaktors Arbeit (und eventuell noch Boden und Kapital) ein Produkt (die Opfergabe) produziert, das er dem transzendenten Akteur anbietet. Diese empfangen die Gabe und sind zum Erwidern verpflichtet; sie bieten im Gegenzug dem Konsumenten sein erwünschtes Produkt an. Somit entsteht eine Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehun‐ gen. Die Ausgaben, die der auftraggebende Haushalt mit null Nutzen trägt, ergeben auf den ersten Blick keinen ökonomischen Sinn. Berücksichtigt man jedoch Maussʼ These, dass das Geben der Gabe ihre Zirkulation zu Folge hat, muss man von einer versteckten Beziehung zwischen dem Konsumenten und dem Auftraggeber ausgehen (s. → Abbildung 5.2). Der Gebende wird irgendwann die Rolle des Empfängers innehaben. Ein Individuum, das als Kind eine Gedenkzeremonie für seine Eltern finanziert, geht davon aus, dass die Gedenkzeremonie als eine Gabe in Zirkulation bleibt und auch ihm irgendwann als verstorbenes Elternteil zugutekommt. Dieses Modell rückt die Gabe und ihren Tausch statt der agierenden Akteure ins Zentrum. Die Gabe wird aktiv und hat agency, also Handlungsmacht. Mauss spricht von der magischen Kraft des Gebens oder der Gabe. Handlungsmacht haben das vom Auftraggeber bezahlte Lamm, die Preishymnen, welche ein Priester für die Gottheiten rezitiert, das von den transzendenten Akteuren gewährte Heil und insbesondere die Zirkulation der Gabe zwischen Konsument und Auftraggeber. 176 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="177"?> Konsument Produzent Auftraggeber transzendenter Akteur Abbildung 5.2: Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehungen Die religionsökonomische Tauschbeziehung In einer religionsökonomischen Tauschbeziehung sind vier Rollen identifizierbar: Auftraggeber, Produzent, transzendenter Akteur und Konsument. Zwischen diesen Akteuren besteht eine triadische Tausch‐ beziehung von Geben, Empfangen und Erwidern. Die Zirkulation der Gabe wird durch die Gabe selbst gesichert. Als ein Beispiel für dieses Modell des religionsökonomischen Tausches greifen wir auf einen bereits in → Kapitel 4.1.2 erwähnten Fall zurück. Der sasanidische König Šābuhr I (R. 242-72) berichtet in seinen dreispra‐ chigen Inschriften (für den Text und eine Übersetzung s. Huyse 1999) im Mittelpersischen, Parthischen und Griechischen von seinen Heldentaten und Kämpfen gegen die drei römischen Kaiser Gordian, Philippus und Valerian und zählt die von ihm eroberten römischen Festungen und Städte auf (§§ 6-31). Anschließend schreibt Šābuhr, dass er aus Dankbarkeit zu den Göttern für den ihm gewährten Schutz viele Feuerheiligtümer gegründet und dort viele Priester eingestellt hat (§ 32). Er listet daraufhin fünf Feuerheiligtümer auf, die er in seinem Namen und im Namen seiner Kinder stiftete (§§ 33f.). Šābuhr gewährte diesen Heiligtümern weiteres Stiftungsvermögen. Der Ertrag daraus betrug 1.000 Lämmer, die Šābuhr als Nutznießer zustanden (§ 35). Er befahl ein Lamm mitsamt einer bestimmten Menge von Brot und Wein täglich für das Heil seiner eigenen Seele zu opfern 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 177 <?page no="178"?> 9 Quelle: https: / / www.iranshah-offering.com/ ; letzter Zugriff 09.06.2022. (§ 36). Anschließend listen die Inschriften (§§ 36-38) 28 weitere Männer und Frauen aus dem königlichen Familienhaus auf, für deren Seelenheil diese Fei‐ erheiligtümer täglich in demselben Maße Opfer darbringen sollten. Neben diesen Opferdarbringungen befahl Šābuhr einen täglichen Opfervollzug mit den gleichen Opfergaben zugunsten der Seelen vieler weiterer namentlich erwähnter Würdenträger (§§ 40-50), soweit noch weitere Lämmer aus dem Überschuss übrigblieben (§ 39). Šābuhr investiert damit 36,5 % des Ertrags seines gestifteten Vermögens für das Heil seiner eigenen Seele und weitere 36,5 % zum Heil der Seelen weiterer Mitglieder seines Haushaltes. Der Rest, 27 % des Ertrags, wird zugunsten von Personen, die nicht seinem Haushalt angehören, also eigentlich in die Zirkulation der Institution Seelenstiftung, investiert. Um kollektive Rituale berücksichtigen zu können, muss unser tetradi‐ sches Modell religionsökonomischer Tauschbeziehungen weiter ausgearbei‐ tet werden. Es gibt private religiöse Güter, die gleichzeitig an mehrere Konsumenten verkauft werden. Der Zoroastrismus kennt z.-B. Gedenkri‐ tuale, die zugunsten mehrerer im Ritual namentlich genannter Personen vollzogen werden. Das Feuerheiligtum Iranshah Atash Behram in Udvada, im indischen Bundesstaat Gujarat, bietet Zoroastriern auf seiner Webseite verschiedene Rituale an, die zumindest in den URLs als ‚Produkt‘ bezeichnet werden: Chamach Offering für 20 Rupien, Sukhar Offering für 30 Rupien, Divo Lighting, Kaathi Offering oder Doa Tandorosti Prayer für 50 Rupien, und Aar Maachi Offering für 500 Rupien. Wenn Divo Lighting abonniert wird, um jährlich an einem bestimmten Tag durchgeführt zu werden, kostet dies 18,000 Rupien. Für fast alle dieser Rituale können Auftraggeber das Datum, die Tageszeit und den Ort des Ritualvollzugs (diese Organisation hat mehrere Feuerheiligtümer anzubieten) auswählen. Der indische Zoro‐ astrismus unterteilt sich in drei Ritualschulen, die sich kalendarisch durch ihre verschiedenen Neujahrszeitpunkte unterscheiden. Mit der Ausführung aller drei Kalender für die Auswahl des Ritualvollzugsdatums auf ihrer Webseite verdeutlicht diese Organisation, dass alle Zoroastrier (und nicht nur die Mitglieder ihrer Ritualschule) ihr Angebot in Anspruch nehmen dürfen 9 . Die Auftraggeber können einen höheren Preis, bis zum Drei- oder Vierfachen des Mindestbetrags, zahlen. Der ökonomische Mechanismus dahinter scheint folgender zu sein: Je höher die ausgezahlte Schenkung, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Wunsch in Erfüllung 178 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="179"?> geht (Gladigow 2009). Das Produkt Doa Tandorosti Prayer, ein Bittgebet für Gesundheit, kann für den Konsum mehrerer Personen als Nutznießer des Rituals in Auftrag gegeben werden. Somit können mehrere Haushalte ein beantragtes Ritual konsumieren. In diesem Fall haben wir es mit einer Tauschbeziehung zwischen einem Auftraggeber und mehreren Konsumen‐ ten zu tun. Haushalte und Tauschbeziehungen Die vier Rollen der religionsökonomischen Tauschbeziehung, Auftrag‐ geber, Produzent, transzendenter Akteur und Konsument, können un‐ terschiedlich besetzt werden. Ein Haushalt kann zugleich Auftraggeber (Nachfragender) und Konsument sein; mehrere Haushalte können aber auch zusammen die Rolle des Auftraggebers oder des Konsumenten übernehmen. Die Zoroastrier glauben, dass die Seelen der Verstorbenen in den letzten zehn Tagen des Jahres auf die Erde zurückkehren. Es wird als die Pflicht der lebenden Verwandten angesehen, sie während dieser Tage mit verschie‐ denen Zeremonien zu empfangen und zu ehren. Daher vollziehen die zoroastrischen Feuerheiligtümer an diesen Tagen bestimmte Rituale. Das obige Feuerheiligtum in Udvada verliest den Namen jedes Verstorbenen in diesen Ritualen gegen 500 Rupien (s. → Abbildung 5.3; im Jahr 2014 war der Preis 200 Rupien). Somit kann ein einzelnes Produkt eines religiösen Unternehmens von mehreren Haushalten nachgefragt und von mehreren Nachfragenden konsumiert werden. Somit erweitert sich unser Modell auf mehrere Auftraggeber und mehrere Konsumenten, die sich in einer Austauschbeziehung befinden können (s. →-Abbildung 5.4). 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 179 <?page no="180"?> Abbildung 5.3: eine Anzeige des Feuerheiligtums Iranshah Atash Behram, Udvada, Indien (Quelle: https: / / zoroastrians.net/ 2020/ 07/ 08/ udvada-muktad-scheme-4/ ; letzter Zugriff 09.06.2022) Abb. 5.4: Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehungen mit mehreren Auftraggebern und Konsumenten Konsument Produzent Auftraggeber transzendenter Akteur Konsument Konsument Auftraggeber Auftraggeber Auftraggeber Konsument Abbildung 5.4: Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehungen mit mehreren Auftraggebern und Konsumenten 180 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="181"?> Wie in → Kapitel 1.3 bereits erläutert, begann die ökonomische Model‐ lierung von Religion im letzten Jahrhundert mit einem Artikel von Corry Azzi und Ronald Ehrenberg (1975), „Household Allocation of Time and Church Attendance“. Die Autoren verwenden hier ein mehrperiodisches Zeitallokationsmodell, um die Zeitinvestition eines Haushalts in religiöse Aktivitäten zu untersuchen, wobei die Zeitinvestition eines Haushaltes in Religion als Kirchenbesuch seiner Mitglieder definiert wird. In diesem Modell wird die Zeitinvestition eines Individuums in Religion in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich bewertet: Eine Investition in Religion in der Kindheit und im hohen Alter koste den Haushalt weniger als in der mittleren Lebensperiode, da das Individuum seine Zeit in der mittleren Lebensperiode in Arbeit investieren könne, was dem Haushalt früher und somit wegen der Verzinsung insgesamt mehr Erträge bringe. Diskussionsfrage | Wegen welcher ökonomischen Gegebenheit in der heutigen (westlichen) Wirtschaft macht ein mehrperiodisches Zeitallo‐ kationsmodell Sinn? In welchen Gesellschaften kann man auf den Un‐ terschied einer Investition zu verschiedenen Zeitpunkten verzichten? Denken Sie dabei an die in → Kapitel 4.1 vorgestellten ökonomischen Ethiken. Azzi und Ehrenberg gehen von einem Haushalt mit einem Ehepaar und drei Motiven für die Durchführung religiöser Aktivitäten aus: Vom Heilmotiv wird gesprochen, wenn eine Aktivität in Hinblick auf das Schicksal der Seele nach dem Tod durchgeführt wird, während das Konsummotiv im Vordergrund steht, wenn Aktivitäten der Steigerung der Zufriedenheit im diesseitigen Leben dienen. Um das Motiv des sozialen Drucks handelt es sich dann, wenn die Beteiligung an religiösen Aktivitäten die Erfolgs‐ chancen des Haushalts in nichtreligiösen Angelegenheiten, wie z.-B. einem Geschäft oder Betrieb, erhöht. Wir vereinfachen Azzis und Ehrenbergs Modell hier, indem wir davon ausgehen, dass die Investition in unterschied‐ lichen Lebensperioden den gleichen Barwert hat, und verzichten auf die Mehrperioden in diesem Modell. Somit kann die Nutzenfunktion (→ Kapitel 3.2.4) des Haushaltes wie folgt definiert werden: U = U (C, q), wobei C den Haushaltskonsum während des (diesseitigen) Lebens und q seinen Konsum im Jenseits repräsentiert. Der diesseitige Konsum wird als 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 181 <?page no="182"?> eine Funktion von drei Faktoren definiert: dem vom Haushalt konsumierten Gut (x) und jeweils der vom Ehemann und der Ehefrau investierten Zeit für den Konsum (h 1 , h 2 ): C = C(x, h 1 , h 2 ) Dementsprechend wird der jenseitige Konsum des Haushalts (q) als eine Funktion von Zeitinvestition der beiden Haushaltsmitglieder in Religion (r 1 , r 2 ) definiert: q = q(r 1 , r 2 ) Da Azzi und Ehrenberg nur den Kirchenbesuch als Investition in Religion betrachten, definieren sie die jenseitige Nutzenfunktion nur auf Basis der Zeitinvestition, r 1 und r 2 . In einem allgemeineren Modell zur Modellierung von unterschiedlichen Finanzierungsarten in Religion, wie wir es im vor‐ herigen Abschnitt (→ Kapitel 5.1) vorgestellt haben, kann die jenseitige Nutzenfunktion wie folgt definiert werden: q = q(y, r 1 , r 2 ), wobei y das Gut bezeichnet, das der Haushalt zum Zweck des religiösen Konsums nachfragt. Wir definieren p x als Preis des Gutes, das für einen diesseitigen Konsum in die Produktion eingeht, und p y als Preis des Gutes für einen jenseitigen Konsum. w 1 und w 2 bezeichnen den Lohnsatz der beiden Haushaltsmitglie‐ der, l 1 und l 2 ihre Arbeitszeit. Wenn man - so Azzi und Ehrenberg - die einem Haushaltsmitglied zur Verfügung stehende Zeit in einer Zeitperiode (z.-B. Woche oder Monat) als T bezeichnet, dann gilt: c i + r i + l i = T und c i , r i , l i ≥ 0 für i = 1, 2 Dies bedeutet, dass die Haushaltsmitglieder ihre Zeit entweder in (diessei‐ tigen) Konsum, Religion oder Arbeit investieren. Wir nehmen an, dass der Haushalt ein konstantes Einkommen v aus den Produktionsfaktoren Kapital und Boden (→ Kapitel 3.3.1) erhält. Dann gilt für das Budget des Haushaltes: Y = v + w 1 l 1 + w 2 l 2 182 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="183"?> Die Budgetgleichung (→-Kapitel 3.2.1) des Haushaltes lautet dann: p x x + p y y = v + w 1 l 1 + w 2 l 2 Azzi und Ehrenberg weisen darauf hin, dass diese Gleichungen ein wohl‐ definiertes Maximierungsproblem darstellen. Wie wir in → Kapitel 3.2.5 gelernt haben, gilt für das optimale Güterbündel, dass die Steigung der Indifferenzkurve der Steigung der Budgetgerade gleicht, bzw. die Grenzrate der Substitution der Steigung der Budgetgerade gleicht. GRS = dq dr 1 / dq dr 2 = w 1 w 2 Diese Gleichung impliziert, dass von einem Ehepaar derjenige mit dem höheren Lohnsatz weniger in Religion investiert. Laut Azzi und Ehrenberg kann die vergleichsweise höhere Partizipation von Frauen an Gemeindeak‐ tivitäten demnach anhand des Modells darauf zurückgeführt werden, dass diese meist einen niedrigeren Lohnsatz bekommen. Die Autoren ergänzen ihr Modell um das Konsummotiv, indem sie einen Nutzen s aus der Zeitin‐ vestition des Haushaltes in Religion folgendermaßen definieren: s = s(r 1 , r 2 ) Dann definiert sich die Nutzenfunktion als U = U(C, s, q) Zeitallokationsmodell Nach diesem Modell investieren Haushalte ihre Zeit in diesseitigen Konsum, jenseitigen Konsum (Religion) oder Arbeit. In Religion wird klassifikatorisch aus drei Motiven investiert: aus dem Heilmotiv, wenn aus der Investition Heil (z. B. für die Seele) erwartet wird; aus dem Konsummotiv, wenn aus der Investition materieller Nutzen im Dies‐ seits erwartet wird; und aus dem Motiv des sozialen Drucks, wenn die Investition die Erfolgschancen des Haushalts in nichtreligiösen Angelegenheiten erhöhen soll. Anschließend testen die Autoren ihr Modell mit empirischen Daten zum Kirchenbesuch in den USA in den Jahren 1926, 1936, 1952 und 1973. Obwohl 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 183 <?page no="184"?> Themen wie die Finanzierung von Religion und religiöse ökonomische Ethik bereits seit längerer Zeit untersucht wurden, bildet diese Studie eine Zäsur in der religionsökonomischen Forschung, weil sie durch die Modellierung eine viel stärkere ökonomische Perspektive auf religiöse Geschehnisse einnimmt. 5.2.2 Mesoebene Wir haben uns bis jetzt mit den ökonomischen Beziehungen zwischen religiösen Akteuren auf der Mikroebene befasst. Nun wenden wir uns der Mesoebene zu. Ein prominentes Beispiel für ökonomisches Verhalten von Religionen bezieht sich auf die Seelenkonzeption, bei der die Seele wie ein Konto funktioniert, auf dem die Tugenden und die Sünden der Inhaber abgespeichert werden. Einige Religionen kennen transzendente Instanzen als Kontoführer und Urteilsrichter. Abhängig vom Kontostand zum Todeszeitpunkt entscheidet sich das Schicksal der Seele. Der Buddhis‐ mus, die Hindu-Religionen, der Zoroastrismus und alle drei abrahamitischen Religionen funktionieren nach diesem ‚ökonomischen‘ Modell. Die Seelen‐ konzeption stellt eine nutzenmaximierende Institution der Religion dar. Ähnlich funktioniert der katholische thesaurus ecclesiae, ein himmlischer Schatz, in dem religiöse Verdienste angesammelt werden. Der Überschuss der Verdienste heiliger Figuren wie Christus, Maria oder der Märtyrer geht in diesen Himmelschatz ein, der von der Kirche in Rom verwaltet wird. Die Kirche kann aus ihrem Konto die Sünden gewisser Personen begleichen (s. u. in diesem Abschnitt und Gladigow 2009). Aus einem ähnlichen Blickwinkel auf die religiösen Mechanismen auf der Mesoebene stellen die amerikanischen Ökonomen Brooks Hull und Frederick Bold (1994) die Frage, warum die Religionen, die eine Paradies‐ vorstellung haben, nicht mit dem Paradies auskommen und diesem eine Hölle gegenüberstellen müssen. Warum erhöhen diese Religionen nicht einfach die Belohnungen im Himmel unbegrenzt, anstatt die Belohnung zu begrenzen und Fehlverhalten durch die Androhung der Hölle zu bestrafen? Im Grunde genommen hätten sie jede beliebige Aussage über die Höhe des Nutzens im Paradies machen können. Wir können die Antwort der Autoren auf diese Frage mit unseren ökonomischen Begriffen so umformulieren, dass die Gläubigen einen abnehmenden Grenznutzen aus dem postmortalen Leben erwarten. Das entspricht dem Konvexitätsprinzip (→ Kapitel 3.2.3 und 3.2.4), welches besagt, dass die Indifferenzkurve fallend verläuft; d. h., dass sich mit zunehmendem Konsum eines Gutes der Nutzen des Konsums 184 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="185"?> reduziert. Dies bedeutet, dass der Grenznutzen aus dem Konsum eines Gutes mit dem weiteren Konsum des Gutes abnimmt und eine höhere Belohnung im Paradies geringen Nutzen ergibt. Zudem haben wir in → Kapitel 3.2.5 den Sättigungspunkt kennengelernt, die Menge eines Gutes, über die hinaus der Konsum den Nutzen verringern würde. Wir haben gesehen, dass der Sättigungspunkt in der Praxis über der Budgetgeraden liegt und normalerweise nicht erreicht wird. Wenn aber Religionen das Budget, in diesem Fall die Zeit zum Konsum himmlischer Güter, unbegrenzt gestalten, dann müssen sie den Nutzen aus dem Konsum dieser Güter begrenzt halten. Da sie dann die Belohnung eingrenzen müssen, sind sie gezwungen, das Fehlverhalten mit einer Abstrafung in der Hölle zu sanktionieren. Mit dieser Erklärung zeigen die Autoren, dass sich Religionen mit Höllenvorstellung ökonomisch und rational verhalten. Hull und Bold (1994) erweitern ihre Untersuchung sogar auf die Makro‐ ebene, indem sie das Verhalten einer Religion mit Paradies- und Höllenvor‐ stellung mit den anderen Teilsystemen der Gesellschaft vergleichen. Sie behaupten, dass diese Vorstellungen nur in denjenigen Gesellschaften eine soziale Effektivität besitzen, in denen Religion bei der Durchsetzung sozialen Verhaltens eine bedeutendere Rolle als Staat, Familie oder Bildung spielt bzw. im Vergleich zum Staat oder zum Bildungssystem soziale Güter mit geringeren Kosten produzieren kann. Wie bereits in → Kapitel 1.3 erläutert, können ökonomische Modelle ver‐ wendet werden, um das ökonomische Verhalten religiöser Organisationen zu untersuchen. Achim Mayer (1996) setzt z. B. das ökonomische Modell der Nutzenmaximierung ein, um die Verbreitung der Vorstellung des Fegefeuers durch die katholische Kirche im 13. Jahrhundert und die zeitgleiche Entste‐ hung des Bettelordens zu analysieren. Er zeigt dabei, dass dem Verhalten der Kirche eine ökonomische Ratio zugrunde liegt: Sie definiert das Fegefeuer als einen der Hölle ähnlichen, qualvollen postmortalen Aufenthaltsort, an dem Sünder ihre geringeren Vergehen (wie Putzsucht, Geiz oder Wucher) abbü‐ ßen. Von der Hölle unterscheidet es sich jedoch dadurch, dass seine Qualen vorsorglich verkürzt oder erleichtert werden können und der Sünder das Reich Gottes erlangt, nachdem er seine Sünden abgebüßt hat. Durch „gute Werke“ im Diesseits konnte man seine Leidenszeit im Fegefeuer verkürzen; die katholische Kirche vereinfachte die Strafverbüßung bekanntlich, indem sie Sündern den Erwerb von Ablässen anbot. Zur Vereinheitlichung der Bußhöhe veröffentlichte sie Bußhandbücher. Zudem war die Ablassvergabe in Rom zentralisiert (Mayer 1996). 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 185 <?page no="186"?> Religionsökonomische Modellierung Mit ökonomischer Modellierung kann man sowohl das Verhalten reli‐ giöser Organisationen als auch die Funktion religiöser Institutionen hinsichtlich ihres rationalen Verhaltens und ihrer rationalen Gestalt untersuchen. Mayer modelliert dieses Phänomen wie eine Versicherung. Dabei betrachtet er die katholische Kirche als Versicherungsgeber, der gegen Versicherungs‐ prämien mit einer Preisbindung eine Versicherung verkauft, um im Scha‐ densfall, dem Eintritt ins Fegefeuer, die Schäden zum Teil zu verringern, also den dortigen Aufenthalt zu verkürzen oder dessen Qualen zu vermindern. Die Gläubigen hätten die Versicherungsprämie in zwei Formen bezahlen können: „in der Form der für eine Sünde in der Beichte festgesetzte[n] Tarifbuße oder in Form des Preises für den Ablaß“ (Mayer 1996, 22). Entscheidend für dieses Modell sei die Tatsache, dass der immanente Mensch im Diesseits die Existenz transzendenter Dinge weder verifizieren noch falsifizieren könne. Daher werde ihnen eine Wahrscheinlichkeit p zugeord‐ net. Bei einem Gläubigen sei p größer als Null. Die katholische Kirche habe versucht, „die Wahrscheinlichkeit, die die Menschen der Existenz des Fegefeuers zumaßen, zu erhöhen und den Schadensfall zu vergrößern‚ d. h., das Fegefeuer zu infernalisieren. Damit schuf sie erst die Nachfrage nach und den Markt für ihr Produkt einer Fegefeuerversicherung“ (Mayer 1996, 35). Somit halte der Sünder zwei Umweltzustände für wahrscheinlich: „Im ersten Umweltzustand ist die Lehre der katholischen Kirche richtig. Es erwartet ihn ein Leben nach dem Tod und in diesem Leben nach dem Tod muß er eine Strafe verbüßen. Im zweiten Umweltzustand ist die Lehre der katholischen Kirche falsch“ (Mayer 1996, 37). Der erste Umweltzustand trete mit der Wahrscheinlichkeit p und der zweite mit der Wahrscheinlichkeit 1 - p ein. Bezeichnet man den Barwert des Einkommens im Diesseits mit J und den der Verluste mit C, so Mayer, dann beträgt das Vermögen in Zustand 1 und 2 ohne Abschluss einer Fegefeuerversicherung folgenden Wert: V 10 = J + C, C < 0 mit Wahrscheinlichkeit p V 20 = J mit Wahrscheinlichkeit 1 - p 186 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="187"?> Dementsprechend bezeichne s + „den Barwert des monetären Äquivalents der Verminderung der Pein im Fegefeuer […]. Damit sich die Schadenshöhe um den Betrag s + vermindert, muß der Gläubige Versicherungsprämien in Höhe von β s + (mit β < 1) entrichten“ (Mayer 1996, 41). Deswegen betrage das Vermögen des Gläubigen nach dem Abschluss der Fegefeuerversicherung folgenden Wert: V 1 = J + C + s + - β s + mit Wahrscheinlichkeit p V 2 = J - β s + mit Wahrscheinlichkeit 1 - p Die Versicherungssumme entspreche dann der Differenz zwischen den beiden Vermögen des Zustands 1 mit der Versicherung und ohne dieselbe: s = V 1 − V 10 = 1 − ß s + Nun lässt sich die Grenzrate der Substitution der beiden Güter, der Preis (π), berechnen: π = ΔV 2 ΔV 1 = V 2 − V 20 V 1 − V 10 = ßs + 1 − ß s + = ß/ 1 − ß Wenn wir jetzt nach Mayer den Nutzen eines Individuums als eine konvexe Funktion von seinem Vermögen V, d.-h. U(V), betrachten, lautet der Erwar‐ tungswert des Nutzens (EU) in Abhängigkeit des jeweiligen Vermögens und der Wahrscheinlichkeitsverteilung wie folgt: EU = pU (V 1 ) + (1 - p)U(V 2 ) Wie wir in → Kapitel 3.2.5 gelernt haben, ist die Grenzrate der Substitution beim optimalen Güterbündel gleich der Steigung der Indifferenzkurve: π = U ′1 / (1 − p)U ′2 Das bedeute, dass ein Mensch sich gegen das Fegefeuer versichere, wenn die Grenzrate der Substitution des Nutzens größer als die der Substitution der beiden Güter, der Preis π, sei: 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 187 <?page no="188"?> π < pU ′1 / (1 − p)U ′ 2 Mayer weist darauf hin, dass der Verzicht auf die Fegefeuerversicherung an‐ zeigen mag, „daß der Nutzenentgang durch religiöse Aktivitäten größer ist als die zu erwartende Nutzensteigerung in Form geringerer Qualen im Fege‐ feuer. Rational Handeln heißt dann, die Qualen hinzunehmen“ (Mayer 1996, 45 f.). Anschließend stellt Mayer die Frage, wie die Substitutionsrate π die optimale Versicherungssumme beeinflusst: Je höher die Substitutionsrate, desto niedriger seien die optimale Versicherungssumme s * und die Nach‐ frage nach einer Fegefeuerversicherung. Die Interpretation der katholischen Kirche als Versicherungsunternehmen setze voraus, dass sie verpflichtet gewesen sei, „mit einem Teil der gezahlten Versicherungsprämien Rückla‐ gen zu bilden, die dem Sünder später im Fegefeuer in Form geringerer Pein ausgezahlt werden konnten. Die jenseitigen Rücklagen stiegen also durch die Versicherungsprämien der diesseitigen Zahler. Die katholische Kirche mußte folglich vorgeben, auch im Jenseits über Vermögen zu verfügen. Dieses Vermögen sollte dazu dienen, die Versicherungssumme an die Sünder auszuzahlen“ (Mayer 1996, 47 f.). Das bedeute, dass die katholische Kirche als ein Versicherungsunternehmen „mit den Versicherungsprämien Rücklagen im Umfang der erwarteten Auszahlungen an die Gläubigen“ (Mayer 1996, 50) bilden musste. Übungsfrage | In welcher in diesem Kapitel vorgestellten Institution findet sich die Idee der jenseitigen Rücklage wieder? Wenn die katholische Kirche keinen Nutzen erzielen wollte, musste dann „der erwartete Vermögenszuwachs der Versicherung im Zustand 2 gleich der erwarteten Verringerung des Vermögens durch die Auflösung der Rücklagen im Zustand 1 sein“ (Mayer 1996, 50), mit der Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeitsverteilung: 1 − p V 2 − V 20 = p V 1 − V 10 1 − p ßs + = p 1 − ß s + p/ 1 − p = ß/ 1 − ß = π 188 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="189"?> Wenn die katholische Kirche als ein Versicherungsunternehmen fungierte, so Mayer, muss sie aus der Vermittlung der Versicherung Einnahmen, also Provisionen, erzielt haben. Das nutzenmaximierende Verhalten der Kirche habe dann darin bestanden, „die Gewinne aus dem Angebot der Versicherung zu maximieren“ (Mayer 1996, 51). Wenn wir die Provisionen der Kirche (a) als die Multiplikation eines Faktors und des obigen Preises ohne Nutzen für die Kirche definieren (a = α p / (1 - p), α > 0), dann ändert sich der Versicherungspreis zu: π = 1 + α p/ (1 − p) Wenn man S als „die Summe aller Versicherungssummen s, über die Verträge abgeschlossen wurden“ (Mayer 1996, 53) definiert, dann gilt dementspre‐ chend für die Gesamtprovisionen A der Kirche: A = α p/ 1 − p S Diese Formel besagt, dass der Nutzen der Kirche einerseits mit der ge‐ samten Versicherungssumme und andererseits mit dem Glaubensgrad der Gläubigen, der Wahrscheinlichkeit p, und somit der Nachfrage nach der Fegefeuerversicherung positiv korreliert. Genau wie bei einer empirischen Studie, in der das Modell mit eigens erhobenen Daten getestet wird, muss die Richtigkeit des Modells in einer re‐ ligionsgeschichtlichen Studie anhand historischer Gegebenheiten überprüft werden. In diesem Sinne zeigt Mayer „[m]it Hilfe des versicherungstheo‐ retischen Instrumentariums […], wie die Lehren über das Fegefeuer zur Verstärkung der Furcht vor diesem Ort dienten“ (Mayer 1996, 72, sowie 56-80) und wie sie die Nachfrage nach dem Versicherungsprodukt erhöh‐ ten. Am wichtigsten sei die Herstellung einer Verbindung zwischen den religiösen Aktivitäten im Diesseits und der Verminderung des Schadens im Fegefeuer. Trügen diese Aktivitäten, die mit Kosten im Diesseits verbunden sind, also das Vermögen in Zustand 2 verringern, nicht zur Erhöhung des Vermögens in Zustand 1 bei, sei es für ein nutzenmaximierendes Individuum nicht sinnvoll, in diese Aktivitäten zu investieren, da sie es in keinem der beiden Umweltzustände besser dastehen lassen könnten. In Hinblick auf die katholische Kirche könne man wiederum sagen, dass sie versucht habe, beim gegebenen Einsatz von Produktionsfaktoren ihr Human- und Wissenskapi‐ tal, ihren Ertrag, also ihre Provisionen, zu erhöhen. Wie wir oben gesehen 5.2 Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene 189 <?page no="190"?> haben, korrelieren diese mit der Wahrscheinlichkeit p. Die katholische Kir‐ che habe im Mittelalter u. a. Schilderungen über Not und Pein im Fegefeuer in Form von Berichten und Dokumentationen über Visionen verbreitet, die den Glauben ans Fegefeuer, d. h. die Wahrscheinlichkeit p, gesteigert hätten. Der gewählte Zeitpunkt der Ankunft im Fegefeuer, nämlich sofort nach dem Tod, ist laut Mayer ebenfalls nutzenmaximierend: „Rückt der Beginn der Periode anhaltender Verluste näher an den Entscheidungszeitpunkt heran, steigt auch der Gegenwartswert der Verluste.“ Ähnlich: „Je länger die Periode der Verluste andauert, umso größer wird der Gegenwartswert der Verluste“ (Mayer 1996, 65 u. 64). Eine andere historische Gegebenheit, die im Zentrum Mayers religi‐ onsökonomischer Untersuchung steht, ist die zeitgleiche Verbreitung der Bettelorden. Die katholische Kirche habe jahrhundertelang ihr Seelsorge‐ programm, das Angebot eines Platzes im Himmel, an die strukturelle Organisation der Kirche gebunden, nämlich an die Untergliederung der Diözesen in Pfarreien: „Das Parochialsystem war gekennzeichnet durch das ausschließliche Predigt- und Seelsorgerecht des Amtsinhabers einer Pfarrei für seine Eingepfarrten. Von den Einnahmen einer Pfarrei erhielt die römische Zentrale bei Amtsantritt des Stel‐ leninhabers eine einmalige Zahlung sowie späterhin einen prozentualen Anteil an den Jahreseinnahmen. Es hätte sich in der historischen Situation angeboten, das bestehende Parochialsystem auch beim Vertrieb des neu entwickelten Produkts Fegefeuervorsorge zu nutzen. […] Indes ist festzustellen, daß für den Vertrieb des neuen Produktes ein neuer Weg beschritten wurde“ (Mayer 1996, 19). Im 13. Jahrhundert seien neue Bettel- und Predigerorden entstanden, die durch die Verpflichtung zu persönlicher Armut sowie die Konzentration auf die Seelsorge gekennzeichnet gewesen seien, wobei sie für diese Tätigkeit nicht an Pfarrgrenzen gebunden gewesen seien. Unter Papst Innozenz III. habe sich die Einstellung der katholischen Kirche zu diesen neuen Orden verändert. Der Papst habe sie als Bußprediger und Vermittler der Fegefeu‐ erversicherung fungieren lassen. Anschließend sei das Parochialsystem abgelöst worden (Mayer 1996). Somit habe die katholische Kirche für ihr Versicherungsunternehmen Makler eingestellt, die mit geringen Kosten ihr neues Produkt vermarktet hätten. Mit seiner Untersuchung zeigt Mayer, wie ein religiöses Konzept, das auf den ersten Blick nicht unbedingt als logisch erscheint, der ökonomischen Ratio folgt und inwieweit eine religiöse Organisation sich dabei nutzenmaximierend verhält. 190 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="191"?> In diesem Kapitel haben wir bislang die Finanzierung von Religion und die Modellierung religiöser Phänomene besprochen. Dabei sind wir von Religion als überwiegend passivem Akteur ausgegangen, der sich auf unterschiedliche Weise finanzieren muss. Im letzten Beispiel kam allerdings die aktive Nutzung der Möglichkeiten einer religiösen Organisation zur Erhöhung ihres ökonomischen Nutzens zum Tragen. Im nächsten Abschnitt wenden wir uns dieser aktiven Rolle der Religion stärker zu. 5.3 Vermarktung von Religion In diesem Kapitel konzentrieren uns darauf, wie Religionen gegenwärtig als ökonomische Akteure aktiv sind, um ihre Güter und Dienstleistungen zum Konsum anzupreisen. Wir brechen dabei die komplexen Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft absichtlich herunter, um einen ersten Zugang zu schaffen; es gibt in der Wissenschaft bislang noch keinen Kon‐ sens darüber, wie die Vielschichtigkeit der Verhältnisse in Geschichte und Gegenwart analytisch am besten zu fassen und zu ordnen ist (Stieverman et al. 2015a). In der Religionswissenschaft allein widmet sich eine Reihe von Werken diesem Thema mit teils sehr unterschiedlichen Schwerpunkten. Oft wird zwischen kulturpessimistisch-marxistischen Perspektiven, die Re‐ ligion einseitig als Verblendung und den Kapitalismus rein als ausbeuterisch verstehen, und solchen, die das Potential von ökonomischen Einflüssen auf Religion betonen (s. Gauthier/ Martikainen/ Woodhead 2013; Stievermann et al. 2015a), unterschieden. Im Folgenden konzentrieren wir uns zuerst darauf, wie Religionen sich als Marktteilnehmer wirtschaftlicher Strategien bedie‐ nen, um eine größere Reichweite und Mitgliederwachstum zu erlangen; dies geht durch das proaktive Engagement auf dem Markt über die im ersten Teil des Kapitels besprochene „reine“ Finanzierung hinaus. Im Anschluss be‐ leuchten wir, welchen Einfluss breitere gesellschaftliche Entwicklungen der spätkapitalistischen Moderne, insbesondere Neoliberalismus, Konsumismus und Globalisierung, in den letzten Jahrzehnten auf Religion ausgeübt haben. 5.3.1 Religiöse Wirtschaftsstrategien in der Konsumkultur Ein Großteil der Literatur zu Wirtschaftsstrategien unterschiedlicher Re‐ ligionen konzentriert sich auf die westliche Welt, insbesondere auf die USA. Dies liegt zum einen darin begründet, dass Religionen schon sehr 5.3 Vermarktung von Religion 191 <?page no="192"?> früh in der amerikanischen Geschichte als wirtschaftliche Unternehmer in Erscheinung getreten sind, so z.-B. auf dem Büchermarkt und in der Radiobzw. später Fernsehindustrie (Moore 1995; Stievermann et al. 2015b). Zum anderen war ein Blick auf Religion mit dem Schwerpunkt Wirtschaft in der Wissenschaftsgeschichte des angloamerikanischen Raums viel früher etabliert als in anderen Ländern, wie wir im nächsten Kapitel ausführlicher erläutern (→ Kapitel 6). In den folgenden beiden Teilkapiteln konzentrieren wir uns entsprechend primär auf die westliche Welt und ziehen punktuell Beispiele aus anderen Kontexten heran. Eine zentrale Herangehensweise bei zahlreichen Untersuchungen zu religiösen Wirtschaftsstrategien in der westlichen Welt ist der Fokus auf die Konsumkultur. Der amerikanische Theologe Vincent J. Miller unter‐ streicht in Consuming Religion: Christian Faith and Practice in a Consumer Culture (2005) die Kommodifizierung von Kultur und Religion sowie das stete Verlangen seitens Konsumenten nach (religiösen) Gütern als zwei Seiten derselben Medaille. Dabei versteht er den Prozess der Kommodifi‐ zierung von Kultur als die Verwandlung von Kulturgütern in konsumier‐ bare Waren, die aus ihren jeweiligen Kontexten vollkommen herausgelöst werden; so z. B. indigene Lieder, die in moderne Popsongs integriert und erfolgreich vermarktet werden, ohne dass sich Konsumenten über die Herkunft und Zusammenhänge dessen, was sie gegen Bezahlung hören können, bewusst sind. Auch Religion wird durch die Herauslösung aus spezifischen Kontexten kommodifiziert: Man denke z. B. an die allgegen‐ wärtigen tibetischen Gebetsfahnen oder Buddhastatuen, die zahllose Häuser und Vorgärten schmücken, meist ohne, dass ihre Besitzer - also diejenigen, die sie auf dem Markt gegen Bezahlung erworben haben - sich der religiösen Besonderheiten und kulturhistorischen Details bewusst wären. Das bedeutet natürlich nicht, dass Konsumenten prinzipiell kein Interesse daran haben, sich eingehender z. B. mit dem tibetischen Buddhismus zu beschäftigen; im Gegenteil, Interesse an „fernöstlicher Spiritualität“, wie sie oft genannt wird, ist größer als je zuvor. Die Art und Weise aber, wie der tibetische Buddhis‐ mus (oder andere asiatische Religionen) in der populärwissenschaftlichen Literatur, im Fernsehen oder in anderen Medien in westlichen Ländern dargestellt wird, ist eben eine kommodifizierte: Er wird als Ware angeboten, die man käuflich erwerben und bequem in den eigenen Alltag integrieren kann, ob in Form von Statuen, Flaggen, Räucherstäbchen, Meditationskissen oder anderen Produkten. 192 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="193"?> Kommodifizierung von Religion Die Kommodifizierung von Religion beschreibt den Prozess der Verding‐ lichung unterschiedlicher Elemente von Religion und ihre Verwandlung in konsumierbare Waren, die aus ihren religiösen Kontexten herausge‐ löst werden, um als „Besitz“ käuflich erworben zu werden. Dies trifft auch auf andere Religionen zu: Man denke an den riesigen weltweiten Absatzmarkt für muslimische Mode, der zur Kommodifizierung des Islam beiträgt, oder die Entwicklung der Ummah, der weltweiten Gemeinschaft aller Muslime, zu einer eigenen religiösen ‚Marke‘ (s. zum Begriff des Branding auch weiter unten). Diese und weitere Aspekte werden in dem Sammelband Islam, Marketing and Consumption: Critical Perspectives on the Intersections (2016) der beiden Marketingwissenschaftler Aliakbar Jafari und Özlem Sandicki ausführlich behandelt. Ein interessantes Beispiel für die Kommodifizierung christlicher Feiertage im amerikanischen Kontext ist der Band Consumer Rites: The Buying and Selling of American Holidays (1995) des amerikanischen Kulturhistorikers Leigh Eric Schmidt, der u. a. den Valentinstag, den Muttertag und den Weihnachtsmarkt in Geschichte und Gegenwart als zunehmend kommodifizierte Feste beleuchtet, die gleichzei‐ tig eine riesige Nachfrage seitens Konsumenten wecken und sehr hohe Absatzmärkte für religiöse und säkulare Produzenten darstellen. Eine Reihe weiterer Sammelbände und Monografien beleuchtet die Rolle von Konsum und Materialität für Untersuchungen zu Religion aus unterschiedlichen Perspektiven (z.-B. Rinallo et al. 2016; McDannell 1995; Lofton 2017). Diskussionsfrage | Zählen sie weitere Beispiele kommodifizierter Religion auf. Welche Veränderungen sind durch Kommodifizierung er‐ sichtlich, welche weiteren Veränderungen in Zukunft wahrscheinlich? Ist Kommodifizierung aus religionswissenschaftlicher Perspektive po‐ sitiv, negativ oder neutral zu bewerten? Durch die Bank weg wird ersichtlich, dass populärkulturelle Einflüsse und moderne Medien eine entscheidende Rolle im Prozess der Kom‐ modifizierung von Religion spielen. Die amerikanische Medienwissen‐ schaftlerin Heather Hendershot zeigt in ihrer Studie Shaking the World for Jesus: Media and Conservative Evangelical Culture (2004) die enge Verwo‐ benheit von Religion, Kommodifizierung, Medien und Populärkultur am 5.3 Vermarktung von Religion 193 <?page no="194"?> Beispiel des amerikanischen Evangelikalismus. Sie nimmt dabei besonders die Kulturindustrie in den Blick - die Bücher, Filme, Zeitschriften und Musik, aber auch als christlich-evangelikal gebrandete Lebensmittel und andere Alltagsgüter. Diese machen einer breiten Masse von Amerikanern ein kommodifiziertes konservatives Christentum ohne direkte Bezüge zu Kirche, Bibel oder religiöser Praxis zugänglich. Hendershot rahmt diesen Prozess nicht als Bekehrungsbestreben evangelikaler Kirchen, sondern in‐ teressiert sich für den Wandel, den der Evangelikalismus durch seine eigene Kommodifizierung unterläuft. Er wird quasi allgegenwärtig - man kann sich ihm im Alltag kaum entziehen, ob beim Einkaufen, beim Fernsehen oder auf sozialen Medien. Gleichzeitig verliert er durch diese Kommodifizierung, die so viele Konsumenten wir möglich ansprechen soll, an Kontur: Theologische Grundsätze, historische Besonderheiten und kulturelle Distinktionsmerk‐ male (zu letzterem s. → Kapitel 6.2) rücken in den Hintergrund, während eine generische, unspezifisch-allgemeingültige Vorstellung dessen, was den Evangelikalismus ausmacht, vordergründig wird. Dieser Prozess kann als Branding beschrieben werden, als das Schaf‐ fen einer Marke, die nicht auf konkrete Inhalte oder Produkte verweist; umgekehrt verweisen ebendiese Inhalte und Produkte vielmehr auf die Marke selbst. Ein prägnantes Beispiel aus dem Christentum ist das Akronym WWJD, das für „What would Jesus do? “ steht. Es bezieht sich auf die Vorbildfunktion Jesu, wie sie in zahlreichen christlichen Bibelauslegungen betont wird. Seit den 1990er-Jahren taucht die Abkürzung vor allem auf Armbändern, aber auch auf Kleidung und anderen Alltagsgegenständen auf und ist mittlerweile zu einer christlichen Marke geworden, über die Anhänger ihre religiöse Identität zum Ausdruck bringen. Nicht nur wird ein zentrales Element des christlichen Glaubens - dass Jesus als Vorbild im Alltag fungieren soll - dadurch in eine käuflich zu erwerbende Ware verwandelt, sondern es wird vielmehr eine Marke entwickelt, die einen christlichen Lebensstil und eine bestimmte moralische Einstellung symboli‐ siert und somit die Emotionen der Konsumenten anspricht. In der Marken‐ theorie unterscheidet man ferner u. a. zwischen Personenmarken (z. B. dem Dalai Lama), medialen Marken (z. B. Harry Potter), nicht kommerziellen Institutionen bzw. Organisationen (z. B. Brot für die Welt), geografischen Orten (z. B. dem Jakobsweg) und kulturellen Großereignissen (z. B. dem hinduistischen Megaevent Kumbh Mela) (Koch 2014). Der französische Ökonom Jean-Claude Usunier und der Schweizer Religionssoziologe Jörg Stolz untersuchen die Vermarktung von Religion durch religiöses Branding 194 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="195"?> 10 https: / / www.kabbalah.com/ de, letzter Aufruf 29.06.2022. in ihrem Sammelband Religions as Brands: New Perspectives on the Marketi‐ zation of Religion and Spirituality (2014). Auch Medienwissenschaftlerin Mara Einstein beleuchtet in Brands of Faith: Marketing Religion in a Commercial Age (2008) verschiedene religiöse Marken, die durch Vermarktung eines Namens und Logos sowohl an gesellschaftlicher Bedeutung, als auch an öffentlicher Aufmerksamkeit ge‐ wonnen haben. Oftmals, so argumentiert Einstein, sei auch ein öffentlicher Befürworter entscheidend für den Erfolg des Branding, um den Affekt (die Emotionen) der Konsumenten anzusprechen. Sie zieht die Jahrhunderte alte mystische Tradition der Kabbala aus dem Judentum als besonders prägnantes Beispiel heran. Diese sei durch das in Los Angeles gegründete und mittlerweile in zahlreichen Großstädten der Welt ansässige Kabbalah Center und dessen breite Produktpalette, darunter Kurse und Bücher, aber z. B. auch Energy Drinks und Schmuck, in „the most product-oriented of the faith brands“ (Einstein 2008, 93) verwandelt worden - selbstverständlich mit eigenem Schriftzug und Logo. Tatsächlich bietet ein Besuch auf der Webseite des Centers 10 nicht nur ausführliche (auch deutschsprachige) In‐ formationen zur Organisation und ihrem Verständnis von Kabbala, sondern auch diverse Produkte, die je nach Verfügbarkeit in verschiedenen Regionen der Welt gelistet werden. Einstein unterstreicht ferner, dass nicht zuletzt die breite mediale Unterstützung der Pop-Ikone Madonna zur Etablierung von Kabbala als populärkulturelles Phänomen und eigene Marke zugleich beigetragen habe. Auch hier wird deutlich, wie eng religiöse Kommodifizie‐ rung und Branding mit modernen Medien und der Populärkultur verwoben sind. Branding Unter Branding versteht man das Schaffen einer Marke, die die Rolle des Produktes ersetzt. Das Produkt verweist affektiv auf die Marke und verspricht ein mit einem bestimmten Image versehenen Lebensstil. Eine nicht nur in den USA verbreitete, sondern weltweit immer häufi‐ ger auftretende religiöse Sozialform ist die Megakirche, die sich durch eine wöchentliche Teilnehmergröße von 2000 oder mehr Menschen am Gottesdienst auszeichnet. Megakirchen sind teilweise konfessionell nicht 5.3 Vermarktung von Religion 195 <?page no="196"?> gebunden (non-denominational), teilweise mit einer bestimmten Tradition oder Konfession mehr oder weniger locker affiliiert. Sie sind zentralisiert organisiert, mit einem leitenden Pastor an der Spitze, der gleichzeitig als sehr sichtbare Figur das Aushängeschild der Kirche ist (Wilford 2012). Me‐ gakirchen bieten oftmals eine relativ generische, breit gefasste Auslegung des Christentums an, um so viele Gläubige wie möglich zu attrahieren. Die Gottesdienste haben durch den Einsatz moderner Musik, der neues‐ ten Technik und einer eng an der Lebenswelt der Gläubigen orientierten Predigt in lässigem Stil Eventcharakter; Liturgie und Sakramente spielen oft keine Rolle. Megakirchen haben typischerweise ihre eigenen Logos und Leitsprüche, um den Wiedererkennungswert und affektive Reaktionen seitens Mitglieder und Interessierter zu erhöhen (Einstein 2008). Die An‐ onymität der Großkirche wird durch ein enges Netzwerk von Kleingruppen zu unterschiedlichsten religiösen und nichtreligiösen Themen ausgehebelt, darunter neben Bibellesekreisen und Gebetsrunden auch Selbsthilfegruppen und einer Reihe alters- und geschlechterspezifischer Angebote wie z. B. Dating-Abende für Singles, die einen Partner oder eine Partnerin innerhalb der Kirche finden möchten. Bekannte amerikanische Megakirchen sind z. B. die Lakewood Church in Houston, Texas oder die Saddleback Community Church in Orange County, Kalifornien. Die australische Hillsong Church ist ein besonders prägnantes Beispiel für die weltweite Ausbreitung von Megakirchen. In diesem Zusammenhang ist ein kurzer Blick auf religiöse Konsumenten unerlässlich, da sie selbstverständlich eine zentrale Rolle in der Vermarktung von Religion spielen. Seit den 1960er-Jahren sind weitreichende Verände‐ rungen in religiösem Konsumverhalten, insbesondere in der westlichen Welt, zu verzeichnen, die mit breiteren Individualisierungs- und Sub‐ jektivierungstendenzen (→ Kapitel 2.2.2) einhergehen. Individuen sind weniger als zuvor an traditionelle Religionsformen gebunden, wie sie ehemals innerhalb von Familien und etablierten Gemeinschaften bestanden, und orientieren sich stattdessen zunehmend an individuellen Vorlieben und Interessen, informieren sich medial und ziehen selektiv religiöse Praxen und Glaubensinhalte heran, die ihren eigenen Vorstellungen entsprechen. Die Suche nach „Authentizität“, nach religiösen Erfahrungen, die Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensenergie und Ästhetik versprechen, werden als Erlö‐ sungsversprechen im Diesseits weit höher gewertet als vermeintlich „starre“ Glaubenssysteme institutionalisierter Religionen, die vorgefertigte Antwor‐ ten auf individuelle Probleme und Lebenslagen bieten (Hervieu-Léger 2003). 196 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="197"?> Gleichzeitig legt eine solche religiöse Subjektivierung Erwartungen an Religion an den Tag, die durch die Konsumgesellschaft erwachsen sind: Religion soll unterhaltsam und professionell organisiert sein, soll sich ihren Präferenzen anpassen (nicht umgekehrt) und ihnen die Wahlfreiheit lassen. Religiöse Konsumenten „want to be able to choose what they like instead of being told what to do“ (Stolz und Usunier 2018, 6). Die amerikanischen Religionssoziologen Robert Wuthnow und Wade Clark Roof stellen sehr ähnliche Trends bzgl. religiösen Konsumverhaltens in den Vereinigten Staaten um die Jahrtausendwende fest. In After the Baby-Boomers: How the Twentyand Thirty-Somethings are Shaping The Future of American Religion (2007) spricht Wuthnow von „church hopping“ und „church shopping“ als zwei Arten des „spiritual tinkering“ (114), des „spirituellen Bastelns“: Seit Mitte der 1960er-Jahre geborene Amerikaner, die sogenannten GenXers und Millennials, schauen sich aktiv nach einer Kirche oder Synagoge um, in der sie ihre Familie großziehen möchten, statt automatisch Mitglieder in der Gemeinde ihrer Eltern zu bleiben. Solche „Kirchenshopper“ seien auf der ernsthaften Suche nach einer religiösen Gemeinschaft, die ihre spirituellen sowie sozialen Erwartungen erfüllen könne. „Kirchenspringer“, die church hoppers, wiederum seien keine festen Mitglieder einer einzigen Gemeinde, sondern gehen mal hier, mal dort zum Gottesdienst. Wuthnow zählt als Gründe u. a. auf, dass junge Erwachsene Abwechselung und Vielfalt ansprechend finden, dass sie zwischen unter‐ schiedlichen Familienmitgliedern und Freunden hin- und her pendeln, aber auch, dass sie experimentierfreudig seien und gern auch etwas ganz Neues ausprobieren wollen. Diskussionsfrage | Inwiefern sind church hopping und church shop‐ ping typische religiöse Phänomene der Moderne? Beziehen Sie auch die in → Kapitel 2.2 skizzierten Thesen der Säkularisierung und Individualisierung ein. In seinem Buch Spiritual Marketplace: Baby Boomers and the Remaking of American Religion (1999) bringt Wade Clark Roof diese Entwicklung mit der „quest culture“, einer Kultur der (Selbst-)Suche, zusammen und listet unterschiedliche Ausprägungen der „spiritual quests“, der Suche nach re‐ ligiöser Erfüllung auf dem „spiritual marketplace“. Roof fasst den spirituellen Marktplatz dabei sehr allgemein als Beziehungsrahmen zwischen religiösen Produzenten und Konsumenten und wählt eine kulturwissenschaftliche 5.3 Vermarktung von Religion 197 <?page no="198"?> statt ökonomische Herangehensweise. Bestimmte Formen religiöser Kultur würden absichtlich produziert, um die Nachfrage nach „Spiritualität“ - dieser Begriff wird von Studienteilnehmern in Abgrenzung zu organisierter und als veraltet wahrgenommener Religion übernommen - zu befriedigen. Es konkurrieren nun etablierte religiöse Produzenten mit neuen, jüngeren Anbietern, die breitere gesellschaftliche Entwicklungen erfolgreich in ih‐ ren religiösen Produkten aufnehmen, darunter veränderte Auffassungen von Gott und dem Heiligen sowie der Rolle von Identität, persönlichem Wachstum, dem eigenen Körper und dem Umgang mit Anstrengungen und Problemen im Leben. Der Einbezug dieser die spätmoderne Gesellschaft auszeichnenden Themen in das religiöse Angebot stärke den Erfolg von Produzenten auf dem spiritual marketplace. Religion und Spiritualität: Was ist hier der Unterschied? In den USA ist es nicht ungewöhnlich über Religion und den eigenen Glauben zu sprechen - selbst unter flüchtigen Bekannten und im small talk. Oft hört man dann den mittlerweile fast klischeehaften Satz: „I’m spiritual, but not religious.“ Was bedeutet das? Wie kann man sich gleichzeitig für spirituell, aber nicht religiös halten? Die Grenze zwischen Religion und Spiritualität ist nicht leicht zu ziehen und immer auch abhängig davon, wie die Begriffe von religiös Praktizierenden und nicht zuletzt der Populärkultur benutzt werden. Generell wird der Begriff Religion tendenziell für systematisierte, institutionalisierte Glaubenssysteme und Praxisgefüge genutzt, wäh‐ rend Spiritualität auf individuelle, subjektive Glaubenselemente und Praktiken verweist, die oft eine stark erfahrungsorientierte Dimension haben. Hier geht es typischerweise um Zugänge zu einer höheren Realität bzw. Wahrheit, die unmittelbar und individuell von Gläubigen erfahren werden kann. Einklang mit der Natur und dem Universum, Frieden und Erleuchtung stehen ebenso im Mittelpunkt wie höhere Mächte und Wesen, übernatürliche Energien sowie Weisheiten, die die wissenschaftlich-rationale Weltsicht transzendieren. Religiöse Dok‐ trinen und Spezialisten werden für den Zugang zum Transzendenten nicht mehr gebraucht, da das Individuum die nötige Expertise und Autorität in sich vereint. Entsprechend ist Spiritualität in dieser Per‐ spektive weniger traditionsgebunden als Religion und Gemeinschaft 198 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="199"?> weniger wichtig als die innere Erfahrung und Entwicklung des Indi‐ viduums. Religionssoziologisch ist der Begriff der Spiritualität seit Beginn der 1990er-Jahre nicht zuletzt deswegen zunehmend in den Fokus gerückt, da er gerade in Europa und Nordamerika positiver besetzt zu sein scheint als Religion. Spiritualität wird im Vergleich zu Religion als offener, toleranter und stärker auf individuelle Vorlieben konzentriert wahrgenommen und steht oft in engem Bezug zu asiatischen Prakti‐ ken wie Yoga und Meditation, mystischen Traditionen wie der jüdi‐ schen Kabbala (s. oben) und dem sogenannten New Age. Soziologisch zeigen sich hier religiöse Individualisierung und Subjektivierung, da diese Definition von Spiritualität dem spätmodernen Streben nach Selbstverwirklichung und persönlicher Erfüllung entsprechen. Aller‐ dings kann und muss zwischen spätmoderner religiöser Subjektivie‐ rung und früheren Formen religiöser Individualisierung unterschie‐ den werden, da auch Religionen wie Judentum, Christentum und Islam seit Jahrhunderten spirituelle Praktiken kennen - in diesem Zusam‐ menhang wird oft der Begriff Mystik anstatt Spiritualität verwendet -, die dem Individuum unmittelbare Gotteserfahrungen ermöglichen. (s. z.-B. Wuthnow 2003; Hervieu-Léger 2003; Streib und Klein 2016) In den in diesem Abschnitt eingeführten Werken wird durch die Bank weg deutlich, wie prägend breitere gesellschaftliche Veränderungen, wie das Aufkommen der Konsumkultur und Subjektivierungsprozesse in der Spät‐ moderne, auch für die Entwicklung von Religion sind (s. zu Subjektivierung vertiefend z. B. Taylor 2007, 1989; Reckwitz 2006). Im nächsten Abschnitt widmen wir uns deshalb dem Einfluss des spätkapitalistischen Neolibera‐ lismus als wirtschaftliches Regime auf Religion als eine weitere zentrale Herangehensweise an die Untersuchung der vielfältigen Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Religion. 5.3.2 Entwicklung von Religion im Neoliberalismus Besonders zentral ist in diesem Zusammenhang die Arbeit des finnischen Religionswissenschaftlers Tuomas Martikainen, des kanadischen Sozial‐ anthropologen François Gauthier und der britischen Religionssoziologin Linda Woodhead. Seit Jahren forschen und publizieren sie - gemeinsam 5.3 Vermarktung von Religion 199 <?page no="200"?> sowie allein - zu Religion im Neoliberalismus, in der Konsumgesell‐ schaft, in der globalen Moderne und im Zuge von Vermarktlichung‐ sprozessen. Besonders aufschlussreich sind die beiden von Martikainen und Gauthier herausgegebenen Sammelbände Religion in the Neoliberal Age: Political Economy and Modes of Governance (2013) und Religion in Consumer Culture: Brands, Consumers, and Markets (2013). Die zusammen mit Wood‐ head verfasste Einleitung des zweiten Bandes, „Introduction: Consumerism as the Ethos of Consumer Society“, bietet dabei eine sehr gelungene, da knappe wie dichte, Übersicht des theoretischen Ansatzes der Autoren. Ihre These lautet, dass der spätkapitalistische Neoliberalismus und der damit einhergehende, kulturell mittlerweile fest verankerte Konsumismus prägend sind für verschiedenste Gesellschaften der Erde - und somit auch dafür, wie Religionen sich heutzutage entwickeln. Erläuterung-| Was ist „Neoliberalismus“? Um den Neoliberalismus als wirtschaftlich-politische Organisations‐ form moderner Gesellschaften zu fassen, ist ein Blick in die Frühmo‐ derne notwendig. Im Zuge des schwindenden Einflusses der Religion auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft und der Herausbildung moderner Nationalstaaten sowie des Handelswesens stellte sich im 18. Jahrhundert die Frage nach einer Gesellschaftsordnung, die nicht mehr auf theologischen, sondern auf säkularen Grundlagen aufbaute (s. → Kapitel 2.2 zur Moderne und dem Prozess der Säkularisierung). Dabei kristallisierten sich zwei konträre Antworten heraus: Einerseits der Staat mit einer starken Regierung und reger zivilgesellschaftlicher Beteiligung als neuer Ordnungshüter, andererseits der Markt als Orga‐ nisationsmechanismus des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Der Markt als moralische Instanz, die Freiheit im Sinne von wirtschaft‐ licher Beteiligung und Besitzrechten garantiert, wurde von Denkern wie John Locke und Adam Smith (→-Kapitel 1.2.2) als Alternative zu staatlicher Autorität bevorzugt. Man darf in diesem Zusammenhang den historischen Kontext nicht aus den Augen verlieren: Im Europa des 18. Jahrhundert gab es noch keine industriell-kapitalistischen Ge‐ sellschaften, wie wir sie heute kennen. „Der Markt“ entstand als eine politische Utopie, die individuelle und oft konfligierende Interessen regulieren sollte. Der Liberalismus als politisch-wirtschaftliches Pro‐ gramm befürwortete also eine primär auf das Individuum und seine 200 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="201"?> wirtschaftliche Teilhabe fokussierte gesellschaftliche Organisation, in welcher dem Staat und der Zivilgesellschaft geringerer Einfluss zukam und das Allgemeinwohl durch die ausgleichende Funktion des Marktes gesichert wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der totalitären Gesellschaftssysteme des 2. Weltkriegs und der andauernden Bedrohung durch den Kalten Krieg - gewannen Befürworter eines neuen wirtschaftlichen Programms an Einfluss, das stärker als zuvor individuelle Freiheiten, die Begrenzung staatlicher Autorität und Marktfreiheit vorsah. Unter der Federführung von Wirt‐ schaftswissenschaftlern wie dem Amerikaner Milton Friedman und dem Österreicher Friedrich van Hayek entstand der Neoliberalismus mit dem Ziel der Erneuerung und Erweiterung der Grundlagen des Liberalismus. Unter dem Motto „Weniger Staat, mehr Markt“ wur‐ den staatliche Kompetenzen zunehmend eingeschränkt und auf die Regulierung von Besitzverhältnissen und die nationale Verteidigung reduziert. Unter Politikern von Margaret Thatcher im Vereinten Kö‐ nigreich bis Ronald Reagan in den USA wurden weitreichende Dere‐ gulations- und Privatisierungsprogramme durchgeführt, die staatliche Befugnisse zurückschnitten und im Zuge derer die neoliberale Logik - besonders der Fokus auf individuelle Freiheiten und eine Kultur des Unternehmertums - unterschiedlichste gesellschaftliche Bereiche durchdrang, von Politik und Recht über Kultur und Bildung bis hin zu Gesundheit und eben Religion. (s. Gauthier/ Martikainen/ Woodhead 2013) Wie wird also Religion in unseren Gesellschaften vom Neoliberalismus geprägt? Durch das Aufkommen des Konsumismus - dem Überfluss von Gütern und Dienstleistungen sowie dem gleichzeitigen ständigen Wunsch ebendiese Güter und Dienstleistungen zu konsumieren - in westlichen Gesellschaften seit den 1960er-Jahren sehen sich Religionen immer mehr in der Position sich aktiv zu vermarkten, wie wir im vorherigen Unterkapitel gesehen haben. In diesem Zug unterläuft Religion einen Prozess der Kom‐ merzialisierung und Kommodifizierung (→ Kapitel 5.3.1), d. h., sie wird selbst zur Ware, die zu bestimmten Zwecken angeboten und konsumiert wird. Dazu gehört nicht mehr nur, wie noch bei Max Weber, das Streben nach Erlösung im Jenseits durch orthopraxes („richtiges“) Verhalten im 5.3 Vermarktung von Religion 201 <?page no="202"?> Diesseits (→ Kapitel 4.2.1), sondern nun auch die Selbstdarstellung des Individuums als möglichst einzigartig und „authentisch“. Erinnern wir uns an das oben angesprochene Beispiel der mystischen jüdischen Tradition der Kabbala. Heutige Praktizierende der Kabbala, die sich am Angebot des Kabbalah Center und ähnlicher populärreligiöser Anbieter orientieren, sind höchstwahrscheinlich weniger damit befasst, Erlösung vom Leid der Welt durch mystische Askese zu erreichen, wie es im orthodoxen Judentum der Fall ist, sondern möchten ihr Leben durch das Ausprobieren von etwas Neuem bereichern und somit in etwas vermeintlich Besonderes und Einzig‐ artiges verwandeln. Dass Berühmtheiten wie Madonna ebenfalls Kabbala praktizieren, verleiht dem Ganzen zusätzliche Exotik und Attraktivität - man „ist“ wie Madonna, befindet sich auf einem ähnlichen Weg der spiritu‐ ellen Selbstsuche wie die berühmte Pop-Ikone, ist ebenfalls interessiert am Experimentieren mit fremden Traditionen. Dabei spielen die ursprünglichen Glaubensinhalte und Praktiken der Kabbala eine äußerst geringe Rolle; vielmehr bedient man sich einzelner, aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöster Elemente der Tradition, um Wohlbefinden und Zufriedenheit zu fördern, Individualität und Reflexivität zum Ausdruck zu bringen und sich durch die Aufwertung des eigenen Selbst nach außen hin als glücklich zu präsentieren. Die Religionswissenschaftlerin Anne Koch hält in diesem Zusammenhang fest, dass „Kommerzialisierung als Wiederverzauberung angesehen werden [kann], indem Waren den Verheißungscharakter erhal‐ ten, [neue] Welten aufzuschließen und durch ihren Konsum neue Formen der Selbsterfahrung zu bieten“ (Koch 2014, 177). Ein solch veränderter Umgang mit Religion ist laut Gauthier, Martikainen und Woodhead auf der ganzen Welt ersichtlich, da Neoliberalismus und Konsumismus durch Globalisierung fast alle Gesellschaften der Erde er‐ reicht hätten. So argumentieren sie, dass „current transformations affecting religion (both religious institutions and religious phenomena in general) are best understood if cast as integral to the recent shaping of culture by economics (both consumerism and neoliberalism) considered from a global, not only Western, perspective“ (2013, 2). Der kulturelle Einfluss des Neoliberalismus und Konsumismus auf Religion spiele sich auf unterschied‐ liche Weise in verschiedenen Kontexten aus, sei aber überall festzustellen. Dabei machen die Autoren deutlich, dass sie kein Werturteil über den Neoliberalismus fällen möchten, sondern seine Konsequenzen für Religion aus neutraler Position heraus untersuchen. Dazu gehören u. a. die Tendenz zu religiöser Erfahrung statt Dogmatik (eine Verlagerung von Orthodoxie 202 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="203"?> zu Orthopraxie), der Fokus auf persönliche Identität; innerweltliche Erlö‐ sung und ein engerer Zusammenhang zwischen Religion, Gesundheit und therapeutischen Ansätzen; transnationale Rekonfigurationen physischer und virtueller religiöser Gemeinschaften und eine geringere Bedeutung nationalstaatlicher Rahmen; radikale Kritik institutioneller Autoritäten und die Neuausformung institutioneller Räume; und die wachsende Rolle des Internets und elektronischer Medien für religiöse Gemeinschaften und für Informationsverbreitung zu Religion. Diskussionsfrage | Welche Beispiele aus verschiedenen religiösen Traditionen für den Einfluss des Neoliberalismus und Konsumismus auf Religion kennen Sie? Inwiefern verändern sich Religionen und Religion im Zuge der Globalisierung? Gauthier, Woodhead und Martikainen stehen dem im nächsten Kapitel ausführlich vorgestellten rational choice-Ansatz (→ Kapitel 6.1.1), der vom Homo oeconomicus (→ Kapitel 1.2.2) als stets rationales, auf Kosten-Nut‐ zen-Abwägung basierende Entscheidungen treffendes Individuum ausgeht, kritisch gegenüber. Sie betonen, dass Individuen immer, auch im Zuge von Markttransaktionen, in soziale Kontexte eingebettet und von ihnen beeinflusst sind, eine Tatsache, die das rational choice-Modell nicht berücksichtige: „Markets are constituted within social networks and are not purely economic, but complex social events and institutions. […] Con‐ sumption is a web of practices that involve not only the satisfaction of needs but also social functions [and that] carry and express values. Markets and morals are not mutually exclusive (Gauthier/ Woodhead/ Martikainen 2013, 12). Diese Kritik ist in der Religions- und Wirtschaftssoziologie weit verbreitet und wird in →-Kapitel 7.2 genauer erläutert. Aus ebendiesen Gründen sei das Aufkommen emotions- und erfahrungs‐ orientierter Religionen seit den 1960er-Jahren kein Zufall, sondern ein Resultat der spätkapitalistischen Konsumkultur und der Subjektivierung des Individuums. Für ihre Anhänger sei Gehorsamkeit Gott gegenüber weniger wichtig als persönliches Glück und innerliches wie äußerliches Wohlbefinden zu erreichen. Man könnte auch sagen, dass das Individuum zunehmend an die Stelle Gottes gerückt und sich das Wichtigste im eigenen Leben geworden ist. Gauthier, Woodhead und Martikainen diagnostizieren als Konsequenz dieses globalen, expressiven Individualismus und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Transformationen eine 5.3 Vermarktung von Religion 203 <?page no="204"?> Homogenisierung von Religion, da Glaubensgrundsätze und Praktiken im Zuge ihrer Kommodifizierung aus ihren ursprünglichen Bedeutungskon‐ texten herausgelöst und in globale Netzwerke der Konsumkultur transferiert worden seien. Dadurch hätten sich Glaubensinhalte zwar diversifiziert, die Art und Weise wie sie ausgeübt und in religiöse Praxis übersetzt würden sei aber nie zuvor so homogen gewesen. Denkt man an ehemals unüber‐ brückbare Unterschiede zwischen dem Judentum und dem Christentum, oder gar zwischen dem Protestantismus und Katholizismus, so wird schnell klar, dass sich diese religiösen Traditionen in vielen Gesellschaften in den letzten Jahren zumindest angenähert haben, wenn ihre Grenzen nicht gar verschmelzen: Heutzutage kann ich gleichzeitig jüdische Kabbala prakti‐ zieren, katholische Heiligenbilder anbeten, buddhistischer Zen-Meditation nachgehen, einem Koran-Lesekreis beitreten und mich in einer protestan‐ tischen Freikirche engagieren. Wie tief ich in die jeweiligen religiösen Besonderheiten eintauche, bleibt mir überlassen, und ich habe mir diese Auswahl mit hoher Wahrscheinlichkeit in erster Linie zusammengestellt, um eingehender über mich selbst und die Welt zu reflektieren, meinem Leben eine höhere Bedeutung und einen tieferen Sinn zu verleihen und allgemein zufriedener und glücklicher zu werden. Die Chance, dass ich mich vertiefend mit den historischen Kontexten und Ursprüngen der jeweiligen Glaubensgrundsätze und Praktiken beschäftige, ist dabei eher gering - da nicht notwendig, um trotzdem „einzutauchen“. Die letzten Sätze sind absichtlich polemisch formuliert, sollen sie doch zeigen, dass die Homogenisierung von Religion ein Ergebnis des individuel‐ len Experimentierens und Ausprobierens, aber auch des Sich-zu-Nutze-Ma‐ chens ist. Die freie Wahl unterschiedlicher Religionen und Religionsele‐ mente zeigt einen weiteren zentralen Bestandteil des Neoliberalismus auf: Freiheit wird im Neoliberalismus primär als Freiheit zu wählen aufgefasst. Die Wahl zwischen verschiedenen Produkten und Optionen zu haben macht das neoliberale Subjekt aus: „The exercise of choice is constitutive of subjectivity today - […] ‚free choice‘ is a social imperative“ (Gauthier/ Woodhead/ Martikainen 2013, 14; Hervorhebung im Original). Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Individuen sich entscheiden müssen: Je geringer die Rolle von Tradition (familienbiografisch, beruflich, religiös, usw.), desto mehr Verantwortung obliegt dem und der Einzelnen, das Leben zu gestalten, wie die Soziologen Ulrich Beck und Anthony Gid‐ dens ausführlich aufgezeigt haben (Beck 1986; Giddens 1990). Die Homoge‐ nisierungsthese beruht freilich auf dezidiert westlichen Individualisierungs- 204 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="205"?> und Subjektivierungstendenzen der Religion, welche im Zuge der Globali‐ sierung weltweit immer häufiger auftreten. Gerade außerhalb Europas ist der Grad institutionalisierter Religiosität jedoch selbstverständlich nach wie vor hoch, wodurch sich regional eigene Mischformen aus individuali‐ siert-subjektivierter und institutionalisierter Religion bilden können. Der anhaltende Einfluss institutionalisierter religiöser Strukturen und Ausprä‐ gungen sollte dementsprechend nicht aus dem Blick verloren werden. Es gibt unterschiedliche Fallstudien, die Religion im Neoliberalismus beleuchten. Neben den oben genannten soll hier detaillierter auf den Band Ökonomisierung der protestantischen Kirche? Sozialgestaltliche und religiöse Wandlungsprozesse im Zeitalter des Neoliberalismus (2013) des Religionssozi‐ ologen Jens Schlamelcher eingegangen werden. Schlamelcher beleuchtet Transformationsprozesse der evangelischen Kirche in Deutschland als religiöse Organisation, die einen „Prozess der Vermarktlichung“ (94 ff.) durchläuft. Die versachlichte Sozialbeziehung zwischen Individuum und Organisation - als ein in beiderseitigem Einvernehmen geschlossener „Ver‐ trag“ statt einer persönlichen, direkten Beziehung zwischen zwei Menschen -, die charakteristisch ist für die Moderne (s. zu Sozialformen → Kapitel 6.1.2), habe sich seit den 1990er-Jahren grundlegend verändert: „Die hierar‐ chischen, versachlichten Sozialbeziehungen, durch die sich eine moderne Organisation bis dato ausgezeichnet hat, scheinen sich zunehmend in markt‐ förmige Sozialbeziehungen zu transformieren. Organisationen beginnen, sich intern zunehmend marktförmig zu konfigurieren und das Verhältnis zu ihren externen Mitgliedern bzw. Kunden zu kommodifizieren“ (Schla‐ melcher 2013, 95). Schlamelcher konstatiert Vermarktlichungsprozesse ei‐ nerseits auf der landeskirchlichen, andererseits auf der Gemeindeebene: Einsparungen, Gemeinde- und Verwaltungszusammenlegungen, Stellenab‐ bau und Auslagerung von Dienstleistungen auf Kommunen und einzelne Haushalte (z. B. Eltern in Bezug auf Kinder- und Jugendbetreuung), aber auch eine fokussiertere Zielgruppenorientierung, um das eigene Produkt (Religion) attraktiver für größere Teile der Bevölkerung in Deutschland zu machen, darunter besonders jüngere Generationen und alternative bzw. „distanzierte“ Milieus. Als zentrales Ergebnis dieser Strategie identifiziert Schlamelcher die Citykirche, die in urbanen Zentren leicht erreichbar niedrigschwellige Angebote wie z. B. „Einsteigergottesdienste“ bereit hält. Diese setzen keinerlei Kenntnisse über christliche Lehren oder Praktiken voraus, sondern sprechen die Erfahrungsdimension und das ästhetische Empfinden der Teilnehmenden an, z. B. im Rahmen von Heilungsgesängen. 5.3 Vermarktung von Religion 205 <?page no="206"?> Auch hier zeigt sich die oben besprochene tendenzielle Verlagerung von Orthodoxie als der „richtige“ Glaube hin zu Orthopraxie als das „richtige“ Verhalten, in diesem Fall die Erfahrung Gottes auf psychischer, emotionaler und körperlicher Ebene. Für die sonst sehr rational und kognitiv geprägte evangelische Kirche stelle diese Entwicklung eine erstaunliche Transforma‐ tion dar, die Schlamelcher als einen durch den Neoliberalismus verursachten Zwang zur Vermarktlichung fasst. 5.4 Weiterführende Literatur - Finanzierung religiöser Organisationen Kippenberg, Hans, und Brigitte Luchesi (Hrsg.) 1995. Lokale Religionsge‐ schichte. Marburg: Diagonal-Verlag. Der Sammelband beinhaltet vier Beiträge zu Finanzierungen von Re‐ ligionen, darunter ein einleitender Artikel von Burkhard Gladigow, der in die Religionsökonomie als eine Subdisziplin der Religionswis‐ senschaft einführt. Im Beitrag „Gaben für die Götter - für die Katz? “ erforscht Christoph Auffarth die wirtschaftliche Beziehung des grie‐ chischen Rituals anhand einer Fallstudie von Argos. Jörg Rüpke beant‐ wortet die Frage „Was kostet Religion? “ für die Stadt Rom anhand der Kosten und Erträge des Pontifikalkollegiums, einer für die Opferrituale zuständigen Behörde im römischen Reich, im Zeitraum Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Thomas Hoffmann und Günter Kehrer untersuchen die Auswirkungen ausbleibender staatlicher Unterstützung auf religiöse Finanzierung in der DDR. Caple, Jane, und Sarah Roddy. 2022. „Histories of Religious Fundraising: Religion, Economy, and Value in Global Perspective.“ Journal of Cultural Economy. Das Sonderheft befasst sich mit der Geschichte der religiösen Mittel‐ beschaffung in unterschiedlichen historischen Perioden und geogra‐ fischen Kontexten und thematisiert die Wechselwirkung zwischen 206 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="207"?> Strategien des religiösen Fundraisings, ihrer Ethik und dem Wandel wirtschaftlichen Denkens und Handelns. Es zeigt, wie man aus der Per‐ spektive religiöser Finanzierung die Beziehung zwischen wirtschaftli‐ chen und nichtwirtschaftlichen Werten in der Herausbildung religiöser Gemeinschaften und Organisationen untersuchen kann. - Ökonomische Modellierung religiöser Phänomene Ekelund, Robert B., Robert F. Hébert, Robert D. Tollison, Gary M. Anderson, und Audrey B. Davidson. 1996. Sacred Trust: The Medieval Church as an Economic Firm. New York: Oxford University Press. Dieses Buch bietet wie das in → Kapitel 5.2.2 besprochene Buch von Achim Mayer (1996) eine ökonomische Modellierung des religiösen Verhaltens der katholischen Kirche, wobei diese als eine Firma betrach‐ tet wird, die durch Klöster als Vertreter ihrer Gesellschaft bemüht war, den Markt zu beherrschen. Dabei untersuchen die Autoren, wie die katholische Kirche durch Institutionen wie Ehe, Wucher oder Kreuzzüge ihren Nutzen zu maximieren versuchte. - Vermarktung von Religion Gauthier, François, Linda Woodhead und Tuomas Martikainen. 2013. „Int‐ roduction: Consumerism as the Ethos of Consumer Society.“ In: Religion in Consumer Society. Brands, Consumers and Markets, herausgegeben von François Gauthier und Tuomas Martikainen. London: Routledge. 1-24. Knappes und sehr informatives einleitendes Kapitel, dass die theoreti‐ schen Grundlagen des umfangreichen Forschungsprogramms der Au‐ toren skizziert: Religion hat weltweit seit spätestens den 1980er-Jahren mit dem Aufstieg des Neoliberalismus als politisch-ökonomischem Pro‐ gramm und des Konsumismus als dominante Verhaltensform grundle‐ gende Veränderungen erfahren, die mit „veralteten“ Paradigmen wie z. B. der Säkularisierung und der rational choice nicht zu erklären sind. Jafari, Aliakbar, and Özlem Sandicki (Hrsg.). 2016. Islam, Marketing and Consumption. Critical Perspectives on the Intersections. London: Routledge. 5.4 Weiterführende Literatur 207 <?page no="208"?> Dieser von zwei Marketingwissenschaftlern herausgegebene Sammel‐ band ist eine der seltenen umfangreicheren Studien zur Rolle von Wirtschaft im Islam. Die Beiträge nehmen insbesondere den Prozess des Branding sowie die Rolle von islamischer Mode für die weltweite muslimische Gemeinschaft ins Visier, bieten aber auch einige theo‐ retische Ansatzpunkte zu Vermarktungsethiken sowie Konsum und Identität. 208 5 Religionen als ökonomische Akteure <?page no="209"?> 6 Marktmodelle der Religion Leitfragen des Kapitels ● Was sind die Kernelemente des economics of religion-Ansatzes? Inwiefern baut er auf dem neoklassischen Paradigma der Ökonomie auf ? ● Welche grundsätzliche Kritik wird der rational choice-Theorie und dem economics of religion-Ansatz entgegengebracht? ● Wie fasst Bourdieus Feldtheorie den Wettbewerb zwischen religiö‐ sen Spezialisten um die Gunst der Laien? Inwiefern unterscheidet sich seine Theorie vom economics of religion-Ansatz? ● Wie kann man religiöse Güter definieren und typologisieren? Warum ist es sinnvoll, sie nicht ausschließlich im Rahmen des Marktmodells zu verorten? Dieses Kapitel stellt verschiedenen Ansätze der Religionsökonomie vor, wel‐ che Religion als kompetitiven Markt fassen, also als Wettkampfarena. Dazu zählt vor allem der auf der rational choice-Theorie aufbauende economics of religion-Ansatz, welcher in den 1980er-Jahren in den USA als Kritik am Säkularisierungsparadigma (→ Kapitel 2.2.1) entwickelt wurde. Der Ansatz hat selbst grundsätzliche Kritik erfahren, welche hier ausführlich diskutiert wird, um zu zeigen, inwiefern basale Prämissen ökonomischer Modellierung (→ Kapitel 3) nicht oder nicht korrekt integriert wurden. Religion wird in diesem Zusammenhang in der Literatur oft als „abhängige“ Variable gefasst; dies stellt allerdings einen Kategorienfehler dar: Nicht Wirtschaft ist die unabhängige Variable dieses Ansatzes, sondern eben die (mehr oder weniger korrekte) Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden (s. dazu auch →-Kapitel 1). → Kapitel 6.1.1 führt in die rational choice-Theorie als Grundlage des eco‐ nomics of religion-Ansatzes ein, während seine Kernelemente in →-Kapitel 6.1.2 erläutert werden. → Kapitel 6.1.3 stellt zentrale Werke im Rahmen des Ansatzes vor, während →-Kapitel 6.1.4 die wichtigsten Kritikpunkte daran diskutiert. → Kapitel 6.2 stellt die Feldtheorie des französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu vor, der das religiöse Feld als Wett‐ <?page no="210"?> bewerbsarena versteht. Sein Ansatz unterscheidet sich allerdings stark von dem der economics of religion, nicht zuletzt durch sein Habituskonzept, das der rational choice-Theorie diametral entgegensteht. In → Kapitel 6.3 schließlich wird ein Syntheseversuch des Schweizer Religionssoziologen Jörg Stolz vorgestellt, welcher eine Typologie religiöser Güter auf Grundlage der rational choice-Theorie einerseits und der Arbeiten Max Webers zu Heilsgütern andererseits aufstellt. 6.1 Der economics of religion-Ansatz Der economics of religion-Ansatz entstand in den 1980er-Jahren in den USA mit dem Ziel, die dort anhaltend hohen Religiositätsraten - im Sinne von Kirchenzugehörigkeit und aktiver Teilnahme - zu erklären. Wurde er dort Anfang der 1990er-Jahre bereits zum „new paradigm“ (Warner 1993), zum neuen theoretischen Paradigma der Religionssoziologie, ausgerufen und seitdem verschiedentlich weiterentwickelt, wird der Ansatz in Europa deut‐ lich kritischer rezipiert (→ Kapitel 6.1.4). Er basiert auf der in der Ökonomie entwickelten rational choice-Theorie (RCT), und stellt das Erforschen individuellen religiösen Handelns in den Mittelpunkt. Im folgenden Absatz wird die RCT kurz aus ökonomischer Perspektive skizziert, um daraufhin die wichtigsten Elemente des economics of religion-Ansatzes sowie einige zentrale Werke zu beleuchten und grundlegende Kritik daran anzuführen. 6.1.1 Ökonomische Grundlage: Die rational choice-Theorie Die rational choice-Theorie (RCT) beinhaltet innerhalb der neoklassischen Ökonomie (→ Kapitel 1.2.2) verschiedene Theoriestränge. Ihnen gemein ist die Vorstellung, dass das Individuum als Homo oeconomicus auf Grundlage seiner Präferenzen seinen Nutzen maximiert und somit rationale Entschei‐ dungen trifft. Damit ist die RCT vom sogenannten methodologischen Individualismus geprägt: Sie sieht soziale Phänomene als das Resultat indi‐ vidueller Einstellungen, Entscheidungen und Handlungen, deren Verflech‐ tungen größere gesellschaftliche Prozesse gestalten. Das Soziale wird aus der Perspektive des methodologischen Individualismus also nicht ausgeklam‐ mert (Braun 2013). Darüber hinaus fasst die RCT Handeln als Resultat von nachvollziehbaren Präferenzen auf (Boudon 2009), so z. B. bei einer 210 6 Marktmodelle der Religion <?page no="211"?> verstärkten individuellen Zuwendung hin zu Religion in Krisensituationen wie Krankheit und Tod. Entscheidungen und Handlungen basieren dabei einerseits auf verfügbaren Mitteln, z. B. Kontextwissen und Einschätzung der jeweiligen Konsequenzen, und andererseits auf individuellen Präferen‐ zen. Die RCT geht von stabilen Präferenzen aus, wodurch Verhaltensab‐ weichungen nicht mit Änderungen individueller Vorlieben erklärt werden, sondern sich anderweitig aus dem Entscheidungs- und Handlungskontext ergeben (Braun 2013). Zentral ist in der RCT außerdem, dass Individuen mit ihren Entscheidungen auf ihre eigene Nutzenmaximierung abzielen, d. h., den größtmöglichen Nutzen für sich selbst anstreben. Dabei wägen sie ihre Entscheidungsmöglichkeiten sorgfältig ab - es kommen in der Konsequenzabwägung Filterprozesse zum Tragen - und sind lernfähig, passen ihr Verhalten mit der Zeit also an. Rationalität Rationalität lässt sich zusammenfassend als „zielgerichtetes (d. h. vor‐ ausschauendes) und optimierendes (d. h. maximierendes oder minimie‐ rendes) Entscheidungsverhalten unter bestmöglich gebildeten (d. h. rationalen) Erwartungen bei Verwendung aller verfügbaren oder be‐ schafften Informationen konzeptualisier[en], das mit zeitkonsistenten (d. h. entscheidungskonformen oder plantreuen) Handlungen einher‐ geht und wohlgeordnete stabile Präferenzen sowie gegebene Restriktio‐ nen reflektiert“ (Braun 2013, 402). Unter den vielen, größtenteils amerikanischen Vertretern der RCT sind besonders der Ökonom und Soziologe Gary Becker (1930-2014), der 1992 den Nobelpreis in Ökonomie erhielt, sowie der Soziologie James Coleman (1926-1995) zu nennen. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive sind die Beiträge des Ökonomen Laurence Iannaccone (z. B. 1992) sowie der Soziologen Rodney Stark und William Sims Bainbridge (1987) bedeutend, da sie RCT und die Religionssoziologie zusammenbringen. In den folgenden Abschnitten werden ihre Thesen im Rahmen des economics of religion-An‐ satzes vorgestellt. Diskussionsfrage | Sind Entscheidungen immer nutzenmaximierend? Wie kann die RCT Entscheidungen erklären, die aus altruistischen Motiven getroffen werden (z. B. für Geflüchtete zu spenden, obwohl 6.1 Der economics of religion-Ansatz 211 <?page no="212"?> man selbst knapp bei Kasse ist), oder Entscheidungen, die dem Indi‐ viduum nicht zugutekommen (z. B. trotz einer Diabeteserkrankung zuckerhaltige Speisen zu konsumieren)? 6.1.2 Elemente des economics of religion-Ansatzes Der economics of religion-Ansatz richtet sich explizit gegen diejenigen Stränge der Säkularisierungsthese, die vom Rückgang individueller Religio‐ sität ausgehen (→ Kapitel 2.2.1). Während er die funktionale Differenzie‐ rung moderner Gesellschaften anerkennt, sieht er Säkularisierung auf der Mikroebene durch die hohen Religiositätsraten in den USA - im Sinne von Kirchenzugehörigkeit und aktiver Teilnahme - als widerlegt an (Finke und Stark 2003). Der Ansatz geht von Religion als anthropologischer Kon‐ stante aus (homo religiosus): Es liege in der Natur des Menschen, religiös zu sein, und Menschen seien stets danach bestrebt, religiöse Bedürfnisse zu befriedigen (Stark und Finke 2000). Die Nachfrage nach Religion sei also immer konstant, auch wenn sich religiöse Präferenzen im Einzelnen ändern könnten. Der economics of religion-Ansatz nimmt demnach - ganz in der Tradition der RCT - individuelles religiöses Handeln in den Fokus der Untersuchung: Gläubige als religiöse Konsumenten betreiben demnach eine ständige Kosten-Nutzen-Abwägung, um die Kosten ihrer religiösen Beteiligung zu senken und den Nutzen derselben zu maximieren (Stark und Finke 2000). Dabei komme religiösen Produzenten eine zentrale Rolle zu, da die (latent immer vorhandene) Nachfrage der Konsumenten durch unterschiedliche religiöse Produkte und Dienstleistungen aktiviert werde. Je attraktiver ein religiöses Angebot, desto wahrscheinlicher sei es, dass sich mehr Menschen dafür entscheiden. Durch die hieraus entstehende Konkur‐ renz bzw. den Wettbewerb auf dem religiösen Markt werde die religiöse Vitalität (vitality oder Lebendigkeit, Finke und Stark 2006) erhöht. Eine Kernthese des Ansatzes ist es, dass je deregulierter der religiöse Markt, desto höher die Religiosität insgesamt ist. Hier wird die Schlüsselposition der Anbieterseite ersichtlich: Da es ihre Produkte und Dienstleistungen seien, die die Nachfrage der Konsumenten aktivieren, seien sie es, die die größeren Entwicklungen der Religionslandschaft beeinflussen und steuern. Dies wird unter dem Begriff supply-side approach (Stark und Finke 2000; Finke und Iannaccone 1993), also einem angebotsorientierten Ansatz, zusammengefasst. 212 6 Marktmodelle der Religion <?page no="213"?> Schauen wir uns die Elemente des economics of religion-Ansatzes einmal genauer an. Religiöse Konsumenten sind demnach, relativ offensichtlich, einzelne Gläubige oder Gruppen, die Kosten und Nutzen verschiedener religiöser Angebote abwägen, um ihre Nachfrage - ihr Bedürfnis nach Re‐ ligion - zu befriedigen. Religiöse Produzenten können klassische religiöse Institutionen wie z. B. Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel oder auch Denominationen (mehrgliedrige religiöse Organisationen) und Kleingrup‐ pen bzw. Hauskreise sein, aber auch religiöse Veranstalter (Events, z. B. der Kirchentag) und Verlage. Ihre Produkte und Dienstleistungen umfassen neben spezialisierten Ritualen wie Gottesdiensten, Freitagsgebeten und der Vergabe von Sakramenten auch an individuelle Personen gerichtete Angebote, z. B. Divination (Wahrsagung) und Gespräche, die über die institutionalisierte Beichte weit hinausgehen, sowie religiöse Produkte wie Bücher, Musik, Videos, Podcasts, usw. Die Kosten, die religiöse Konsumen‐ ten abwägen, können finanzieller Art sein; meistens sind es aber religiöse Verhaltensnormen, wie z. B. das Verbot von Rauschmitteln (hierunter fallen nicht nur Zigaretten, Alkohol und illegale Drogen, sondern z. B. bei den Mormonen auch Koffein), Verbot von vorehelichem und außerehelichem Sex, Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit, vegetarische Ernährung und so‐ gar (z. B. bei den Zeugen Jehovas) das Verbot von Bluttransfusionen. Im Sinne des nutzenmaximierenden Verhaltens fallen diese Verbote und Auflagen nicht schwer ins Gewicht: Nutzen sind z. B. Gnade, Seelenheil, Unsterblichkeit, Eintritt ins Paradies, aber auch Gemeinschaft, Zugehörig‐ keit und Solidarität sowie gesteigertes soziales und kulturelles Kapital - also der Zugang zu Netzwerken und Wissen (→ Kapitel 6.2), Orientierung und Sicherheit. Vor diesem Hintergrund stehen religiöse Produzenten in ständigem Wettbewerb um die Aufmerksamkeit, das Engagement und auch das Geld religiöser Konsumenten. Elemente der religious economy Auf dem von Wettbewerb geprägten religiösen Marktplatz wägen laut den Vertretern des Ansatzes religiöse Produzenten und religiöse Konsu‐ menten Kosten und Nutzen religiöser Produkte und Dienstleistungen ab. Dabei aktiviere das Angebot (supply side) die (latent immer vorhandene) Nachfrage nach Religion. 6.1 Der economics of religion-Ansatz 213 <?page no="214"?> Die dem Ansatz inhärente Annahme, dass der Wettbewerb unter religiösen Produzenten steigt, je deregulierter der Markt ist, wendet sich gegen die in → Kapitel 2.2.1 vorgestellte Pluralisierungsthese von Peter L. Berger. Diese besagt, dass die Plausibilität einzelner Religionen umso schwächer wird, je pluralisierter das religiöse Feld ist (Berger 1967): Je höher die religiöse Vielfalt, desto schwieriger sei es für einzelne Religionen, ihren Absolut‐ heitsanspruch glaubwürdig zu vertreten. Der economics of religion-Ansatz argumentiert genau in die entgegengesetzte Richtung: Je mehr religiöse Produzenten auf dem Markt um die Gunst der Gläubigen konkurrieren - je höher also die religiöse Vielfalt ist - umso mehr steige die religiöse Vitalität, da ein breiteres Angebot die latent vorhandene Nachfrage unter Konsumen‐ ten immer weiter erhöhe. Entsprechend sei die Religiosität in Ländern mit einer deutlichen Trennung zwischen Staat und Kirche besonders hoch (Stark und Finke 2000), da der Staat keine einzelnen Religionen bevorzuge, sondern dem Wettbewerb unter Produzenten freien Lauf lasse. Mit seinem Fokus auf individuelles Handeln greift der economics of religion-Ansatz implizit das Individualisierungsparadigma bzw. die in → Ka‐ pitel 2.2.2 erläuterte These Ulrich Becks (1986) zur (religiösen) Individuali‐ sierung auf. Beck argumentiert, dass Menschen aus den ehemals durch fa‐ miliäre Zusammenhänge vorgegebenen religiösen Strukturen herausgelöst werden und sich vor dem Hintergrund zunehmender religiöser Diversität eigenverantwortlich (a) für diejenigen Strukturen entscheiden, in die sie sich reintegrieren möchten und (b) für den Grad entscheiden, zu dem sie dies tun. Auch der economics of religion-Ansatz geht von der Entscheidungsfreiheit religiöser Konsumenten für bestimmte Produzenten, je nach Präferenz, aus. Dabei ist es allerdings wichtig zu betonen, dass sich economics of religion-Vertreter nicht explizit auf die Individualisierungsthese beziehen und viele Elemente derselben sogar ablehnen. So spielt religiöse Privati‐ sierung im Luckmannschen Sinne einer inneren Spiritualität (→ Kapitel 2.2.2) für sie keine Rolle; sie konzentrieren sich vielmehr auf individuelles religiöses Handeln in institutionalisierten Kontexten, d. h. in religiösen Gemeinschaften wie Kirchen, Synagogen und Moscheen, aber auch auf daran angebundene Aktivitäten in Kleingruppen oder im Rahmen religiöser Events (z.-B. Stark und Finke 2000). 214 6 Marktmodelle der Religion <?page no="215"?> Konzeptioneller Exkurs-| Religiöse Sozialformen Zum Verständnis des economics of religion-Ansatzes und der Breite des religiösen Angebots ist ein Verweis auf religiöse Sozialformen un‐ erlässlich. Unter Sozialformen versteht man in der Soziologie grund‐ sätzlich Konstellationen sozialer Interaktion, d. h. die Form, in der Menschen zusammenkommen und interagieren. Dabei geht es weder um Inhalte noch um konkrete Rollen, sondern um Strukturen. Es rückt verstärkt die Mesoebene der Gesellschaft (die „Organisations‐ ebene“) in den Blick; die Mikroebene individueller Interaktion findet indirekt Berücksichtigung, weniger die gesellschaftliche Makroebene (→ Kapitel 2.2.1). Religiöse Sozialformen sind Strukturen, in welchen Menschen sich koordinieren, um religiös zu kommunizieren und in‐ teragieren. Die klassische Unterscheidung zwischen den Sozialformen Kirche, Sekte und Mystik geht auf Max Weber und Ernst Troeltsch zurück (Weber 2013 [1920/ 1906]; Troeltsch 1994 [1912]). ● Die Kirche wird hier als rationale Anstalt verstanden, die die Heilsgüter für alle Mitglieder verwaltet, die in sie hineingeboren werden. ● Die Sekte hingegen ist ein religiöser Verein, dem nur diejenigen beitreten dürfen, die sich durch persönliches Verhalten qualifizie‐ ren und aus der man bei Fehlverhalten ausgeschlossen wird. ● Die Mystik bezeichnet das persönliche, innerliche Verhältnis zur Transzendenz, das aber immer an Bestätigung durch die Gemein‐ schaft geknüpft ist. Da diese Dreiteilung sehr am Christentum orientiert und ihre An‐ wendung über christliche Kirchen hinaus in großen Teilen nicht sinnvoll ist, wird in der zeitgenössischen Religionssoziologie eine Reihe allgemeiner Sozialformen mit dem Anspruch der Anwendbar‐ keit auf verschiedene Religionen bzw. religiöse Koordinationsweisen unterschieden (Krech, Schlamelcher und Hero 2013). Dazu gehören: ● die Gruppe (oder Gemeinschaft) als wahrscheinlich älteste So‐ zialform. Sie zeichnet sich aus durch emotionale und direkte Mitgliederbeziehungen, kollektive Identität, die auf gemeinsamen Normen und Werten beruht, informelle Interaktionen und Tausch‐ prozesse sowie ihre Dauerhaftigkeit. 6.1 Der economics of religion-Ansatz 215 <?page no="216"?> ● die Organisation als Sozialverband, der Mitglieder in erster Linie sachlich einbezieht. Sie ist hierarchisch gegliedert, von formali‐ sierten Interaktionsregeln geprägt, hat bestimmte Rollen (oder Ämter) entwickelt, wird zentral gesteuert und existiert ebenfalls langfristig. ● die Marktbeziehung als eine ebenfalls versachlichte und zweck‐ gebundene, aber nicht dauerhafte Interaktionsform, die zeitlich sehr begrenzt ist und auf den rationalen Tausch religiöser Güter abzielt. ● das Netzwerk, das durch offene Grenzen und Dynamik ausge‐ zeichnet ist, unterschiedlichste Rollen, Identitäten und Akteure integrieren kann und in der Regel längerfristig existiert. ● die Bewegung, welche Elemente sowohl der Gruppe als auch der Organisation beinhaltet, durch Ressourcenmobilisierung geprägt ist, auf kollektive Anliegen bzw. Ziele hin ausgerichtet ist und in der Regel ebenfalls längerfristig existiert. ● das Event, welches ein zeitlich begrenztes und vorab organisiertes Interaktionsereignis darstellt, das die Form eines Rituals anneh‐ men und gemeinschaftsstiftend wirken kann. Dieser Überblick über religiöse Sozialformen soll helfen, die Breite des religiösen Angebots - im Sinne von Produkten und Dienstleistungen - zu umreißen, das im economics of religion-Ansatz zum Tragen kommt. 6.1.3 Entwicklung des economics of religion-Ansatzes Die erste umfassende Ausarbeitung des Ansatzes legten die amerikanischen Soziologen Rodney Stark und William Sims Bainbridge mit ihrem 1987 erschienen Werk A Theory of Religion vor. Sie stellen darin sieben Axiome (Grundannahmen) auf, bieten 104 Definitionen für zentrale Fachbegriffe und formulieren 344 Propositionen (Thesen), um ihre Argumentation auf‐ zubauen. Dieser zugrunde liegt die konstante Nachfrage seitens Individuen nach Religion, die ihnen bei der Bearbeitung existentieller Fragen („Was ist der Sinn des Lebens? “) hilft und ein grundlegendes Bedürfnis nach Sicher‐ heit befriedigt. Die Autoren sehen den Ursprung der Religion also nicht im Sozialen, wie es z. B. der Mitbegründer der Soziologie Émile Durkheim tut (1994 [1912]), sondern in der Motivation des Individuums, seine Bedürfnisse 216 6 Marktmodelle der Religion <?page no="217"?> zu befriedigen. Auf der RCT aufbauend, gehen die Autoren davon aus, dass die latent stets vorhandene Nachfrage nach Religion in jedem Menschen auf unterschiedliche Weise von religiösen Produzenten ak‐ tiviert wird und jeder Einzelne nutzenmaximierendes Verhalten an den Tag legt, um zu bestimmen, welches Angebot die persönliche Nachfrage am besten deckt. Zu den Nutzen zählen z. B. Kirchenmitgliedschaft (und dadurch Status), Gottesdienstteilnahme, Teilnahme an anderen Gemeinde‐ aktivitäten und religiöse Sozialisierungsangebote für Kinder, aber vor allem auch religiöse Doktrinen und Erfahrungen sowie Gebete, Devotionalien und eine mit dem eigenen Auserwähltsein durch Gott zusammenhängende moralische Überlegenheit. Es werden aber nicht nur religiöse Produkte und Dienstleistungen, sondern breiter auch die damit zusammenhängenden religiösen Sozialfor‐ men evaluiert, die (zumindest in der amerikanischen Religionslandschaft, auf der die Analyse basiert) auftauchen: von formell-institutionalisierten bis hin zu informell-gemeinschaftlichen Konstellationen. Je mehr sich Gesell‐ schaften ausdifferenzieren, desto komplexer werden religiöse Erklärungen der Welt, so die Autoren. In diesem Zuge bilde sich eine Gruppe religiöser Spezialisten heraus, die sich in Organisationen zusammenfinden und als Vermittler zwischen Individuen und einem Gott oder Göttern fungieren. Durch ihre Vermittlung göttlicher Belohnungen werden sie zu einer Elite, die langfristige Austauschbeziehungen etabliere, in dessen Zug sich staats‐ nahe religiöse Institutionen, oft mit Monopolcharakter, herausbilden. Da diese die vielfältige Nachfrage nach Religion in einer Gesellschaft aber niemals vollumfassend befriedigen können, bilden sich Sekten bzw. Kulte als „deviante“ Sozialformen heraus, die von den etablierten Normen so weit abweichen, dass sie dafür zusätzlichen Kosten in Kauf nehmen. Sekten orientieren sich dabei weiterhin an den traditionellen Grundsätzen und Praktiken der Mutterorganisation, weichen also in geringerem Grade ab, während Kulte ganz neue Grundsätze und Praktiken etablieren. In beiden Fällen erhöhe sich der Spannungsgrad zur Gesellschaft: Je höher das Spannungsverhältnis einer religiösen Gruppierung, desto höher sei die Anzahl und der Wert der Entschädigungen im Jenseits für die knappen Belohnungen, die den Mitgliedern im Diesseits zur Verfügung stehen. Dieses Argument wird in späteren Ausführungen, teilweise auch von anderen Au‐ toren, deutlicher ausdiskutiert und hier auf den nächsten Seiten detaillierter aufgegriffen. 6.1 Der economics of religion-Ansatz 217 <?page no="218"?> Die Herausbildung von Kulten ist für die Autoren ein zweischrittiger Prozess religiöser Innovation, der aus (a) der Erfindung neuer religiöser Ideen und (b) zunehmender sozialer Akzeptanz für diese Ideen besteht. In Kulten gehe es also darum, neuen Nutzen herzustellen und auszutauschen. Dabei können Kulte eine von drei möglichen Entstehungsgründen haben: Sie können (1) als Antwort auf persönliche oder gesellschaftliche Krisen entstehen („psychopathology model“, 158); (2) aus unternehmerischer Motivation entstehen und ihren Kunden gegen Bezahlung ein Produkt zur Verfügung stellen („entrepreneur model“, 168); oder (3) als Ausdruck neuer Sozialsysteme entstehen, die zwar klein sein können, sich aber durch enge Beziehungen der Mitglieder untereinander auszeichnen („sub‐ culture-evolution model“, 179). Individuen treten Kulten als religiösen Bewegungen bei, wenn die Mehrheitsreligion ihre Ansprüche nicht zufrie‐ denstelle und ihnen kein kohärentes Weltbild biete. Dabei könne der Grad der Isolation der Mitglieder von der Außenwelt ein Problem sein, da die Gruppe im Zweifelsfall nicht wachse und es an mittelbis langfristiger Stabilität mangele. Religiöse Bewegungen müssten zum Überleben also die Nutzen der Mitgliedschaft erhöhen. Was aber passiert mit institutionalisierten religiösen Organisationen im Zuge der Herausbildung von Sekten und Kulten als Bewegungen, die die etablierten Normen der religiösen Elite in Frage stellen? Für die Autoren ist dieser Prozess der religiösen Pluralisierung ein Säkularisierungspro‐ zess in dem Sinne, dass das religiöse Weltbild der Mehrheitsreligion aufge‐ brochen und zunehmend hinterfragt wird - nicht nur durch konkurrierende religiöse Angebote, sondern auch von anderen „cultural systems“ (280), wie z. B. der Politik oder der Wissenschaft. Ehemalige Monopolreligionen sehen sich daraufhin gezwungen, Wandel und Erneuerung einzuführen, um ihren Nutzen für Individuen zu erhöhen. Ein zirkuläres Entwicklungsmodell von Religion A Theory of Religion bietet ein zirkuläres Entwicklungsmodell von Religion, da sich Monopolbildung mit Pluralisierung abwechselt und Vielfalt auf dem religiösen Markt von neuerlichen Tendenzen zur Monopolbildung abgelöst werden (s. auch Pickel 2011). Einen weiteren zentralen Beitrag liefern die amerikanischen Religionsso‐ ziologen Roger Finke und Rodney Stark mit ihrem ursprünglich 1992 218 6 Marktmodelle der Religion <?page no="219"?> erschienenen Werk The Churching of America 1776-1990: Winners and Losers in our Religious Economy, das 2006 in zweiter Auflage und mit erweitertem Fokus von 1776 bis 2005 herauskam. Hier beziehen wir uns auf die zweite, erweiterte Auflage. Darin entfalten die Autoren mit Blick auf die amerikani‐ sche Religionsgeschichte die These, dass Religiosität in den Vereinigten Staaten im Laufe ihrer Geschichte konstant zugenommen hat, und begründen dies mit der in der amerikanischen Verfassung festgehaltenen Deregulation des religiösen Marktplatzes durch die Trennung von Staat und Kirche. Im ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung findet sich der sogenannte Establishment Clause, der die Etablierung einer Staatsreligion verbietet und - aus der Perspektive des economics of religion-Ansatzes - den Wettbewerb verschiedener Religionen ermöglicht. Mit ihrer These bieten Finke und Stark einerseits eine neue Perspektive auf die amerikanische Religionsgeschichte, indem sie der Vorstellung einer von Anfang an sehr religiös geprägten Kolonial- und Einwanderungsgesellschaft widersprechen. Andererseits beziehen sie den economics of religion-Ansatz auf statistische Daten zu religiöser Zugehörigkeit seit der Gründung der Vereinigten Staaten im Jahr 1776, um Faktoren des Erfolgs bzw. Misserfolgs verschiedener Denominationen herauszuarbeiten. Seien um die Zeit der amerikanischen Revolution vergleichsweise wenige Menschen Mitglieder in „etablierten“ Kirchen gewesen - z. B. der Episkopalen oder der Presby‐ terianische Kirche - gewannen im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem die Baptistische und die Methodistische Kirche an Anhängern. Der Erfolg sei den Baptisten erhalten geblieben, während die Anzahl an Methodisten (ähnlich wie die Episkopalen, Presbyterianer und andere Denominationen der sogenannten „Mainline“) später wieder geschrumpft sei. Diese und weitere Entwicklungen in der amerikanischen Religionsland‐ schaft zeigen die Autoren mithilfe detailgenau aufgearbeiteter historischer Statistiken auf, um die insgesamte Zunahme an religiöser Mitgliedschaft im Laufe der amerikanischen Geschichte durch das Aufkommen von „aggres‐ sive churches committed to vivid otherworldliness“ (Finke und Stark 2006, 1) zu erklären. Wo sich die etablierten Denominationen in den Städten der Ostküste auf hochkirchliche Rituale und eine intellektualistische Aus‐ einandersetzung mit der Bibel konzentriert haben, sei entlang der Frontier - der sich stetig nach Westen hin verlagernden Grenze der weißen Siedler - ein Frömmigkeitsstil aufgekommen, der Emotionen statt theologischer Ausführungen betont habe und einen direkten Bezug zum Alltag der Men‐ schen hergestellt habe. Hier sei es plötzlich um himmlische Erlösung als 6.1 Der economics of religion-Ansatz 219 <?page no="220"?> Belohnung für ein gottesfürchtiges Leben und um die drohenden Qualen der Hölle bei persönlichen Fehltritten gegangen. Sei der hochkirchliche Gottesdienst der Episkopalen und Presbyterianer auf die richtige liturgische Form ausgerichtet und seien ihre Mitglieder mit Stellung und Ansehen in ihren jeweiligen Gemeinden befasst gewesen, haben die Baptisten und Me‐ thodisten konkrete religiöse Inhalte und ihre Bedeutung für das Seelenheil jeder und jedes Einzelnen thematisiert. Vor diesem Hintergrund benennen Finke und Stark vier Faktoren, die zum Erfolg oder Misserfolg religiöser Produzenten beitragen: ● die Organisationsstruktur: flexible und niedrigschwellige Strukturen tragen eher zum Erfolg bei als hierarchische Strukturen. Jeder, der sich zur Verkündigung Gottes Wortes berufen gefühlt habe, habe im 19. Jahr‐ hundert baptistischer oder methodistischer Prediger werden können. Es habe weder einer formalisierten Ausbildung noch des Einhaltens von standardisierten Regeln bedurft; im Gegenzug haben die Prediger sehr wenig, teilweise gar nichts, verdient. So habe es nie an Nachschub an Predigern gemangelt und auch die entlegensten Orte entlang der Frontier seien mit der biblischen Botschaft erreichbar gewesen. Die Episkopalen und Presbyterianer hingegen haben auf eine zertifizierte Pastorenausbildung und auf die strenge Orientierung an den Regeln der Kirche bestanden, wodurch sie weniger Pastoren hervorgebracht haben, welche größtenteils an etablierte Gemeinden in städtischen Zentren entlang der Ostküste gebunden gewesen seien. Das vergleichsweise gute Einkommen habe die Motivation geschwächt, in kleinere und weniger wohlhabende Gemeinden im Inland zu wechseln - mit der Folge, dass die Episkopale und die Presbyterianische Kirche (im Unterschied zu den Baptisten und Methodisten) nicht expandiert haben. ● die Vertreter: Finke und Starke nutzen den Begriff „sales representati‐ ves,“ um zu betonen, dass die Vertreter der verschiedenen Denominati‐ onen in Konkurrenz miteinander ihr Produkt verkaufen mussten. Hier sei die Nähe zum Volk entscheidend für den Erfolg gewesen: Baptistische und methodistische Prediger seien aus der Mitte des Volkes gekommen, haben über keinen höheren Bildungsgrad und kein hohes Einkommen verfügt, sondern seien oft Wanderprediger gewesen, die die Gefahren der Frontier in Kauf genommen haben, um den Menschen von ihrem persönlichen Glauben zu berichten. Dabei haben sie einfache, bildhafte Sprache genutzt und starke Emotionen in ihren Anhängern geweckt. 220 6 Marktmodelle der Religion <?page no="221"?> Episkopale und presbyterianische Prediger hingegen seien oft besser ge‐ bildet gewesen und haben ein höheres Einkommen als die durchschnitt‐ lichen Mitglieder genossen, wodurch sie außerhalb deren Lebensrealität und weniger glaubhaft gewesen seien. Der systematisch-theologische Ansatz, den sie in der Ausbildung erlernt haben, habe die Emotionen ihrer Mitglieder weniger entfacht, was sie als religiöse Produzenten insgesamt weniger überzeugend gemacht habe. ● Das Produkt: Erfolgreiche religiöse Produzenten sind laut Finke und Stark einer „lebendigen Jenseitigkeit“ verpflichtet, d. h., sie thematisie‐ ren die Kosten und Nutzen einer Religion mit Blick auf die Belohnung nach dem Tod und geben ihren Anhängern damit konkrete Gründe, sich religiösen Regeln zu unterwerfen. Baptisten und Methodisten sei dies durch das Evozieren von Himmelsfreuden und Höllenfeuer deutlich besser gelungen als den Episkopalen und Presbyterianern, die Gott eher als historische Figur statt als wirkmächtig im Alltag der Menschen aufgefasst haben. ● die Verkaufsstrategie: Eine erfolgreiche Verkaufsstrategie betone den Nutzen der Investitionen in Religion und stelle das religiöse Produkt in das bestmögliche Licht. Eine erfolgreiche Strategie der Baptisten und Methodisten sei die Emotionalisierung gewesen: Aufgeladene Predigten, religiöse Zeugnisse, die aus tiefstem Herzen kamen, und große religiöse Events - sog. Camp Meetings, im Rahmen derer teilweise tausende von Menschen tagelang zusammenkamen, um gemeinsam Gottesdienste zu feiern, Predigten zu hören, zu beten, sich darüber hinaus auszutauschen und die Einsamkeit und Monotonie des Lebens auf der Frontier aufzubre‐ chen - seien nur einige Beispiele. Der eher nüchterne und reservierte Stil der Episkopalen und Presbyterianer sei weniger erfolgreich gewesen, da dadurch kaum neue Anhänger angezogen worden seien. Diskussionsfrage | Zählen Sie Merkmale der Organisationsstruktur, Vertretern, Produkte und Verkaufsstrategie unterschiedlicher religiö‐ ser Strömungen und Traditionen auf. Entsprechen ihre Merkmale denen in Finke und Starks Modell? Wie „erfolgreich“, im Sinne von stabil bzw. wachsend, sind die Strömungen bzw. Traditionen? Wird die These der Autoren damit bestätigt oder widerlegt? Finke und Starke gehen von dem sogenannten voluntary principle aus, dem Freiwilligkeitsprinzip, das auf der Trennung von Staat und Kirche 6.1 Der economics of religion-Ansatz 221 <?page no="222"?> beruht. Die Idee dahinter ist, dass das Engagement religiöser Produzenten, Mitglieder zu werben und zu binden, umso größer ist, je größer der Wett‐ bewerb auf dem religiösen Markt. Wenn aber eine Religion vom Staat unterstützt werde, dem Wettbewerb also nicht vergleichbar ausgesetzt sei, engagiere sie sich zwangsläufig weniger dafür, Mitglieder zu gewinnen und zu halten, da ihr Überleben eben durch den Staat gesichert sei. Das wirke sich wiederum auf die Mitglieder aus, die in letzterem Fall entsprechend auch weniger motiviert seien, sich zu engagieren. Umgekehrt sei die Moti‐ vation und das Engagement der Mitglieder umso höher, wenn ein religiöser Produzent nicht vom Staat unterstützt werde und sein Überleben somit von den Ressourcen der Mitglieder abhängig sei. Historisch-regionaler Exkurs | Die Vereinigten Staaten im 19.-Jahrhundert Das voluntary principle ist eng am amerikanischen Modell orientiert und wurde schon vom europäischen Beobachter der jungen Vereinig‐ ten Staaten, Alexis de Tocqueville (1805-1859), diagnostiziert. Wie die‐ ser feststellte, bildeten sich im Laufe der amerikanischen Geschichte eine Kultur des freiwilligen Engagements und zivilgesellschaftliche Strukturen heraus, die auf die einzigartige Entwicklung des Landes zurückzuführen sind: Einerseits brachte die räumliche Weite des ame‐ rikanischen Kontinents und seine vergleichsweise dünne Besiedlung, gerade im Landesinneren während der Expansion gen Westen im 19. Jahrhundert, nicht nur den vielbeschworenen amerikanischen Individualismus hervor - „every man for himself“ -, sondern auch einen Ethos des Zusammenhalts und der gegenseitigen Unterstützung in Notlagen seitens lokaler Bevölkerungen. Andererseits führte ge‐ rade die beträchtliche Unabhängigkeit der Menschen auf der Frontier zu der Einstellung des small government, der Befürwortung eines Regierungsstils, der Leben und Alltag der Einzelnen möglichst wenig reguliert. Heute erkennt man diese Einstellung u. a. an der heftig geführten Debatte um eine verpflichtende Krankenversicherung für alle, die in europäischen Ländern bereits lange Konsens ist, in den USA hingegen von vielen als Eingriff in die persönliche Entscheidungsfrei‐ heit bewertet wird. 222 6 Marktmodelle der Religion <?page no="223"?> Finke und Stark argumentieren also, dass das in den USA ausgeprägte Prin‐ zip der Freiwilligkeit entscheidend für die zunehmende religiöse Beteiligung im Laufe der amerikanischen Geschichte war, da der Wettbewerb auf dem durch das Establishment Clause deregulierten religiösen Markt mit dem Engagement der Bevölkerung konstant zugenommen habe. Dabei waren und sind laut den Autoren vor allem diejenigen Religionen erfolgreich, die ihren Anhängern strengere Verhaltensregeln abverlangen. Das klingt zunächst paradox - warum sollten gerade strenge religiöse Produzenten Zulauf erfahren, wenn sich Individuen auch für Religionen mit laxeren Regeln entscheiden können? Als Antwort beziehen sich Finke und Stark u. a. auf Vorarbeiten von Laurence Iannaccone (1994, s. weiter unten in diesem Abschnitt), um zu argumentieren, dass hohe Kosten einer Religion deswegen in Kauf genommen werden, weil die Nutzen entsprechend steigen. Schränken religiöse Konsumenten z. B. ihre Handlungsfreiheit den Regeln ihrer religiösen Gemeinschaft folgend ein, so nehmen sie die hierdurch entstehenden Kosten einerseits für die Zugehörigkeit zur Gruppe in Kauf, die nur durch diese Verhaltensanpassung erreicht werden kann. Andererseits tun sie dies auch für das Heilsversprechen, dass ihnen durch diese Zugehörigkeit und die strenge Befolgung der Gemeinschaftsregeln in Aussicht gestellt werde. Auf Grundlage ihres nutzenmaximierenden Verhaltens folgern sie, dass gerade weil die Kosten so hoch sind, der Nutzen noch höher sei. Finke und Stark setzen dem Beispiel der strengen Religion das der laxen Religion gegenüber, welche kaum Verhaltensanpassungen oder anderweitiges Engagement von ihren Mitgliedern als Voraussetzung für Gruppenzugehörigkeit und Heilsversprechen fordert. Die Autoren verbinden diesen Punkt mit einem weiteren Argument, nämlich, dass doktrinäre Liberalisierung zum Misserfolg führe: Je weniger Religionen auf konservativen Doktrinen beharren, desto weniger überzeugend seien sie. Auch dies klingt im ersten Moment paradox; mit Doktrin beziehen sich Finke und Stark aber vor allem auf die Gottesvor‐ stellung religiöser Produzenten. Je lebendiger und wirkmächtiger Gott in einer Religion aufgefasst werde, desto erfolgreicher sei sie darin, Anhänger zu gewinnen; aber „when religions conceive of God as distant, impersonal, and unresponsive, it is hard to justify why anyone should make significant sacrifices for their faith“ (Finke und Stark 2006, 251). Wieder kommen sie auf das nutzenmaximierende Verhalten religiöser Konsumenten zurück, denen diejenigen Religionen mit höheren Kosten - strenge Verhaltensregeln - auch höheren Nutzen versprechen: die exklusive Zugehörigkeit zu einer 6.1 Der economics of religion-Ansatz 223 <?page no="224"?> religiösen Gemeinschaft, die für ihre Entbehrungen mit der Erlösung durch einen aktiven, wirkmächtigen Gott belohnt werde. Seien die Baptisten und Methodisten mit diesem doktrinären Ansatz im 19. Jahrhundert erfolgreich gewesen, so habe der Erfolg der Methodisten später in dem Grad abgenom‐ men, in dem sie sich in ihrer Organisationsstruktur, ihren Vertretern, ihrem Produkt und ihrer Verkaufsstrategie immer mehr den Episkopalen und Presbyterianern angenähert haben. Religiöse Deregulierung, Pluralisierung und religiöse Vitalität In The Churching of America argumentieren die Autoren für die ameri‐ kanische Religionslandschaft, dass Deregulierung und Liberalisierung des Marktes zur Pluralisierung der Produzenten und somit zu steigender religiöser Vitalität führen. Daraus schließen sie allgemeiner, dass weil ein einziges religiöses Produkt die Bandbreite an konstanter Nachfragen nach Religion nie erfüllen kann, religiöse Wirtschaften auch nicht erfolgreich monopolisiert werden können. Auch in Ländern mit Staatsreligionen funktioniere eine religiöse Monopo‐ lisierung nicht: Gerade hier gebe es immer eine vom Monopol abweichende Nachfrage, die durch spezialisierte Angebote aktiviert werde, welche Ni‐ schen ausfüllen und Monopolbildungen entgegenwirken. Diese spezialisier‐ ten Angebote erhöhen die Motivation und das Engagement seitens der Mitglieder, sich aktiv einzubringen, während religiöse Monopole ob ihrer sicheren Stellung durch staatliche Unterstützung „träge“ würden und den Enthusiasmus ihrer Anhänger tendenziell eher dämpfen. Dieser auf die religiöse Anbieterseite ausgerichtete Ansatz („supply-side approach“) wird in einem kurzen Fachzeitschriftenbeitrag von Roger Finke und Laurence R. Ian‐ naccone (1993) nochmals speziell auf prägende Phasen und einschneidende Ereignisse in der amerikanischen Religionsgeschichte bezogen, darunter die Kolonialzeit, die beiden großen Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts (Great Awakenings - Phasen erhöhter religiöser Erfahrung und Bekehrungen) sowie das Aufkommen von Fernsehpredigern (Televan‐ gelists) und den sogenannten neuen religiösen Bewegungen. Der amerikanische Ökonom Laurence Iannaccone entwickelt den eco‐ nomics of religion-Ansatz mit Blick auf den Zusammenhang zwischen „Strenge“ und „Erfolg“ religiöser Gruppen weiter. In einem seiner zahlreichen grundlegenden Beiträge, dem Aufsatz „Why Strict Churches Are 224 6 Marktmodelle der Religion <?page no="225"?> Strong“ (1994), argumentiert er auf Basis bestehender empirischer Studien, dass religiöse Gruppierungen, die ihren Mitgliedern strengere Regeln aufer‐ legen, aus zwei Gründen erfolgreich sind, d. h, einen aktiven Mitgliederkern entwickeln und bewahren können: Erstens führen strengere Verhaltensregeln, z. B. in Bezug auf Ernährung, Familienplanung, Alkohol- und Tabakkonsum sowie Freizeitgestaltung, dazu, dass sogenannte Trittbrettfahrer (free riders) die Gruppe auf‐ grund dieser hohen Kosten verlassen. Trittbrettfahrer sind Individuen, die Vorteile aus dem religiösen Engagement anderer ziehen, ohne dabei ihren eigenen Arbeitsaufwand zu erhöhen. In Kirchen nehmen sie z. B. am Gottesdienst und anderen gemeinschaftlichen Aktivitäten teil, ohne darüber hinaus Zeit in die Gemeinde zu investieren oder ihr Geld zu spenden. Laut Iannaconne senkt ein höherer Anteil an Trittbrettfahrern den religiösen Enthusiasmus der Gruppe deswegen, weil die Motivation selbst der aktivsten Mitglieder, sich einzubringen, leidet, wenn sie sehen, dass andere sich überhaupt nicht engagieren und trotzdem profitieren. Diese Problematik trete in allen Organisationen, ob religiös oder nicht, auf, besonders aber dann, „wenn das betrachtete soziale Gebilde wenig überschaubar ist (z. B. hohe Mitgliederzahl, geringe Netzwerkdichte) (…) und kaum eine Möglichkeit besteht, die geleisteten Beiträge wie auch die damit verknüpften Resultate einzelnen Akteuren zuzuordnen“ (Braun 2013, 411). Kostenintensivere Anforderungen an Mitglieder schließen Trittbrettfahrer laut Iannaccone deswegen aus, weil sie nicht gewillt sind, gesteigerte Kosten zu tragen; z. B. möchten sie nicht auf einen alkoholintensiven Kneipenabend oder eine durchtanzte Nacht in der Disko verzichten und ziehen sich deswegen aus der religiösen Gemeinschaft zurück, an der sie ohne diese Kosten nicht mehr teilhaben können. Beispiele für „kostspielige“ Religionen sind das Mormonentum mit seinem Kaffee- und Alkoholverbot; die Sieb‐ ten-Tages-Adventisten, die kein Fleisch konsumieren dürfen; die Zeugen Jehovas, die Bluttransfusionen ablehnen; das orthodoxe Judentum, das koscheren Ernährungsregeln unterliegt und den Sabbat streng beachtet (hier beispielsweise keine Elektrizität verwenden darf, da dies als „Arbeiten“ gilt); der traditionelle Islam, der halal-Regeln und andere Gebote vorschreibt; und das römisch-katholische Priester-, Mönchs- und Nonnentum, welches jeweils dem Zölibat und teilweise einem einfachen und entbehrungsreichen Lebensstil verpflichtet ist. Zweitens werde das Engagement der verbleibenden Mitglieder durch strengere Regeln erhöht: Einerseits bilde sich nun ein fester 6.1 Der economics of religion-Ansatz 225 <?page no="226"?> Kreis engagierter Menschen, die in ihrer Motivation, sich in die Gruppe einzubringen, nicht mehr durch Trittbrettfahrer gehemmt werden. Ande‐ rerseits gewinnen gemeinsame Gruppenaktivitäten dadurch an Wert, dass die Auswahl an möglichen Alternativen eingeschränkt werde. Wenn der Kneipen- oder Diskobesuch untersagt sei und bei Nichtbeachtung der Verbote Ausschluss aus der Gemeinschaft drohe, würden diejenigen so‐ zialen Angebote umso interessanter, die erlaubt seien und noch dazu in der engen Gemeinschaft religiös Gleichgesinnter stattfinden. Religion, so betont Iannaccone, ist eine kollektiv hergestellte „Ware“, die für Konsumenten am zufriedenstellendsten und nachhaltigsten ist, wenn sie gemeinschaftlich konsumiert wird. Dabei gehe es nicht nur um stark vergemeinschaftete Sozialbeziehungen - ein hoher Grad an Vertrautheit mit der Gruppe und enges Vertrauen zwischen den Mitgliedern - sondern auch um das gemeinsame Erleben tiefgreifender religiöser Erfahrungen, darunter z. B. Wunderheilung, Zungenrede (auch „Glossolalie“ - unverständliches Sprechen im Gebet, das als besondere Nähe zu Gott interpretiert wird) und Prophezeiungen. Potenzielle Mitglieder müssen sich in strengen Kirchen also frühzeitig entscheiden, ob sie sich voll und ganz einbringen möchten oder ihnen die Kosten zu hoch erscheinen. Es gebe keine Möglichkeiten dazwischen, und somit keinen Platz für Trittbrettfahrer. Dabei vermutet Iannacconne, dass diejenigen Menschen, die über ein weniger enges soziales Netz außerhalb der religiösen Gruppierung verfügen, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit dazu bereit sind, die Kosten einer Mitgliedschaft auf sich zu nehmen, als diejenigen, die bereits über enge Sozialbeziehungen in anderen Kreisen verfügen. Verhaltensökonomische Studien (→ Kapitel 7.1) zeigen dem entgegengesetzt allerdings auf, dass in Kontexten, in denen Sanktionsmechanismen (in Form von Bestrafungen) von Regelbrechern (hier Trittbrettfahrern) zur Verfügung stehen, sich „ein Gleichgewichtszu‐ stand einstellt, in dem volle Kooperation herrscht und keine Bestrafungen vollzogen werden“ (Koch 2014, 98). Dies stellt Iannaccones berühmte These in Frage und sollte im Weiteren im Hinterkopf gehalten werden. Iannaccone baut sein Argument auf den Vorarbeiten des amerikanischen Theologen Dean Kelley auf, der in seinem 1972 veröffentlichten Buch Why Conservative Churches Are Growing zeigte, dass nicht konservative, sondern besonders liberal-progressive amerikanische Denominationen seit dem Zweiten Weltkrieg an Mitgliedern verlieren, während konservative Gruppen wachsen. Unter Einbezug der RCT weitet Iannacconne diese These aus, indem er gesteigerte Kosten durch erhöhte Strenge fokussiert. 226 6 Marktmodelle der Religion <?page no="227"?> Dies erlaubt es, unterschiedliche religiöse Gruppierungen unabhängig von inhaltlichen, formalen oder historischen Unterschieden anhand ihrer Fähig‐ keit zu vergleichen, die Trittbrettfahrerproblematik zu minimieren und das Engagement ihrer Mitglieder zu maximieren. Obwohl das Argument auf den ersten Blick auch aus einer RCT-Perspektive nicht intuitiv erscheint - es geht ja eigentlich um Kostensenkung und Nutzenmaximierung, warum also würden Individuen höhere Kosten in Kauf nehmen, wenn es religiöse Produzenten gibt, die Produkte mit geringeren Kosten anbieten? - argu‐ mentiert Iannaccone, dass höhere Kosten deswegen akzeptiert werden, weil die Nutzenmaximierung, die aus der Mitgliedschaft in strengen Kirchen resultiert, noch höher ist. Diskussionsfrage | Aus welchen religiösen Traditionen kennen Sie die Trittbrettfahrerproblematik? Wird die Problematik darin gelöst, und wenn ja, wie? Ist Iannaccones Theorie auf Ihre Bespiele anwendbar oder nicht? Dabei betont Iannaccone, dass Kosten durchaus auch zu hoch angesetzt werden und Mitglieder sich daraufhin abwenden können. Es müsste ein „optimal level of strictness“ (1994, 1202), ein optimales Strengeniveau, gefunden werden, damit der Nutzen der Mitgliedschaft ihre Kosten dauer‐ haft überwiege. Dazu gehören z. B. auch Alternativangebote für untersagte Aktivitäten, die sich relativ eng an diesen orientieren: Wenn z. B. ein Kneipenabend aufgrund des Verbots von Alkoholkonsum nicht möglich ist, sei ein Abend mit Gesellschaftsspielen, einem (angemessenen) Film oder gemeinsamen Musizieren ein sinnvoller Ersatz. Iannaccone fasst zusammen: „To remain strong, a group must maintain a certain distance or tension between itself and society. But maintaining this ‚optimal gap‘ means walking a very fine line in adjusting to social change so as not to become too deviant, but not embracing change so fully as to lose all distinctiveness“ (1994, 1203). - Als Vertreter der RCT und Mitbegründer der Subdiziplin der Religions‐ ökonomie betont Iannaccone, dass er zwar nicht zweifelsfrei sagen kann, ob Individuen sich wirklich rational verhalten, dass aber die RCT in den Sozialwissenschaften sehr fruchtbare Anwendung gefunden hat (1992, 124). In seiner breiten Bearbeitung des Bereichs der Religionsökonomie wirft er mit der RCT zahlreiche Fragen auf, u. a., wie sich religiöse „Waren“ von säkularen unterscheiden und warum religiöse Güter und Dienstleistungen in der Regel kollektiv produziert und konsumiert, statt einzeln abgepackt 6.1 Der economics of religion-Ansatz 227 <?page no="228"?> und verkauft werden. Dabei versteht er religiöse Waren als „Haushalts‐ waren“ (1992, 125), also als Güter und Dienstleistungen, die Haushalte für ihren eigenen Konsum herstellen, darunter konkrete Dienstleistungen wie Mahlzeiten und abstrakte Güter wie Zuneigung (→ Kapitel 3.2). Iannaccone betont, dass religiöse Güter für Konsumenten risikobelastet sind, da sie einen Vertrauensvorschuss benötigen: Ihre Existenz und Wirkkraft können im Diesseits nicht mit absoluter Sicherheit bestätigt werden, weder durch eigene Erfahrungen noch durch die Erfahrungsberichte anderer. Aus diesem Grund seien religiöse Strukturen meistens gemeinschaftlich organisiert, da Menschen leichter Vertrauen zu ihnen bekannten Personen fassen als zu Fremden. Der Erfolg „strenger“ Kirchen Laut Iannaccone führt ein „optimales Strengeniveau“ religiöser Gemein‐ schaften dazu, dass Trittbrettfahrer aussteigen, da sie keinen Vorteil aus ihrer Mitgliedschaft ziehen, und die verbleibenden Mitglieder trotz der relativen Kosten strenger Regeln einen erhöhten Nutzen aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl im Diesseits sowie dem Heilsversprechen im Jenseits ziehen. Die bereits mehrfach genannten amerikanischen Soziologen Rodney Stark und Roger Finke veröffentlichten im Jahr 2000 Acts of Faith: Explaining the Human Side of Religion. Diese Monografie stellt den economics of religion-An‐ satz, wie er in den verschiedenen, hier bereits erwähnten Vorarbeiten der Autoren entwickelt wurde, strukturiert und theoretisch umfassend vor. Das Buch ist in zehn Kapitel untergliedert. Die ersten drei tragen den Obertitel „Paradigms in Conflict“ und fassen die Vorzüge des rational choice-Ansatzes zum Untersuchen religiöser Einstellungen sowie die mittlerweile bekannte Kritik an der Säkularisierungsthese zusammen. Dabei erklären die Autoren nicht nur die Annahme zu einem „Mythos“, dass Religion in der Moderne abnimmt, sondern auch die Vorstellung, dass frühere Generationen frommer waren als die heutige Gesellschaft. Sie beziehen sich dabei auf statistische Daten und historische Fakten, um beispielhaft die Geschichte der angeblich so umfangreichen Christianisierung Europas kritisch unter die Lupe zu neh‐ men. Dabei zeigen sie auf, dass das Christentum eine deutlich begrenz‐ tere Reichweite im spätantiken und mittelalterlichen Europa hatte, als üblicherweise angenommen wird. Ferner argumentieren die Autoren, 228 6 Marktmodelle der Religion <?page no="229"?> dass Religion und Wissenschaft in der Moderne keine konfligieren‐ den Weltbilder darstellen, wie ebenfalls oft behauptet wird, sondern dass gerade auch viele Naturwissenschaftler religiös sind - trotz oder wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. So wird die zentrale Vorannahme des Bandes aufgebaut, dass Religion in modernen Gesellschaften weiterhin große, wenn nicht gar zunehmende, Bedeutung genießt. Im Rest des Bandes werden die Kernkomponenten ihres religionsöko‐ nomischen Ansatzes vorgestellt. Dazu stellen die Autoren (ähnlich wie schon in A Theory of Religion) insgesamt 99 Thesen („propositions“) auf, die logisch aufeinander aufbauen und durch erklärende Fließtexte sowie abgesetzte Definitionen erläutert werden. Das vierte und fünfte Kapitel widmen sich der Mikroebene des Religiösen, indem sie individuelle religiöse Grundhaltungen, Motivationen und Entscheidungen zu erklären versuchen. Dabei definieren sie Religion als „very general explanations of existence, including the terms of exchange with a god or gods“ (91) und argumentieren, dass die Investitionen von Individuen in den Austausch mit einem Gott oder Göttern umso höher sind, je verlässlicher diese Götter sich in der Vorstellung der Einzelnen darstellen. Um „otherworldy rewards“, also Belohnung für das Jenseits, zu erhalten, gingen Individuen ein verlängertes, erweitertes und sogar exklusives Austauschverhältnis ein, das dann wiederum die Entstehung religiöser Organisationen begünstige, die hohes Engagement von ihren Mitgliedern fordern. Die religiösen Erklä‐ rungen, die Organisationen ihren Mitgliedern anbieten, seien allerdings risikobehaftet, da Individuen sich ihres Wahrheitsgehalts nicht sicher sein können. Die Teilnahme an religiösen Ritualen und insbesondere mystische Erfahrungen steigere Vertrauen in religiöse Erklärungsangebote, während Gebete und das Erleben von „Wundern“ - genauer gesagt: Phänomenen, die als wunderhaft interpretiert werden - Individuen enger an einen Gott oder Götter binden. Um die Bindung an religiöse Organisation weiter zu diskutieren, greifen Stark und Finke die Begriffe des sozialen und religiösen Kapitals auf, die auf Pierre Bourdieu (1987, 2000) zurückgehen (→ Kapitel 6.2). Je größer das Sozialkapital, hier als „interpersonal attachments“ (118) definiert, und das religiöse Kapital, hier als „the degree of mastery of and attachment to a particular religious culture“ (120) definiert, einer Person in Bezug auf eine religiöse Gemeinschaft, desto unwahrscheinlicher sei es, dass diese Person die Religion wechsele. Die Autoren kritisieren an dieser Stelle die weit verbreitete Annahme, dass es in bestimmten Religionen immer wieder zu Massenkonversionen kommt; 6.1 Der economics of religion-Ansatz 229 <?page no="230"?> diese seien statistisch nicht belegbar und aus psychologischer Perspektive untertheoretisiert. Als Gegenbeispiel ziehen sie das rasante Wachstum der Mormonen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA heran, das sich durch enge zwischenmenschliche Beziehungen und eine große Offenheit auch Nichtmitgliedern gegenüber ausgebreitet habe, statt wegen seiner zentralen Schrift, des Book of Mormon. So betonen die Autoren, dass die Wahl religiöser Zugehörigkeit auf Grundlage familiärer und freundschaftlicher Bande mindestens ebenso „rational“ ist wie auf Grundlage religiöser Inhalte. Die nächsten beiden Kapitel nehmen mit einer Analyse der Dynamiken innerhalb religiöser Gemeinschaften die Mesoperspektive in den Fokus. Hier greifen Stark und Finke die oben erläuterte Unterscheidung zwischen Kirchen und Sekten auf (→ Kapitel 6.1.2), indem sie von unterschied‐ lichen Spannungsverhältnissen einer religiösen Gemeinschaft zu ihrer Umwelt ausgehen. Kirchen stehen dabei in einem geringen Span‐ nungsverhältnis zu ihrer Umwelt - die Kosten, die sie ihren Mitgliedern ab‐ verlangen, seien eher niedrig -, während Sekten in einem hohen Spannungs‐ verhältnis zur Umwelt stehen - ihre Regeln verlangen Mitgliedern hohe Kosten ab, da sie typischerweise im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der Mehrheitsgesellschaft stehen. In diesem und in weiteren Punkten folgen die Autoren Iannaccones oben erläuterter Argumentation zum Erfolg strenger Kirchen. Auch die Trittbrettfahrerproblematik greifen sie auf und betonen, dass eine optimale Balance zwischen Kosten und Nutzen gefunden werden muss, um zu Wachstum zu führen. Ein höheres Spannungsverhältnis mit der Umwelt führe in der Regel zu Wachstum, ein niedriges Spannungsverhältnis zu Mitgliederverlust; Wachstum sei für Religionen insofern aber auch „ge‐ fährlich,“ als dass der Zusammenhalt in größeren Gruppierungen schwächer sei als in kleineren Gemeinschaften. Je weniger eng die Beziehungen der Mitglieder untereinander, desto anfälliger die Gruppierung für sinkendes Engagement, Trittbrettfahrer und Zerfall. Es komme aber noch ein zweiter Faktor hinzu, der die Gruppendynamik bei Wachstum beeinflusse, und zwar der zunehmende Verwaltungsanteil. Je größer die Verwaltung, desto zentralisierter und standardisierter die Abläufe in einer religiösen Organi‐ sation. Religiöse Autorität verlagere sich in die Hände professioneller Führungskräfte, die die eigene Entscheidungsmacht immer weiter aus‐ bauen und die Organisation in wachsendem Maße kontrollieren. Religiöse Motive spielen dann nur noch eine untergeordnete Rolle und werden von der Organisationslogik, die in erster Linie auf Wachstum ausgelegt sei, 230 6 Marktmodelle der Religion <?page no="231"?> übertrumpft. Dadurch werde das Spannungsverhältnis zur Umwelt immer kleiner und das Engagement der Mitglieder weniger ertragreich. Diese theoretische Argumentation, deren Vorläufer im oben diskutierten A Theory of Religion (Stark und Bainbridge 1987) erkenntlich sind, wenden die Autoren im folgenden Kapitel auf das Beispiel des Zweiten Vatika‐ nischen Konzils der römisch-katholischen Kirche an. Das 1962-1965 abgehaltene Konzil, eine Versammlung aller Bischöfe unter der Führung von Papst Johannes Paul II, verabschiedete eine Reihe von Liberalisierungen innerhalb der Kirche. Nicht nur wurden ökumenische und interreligiöse Initiativen ausgebaut und Änderungen in der Liturgie der Heilige Messe vorgenommen, darunter die Tatsache, dass sie nicht mehr nur auf Latein, sondern auch in den Landessprachen abgehalten werden durfte. Vor allem wurde das Erreichen von „Heiligkeit“ nun allen Mitgliedern in Aussicht gestellt, nicht nur denen, die als Priester, Ordensbrüder oder Nonnen einer dezidiert religiösen Berufung nachgingen. Laut Stark und Finke mündeten diese Reformen deswegen in einer deutlichen Abnahme z. B. an der Zahl römisch-katholischer Nonnen in den USA, da die Nutzen eines entbehrungsreichen Lebens im Nonnenorden die Kosten nicht mehr adäquat aufwogen. Plötzlich hätten Nonnen keine institutionell garantierte Aussicht auf erhöhte „Heiligkeit“ mehr durch die Opfer gehabt, die sie der Kirche mit ihrem Lebensstil erbrachten; dieselbe „Heiligkeit“ konnte nun auch von einem „normalen“ Kirchenmitglied erwartet werden, das wesentlich niedrigere Kosten in Kauf nehmen musste. Ähnlich sei es vielen Priestern gegangen. Durch die Liberalisierungen des Zweiten Vatikanischen Konzils sei das Spannungsverhältnis der römisch-katholischen Kirche zu ihrer Umwelt also deutlich gesenkt worden, was eine Mitgliedschaft für stark investierte Mitglieder, die hohe Kosten aufgrund der vergleichsweise höheren Nutzen in Kauf nahmen, nicht mehr attraktiv gemacht habe. Diskussionsfrage | Welche Beispiele für innerreligiöse Liberalisie‐ rungen fallen Ihnen außerhalb des Christentums ein? Haben diese Liberalisierungen ähnliche Konsequenzen mit sich gebracht wie das Zweite Vatikanische Konzil in der römisch-katholischen Kirche? In den letzten drei Kapiteln des Buches arbeiten die Autoren ihren theo‐ retischen Ansatz weiter aus. Der Begriff der religious economy wird nun formal definiert als bestehend aus „all of the religious activity going on in any society: a ‚market‘ of current and potential adherents, a set of 6.1 Der economics of religion-Ansatz 231 <?page no="232"?> one or more organizations seeking to attract or maintain adherents, and the religious culture offered by the organization(s)“ (193). Dieser religiöse Markt besteht laut den Autoren aus verschiedenen „religiösen Nischen: “ Marktsegmenten, in denen sich Mitglieder und Interessierte mit geteilten religiösen Präferenzen sammeln. Sie argumentieren, dass sich religiöser Wandel nicht in erster Linie dadurch vollzieht, dass Anhänger von einer religiösen Gemeinschaft in eine andere wechseln, sondern dadurch, dass religiöse Organisationen sich von einer Nische in eine andere verlagern. Die Autoren gehen von sechs religiösen Nischen aus, die sich hinsichtlich ihrer Größe und ihres Spannungsgrades zur Umwelt unterscheiden. Die beiden größten seien die moderate und die konservative Nische; sie besetzen die Mitte des Spektrums von sehr niedriger zu sehr hoher Spannung zur Umwelt. Deutlich kleiner seien die liberale Nische, deren Spannungs‐ verhältnis niedriger sei als das der moderaten Nische, und die strenge Nische, deren Spannungsverhältnis höher sei als das der konservativen Nische. Die beiden kleinsten seien die ultraliberale Nische mit ihrem sehr niedrigen Spannungsverhältnis und die ultra strenge Nische mit ihrem sehr hohen Spannungsverhältnis zur Umwelt. In dieser „Nischenlandschaft“, so die Autoren, vollzieht sich seitens religiöser Organisationen der Wandel von der Sozialform Sekte zur Sozialform Kirche. Die meisten religiösen Gruppierungen entstehen als Sekten, also als kleine Gemeinschaften, die in einem hohen Spannungsverhältnis zur Umwelt stehen. Im Laufe ihres Wachstums werde dieses Spannungsverhältnis vermindert, wodurch sich eine Sekte mit der Zeit aus der ultrastrengen Nische in die strenge Nische verlagere. Je weiter das Spannungsverhältnis abnehme, desto mehr wandele sie sich in eine Kirche um, die zuerst noch konservativ, dann moderat und am Ende zunehmend liberal geprägt sei. An diesem Punkt höre das Wachstum auf, da die Spannung zur Umwelt so niedrig sei, dass eine Mitgliedschaft nicht mehr als lohnenswert angesehen werde. Es ist wichtig zu betonen, dass der Nischenbegriff hier selbstverständlich keine räumliche Dimension be‐ inhaltet, sondern rein analytisch zu verstehen ist. Die Verlagerung von einer Nische in die nächste ist eine Abstraktion und beschreibt eine veränderte kategorische Zuordnung des Angebots, dass eine religiöse Organisation zur Verfügung stellt. Hier wird der angebotsorientierte Ansatz des economics of religion-Ansatzes sowie seine These deutlich ersichtlich, dass Pluralismus der „ursprüngliche“ und „normale“ Zustand religiöser Märkte ist, wenn sie nicht reguliert werden. 232 6 Marktmodelle der Religion <?page no="233"?> Religiöse Nischen Stark und Finke unterscheiden in Acts of Faith sechs religiöse „Nischen“, die als Entwicklungsstadien auf einem Spektrum von Sekten über Kirchen zu liberalen religiösen Gruppierungen zu verstehen sind: die ultrastrenge und strenge Nische (Typus Sekte), die konservative und moderate Nische (Typus Kirche) und die liberale und ultraliberale Nische (Typus liberale religiöse Gruppierung). Im darauffolgenden Kapitel ziehen die Autoren abermals historische Daten und statistische Analysen heran und nehmen einerseits die USA, anderer‐ seits Westeuropa in den Blick. Zusätzlich beziehen sie Polen sowie die westkanadische Provinz Quebec ein und diskutieren den Katholizismus separat, um ihre übergeordneten Argumente zu untermauern: Religiosität sei in den USA deshalb höher, weil der religiöse Markt durch die strengere Trennung von Staat und Kirche deregulierter sei und somit vielfältigere Angebote zulasse. Die engere Verbindung von Staat und Kirche in man‐ chen Ländern Westeuropas, darunter auch Deutschland, Italien, und den skandinavischen Ländern, unterbinde Vielfalt und ein breiteres religiöses Angebot und mache die Großkirchen „träge“, während der religiöse Markt im laizistischen Frankreich ohnehin sehr stark reguliert sei. Aber auch für Länder und Regionen, in denen eine geringe religiöse Vielfalt und trotzdem eine hohe religiöse Vitalität vorhanden ist, hat der Ansatz laut den Autoren eine Erklärung: In Quebec, Polen und Irland z. B. sei der Katholizismus so wichtig für viele Menschen (gewesen), da er mit einem mehr oder weniger offenen Widerstand gegen den Staat einhergehe bzw. gegangen sei: gegen die anglophonen Regierungskräfte in Quebec, die ehemals kommunistische Regierung in Polen und die britische Staatsmacht in Irland. Konflikt als Motor für religiöse Vitalität kann laut den Autoren also die Rolle des Wettbewerbs in gewissen Fällen ersetzen. Trotz der im nächsten Abschnitt diskutierten fundamentalen Kritik am economics of religion-Ansatz wird derselbe immer wieder aufgegriffen, an‐ gewandt und im Rahmen verschiedener neuerer Arbeiten weiterentwickelt, insbesondere auch hinsichtlich seiner RCT-Grundlagen (z. B. McCleary 2011, Iyer 2016, Carvalho et al. 2019). 6.1 Der economics of religion-Ansatz 233 <?page no="234"?> 6.1.4 Kritik am economics of religion-Ansatz Der economics of religion-Ansatz wird von den hier diskutierten Autoren stark verfochten und von anderen Religionssoziologen ebenso stark wie grundsätzlich kritisiert. Im Zentrum der Kritik steht zum einen die rational choice-Theorie, die wie oben erläutert (→ Kapitel 6.1.1) vom Homo oecono‐ micus als immerzu rational handelnden - d. h. nur auf die eigene Nutzen‐ maximierung fokussierten - Individuum ausgeht. Dieser Ansatz wird als ahistorisch und akulturell kritisiert, da ihm als Typus die Verankerung in bestimmten historischen Phasen bzw. kulturelleren Kontexten fehle und er somit empirisch nicht belegt werden könne. Die häufigste Kritik am Modell des Homo oeconomicus lautet, dass auf absolute Rationalität beruhende Entscheidungen unrealistisch seien, da Menschen nie aus rein rationalen Gründen handeln. Man stelle sich als Beispiel vor, dass eine Jugendliche regelmäßig eine ältere Dame aus ihrer Gemeinde beim Einkaufen und Hund Ausführen unterstützt, ihr vorliest oder sich einfach nur mit ihr unterhält. Die Jugendliche mag oft keine rechte Lust haben oder sich müde fühlen; rein „rational“ würde sie die Entscheidung treffen, ihre Zeit anders zu verbringen, z. B. mit Schlafen. Hier zeigt sich allerdings eine gewisse Flexibilität in der RCT, die auf einer Erweiterung des klassischen Homo oeconomicus in der Soziologie beruht: Nicht nur eigennützige, sondern auch „uneigennützige Präferenzen“, darunter Altruismus, Fairness und soziale Anerkennung, können als Entscheidungsgrundlage dienen (Braun 2013, 403; s. auch → Kapitel 7). Die Jugendliche schätzt den Nutzen, die ältere Dame zu unterstützen, höher als den Nutzen eines Mittagsschlafes ein, da sie durch ersteres an Anerkennung in der Gemeinde und ihrer Familie gewinnt, wäh‐ rend dies bei letzterem nicht der Fall ist. In diesem Zusammenhang betonen Kritiker der RCT, dass es wichtig ist, „reine“ Rationalität vom Nutzwert bzw. der Nutzenmaximierung zu unterscheiden (z. B. Boudon 2009). Aus diesem Grund ergänzt die Ökonomie ihre Modellierung mittlerweile um soziale Präferenzen (s. → Kapitel 7.1), fasst das Individuum also nicht nur als seinen Eigennutzen maximierend, sondern auch als sich für seine soziale Umgebung interessierend auf. Das als Reaktion auf die Kritik am Homo oeconomicus entwickelte, „abgeschwächte“ Konzept der bounded rationality (grundlegend Simon 1955; s. auch March 1978) geht davon aus, dass Individuen nur begrenzt rational handeln, da ihnen zum Fällen von Entscheidungen entweder nur unvollständige Informationen vorliegen oder sie aufgrund von Kapazitäts‐ 234 6 Marktmodelle der Religion <?page no="235"?> beschränkungen vollständig vorliegende Informationen nur unvollständig verarbeiten können. Anders ausgedrückt: Menschen können laut der boun‐ ded rationality nie „vollkommen“ rational und nutzenmaximierend handeln, sondern nur insofern sie die Konsequenzen einer Entscheidung aus ihrer individuellen Perspektive überblicken. Darauf gehen wir in → Kapitel 7 zur Verhaltensökonomie und der Neuen Institutionenökonomik genauer ein; an dieser Stelle sei nur erwähnt, dass verschiedene Modellierungsversuche für das Konzept der begrenzten Rationalität entwickelte wurden, es bislang aber keine umfassende Theorie dazu gibt (Braun 2009). Ein zentraler Kritikpunkt am economics of religion-Ansatz selbst ist die Grundannahme von Religion als anthropologischer Konstante. Einerseits hat Religion in der Moderne an Bedeutung verloren, wenn sie auch nicht vollends verschwindet, und die Anzahl der Menschen, die sich selbst als agnostisch oder atheistisch bezeichnen (sich also nicht sicher sind, ob es einen Gott oder Götter gibt bzw. die überzeugt sind, dass es ihn oder sie nicht gibt), nimmt stetig zu (Bruce 2002). Warum wird ihre angeblich latent vorhandene Nachfrage an Religion nicht von einem der diversen Angebote religiöser Produzenten aktiviert? Andererseits bietet der Ansatz keine Erklärung für die Frage, warum tiefreligiöse Menschen teilweise ein so großes Vertrauen in den Nutzen ihres Glaubens entwickeln. Warum nehmen sie dafür sehr hohe Kosten im Diesseits in Kauf, ohne sich ihrer Belohnungen im Jenseits wirklich sicher sein zu können? Somit werden auch grundlegende kulturelle Unterschiede, die religiöse Märkte jeweils kontextspezifisch prägen, nicht berücksichtigt. Damit zusammenhängend steht auch der Kritikpunkt, dass der Ansatz keinen Raum für säkulare Produzenten als Konkurrenz für religiöse Produ‐ zenten lässt. Dass säkulare Angebote als Alternative zu religiösen Angebo‐ ten angenommen werden, ist ein zentrales Charakteristikum der Moderne (Willems et al. 2013), findet hier aber kaum Berücksichtigung. Aus ökono‐ mischer Perspektive ist Nachfrage (z. B. nach Religion) immer von den Präferenzen der Konsumenten abhängig, und wenn sich deren Präferenzen ändern (z. B. hinsichtlich nichtreligiöser Produkte und Dienstleistungen), maximieren sie ihren Nutzen auf Basis der neuen Präferenzen, was die Konstanz der Nachfrage (nach Religion) durchaus beeinflusst (indem sie abnimmt). Auch hier zeigt sich die Problematik der theoretischen Voran‐ nahme von Religion als anthropologischer Konstante: Menschen, die sich auf der Suche nach Sinnfragen säkularen Produzenten zuwenden, wie z. B. der Wissenschaft oder der Philosophie, werden vom economics of 6.1 Der economics of religion-Ansatz 235 <?page no="236"?> religion-Ansatz nicht berücksichtigt. Dabei ist es erwiesen, dass Religion für immer mehr Menschen nicht bzw. nicht alleine die grundsätzlichen Fragen des menschlichen Lebens zu beantworten vermag, sondern allenfalls nur noch als eine Alternative unter mehreren herangezogen wird (Bruce 2002). Pickel (2011) vermutet kulturelle Gründe hinter den tiefgreifenden theoretischen und konzeptuellen Unterschieden zwischen dem economics of religion-Ansatz und der Säkularisierungsthese, da die Verfechter der jeweiligen Ansätze selbst sehr von den religiös-kulturellen Kontexten, in denen sie sozialisiert wurden, geprägt sind. Dem hinzuzufügen ist ferner, dass die Annahme einer „latenten“ Nach‐ frage und deren Aktivierung durch bestimmte Angebote den Erklärungs‐ ansatz aus den Bereichen der Ökonomie und der Religionssoziologie in die Psychologie verlagert. Hier werden die Grenzen des ökonomischen und religionssoziologischen Erklärungspotentials des Ansatzes also ersicht‐ lich und die große Frage nach den Motivationen für religiöses Handeln psychologisiert, statt modellhaft ökonomisch begründet zu werden. Da‐ mit zusammenhängend ist auffallend, wie unpräzise das Konzept des sup‐ ply-side-Ansatzes bleibt. Der Fokus auf die Angebotsseite klammert die grundlegende ökonomische Prämisse aus, dass Angebot und Nachfrage in einem direkten Verhältnis stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Im economics of religion-Ansatz wird diese modellhafte Wechselwirkung ignoriert, indem sowohl die Nachfrage als auch das Angebot als unabhängig voneinander konstant gesetzt werden. Die Kosten und Nutzen gerade der Angebotsseite, der religiösen Produzenten, sowie ihr nutzenmaximierendes Verhalten bleiben unterbelichtet. Der Ansatz müsste der Vollständigkeit halber um diese Dimension ergänzt werden. Des Weiteren wird der Ansatz dafür kritisiert, dass er wegen mangelnder empirischer Nachweise kaum über das US-amerikanische Modell hinaus und somit regional nur äußerst begrenzt anwendbar ist. Im deutschsprachigen Raum sei in diesem Zusammenhang allen voran der Religionssoziologe Detlef Pollack erwähnt, der zusammen mit Gergely Rosta in der breit angelegten, quantitativen Studie Religion in der Moderne: Ein internationaler Vergleich (2015) die Entwicklung von Religion in der Moderne in verschie‐ denen Ländern der Welt untersucht. Im Kapitel zu den USA argumentieren die Autoren, dass der Grad der religiösen Vielfalt hier mitnichten so hoch ist, wie von den Vertretern des economics of religion-Ansatzes behauptet, da die einzelnen protestantischen Denominationen - Methodisten, Lutheraner, Presbyterianer, Baptisten, Episkopale usw. - sich so sehr ähneln, dass man 236 6 Marktmodelle der Religion <?page no="237"?> nicht überzeugend von religiöser Pluralität sprechen könne. Hinzu komme, dass die amerikanische Bevölkerung nur von einem geringen Grad an religiöser Durchmischung geprägt, ja eigentlich sehr homogen strukturiert sei: „In zwei Drittel der über 3000 Counties [Verwaltungseinheiten ähnlich deutscher Landkreise, MF&KR] gehören mehr als 50 % aller Konfessionsan‐ gehörigen einer einzigen Religionsgemeinschaft an, wird das religiöse Feld also von einer einzigen Denomination dominiert“ (Pollack und Rosta 2015, 367). Auch argumentieren die Autoren auf Basis ihrer Statistiken, dass das religiöse Engagement unter Amerikanern eher abnimmt als zunimmt, wenn sie in ihrer Nachbarschaft, auf der Arbeit oder im Freundeskreis Kontakt mit Menschen aus anderen Religionsgemeinschaften haben: „In den USA bestärkt religiöse Homogenität tendenziell eher religiöse Vitalität, [da dort] Kontakte zu Andersgläubigen stärker als Infragestellung der eigenen Religiosität wahrgenommen werden als in säkularen Ländern“ (371). Pollack und Rosta sehen damit Peter L. Bergers Argument als erwiesen, dass religiöse Pluralisierung zwangsläufig zur Schwächung von Religionen führt, da ihre Plausibilitätsstrukturen mit wachsender Vielfalt in Frage gestellt werden (Berger 1967). Der economics of religion-Ansatz irrt laut Pollack und Rosta nicht nur in seiner Annahme, dass Vielfalt Religiosität bestärkt, sondern auch darin, dass Deregulierung religiösen Wettbewerb schafft. Der umfangreiche Län‐ dervergleich ihrer Studie zeigt, dass „der Grad der staatlichen Einflussnahme auf kirchliche Angelegenheiten mit dem Niveau der Religiosität in einem Land nur schwach oder gar nicht“ korreliert (Pollack und Rosta 2015, 373). Vertreter des economics of religion-Ansatzes sprechen mit Blick auf die sinkenden Religiositätsraten in vielen Ländern (West-)Europas von einem europäischen religiösen Exzeptionalismus: In den betroffenen Ländern seien religiöse Produzenten aufgrund der fehlenden Trennung zwischen Staat und Kirche entweder nicht fähig, adäquat auf religiöse Nachfrage zu reagieren bzw. sie zu aktivieren, oder dieser Prozess dauere so lange, dass sich z. B. seit dem Aufkommen nahöstlicher Spiritualität und anderen neuen religiösen Bewegungen seit den 1960er-Jahren in Westeuropa noch keine erkennbaren Veränderungen abgezeichnet hätten (Stark und Finke 2000). Dem halten Pollack und Rosta entgegen, dass Deregulierung ganz im Gegensatz eher zu Säkularisierung als zu religiöser Vitalität führt; in den USA seien zahlreiche andere Gründe zur Erklärung der hohen Religiosität heranzuziehen statt der Trennung zwischen Staat und Kirche, darunter das Ausmaß sozialer Ungleichheit, das puritanische und evangelikale Erbe, die Zuwanderung, die 6.1 Der economics of religion-Ansatz 237 <?page no="238"?> religiöse Durchdringung der Populärkultur sowie die „innere Struktur der amerikanischen Frömmigkeit,“ welche sich „Gott als Person, als ein die Welt beeinflussendes Wesen vor[stellt], das man erfahren kann und mit dessen Wirkung man rechnen muss“ (379). In seinem gleichermaßen übersichtlichen und aufschlussreichen Beitrag „Religion und Wirtschaft“ (2018) merkt der Wirtschaftshistoriker Martin Lutz darüber hinaus unter Bezugnahme u. a. auf den Religionssoziologen Gert Pickel zum einen an, dass der economics of religion-Ansatz zu sehr auf traditionale Auffassungen von Religion, insbesondere formale Kirchen‐ mitgliedschaft und messbare Gemeindeaktivität, begrenzt ist und die Indi‐ vidualisierung und Pluralisierung des religiösen Feldes nicht ausreichend in Betracht zieht. Dadurch schwinge zum zweiten eine normativ-bejahende Komponente bzgl. religiösen Wettbewerbs mit: Das Argument, dass Wett‐ bewerb erstrebenswert da wohlfahrtssteigernd sei, sei empirisch nicht belegt und ließe sich „leicht als politisches Plädoyer für Deregulierung und Privatisierung instrumentalisieren“ (Lutz 2018, 723). Kritik am economics of religion-Ansatz ● Die RTC bzw. das Modell Homo oeconomicus seien ahistorisch und akulturell ● Das Voraussetzen von Nachfrage nach Religion als anthropologi‐ scher Konstante bleibe ökonomisch unbegründet ● Der Fokus auf die Angebotsseite klammere die grundlegende öko‐ nomische Prämisse aus, dass Angebot und Nachfrage in wechselsei‐ tigem, modellhaftem Verhältnis stehen ● Der Ansatz sei auf Basis von Daten aus den USA entwickelt worden, werde durch Daten aus anderen Regionen aber grundlegendend widerlegt ● Die Gleichsetzung von Religion und Kirchenmitgliedschaft sei ver‐ kürzt und schließe religiöse Individualisierung aus Wir lassen den economics of religion-Ansatz nun hinter uns und wenden uns im nächsten Teilkapitel der Feldtheorie Pierre Bourdieus zu, der ebenfalls von einer Wettbewerbsarena als Handlungsrahmen ausgeht, diese aber grundsätzlich anders auffasst und ausgestaltet. 238 6 Marktmodelle der Religion <?page no="239"?> 6.2 Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ Auch der 1930 im Südwesten Frankreichs geborene und 2002 in Paris verstorbene Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu geht von der ökonomischen Grundlage allen sozialen Handelns aus, allerdings nicht von subjektiv ökonomischen Kalkulationen (wie in der rational choice-Theorie), sondern von objektiv ökonomischem Handeln durch das Zusammen‐ treffen von Habitus und Feld. Seine dezidiert religionssoziologischen Arbeiten sind in ihrem Umfang zwar begrenzt, in ihrer theoretisch-konzep‐ tuellen Aussagekraft aber umso einflussreicher für die Sozialwissenschaften gewesen. Bourdieus Feldtheorie geht von unterschiedlichen sozialen Feldern als sozioräumliche Arenen aus, in welchen Akteure in unterschiedlichen sozialen Positionen verortet sind und je nach den Regeln eines bestimmten Feldes - z. B. des religiösen, politischen oder des Feldes der Kunst - um Einfluss konkurrieren. Einfluss bzw. Macht fasst Bourdieu in dem Begriff „Kapital; “ und es ist gleichzeitig die Menge an schon vorhandenem Kapital, welches die sozialen Positionen der Akteure definiert. Er unterscheidet vier Kapitalsorten (Bourdieu 1983): Kapitalsorten nach Bourdieu ● Soziales Kapital besteht aus dem Netzwerk von sozialen Bezie‐ hungen, über die ein Akteur verfügt und als Ressource einsetzen kann. ● Ökonomisches Kapital besteht aus materiellen Ressourcen, darunter Einkommen, finanzielle Anlagen und Besitz. ● Kulturelles Kapital (Bildung, Wissen) setzt sich zusammen aus drei Untersorten: ● objektiviertes kulturelles Kapital: Kulturgegenstände wie Bü‐ cher, Kunst, Musikinstrumente usw. ● institutionalisiertes kulturelles Kapital: Bildungstitel und Po‐ sitionen im Bildungswesen ● internalisiertes kulturelles Kapital: kulturelle Kompetenzen, die durch Bildung erlangt werden, z. B. Wissen und Verhaltens‐ normen im Bildungswesen. 6.2 Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ 239 <?page no="240"?> ● Symbolisches Kapital setzt sich aus den anderen drei Kapital‐ sorten zusammen als sozialer Status bzw. Prestige eines Akteurs, d. h. „als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. […]“ (Bourdieu 1985, 11). Dabei sind die unterschiedlichen Kapitalsorten laut Bourdieu „das, was in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirk‐ sam ist“ (Bourdieu und Wacquant 2006, 128): Akteure setzen Kapital gemäß den ‚Spielregeln‘ eines Feldes ein, um ihre Stellung im Feld zu legitimieren und zu verteidigen, und konkurrieren gleichsam um die Erhöhung des eigenen Kapitals - also um die Verbesserung ihrer Stellung. Dabei kämpfen sie auch um die Auslegung der jeweiligen Spielregeln, denn die Waffen und umkämpften Objekte, von denen Bourdieu hier spricht, unterscheiden sich je nach Feld. Im religiösen Feld spiele kulturelles Kapital eine wichtige Rolle: Das Wissen um religiöse Botschaften und Doktrin, Vertrautheit mit religiösen Traditionen und speziellen Ritualen (internalisiertes kulturelles Kapital); Positionen in einer religiösen oder sozialen Hierarchie, z. B. das Priesteramt oder die Rolle der Zauberin in einer Gemeinschaft (institutio‐ nalisiertes kulturelles Kapital); und natürlich die Verfügungsgewalt über religiöse Gegenstände und Orte selbst, darunter heilige Schriften, Räumlich‐ keiten und rituelle Objekte - all diese Formen kulturellen Kapitals werden herangezogen, um die eigene soziale Position im Feld zu festigen. Auch das Netzwerk an Sozialbeziehungen, auf die in diesem Zuge zurückgegriffen werde (soziales Kapital), sowie Status und Prestige, die dabei eingesetzt werden (symbolisches Kapital), seien wichtige „Waffen“ und umkämpfte Ressourcen im Wettbewerb um die legitime Ausübung religiöser Macht. Religiöse Macht bzw. Legitimität sei also „nichts anderes als der Zustand der spezifisch religiösen Kräfteverhältnisse zu eben diesem Zeitpunkt, und damit das Resultat von vorangegangenen Kämpfen um das Monopol der legitimen Ausübung religiöser Gewalt“ (Bourdieu 2000, 25). Entsprechend sei das religiöse Feld hierarchisch strukturiert. Bourdieu unterscheidet zwischen verschiedenen religiösen Rollen in diesem Feld und baut dabei auf Max Webers idealtypischer Unterscheidung zwischen Priester, Prophet und Zauberer als religiösen Spezialisten auf (Weber 2006 [1922]). Zusätzlich entwickelt er die Rolle der Laien, die bei Weber schon vorhanden, aber noch nicht ausgearbeitet ist, deren unterschiedliche reli‐ 240 6 Marktmodelle der Religion <?page no="241"?> giöse Bedürfnisse die Spezialisten durch ein entsprechend diverses Angebot zu befriedigen (und sich dabei gegenseitig zu delegitimieren) suchen. Als grundlegende Schriften des folgenden Überblicks wurden Bourdieus „Eine Interpretation der Religion nach Max Weber“ sowie „Genese und Struktur des Religiösen Feldes“ herangezogen, die beide in Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens (2000) abgedruckt sind. Bourdieu unterscheidet im Kern vier verschiedene religiöse Rollen, die alle unterschiedliche Interessen verfolgen und im Wettbewerb miteinander stehen. Der Priester repräsentiere die Kirche als religiöse Reprodukti‐ onsinstanz, welcher die Verwaltung der Heilsgüter obliege. Er sei ein Funktionsträger mit spezialisierter Ausbildung; seine Legitimität speise sich aus der Kirche als Institution, die religiöse Kontinuität und Beständigkeit biete. Er verfüge über die größte Menge an gesellschaftlich anerkanntem und institutionalisiertem Kapital und müsse sein Amtsmonopol durch die Kontrolle des Zugangs zu Mitteln der Produktion, Reproduktion und Verteilung der Heilsgüter verteidigen. Seinen Konkurrenten drohe er dabei mit dem Ausschluss aus der Kirche, der Exkommunikation. Das Scheitern religiöser Taten (z. B. unerhörte Gebete) falle nicht auf ihn zurück, sondern auf die Götter (die z. B. verstimmt seien und deswegen nicht reagierten) oder die Gläubigen (die die Götter z. B. mit mangelnder Frömmigkeit verstimmt hätten). Das religiöse Interesse des Priesters sei die Aufrechterhaltung der ethischen, systematisierten Lebensführung durch die Heilsbotschaft der Institution Kirche (der Begriff „Kirche“ weist bei Bourdieu über das Christentum hinaus). Der Prophet verfüge als „unabhängiger Unternehmer“ (Bourdieu 2000, 84) über keine spezialisierte Ausbildung und vertrete keine religiöse Institution. Er rekrutiere seine Anhänger allein auf Basis seiner religiö‐ sen Offenbarung und seines Charismas - also der außerordentlichen Fähigkeiten, die ihm von ihnen zugeschrieben werden. Er biete eine au‐ ßeralltägliche, nicht kontinuierliche und unmittelbare religiöse Lehre und Erfahrung und stelle das kirchliche Amtsmonopol dadurch in Frage. Durch diese Infragestellung versuche der Prophet das umzudeuten, was im Feld als anerkanntes Kapital gelte. Das Scheitern religiöser Taten (z. B. einem vorhergesagten Wunder, das nicht eintritt) falle in der Regel auf ihn zurück, da er dadurch an Glaubwürdigkeit verliere. Das religiöse Interesse des Propheten bestehe in der Ethisierung und Systematisierung seiner Offenbarung mit dem Ziel einer neuen religiösen Doktrin sowie der damit einhergehenden Institutionalisierung seiner Anhängerschaft in Form 6.2 Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ 241 <?page no="242"?> einer stetig wachsenden Gemeinschaft. Sei dieses Anliegen erfolgreich, entstehe eine neue religiöse Reproduktionsinstanz (Kirche), wobei „die Pro‐ phetie als solche […] notwendigerweise sterben [muss], damit sie überhaupt im Lehrkorpus der Priesterschaft überleben kann, wo sie zum täglichen Kleingeld des ursprünglichen Kapitals des Charisma wird“ (Bourdieu 2000, 25). Der Prophet stehe also in direkter Konkurrenz zum Priester und biete ebenfalls eine ethisch orientierte und systematisierte Heilsbotschaft. Der Zauberer biete zeitlich begrenzte magische Dienstleistungen der körperlichen und seelischen Heilung gegen Bezahlung (also ökonomi‐ sches Kapital). Er stehe - ebenfalls als „unabhängiger Unternehmer“ (Bourdieu 2000, 84) - also in einer unmittelbaren ökonomischen Tauschbe‐ ziehung mit den Laien. Hier wird Max Webers Unterscheidung zwischen Zauberei als Gotteszwang - die Unterwerfung der Götter durch magische Taten - und den priesterlichen und prophetischen Formen des Got‐ tesdienstes, also der Verehrung der Götter, ersichtlich (Weber 2006 [1922]). Das Scheitern magischer Dienstleistungen fällt laut Weber direkt auf den Zauberer zurück und kostet ihn sowohl seine soziale Stellung als auch seine ökonomische Absicherung. Dementsprechend liege das religiöse In‐ teresse des Zauberers im andauernden Glauben seitens der Laien an seine magischen Fähigkeiten und der damit verbundenen ökonomischen Sicherheit. Er stehe also in weniger direkter Konkurrenz zum Priester und Propheten als diese beiden zueinander, da Magie und Religion (Gotteszwang und Gottesdienst) mitunter nebeneinander existieren können. Die Unterscheidung von Magie und Religion nach Weber Max Weber unterscheidet Religion durch die Ethisierung der Le‐ bensführung von Magie: Priester und Propheten systematisieren Glaubenselemente, indem sie Anleitungen in Form von Ge- und Verboten (→ Kapitel 4.1) formulieren, die nicht nur Praktiken wie Gebet und Verehrung vorschreiben, sondern dadurch auch das Kon‐ zept der Sünde als persönliche Verfehlung der Gläubigen ins Leben rufen - und Frömmigkeit als „Gegenmittel“. In der Religion gehe es also nicht mehr primär um die Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse der Laien, wie noch in der Magie, und die Abstrafung des Zauberers, wenn seine Magie die Götter nicht bezwingen könne. Es gehe nun um das Befolgen von Verhaltensanweisungen durch die Laien, um umgekehrt die Götter zufriedenzustellen. Durch Sünde und 242 6 Marktmodelle der Religion <?page no="243"?> ihr Gegenstück, Frömmigkeit, verlagere sich die Verantwortung, die Götter zu besänftigen, auf die Laien; es sei an ihnen, nicht am Priester bzw. Propheten, ihr Verhalten den ethischen Maßstäben ihrer Religion anzupassen. Diese Unterscheidung von Magie und Religion, die auch von Pierre Bourdieu aufgegriffen wird, ist sehr am Christentum orientiert, inner‐ halb dieser Tradition analytisch allerdings ertragreich. (Weber 2006 [1922]) Die Laien seien Konsumenten der Heilsgüter und religiösen Dienst‐ leistungen, welche von den drei konkurrierenden religiösen Spezialisten angeboten werden. Ihre Weltanschauung sei i. d. R. geprägt von dem beständigen religiösen Angebot der Kirche als religiöse Reproduktionsin‐ stanz, z. B. die Erlösung der Seele, könne aber auch durch prophetische Offenbarungen beeinflusst werden - zu welchem Grad, hänge von der Überzeugungskraft der Offenbarung und der Langlebigkeit der Anhänger‐ schaft des Propheten als institutionalisierte Gemeinde ab. Laien können außerdem auf die magischen Dienstleistungen des Zauberers zurückgreifen (und tun dies laut Bourdieu eher, wenn sie niedrigeren gesellschaftlichen Schichten angehören). Das religiöse Interesse der Laien bestehe in der „Erwartung einer systematischen Botschaft […], die dem Leben einen einheitlichen Sinn zu verleihen vermag. [Diese muss] die Rechtfertigung für ihre Existenz in ihrer besonderen Form, also in einer bestimmten sozialen Position“ beinhalten (Bourdieu 2000, 19 f.; Hervorhebung i. O.). Die Laien erwarteten von Religion also eine Erklärung nicht nur für ihr Dasein auf Erden allgemein, sondern speziell für ihre Existenz in einer bestimmte gesellschaftlichen Position. Abhängig von ebendiesen Positionen sei ihr Heilsbedürfnis also unterschiedlich: In den „herrschenden Klassen“ äußere es sich als „Legitimationsbedürfnis“, d. h. als Bestätigung ihrer sozialen Stellung, in den „beherrschten Klassen“ als „Erlösungsbedürfnis“ (Bourdieu 2000, 16), d. h. als Kompensation für ihre soziale Stellung durch Heilsver‐ sprechen. Bourdieu spricht hier von der „gesellschaftlichen Funktion der Religion“ (2000, 20). Die Funktion von Religion ist es laut Bourdieu also, das Relative zu Verabsolutieren und das Willkürliche zu legitimieren. Die durch die Kirche vertretene Weltanschauung werde als natürlich (‚von Gott‘) gegeben dargestellt, während die Priesterschaft im Wettbewerb des religiösen Feldes 6.2 Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ 243 <?page no="244"?> ihre Position mithilfe der Gesamtmenge ihres Kapitals verteidige. Bourdieu nennt diesen legitimierenden Mechanismus die „Konsekrationswirkung“ der Religion (2000, 67). Hier wird die strukturell-ökonomische Dimension seiner Theorie ersichtlich: Religiöse Interessen unterscheiden sich je nach religiöser Rolle und der Wettbewerb um Legitimität richte sich auf die Anerkennung durch die Laien, deren Nachfrage von ihrer Position in der Sozialstruktur abhänge. Dabei seien die religiösen Spezialisten - Priester, Propheten und Zauberer - stets daran orientiert, den Laien ein möglichst überzeugendes Rechtfertigungssystem für ihre Positionen in der Sozial‐ struktur zu bieten. Diskussionsfrage | Auf welche spezifischen religiösen Traditionen lässt sich Bourdieus religionssoziologischer Ansatz mitsamt seinen Spezialisten, die im religiösen Feld um die Gunst der Laien konkurrie‐ ren, sinnvoll anwenden? Denken Sie insbesondere auch an nichtchrist‐ liche Traditionen! Aus religionsökonomischer Perspektive ist die Erweiterung der Weberschen Rollenverhältnisse durch Bourdieu um den Typus der Laien deswegen so ertragreich, da sich hier nun religiöse Produzenten (Priester, Propheten, Zauberer) und religiöse Konsumenten (Laien) gegenübertreten und das Wettbewerbsverhältnis der Heilsökonomie - der Verwaltung der Heils‐ güter zum Machterhalt - als auf die Laien ausgerichtet konzeptualisiert wird: „Webers Pfaden folgend beschreibt Bourdieu das religiöse Gesche‐ hen also als Dynamik von Angebot und Nachfrage, die ein verzweigtes Netz von Beziehungen […] hervorbringt“ (Reuter 2018, 181). Dabei stellt Bourdieu die zunehmende „‚Ethisierung‘ und ‚Systematisierung‘ der religiösen Glaubensinhalte und Praktiken“ (2000, 49) fest, womit er Webers Gedanken zur Rationalisierung in der Moderne (→ Kapitel 4.2.1) sowie den oben skizzierten Unterschied zwischen Religion und Magie aufgreift. Sowohl der Priester als auch der Prophet seien bestrebt, die eigene Weltanschauung durchzusetzen, um ihre symbolische Macht im religiösen Feld zu verteidigen bzw. auszubauen. 244 6 Marktmodelle der Religion <?page no="245"?> Rollen im religiösen Feld nach Bourdieu ● Der Priester repräsentiert die Kirche als religiöse Reproduktions‐ instanz, welche die Heilsgüter verwaltet. ● Der Prophet tritt als „unabhängiger Unternehmer“ auf, der seine Anhänger auf Grundlage seiner Offenbarung und seines Charismas attrahiert. ● Der Zauberer bietet zeitlich begrenzte magische Dienstleistungen gegen Bezahlung an, steht also in einer unmittelbaren ökonomi‐ schen Beziehung zu den Laien. ● Die Laien konsumieren die Heilsgüter und religiösen Dienstleistun‐ gen, die von den religiösen Spezialisten angeboten werden. Priester, Prophet und Zauberer grenzen sich laut Bourdieu durch Mittel der Distinktion voneinander ab, also bestimmte Marker, die die Vorlieben der eigenen Gruppe zum Ausdruck bringen und somit Zugehörigkeit zu ihr signalisieren. Dazu gehören materielle Güter wie Kunst, Kleidung und Einrichtungsgegenstände, aber auch immaterielle Dinge wie ‚Geschmack‘ und Habitus. Damit richten sie sich im Wettbewerb um ihre Anhänger vornehmlich an einen bestimmten (wenn auch möglichst großen) Teil der Laien, nämlich den, der Vorlieben, Geschmack und Habitus weitestgehend teile. Denn auch die Laien grenzen sich über Distinktionsmittel voneinander ab und ordnen sich spezifischen Gruppen zu. Beispiele für Distinktionsmittel aus dem Christentum Als Beispiel können wir uns einen hochkirchlichen Gottesdienst wie die römisch-katholische Messe vorstellen. Die Kirche ist mit barocker Kunst an den Wänden und der Decke versehen, der Altar ist festlich mit Textilien, Kerzen, Blumen und einem Weinkelch sowie einer Eucharistieschale geschmückt. Der Priester und seine Assisten‐ ten tragen besondere Gewänder, schwenken ein Weihrauchgefäß und läuten Glocken, während von der Orgel klassische Musik ertönt. Die Gottesdienstteilnehmer sind ebenfalls festlich gekleidet und folgen der hochkirchlichen Liturgie mit ihren festgelegten Abläufen von gemeinsamen Gebeten, Bekenntnissen und Liedern sowie der Predigt und der Eucharistie in einer bestimmten Abfolge von Sitzen, Stehen und Knien. All diese Elemente sind Distinktionsmarker, durch die 6.2 Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ 245 <?page no="246"?> die Anwesenden - Spezialisten wie Laien - ihre Vorliebe für eine be‐ stimmte Gottesdienstform (nämlich die Heilige Messe) und somit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gemeinschaft (nämlich der römisch-katholischen Kirche) zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz dazu feiert die freikirchlich-evangelikale Gemeinde zur gleichen Zeit eine ganz andere Art von Gottesdienst, z. B. in einer Lagerhalle in einem Industriegelände, die mit Ausnahme ei‐ nes einfachen Holzkreuzes und einer Kerze auf dem Altar keinen Sakralschmuck aufweist. Der Pastor - seltener die Pastorin - ist lässig gekleidet und untermalt die Predigt mit einer modern gestalte‐ ten Slideshow, die auf einem großen Bildschirm neben ihm gezeigt wird. Eine mehrköpfige Band spielt moderne christliche Rockmusik, zu der die ebenfalls lässig gekleideten Anwesenden mit erhobenen Händen und laut singend tanzen. Dann finden sie sich in kleinen Gruppen zusammen, um spontan miteinander zu beten. Auch diese Merkmale sind Distinktionsmittel, durch die Gruppenzugehörigkeit (zum freikirchlichen Milieu) und Abgrenzung nach außen (zu anderen christlichen Strömungen) signalisiert werden. Ferner ist der Habitus ein zentraler Begriff in Bourdieus Feldtheorie, insbesondere auch aus religionsökonomischer Perspektive. Dieser meint die Verkörperung der individuellen Sozialisation als internalisierte Ver‐ haltensnormen des eigenen Milieus. Er „bildet sich durch die dauerhafte Beziehung eines Akteurs zu einer bestimmten Position im Feld aus [und] übersetzt die jeweilige sozialkulturelle Lebenslage in entsprechende Verhal‐ tensformen und Lebensstile“ (Reuter 2018, 183). Das Konzept ist prägend für Bourdieus praxeologischen Ansatz, mit dem er individuellen Handlungs‐ spielraum und größere gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen zu erklären versucht; in diesem Sinne ist der Habitus ein ‚Scharnier‘ zwischen Individuum und Gesellschaft. In unserem obigen Beispiel ist der römisch-ka‐ tholische Priester z. B. ganz anders durch die Strukturen geprägt, in denen er sich bewegt, als der freikirchliche Pastor. Es geht Bourdieu bei seiner Konzeptualisierung des religiösen Feldes als Wettbewerbsarena nicht um die individuellen Interessen einzelner Akteure und ihre direkten Interaktionen - also nicht um individualisiertes ökonomisches Handeln im Sinne der rational choice-Theorie -, sondern vielmehr um die Beziehungen zwischen den Positionen, die sie einnehmen: „Nur die Konstruktion des religiösen 246 6 Marktmodelle der Religion <?page no="247"?> Feldes als Gesamtsystem der objektiven Relationen zwischen den Positionen führt uns zum Kern der direkten Interaktionen zwischen den Akteuren sowie den Strategien, die sie gegeneinander verfolgen können“ (Bourdieu 2000, 15). Damit entfernt sich Bourdieu explizit von Webers „verstehender Soziolo‐ gie“ (→ Kapitel 4.2.1), die sich noch auf die direkten Interaktionen zwischen Akteuren und weniger auf die Beziehung ihrer jeweiligen Positionen zuein‐ ander konzentriert hatte. Mit Bourdieu können wir im obigen Beispiel also den Fokus auf die strukturellen Positionen des Priesters bzw. des Pastors legen: Ersterer handele als Repräsentant der römisch-katholischen Kirche, verfüge also nicht nur über große Mengen an symbolischem, kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital, sondern sei eben dadurch auch in seinem Auftreten, seinem Geschmack und seinen Interessen geprägt - wie seine Anhänger auch. Seine gesellschaftliche Legitimität sei höher als die des freikirchlichen Pastors, dessen Gemeinde am Rande des religiösen Feldes zu verorten sei und wesentlich weniger Einfluss als die römisch-katholische Kirche habe. Gleichzeitig sei auch dieser - wie seine Anhänger - geprägt durch seine periphere Position, durch sein Agieren im Feld mit niedrigeren Kapitalmengen und somit weniger Einfluss. Er versuche nach Kräften, die eigenen Distinktionsmittel und den eigenen Habitus als legitim zu etablieren, um seine gesellschaftliche Macht auszubauen. Diskussionsfrage | Wie kann der Habitus ökonomisches Handeln im Speziellen beeinflussen? Diskutieren Sie unterschiedliche Typen ökonomischen Verhaltens und Begründungen dafür mithilfe von Bour‐ dieus Habituskonzept. Das Habituskonzept bei Bourdieu ist aus religionsökonomischer Perspektive besonders relevant, zeigt es doch den grundlegenden Unterschied zwischen seiner Feldtheorie und dem economics of religion-Ansatz auf (→ Kapitel 6.1). Beide nehmen eine Wettbewerbsarena als Grundlage; letzterer baut aber auf der rational choice-Theorie auf, geht also vom intentional und rational handelnden Individuum aus. Im Gegensatz dazu betont das Habituskon‐ zept die historisch und gesellschaftlich spezifischen Strukturen, die individuelles Handeln anleiten, das durch dieselben eben nicht rational im Sinne von nutzenmaximierend sind. Diese ‚Handlungsanleitungen‘ seien stattdessen oft über Generationen hinweg und in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Gruppierungen entstanden, und das Individuum sei sich 6.2 Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ 247 <?page no="248"?> ihrer nur teilweise bewusst. Bourdieu spricht hier von Dispositionen als Veranlagungen, die sich aus soziokulturellen Strukturen entwickelt haben. Es sind habituelle Dispositionen, nicht individuelle Intentionen, die für ihn beim Handeln im Vordergrund stehen; somit entsprechen Dispositionen den sozialen Positionen im Feld. Laut der deutschen Religionswissenschaftlerin Astrid Reuter hat Bourdieu sein Habituskonzept explizit entwickelt als „Korrektiv von Handlungstheorien, die soziales Handeln vereinseitigend als rational oder wertgebunden gesteuert konzeptualisieren und dabei die Strukturgebundenheit des Handelns vernachlässigen“ (2018, 184). Gleichzeitig ist Bourdieu kein absoluter Strukturtheoretiker, sondern bringt Struktur- und Handlungstheorien in seiner Feldtheorie zu‐ sammen. Felder existieren nicht als starre Gebilde, sondern wandeln sich stets in Abgrenzung zueinander. Auch hier spielen Wettbewerb und Distinktion eine prägende Rolle. So könne man z. B. Verwischungen der Grenzen zwischen dem religiösen und dem medizinischen Feld beobachten: Ersteres sei für das Seelenheil, letzteres für psychische und körperliche Heilung zuständig. In den 1980er-Jahren entwickeln sich „neben Psychologen, Naturheilern und Schulmedizinern […] auch Yogalehrer und Meister fernöstlicher Sportarten, Sozialarbeiter, Tanztherapeuten und Meditati‐ onsexperten zu den „neuen Geistlichen“: „[S]ie alle treten mit den Geistlichen alten Schlags auf dessen eigenem Terrain in Konkurrenz und tragen dazu bei, Hei‐ lung und Gesundheit neu zu definieren und die Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion (oder Magie), technischer und magischer Kur neu festzulegen.“ (Bourdieu 2011, 247, zitiert in Reuter 2018, 190) Diese Entwicklungen, die Bourdieu auch die „Auflösung des Religiösen“ nannte (2011), seien also nicht allein strukturtheoretisch, und ebenso wenig ausschließlich handlungstheoretisch, sondern praxeologisch zu analysieren, um die sich wandelnden Strategien der Spezialisten im Feld als Reaktion auf die sich verschiebenden Bedürfnisse der Laien erklären zu können. Anders als im economics of religion-Ansatz bestimmt also die Nachfrage nach religiösen Produkten und Dienstleistungen seitens Konsumenten bei Bourdieu das Angebot religiöser Produzenten (statt, dass latent immer vorhandene Nachfrage durch ein prinzipiell breites Angebot aktiviert wird, → Kapitel 6.1). Dadurch erweisen sich auch Grenzen des Feldes als dynamisch und verschieben sich je nach Ausgang der Konkurrenzkämpfe, die laufend innerhalb des Feldes und grenzübergreifend ausgetragen wer‐ den. 248 6 Marktmodelle der Religion <?page no="249"?> 11 Für seine Hinweise zur Feldtheorie Bourdieus sind wir unserem Kollegen Dr. Michael Kleinod, Soziologe an der Universität zu Köln, sehr dankbar. Bourdieus Ansatz ist in der Soziologie und über sie hinaus vielfach aufgegriffen worden. In der Religionssoziologie wird er, ähnlich wie We‐ bers Ansatz und anders als der economics of religion-Ansatz, überwiegend wohlwollend rezipiert (s. z. B. Karstein 2019), insbesondere wegen seines Habituskonzepts, das eine Brücke zwischen der gesellschaftlichen Mikroebene individueller Praxis und Veränderungen auf der gesell‐ schaftlichen Makroebene zu schlagen vermag (Bohn und Hahn 2003). Seine unzureichende Berücksichtigung der Auswirkung der Globalisierung und religiösen Pluralisierung auf das religiöse Feld wird hingegen ebenso kritisiert wie seine Unterbelichtung der Rolle der konfessionellen Vielfalt innerhalb einer Religion für den innerfeldlichen Wettbewerb (Reuter 2018). Ferner bleibt seine Religionsdefinition schwammig; er interessiert sich weniger für religiöse Glaubensgrundsätze, Praktiken und Zusammenhänge denn für Religion als ‚Spiel‘ und die „Mechanismen, mit denen es bestehende Strukturen symbolischer Macht reproduziert, konsolidiert und gelegentlich unterminiert“ (Reuter 2018, 194). Gerade dieser Fokus macht ihn für religi‐ onsökonomische Ansätze so relevant 11 . Im folgenden Abschnitt wenden wir uns einem Ansatz zu, der Max Webers Ideen und Arbeiten ebenfalls aufgreift und diese mit der rational choice-Theorie zusammenbringen möchte. 6.3 Religiöse Güter und religiöse Märkte Laut dem Schweizer Religionssoziologen Jörg Stolz ist das Konzept der religiösen Güter (religious goods) in verschiedenen Modellen religiöser Märkte - darunter Max Webers und Pierre Bourdieus Ausarbeitungen sowie dem economics of religion-Ansatz - trotz aller Diskussionen und Weiterent‐ wicklungen unterbelichtet geblieben. Er unterscheidet „individuelle“ und „soziale“ religiöse Güter (2006) und fasst den religiösen Markt als eine von mehreren Möglichkeiten auf, im Rahmen derer diese Güter produziert und verteilt werden. Der Markt ist für ihn klassisch eine anonyme, bilaterale Tauschbeziehung zwischen individuellen oder kollektiven Akteuren, welche Güter nachfragen bzw. anbieten und dabei ausschließlich ihre eigenen In‐ teressen verfolgen. Als Alternativen zum Markttausch gebe es insbesondere 6.3 Religiöse Güter und religiöse Märkte 249 <?page no="250"?> auch die Weitergabe religiöser Güter durch Sozialisation und Autoritätsver‐ hältnisse. Stolz’ Typologie religiöser Güter basiert einerseits auf dem economics of religion-Ansatz und andererseits auf den Arbeiten Max Webers. Er identifi‐ ziert vier unterschiedliche Arten religiöser Güter in der economics of religion: Belohnungen im Jenseits, religiöse Mitgliedschaft, kollektive Reli‐ gion und Haushaltsgüter. Bei Weber interessiert ihn insbesondere die Idee der Heilsgüter, welche diesseitig oder jenseitig ausgerichtet sein können, Mittel zum Zweck oder Ziele an sich darstellen, bestimmte Weltsichten zum Ausdruck bringen und psychologische sowie soziale Bedürfnisse befriedigen (2006 [1922]). Dabei sind Heilsgüter bei Weber herrschaftssoziologisch und nicht markttheoretisch verortet; es geht ihm um die Rolle von Autorität in der Verwaltung der Heilsgüter, nicht um den von Angebot und Nachfrage gesteuerten ökonomischen Markt. Nun schlägt Stolz eine Synthese aus diesen beiden Ansätzen vor und bezieht sich dabei auf die Arbeiten des amerikanischen Soziologen James S. Coleman, des deutsch-niederländischen Sozialwissenschaftler Siegwart Lindenberg und des deutschen Soziologen Hartmut Esser. Für Stolz sind religiöse Güter nur ein Element unter vielen, die Religionen ausmachen. Er definiert als religiöses Gut „a goal, or a means of reaching a goal, which is proposed by a religion“, wobei Religion für ihn „the ensemble of cultural symbol systems that respond to the problem of meaning and contingency by alluding to a transcendent reality“ ist (2006, 21). Religion befasse sich also durch Bezugnahme auf Transzendenz mit Fragen nach Sinn und Kontingenz, und religiöse Güter stellen die Ziele bzw. Mittel zur Zielerreichung dar, die von Religion definiert werden. Stolz geht davon aus, dass religiöse Güter kulturell und institutionell geprägt sind und unterschiedliche Eigenschaften besitzen, vor allem ihre Teilbarkeit (divisibility), Exklusivität (exclusive‐ ness), Konkurrenz (rivalry) und Übertragbarkeit (alienability). Die Art des religiösen Guts bestimme dabei, wie es produziert und verteilt werde. Stolz versteht den religiösen Markt als ein System aus bilateralen individuellen oder kollektiven Tauschbeziehungen, welche durch Angebot und Nachfrage gesteuert sind. Der Markt sei dabei eine von mehreren Sozialformen (→-Kapitel 6.1.2), und auf ihm handeln Akteure nutzenmaxi‐ mierend im Sinne der bounded rationality (→ Kapitel 7.1). Sie wechseln zwischen verschiedenen „Rahmen“, die zur Bestimmung der Nutzenmaxi‐ mierung herangezogen werden, vor allem dem „rational frame“ und dem „traditional frame“ (2006, 22). Zuletzt unterscheidet Stolz noch zwischen 250 6 Marktmodelle der Religion <?page no="251"?> parametrischen und strategischen Situationen: erstere beziehen sich auf individuelle religiöse Ziele und seien mit der Entscheidungstheorie (de‐ cision theory) zu untersuchen; letztere beziehen sich auf kollektive religiöse Ziele und seien mit der Spieltheorie (game theory) zu untersuchen. Auf dieser Grundlage differenziert sein Modell zwischen drei individuell und drei sozial produzierten Gütern. Stolz möchte dabei aufzeigen, dass bei weitem nicht alle der sechs Güterarten dem marktförmigen Tausch unterliegen, sondern teilweise auch in anderen Sozialformen produziert werden. Individuelle religiöse Güter (2006, 22-25) umfassen: ● Konsumgüter, darunter Ritualgegenstände, Bücher und CDs, Seminare und Sitzungen sowie Rituale wie Hochzeiten oder Beerdigungen. Sie seien übertragbar, teilbar und exklusiv, und setzen eine parametrische Situation voraus, da Individuen rational wählen und konsumieren, um ihre Präferenzen zu maximieren. Konsumgüter seien käuflich zu erwer‐ ben und nicht an die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft gebunden. ● Mitgliedschaftsgüter, darunter auch der Zugang zu Ressourcen über eine Gruppe oder Gemeinschaft. Die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft sei nicht teilbar oder übertragbar und oft exklusiv. Die Situation sei parametrisch, da sich das Individuum für oder gegen eine Mitgliedschaft entscheiden kann. Ob religiöse Mitgliedschaft auf dem Markt „getauscht“ werden kann, hängt für Stolz vom sozialen Kontext ab, z. B., ob Mitgliedschaft als Frage der Wahl institutionalisiert ist. Bei hoher religiöser Pluralität sei dies wahrscheinlicher als in einer religiösen Monopolsituation. Auch können die Ebenen, auf denen eine Wahl gegeben ist, unterschiedlich sein: Mitgliedschaft in einer komplett anderen Tradition zu wählen sei seltener als die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, die Teil der ursprünglichen Tradition sei. ● Persönliche religiöse Güter, vor allem religiöses Wissen, religiöse Zu‐ stände (z. B. Erleuchtung) oder körperliche sowie geistige Gesundheit. Darunter falle vor allem religiöses Humankapital; physische, psychische und soziale Gesundheit; ethische Zustände; und religiöse Erfahrung. Persönliche religiöse Güter seien meist nicht teilbar, aber mitunter exklusiv. Sie seien durch Sozialisierung übertragbar, würden teils von den Individuen selbst, teils von religiösen Spezialisten produziert und aus emischer Perspektive auch von transzendenten Kräften „geschenkt“. Sie seien nicht an Mitgliedschaft gebunden, können aber individuell 6.3 Religiöse Güter und religiöse Märkte 251 <?page no="252"?> als Mittel zur Erreichung von Heilsgütern eingesetzt werden. Zuletzt werden sie nicht im klassischen Sinne auf dem Markt getauscht, da Zugehörigkeit zu einer Religion meist entweder kein Gegenstand einer bewussten Entscheidung oder aber aufgrund sozialer Kontakte entstan‐ den sei. ● Sozial produzierte religiöse Güter (2006, 26-28) werden laut Stolz in Zusammenarbeit mit anderen bzw. mit Auswirkungen auf andere produziert und sind nur zum Teil teilbar und nur zum Teil exklusiv. Normalerweise liege ihnen eine strategische Situation zugrunde. Durch ihre sozialen Eigenschaften werden sie nicht auf dem Markt produziert oder verteilt, sondern in anderen Sozialformen, vor allem in „interaction systems, social groups, organizations or whole societies“ (2006, 26). Sie umfassen: ● Gemeinschaftliche (kommunale) Güter wie religiöse Feiern und Ritualvorführungen. Sie seien ein Ziel an sich: „their performance is the product“ (2006, 26; Hervorhebung i. O.). Die Produzenten dieser Güter seien gleichzeitig ihre Konsumenten, das Problem liege in der Koordi‐ nation der notwendigen Aktivitäten. Gemeinschaftsgüter seien nicht teilbar und nicht exklusiv und können nur bedingt markttheoretisch erklärt werden. ● Kollektive Güter wie die religiöse Gemeinschaft an sich mit all den Möglichkeiten und Ressourcen, die sie bietet, sowie die kulturelle (und ggf. gesellschaftliche) Durchdringung ihrer Normen und Werte. Der Unterschied zu Gemeinschaftsgütern liegt für Stolz in der Tatsache, dass kollektive Güter ausdrücklich ein Mittel zum Zweck sind und dass die Produzenten und Konsumenten nicht unbedingt dieselben Personen sein müssen. Deswegen sei die Trittbrettfahrerproblematik hier sehr ausgeprägt: Jeder habe gleichermaßen ein Interesse an der Produktion kollektiver Güter und den Anreiz, an der eigenen Investition dorthinein zu „sparen“. Sie seien weder teilbar noch exklusiv und werden nicht auf dem Markt „verkauft“, sondern kollektiv in anderen Sozialformen (z. B. Gruppe oder Organisation) produziert. ● Positionale Güter wie Macht, Autorität und Status. Sie seien knapp, nicht multiplizierbar, exklusiv und basieren auf Konfliktsituationen, welche nicht durch Koordination oder anderweitige Zusammenarbeit gelösten werden können. 252 6 Marktmodelle der Religion <?page no="253"?> Laut Stolz können also nur Konsumgüter dem klassischen Markttausch zugerechnet werden; komplizierter sei es bei Mitgliedschaftsgütern, da es stets vom kulturellen Kontext (Grad religiöser Pluralisierung) und den Al‐ ternativen zur bestehenden Mitgliedschaft abhänge, ob man hier von einem Markttausch sprechen könne. Auch persönliche religiöse Güter können markttheoretisch nur unzulänglich erklärt werden, da viele Mitglieder nicht mit einer spezifisch religiösen Intention, sondern oft aus sozialen oder kulturellen Gründen einer Religion beitreten. In Bezug auf sozial produzierte Güter spiele der Markt sogar gar keine Rolle - sie entstehen in anderen Sozialformen, erhöhen aber die Attraktivität einer religiösen Gemeinschaft auf dem Markt zweifelsohne. Diskussionsfrage | Handelt es sich bei den folgenden religiösen Gütern um individuelle oder soziale religiöse Güter und warum? ● Eine Kirche, eine Moschee, ein Tempel oder eine Synagoge ● Ein größeres Ritual, z. B. die hinduistische Puja oder die christliche Osterprozession ● Ein kleineres Ritual, z.-B. eine Hochzeits- oder Todesfeier ● Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft ● Die Führung einer religiösen Gemeinschaft ● Gotteserfahrungen, z.-B. im Rahmen eines Gebetskreises Der Ansatz von Jörg Stolz stellt eine wichtige Ergänzung zu bestehenden Konzeptionen religiöser Märkte dar. Durch die Differenzierung unterschied‐ licher religiöser Güter vor dem Hintergrund verschiedener Ansätze ist es möglich, über ein reines Marktverständnis hinaus auch kontextuelle Spezi‐ fika - also historische, kulturelle und gesellschaftliche Besonderheiten im Kontext verschiedener Traditionen und unterschiedlicher Epochen - in die Analyse einzubeziehen und deutlicher zu identifizieren, in welchen Fällen das ökonomische Marktmodell tatsächlich sinnvoll und gewinnbringend angewandt werden kann. 6.3 Religiöse Güter und religiöse Märkte 253 <?page no="254"?> 6.4 Weiterführende Literatur - Der economics of religion-Ansatz Finke, Roger und Rodney Stark. 2006. The Churching of America 1776-2005. Winners and Losers of Our Religious Economy. New Brunswick: Rutgers University Press. Ausarbeitung des religiösen Marktmodells auf Basis von Daten reli‐ giöser Zugehörigkeit in den USA von der Gründung der Republik bis ins frühe 21. Jahrhundert. Die Autoren zeigen anhand einer sorg‐ fältigen historischen Recherche, dass Religiosität in den USA stetig zugenommen hat, und begründen dies mit der Trennung von Staat und Kirche und dem daraus resultierenden erhöhten Wettbewerb auf dem deregulierten religiösen Marktplatz. Iannaccone, Laurence R. „Why Strict Churches Are Strong.“ American Journal of Sociology 99 (1994): 1180-1211: Wichtiger Fachzeitschriftenbeitrag, der unter Bezugnahme auf vorhe‐ rige Studien die These ausdiskutiert, dass strengere religiöse Gruppie‐ rungen durch kostenintensive Verhaltensregeln für ihre Mitglieder einen höheren Nutzen abwerfen: die Trittbrettfahrerproblematik, die die Motivation der gesamten Gruppe senkt, wird vermieden und das Engagement der aktiven Mitglieder dadurch angeregt, dass sie sich als Teil eines auserwählten Kreises verstehen. Stark, Rodney und Rodger Finke. 2000. Acts of Faith: Explaining the Human Side of Religion. Berkeley: University of California Press. Monografie, die den religious economy-Ansatz ausführlich, strukturiert und theoretisch umfassend vorstellt. Die Autoren stellen insgesamt 99 Thesen („propositions“) auf, die logisch aufeinander aufbauen und durch erklärende Fließtexte sowie abgesetzte Definitionen erläutert werden. Zusätzlich ziehen sie historische Daten und statistische Aus‐ wertungen zu Religiosität in verschiedenen Ländern und Regionen der Welt hinzu. 254 6 Marktmodelle der Religion <?page no="255"?> Die Feldtheorie und die „Ökonomie des Heilsgeschehens“ Bourdieu, Pierre. 2000. Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsge‐ schehens. Herausgegeben von Stephan Egger, Andreas Pfeuffer und Franz Schultheis. Konstanz: UVK. Dieser Band beinhaltet nicht nur Bourdieus Anschluss an und Ab‐ grenzung von Max Webers Ansatz („Eine Interpretation der Religion nach Max Weber“) sowie seine eigene detailliertere Ausarbeitung des religiösen Feldes („Genese und Struktur des religiösen Feldes“), sondern auch ein Gespräch der Herausgeber mit Bourdieu über Weber („Mit Weber gegen Weber“) sowie den Aufsatz „Vom Habitus zum Feld: Religion, Soziologie und die Spuren Max Webers bei Pierre Bourdieu“ von den Herausgebern. Bourdieu, Pierre. 2011. Religion: Schriften zur Kultursoziologie 5. Herausge‐ geben von Franz Schultheis und Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp. In diesem Band sind neben den Aufsätzen „Eine Interpretation der Religion nach Max Weber“ und „Genese und Struktur des religiösen Feldes“ weitere Aufsätze abgedruckt, die Bourdieus religionssoziolo‐ gische Ausarbeitungen vervollständigen: „Die Heilige Familie: Der französische Episkopat im Feld der Macht“, „Soziologie des Glaubens und Glauben der Soziologie“, „Das Lachen der Bischöfe“ sowie „Die Auflösung des Religiösen“. Der Band enthält außerdem eine werkbio‐ grafische Skizze Bourdieus Religionssoziologie von Stephan Egger. - Religiöse Güter und religiöse Märkte Stolz, Jörg. 2006. „Salvation Goods and Religious Markets: Integrating Rational Choice and Weberian Perspectives.“ Social Compass 53: 13-32. In diesem zentralen Aufsatz wird eine Typologie religiöser Güter entwickelt, die zwischen individuell und sozial produzierten Gütern unterscheidet und es somit ermöglicht, zwischen Markttausch und an‐ deren sozialen Interaktionsrahmen (darunter Sozialisierungsprozesse und Autoritätsverhältnisse) zu unterscheiden. 6.4 Weiterführende Literatur 255 <?page no="257"?> 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes Leitfragen des Kapitels ● Was unterscheidet die Verhaltensökonomie von der Mikroökono‐ mie? Welche Rolle spielt der Mensch in der Verhaltensökonomie gegenüber der Mikroökonomie? ● Wie lässt sich die Verhaltensökonomie für die religionsökonomische Forschung fruchtbar machen? Welchem Instrumentarium bedient sie sich hierfür? ● Was steht im Mittelpunkt des ökonomischen Ansatzes der Neuen Institutionenökonomik? Inwiefern ist der Fokus auf Institutionen für die Ökonomie neu? ● Welche grundlegenden Annahmen stellt der Neo-Institutionalismus bereit, auf denen die Neue Institutionenökonomik aufbaut? Nachdem wir uns im vorigen Kapitel mit der rational choice-Theorie und dem economics of religion-Ansatz sowie Alternativen und Syntheseversu‐ chen beschäftigt haben, werfen wir in diesem letzten Kapitel einen Blick auf zwei in der Religionsökonomie zentrale, genuin interdisziplinäre Ansätze, die das Modell des Homo oeconomicus aus unterschiedlichen Perspektiven kritisieren und es jeweils erweitern: die Verhaltensökonomie und die Neue Institutionsökonomik. Die Verhaltensökonomie (→ Kapitel 7.1) ist an der Schnittstelle zwi‐ schen Ökonomie und Psychologie entstanden. Sie betrachtet den Menschen als soziales Wesen und bezieht auch seine psychischen Zustände ein. Der Mensch interessiert sich aus verhaltensökonomischer Perspektive nicht nur für den eigenen Nutzen, sondern auch für den Nutzen seiner Mitmenschen. Das ist der paradigmatische Unterschied zwischen der Verhaltensökonomie und der Mikroökonomie. Die Neue Institutionenökonomik (→ Kapitel 7.2) macht es sich durch ihren Fokus auf Institutionen als gesellschaftliche, kulturelle und historisch gewachsene „Spielregeln“ zur Aufgabe, das Modell des absolut nutzenma‐ ximierenden Homo oeconomicus zu ergänzen und durch das Konzept der <?page no="258"?> bounded rationality - der begrenzten Rationalität - verstärkt die sozialen Umstände, die individuellem Handeln unterliegen, in den Blick zu rücken. Damit nähert sie sich einer sozialwissenschaftlichen Perspektive einen Schritt weit an. In den beiden Ansätzen besteht weiterhin viel unausge‐ schöpftes Potential, das Individuum, das Soziale und das Ökonomische enger zusammenzudenken. 7.1 Die Verhaltensökonomie 7.1.1 Einführung Die Verhaltensökonomie (behavioral economics) berücksichtigt im Gegen‐ satz zur (Mikro-)Ökonomie lediglich menschliche Akteure. Sie bezieht ihre psychischen Prozesse in ökonomische Entscheidungen ein und beschäftigt sich aus dieser Perspektive mit ihrem ökonomischen Verhalten. Hervorzuheben ist, dass ökonomisches Verhalten hier breiter als rein ma‐ terielles Finanzverhalten zu verstehen ist. Warum man spendet, studiert, auf eine Fußballmannschaft wettet sind Beispiele für Fragen, die sich Verhaltensökonomen stellen. Die Verhaltensökonomie ist eine Reaktion auf die starke Begrenzung von Individuen auf das Modell des Homo oeconomicus in der neoklassischen Ökonomie. Wie in → Kapitel 1.2.2 dargestellt, hebt der Begriff hervor, dass Individuen in ihrem ökonomischen Verhalten nach ihren eigenen Präferen‐ zen agieren, und zwar so, dass sie diejenige Handlungsalternative wählen, die sie gegenüber allen anderen bekannten Alternativen präferieren. Somit maximieren sie ihren Eigennutzen (→ Kapitel 3.2.2). Dabei ist zu beachten, dass ökonomisches Handeln nicht in einem Vakuum stattfindet. Als öko‐ nomischer Akteur steht das Individuum stets in direkter oder indirekter Beziehung zu anderen Akteuren, darunter menschlichen Individuen. Die Definition des Begriffs Homo oeconomicus suggeriert aber, dass Individuen die Präferenzen anderer Akteure bei der Wahl einer Handlungsalternative ignorieren. Um ihren eigenen Nutzen zu maximieren und sich für eine Handlungsalternative zu entscheiden, müssen Akteure jedoch meistens ein‐ schätzen können, wie sich andere Akteure entscheiden. Dies bedeutet, dass die Maximierung des Eigennutzes von den Handlungen anderer Akteure abhängt. Nach der Verhaltensökonomie muss der Homo oeconomicus die Präferenzen anderer Akteure doch berücksichtigen. 258 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="259"?> Ein anderer Aspekt ökonomischer Interaktionen ist die Tatsache, dass das Individuum als ökonomischer Akteur nicht nur „eigeninteressiert“ handelt und lediglich versucht, den eigenen Nutzen zu maximieren, sondern bereits in seinen Präferenzen den Nutzen anderer Akteure berücksichtigt. Ein Individuum präferiert voraussichtlich bei der Wahl zwischen zwei Alternativen, die ihm den gleichen Nutzen bringen, diejenige, die seine Freunde ebenfalls präferieren. Somit maximiert es mit seiner Wahl nicht nur den eigenen Nutzen, sondern auch den seiner Freunde. An dieser Stelle tritt die „Psyche“ des Individuums und somit die Verhaltensökonomie auf den Plan. In diesem Kontext wird dann von sozialen Präferenzen (s. u.) gesprochen. Die Beobachtung ökonomischer Handlungen und Entscheidungen menschlicher Akteure führte einige Ökonomen dazu, das Modell der Nutzenmaximierung zu erweitern, um die Realität des menschlichen Entscheidungstreffens besser abzubilden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Nutzenmaximierung als Modell falsch oder nicht effektiv ist. Um das ökonomische Verhalten insbesondere menschlicher Akteure zu model‐ lieren, sollten laut dem erweiterten Modell dennoch nicht nur diejenigen Präferenzen der Akteure berücksichtigt werden, die ihre Eigeninteressen widerspiegeln, sondern auch diejenigen, die den Nutzen der Akteure in ihrer Umgebung zeigen. So kann ein realistischeres Modell des ökono‐ mischen Verhaltens menschlicher Akteure abgebildet werden, wobei der Homo oeconomicus den Ausgangspunkt für die Modellierung ökono‐ mischen Verhaltens, aber nichts zwangsläufig die beste Methode darstellt (Cartwright 2018, 6; Dreher 2022, 7-15). Die Verhaltensökonomie In der Verhaltensökonomie geht es darum, das ökonomische Verhal‐ ten menschlicher Akteure und dessen Konsequenzen zu verste‐ hen. Sie verwendet Erkenntnisse aus Labor- und Feldexperimenten, um ökonomische Standardmodelle auf ihre Richtigkeit bzgl. menschlichen Verhaltens zu testen (Cartwright 2018, 3 f.). Der britische Ökonom Edward Cartwright (2018, 6-11) identifiziert in der verhaltensökonomischen Fachgeschichte, d. h. der Wiederintegration der Psychologie in die Ökonomie, vier prägende und zusammenwirkende Bauelemente, die wir hier kurz zusammenfassen (s. auch Dreher 2022, 7.1 Die Verhaltensökonomie 259 <?page no="260"?> 26-46). Den ersten Schritt zur Etablierung der Verhaltensökonomie machte der amerikanische Nobelpreisträger (1978) Herbert Simon mit seinem Buch Administrative Behavior: A Study of Decision-Making Processes in Administra‐ tive Organization (1947) und seinem Artikel „A Behavioral Model of Rational Choice“ (1955), in welchem er das Konzept der eingeschränkten Rationalität (limited rationality, später bounded rationality) einführte (→ Kapitel 7.1.2). Er drückt darin menschliche Einschränkungen in Entscheidungspro‐ zessen in Bezug auf Rechnungskapazitäten, Gedächtnis, Information, Zeit usw. aus. Den zweiten Beitrag lieferten die Arbeiten des amerikanisch-israelischen Psychologen Daniel Kahneman und des israelischen Psychologen Amos Tversky. Sie stellten die These auf, dass Individuen die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses auf Basis einer Anzahl von Heuristiken erfassen. Diese Heuristiken reduzieren die Komplexität der Wirklichkeit und seien effizient, führen jedoch zu kognitiven Verzerrungen (cognitive biases). Aus diesem Grund wird ihre Theorie als heuristics and biases betitelt. Kahneman und Tversky heben hervor, dass sich Individuen als ökonomi‐ sche Akteure vom Menschenbild der rational choice-Theorie unterscheiden, weswegen die im Entscheidungsprozess auftauchenden kognitiven Verzer‐ rungen in der ökonomischen Forschung viel stärker berücksichtigt werden müssten. Ihrer Auffassung nach prägen die von den Heuristiken mitbe‐ stimmten subjektiven Wahrscheinlichkeiten die Präferenzen, statt dass - wie in der rational choice-Theorie - Präferenzen zu Entscheidungen führen. Als drittes Element nennt Cartwright den Einzug der Laborexperimente als Werkzeug der empirischen Ökonomie in die Forschung. Dabei spielte der im Jahre 2002 hierfür zusammen mit Daniel Kahneman mit dem Nobelpreis ausgezeichnete amerikanische Ökonom Vernon Smith eine prägende Rolle. Er konzipierte Experimente, die die Prämissen der Ökonomie auf die Probe stellen sollten. Unter anderem versuchte er herauszufinden, inwieweit sich die Annahmen des Marktmodells (z. B. das Marktgleichgewicht, → Kapitel 3.3.2) in der Praxis nachweisen lassen (Smith 1962). Die vierte und letzte Komponente zur Etablierung der Verhaltensöko‐ nomie ist die Spieltheorie. Eine zentrale Figur ist dabei der deutsche Ökonom und Mathematiker Reinhard Selten, der 1994 zusammen mit dem amerikanischen Mathematiker John Nash und dem ungarischen Ökonomen John Harsanyi für ihre gemeinsamen Leistungen bzgl. der Spieltheorie den Nobelpreis erhielt. Die Spieltheorie modelliert mathematisch Entschei‐ dungssituationen, „in denen der Erfolg des Einzelnen nicht nur vom eigenen 260 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="261"?> Handeln, sondern auch von den Aktionen anderer abhängt“ (Gabler Wirt‐ schaftslexikon, „Spieltheorie“). Durch Seltens Forschung nahm die Popula‐ rität und Bedeutung von Laborexperimenten in der europäischen Ökonomie zu. Die Spieltheorie erwies sich somit „als wichtiges und erfolgreiches Werkzeug für die Entwicklung und Analyse der Laborexperimente“ (Dreher 2022, 45). Auf diese Weise wurden Laborexperimente zu einem bedeutenden Baustein der ökonomischen Forschung. Die Entwicklung der Verhaltensökonomie 1. die bounded rationality (bzw. limited rationality) von Simon, die das ökonomische Modell der Nutzenmaximierung kritisiert; 2. die Theorie der heuristics and biases von Kahnemann und Tversky, die den Einfluss der Heuristiken und der kognitiven Verzer‐ rungen auf den ökonomischen Entscheidungsprozess untersucht; 3. die Verwendung von Laborexperimenten durch Smith, um öko‐ nomische Prämissen und Annahmen zu testen; 4. und die Spieltheorie von Selten, die experimentierfreudigen Öko‐ nomen ein Werkzeug bereitstellt. Die Akzentuierung von Experimenten in der verhaltensökonomischen For‐ schung bedeutet nicht, dass die Verhaltensökonomie überhaupt kein Modell und keine Theorie verwendet. Wie oben erwähnt, betrachtet sie das Modell der rationalen Entscheidung für eine Analyse menschlich-ökonomischen Verhaltens jedoch als nicht ausreichend. Dennoch wird dieses Modell nicht verworfen, da es viele Phänomene gut prognostizieren und erklären kann. Die Verhaltensökonomie erweitert das Modell, indem sie in den Präferenzen der Akteure nicht nur den Eigennutzen, sondern auch den Nutzen der Mitspieler berücksichtigt. Diese Präferenzen, die nicht direkt mit dem Nut‐ zen des Hauptakteurs verbunden sind, nennen sich soziale Präferenzen. Dadurch wird die Nutzenfunktion (→ Kapitel 3.2.4) eines menschlichen Akteurs nicht nur auf Basis der Präferenzen definiert, die sein Eigeninteresse abbilden, sondern auch mit Hinblick auf seine sozialen Präferenzen, also diejenigen, die das Interesse seiner Umgebung ausdrücken. Eine derartig definierte Nutzenfunktion drückt aus, dass menschliche Akteure sich nicht nur für ihren eigenen Nutzen, sondern auch für den ihrer Mitspieler inter‐ essieren. Individuelles ökonomisches Verhalten hängt dann nicht nur davon 7.1 Die Verhaltensökonomie 261 <?page no="262"?> ab, wie hoch der eigene Nutzen ist, sondern auch davon, wieviel die übrigen Akteure in der Umgebung profitieren. Als Beispiel für soziale Präferenzen lassen sich psychische Eigenschaften wie Altruismus, Fairness, Mitleid, Neid oder Rachsucht und soziale Aspekte wie Gerechtigkeit, Bestrafung des Fehlverhaltens, Reziprozität oder Effizienz anführen (Dreher 2022, 45-61). Soziale Präferenzen „In der Wirtschaftstheorie spricht man von sozialen Präferenzen, wenn die Akteure neben ihrem materiellen Eigennutz auch Vorlieben für das Wohlergehen oder den Erfolg anderer Akteure aufweisen, die das eigene Verhalten maßgeblich mitbeeinflussen“ (Gabler Wirtschaftslexi‐ kon, „Soziale Präferenzen“). Diskussionsfrage | Besprechen Sie mit Ihren Kommilitonen, welche Prämissen des Modells der rationalen Endscheidung das ökonomische Verhalten von Individuen jeweils besser bzw. schlechter widerspiegeln! 7.1.2 Typische Experimente der Verhaltensökonomie Feld- und insbesondere Laborexperimente sowie Simulationen sind die bedeutendsten Instrumente der Verhaltensökonomie. Zur Durchführung der Experimente wurden einige Spiele entwickelt, die auch in der verhaltens‐ ökonomischen Religionsforschung Verwendung finden. Die wichtigsten dieser Spiele sind das Diktatorspiel, das Ultimatumspiel und das Vertrauens‐ spiel, die im Folgenden kurz erläutert werden, damit Sie die Fachliteratur zur religiösen Verhaltensökonomie leichter rezipieren können (s. Dreher 2022, 13 f.). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Spiele in verschiedenen Va‐ rianten durchgeführt werden, die leicht voneinander abweichen. Dennoch folgen alle Varianten eines Spiels seinem Grundprinzip. Das Diktatorspiel (dictator game) ist ein 2-Spieler-Spiel. Spieler A, der Diktator, verfügt über einen Geldbetrag, von dem er einen Teil, zwischen Null und der Gesamtsumme, Spieler B anbietet. Spieler B ist im Spiel voll‐ ständig passiv. Das Modell der Nutzenmaximierung würde antizipieren, dass der Diktator den gesamten Geldbetrag für sich behält. Die Laborexperimente zeigen jedoch, dass die Individuen in der Diktatorenrolle einen Betrag von durchschnittlich 20-30 % an den zweiten Spieler abgeben. Dieses Verhalten 262 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="263"?> wird mit sozialen Präferenzen, z. B. Fairness und Altruismus, erklärt (Gabler Wirtschaftslexikon, „Diktatorspiel“). Das Ultimatumspiel (ultimatum game) wird wie das Diktatorspiel mit zwei Akteuren, Spieler A (proposer) und Spieler B (responder), gespielt. Wie dort auch macht der erste Spieler dem zweiten ein Angebot über die Verteilung eines ihm zur Verfügung stehenden Geldbetrags. Spieler B hat aber in diesem Spiel die Wahl, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen. Nimmt er das Angebot an, wird der Geldbetrag gemäß dem Angebot von Spieler A zwischen ihnen verteilt; lehnt er es ab, gehen beide Spieler leer aus. Das Modell des Homo oeconomicus würde antizipieren, dass Spieler B jedes Angebot, das höher als Null ist, annimmt, weil er somit seinen Nutzen maximiert; und dass Spieler A dies voraussetzt und ihm den niedrigsten erlaubten Betrag anbietet. Die Laborexperimente zeichnen jedoch ein anderes Verhalten ab. Individuen in der Rolle von Spieler B (responder) lehnen zu niedrige Angebote oft ab, während Individuen in der Rolle von Spieler A (proposer) dies antizipieren und in der Regel ein Angebot in Höhe von 35-50 % des Gesamtbetrags machen. Zur Erklärung des Phänomens werden hier wiederum soziale Präferenzen herangezogen (Gabler Wirtschaftslexikon, „Ultimatumspiel“). Das letzte hier vorzustellende Spiel ist das Vertrauensspiel (trust game oder investment game), wiederum ein 2-Spieler-Spiel, das Vertrauen und Investition in Vertrauen testet. Spieler A, der Vertrauensgeber (truster), hat wie in den letzten zwei Spielen einen Betrag x zur Verfügung. Er entscheidet darüber, welchen Anteil davon (y) er für sich behalten und welchen er investieren möchte (y ≤ x). Der investierte Betrag wird um eine Dividende (r) der Investition des Spielers A (y) erhöht (ry). Die Gesamtinvestition (y + ry) wird Spieler B, dem Vertrauensnehmer (trustee), gegeben. Anschließend entscheidet Spieler B, welchen Anteil der Gesamtinvestition er für sich behalten (z) und welchen er Spieler A zurückgeben möchte (y + ry - z). Dann bekommt Spieler A den Betrag (x - y) + (y + ry - z) = x - z + ry und Spieler B den Betrag z. Stellen wir uns ein Experiment vor, in welchem dem ersten Spieler 10 € sowie die Information gegeben wird, dass seine Investition sich verdreifacht (r = 2). Wenn er erst nichts für sich behält und den ganzen Betrag von 10 € investiert (y = 10), dann bekommt Spieler B 30 €. Wenn dieser den Betrag ganz fair teilt (z = 15), dann bekommen sie jeweils 15 € und maximieren beide ihren Nutzen. Investiert Spieler A z. B. nur 3 € (y = 3), dann stehen Spieler B 9 € zur Verfügung. Wenn er 3 € an Spieler A zurückgibt, bekommt dieser insgesamt 10 € und Spieler B 6 €. Das Vertrauensspiel dient 7.1 Die Verhaltensökonomie 263 <?page no="264"?> vor allem dazu, das Vertrauen zu messen, wobei „[d]as Vertrauen als Höhe der Investition y angesehen [wird], während Vertrauenswürdigkeit anhand des zurückgezahlten Betrags x - z + ry gemessen wird“ (Dreher 2022, 14). Mehrpersonenspiele Mehrpersonenspiele sind Werkzeuge der Verhaltensökonomie, mit deren Hilfe soziale Präferenzen und das ökonomische Verhalten menschlicher Akteure studiert werden. Die wichtigsten Spiele sind das Diktatorspiel, das Ultimatumspiel und das Vertrauensspiel in ihren unterschiedlichen Varianten. Für ihre Labor- und Feldexperimente müssen Ökonomen Probanden rekru‐ tieren, die diese Spiele in einer kontrollierten Umgebung spielen. Die Öko‐ nomen dokumentieren und evaluieren statistisch die Entscheidungen, die im Spiel getroffen werden. Im nächsten Abschnitt werden einige dieser Studien aus dem Bereich der Religionsökonomie und ihre Ergebnisse vorgestellt. Religion und ökonomisches Verhalten Wenn also die Verhaltensökonomie das ökonomische Verhalten mensch‐ licher Akteure untersucht, interessiert sich die Verhaltensökonomie inner‐ halb der Religionsökonomie dementsprechend einerseits für den Einfluss religiöser Einstellungen menschlicher Akteure auf ihr ökonomisches Ver‐ halten und andererseits für den Einfluss der religiösen Rahmung auf dieses Verhalten. Zur Erinnerung heben wir nochmals hervor, dass ökonomisches Verhalten nicht auf den Umgang mit materiellen Gütern zu reduzieren ist. Ob ein religiöser Mensch seine Mitmenschen fairer behandelt als ein nichtreligiöser Mensch, ob er altruistischer oder rachsüchtiger ist und ob er gerechter handelt oder strenger bestraft, sind einige Beispiele für Forschungsfragen der religionsökonomischen Verhaltensökonomie auf der individuellen Ebene. Somit erforscht die Verhaltensökonomie, ob und wie Religion (Religiosität oder Spiritualität; → Kapitel 5.3.1) menschliches Verhalten prägt. Diese Fragen haben darüber hinaus eine soziale Ebene: Wenn Religion unser ökonomisches Verhalten beeinflusst, dann hat dies Konsequenzen für unsere Gesellschaft. Wenn z. B. religiöse Menschen oder Angehörige einer bestimmten Religion ihren Glaubensgenossen oder generell anderen Menschen mehr Vertrauen schenken, dann reduzieren sich die Transaktionskosten ökonomischen Handelns in ihrer Gesellschaft (→ Kapitel 7.2.2). Ökonomen studieren den Einfluss von Religion auf 264 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="265"?> Verhalten - wie generell in der Verhaltensökonomie üblich - vor allem durch Labor- und auch Feldexperimente. Um Sie mit der Struktur dieser Studien bekannt zu machen, stellen wir einige wenige von diesen im Folgenden vor. Um es vorwegzunehmen: Trotz vieler interessanter Ergebnisse, die diese Forschungen erbracht haben, können sie die Frage, ob und wie Religion unser Verhalten beeinflusst, noch nicht eindeutig beantworten. Die religionsökonomische Verhaltensökonomie Die religionsökonomische Verhaltensökonomie untersucht den Einfluss von Religion auf das ökonomische Verhalten menschlicher Akteure. Dies realisiert sich zum einem durch ihre religiösen Einstellungen und zum anderen durch die religiöse Rahmung der ökonomischen Interaktion. In einer experimentellen Studie von 1992 (Orbell u. a. 1992), einer der früheren Forschungen der religionsökonomischen Verhaltensökonomie, versuchten einige Wissenschaftler den Einfluss von Religion auf Koopera‐ tionsbereitschaft zu konstatieren. Dafür wurden zwei Reihen von Experi‐ menten in zwei Gemeinden in Logan, Utah und Eugene-Springfield, Oregon durchgeführt. Die beiden Gemeinden unterscheiden sich dadurch, so die Wissenschaftler, dass die kirchliche Bevölkerung der ersteren überwiegend mormonisch geprägt ist, während die Mitglieder der letzteren das gesamte Spektrum der etablierten und nichtetablierten Konfessionen umfasst. In bei‐ den Gemeinden wurden zwei Arten von Daten erhoben, die für diese Studien typisch sind: Verhaltensdaten, die in diesem Fall die Entscheidung der Probanden zwischen Kooperation und Abtrünnigkeit aufzeichnen, wenn ein Anreiz zur Abtrünnigkeit besteht, sowie Fragebogendaten zu religiösen Überzeugungen und dem religiösen Engagement der Probanden. Die Studie kam zum Ergebnis, dass Religion die Zusammenarbeit mit Fremden fördert, jedoch lediglich als ein Nebenprodukt von Prozessen, die die Kooperation mit Mitgliedern derselben Religionsgemeinschaft stärken. Um den Einfluss der Eigen-Fremdgruppierung auf das kooperative Ver‐ halten eines der erfolgreichsten modernen Kollektive, des israelischen Kibbuz, zu eruieren, konzipierten der kanadische Ökonom Bradley Ruffle und der amerikanische Anthropologe Richard Sosis (2006) folgendes Feld‐ experiment. Probanden werden in Paare eingeteilt und jedes Paar verfügt über 100 Schekel. Unabhängig von seinem Partner entscheidet jeder Spieler, 7.1 Die Verhaltensökonomie 265 <?page no="266"?> wie viel von 100 Schekel, zwischen Null und 100, er für sich behält. Wenn die Summe der entnommenen Geldbeträge 100 Schekel übersteigt, erhalten beide Spieler Null und das Spiel ist beendet. Ist die Summe der abgezogenen Beträge kleiner oder gleich 100, so behält jeder Spieler den Betrag, den er abgezogen hat. Außerdem wird der Restbetrag, erhöht um 50 %, gleichmäßig unter den beiden Spielern aufgeteilt. Das optimale Sozialverhalten entspricht keiner Entnahme, sodass sich die Nutzen der beiden Mitspieler maximieren. In einem Durchlauf wurden die Mitglieder eines Kibbuz anonym mit den Mitgliedern desselben Kibbuz und in einem anderen Durchlauf mit israelischen Stadtbewohnern in Paare eingeteilt. Erläuterung-| Kibbuzniks Die Kibbuzniks, die Mitglieder eines Kibbuz, wohnen, arbeiten und leben zusammen. Sie teilen ihr Gesamteinkommen unabhängig von jeglichen Kriterien gleich unter sich auf. Diese Lebensweise wählen die Kibbuzniks freiwillig. Die Entstehung der Kibbuzim geht auf die Anfänge des 20.-Jahrhunderts am See Genezareth zurück. Die Forscher stellten zwei Hypothesen auf: (1) Kibbuzniks kooperieren gleichermaßen mit Kibbuzniks und NichtKibbuzniks, da sie traditionell eine große Bereitschaft zeigen, sich zum Nutzen der israelischen Gesellschaft insgesamt aufzuopfern. (2) Wegen der vom Kibbuz geförderten Werte und Lebensweise kooperieren Kibbuzniks mit Außenstehenden mehr als Außenstehende mit anderen. Einerseits beobachteten die Forscher in ihrem Feldexperiment, dass die Kibbuzniks weniger kooperativ waren, wenn sie mit anonymen Stadtbewohnern gruppiert wurden als mit anonymen Kibbuzniks. Andererseits stellten sie keinen Unterschied in der Koopera‐ tionsbereitschaft der Kibbuzniks und der Stadtbewohner fest, wenn die Kibbuzniks mit den Stadtbewohnern gruppiert wurden. Überraschender‐ weise lasse das kooperative Verhalten gegenüber Ko-Kibbuzniks nach, je länger jemand im Kibbuz lebe. Daraus schlossen die Forscher, dass die Kooperationsbereitschaft der Kibbuzniks auf ihre persönliche Einstellung zurückzuführen ist und nicht durch das Leben im Kibbuz gefördert wird. Wir dürfen das ökonomische Verhalten der Kibbuzniks dabei nicht auf irgendeine religiöse Einstellung zurückzuführen und Religion als Grund für ein spezifisches Verhalten betrachten. Wie Ruffle und Sosis hervorhe‐ 266 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="267"?> ben, sind stattdessen Eigen-Fremdgruppierung der Hauptgrund für das Verhalten. Der Unterschied kann selbstverständlich u. a. durch Religions‐ zugehörigkeit zustande kommen, aber Religion an sich oder die religiöse Einstellung der Akteure bedingen kein bestimmtes Verhalten. Die Eigen-Fremdgruppierung wird in mehreren verhaltensökonomischen Studien thematisiert. In einer Studie (Fershtman und Gneezy 2001) unter‐ suchten Wissenschaftler z. B. verschiedene Aspekte von Diskriminierung. Die Probanden spielten alle drei in → Kapitel 7.1.2 vorgestellten Spiele mit Gegnern unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten und Geschlech‐ ter. Für die Experimente wurden, wie in den meisten Studien, Studenten von Universitäten, in diesem Fall der Universitäten Haifa und Tel Aviv, rekrutiert. Diese Herangehensweise wird in der Verhaltensökonomie wie der (Mikro-)Ökonomie generell kritisiert, da derlei Stichproben kaum der Grundgesamtheit ähneln. In der Studie spielten die Studenten der Universi‐ tät Tel Aviv die Vertrauensgeberrolle des Vertrauensspiels. Die Studenten der Universität Haifa, eingeteilt in vier Gruppen mit zwei Merkmalen - Aschkenasen ( Juden aus Mittel- und Osteuropa) vs. „östlich“ (womit der Nahe Osten bzw. der arabische Raum gemeint zu sein scheint) und Mann vs. Frau - spielten die Vertrauensnehmerrolle. Die Studie ließ einen statistisch signifikanten Unterschied im Durchschnitt des an die männlichen Aschke‐ nasen überwiesenen Betrags im Vergleich zu dem an die „östlichen“ Männer übertragenen Betrags feststellen (15,15 zu 8,06). Demgegenüber wurden die Frauen der beiden ethnischen Gruppen gleichbehandelt. Darüber hinaus stellte sich heraus, dass die „östlichen“ Männer auch von den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe diskriminiert wurden. Im Ultimatumspiel erhielten die Aschkenasen höhere Beträge als die „östlichen“ Männer und Frauen. Im Diktatorspiel hingegen gab es keinen Unterschied. Daraus schlossen die Autoren, dass die Diskriminierung im Vertrauens- und Ultimatumspiel auf eine ethnische Stereotypisierung zurückzuführen ist, nämlich auf die Annahme, wie die „östlichen“ Probanden, besonders die Männer, als Spieler in der Vertrauensnehmerrolle reagieren würden: nicht vertrauensvoll im Vertrauensspiel und mit harter Reaktion im Ultimatumspiel. Zudem wurde kein Hinweis gefunden, dass das Vertrauen der Frauen in ihre Spielpartner auf ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht beruht. Als überraschendes Ergebnis zeigte sich, dass ethnische Diskriminierung ein rein männliches Phänomen ist. Diese Studie legt an den Tag, dass Diskriminierung nicht auf Religion(szugehörigkeit), sondern auf Eigen-Fremdgruppierung zurückzu‐ führen ist. 7.1 Die Verhaltensökonomie 267 <?page no="268"?> Eine weitere Studie (Fershtman, Gneezy und Verboven 2005) untersuchte Diskriminierung und Stereotypisierung im Detail, wobei die Wissenschaft‐ ler u. a. das Verhalten einer bestimmten religiösen Gruppe untersuchten. Sie wollten feststellen, ob bei ihren Probanden diskriminierende Präferenzen vorliegen. In Experimenten mit Studenten im Vertrauensspiel stellten sie Diskriminierung in Belgien fest: Sowohl die Wallonen als auch die Flamen behandelten die Angehörigen ihrer Eigengruppe wie anonyme Personen, während sie die Angehörigen der Fremdgruppe diskriminierten. Die For‐ scher beobachten, dass die beiden belgischen Gruppen den Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe einen signifikant höheren Betrag überwiesen. Im Gegensatz dazu ließ sich das Verhalten ultraorthodoxer religiöser Juden in Israel als Vetternwirtschaft einstufen: Sie bevorzugten gegenüber säkularen Israelis die Mitglieder ihrer eigenen Gruppe und behandelten anonyme Per‐ sonen wie Säkulare und übertrugen durchschnittlich 133.2 Schekel von den ihnen jeweils zur Verfügung gestellten 200 Schekel an andere Ultraortho‐ doxe, jedoch nur 94,1 bzw. 95 Schekel an säkulare und anonyme Studenten. Dieses Verhalten sei misstrauisch und nicht nutzenmaximierend und stelle diskriminierendes Verhalten in Belgien und Vetternwirtschaftliches in Israel dar, so die Forscher. Eine andere Studie von Ruffle und Sosis (2007) konzentrierte sich de‐ zenter auf Religion, indem sie die Frage stellte, inwieweit der Vollzug religiöser Rituale die Kooperationsbereitschaft (der Kibbuzniks) fördere. Die Forschungshypothese lautete, dass kostspielige Rituale das Engagement in‐ nerhalb der Gruppe und kooperatives Verhalten förderten. Der Forschungs‐ fokus wurde auf eine Auslegung des Judentums gelegt, in dem den Männern dreimal täglich ein kostspieliges Kollektivgebet mit mindestens zehn Par‐ tizipierenden obliegt, das unter der Woche täglich eineinhalb bis zwei Stunden und am Sabbat drei bis dreieinhalb Stunden dauert. Die Forscher erwarteten, dass die Ritualteilnehmer höhere Kooperationsbereitschaft als religiöse Frauen zeigen würden, die an solchen Ritualen nicht teilnehmen dürfen. Je häufiger ein religiöser Mensch am gemeinsamen Gebet teilnehme, so die Erwartung, desto kooperativer verhalte er sich. Die Wissenschaftler führten ein Feldexperiment ähnlich ihrer oben vorgestellten Studie durch, das ihre beiden Hypothesen verifizierte. Die Zahlen wiesen auf eine ne‐ gative Korrelation zwischen der Häufigkeit des Synagogenbesuchs und dem entnommenen Betrag hin. Das hieße, je häufiger die Partizipation am Ritual, desto kooperativer die Partizipierenden. Somit sei das Ritual nicht 268 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="269"?> nur ein religiöses Produkt, sondern auch ein Instrument zur Förderung gesellschaftlicher Wohlfahrt. Man kann Religion selbstverständlich nicht als ein monolithisches Ge‐ bilde betrachten, das in ihrer Gesamtheit das Verhalten der Anhänger prägt. Insofern sie dies tut, ist es wissenschaftlich interessant, was genau an Reli‐ gion das Verhalten wie beeinflusst. Daher wählte der singapurische Ökonom Jonathan Tan einen dimensionalen Ansatz zu Religion (Tan 2006), der auf einer älteren Publikation (De Jong, Faulkner, und Warland 1976) basiert. Der Ansatz identifiziert sechs Dimensionen von Religion - Glaube, Erfahrung, Praxis, Wissen, individuelle Moralkonsequenzen und soziale Konsequenzen -, die ersten drei davon als Kerndimensionen. Um die Dimensionen zu identifizieren, entwarfen die Forscher eine Umfrage mit Blick auf Judentum und Christentum, die ebenfalls in der verhaltensökonomischen Forschung verwendet wird, um die Zentralität einer Dimension zu messen. Um die Beziehung zwischen Religion und sozialen Präferenzen präziser zu eruieren, führte Tan eine zweiteilige Studie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) durch. Im ersten Teil befragte er seine Probanden zu ihrer Religiosität; der zweite Teil untersuchte soziale Präferenzen, indem die Probanden 32 Runden der Diktator- und Ultimatumspiele in unterschiedli‐ chen, zufällig gewählten Paaren spielten. Die Untersuchung zeigte, dass die Religiosität der Probanden in ihrer Gesamtheit keinen Einfluss auf ihre sozialen Präferenzen hat. Alle allgemeinen Religiositätskoeffizienten seien statistisch insignifikant, so Tan. Dennoch nehmen die Dimensionen Glaube und Praxis Einfluss auf das ökonomische Verhalten, jedoch in unterschiedliche Richtungen: Der Koeffizient des Angebots im Diktatorspiel für „Glaube“ sei positiv, für „Praxis“ negativ. Der Autor schließt daraus, dass der Einfluss von Religion in vielen Laborexperimenten nicht ersichtlich ist, weil die verschiedenen Dimensionen von Religion ökonomisches Verhalten gegensätzlich beeinflussen. In einer ähnlichen Studie (Tan und Vogel 2008), durchgeführt an derselben Universität, versuchten Tan und die Schweizer Ökonomin Claudia Vogel die Rolle von Religiosität (statt der Religionszugehörigkeit) als eine potenzielle Determinante des Vertrauens und der Vertrauenswürdigkeit zu bestimmen. Die Experimente sollten testen, ob religiösen Menschen mehr vertraut wird, d. h., ob Vertrauen mit der Religiosität des Vertrauensnehmers steigt. In ihren Experimenten konstatierten die Ökonomen, dass das Vertrauen, gemessen an der Investition des Vertrauensgebers im Vertrauensspiel, mit der Religio‐ sität seines Mitspielers korreliert. Zudem vertrauten religiöse Menschen in 7.1 Die Verhaltensökonomie 269 <?page no="270"?> der Vertrauensgeberrolle ihren religiösen Mitspielern signifikant mehr, die weniger religiösen Menschen ihnen jedoch nicht signifikant weniger. Mit Bezug auf dieses Ergebnis stellten sich die Forscher die Frage, ob sich der Unterschied aus einer Eigen-Fremdgruppierung und einer daraus entstan‐ denen „Diskriminierung“ (s. vorangestellte Studien in diesem Abschnitt) ergibt. Die Ergebnisse der durchgeführten Experimente verneinen dies in großen Teilen. Darüber hinaus seien religiösere Menschen als Vertrauens‐ nehmer vertrauenswürdiger und erwidern das in sie investierte Vertrauen positiv. Wie die letzte Studie, versuchte diese ebenfalls den Einfluss der verschiedenen Religionsdimensionen zu messen. Die Korrelation zwischen Religion und Vertrauen wurde sogar auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, über das Verhalten der Individuen hinaus, thematisiert. Jean Ensminger (1997) behauptet diesbezüglich, dass die Verbreitung des Islam in Afrika zum Teil auf die Minimierung der Transaktionskosten mit dem Ziel der Handelsexpansion zurückgeht, da eine gemeinsame Religion das Vertrauen zwischen den Geschäftspartnern erhöht (s. zu Transaktionskosten auch →-Kapitel 7.2.2). Einer ähnlichen Forschungsfrage folgten Azim Shariff und Ara Noren‐ zayan (2007) ebenfalls experimentell, jedoch bestehend aus einem Labor- und einem Feldexperiment. Sie stellten die Frage, ob Religion das prosoziale Verhalten im Diktatorspiel fördere. Im Gegensatz zu den beiden letzten hier vorgestellten Experimenten wurde hier interessanterweise nicht die Religiosität der Probanden, sondern die religiöse Rahmung als Determinante geprüft. Die Forscher maßen den Einfluss von Religion, wenn „Gotteskon‐ zepte“ implizit im Spiel aktiviert wurden. Für diese Aktivierung wurden die Probanden darum gebeten, zehnmal aus den ihnen jeweils gegebenen fünf Wörtern einen Satz mit vier Wörtern zu bilden (z. B. wird aus „felt she eradicate spirit the“ dann „she felt the spirit“). Fünf der zehn Sätze beinhalteten ein auf Religion Bezug nehmendes Wort (spirit, divine, God, sacred oder prophet) und fünf bestanden lediglich aus neutralen Wörtern. Die Forscher stellten in ihrem Laborexperiment mit Studenten einen signi‐ fikanten Unterschied, durchschnittlich 2,38 $ (Initialbetrag = 10 $), zwischen dem übertragenen Betrag in der neutralen und der religiös konnotierten Rahmung fest. Interessanterweise wurde kein Unterschied für die sich als religiös und als atheistisch bezeichnenden Personen festgestellt. In ihrem Feldexperiment, durchgeführt mit Einwohnern von Vancouver, verifizierten die Forscher zunächst den im Laborexperiment beobachteten Effekt und testeten zudem den Einfluss der religiös und säkular konnotierten Rahmung 270 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="271"?> auf das prosoziale Verhalten. Sie stellten beinahe den gleichen Effekt fest, hoben aber hervor, dass sich das Verhalten der Probanden in anderen Experimenten geändert habe, sobald sie sich z. B. mit stilisierten Augen auf einem Bildschirm beobachtet gefühlt hätten. Shariff und Norenzayan betrachten die Rahmung als einen Kontrollmechanismus und sehen ihre Ergebnisse durch diese Studien bestätigt. In einer groß angelegten Untersuchung (Paciotti u. a. 2011), der letzten, die wir hier vorstellen möchten, versuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern wiederum den Effekt von Religion auf prosoziales Verhalten zu untersuchen. Die Fragestellung lautete, ob religiöse Individuen oder Angehörige religiöser Institutionen großzügiger, vertrauensvoller und kooperativer seien. Die Feldexperimente wurden mit dem Diktator-, Vertrauens- und dem soge‐ nannten Öffentliche-Güter-Spiel durchgeführt. Bei letzterem Spiel können die Spieler Geld in einen öffentlichen Fonds einzahlen. Die Beiträge werden verdoppelt und gleichmäßig, unabhängig von ihrem individuellen Beitrag, auf alle Spieler verteilt. Diese Studie wählt (wie einige der hier vorgestellten Beiträge) eine dimensionale Herangehensweise an Religion, die also die Zentralität der jeweiligen Dimensionen untersucht. Um den Bezug zu Reli‐ gion in einem Versuch hervorzuheben oder zu negieren, erhielt die Hälfte der Teilnehmer in jeder Gruppe in ihren Anweisungen den Hinweis, dass ihr Partner religiöse Überzeugungen und eine Beziehung zu Gott hat, die andere Hälfte den Hinweis, dass ihr Partner keine religiösen Überzeugungen und keine Beziehung zu Gott hat. Zudem wurden die Probanden für die Experi‐ mente aus religiösen und säkularen Organisationen rekrutiert, und jedes Spiel wurde direkt nach einem Treffen einer Organisation durchgeführt. Obwohl sich insgesamt keine Mittelwertunterschiede zwischen den An‐ geboten im Diktatorspiel in den beiden Gruppen konstatieren lasse, ver‐ schenke ein ungewöhnlich hoher Anteil der Teilnehmer aus den religiösen Organisationen den vollen Betrag im Diktatorspiel. Beim Vertrauensspiel schicken die Teilnehmer aus den religiösen Organisationen im Durchschnitt einen etwas größeren Betrag an den zweiten Spieler als die Probanden aus den säkularen Organisationen; darüber hinaus schicken religiöse Individuen oder diejenigen, die religiöse Mitspieler hatten, mehr Geld an den zweiten Spieler. Zusammensein in einer religiösen Gruppe oder Spielen mit einer religiösen Person führte zu größerem Vertrauen, so die Forscher. Insge‐ samt deckt die Studie keine starke Korrelation zwischen Religiosität und prosozialem Verhalten auf. Die Experimente belegen kaum, dass religiöse Institutionen Großzügigkeit fördern. 7.1 Die Verhaltensökonomie 271 <?page no="272"?> Diskussionsfrage | Stellen Sie eine Hypothese auf, wie Religion das Verhalten eines Individuums beeinflussen kann. Entwerfen Sie ein Experiment, mit dem Sie Ihre Hypothese testen könnten. Die Verhaltensökonomie ist für die Religionsökonomie als ein sich ent‐ wickelndes Forschungsfeld aus dem Grund wichtig, dass sie die Untersu‐ chung ökonomischen Verhaltens menschlicher Akteure auf ihr prosoziales Verhalten erweitert und ihre soziale Präferenzen mitberücksichtigt. Die Betrachtung des Individuums in Interaktion mit seinem sozialen Umfeld ist für die Religionsforschung grundlegend, weil Religion selbst ein soziales Gefüge ist und daher auch in der ökonomischen Forschung als ein soziales Gefüge untersucht werden muss. Die Hervorhebung des sozialen Aspekts bringt uns zum nächsten Abschnitt dieses Kapitels, einem Ansatz, der die Soziologie mit der Ökonomie näher zusammenbringt. 7.2 Die Neue Institutionenökonomik Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) ist ein Ansatz innerhalb der Ökono‐ mie, welcher auch in der Wirtschaftssoziologie auf Interesse gestoßen ist. Im Kern nutzt die NIÖ mikroökonomische Annahmen und Vorgehensweisen, um soziales Verhalten mit besonderem Blick auf die Institutionen einer Gesellschaft zu erklären. Dabei ist jedoch der Institutionenbegriff in der NIÖ nicht einheitlich definiert worden; grundlegend wird die basale Definition des amerikanischen Ökonomen Douglass C. North herangezogen, der sie als „Spielregeln“ einer Gesellschaft bzw. als formelle und informelle Hand‐ lungsbeschränkungen auffasst (1990; s. unten). Bevor wir im zweiten Teil des Abschnitts genauer auf die NIÖ eingehen, wird im ersten Teil ein Überblick über den Neo-Institutionalismus in der Organisationssoziologie gegeben, da die NIÖ nicht nur in der Ökonomie verwurzelt ist, sondern auch von der Organisationstheorie beeinflusst wurde. Gerade mit Bezug auf Religion ist es vorab wichtig zu betonen, dass der Neo-Institutionalismus sich für die wechselseitigen Einflüsse zwischen Institutionen und Organisationen sowie für den daraus resultierenden bei‐ derseitigen Wandel interessiert. Nun können Religionen, je nach Definition, sowohl als Institutionen, als auch als Organisationen gefasst werden. → Ka‐ pitel 5 z. B. beschäftigt sich mit Religionen als ökonomischen Akteuren, fasst Religionen also als Organisationen auf, die Ressourcen einsetzen müssen, 272 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="273"?> um sich zu finanzieren (und ggf., um sich zu vermarkten). → Kapitel 4 ist mit den Auswirkungen religiös-ökonomischer Ethik auf individuelles Handeln und dessen gesellschaftliche Konsequenzen befasst, versteht Religionen hingegen also eher als Institutionen - als informelle Werte und Normen, aber auch als formale Ge- und Verbote. Die NIÖ versteht Religionen ebenfalls eher als Institutionen, durch ihren Fokus auf die Wechselwirkung mit Organisationen spielt aber auch die Organisationsförmigkeit von Religion eine wichtige Rolle. Insgesamt muss festgestellt werden, dass das Ausmaß religionsbezogener Arbeiten innerhalb der NIÖ bislang gering ist und nur wenige empirische Arbeiten vorliegen. 7.2.1 Sozialwissenschaftliche Grundlage: Der Neo-Institutionalismus Wenn wir Religionen als Organisationen betrachten, gehen wir von einem Spektrum ganz unterschiedlich ausgeprägter Organisationen aus. Ein hin‐ duistischer Tempel unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht grundlegend von einem buddhistischen Nonnenkloster und dieses wiederum von jüngeren Religionen wie dem Mormonentum oder Scientology. Dennoch haben all diese Beispiele grundsätzliche Gemeinsamkeiten, darunter an erster Stelle ihre Einbettung in gesellschaftliche Strukturen: Nicht nur Individuen, son‐ dern auch Organisationen sind in soziale Kontexte eingebettet, werden von diesen geprägt und beeinflussen ihren Kontext umgekehrt selbst auch. Man spricht in diesem Zusammenhang von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit, um die Tatsache zu beschreiben, dass gesellschaftli‐ che Symbole und Bedeutungssysteme nicht nur als verinnerlichte Phäno‐ mene existieren, sondern auch als externe, objektive Strukturen, die auf Glauben und Handeln zurückwirken. Die beiden Begründer der Neueren Wissenssoziologie, der amerikanische Soziologe Peter L. Berger und der österreichisch-amerikanische Soziologe Thomas Luckmann, gehen in ihrem einflussreichen Band Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von einem dreischrittigen Prozess der Institutionalisierung aus (1969, 95 ff.): ● Durch Externalisierung werden symbolische Strukturen in sozialer Interaktion produziert, deren Bedeutungen dann von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft bzw. einer Gesellschaft (je nach Kontext) geteilt werden. 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 273 <?page no="274"?> ● Durch Objektivierung „begegnen“ die Mitglieder ebendiesen Bedeu‐ tungen als Fakten, als „Wahrheit dort draußen“, als mit anderen geteilte Realität. ● Durch Internalisierung wird diese objektivierte Realität im Zuge der Sozialisation ins Bewusstsein der Mitglieder wiedereingeführt und verankert. Berger und Luckmann sprechen von diesem Dreischritt als Prozess der Institutionalisierung. Institutionen sind für sie Symbolsysteme, die in der Erfahrung von Individuen eine eigene Realität besitzen und ihnen als externe und unausweichliche Tatsachen begegnen. Religionen als Glaubens‐ systeme sind hierfür ein einschlägiges Beispiel. In einem frühen Stadium einer Religion entwickelt sich der Glauben an Gottheiten, z. B. in Form des hinduistischen Pantheons, und verbreitet sich unter der wachsenden Anhängerschaft (Externalisierung). Mit der Zeit wird die Vielzahl der Götter im sich institutionalisierenden Hinduismus als religiöse Wahrheit angesehen; das Pantheon wird nicht mehr als menschengemacht, sondern als gottgegebene Realität verstanden (Objektivierung). Diese Überzeugung prägt und verändert die Praxis der Gläubigen, z. B. indem sich Rituale, Geschichten und weitere Glaubenselemente anpassen und verfestigen. Im Bewusstsein der Anhänger wird diese neue Realität verankert und an nachfolgende Generationen weitergegeben (Internalisierung). Diese wissenssoziologische Einleitung ist für unseren Zusammenhang ein entscheidender Baustein, um zu begreifen, dass religiöse Organisationen immer von ihrer Umwelt, von ihrem gesellschaftlich-kulturellen Kontext be‐ einflusst sind. Bis in die 1970er-Jahre war diese Erkenntnis in der westlichen Wissenschaft, insbesondere der Ökonomie, Soziologie und Politikwissen‐ schaft, nicht weit verbreitet (Scott 2014). Aus ihren jeweiligen Perspektiven konzentrierten sich diese Disziplinen mit Blick auf Organisationen vor allem auf deren interne Funktionsweise, insbesondere auf die Rolle individueller Handlungen und Motivationen. Man ging gemäß der rational choice-Theorie (→ Kapitel 6.1.1) von nutzenmaximierenden Entscheidungen einzelner Or‐ ganisationsmitglieder aus, die zu einem koordinierten, effizienten Funktio‐ nieren und damit dem Erreichen der jeweiligen Organisationsziele führten. Dies änderte sich im Zuge der neo-institutionalistischen Wende. Durch sie wurde einerseits der bis dahin einseitige Fokus der Organisationssoziolo‐ gie auf Wirtschaftsorganisationen erweitert, um Politik, Kultur und auch Religion miteinzubeziehen; so wurden Organisationen durch den Neo-In‐ 274 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="275"?> stitutionalismus erfolgreich aus ihrer „ökonomischer Ecke“ (Senge 2011, 155) herausgeholt. Andererseits führte der Fokus auf Institutionen zu einem breiteren, umfassenderen Blick auf die Funktionsweise von Organisationen, die aus mehr als nur internen Abläufen besteht, sondern auch durch externe Einflüsse bedingt ist. Der Neo-Institutionalismus interessiert sich also für Umweltein‐ flüsse auf Organisationen, insbesondere dafür, wie Organisationen von ihren institutionellen Kontexten geprägt und geändert werden. Er muss sich die Kritik gefallen lassen, den Begriff „Institution“ dabei uneinheitlich und nur unzureichend definiert zu haben und auch die Entstehung von Institu‐ tionen sowie ihre gesellschaftliche Durchdringung nicht zu thematisieren (Senge 2011). Im Sinne des Allgemeinverständnisses von Institutionen als „Spielregeln“ einer Gesellschaft (North 1990) definiert der amerikanische Organisationssoziologe W. Richard Scott in einer der einflussreichsten Aus‐ arbeitungen zum Neo-Institutionalismus in der Ökonomie, der Soziologie und der Politikwissenschaft Institutionen als bestehend aus „regulative, nor‐ mative, and cultural-cognitive elements that, together with associated activities and resources, provide stability and meaning to social life“ (2014, 56; Her‐ vorhebung i. O.). Die Wirtschafts- und Organisationssoziologin Konstanze Senge nutzt einen ähnlich breiten Institutionenbegriff: „Institutionen gelten als soziale Regeln, aus denen sich typisierte Anweisungen für Handlungen ableiten lassen, die verbindlich, maßgeblich und dauerhaft Organisationen beeinflussen“ (2011, 152). Das Kernargument des Neo-Institutionalismus ist also, dass systematisierte und dauerhafte gesellschaftliche Normen und Werte Organisationen nachhaltig prägen. Der Neo-Institutionalismus Der Neo-Institutionalismus bezieht in seiner Untersuchung der Ent‐ wicklung von Organisationen den Einfluss institutioneller Faktoren als regulative, normative und kulturell-kognitive gesellschaftliche Ele‐ mente ein. Für religiöse Organisationen ist dabei besonders relevant, dass sie sich zum Überleben Legitimität verschaffen müssen als Beleg dafür, dass sie mit gängigen Institutionen konform sind (Meyer und Rowan 1977). Eine zentrale Strategie dafür ist das Anpassen an andere Organisationen im gleichen Organisationsfeld, wie die amerikanischen Soziologen Paul DiMaggio und 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 275 <?page no="276"?> Walter W. Powell in verschiedenen Arbeiten gezeigt haben (1983, 1991). Sie unterscheiden drei Arten von organisationalen Anpassungsstrategien, um Legitimität zu erhöhen: imitierenden (mimetic), regulativ-erzwungenen (coercive) und normativen Isomorphismus. Wenn also der amerikanische Mainline-Protestantismus im Zuge seiner Geschichte im 20. Jahrhundert immer bürokratischere und hierarchischere Strukturen entwickelte, oder sich das globale Pfingstlertum auf der ganzen Welt netzwerkartig und durch die Anpassung an lokale Kontexte ausbreitete, wird mimetischer Isomorphismus ersichtlich. Das Befolgen rechtlicher Vorgaben führt zu regulativ-erzwungenem Isomorphismus - z. B. durch gesetzliche Verbote in den USA, als religiöse Organisation Steuerabgaben zu erheben, oder durch die deutsche Kirchensteuer, die als Abgabe der Mitglieder automatisch durch den Staat eingezogen wird. Zuletzt beeinflussen normativ-kulturelle Erwartungshaltungen der Gesellschaft das Bild „legitimer“ Organisationen, z. B. dass Frauen im Katholizismus mehr Einfluss und Sichtbarkeit haben sollten. Dies stellt die römisch-katholische Kirche bekanntermaßen vor ein integrales Dilemma, muss sie doch diese Erwartung mit ihrem männlich dominierten Selbstverständnis vor dem Hintergrund massiven Mitglieder‐ verlusts vereinbaren (normativer Isomorphismus). Anpassung an institutionelle Rahmenbedingungen zur Legitimitätsstei‐ gerung bedeutet allerdings nicht, dass eine Organisation in ihrer Ar‐ beitsweise effizienter wird. Die amerikanische Mainline und auch die römisch-katholische Kirche kränkeln sogar an Bürokratie, Hierarchie und Rationalisierung; sie sind immer weniger in der Lage Anhänger von ihren Glaubensgrundsätzen und Praktiken zu überzeugen, da sie als schwerfällig und selbsteingenommen gelten. Aus neo-institutionalistischer Perspektive ist es wichtig zu betonen, dass Organisationen in institutionelle Kontexte eingebettet sind, die gleichzeitig ganz unterschiedliche Anforderungen an sie stellen - in der Literatur wird von „rationalisierten Mythen“ gespro‐ chen (grundlegend: Meyer und Rowan 1977) -, die unterschiedlichen und gleichermaßen „legitimen“ Antworten bedürfen. In diesem Sinne können Organisationsfelder als Wettbewerbsarenen aufgefasst werden, die durch unterschiedliche Antworten auf institutionelle Forderungen um Macht und Einfluss konkurrieren (s. in diesem Zusammenhang → Kapitel 6.2 zu Pierre Bourdieus Feldtheorie) und durchaus auch unterschiedliche Entwicklungs‐ prozesse durchlaufen (Greenwood et al. 2017). 276 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="277"?> Diskussionsfrage | Zählen Sie unterschiedliche religiöse Institutio‐ nen und die Organisationen auf, die aus ihnen entstanden sind. Was sind Gründe für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ver‐ schiedenen Organisationen? Welche Rolle spielen Isomorphismus und Legitimität dabei? Inwiefern wird dafür geringere Effizienz in Kauf genommen? Bevor wir uns im nächsten Abschnitt der Neuen Institutionenökonomik zuwenden, soll der Mehrwert eines sozialkonstruktivistischen Institutio‐ nenbegriffs nochmals betont werden. Institutionen sind in diesem Sinne mehr als nur rechtlich-regulative Rahmenbedingungen und viel breiter und diffuser als selbstverständlich akzeptierte Werte und Normen einer Gesellschaft (Greenwood et al. 2017). Entsprechend ist das Legitimitätsbe‐ streben von Organisationen ein vielschichtiger und teils widersprüchlicher Aushandlungsprozess, der einem genaueren Blick auf Akteure innerhalb von Organisationen bedarf. Der Neo-Institutionalismus hat dafür, fernab der rational choice-Theorie, die Konzepte des institutionellen Unternehmers (institutional entrepreneur), der eingebetteten Handlungsmacht (embedded agency) und der institutionellen Arbeit (institutional work) geprägt (Fligstein 1997; Suddaby und Greenwood 2005; Battilana et al. 2008; Lawrence et al. 2009). Durch den Fokus auf unternehmerisch handelnde Individuen innerhalb von Organisationen, den Einfluss von Institutionen auf ihren Handlungsspielraum und die Rolle institutioneller Arbeit als die Entwick‐ lung, das Aufrechterhalten und das Auflösen von Institutionen gelingt dem Neo-Institutionalismus ein gewisser Ausgleich zwischen den konkurrieren‐ den Kräften von Struktur (Institutionen) und individueller Handlungsmacht (entrepreneurship). Diese kurze Einführung in den Neo-Institutionalismus legt die Grundlage zur Einordnung der im nächsten Teil behandelten Neuen Institutionenöko‐ nomik. 7.2.2 Religion und die Neue Institutionenökonomik Wie einleitend angemerkt, hat die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) wichtige Impulse aus dem Neo-Institutionalismus erhalten, um die Auswir‐ kungen von Institutionen auf wirtschaftliche Entwicklung zu untersuchen. Sie wendet dabei mikroökonomische Vorgehensweisen an, um sozia‐ les Verhalten mit besonderem Blick auf die Institutionen einer Ge‐ 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 277 <?page no="278"?> sellschaft zu erklären. Organisationen spielen auch hier eine Rolle, wenn auch der Blick auf sie tendenziell geringer ausgeprägt ist als im Neo-Insti‐ tutionalismus. In Bezug auf Religion sollte im Folgenden im Hinterkopf gehalten werden, dass Religionen und religiöse Normen in der NIÖ in erster Linie als Institutionen verstanden werden, die Wertegerüste und Regelwerke liefern und somit wirtschaftliches Handeln und die gesamt‐ gesellschaftliche Wirtschaftsentwicklung beeinflussen. Diese Institutionen finden aber Ausdruck in religiösen Organisationen, die sie gewissermaßen bündeln und umsetzen. In diesem Sinne ist die NIÖ als theoretischer Ansatz weder auf der Mikroebene noch der Makroebene der Gesellschaft verortet, sondern konzentriert sich auf die Mesoebene (s. → Kapitel 2.2.1 zu Gesellschaftsebenen). Die NIÖ weist zahlreiche Überschneidungen mit soziologischen und politikwissenschaftlichen Arbeiten im Rahmen des Neo-Institutionalismus auf. Sie geht davon aus, dass wirtschaftliches Handeln und die ökonomische Entwicklung einer Gesellschaft immer von sozialen, kulturellen und histo‐ rischen Umständen beeinflusst ist und ohne deren Einbezug weder richtig verstanden noch sinnvoll untersucht werden kann. Die frühen ökonomi‐ schen „Institutionalisten“, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Tradition des amerikanischen Institutionalismus in den USA tätig waren und als Vorläufer der Neuen Institutionenökonomik gelten, legten dafür wichtige Grundlagen. Die Ansätze von Thorstein Veblen, John Commons und Westley Mitchell unterscheiden sich zwar voneinander; dennoch bauen sie alle auf den Annahmen auf, dass der Markt in der Realität nie in vollkommenem Gleichgewicht und somit nicht vorhersehbar ist; dass die Präferenzen der Marktteilnehmer immer auch von sozialen Institutionen geprägt sind, die die Ökonomie dringend genauer untersuchen müsse; dass Motivationen wirtschaftlichen Handelns nicht auf utilitaristischen Model‐ len, die vom rein nutzenmaximierenden Individuum ausgehen, beruhen, sondern pragmatischere, psychologisch realistischere Annahmen zugrunde legen sollten; und dass Veränderungen der Wirtschaftssysteme vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und historischen Einflüsse untersucht werden müssten ( Jacoby 1990; zusammenfassend Scott 2014). Damit waren seitens der „Institutionalisten“ die Weichen gegen die Mikroökonomik gestellt, die vom individualistischen, nutzenmaximierenden Modell des Homo oecono‐ micus (→ Kapitel 1.3 und 6.1) ausgehen, der losgelöst von jeglicher sozialer oder historischer Verankerung untersucht werden könne. 278 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="279"?> Auf diesen Grundannahmen aufbauend, machte es sich die Neue Institu‐ tionenökonomik ab den 1970er-Jahren zur Aufgabe, eine ökonomische Theorie von Institutionen zu erarbeiten. Die vielfältigen Strömungen, die zu dieser Denkrichtung beitrugen und beitragen, sind dabei schwer unter den einen metaphorischen Hut zu bringen, da die Ansätze und Schwerpunkte, die sich aus ökonomischer Perspektive mit dem Entstehen von Institutionen und deren Auswirkung auf Organisationen beschäftigen, teils sehr unterschiedlich sind (s. auch Senge 2011, FN 37). Eine vielzitierte Zwischenbilanz mit Ausblick zieht der amerikanische Ökonom Oliver E. Williamson (2000). Darin merkt er an, dass die NIÖ trotz des enormen Fortschritts in der Forschung zu Institutionen „still very ignorant about institutions“ (595) ist und vorerst gut daran täte, den internen Pluralismus zu akzeptieren, bis eine einheitliche Theorie aus den bisherigen Ansätzen entsteht. Vor diesem Hintergrund ist auch der folgende Abriss zu lesen, der ausgewählte Autoren und ihre Ansätze in dem Bestreben in den Mittelpunkt rückt, die wichtigsten Linien der NIÖ nachzuzeichnen. In seiner überarbeiteten, sehr hilfreichen Zusammenfassung der wichtigs‐ ten Merkmale der Neuen Institutionenökonomik merkt Scott (2014) an, dass es ihr zwar bislang noch nicht gelungen sei, den neoklassischen Rahmen zu‐ gunsten von Untersuchungen zu den Bedingungen der Entstehung und des Wandels von Institutionen hinter sich zu lassen; dies stelle nach wie vor ein Desiderat, eine Forschungslücke, dar. Allerdings habe es die NIÖ geschafft, die Rationalitätsgrundlage des Homo oeconomicus so zu erweitern, dass Handeln nicht als absolut nutzenmaximierend aufgefasst wird, sondern nur in dem Umfang, in dem Akteure die Konsequenzen ihres Handelns durch die ihnen vorliegenden Informationen in einer gegebenen Situation überblicken (bounded rationality; s. grundlegend Simon 1955). Sie habe außerdem den Fokus vom idealen Marktgleichgewicht hin zu ökonomischen Pro‐ zessen und Entwicklungen verschoben, womit auch die Lernfähigkeit der Akteure anerkannt werde; und sie habe die Erkenntnis betont, dass öko‐ nomisches Handeln nicht nur durch Markttransaktionen, sondern auch durch unterschiedlichste institutionelle Strukturen zu erklären sei, die für sich eingehender untersucht werden müssten. 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 279 <?page no="280"?> Neue Institutionenökonomik Die Neue Institutionenökonomik betrachtet individuelles wirtschaftli‐ ches Handeln und die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsentwicklung vor dem Hintergrund sozialer, kultureller und historischer Einflüsse, um eine mikroökonomische Theorie der Bedeutung von Institutionen zu erstellen. An dieser Stelle wird das religionswissenschaftliche, insbesondere das religionsökonomische Potential der Neuen Institutionenökonomik deutlich: Durch den Fokus auf Institutionen rücken Religionen als Träger von gesellschaftlichen „Spielregeln“ ins Zentrum der ökonomischen Auf‐ merksamkeit. Auch die NIÖ untersucht dabei religiöse Phänomene mit wirt‐ schaftswissenschaftlichen Methoden, wie wir es in → Kapitel 5.2 und 6.1 be‐ reits kennengelernt haben. Durch die Abkehr vom Homo oeconomicus und den Einbezug der bounded rationality lässt sie das neoklassische Paradigma (→ Kapitel 1.2.2) allerdings ein Stück weit hinter sich. Vielmehr interessiert sie sich für den stetigen, weit in die Geschichte zurückreichenden Einfluss von Religionen als Institutionen auf wirtschaftliches Handeln im Rahmen der darin vorhandenen Organisationen. Durch den konzeptuellen Fokus auf Institutionen aus ökonomischer Perspektive ist die NIÖ von den in → Ka‐ pitel 4 vorgestellten Ansätzen der Auswirkungen religiös-ökonomischer Ethiken auf wirtschaftliches Handeln und die Entwicklung verschiedener Gesellschaften zu unterscheiden, wobei die Arbeiten Timur Kurans (→ Ka‐ pitel 4.2.2) durchaus von der NIÖ beeinflusst sind. Aus institutionenökono‐ mischer Perspektive ist es relevant, wie religiöse Institutionen, gebündelt in und vermittelt durch Organisationen, ökonomische Strukturen formen und beeinflussen und welche wechselseitigen Einflüsse sich in diesem Prozess entwickeln - in Geschichte und Gegenwart. Dabei werden religiöse Organisationen nicht mit Profitunternehmen gleichgesetzt, sondern in ihrer Vielfältigkeit berücksichtigt (Koch 2014). Diskussionsfrage-| Inwiefern unterscheiden sich religiöse Institutio‐ nen von religiösen Organisationen? Warum ist diese Unterscheidung aus Sicht der NIÖ bedeutsam? Ein genauerer Blick auf die Arbeiten des amerikanischen Ökonomen Doug‐ lass C. North hilft zur weiteren Klärung und Veranschaulichung. Anstatt 280 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="281"?> „Spielregeln“ spricht North später genauer von Institutionen als „Struk‐ tur“: „The structure we impose on our lives to reduce uncertainty is an accumulation of prescriptions and proscriptions together with the artifacts that have evolved as part of this accumulation. The result is a complex mix of formal and informal constraints [that] are embedded in language, physical artifacts, and beliefs that together define the pattern of human interaction“ (2005, 1). Institutionen sind demnach „menschengemachte“ Strukturen, die Unsicherheit durch gemeinsame Regeln senken. Diese Regeln sind formelle und informelle Einschränkungen menschlicher Interaktion, die (u. a.) in Sprache, Materialität und Glaubensüberzeugungen (beliefs) eingebettet sind. Letztere sind für Norths Verständnis von institutionellem Wandel zentral, wobei er mit Glaubensüberzeugungen nicht Religion meint, sondern vor allem die Überzeugungen und Ideen politischer und wirtschaftlicher Führungsfiguren (entrepreneurs) und deren Umsetzung in konkrete Richtlinien (policies). Hier zeigt sich die im vorherigen Abschnitt skizzierte wissenssoziologische Grundlage (→ Kapitel 7.2.1) von Norths Überlegun‐ gen: Glaubensüberzeugungen - später spricht er gar von Glaubenssystemen, wieder ohne explizit religiösen Bezug - sind für ihn innere Repräsentationen zur Interpretation der Umwelt, Institutionen ihre externen Manifestationen. North entwickelt auf dieser Basis den Begriff der mentalen Modelle, die als verinnerlichte Deutungsmuster der Umwelt dazu dienen, Unsicher‐ heit zu senken und Komplexität zu reduzieren. In einer der bislang sehr wenigen Anwendung der Neuen Institutionenökonomik auf den Bereich der Religion fasst Ron Brinitzer (2003) Religion selbst als eine gesellschaftliche Institution, ihre Rituale als Ausdruck von mentalen Modellen. Die hinduis‐ tische puja ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel. Die einfachste Form dieses Rituals ist die einer Opferspende, z. B. in Form von Blumen oder Früchten, die vor einem Gottesbild abgelegt wird. Es gibt jedoch auch äußerst komplexe und vielschichtige Versionen, die unter der Beteiligung zahlreicher Anhänger in elaborierten Tempelritualen vollzogen werden. Nicht nur ist die Ausgestaltung der puja abhängig von sozialen, kulturellen, religiösen und historischen Besonderheiten - der institutionellen Struktur -, sondern die Art und Weise, wie sie vollzogen wird, spiegelt die gemeinsamen mentalen Modelle aller Teilnehmender wider (North spricht von geteilten mentalen Modellen auch als „Ideologien“, wobei er diesen Begriff wertfrei nutzt). Warum ist es aber wichtig, Unsicherheit und Komplexität durch geteilte mentale Modelle zu minimieren? 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 281 <?page no="282"?> Auf individueller Ebene machen es Handlungseinschränkungen (constra‐ ints) den Ritualteilnehmern leichter, Vertrauen in andere zu fassen und deren Handeln vorhersagen zu können, mit dem Vorteil der Bestätigung des mentalen Modells einerseits und der Produktion eines öffentlichen religiösen Guts andererseits (Koch 2014). Auf institutioneller Ebene fallen für religiöse (und säkulare) Organisationen stets Transaktionskosten (→ Kapitel 3.4.1) bei Marktbeteiligung an: Informationsbeschaffungskosten, Verhandlungskosten, Kontrollkosten sowie diverse Investitionen und Op‐ portunitätskosten (s. grundlegend Coase 1937). Diese Kosten werden durch geteilte mentale Modelle ein Stück weit reduziert, da Vertrauen in andere Marktteilnehmer durch gemeinsame Deutungsmuster und Institutionen entsteht und das Verhalten des Gegenübers leichter vorhersagbar ist. Wenn der Tempel die elaborierte puja also auf etablierte Weise durchführt, kann er davon ausgehen, die für das Ritual notwendigen Ressourcen zu überschauen und ein erwartbares Ergebnis zu produzieren: Die institutionelle Struktur senkt die Kosten einer religiösen Organisation und erhöht ihre Sicherheit. Dies ist eine zentrale Erkenntnis der Neuen Institutionenöko‐ nomik gegenüber der Neoklassik, die von einem idealen Marktgleichge‐ wicht ausgeht (→ Kapitel 3.3.2) und externe Faktoren nicht einbezieht. Es wird hier nicht ausschließlich auf den Markttausch als bereinigtes Modell geblickt, sondern der Einfluss von Institutionen auf Organisationen als Marktakteure mitberücksichtigt. Wie sieht es aber mit institutionellem Wandel aus, wenn etablierte Institutionen ein solches Maß an Sicherheit für Organisationen bieten? Ist Wandel überhaupt möglich? In Norths Ansatz vollzieht sich Wandel, indem aufgrund von Interpretationen gesellschaftlicher Realität Ideen entstehen (z. B. politischer oder wirtschaftlicher Fortschritt), die sich mit der Zeit in Form von Institutionen festigen (z. B. Fleiß, Arbeitsbereitschaft, Engagement (informelle Einschränkungen), gesetzliche Rahmenbedingungen wie Eigen‐ tumsrechte und geregelte Arbeitszeiten (formelle Einschränkung)), die wie‐ derum policies hervorbringen (z. B., um Wirtschaftswachstum zu fördern), die die Wahrnehmung der Realität ändern (z. B. Fortschritt = Wachstum) und nur schwer rückgängig gemacht werden können. Hier kommt der in der Neuen Institutionenökonomik so wichtige Begriff der Pfadabhängigkeit ins Spiel, der laut North wesentlich mehr besagt, als dass gegenwärtige Handlungen und Strukturen von der Geschichte ihrer Institutionen geprägt sind. Vielmehr kommt darin zum Ausdruck, dass die „Anhäufung“ von Institutionen zur Entstehung bestimmter Organisationen geführt 282 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="283"?> hat, deren Überleben abhängig ist von dem Bestand ebendieser Institutionen und die ihre Ressourcen deswegen in das Bestehen der institutionellen Struktur investieren, um damit ihr eigenes Überleben zu sichern. North betont: „The interaction of beliefs, institutions, and organizations in the total artifactual structure makes path dependence a fundamental factor in the continuity of a society […]. Path dependence is not ‚inertia‘, rather it is the constraints on the choice set in the present that are derived from historical experiences of the past“ (2005, 52; Hervorhebung hinzugefügt). Pfadabhängigkeit Unter Pfadabhängigkeit werden die Einschränkungen bzgl. eines mög‐ lichen Entscheidungsspektrums einer Gesellschaft verstanden, welches durch historische Entwicklungen entstanden ist. Pfadabhängigkeit be‐ deutet nicht, dass institutioneller Wandel unmöglich ist (er geschieht im Gegenteil kontinuierlich, wenn auch meist langsam), sondern dass mögliche Richtungen des Wandels beschränkt sind. Nehmen wir die römisch-katholische Kirche als Beispiel. Sie hat sich im Laufe der Jahrhunderte stetig verändert, zwar nie abrupt oder grundsätzlich, aber schleichend-kontinuierlich. Ein aktuelles Beispiel für das Entstehen neuer Ideen als Grundlage für institutionellen Wandel ist die zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer lauter werdende Forderung nach Reformen, darunter mehr Gleichberechtigung für Frauen innerhalb der Kirche. Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre ein solcher Ansatz undenkbar gewesen; in Zeiten von weltweiten Missbrauchsskandalen und #MeToo haben sich Interpretationen der Realität und internalisierte Denkmuster ein Stück weit geändert und somit institutionelle Verschiebungen ermöglicht. Mittlerweile wurde mit dem Synodalen Weg eine Unterorganisation der römisch-ka‐ tholischen Kirche etabliert, die andere Interessen vertritt als ältere Unter‐ organisationen und den institutionellen Wandel somit vorantreibt. Dies erhöht die Transaktionskosten innerhalb der Kirche enorm, was laut der Neuen Institutionenökonomik eine Anpassung der institutionellen Struktur (Wandel) zur Kostensenkung erforderlich macht. Für North sind organizational entrepreneurs als Führungsfiguren in‐ nerhalb von Organisationen zentral im Prozess des institutionellen Wandels: „The rate of change will depend on the degree of competition among organizations and their entrepreneurs“ (2005, 2). Je höher der Wettbewerb 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 283 <?page no="284"?> zwischen Organisationen bzw. ihren Führungsfiguren, desto schneller voll‐ zieht sich dieser Wandel laut North, da Organisationen zum Überleben kontinuierlich in „skills and knowledge“ (2005, 59) - Fertigkeiten und Wissen - ihrer Mitarbeiter investieren müssen. Welche Expertise dabei am nutzenmaximierendsten eingeschätzt wird, ist wiederum von der institutio‐ nellen Struktur abhängig, führt aber auch zum Entstehen neuer Ideen und Überzeugungen, die Wandel anstoßen. Damit ist institutioneller Wandel für North nach wie vor stark von Führungsfiguren als Individuen abhängig, so eingeschränkt sie in ihrer Handlungsmöglichkeit durch institutionelle Strukturen auch sein mögen. Wie oben bereits mehrfach betont, geht er dabei allerdings von Akteuren aus, die Entscheidungen auf Grundlage der bounded rationality treffen. Diese gehen nicht absolut nutzenmaximie‐ rend wie der homo oeconomicus vor, sondern streben in Abhängigkeit ihrer Interpretationen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und bestimmter Handlungsoptionen ein zufriedenstellendes Niveau an, das auch unter dem Maximum liegen kann (Koch 2014; zur kulturalistischen Erweiterung des Begriffs der bounded rationality (s. Tanner 2004). Diskussionsfrage | Wenn Institutionen sich durch relative Starrheit und Pfadabhängigkeit auszeichnen, warum sind dann gerade organi‐ zational entrepreneurs so wichtig, um institutionellen Wandel anzusto‐ ßen? Die Neue Institutionenökonomik ist breit rezipiert worden, in den Sozialwis‐ senschaften wie in der Ökonomie. Wird der stärkere Einbezug von Institu‐ tionen auf individuelles wirtschaftliches Handeln generell begrüßt, so muss sie sich die Kritik gefallen lassen, über das in der Neoklassik vorherrschende Paradigma des rational handelnden Individuums nur ansatzweise hinaus‐ gekommen zu sein und sowohl gesellschaftliche Einflussfaktoren als auch die Sicht der beteiligten Akteure nicht ausreichend einzubeziehen (s. aber z. B. Wischermann 1998 und 2004 für einen kulturalistischen Erweiterungs‐ ansatz der NIÖ). Der amerikanische Wirtschaftssoziologe Mark Granovetter, Mitbegründer und einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten new eco‐ nomic sociology, entwickelte mit seiner Theorie der Einbettung (embedded‐ ness) wirtschaftlichen Handelns in soziale Netzwerke eine grundlegende Kritik an der Neuen Institutionenökonomik (1985). Er geht von der rela‐ tionalen, strukturalen und temporalen Einbettung wirtschaftlichen Handelns aus, dass es also grundlegend von den Beziehungen der Akteure 284 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="285"?> untereinander (besonders der dyadischen Zweierbeziehung), der Struktur ihrer Netzwerke und ihrer sozial-interaktiven Prägungen beeinflusst sei (Granovetter 2017). Damit greift er die Frage nach Unsicherheit und Trans‐ aktionskosten auf und argumentiert, dass Beziehungsnetzwerke gegen Unsicherheit „absichern“ und Transaktionskosten damit gesenkt werden. Für ihn ist wirtschaftliche Interaktion also nochmal deutlich sozialer geprägt als in der NIÖ. Granovetters Ansatz wurde gerade durch das Argument der unsicher‐ heitsreduzierenden Wirkungen sozialer Netzwerke mit Blick auf Markt‐ tausch in der Soziologie positiv aufgenommen, wenn auch die NIÖ u. a. die Überbetonung von Märkten als Handlungskontexte und die fehlende Einbindung institutioneller Einflüsse kritisiert (Maurer 2021). Granovet‐ ter problematisiert hinsichtlich der NIÖ umgekehrt die dort verbreitete Annahme, dass Institutionen Effizienz fördern und Organisationen stets bestrebt sind, effizienter zu werden. Diese Annahme wurde schon im frühen Neo-Institutionalismus grundlegend hinterfragt; so argumentieren die amerikanischen Ökonomen John W. Meyer und Brian Rowan in ihrem einflussreichen Artikel „Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony“ (1977), dass Organisationen mitnichten nach mehr Effizienz streben, sondern vielmehr ihre Legitimität im Vergleich zu anderen Organisationen durch das Übernehmen von Strukturen und Prozessen versuchen zu untermauern - selbst, wenn diese in der Praxis die Organisationseffizienz sogar senken (man denke z. B. an interne Ver‐ waltungsapparate, die den rationalisierten Erwartungen der modernen Gesellschaft entsprechen, interne Abläufe durch überbordende Bürokratie aber verlangsamen statt beschleunigen). Aus religionswissenschaftlicher Perspektive bleibt festzuhalten, dass die Anzahl religionsbezogener Arbeiten auf Grundlage der Neuen Institutio‐ nenökonomik bislang gering ist. 1997 erschien unter dem Titel „The New Institutional Economics: Religion and Economics“ ein von Ekkehart Schlicht herausgegebener Konferenzband im Journal of Institutional and Theoretical Economics, in welchem vor allem der Beitrag „Established Clergy, Friars and the Pope: Some Institutional Economics of the Medieval Church“ von Dieter Schmidtchen und Achim Mayer den Ansatz der NIÖ anwendet. Wie wir in → Kapitel 5.2.2 diskutieren, modelliert Achim Mayer (1996) aus institutionenökonomischer Perspektive das Fegefeuer als eine Institution, die die römisch-katholische Kirche im Mittelalter etablierte. Ron Brinitzer publizierte 2003 seine Dissertation unter dem Titel Religion - eine insti‐ 7.2 Die Neue Institutionenökonomik 285 <?page no="286"?> tutionenökonomische Analyse; 2007 erschien im Jahrbuch normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik der Band Ökonomie und Religion, herausgegeben von Held, Kubon-Gilke und Sturn, der in verschiedenen Beiträgen das Verhältnis von Wirtschaft und Religion auch aus instituti‐ onentheoretischer und -ökonomischer Perspektive aufgreift. Im gleichen Jahr gab Harald Hagemann den Band Ökonomie und Religion: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXI heraus, dessen Beiträge sich mit Wirtschaftsmaximen der Bibel und den Einfluss theologischer Konzepte auf ökonomische Doktrin vom Mittelalter bis zur Neuzeit beschäftigt. Peter Seele veröffentlichte 2010 in Ritual dynamics: State, Power and Violence, herausgegeben von Axel Michaels, den Beitrag „Is there an economic benefit to participating in rituals? An institutional economics analysis of transaction costs and institutional stability,“ in welchem er Rituale mit Blick auf Trans‐ aktionskosten und institutionelle Stabilität aus institutionenökonomischer Perspektive untersucht. Das Potential ist hier insgesamt bei weitem noch nicht ausgeschöpft und es bestehen diverse Spielräume für weiterführende Untersuchungen (Lutz 2018; Koch 2014). In diesem Kapitel sind mit der Verhaltensökonomie und der Neuen Institutionenökonomik zwei interdisziplinäre Ansätze der Religionsökono‐ mie vorgestellt worden, die das Modell des Homo oeconomicus aus unter‐ schiedlichen Perspektiven als nicht ausreichend kritisieren und erweitern. Sie bergen jeweils großes Potential für zukünftige religionsökonomische Forschung und sind in diesem Sinne als Ausblick auf die weitere Entwick‐ lung der Disziplin zu verstehen. Die Zusammenhänge zwischen den gesell‐ schaftlichen Teilsystemen Religion und Wirtschaft, die in diesem Lehrbuch skizziert wurden - die Einflüsse von Religion auf Wirtschaft mittels Normen und Ethiken, die individuelles religiöses Verhalten und die wirtschaftliche Entwicklung der Gesamtgesellschaft beeinflussen; das „Überschwappen“ wirtschaftlicher Logiken in das Feld der Religion, die sich als ökonomischer Akteur finanzieren muss und teilweise aktiv vermarktet; und das Anwenden ökonomischer Modellierung und Methoden zur Untersuchung religiöser Phänomene -, können insbesondere durch genuin interdisziplinäre Wissen‐ schaft weiter untersucht werden, welche auf Ansätzen der Mikroökonomie gleichermaßen wie auf denen der sozialwissenschaftlich geprägten Religi‐ onswissenschaft sowie der Wirtschaftssoziologie aufbauen. Dabei gilt es, bestehende Paradigmen - wie z. B. die Neoklassik oder die Säkularisierungs‐ these - kritisch zu hinterfragen und konstruktiv weiterzuentwickeln, ohne das sprichwörtliche Kind mit dem Bade auszuschütten. So wird sich die 286 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="287"?> Religionsökonomie als eigene Disziplin klarer konturieren und auch zu neuen Erkenntnissen für die „Elterndisziplinen“ beitragen. 7.3 Weiterführende Literatur - Verhaltensökonomie Cartwright, Edward. 2018. Behavioral economics. 3rd Edition. New York: Routledge. Das Werk geht sehr detailliert auf verschiedene Aspekte der Verhal‐ tensökonomie ein. Das erste Kapitel bietet eine Einführung ins Thema; Kapitel 2 - 7 erläutern das ökonomische Verhalten von Individuen, z. B. die Komplexität ihres Entscheidungsprozesses oder ihre Interaktion mit anderen ökonomischen Akteuren. Dass die erste Ausgabe 2011 veröffentlicht wurde und 2018 bereits die dritte Auflage erschien, belegt die Popularität des Werks. - Neue Institutionenökonomik North, Douglass C. 1990. Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge: Cambridge University Press. Grundlegendes Werk der NIÖ, in dem der Institutionenbegriff erstmals klarer definiert wird. Der Autor widmet sich Fragen des institutionellen Wandels mit Blick auf Wirtschaftsleistung, indem er Kooperation, Transaktionskosten, formelle und informelle Handlungsbeschränkun‐ gen sowie die Rolle von Institutionen in den Blick nimmt. Scott, Richard W. 2014. Institutions and Organizations. Ideas, Interests, and Identities. Los Angeles: SAGE Publications. Die vierte, aktualisierte Auflage des Standardwerks des Neo-Instituti‐ onalismus geht auch im Detail auf die Neue Institutionenökonomik ein, indem es historische Hintergründe im 19. Jahrhundert knapp skizziert und für das 20. Jahrhundert ökonomische, soziologische sowie politik‐ 7.3 Weiterführende Literatur 287 <?page no="288"?> wissenschaftliche Denklinien nachzeichnet. Der Autor identifiziert drei Typen von Institutionen - regulative, normative und kulturell-kogni‐ tive - und verortet darin verschiedene Ansätze, darunter auch die NIÖ. 288 7 Weiterentwicklungen des Homo oeconomicus-Ansatzes <?page no="289"?> Literaturverzeichnis Ashtor, Eliyahu. 1976. A social and economic history of the Near East in the Middle Ages. Berkeley: University of California Press. Auffarth, Christoph. 1995. „Gäben für die Götter - für die Ratz? Wirtschaftliche As‐ pekte des griechischen Götterkults.“ In: Lokale Religionsgeschichte, herausgegeben von Hans G. Kippenberg und Brigitte Luchesi, 259-72. Marburg. Azzi, Corry, und Ronald Ehrenberg. 1975. „Household Allocation of Time and Church Attendance.“ JPE 83: 27-56. Basseer, P. 1988. „Banking in IRAN. i. 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Brill. https: / / referenceworks.brillonline.com/ entries/ encyclopaedia-of-islam-2/ k hums-COM_1417? s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.cluster.Encyclopaedia+of+Islam&s .q=Khums. 304 Literaturverzeichnis <?page no="305"?> Register 0-Hypothese-80 Abduktion-46f Abkürzungen-90, 106 Ableitung-100 Abstraktionsgrad-88 Adäquanz- kausale-149 sinnhafte-149 agency-176 Agnostizismus, methodologischer-45 Akteure-32, 239, 259 menschliche-259 ökonomische-159 religiöse-32 Alternativhypothese-80 Amtsmonopol, kirchliches-241 Analyse, multivariate-80 Analytische Bestimmung des Haushaltsoptimums ist-105 Angebot-112, 248 Angebot-Nachfrage-Modell-112, 116 Anhängerschaft-37, 60, 241, 243, 274 Ansätze, theoretische-48 Arbeit, vergleichende-45 Arena, sozioräumliche-239 Arten des Handelns-144 Askese-147 aktive-150 innerweltliche-147ff, 151 Audioaufzeichnung-66 Aufklärung-16 Ausgaben-134, 163, 165, 176 Auslegungen- differenzierungstheoretische-55 modernisierungstheoretische-55 Austauschverhältnis, exklusives-229 Auswirkungen, sozioökonomische-36, 127, 143 Autorität, religiöse-51, 230 Befreiungstheologie, lateinamerikanische-139 believing without belonging-59 Belohnung für das Jenseits-229 Beobachtung- Art-66 Dauer-66 künstliche-66 natürliche-66 nichtteilnehmende-66 offene-66 systematische-66 teilnehmende-66 unsystematische-66 verdeckte-66 wissenschaftliche-66 Beobachtungsformen-66 Beobachtungsprotokoll, detailliertes-68 Berufskonzeption-147 Besitz-140 persönlicher-140 produktiver-140 Besitzverbot-36, 142 Bessermenge-96 Bestechung-139 Betriebskapitalismus, moderner-146 <?page no="306"?> Bewegung-216 Beziehungsnetzwerk-22, 285 Bindestrich-Disziplin-26 Bittgabe-27, 174 Boden-106, 140, 160, 163, 165, 170 bounded rationality-234, 260f, 279 Bourdieu, Pierre-239, 243, 245, 248 Branding-194f Buddhismus-37, 142, 149f Budget-90f Budgetgerade-93, 104 Budgetmenge-91 Budgetrestriktion-92 Bürokratisierung-54 Charisma-241 Christentum-228, 245 church hopping-197 church shopping-197 Code-70 Dankesgabe-174 Daten-76 Datenanalyse, quantitative-75 Datenauswertung-61, 69f Datenerhebung-61, 63, 70 Deduktion-46f Deregulation-219 Deregulierung, religiöse-224, 237f deus absconditus-146 Deutungsmuster, verinnerlichtes-281 Dienstleistung-213, 217 magische-242 religiöse-243, 248 Differenzierung- vertikale-53 zunehmende-52 Digital Humanities-50 Diktatorspiel-262 Disposition-248 Distinktion-245, 248 Distinktionsmittel-245, 247 Durchschnittskosten-110 Dynamik-230 Ebene- gesellschaftliche-53 individuelle-264 soziale-264 economics of religion-Ansatz-25, 33, 210, 212, 216, 250 Kritik-234, 238 Einfluss-31f, 145, 193 Einflussfaktor, informeller-31 Einkommenssteuer-129 Einstellung, religiöse-264 Eklektizismus, religiöser-59 embeddedness-284 Engagement-225 entrepreneur model-218 Entscheidung- optimale-92 rationale-86 Entwicklungsmodell, zirkuläres-218 Entzauberung der Welt-57, 145 Epistemologie-46 Erbrecht-154, 156 islamisches-154 Erfolg-147, 220, 224, 228, 262 Erkenntnisinteresse-61 sozialökonomisches-145 Erlös-106, 165, 170 Establishment Clause-219 Ethik- ökonomische-31 protestantische-146 306 Register <?page no="307"?> religiöse ökonomische-36, 127f Ethisierung-242, 244 Europa-228 Event-216 Exklusivität-250 Experiment-262 Experteninterview-64 systematisierendes-64 theoriegenerierendes-64 Externalisierung-273 faits sociaux (soziale Tatsachen)-51 Fall-72 Fallstrukturgeneralisierung-74 Fallstrukturhypothese-74 Fallstudie-62 Falsifizierung-47f Fegefeuer-28, 185ff, 190 Feld-239 religiöses-245 soziales-239 Feldtheorie-38, 209, 238f, 247f Feuerheiligtümer-177 Finanzierung von Religion-32, 160ff direkte-160f indirekte-160f Mischformen-168 Fokusinterview-65 Form sozialen Handelns-22 Forschungsdesign-61, 63 Forschungsfeld-62 Forschungsfrage-61 Forschungsmethode, qualitative-60 Forschungsprojekt, qualitatives-61 Fragebogendaten-265 Freiheit-204 Fremdbeobachtung-66 Führungsfigur-281, 284 Führungskraft, professionelle-230 Funktion, mathematische-100 Funktionslogik-52 Gabe-174, 176 Gabentausch-174 Gebot-15, 44, 162, 213, 225 religiös-ökonomisches-143 Gegenleistung, göttliche-27 Geist des Kapitalismus-147 Gemeinde, freikirchlich-evangelikale-246 Gemeinschaft, religiöse-75, 90, 230, 253 Geometrische Bestimmung des Haushaltsoptimums-105 Gesamtnachfrage-119 Gesamtnachfragefunktion-119, 121 Gesamtnutzen-21, 98 Gesellschaft- amerikanische-59 dauerhafte-154 moderne-52, 59 Gesellschaftsrecht-154ff Glaubensgefüge-42 Glaubensinhalt-196, 202, 204, 244 Gleichgewichtsanalyse-117 Gleichgewichtsmenge-120 Gleichgewichtspreis-120f Globalisierung-26, 52, 191, 202, 205, 249 Gottesdienst-195, 220, 225, 242 Grenzerlös-111 Grenzkosten-110f Grenznutzen-98, 101 Grenzproduktivität-108 Grenzrate der Substitution-98, 104 Grenzrate der technischen Substitution-108 Grenzzahlungsbereitschaft-99 Register 307 <?page no="308"?> Grounded Theory-Methodologie 61, 70, 72, 74 Grundgesamtheit-77, 80, 267 Gruppe-215, 225 religiöse-224 soziale-148 Güter- gemeinschaftliche (kommunale)-252 individuelle religiöse-251 kollektive-252 ökonomische-86 persönliche religiöse-251 positionale-252 private-173 religiöse-164, 249f sozial produzierte religiöse-252 Güterangebotsfunktion des Markts-119 Güterbündel-91, 94, 96, 99, 101 mögliches-91 Habitus-239, 246f, 249 Hākari-Ritual der polynesischen Maori-168 Hand, die unsichtbare-19 Handeln- affektuelles-145 individuelles-247 ökonomisches-145, 239, 247, 279 religiöses-210, 212 traditionales-145 wertrationales-144 wirtschaftliches-31, 284 zweckrationales-144 Handlungsmacht-176, 277 Handlungstheorie-248 Häufigkeitsverteilung-77f Haushalt-87, 90, 123, 179, 181 Haushaltsmodell-90, 108, 119 Heilmotiv-181, 183 Heilsgüter-241, 243, 250 Heilsökonomie-244 Herausforderung-23, 67 Herrschaftszusammenhänge-57 heuristics and biases-260f Hinduismus-37, 149f Hölle-28, 184f, 220 Homogenisierung von Religion-204 Homo oeconomicus-20f, 38, 234, 238, 257 ḫums (\„Einfünftel\“)-129 Ideologie-281 Immanenz-12f, 43f Indifferenzkurve-94, 96, 104 Individualisierung-51, 53, 57, 59f, 197, 199, 238 Individualisierungstendenz-196 Individualisierungsthese-41, 56, 58f Individualismus-59, 203 methodologischer-210 Individuum-203 handelndes-148 Induktion-47 Industrialisierung-54 Inferenzstatistik-77, 80 Innovation, religiöse-218 Institution-14, 87, 274f, 277, 281f islamische-153 ökonomische-22 religiöse-14 Institutionalisierung-241, 273 Institutionalismus, amerikanischer-278 Institutionenökonomik-25 Interesse, religiöses-241, 243 Internalisierung-274 308 Register <?page no="309"?> Interview- ethnographisches-63 narratives-63f Interviewarten-63 Interviewsituation-65 Investition-170f Irreführung-138 Islam-129, 131, 134, 137, 143, 152f, 168, 193, 199, 270 Islamische Bank-133 Isomorphismus- imitierender-276 normativer-276 regulativ-erzwungener-276 Isoquante-107 Jenseitsvorstellungen-26, 45, 135 Judentum-137f, 199 antikes-149 Kapital-106, 239 institutionalisiertes kulturelles-239 internalisiertes kulturelles-239 kulturelles-239 objektiviertes kulturelles-239 ökonomisches-239 religiöses-229 soziales-239 symbolisches-240 Kapitalbildung-147 Kapitalismus-145, 147f, 151 Kapitalsorten-239 Kategorien-70 Kathin-169 Kausalität-76, 148 Kibbuzniks-266 Kirche-162, 215, 241 römisch-katholische-28, 231, 247, 276, 283 strengere-228 Klassik-20f Kodieren- axiales-71 fokussiertes bzw. selektives-70 offenes-70 theoretisches-71 vergleichendes-70 Kommodifizierung-192f Komplexitätsreduktion-14, 88 Konfuzianismus-16, 149ff Konkavität-97 Konkurrenz-55, 123, 212, 220, 235, 242, 248, 250 Konsekrationswirkung-244 Konsequenzabwägung-211 Konstante, anthropologische-212 Konstellationen sozialer Interaktion-215 Konstruktion der Wirklichkeit, soziale-273 Konsum-141 Konsument-165, 171, 213, 243, 248 Konsumentenrente-123 Konsumgesellschaft-200 Konsumgüter-251 Konsumismus-32, 37, 191, 201 Konsumkultur-26, 191f Konsummotiv-181, 183 Kontingenzbewältigung-12, 14, 27, 43f Konvexität-95, 97, 103 Koordinatenachse-94 Korpusansatz-50 Korrelation-76 negative-76 positive-76 Korrelationskoeffizient-79 Register 309 <?page no="310"?> Korruption-138 Kosten-106, 165, 170, 213, 223, 225f, 282 fixe-109 variable-109 Kostenfunktion-110 Kosten-Nutzen-Abwägung-212 Kult-217f Kunst-151, 162, 173, 239, 245 Laborexperiment-260f Lagrange-Verfahren-105 Laie-242f, 245 Längsschnittstudie-62 Legitimität-275, 285 religiöse-240 Lehren, biblische-139 Leistung, menschliche-27 Leitfadeninterview-63f Lesart-73 Liberalisierung-223 Luther, Martin-147 Macht-23, 140, 244 religiöse-240 Magie-242 Makroebene-53, 162, 172, 249 Makroökonomie-22, 87 Marginalanalyse-21, 98 Marke, religiöse-195 Markt-112 religiöser-33, 55, 249f Marktbeziehung-216 Markteingrenzung-112 Marktgleichgewicht-20f, 117, 120, 279 Marktmodell der Religion-38 Marktnachfragefunktion-119 Marktplatz, religiöser-213, 219, 254 Marktsegment-232 Markttransaktion-203, 279 Median-78 Medien-193 Megakirche-141, 195f Mehrpersonenspiel-264 Memo-71 Mesoebene-53, 162, 172, 184, 215 Messe, römisch-katholische-245 Metasprache-43, 69 Methode-50, 131 ökonomische-33 Methodenstreit der 1880er-Jahre-22 Methodologie-50 Mikroebene-54, 161, 172, 174, 229, 249 Mikroökonomie-21, 35, 87 Milieu-246 Mitglieder-225, 232 Mitgliedschaftsgüter-251 Mittel, verfügbare-211 Mittelalter-28, 190, 228, 285 Mittelwert-78 mizwot-137 Modell-88 mentales-281 ökonomisches-89 Modell des ökonomischen Verhaltens-259 Modell des vollkommenen Marktes-89, 112 Modellierung- ökonomische-172f, 181 religionsökonomische-186 Moderne-52, 59, 229 globale-200 Modernisierung-145 reflexive-57 Modus-78 Momentaufnahme-62 310 Register <?page no="311"?> Monopolcharakter-217 Motiv des sozialen Drucks-181, 183 Mystik-199, 215 passive-150 Mythos, rationalisierter-276 Nachfrage-112, 217, 248 Naher Osten-152, 156, 267 Neo-Institutionalismus-273, 275 Neoklassik-21, 23, 25, 29, 284 Neoliberalismus-26, 32, 37, 160, 191, 199f, 202, 204, 207 Netzwerk-216, 239, 284 Neue Institutionenökonomik-28, 87, 257, 272, 277, 280 Neue Institutionenökonomik.-30 Neues Testament-139 Nische- konservative-232 liberale-232 moderate-232 religiöse-232f strenge-232 ultraliberale-232 ultra strenge-232 Norm, religiöse-278 Notizen-68 Nutzen-165, 217, 223, 259 Nutzenfunktion-101f, 173, 182, 261 Nutzenmaximierung-86, 92, 211, 217, 259 Nutzenwert-101 Objektivierung-274 Objektsprache-43, 69 Offenbarung, religiöse-241 Ökonomie-13, 15, 18, 149 Grundlagen-18 Ökonomie des Heilsgeschehens-239 Opportunitätskosten-92, 94 Organisation-14, 216f, 275, 282, 285 religiöse-160, 282 Organisationsstruktur-220, 224 organizational entrepreneurs-283 Orientierungsverlust-53 Paradies-28, 87, 185, 213 Paradigmen, religionssoziologische-51 Pfadabhängigkeit-282f Philologie-16 Plausibilitätsstrategie-55 Plausibilitätsverlust-55 Pluralisierung, religiöse-54ff, 83, 218, 224, 237f, 249, 253 Pluralismus, interner-279 Popkultur-193 Position, soziale-239 Prädestinationslehre- calvinistische-147 Präferenz-94f, 210, 232, 259 soziale-261f stabile-211 Präferenzordnung-95 Praktiken-244 Praxisgefüge-42 Preis- bestimmter-116 Preisbetrug-137 Priester-241, 245 Prinzipien, ökonomische-86 Privatisierung-51, 56, 60, 214 Privatisierungsthese-41, 56, 59 Produkt-213, 217, 221 religiöses-248 Produktion-241 einfache-108 Register 311 <?page no="312"?> kollektive-173 Produktionsfaktor-106 Produktionsfunktion-107ff limitationale-108 linear-limitationale-108 Produktionskosten-21, 106, 109, 170 Produktionsplan-107 technisch effizienter-107 Produzent-165, 170f, 213 religiöser-217, 248 Produzentenrente-122 Profit and Loss Sharing-133 Prophet-241, 245 Protestantismus-144ff Protokoll-68, 73, 75 psychopathology model-218 Rahmung- religiöse-264 wissenstheoretische-46 rational choice-Theorie-25, 27, 29, 33, 210, 234, 274 Rationalisierung-53f, 145, 148 Rationalität-211 Regel-47 strenge-225 unbewusste soziale-73 Regression- lineare-81 multiple-81 Regressionskoeffizient-81f Reichtum-141 Reinigung der zahlenden Person-130 Reintegrationsdimension-57 Religion-12, 17, 149, 198, 200, 226, 229, 242, 264, 277f Funktion-243 individualisierte-59 institutionalisierte-59 öffentliche-59 unsichtbare-58 Vermarktung-32, 191 Religionsdefinition-44 diskurstheoretische-42 funktionale-17, 42 substantielle-42 Religionsethnologie-17, 43, 46 Religionsgeschichte-49, 164, 219, 224 Religionskritik-16 Religionsökonomie- angloamerikanische-28 deutsche-28 historische Entwicklung-15, 24 Kerndisziplinen-15 Systematisierung-29 Zweige-24, 29 Religionsphänomenologie-16 Religionssoziologie-17, 43, 51, 58, 60, 145 Religionswissenschaft-11, 15, 45 Gegenstand-41f gegenwartsbezogene-18, 48f historische-18, 48f Methoden-41 systematische-18, 48f Zweige-49 Religiosität-17, 25, 31, 57, 59, 205, 212, 214, 219, 237, 264, 269 religious economy-213, 231 Rentenkonzept-121 Reproduktion-241 Reproduktionsinstanz, religiöse-241 Ressourcenknappheit-86 Restriktion-90, 92 ribā-131 Richtlinie-281 312 Register <?page no="313"?> Ritual Potlach (wörtlich ‚Gabe, Geben‘) der Kwakiutl-169 Rolle, religiöse-240, 245 Rollenreflexion-62 Säkularisierung-51, 53, 218 Säkularisierungsthese 41, 52, 55f, 58, 60, 236 Sampling, theoretisches-71 Sättigung, theoretische-72 Schenkung-178 Schlechtermenge-96 Schnittstelle-15, 24, 26 Sekte-215, 217 Selbstbeobachtung-66 Selbstermächtigung religiöser Subjekte-59 Selbstverpflichtung-146 Semantik-52 Sequenzanalyse-35, 69, 72, 74f Sicherheit-57, 132, 154, 213, 228, 282 Sicherheitsverlust-53 Signifikanzniveau-80 Signifikanztest-80f Sinn, subjektiver-144 Sinne-67 Sinnstruktur-74 latente-72 Situation- parametrische-251 strategische-251 Sonderfall Europa-59 Sozialformen, religiöse-215, 217 Sozialisation-246 Sozialkapital-229 Sozialstruktur-32, 244 Sozialverband-14 Soziologie-144 Spannungsverhältnis-217, 230f Sparzwang, asketischer-147 Spätkapitalismus-26 Spätmoderne-58, 199 Spezialist, religiöser-217 Spieltheorie-25, 251, 260f Spiritualität-192, 198f, 237 spiritual quests-197 spiritual tinkering-197 Staat-151 Stabilitätsverlust-57 Stagnation, wirtschaftliche-156, 158 Standardabweichung-77, 79 Statistik, deskriptive-77 Steigung-104 Steuern-129 Stichprobe-77 Stiftung, fromme-134 Stiftungsvermögen-177 Strenge-224, 226 Struktur-74, 149, 281, 284 feste-53 institutionelle-279, 282 sozioökonomische-148 Strukturtheorie-248 Studie, retrospektive-62 subculture-evolution model-218 Subjektivierungstendenz-196 Substituierbarkeit, beschränkte-95 Suggestivfrage-65 (supply-side-)Ansatz, angebotsorientierter-33 supply-side approach-212, 224 Synthese-28, 250 Systematisierung-241, 244 Tangentialpunkt-103 Taoismus-149ff Register 313 <?page no="314"?> Tauschbeziehung-179 religionsökonomische-177 triadische-175 Täuschung- geistige-138 visuelle-138 Tautologie-47 Technologie-107 Technologiemenge-107 Teilbarkeit-250 Teilerhebung-77 Teilsystem, gesellschaftliches-12, 43f, 52, 139 Tempelökonomie-165 tertium comparationis (Vergleichspunkt)-45 Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehungen-176 Text-49, 68 Theorie von Institutionen, ökonomische-279 Theravāda-Buddhismus- thailändischer-169 Tradition-43, 46, 49, 53, 155, 157, 196, 202, 251 Transaktionskosten-89, 112, 264, 282, 285 Transfer-69 Transitivität-95, 97 Transkription-66 Transzendenz-12f, 43f, 176, 215, 250 Trennung von Staat und Kirche-219, 221, 233 Trittbrettfahrer (free rider) 225, 228, 230 Über(schuss)angebot-121 Über(schuss)nachfrage-121 Übertragbarkeit-250 Überzeugung, religiöse 29, 145, 149, 271 Ultimatumspiel-263 Umwelt-230f Umwelteinfluss-275 Unsicherheit-54, 147, 281, 285 Unternehmen-87 Unternehmer, unabhängiger-241f Variable-75 abhängige-30, 76, 89 diskrete-75 kategoriale-75 numerische-75 qualitative-75 quantitative-75 stetige-75 unabhängige-30, 76, 89 Verbot des Wirtschaftsbetrugs-137 Vereinigte Staaten-219, 222 Vergleichsstudie-62 Verhalten- ökonomisches-264, 272 soziales-277 Verhaltensanweisung-242 Verhaltensdaten-265 Verhaltensnorm-213, 239, 246 Verhaltensökonomie-25, 257ff, 261f religionsökonomische-265 Verifizierung-47f Verkaufsstrategie-221, 224 Vermarktlichungsprozess-200 Vermögenssteuer-130 Versorgungszusammenhänge-57 Verstädterung-54 Verteilung, bivariate-79 Vertrauensspiel-263 Vertreter-220 Verwaltung-151, 230 314 Register <?page no="315"?> Videoaufzeichnung-66 Vitalität, religiöse-212, 224 Vollerhebung-77 Vollständigkeit-95 voluntary principle-221 Wahlverwandtschaft-143, 146ff Wahrscheinlichkeit-68, 80, 178, 190 Wandel- institutioneller-282 religiöser-25, 194 Wanderer, spiritueller-59 waqf-134f Ware-117f, 168, 194, 226 Wechselverhältnis-37, 149 Welt, westliche-144, 192 Weltabgewandtheit-150 Weltbejahung-150 Weltbilder-54f, 229 Welthaltung, religiöse-150 Weltverneinung-150 Weltzugewandtheit-150 Wertsphäre-151 Wertvernichtung-168 Wettbewerb-32f, 55 Wirtschaft-12f, 31, 139, 151 Wirtschaftsethik, christliche-139 Wirtschaftssoziologie-22f, 30, 35, 203, 272, 286 Wirtschaftsstrategie-32 religiöse-191 Wissenschaft-144, 151, 229 Wohlfahrt-88, 123 Wohlstandsevangelium-140 Wohlstandssteigerung-54 Wucher-132, 134, 137, 140, 185 Zahlungsbereitschaft-99 zakāt-130 Zauberer-242, 245 Zeitallokationsmodell-24, 183 mehrperiodisches-181 Zielsetzung-61f, 66, 73 Zinsnehmen-138 Zinsverbot-129, 131, 155f Zoroastrismus-31, 36, 134ff, 178, 184 Zweites Vatikanisches Konzil-231 Register 315 <?page no="316"?> Abbildungsverzeichnis Abbildung 3.1: Budgetgerade und Budgetmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Abbildung 3.2: Entstehung einer Indifferenzkurve (Quelle: Frambach 2013, Abb. 2.5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Abbildung 3.3: Vergleich der Güterbündel mit unterschiedlichen Gütermengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Abbildung 3.4: Bestimmung der Grenzrate der Substitution . . . . . . . . . . 99 Abbildung 3.5: Der optimaler Konsumplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Abbildung 3.6: Die Produktionsfunktion (Quelle: Frambach 2013, Abb. 3.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Abbildung 3.7: Kostenfunktion bei linear limitationaler Produktionsfunktion (Quelle: Frambach 2013, Abb. 3.33) . . . . . . . . . . . . 111 Abbildung 3.8: Die Angebotskurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Abbildung 3.9: Die Nachfragekurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Abbildung 3.10: Das Marktgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Abbildung 3.11: Zunahme der Nachfrage und die Entstehung eines neuen Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Abbildung 3.12: Das Gesamtangebot (oben) und die Gesamtnachfrage (unten) (Quelle: Frambach 2013, 4.1 und 4.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Abbildung 3.13: Überschussnachfrage nach einem beliebigen Gut (nach Frambach 2013, 4.4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Abbildung 3.14: Konsumentenrente I (Quelle: Frambach 2013, 4.27) . . . 122 Abbildung 3.15: Konsumentenrente II (Quelle: Frambach, Abb. 4.28) . . 123 Abbildung 5.1: Die triadische Tauschbeziehung mit einem transzendenten Akteur a) in Ritual b) allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Abbildung 5.2: Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehungen 177 Abbildung 5.3: eine Anzeige des Feuerheiligtums Iranshah Atash Behram, Udvada, Indien (Quelle: https: / / zoroastrians.net/ 2020/ 07/ 08/ ud vada-muktad-scheme-4/ ; letzter Zugriff 09.06.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Abbildung 5.4: Tetrade der religionsökonomischen Tauschbeziehungen mit mehreren Auftraggebern und Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 <?page no="317"?> Tabellenverzeichnis Tabelle 2.1: Beispielhafte Häufigkeitsverteilung von Zeitinvestition in Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Tabelle 3.1: Angebot und Nachfrage in Gegenüberstellung . . . . . . . . . . . 113 Tabelle 3.2: Marktgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Tabelle 5.1: Liste der priesterlichen Rituale des Siddhivinayak Ganapati Tempel in Mumbai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 <?page no="318"?> BUCHTIPP Päpste nehmen seit dem 19. Jahrhundert mit ihren Sozialenzykliken Stellung zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen. Papst Leo XIII. forderte im Jahr 1891 Lohngerechtigkeit sowie Arbeitnehmerrechte und gab damit der Sozialpolitik in Europa Aufwind. Weitere Sozialenzykliken folgten, wenn immer die im Zuge des freien Spiels der Marktkräfte entstandenen sozialen Problemen auszuufern drohten. 2009 verwies Benedikt XVI. nach der Finanzkrise darauf, dass Globalisierung von einer „Kultur der Liebe“ beseelt sein müsse. Damit fügte er der Diskussion um den Zusammenhang von Globalisierung, Verteilungsgerechtigkeit und Gemeinwohl eine neue Ebene hinzu. Die Autoren beleuchten den geschichtlichen Kontext der Sozialenzykliken und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik. So skizzieren sie vatikanische Wirtschaftsideen, die grundlegende Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch tagesaktuelle Themen wie den Umweltschutz betreffen. Hans Frambach, Daniel Eissrich Wirtschaftsideen des Vatikans Impulse für Politik und Gesellschaft 2., überarbeitete Auflage 2020, 290 Seiten €[D] 25,90 ISBN 978-3-8252-5341-7 eISBN 978-3-8385-5341-2 UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="319"?> BUCHTIPP Elisabeth Göbel Neue Institutionenökonomik Grundlagen, Ansätze und Kritik 1. Au age 2021, 305 Seiten €[D] 25,90 ISBN 978-3-8252-5665-4 eISBN 978-3-8385-5665-9 Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) hat die Mikroökonomik grundlegend verändert und den Mythos von der wohltätigen „unsichtbaren Hand“ des Marktes nachhaltig in Frage gestellt. Reale Menschen in einer realen Wirtschaft haben bei ihren Interaktionen mit zahlreichen Problemen zu kämpfen, die das Marktergebnis beein ussen. Zentrale Probleme sind externe Effekte, öffentliche Güter, unvollständige Informationen und Marktmacht. In dieser realen Wirtschaftswelt gilt: institutions matter. Was Institutionen sind, wie sie entstehen und was sie bewirken und in welchem Verhältnis sie zur Ökonomik stehen, wird in den Grundlagen erläutert. Anschließend werden die drei wichtigsten Zweige der NIÖ genauer vorgestellt: die Theorie der Verfügungsrechte, die Principal-Agent-Theorie und die Transaktionskostentheorie. Am Anwendungsbeispiel „Bio- Lebensmittel“ wird gezeigt, dass Märkte nur in einem institutionellen Rahmen funktionieren. Zum Schluss werden Stärken und Schwächen der NIÖ bewertet. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="320"?> ISBN 978-3-8252-5912-9 Maren Freudenberg Kianoosh Rezania Religionsökonomie Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft verstehen Religion und Wirtschaft stehen seit jeher in einer engen Wechselbeziehung. Diese beleuchten Maren Freudenberg und Kianoosh Rezania detailliert aus religionswissenschaftlicher und ökonomischer Perspektive: Sie zeigen theoretische Ansätze und empirische Forschungsmethoden auf, die eine Brücke zwischen den beiden Disziplinen schlagen. Besonders gehen sie-auf religiöse ökonomische Ethiken und deren sozioökonomische Auswirkungen, auf Religionen als ökonomische Akteure und auf neuere Weiterentwicklungen theoretischer Ansätze ein. Zahlreiche Leitfragen, Definitionen und Diskussionsfragen helfen beim Verständnis. Das Buch richtet sich an Studierende und Dozierende der Religionswissenschaft und der Wirtschaftssowie Sozialwissenschaften. Religionswissenschaft | Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Religionsökonomie Freudenberg | Rezania Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 2023_02_10_5912-9_Freudenberg_Rezania_M_5912_RZ.indd Alle Seiten 2023_02_10_5912-9_Freudenberg_Rezania_M_5912_RZ.indd Alle Seiten 10.02.23 11: 30 10.02.23 11: 30
