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Politische Medienikonografie

Einführung zur Illustration

0115
2024
978-3-8385-5916-2
978-3-8252-5916-7
UTB 
Sven Grampp
10.36198/9783838559162

Unverzichtbares Nachschlagewerk für (angehende) Medien- und Politikwissenschaftler:innen Dieses Lehrbuch führt von der Darstellung klassisch kunstwissenschaftlicher Positionen der Ikonografie über das sich im Anschluss daran etablierte Forschungsfeld der politischen Ikonografie zu kultur- und medienwissenschaftlichen Positionen, die nach der Rolle der Medien für Wahrnehmbarkeit, Organisation und Zirkulation von Bildern fragen. Es bietet somit einerseits eine systematische Darstellung, wie Medien politische Bilder präformieren. Anderseits kann es als Nachschlagwerk für die vielfältigen Analyseansätze einer politischen Medienikonografie dienen. Mit zahlreichen Beispielen und Abbildungen, u.a. von Che Guevara, Willy Brandt, Barack Obama, Donald Trump, Angela Merkel sowie dem Tank Man und der Black Lives Matter-Bewegung.

<?page no="0"?> Ausgehend von klassisch kunstwissenschaftlichen Positionen der Ikonografie stellt Sven Grampp die politische Medienikonografie vor. Sie berücksichtigt kultur- und medienwissenschaftliche Positionen und geht zudem auf die Rolle der Medien bei Wahrnehmbarkeit, Organisation und Zirkulation von Bildern ein. Das Buch bietet eine systematische Darstellung, wie Medien politische Bilder präformieren. Es stellt zudem vielfältige Analyseansätze einer politischen Medienikonografie vor. Mit zahlreichen Beispielen und Abbildungen, u.a. von Che Guevara, Willy Brandt, Barack Obama, Donald Trump, Angela Merkel sowie dem Tank Man und der Black-Lives- Matter-Bewegung. Ein spannendes Lehrbuch für Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft. Auch für Forschende ist das Buch ein aufschlussreiches Nachschlagewerk. Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft ISBN 978-3-8252-5916-7 Dies ist ein utb-Band aus dem UVK Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel mit vielen Beispielen Politische Medienikonografie Grampp Sven Grampp Politische Medienikonografie 2023-12-12_5916-7_Gramp_L_5916_PRINT.indd Alle Seiten 2023-12-12_5916-7_Gramp_L_5916_PRINT.indd Alle Seiten 12.12.23 14: 02 12.12.23 14: 02 <?page no="1"?> utb 5916 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> PD Dr. Sven Grampp ist Akademischer Oberrat am Institut für Theater- und Medien‐ wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. <?page no="3"?> Sven Grampp Politische Medienikonografie Einführung zur Illustration UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838559162 © UVK Verlag 2024 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5916 ISBN 978-3-8252-5916-7 (Print) ISBN 978-3-8385-5916-2 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5916-7 (ePub) Umschlagabbildung: © Leslie-Judge Co., N.Y. (Künstler: James M. Flagg, Quelle: The Library of Congress, Washington DC) Autorenfoto: © Harald Sippel, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 1 7 1.1 8 1.2 8 1.3 10 1.4 13 2 15 2.1 15 2.1.1 18 2.1.2 20 2.2 21 2.2.1 22 2.2.2 23 2.2.3 24 2.2.4 26 2.3 27 2.3.1 29 2.3.2 41 46 3 49 3.1 49 3.2 53 3.3 54 3.4 63 3.5 107 3.6 127 137 4 141 4.1 141 4.2 142 4.3 147 150 Inhalt Gegenstand, Aufbau, Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien in der politischen Medienikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuwachs an Medien-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Piktogramme zur Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik, Medien, Ikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trias des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Medialität des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code I Kanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medium I Form I Medium I Form … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ikonografie als Beschreibungsmethode vs. Ikonologie als Fundierung der Ikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu einer mediologischen Ikonologie . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Ikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei ‚Herrschaftsbilder‘ zum Auftakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine ganz kurze Institutionalisierungsgeschichte der politischen Ikonografie Gegenstand und Zugriff - erste Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aby Warburg und die politische Ikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie . . . . . . . . Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Medienikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Medienvergessenheit politischer Ikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte politischer Medienikonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Medienikonografie 1 Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bildbestimmungen: Was ist ein Bild, was nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 158 165 169 184 185 188 192 201 212 221 229 241 249 4.4 252 4.4.1 257 4.4.2 277 281 288 315 415 5 419 423 438 445 460 II. Ikonik - Jenseits der Ikonografie, jenseits sprachlicher Codierung . . . . . . III. Bildfeld - (Binnen-)Räume des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bilder als Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bild-Texte-Verhältnisse: Funktionale Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Bildtypen: Abstrakte Codierung vs. konkrete Konventionalität . . . . . . . . VII. Zeichentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Bilder ‚ohne Code‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Interpellation: Bilder, die uns anrufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Bildakt - als Anrufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Hyper- und Heterokonnektivität: Populäre Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII. Encoding - Decoding: Aneignung I Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII. Punctum - Subversive Bildelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV. Was Bilder begehren - Die Politik der Bilder selbst . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Medienikonografie 2 : Kanal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Materiell-räumliche Infrastruktur: Wahrnehmungsanordnung der Bilder II. Organisational-institutionelle Infrastruktur: Agenturen der Bilder . . . . . III. Technisch-prozessuale Infrastruktur: Zirkulation der Bilder . . . . . . . . . . Weiterführende Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenverzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Gebe ich den Begriff in die Google-Suchmaschine ein, ist die Trefferzahl - Stand 20.08.2021 - null. 2 Es gibt zwar eine politische Ikonografie, zu der bereits Handbücher veröffentlich wurden [↓ Kap. 3], aber eben keine politische Medienikonografie. 3 Bitte nicht wundern: In vorliegendem Text werde ich - mehr oder minder zufällig, mehr oder minder ungelenk - in manchen Fällen eine ‚gendersensible‘ Form wählen, in anderen zwischen männlicher und weiblicher Bezeichnung wechseln. Es können also beispielsweise, wenn ich einen Rezeptionsvorgang an Personen binde, diverse Varianten vorkommen: ‚die Rezipient: innen‘, ‚der Rezipient‘, ‚die Rezipientin‘, ‚die Rezipienten und Rezipientinnen‘ oder auch ‚die Rezipierenden‘. 1 Gegenstand, Aufbau, Ziele Eine politische Medienikonografie gibt es nicht. 1 Soweit mir bekannt ist, findet sich der Begriff weder im wissenschaftlichen Kontext noch irgendwo sonst. 2 Damit werden die Leser: innen 3 des folgenden Textes mit einer kuriosen Situation konfrontiert, führt doch vorliegende Publikation in etwas ein, das nicht existiert und erst durch die Einführung konstituiert werden soll. Doch keine Sorge, so groß ist die Hybris des Autors folgender Zeilen wiederum nicht, dass er unter dem Deckmantel des Einführung-Labels ein ganz und gar neues Forschungsfeld etablieren wollen würde. Bescheidener und im Sinne des Formats Einführungsliteratur wird es stattdessen zunächst darum gehen, einige in der Kultur- und Medienwissenschaft etablierte Forschungsperspektiven und Zugriffe, die sich mit Bildanalysen im Kontext politischer Praktiken beschäftigen, vorzustellen. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass mitunter sehr unterschiedlichen kultur- und medienwissenschaftlichen Zugriffe auf visuelle Phänomene vor dem Hintergrund politisch relevanter Phänomene (neu) versammelt werden können. Subsumieren lassen sich diese Zugriffe unter dem Begriff ‚Politische Medienikonografie‘. Es sei an dieser Stelle eigens betont, dass es zwar um eine Subsumierung verschie‐ dener Zugriffe unter dem Label ‚Politische Medienikonografie‘ gehen wird. Dies bedeutet aber mitnichten, dass dieser Forschungsbereich in ein stringent organisiertes Forschungsfeld überführt wird, in dem alle Elemente homogen ineinandergreifen, quasi organisch auseinander hervorgehen oder gar in eine übergreifendes Einheits‐ konzept münden. Erstens sind für so ein Unterfangen die vorgestellten Zugriffe zu heterogen. Zur Homogenisierung müssten zu viele interessante Aspekte der jeweiligen Zugriffe geglättet und so meines Erachtens unzulässig beschnitten werden. Zweitens bin ich davon überzeugt, dass es durchaus von Vorteil ist, wenn das Forschungsfeld der politischen Medienikonografie nicht als ein eng geschnürtes Korsett vorgeführt wird, sondern disparat, facettenreich und mit vielen Ausfransungen ausstaffiert. So können nämlich unterschiedliche Probleme und Gegenstände mit unterschiedlichen Zugriffen je nach Interesse und Ziel bearbeitet werden. Zwar will ich mit vorliegender Einführung nicht einfach Beliebiges unter dem Signum ‚Politische Medienikonografie‘ versammeln, sondern systematisch und begründungsorientiert diverse Zugriffe in dieses Feld eingemeinden. Nichtdestotrotz gilt: Die Leser und Leserinnen sollen die vorliegende Einführung in die politische Medienikonografie vor allem als Werkzeug‐ <?page no="8"?> 4 Die Metapher der Werkezugkiste zur Bezeichnung der eigenen Forschungshaltung - mit demen‐ sprechendem Appell zum Gebrauch seiner Texte - findet sich prominent bei Michel Foucault und wird seither häufig im Kontext kulturwissenschaftlicher Forschung aufgegriffen, vgl. zur Herkunft: Michel Foucault, Von den Martern zu den Zellen [1975], in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II, 1970-1975, Frankfurt am Main 2002, S.-882-888, hier: S.-887. 5 Das scheint sich indes aktuell zu ändern, vgl. dazu bspw.: Jörg Probst (Hg.), Politische Ikonologie. Bildkritik nach Martin Warnke, Berlin 2022, v.-a. das Kapitel „Digitale Ikonologie“, S.-251ff. kiste verstehen und verwenden können. 4 Je nach Problem, Interesse und Material sind demgemäß unterschiedliche Werkzeuge aus der Kiste zu verwenden oder doch von dem Inhalt der Kiste ausgehend, andere, möglicherweise noch geeignetere Werkzeuge jenseits der Einführung ausfindig zu machen. Das zumindest ist die Verwendungsweise, auf die vorliegende Einführung ausgelegt ist. 1.1 Medien in der politischen Medienikonografie Dem Wortanteil ‚Medien‘ im verschachtelten Begriff ‚Politische Medienikonografie‘ wird im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Priorisierung liegt nicht einfach oder zumindest nicht nur daran, dass ich Medienwissenschaftler bin und deshalb ‚Medien‘ allein schon aufgrund meiner Profession für das Wichtigste auf der Welt halten muss. Entscheidender ist, dass zwar eine Forschungsrichtung namens ‚Politische Ikonografie‘ existiert, diese aber meines Erachtens gerade die medialen Aspekte oder doch - etwas vorsichtiger formuliert - einige wichtige mediale Aspekte ihres Gegenstandes bis dato größtenteils vernachlässigt hat. 5 Diese ‚Medienvergessen‐ heit‘ der politischen Ikonografie ist deshalb so problematisch, weil ohne die Analyse der medialen Aspekte, politische Bilder kaum angemessen zu verstehen sein dürften. Denn es geht bei solchen Bildern nicht nur um Inhalte oder Motive, nicht nur um das, was unmittelbar sichtbar ist, bestimmten Darstellungstraditionen folgt, um politisch relevant zu werden. Zumindest ebenso wichtig, ja entscheidend sind die materiellen Bildträger, der Unterschied von Bildtypen, die je spezifischen Wahrnehmungsanord‐ nungen, in denen die Bilder situiert sind, infrastrukturelle Rahmenbedingungen, die die Sichtbarkeit der Bilder regulieren. Insbesondere mit Blick auf die ‚gegenwärtige‘ durch digitale Medientechnologien geprägte kulturellen Konstellationen ist die Fixierung auf Bildinhalte bzw. -formen unbefriedigend. Deshalb soll durch den Zusatz ‚Medien‘ die politische Ikonografie neu und anders justiert werden. 1.2 Zuwachs an Medien-Sein Was damit genau gemeint ist, wird vor allem in Kapitel 4 ausführlicher dargelegt. An dieser Stelle soll nur ein Aspekt angeführt werden, um den Zusammenhang zwischen Medien, Bildern und Politik zu veranschaulichen: Politische Herrschaftsbildnisse zeigen nicht nur Herrscher, deren Herrschaftsanspruch in einem Bild motivisch und 8 1 Gegenstand, Aufbau, Ziele <?page no="9"?> 6 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Tübingen 6 1990, S.-145. 7 Vgl. dazu und zum Folgenden: Wolfram Pichler/ Ralph Ubl, Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014, S.-43ff. inhaltlich repräsentiert wird. Herrscher erhalten durch ihre Bildgebung darüber hinaus etwas, was der Philosoph Hans-Georg Gadamer mit einer schönen Wendung „Seinzu‐ wachs“ 6 nennt. Das mag vielleicht nach heideggerianischem Geschwurbel klingen, meint aber erst einmal schlicht: Personen können durch Bilder in einer bestimmten Weise vertreten werden. Bilder haben so gesehen eine Stellvertreterfunktion, was für ihre politische Funktion durchaus von Belang ist. 7 Dadurch nämlich, dass eine Person auf einem Bild abgebildet ist, wird nicht nur im Bild auf diese Person referiert, also identifizierbar auf etwas Konkretes in der Welt außerhalb des Bildes verwiesen. Die dargestellte Person ist darüber hinaus, zumindest in Form einiger Merkmale, vervielfacht anwesend gemacht - bei einem Gemälde oder eine Skulptur zumindest einmal, bei Plakaten oder Fotografien häufig. Diese Vervielfachung geht mit einer möglichen Ausbreitung der Person im Raum und/ oder in der Zeit einher. Eine überlebensgroße Statue von Stalin in Prag hat zumindest eine gewisse Dauer, aufgrund ihrer spezifischen Materialität [↓ Kap. 3, 1. Politische Inhalte], ein Plakat von Barack Obama ist auf Verbreitung an unterschiedlichen Orten angelegt [↓ Kap. 2, Ikonografie], eine Fotografie macht in ihrer Lichtspur den Herrscher oder die Herrscherin präsent [↓ Kap. 3, Medienikonen]. Herrscher: innen sind damit an Orten und Zeiten präsent, wo sie selbst nicht waren bzw. nicht sind oder nach ihrem Tod nicht mehr sein können. Damit kann ein Machtanspruch nicht nur sichtbar markiert werden, vielmehr noch wird dieser stabilisiert, erinnert und verbreitet in Form stellvertretender Präsenz. Bilder können nicht nur an einem Ort etwas sichtbar machen, was nicht wirklich anwesend ist, sondern lassen in gewisser Weise die abgebildete Person von dem Ort Besitz ergreifen. Dementsprechend sind Bilder als Medien zu verstehen, die Herrschaftsansprüche artikulieren, stabilisieren und/ oder verbreiten - und zwar in dem sie die Herrscher: innen in ihrer Abwesenheit visuell präsent machen und permanent deren Herrschaftsanspruch vor Ort artikulieren. Genau in diesem Sinne erhalten Herrscher und Herrscherinnen einen ‚Zuwachs an Sein‘. Andersherum lässt sich ebenso formulieren: Werden solche Bildnisse zerstört - und das werden sie häufig, zu denken ist hier wohl zuallererst an Sturz, Sprengung oder Verunstaltung von Statuen - sind damit zwar nicht Herscher: innen getötet, aber diese doch politisch geschwächt. Ausgelöscht werden somit politische Besitzansprüche auf den Ort, was wiederum selbst als ein zutiefst politischer Akt zu verstehen ist. Demgemäß erfahren in solchen Fällen Herscher: innen eine ‚Seinschrumpfung‘. Für diese Formen der Herrschaftsausweitungen und -einschränkungen ist die Exis‐ tenz von Medien nicht nur notwendige Voraussetzung, entscheidender noch ist, dass die Arten dieses ‚Seinzuwachses‘ bzw. dieser ‚Seinschrumpfung‘ sehr unterschiedlich ausfallen können, je nach der Materialität des Bildes, den Produktions-, Distributions- und Wahrnehmungsmodalitäten, der institutionellen Regulierungen der Sichtbarkeit, 1.2 Zuwachs an Medien-Sein 9 <?page no="10"?> 8 Für eine knappe Darstellung des hermeneutischen Zirkels mitsamt einem Vorschlag zur Umbe‐ nennung vgl.: Jürgen Bolten, Die Hermeneutische Spirale. Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie, in: Poetica, 17, 1985, S.-355-371. also aufgrund der jeweiligen medialen Konstellation. Wie mobil oder immobil ist das Bildnis, wie modifizierbar ist es, welche Formen der Zirkulation kann es geben, wo hängt das Bild, wer stellt es mit welchen Regularien aus, in welchem Format, wie viele Bilder müssen für eine Auslöschung zerstört werden, usw.? Also all das, was hinter, vor bzw. jenseits des Bildinhaltes situiert ist, wird hier relevant. Zwar gibt es - wie ausführlicher in Kapitel 3 zu zeigen sein wird - durchaus Ansätze in der politischen Ikonografie, die einigen dieser Aspekte Rechnung tragen. Aber weder übergreifend systematisch noch facettenreich genug, scheint mir das dort ausfindig zu machen sein, zumindest nicht in einem Vokabular, das dezidiert mediale Prozesse ins Zentrum stellt. Dieses Defizit soll mit vorliegender Einführung in die politische Medienikonografie ausgeräumt werden. Um es sehr zugespitzt zu formulieren: Den Ausdruck ‚Medien‘ in die Wendung ‚politische Ikonografie‘ einzufügen, bedeutet hier, das an der Bildanalyse stark zu machen, was nicht oder doch zumindest nicht unmittelbar in und an Bildern sichtbar ist. 1.3 Aufbau und Struktur Auch wenn die vorgestellten Zugriffe als Werkzeuge aus einer Werkzeugkiste dienen sollen und damit die Verwendung der Zugriffe für eigene Interessen oder Gegenstände nicht von einer linearen Lektüre des Buches, von Anfang zum Ende, abhängt, so ist doch die vorliegende Arbeit in Form eines sukzessiv entfalteten hermeneutischen Zirkels oder besser vielleicht: in Form einer hermeneutischen Spirale organisiert. 8 Der hermeneutische Zirkel wird auch als Zirkel des Verstehens bezeichnet und meinte ursprünglich eine methodische Anleitung zum besseren Verständnis von Texten. Die Grundidee ist recht einfach: Es geht um das Verhältnis von Teil und Ganzem. Ausge‐ hend von einer Textpassage (‚Teil‘) wird im Vorgriff auf die Gesamtbedeutung eines Textes (‚das Ganze‘) geschlossen; durch die Auslegung einer weiteren Textpassage wird wieder von einem nunmehr größeren Teil des Textes die Annahmen über die Bedeutung des Gesamttextes verschoben - und so immer weiter in Spiralen. Ein Zirkel ist diese Spirale insofern, als durch die sukzessiven Zirkelbewegungen die eigentliche Bedeutung des Textes immer besser, immer tiefer verstanden werden kann. Dieses methodische Vorgehen kann über Texte im engeren Sinne hinaus angewandt werden - und zwar in zweifachem Sinne. Erstens kann der hermeneutische Zirkel auf andere mediale Phänomene appliziert werden, etwas auf Filme, Fotografien oder Malerei, also eben auch auf Bilder. Zweitens ist der hermeneutische Zirkel auf den Kontext der Texte oder Bilder auszuweiten, etwa auf das historische Milieu, in dem ein Bild entstanden ist, biografische Aspekte der jeweiligen Akteure oder auch auf bereits existierende Forschungsliteratur zum Gegenstand. Mir geht es indes nicht 10 1 Gegenstand, Aufbau, Ziele <?page no="11"?> nur darum, die folgenden Bildanalysen nach der Methode des hermeneutischen Zirkels zu gestalten. Darüberhinaus ist der Aufbau der Arbeit nach Vorgabe dieses Zirkels organsiert. Der Grund für diese - auf den ersten Blick wahrscheinlich um‐ ständlich erscheinende - Herangehensweise besteht darin, dass ich ausgehend von der traditionellen Zugriffsweise der politischen Ikonografie das Feld der politischen Medienikonografie sukzessive und immer facettenreicher vorstellen möchte. politische Ikonografie Medien (Code) politische Medienikonografie 1 politische Bilder Medien (materiell, infrastrukturell) politische Medienikonografie 2 politische Bilder politische Bilder Abb. 1.1: Der hermeneutische Zirkel als Vorbild für Struktur und Verlaufsform vorliegender Publikation Die einzelnen Spiraldrehungen bestehen in Folgendem (vgl. Abb. 1.1): Nach einer Bestimmung der Basisbegriffe ‚Medien‘, ‚Bild‘, ‚Ikonografie‘ und ‚Politik‘ (Kap. 2) werden anhand ausgewählter politischer Bilder Zugriffe und Methoden der traditio‐ nellen politischen Ikonografie, die sich aus der kunstwissenschaftlich orientierten Bildinterpretation entwickelt hat, vorgestellt (Kap. 3). Anschließend folgt das mit Ab‐ stand umfangreichste Kapitel. Darin soll näher auf den Begriff ‚Medien‘ eingegangen werden (Kap. 4). Dieser Begriff wird wiederum unterteilt in drei Aspekte, nämlich in Codierung, Materialität und Infrastruktur. Mediale Codes sollen anhand einiger Beispiele politischer Bilder in den Blick genommen und mit etablierten kultur- und medienwissenschaftlichen Zugriffen verbunden werden, um so zu dem zu führen, was ich politische Medienikonografie 1 nennen möchte. Im Anschluss daran werden mediale Aspekte der Materialität und Infrastruktur näher untersucht. Auch hier sollen (zumeist neuere) medien- und kulturwissenschaftliche Zugriffe vorgestellt und an Beispielen erläutert werden. Das, was dort vorgestellt wird, soll als politische Medienikonografie 2 bezeichnet werden. Auf zwei Besonderheiten dieses spiralförmigen Vorgehens sei eingangs hingewie‐ sen. Erstens: Ich werde bei den Beispielen politischer Bilder immer wieder auf dieselben 1.3 Aufbau und Struktur 11 <?page no="12"?> Bilder eingehen. Zwar habe ich die Beispiele nicht eng limitiert und erlaube mir immer wieder auch auf andere Bilder einzugehen. Nichtdestotrotz verfolge ich die Strategie, immer wieder auf dieselben Bilder zurückzukommen - bei gleichzeitigem Wechsel der Zugriffe und Methoden. Wenngleich man mir damit berechtigterweise den Vorwurf machen kann, die Facetten politischer Bilder allzu sehr - auch historisch und räumlich - zu limitieren, glaube ich dennoch, dass die Unterschiede der Methoden und Zugriffe gerade mittels der Wiederholung derselben Bilder besonders klar zu veranschaulichen sind. Zweitens: Die hier zugrunde gelegte Spirale bewegt sich nicht nur sukzessive von politischer Ikonografie zur politischen Medienikonografie, sondern nimmt im Laufe der Zeit auch sehr viel stärker die sogenannten neuen Medien in den Blick. Genauer formuliert: Es wird auf der Ebene der Infrastruktur um serielle und vor allem um digitale Phänomene gehen, konkreter noch um die Rolle von Bild- und Nachrichtenagenturen an der Millenniumsschwelle, um Popularitätsmetriken und die Aufmerksamkeitsökonomie digitale Plattformen wie Instagram, Twitter (seit Juli 2023: X) oder 4inch, um den damit assoziierten medialen Formen, insbesondere um Memes und deren Funktionsweise als Träger politischer Botschaften. Diese temporale Verschiebung hin zu Gegenwartsphänomenen scheint mir insofern naheliegend, als es dort in besonderer Weise um Bildregulierung, Bildzirkulation und Affektpolitik geht. Dass mit und in politischer Kommunikation Affekte erzeugt, Bilder reguliert werden und diese in bestimmen Kanälen zirkulieren (und in anderen nicht), all das ist wahrlich nicht neu und gehört seit der Antike zur Grundausstattung der Bilderpolitik. Neu scheint mir hingegen, die Art und Weise, wie Affekte und Bilder gesteuert, verdichtet, verteilt, bearbeitet und verbunden werden. Zum einen geschieht dies unter maßgeblicher Ägide digitaler Plattformen, zum anderen durch transnational operierende Bild- und Nachrichtenagenturen. Politische Medienikonografie muss vor diesem Hintergrund nicht nur nach den politischen Inhalten und Formen von Bildern fragen, nicht nur nach den diesen Bildern zugrundliegenden Politiken der Affekter‐ zeugung und -regulierung, sondern darüber hinaus scheint für die gegenwärtige mediale Lage besonders virulent, dass solche (Bild-)Politiken eben in Operationen und Praktiken digital vernetzter, transmedial operierender Plattformen und Agenturen eingebettet sind, die die Sichtbarkeit und Verteilung von Bildern in sehr spezifischer Weise möglich machen, limitieren und also präformieren. Dies nicht oder nur marginal zu berücksichtigen, schneidet meines Erachtens die politische Ikonografie davon ab, was zum Verständnis von Bildphänomenen der Gegenwart zentral oder doch zumindest wichtig ist. Trotz dem Telos auf Gegenwartsphänomene soll es in vorliegender Einführung aus‐ drücklich nicht darum gehen, ältere Ansätze und Gegenstände politischer Ikonografie zu verunglimpfen oder vor dem Hintergrund der digital vernetzten, algorithmisch pro‐ zessierten Bilderflut diese als antiquiert abzutun. Ganz im Gegenteil gilt es zu zeigen, dass die politische Ikonografie zwar tatsächlich angesichts der digitalen Medienkultur ein Update erfahren sollte, aber dennoch viele Ansätze bereitstellt, die sich äußerst 12 1 Gegenstand, Aufbau, Ziele <?page no="13"?> produktiv machen lassen, um auch gegenwärtige politisch motivierter Bildpraktiken zu beschreiben und verständlich zu machen. Zwar geht die Struktur des Textes immer weiter auf die Gegenwart zu. Dennoch trägt die vorliegende Monografie selbst einen historischen Index - und bleibt also notgedrungen hinter der Gegenwart zurück. Geschrieben wurde der Text zurzeit großer Irritationen und Diskussionen über Trumps Wahlerfolge und -skandale, der Co‐ rona-Wellen, der Zirkulation rechtspopulistischer Ideologien mittels medialer Formen wie Memes und den Versuchen, deren Erfolg im Kontext digitaler Aufmerksamkeitsö‐ konomien zu verstehen. Dass inzwischen andere politische Bilder, andere Themen - zuvorderst ist hier an den Krieg in der Ukraine zu denken, aber auch an die Konflikte im Gaza-Streifen - virulent sind und ganz andere Akteure die Berichterstattungen und sozialen Medien dominieren, zeugt von der Vergangenheit, die vorliegender Text bereits jetzt während seiner Erstpublikation angehört. Einerseits ist so ein Zu-spät-kommen zu bedauern, wären doch immer noch neuere, unter Umständen noch interessantere Aspekte gegenwärtiger Bildpolitik in den Blick zu nehmen. Anderseits ist dieses Zu-spät-kommen auch ein guter Test dafür, inwieweit die Ansätze, die hier unter dem Signum ‚politische Medienikonografie‘ versammelt werden, trotz aller Verlagerung politischer Themen, visueller Darstellungsarten und medialer Lagen über die Zeit hinweg tragen, also auch zur Analyse dieser Phänomene beitragen können. Die Leser: innen mögen mir nachsehen, dass ich für diesen speziellen Fall auf ein positives Testergebnis hoffe. 1.4 Piktogramme zur Orientierung Noch einige Worte zur Textgestaltung: Einer Einführung entsprechend wird zu Beginn jedes Kapitel kurz zusammenfassend dargestellt, was im Kapitel zu erwarten ist. Am Ende jeden Kapitels gibt es für Eilige eine Zusammenfassung der zentralen Aspekte. Maßgebliche Grundbegriffe werden eigens vom Fließtext abgehoben definiert. Analy‐ sezugriffe, die besonders relevant sind, werden als solche kenntlich gemacht. Hinweise und Kommentare zu weiterführender Forschungsliteratur finden sich zum Abschluss der Kapitel. Eine Besonderheit bildet eine Rubrik, die mit dem Emoji eines explodierenden Kopfes markiert ist. Verhandelt werden dort Aspekte, die eine vertiefende Auseinandersetzung verdient hätten, die aber nicht geführt wird, die problematische oder zumindest problematisierbare Annahmen aus dem Fließtext aufgreifen und kurz diskutieren oder die eine andere Sichtweise auf behandelte Phänomene skizzieren. Auch wenn einzuwenden wäre, dass damit die Komplexität unnötig gesteigert wird, Relativierun‐ gen vorgenommen werden, diese Vorgehensweise womöglich gar als Ausdruck einer neurotischen Ader des Verfassers oder - im schlimmsten Fall - als schlichte Inkom‐ petenz gedeutet werden könnte, liegt mir diese Rubrik besonders am Herzen - und zwar, weil ich davon überzeugt bin, dass es in kultur- und medienwissenschaftlichen 1.4 Piktogramme zur Orientierung 13 <?page no="14"?> 9 Vgl. dazu ausführlicher im Kontext der Diskussion, welche Funktion Kultur generell hat: Dirk Baecker, Wozu Kultur? , Berlin 2000. Baecker schreibt dort pointiert: „[D]ie Wissenschaft ist der systematisch gewordene Vergleich, nämlich der Vergleich der einen Erkenntnis mit einer anderen Erkenntnis, um zu einer dritten Erkenntnis zu kommen.“ (Ebd., S. 70) Der Modus des Vergleichens impliziert immer auch mit anderen Positionen bzw. Zugriffen zu rechnen. Forschungsfeldern und auch bereits in Einführungen dazu, wichtig ist, zu markieren und zu reflektieren, dass es auch andere Sichtweisen, umstrittene Standpunkte, andere - möglicherweise ebenfalls produktive Zugriffe und offene Flanken der eigenen Argumentation gibt. Dies nicht in einen Einführungstext mit aufzunehmen und dort zu reflektieren, erschiene mir fahrlässig und ginge an dem vorbei, was meines Erachtens kultur- und medienwissenschaftliche Forschung auszeichnet, nämlich die Idee, dass man es auch anders sehen könnte. 9 Im Text selbst wird mit vielen Querverweisen gearbeitet, die jeweils anzeigen sollen, dass und wo der gerade behandelte Gegenstand im Fließtext ausführlicher diskutiert wird. Die angeführten Aspekte sind zur Verdeutlichung jeweils mit Piktogrammen im Text markiert (vgl. Abb. 1.2). Piktogramm Bedeutung I Funktion ‚Kristallkugel‘: Überblick zu Beginn eines Kapitels zur Orientierung, was in naher Zukunft geschehen wird. Reißzwecke zum Festpinnen von Begriffsbestimmungen (z.B. Ikonografie, Politik, Meme) Analysezugriff (bspw. Ikonologie nach Panofsky, Pathosformeln nach Warburg) ↑ Verweispfeil nach oben: Irgendwo weiter vorne wurde das bereits (ausführlicher) verhandelt, inkl. Angabe von Kapitel und/ oder Abschnittüberschrift ↓ Verweispfeil nach unten: Später wird dieser Aspekt noch (ausführlicher) verhandelt, inkl. Angabe von Kapitel und/ oder Abschnittüberschrift ‚Speichern‘: selektive Zusammenfassung der zentralen Aspekte am Ende eines Kapitels Wie man von hier noch viel weiter fliegen könnte hinein ins weite Feld der Forschungsliteratur, inkl. einiger Kommentar zur Orientierung, wohin dort jeweils die Reise geht Das Emoji mit explodierendem Kopf erscheint immer dann, wenn es darum geht, problematische Aspekte, Irritationen, offene Fragen oder weiterführende Aspekte des jeweils vorgestellten Zugriffs zu vermerken 🔮 📌 ⚒ 💾 ✈ 🤯 Abb. 1.2: Piktogramme und ihre Bedeutung in vorliegendem Text 14 1 Gegenstand, Aufbau, Ziele <?page no="15"?> 10 Vgl. zur Wortherkunft und der aristotelischen Beschreibung des Menschen als zoon politikon knapp: Dieter Fuchs/ Jahn A. Fuhse: Politik, in: Dieter Fuchs/ Edeltraud Roller (Hg.), Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2009, S.-205-210, v.a.: S.-205f. 2 Politik, Medien, Ikonografie Überblick Die Wortkombination ‚politische Medienikonografie‘ besteht aus mindestens drei großkalibrigen, dementsprechend komplexen und semantisch hochgradig unscharfen Begriffen der Kultur- und Medienwissenschaft. Es scheint deshalb sinnvoll, eingangs zu klären, was die einzelnen Begriffe hier bedeuten sollen. Be‐ sonderes Augenmerk gilt dabei der Ikonografie, die als Analysemethode kleinteilig anhand des sogenannten Hope Poster veranschaulicht wird, um so einerseits den methodischen und genealogischen Ausgangspunkt der politischen Ikonografie zu markieren und anderseits gleich einen Übergang zur politischen Medienikonografie zu bahnen. Mit einer näheren Bestimmung dessen, was Politik im Zusammenhang mit dem Projekt einer politischen Medienikonografie bedeutet, soll begonnen werden. 2.1 Politik Politik Politiká stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich ‚Dinge, die die Stadt oder den Stadtstaat (Polis) betreffen‘. Allgemeiner formuliert: Es geht um die Belange des Gemeinwesens und die mit diesen in Zusammenhang stehende Koordi‐ nation sozialer Wesen. Aristoteles bezeichnet den Menschen als zoon politikon, was bedeutet, dass der Mensch ein soziales und damit auf Gemeinschaft angewiesenes sowie Gemeinschaft bildendes Wesen ist. Laut dem antiken Philosophen ist das Ziel jedes Menschen, ein gutes Leben zu führen. Dieses Ziel ist nur innerhalb einer Gemeinschaft zu erreichen, genauer noch - und hier kommt der griechische Wortstamm wieder zum Tragen - in einer Polis, einem (Stadt-)Staat, der sich dadurch auszeichnet, dass er die Gemeinschaft gesetzlich regelt. Der Einzelne muss sich in diese gesetzlichen Rahmen einordnen und soll gleichzeitig aktiv an der Ausgestaltung der Polis teilnehmen, um so ein gutes Leben führen zu können. 10 <?page no="16"?> 11 Die konstitutive Zukunftsorientierung des Politischen fasst die Rechts- und Politikwissenschaftlerin Sabine Müller-Mall sehr klar. Sie schreibt: „Wie wir normative und institutionelle Ordnungen, Freiheit, Gleichheit und Herrschaftsverhältnisse organisieren, zentrale Fragen nach der Politik also, sind lediglich differenzierte Versionen der Frage, wie wir die Zukunft (des Zusammenlebens) gestalten wollen.“ (Sabine Müller-Mall, Freiheit und Kalkül. Die Politik der Algorithmen, Stuttgart 2020, S.-15f.) 12 Vgl. dazu Ernesto Laclau/ Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000. Die Autor: innen schreiben: „Politisches Handeln ist […] ganz wesentlich Verbindungshandeln […].“ (Ebd., S.-167) 13 Zu hier relevanten Aufweichungen dieser Grenze, die unter den Stichworten ‚Metapolitik‘, ‚tran‐ zendental-politisch‘ sowie ‚politische Algorithmen‘ verhandelt werden, vgl. die dementsprechend benannten Abschnitte in Kap. 4. Wiederum allgemeiner gewendet: In der Politik geht es (1.) um Kommunikation, Handlungen, Entscheidungen und Konsequenzen, die (2.) das Gemeinwesen be‐ treffen, dieses (3.) im Hinblick auf die Zukunft (4.) normativ gestalten, ordnen oder auch (5.) kritisieren wollen, also (6.) nicht auf private, intime oder partiale Interes‐ sen abzielen, zumindest nicht primär. 11 Sehr knapp formuliert: Politisches Handeln ist ein auf Zukunft gerichtetes strategisches Verbindungshandeln zur regulierenden oder deregulierenden Gestaltung eines Kollektivs. 12 Um gleich zu Beginn der Definition eines der hier relevanten Begriffe einige nahelie‐ gende Einwände gegen die angeführte Bestimmung aufzugreifen, seien zumindest zwei angeführt und kurz diskutiert. Was ist eigentlich nicht politisch? (1) Problem der Gegenstandsbegrenzung Der erste Einwand betrifft den Gegenstandsbereich dessen, was als politisch gilt. Es scheint durchaus problematisch, politische Aussagen oder Handlungen nur auf solche zu reduzieren, die dezidiert Gestaltung oder Kritik eines Kollektivs betreffen und nicht auch das Private. 13 Es könnte dagegen gehalten werden, dass jegliche Handlung, alle Formen von Kommunikationsangeboten mehr oder minder implizit als politisch zu bestimmen sind oder zumindest als Ausdruck oder Effekt des Poltischen. Um hierfür nur ein Beispiel zu nennen: Auf dem bundesweiten Delegiertenkon‐ gress des Sozialistischen Deutschen Studentenbund im November 1968 wurde von der Aktion des Weiberrats ein Flugblatt verteilt, das großes Aufsehen erregte. Die zentrale Forderung auf diesem Flugblatt bestand darin, die faktische Unterdrü‐ ckung der Frau im Privatleben nicht ausschließlich als Privatsache aufzufassen, sondern bedingt durch die bürgerlich-kapitalistische Struktur. „Es gelte, die bür‐ gerliche Trennung von Privatleben und gesellschaftlichem Leben aufzuheben, das 16 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="17"?> 14 Gisela Rischer, ‚Das Private ist politisch‘: Die politische Theorie und das Öffentliche und das Private, in: Freiburger Frauen Studien, 13 (2003), S.-59-77, hier: S.-59. 15 Vgl. dazu bspw.: Heike Kanter u. a., Zur Einleitung - Bilder, soziale Medien und das Politische: Ein komplexes Verhältnis unter der Lupe, in: Kanter u. a. (Hg.), Bilder und das Politische, S. 11-49, hier: S.-32. Privatleben qualitativ zu verändern und die Veränderung als politische Aktion, als kulturrevolutionären Akt, und als Teil des Klassenkampfes“ 14 zu verstehen. Es geht mir bei diesem Beispiel nicht um die Resolution selbst, die auch unter meine sehr viel engere Bestimmung des Politischen fällt, sondern um die Konsequenz, die - stimmt man dieser Sichtweise zu -, für den Begriff des Politischen zu ziehen wäre: Jegliche private Handlung wird so - zumindest potenziell - zu einem politischen Akt, auch wenn dieser nicht eigens als solcher deklariert wird, als solcher nicht sofort offensichtlich ist, nicht an die Öffentlichkeit gelangen mag. Dass es ohnehin keine Verlautbarung gibt, die nicht immer schon, egal wie privat sie auch sein mag, letztlich politisch ist - diese These wird inzwischen häufig geäußert, vor allem mit Bezug auf die sogenannten sozialen Medien, durch und in denen alles Private potenziell öffentlich und von Anfang an als politisch zu verstehen ist oder doch zumindest vergleichsweise problemlos zu einer politischen Äußerung werden kann. 15 Dieser Ausweitung des Politischen würde ich aber entgegenhalten wollen: Einmal ganz abgesehen davon, dass solch eine Öffnung formallogisch den Begriff des Politischen einfach auf alles Mögliche anwendbar macht und er so schlicht keine analytische Kategorie mehr sein könnte, scheint es mir zudem unplausibel, jegliche Form von Kommunikationsangeboten, die veröffentlicht werden, als mehr oder minder implizit politisch zu bestimmen. Das auf Instagram gepostete Blumenge‐ steck oder das Bild meines Frühstücks mag zwar durchaus ein bestimmtes Weltbild (mit-)vermitteln oder sogar ideologische Implikationen beinhalten, politisch in einem engeren Sinne müssen diese aber nicht sein (zumindest dann nicht, wenn das Blumenbesteck nicht Teil einer Einladung zum nächsten mittelfränkischen CSU-Stammtisch ist oder das gepostete Frühstück mit Anthrax versetzt ist, um ein Staatsoberhaupt zu töten - und ich das Bild dementsprechend kommentiere). Meines Erachtens sollten zumindest in einem ersten Zugang tatsächlich nur solche Kommunikationsangebote und Handlungen als politisch betrachtet werden, die strategisch auf die Koordination, Kritik oder Modifikation des Gemeinwesens zielen und/ oder die im Zusammenhang mit der Absicht des Machterhalts oder -erwerbs zu tun haben. Wie herauszufinden ist, ob etwas strategisch und intentional in genau diesem Sinne geäußert wurde, bleibt eine schwierige, von dieser Kritik der Ausweitung des Politikbegriffs aber gänzlich unabhängige Frage. Das zoon politikon jedenfalls ist nicht allein schon dadurch politisch, dass es ein auf Sozialität 2.1 Politik 17 <?page no="18"?> 16 Inwieweit das mit reflexiven oder zumindest aufs Kollektiv zielende Aktionen zu tun hat, ist schwierig zu beurteilen. Jedenfalls lässt sich die politische Dimension nicht-menschlicher Akteure mit guten Gründen unter Rekurs auf die Bestimmung des zoon politikon diskutieren, vgl. bspw.: Niels Werber, Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte, Frankfurt am Main 2013, v.a.: S. 11ff. Unbenommen davon, ob Tiere politikfähig sind oder nicht, ist freilich eine Politik für oder auch im Namen nicht-menschliche Akteure möglich. Eine solche fällt durchaus in den Bereich der hier vorgestellten Begriffsbestimmung (vgl. für solch eine Position prominent: Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2001). 17 Vgl. bspw.: Müller-Mall, Freiheit und Kalkül. Im Untertitel dieser Publikation wird genau diese These proklamiert, heißt es doch dort: „Die Politik der Algorithmen“ (ebd.). angelegtes Wesen ist, sondern erst genau dann, wenn es um Reflexion, Auseinan‐ dersetzung, Kritik und/ oder Ausgestaltung der Zukunft des sozialen Bereichs geht. (2) Problem der Begrenzung auf Menschen Weiterhin könnte einer weiteren Limitation des hier vorgeschlagenen Politikbe‐ griffs kritisch begegnet werden, nämlich die Begrenzung auf menschliche Ak‐ teur: innen. Immerhin sind ja auch Ameisen oder Bienen ganz sicher soziale Wesen, die sich mit olfaktorischen, taktilen oder auch visuellen Codierungsformen verständigen und insofern politikfähig zu sein scheinen. 16 Da indes - soweit mir zumindest bekannt ist - weder Ameisen, Bienen oder Delfine bildgebenden Verfah‐ ren oder gar ikonische (Bild-)Traditionen etabliert haben, fällt diese Frage ohnehin zumindest nicht in den Gegenstandsbereich einer politischen Medienikonografie. Ähnliches wie für Bienen und Delfine ließe sich für bestimmte Medientechnologien behaupten, insbesondere für solche, die auf Grundlage von digitalen Algorithmen operieren. Von solchen Algorithmen wird immer wieder behauptet, dass diese selbst - nicht (nur) ihre Verwendungen durch menschliche Akteure - politisch sind. 17 Diese Idee soll später ausführlicher diskutiert werden [↓ Kap. 4. Politik der Algorithmen]. Unabhängig davon, wie mit genannten Problemen prinzipiell umzugehen ist, soll hier - und das heißt vor dem Hintergrund einer politischen Medienikonografie, bei der es primär um bildliche und öffentlich zugängliche Darstellungen geht - hochselektiv gelten: Das Politische ist das, was Verbindungen zwischen menschlichen Wesen schafft oder schaffen will zur Stabilisierung und/ oder (Um-)Gestaltung oder zumindest zur Kritik (von Aspekten) des Gemeinwesens. 2.1.1 Trias des Politischen Die Formen solchen politischen Handelns zielen zwar auf soziale Verbindungen und Regeln für das Gemeinwohl, indes sind sie aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Interessen darüber, welche Art von sozialen Verbindungen und Gemeinwohl gelten sollen, primär konfliktbasiert, also auf Widerstreit angelegt. Daraus resultiert, dass es 18 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="19"?> 18 Niklas Luhmann bestimmt Machterwerb als das zentrale Ziel des ‚Systems Politik‘. Alles entschei‐ dend ist laut Luhmann die Frage, ob man Macht besitzt oder eben nicht. Alle anderen Aspekte, wie Gestaltung des Gemeinwesens, Durchsetzung von Visionen einer ‚anderen‘ Gesellschaft, kollektives Vernetzungshandeln etc., sind demgegenüber sekundär. Vgl. dazu: Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, v.a.: S.-18ff. 19 Vgl. dazu etwa: Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, Stuttgart 1994, v.a.: S.-61ff. 20 Zum Zusammenhang von ‚Regierung des eigenen Selbst‘ und ‚Regierung eines Kollektives‘, die keine Gegensätze sein müssen, vgl. ausführlich: Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/ 83, Berlin 2012. bei politischem Handeln um Machterwerb, Machtstabilisierung oder Destabilisierung von Herrschaft geht - und somit auch um Durchsetzung von Eigeninteressen und Ermächtigung (empowerment) der jeweiligen Akteure zur Gestaltung der politischen Sphäre. 18 Einer gängigen politikwissenschaftlichen Unterteilung folgend lassen sich drei Ebe‐ nen des Politischen differenzieren, die im tatsächlichen Vollzug politischen Geschehens freilich ineinandergreifen (vgl. Abb. 2.1). 19 Kap. 2 political das Politische policy politische Willensbildung NORMEN inhaltlich/ normativ z.B. Inhalte und Einschätzungen in Sendungen, Darstellungen, Kommentaren, Protesten, die auf öffentliche Wahrnehmung ausgerichtet sind polity politische Institutionen SYSTEME strukturell/ formalisiert z.B. institutionalisierte Mediensysteme, Rundfunkgesetzgebung, Protestbewegungen, Parteien politics politische Steuerung PRAKTIKEN prozessual/ vermittelnd - Steuerungsabsichten z.B. Formen und Funktionen politischer Berichterstattung, Wahlkampfveranstaltungen, Twitter -Beiträge Abb. 2.1: Politikwissenschaftliche Trias des Politischen Quer zur Trias aus policy, politics und polity sollen noch die widerstrebenden Pole des politischen Interesses hinzugefügt werden, um so die unterschiedlichen Motivationen in der politischen Sphäre fassbar zu machen. Der eine Pol bildet das ‚selbstlose Wohl‘ für das Gemeinwesen, der andere das Eigeninteresse, eine Machtposition einzunehmen bzw. sich dazu zu ermächtigen (vgl. Abb. 2.2). 20 2.1 Politik 19 <?page no="20"?> political Verbindungshandeln, Widerstreit artikulieren/ aushandeln - zukunftsorientiert policy Systeme politics Praktiken polity Normen common welfare Sorge ums Ganze particular empowerment Sorge um sich Abb. 2.2: Die Trias des Politischen und die damit verbundenen Interessen 2.1.2 Die Medialität des Politischen Damit politische Kommunikation und Entscheidungsfindungen überhaupt zustande kommen, vermittelt, stabilisiert oder kritisiert werden können, ist die Existenz von Medien Grundvoraussetzung. Politische Entscheidungen, Machterhalt und -erwerb müssen medial vermittelt, popularisiert bzw. überhaupt zuallererst bekannt gemacht werden, um wirksam werden zu können. Dies geschieht insbesondere durch klassische Massenmedien wie Fernsehen, Zeitschriften oder Radio, ebenso aber auch bereits durch Feste, Monumente, Architektur oder Demonstrationen oder seit einiger Zeit in soge‐ nannten sozialen Medien, etwa in digitalen Diskussionsforen, Messanger-Diensten wie Telegram oder auf Plattformen wie Twitter, Instagram um in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in diversen Teil- oder Gegenöffentlichkeiten zustimmungsfähig, kriti‐ sierbar oder doch zumindest bekannt zu werden und zirkulieren zu können. Die mediale Beichterstattung und Darstellung von Politik im hier relevanten Sinne lassen sich idealtypisch auf die drei benannten Felder der Politik verteilen: Auf der (1) systemischen Ebene sind etwa institutionalisierte Mediensysteme zu situieren, beispielsweise der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der im Staatsvertrag die Aufgabe politischer Bildung und Information zugewiesen bekommt. (2) Die praktisch-prozes‐ suale Ebene des Politischen ist hier insofern virulent, als sie in großen Teilen im Kontext (teil-)öffentlicher Beiträge zu situieren ist - man denke nur an televisuelle Berichter‐ stattungen, Tweets und Retweets oder die Gestaltung und Verbreitung politischer Memes auf digitalen Plattformen. Dies sind allesamt medial fundierte Maßnahmen zur 20 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="21"?> 21 Zum Begriff der Bildwerdung vgl.: Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, Berlin 2015, S. 10f. [↓ Kap. 4, Code 1: Was ist ein Bild, was nicht? ]. 22 Vgl. dazu: Stefan Hoffmann, Medienbegriff und Medienwissenschaft, in: Jens Schröter (Hg.), Hand‐ buch Medienwissenschaft, Stuttgart/ Weimar 2014, S.-13-20, v.a.: S.-13f. Steuerung und Regulierung des Verhaltens und Wahrnehmens von Individuen und Kollektiven. (3) Die inhaltlich-normative Ebene umfasst die inhaltlichen, durch Medien vermittelten (teil-)öffentlich gemachten Meinungen, Vorschläge oder kritischen Erwi‐ derungen. Besonders interessant sind im Kontext politischer Medienikonografie nicht so sehr die jeweiligen konkreten inhaltlichen Argumente, sondern deren Bildwerdungen. 21 Gerade die Kopplung mit den Maßnahmen zur Steuerung des Verhaltens und Wahr‐ nehmens, die mit solchen Bildformen einhergehen und diesen zugrunde liegen, ist für die Konturierung der politischen Medienikonografie besonders relevant [↓ Kap. 4]. 2.2 Medien Was wiederum Medien jenseits alltagssprachlicher Vorstellungen sind, dafür soll an dieser Stelle zunächst einmal nur eine recht allgemeine Bestimmung gegeben werden, die dann in Kap. 4 weiter spezifiziert und ausdifferenziert wird. Medien ‚Medien‘ ist ein Sammelbegriff, der alles Mögliche bedeuten und umfassen kann - und häufig sehr unterschiedlich, ja widersprüchlich bestimmt wird. Das lässt sich bereits an den beiden wortgeschichtlichen Hauptbedeutungen vom lateinischen medium ablesen. Zum einen kann Medium sowohl Mitte bzw. Mittler bedeuten. 22 Hier geht es darum, dass ein Medium das ist, was etwas von a nach b vermittelt und dort zur Erscheinung gebracht wird. Ein Fotoapparat kann so als funktionales Mittel betrachtet werden, Situationen zu einem Zeitpunkt x am Ort a an einem anderen Ort b, zu einem anderen Zeitpunkt y sichtbar zu machen. Zum anderen kann Medium aber auch Milieu bedeuten. Hier geht es um ein Verständnis des Medialen, das davon ausgeht, dass Medien eine Umwelt oder eben ein Milieu schaffen, durch das die Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt präformiert wird. In einer Welt, die voller Fotoapparaten ist, in der man immer schon davon ausgehen muss, dass man fotografiert werden kann und so die Welt im Modus möglicher Fotografierbarkeit erfasst, ist das Verhältnis zur Welt und zu sich selbst, ein anderes als ohne Fotoapparate. Die Fotografie ermöglicht so verstanden nicht nur die Reproduktion von Ereignissen, deren Aufbewahrung und Transport von a nach b; sie ist also nicht nur ein Mittler, sondern etabliert insofern ein Milieu, als sie 2.2 Medien 21 <?page no="22"?> 23 Vgl. für solch ein Verständnis von Medialität und zur Entwicklung eines dementsprechend inter‐ dependenten, auf Wechselverhältnis einzelner Elemente angelegten Medienbegriff bereits: Kay Kirchmann, Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß, Opladen 1998, v.a.: S. 41ff. Vgl. knapper und mit dem Schwerpunkt auf der Heterogenität der medialen Elemente: Joseph Vogl, Medien-Werden. Galileis Fernrohr, in: Mediale Historiographien, 1 (2001), S. 115- 123. Vogl schreibt, Medien sind „als Zusammentreffen heterogener Momente [zu] begreifen, zu denen technische Apparaturen oder Maschinen genauso gehören wie Symboliken, institutionelle Sachverhalte, Praktiken oder bestimmte Wissensformen“ (ebd., S.-123). die Wahrnehmung der Welt, ja sogar das Selbstverständnis der Menschen, die von Fotoapparaten umgeben sind, neu ausrichtet. Zudem muss auf dieser Ebene bedacht werden: Fotos kommen selten allein. Sie sind mit Fotoapparaten verbunden oder auch mit Smartphones, die zusätzlich ganz andere Funktionen erfüllen können. Damit verknüpft ist ein bestimmtes Distributionswesen, etwa die Telegrafie oder digitale Plattformen, auf denen die Bilder geteilt werden können, usw. Entscheidend daran ist, dass Medien meist im Plural auftreten und im Plural Milieus ausbilden. 2.2.1 Code I Kanal Durch die Unterscheidung von Mittler und Milieu und dem Verweis auf die Pluralität von Medien ist vielleicht aufgezeigt, wie facettenreich der Medienbegriff ist und auch warum, es sinnvoll ist, eher von Medien als von einem Medium zu sprechen. Operationalisierbar und analytisch fruchtbar zu machen, sind diese Bestimmungen aber eher weniger. Dementsprechend ist es in einem Kontext, in dem es um die Analysemöglichkeit politischer Bilder geht, sinnvoll, den hier zu Grund gelegten Me‐ dienbegriff enger und so zielführend zu definieren. Für dieses Vorhaben scheint es mir naheliegend, Code und Kanal als zwei zentrale mediale Operationen zu unterscheiden und weiter auszudifferenzieren (vgl. Abb. 2.3). Diese Unterscheidung, das sei eigens betont, ist eine, die mediale Aspekte besser zu identifizieren hilft; aber letztlich geht es dabei nicht um die Bestimmung unterschiedlicher Medien oder gar um alle Facetten des Medialen, sondern nur um bestimmte Aspekte und Ebenen medialer Operationen. So verstanden gibt es eigentlich genau besehen Medien nicht nur im Plural, sondern genauer noch nur als Teil eines übergreifenden Medialitätsprozesses, bei dem die heterogenen medialen Facetten und Ebenen ineinandergreifen, deren einzelne Aspekte wiederum je nach analytischem Erkenntnisinteresse selektiv herausgegriffen werden. 23 22 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="23"?> 24 Alexander Roesler, Code/ Codierung, in: ders./ Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005, S.-45-51, hier: S.-45. Medien Code auditiv olfaktorisch sprachlich taktil visuell Fotografie Film Malerei Denkmal ... Kanal Materialität Infrastruktur Mittel Milieu Abb. 2.3: Medien als Zeichensysteme und Kanäle 2.2.2 Code Ein Code ist „eine Anweisung zum Ver- und Entschlüsseln einer Nachricht […].“ 24 Der Code ist insofern als ein Medium zu begreifen, als er Zuordnungsregeln ermöglicht, die das Verhältnis zweier unterschiedlicher Einheiten organisieren (etwa die Zeichenfolge „SOS“ - erste Einheit ist eine sprachliche Verschlüsselung, die als kommunikativer Akt mit der Bedeutung „Hilfe! “ entschlüsselt werden kann). Aufgrund der Codie‐ rungsmöglichkeit wurden unterschiedliche Codierungsformen historisch etabliert, die selbst wieder als Medien fungieren können, genauer als semiotische Kommunikations- und Wahrnehmungsmittel. Diese Medien stellen sprachliche, visuelle, auditive oder auch olfaktorische Möglichkeiten bereit zur Kommunikation und Wahrnehmung für je spezifische Verarbeitungen und Speicherungen prämedialer Bezugsobjekte. Da es sich dabei um unterschiedliche Codierungsinstrumente handelt, lässt sich auch formulieren: Diese Medien ermöglichen nicht nur durch Verarbeitung und Speicherung Kommunikation und machen Phänomene wahrnehmbar; sie normieren diese auch in spezifischer Weise und limitieren dementsprechend. Mündlich kann anders und anderes kommuniziert werden als mittels einer Fotografie. Genauso gilt umgekehrt: 2.2 Medien 23 <?page no="24"?> 25 Vgl. für eine populäre Position aus der Bildwissenschaft, die diese Beschränkung kritisiert, Gottfried Boehm, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Marius Rimmele u. a. (Hg.), Bildwissenschaft und Visual Culture, Bielefeld 2014, S. 67-80; zur Diskussion diverser Ansätze vgl. den Überblick in: Lambert Wiesing, Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes, in: ders., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, S.-17-36. Mündlich lassen sich Dinge eben nicht zeigen, in einer Fotografie wiederum nicht direkt sagen etc. Dementsprechend präformieren Codes durch Verarbeitung und Spei‐ cherung Kommunikation und Wahrnehmung aufgrund ihrer jeweiligen semiotischen Spezifik. Selbstverständlich können die hier differenzierten Unterkategorien ineinandergrei‐ fen, ja, solche Verschränkungen dürften wohl der Normalfall sein. Man denke nur an Bild-Text-Kombinationen auf Wahlplakaten oder Memes, an die televisuelle Berichter‐ stattung, bei der Ton und Bild ineinandergreifen oder auch an Denkmäler, die angefasst werden können, also nicht nur visuell, sondern taktil ‚kommunizieren‘ usw. Wie noch näher diskutiert werden wird [vgl. Kap. 4, Was ein Bild ist, was nicht? ], ist es durchaus umstritten, ob Medien generell und speziell visuelle Kommunikations- und Wahrnehmungsmittel überhaupt als codierte Zeichensysteme zu verstehen sind und wenn ja, was genau ihre Spezifik ausmacht. 25 Nichtsdestotrotz sollen hier Bilder und unterschiedliche Bildtypen, etwa Fotografien, Gemälde, Filme oder Statuen, in einem ersten Zugriff als visuelle Kommunikations- und Wahrnehmungsmittel gefasst und unter die Kategorie medialer Codierung subsumiert werden. Später soll davon ausgehend diskutiert werden, was die Spezifik dieser Bilder im Kontext politisch-stra‐ tegischer Kommunikation und Wahrnehmung sein könnte. 2.2.3 Medium I Form I Medium I Form … Auf Ebene des Codes lässt sich wiederum entweder die visuelle Codierung als Medium für unterschiedliche visuelle Formen verstehen, so wäre beispielsweise die Fotografie eine Form des visuellen Mediums, oder aber die Fotografie wird selbst als Medium gefasst, das unterschiedliche Formen ausbildet, etwa Atelierfotografie, Schnappschuss oder Makrofotografie (vgl. Abb. 2.4). Hier ist das, was ein Medium ist, erstens dasjenige, was Spielraum möglicher Formbildungen bereitstellt. Die Form ist demgegenüber die Realisierung bestimmter medial ermöglichter Formbildungen. Zweitens ist so verstanden, das, was jeweils Medium, was Form ist, relativ. Je nachdem, was bei der Analyse in den Blick genommen werden soll, lässt sich etwas als Medium oder als Form bestimmen. Frage ich nach möglichen Realisierungen visueller Codierung, fasse ich den visuellen Code als Medium, das sich etwa in der Form von Fotografien materialisiert. Interessiert mich hingegen eine spezifische Form der Fotografie, etwa der Schnappschuss, so ist die Fotografie das Medium für die Form Schnappschuss. Bin ich wiederum an bestimmten ästhetischen Erscheinungsformen interessiert, die den Schnappschuss auszeichnen, etwa Unschärfen im Bild, so ist der Schnappschuss das 24 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="25"?> 26 Zu diesem abstrakten und in seinen Feinheiten recht komplexen Medienbegriff vgl. Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst [1986], in: ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 198-217. Knapp einführend dazu: Sven Grampp, Medienwissenschaft, Konstanz/ München 2016, S.-102ff. Medium, die Unschärfe eine seiner Formen. Die Reihe der Medium/ Form-Relationen ließe sich in beide Richtungen prinzipiell unendlich fortsetzen (vgl. Abb. 2.4). 26 Fotografie Medium/ Form ermöglicht ermöglicht 1. Option 2. Option visueller Code Medium/ Form Schnappschuss Medium/ Form ermöglicht Unschärfe … 3. Option Abb. 2.4: Medium/ Form-Relationen Auch wenn es verwirrend, ja widersprüchlich oder zumindest wenig zielführend erscheinen mag, neben der Bestimmung von Medien im heterogenen Plural quer dazu auch noch eine relativierende Medium/ Form-Unterscheidung einzuführen, so ist mir diese zweite Bestimmung dennoch wichtig und steht, wie ich glaube, auch nicht im Wi‐ derspruch zur ersten Bestimmung von Medien. Die Medium/ Form-Unterscheidung ist vor allem für die Diskussion dessen, was ein Bild ist, sowie für die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Bildtypen relevant. Denn dabei wird zunächst das Bild als Medium verstanden und diverse Bildtypen als Formen. Daran anschließend sollen einzelne Bildtypen als Medien bestimmt und ihre jeweiligen Möglichkeiten anhand diverser Formbeispiele veranschaulicht werden. In einem letzten Schritt wird dann das Bild als Form in übergreifenden medialen Kontexten, etwa Infrastrukturen, Bildagenturen, untersucht [↓ Kap. 4, Code]. Bilder und Bildtypen sind somit einerseits als zentrale Formbestandteile eines übergreifenden medialen Prozesses zu verstehen. Anderseits scheint es mir zielführend, bei der konkreten Analyse von Bildern und Bildtypen kleinteiliger die Frage zu stellen, welche Darstellungsformen genau Bilder oder eben Bildtypen als Medien in bestimmten Kontexten ermöglichen und welche ausgeschlossen werden. Sind Bilder und Bildtypen als Medien wie auch als Formen zu bestimmen, kann der Frage nach der medialen Prägekraft konkret und vor allem sowohl ebenenspezifisch als auch kontextrelativ nachgegangen werden. 2.2 Medien 25 <?page no="26"?> Weiterhin lassen sich so gewendet unterschiedliche Medien, wie etwa visuelle und sprachliche Codierungen vergleichsweise elegant in medialen Formen verbinden, was sich wiederum als spezifisches mediales Text-Bild-Verhältnis stabilisieren lässt und so als Ausgangspunkt für weitere (Unter-)Formen dienen kann usw. (vgl. Abb. 2.5 [↓ Kap. 4, Code]). visueller Code Code Medium/ Form sprachlicher Code Medium/ Form Medium/ Form Text im Werbebild / Werbebild mit Text Medium/ Form …. Abb. 2.5: Medium/ Form und sprachlich/ visuelle Codierung 2.2.4 Kanal Als Kanäle sind Medien wiederum materielle und infrastrukturelle Voraussetzun‐ gen für Informationsweitergabe, -speicherung, -verarbeitung bzw. Wahrnehmung. ‚Medien‘ bezeichnen auf dieser Ebene beispielsweise Satelliten, Fernsehapparate, Elektrokabel, die wiederum durch infrastrukturelle Netzwerke koordiniert werden, etwa durch Fernsehanstalten, Elektrobetriebe etc. Auch hier gilt: Medien ermöglichen, normieren und limitieren Kommunikation. Ohne Telefon und Telefongesellschaft, die die Anrufe durchstellt und koordiniert, kein Gespräch unter Abwesenden. Ebenso trifft hier zu: Medien limitieren Kommunikation. Im Telefongespräch lässt sich keine Fotografie zeigen, schon gar nicht, wenn das Telefonnetz aufgrund von Überlastung zusammenbricht. Oder man denke an die Abschottungen digitaler Netzwerke durch Passwords, Firewalls, Hardware-Hürden oder Störsender. Je nach Optionen des Kanals wird die Kommunikation also präformiert. Wichtig daran ist: Medien machen wahrnehmbar, vermitteln, speichern und/ oder verarbeiten etwas, sowohl auf Ebene des Codes als auch des Kanals. Dabei sind mediale Prozesse nicht neutral. Sie stellen das, was sie wahrnehmbar machen, vermitteln, speichern und verarbeiten, unter spezifische Bedingungen, d. h. sie haben Einfluss darauf, was wie wahrnehmbar gemacht, vermittelt, gespeichert und/ oder verarbeitet werden kann [↓ Kap. 4]. Zumindest ist das die Grundprämisse, unter der die politische Medienikonografie hier betrachtet werden soll. Diese Annahme scheint mir für mein Vorhaben sogar unumgänglich. Denn, wenn Medien nicht einen signifikanten Einfluss bzw. Unter‐ schied für das Vermittelte, Gespeicherte oder Verarbeitete und deren Wahrnehmbarkeit hätten, wäre es schlicht überflüssig in eine politische Medienikonografie einführen zu wollen. Darauf wird noch ausführlicher und konkreter zurückzukommen sein. 26 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="27"?> 27 Weigel, Grammatologie der Bilder, S.-140. 28 Vgl. dazu und zur Geschichte der Ikonografie: Sabine Poeschel, Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt 6 2014, v.a.: S.-13ff. 29 Ebd. 30 Der genaue Titel lautet: Iconologia Overo Descrittione Di Diverse Imagini cauate dall'antichità, & di propria inuentione. Vgl. dazu: Matthias Bruhn, Bildwirtschaft. Verwaltung von Sichtbarkeit, Weimar 2003, S.-166ff. Zuvor soll aber noch der dritte Begriff in der Wortzusammensetzung ‚politische Medienikonografie‘ ausführlicher bestimmt werden, nämlich Ikonografie. 2.3 Ikonografie Ikonografie Der Begriff ‚Ikonographie‘ ist eine Wortzusammensetzung aus dem griechischen eikón, was Bild bedeutet, und gráphein, also ‚schreiben‘. Der Begriff ‚Ikonografie‘ bedeutet in einem weiten Sinne erst einmal nicht viel mehr als die Praxis, Bilder zu beschreiben, zu ordnen und zu deuten. Insbesondere Motive, Allegorien, „Attribute dargestellter Figuren oder andere Bildzeichen“ 27 sind für die Beschreibungen, Ordnungen und Deutungen relevant. 28 Diese Praxis der Bildbeschreibung verdichtete sich bereits in der frühen Neuzeit zu Bildkatalogen, die Bilder und Bildelemente als Zeichen in ein „System kodifizierte[r] Bildsprache“ 29 brachten. Ein eindrückliches Bespiel dafür bietet die erstmals 1593 erschienene Iconologia, herausgegeben von Cesare Ripa. 30 Dieses Werk ist eine Bildenzyklopädie für antike Motive, Allegorien, Metaphern, samt alphabetisch kleinteilig gelistetem Index (vgl. Abb. 2.6a). Dort ist beispielsweise ein Eintrag zu „Fedelta“, also Treue (vgl. Abb. 2.6b) ausfindig zu machen. Im Eintrag selbst geht es um Bedeutung und Darstellungsformen der Treue als Allegorie, etwa als Hund, Frau mit Schüssel u. a. Solche Enzyklopädien wurden seit der frühen Neuzeit primär genutzt zur Orientierung und Ideenfindung für künstlerische Darstellungen und waren vor allem im 17.-Jahrhundert äußerst populär. 2.3 Ikonografie 27 <?page no="28"?> 31 Weigel, Grammatologie der Bilder, S.-140. Abb. 2.6a-b: Bildenzyklopädie in der frühen Neuzeit: Index und Visualisierung Hieran sind drei Dinge besonders relevant: Erstens scheint es bereits in der frühen Neuzeit - und nicht erst im digitalen Zeitalter - ein Bedürfnis danach gegeben zu haben, Orientierung für eine vermeintliche ‚Bilderflut‘ bereitzustellen. Dabei geht es darum, Bedeutungen von Motiven zu bestimmen und zu kodifizieren, Ordnung zu schaffen. Ein Lexikon für eine Bildsprache soll entworfen werden, um das Publikum zu orientieren und Praktikern Inspiration zu liefern. Zweitens werden Bildelemente so als sprachanaloge Zeichen verstanden und Bilder zu einem Sprachsystem geordnet [↓ Kap. 4, Was ist ein Bild, was nicht? ]. Drittens geht damit die Vorstellung einher, dass Bild‐ motive „eine festgelegte Bedeutung haben, auch wenn deren Schlüssel manchmal Teil eines hermetischen oder esoterischen Wissens ist.“ 31 Bilder haben - so die Annahme der klassischen Ikonografie - eine zu ergründe Bedeutung, die letztlich auf einem Code basiert [↑ Code]. Bilder bestehen also aus Zeichen, die zu decodieren sind. Hieran lässt sich noch eine zweite Bedeutung der Wendung Ikonografie ausfindig machen. Es geht nicht nur um Bilder, die von Ikonografinnen beschrieben werden, darüber hinaus um Bilder, die ‚geschrieben‘, also letztlich wie Schrift funktionieren sollen. Damit ist zumindest vom Wortstamm her eine nicht unproblematische Medienspezifik der Visualität von Bildern abgeschattet [↓ Kap. 4, Was ist ein Bild, was nicht? ]. Weiterhin impliziert dies: Es werden für viele Bildelemente und Bilder Expert: innen zur 28 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="29"?> 32 Vgl.: Uwe Flecker u.-a. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie. 2. Bd., München 2 2011. 33 Vgl. dazu knapp: W. J. T. Mitchell, Art History on the Edge. Iconology, Media, and Visual Culture, in: ders., Image Science. Iconology, Visual Culture, and Media Aesthetics, S.-4-11, v.a.: S.-7ff. 34 Vgl. dazu beispielsweise prominent die Ikonologie von Mitchell, Art History. Vgl. knapp zur Unterscheidung von Ikonologie und Ikonografie Jörg Probst, Vorwort, in: ders. (Hg.), Politische Ikonologie, S.-7-10. hier: S.-9. Entschlüsselung benötigt, eben Ikonografen, die dann etwa Enzyklopädien mit Titeln wie Iconolologia veröffentlichen oder ein - worauf im nächsten Kapitel ausführlicher eingegangen wird - Handbuch der politischen Ikonografie. 32 ‚Bilder sind entschlüsselbar! ‘ Problematisierbare Prämisse der Ikonografie Im Übrigen fällt auch ein Titel wie Politische Medienikonografie. Einführung zur Il‐ lustration darunter. Allein schon, dass Verlag und Autor glauben, es sei sinnvoll eine Einführung in die politische (Medien-)Ikonografie zu publizieren, setzt ja voraus, dass politische Bilder einer Entschlüsselung durch Expert: innen bedürfen. Damit liefert die Einführung nicht nur Handhabungen zur Entschlüsselung, sondern beansprucht, dass sie entschlüsselbar sind. Zudem werden durch die Beispielanalysen und Deutungen die Bilder in einer gewissen Weise ebenfalls (überhaupt erst) codiert. Ob Bilder indes tatsächlich analog zur Sprache entschlüsselbar sind, ist eine zurecht umstrittene These. In Kapitel 4 wird diese These anhand der Frage, was überhaupt ein Bild ist und wie Bilder rezipiert werden (können), zumindest noch einmal diskutiert und problematisiert. 2.3.1 Ikonografie als Beschreibungsmethode vs. Ikonologie als Fundierung der Ikonografie Von der Ikonografie soll hier die Ikonologie unterschieden werden. Letztere ist die Wissenschaft von den Bildern, demensprechend die wissenschaftliche, also theoreti‐ sche, systematische, begründungsorientierte Fundierung der Ikonografie. 33 Das hier dennoch nicht der Begriff ‚Ikonologie‘ im Titel steht, sondern ‚Ikonografie‘, ist kein Versehen. Denn es soll primär um Methoden für die analytische Beschreibbarkeit und Deutung politischer Bilder gehen. Das bedeutet indes nicht, dass keine theoretischen Überlegungen angestellt oder die zentralen Begriffe wie Bild nicht reflektiert werden. Es bedeutet aber durchaus, dass die Ikonologie nur insofern relevant ist, als sie zur Analysierbarkeit politischer Bilder beiträgt und/ oder zur Problematisierung ihrer Analysierbarkeit. 34 Im engeren Sinne handelt es sich bei der Ikonografie um eine Beschreibungsmethode von Bildern und Bildelementen oder genauer im Plural um Beschreibungsmethoden von Bildern, die im ersten Drittel des 20. Jahrhundert entworfen und wirkmächtig wurden. Eine über lange Zeit dominierende Methode der Ikonografie ist mit dem Na‐ men des Kunstwissenschaftlers Erwin Panofsky verbunden, der ein einflussreiches und 2.3 Ikonografie 29 <?page no="30"?> 35 Vgl. dazu und zum Folgenden: Erwin Panofsky, Ikonografie und Ikonologie [1955], in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem. Ikonographie und Ikonologie. Band 1: Theorien - Entwicklung - Probleme, Köln 1994, S.-207-225. bis dato populäres dreiteiliges Ebenenmodell zur Analyse von Werken der bildenden Kunst entwickelt hat (vgl. Abb. 2.7). 35 Dabei geht es um eine regelgeleitete Bestimmung und Deutung von Motiven und Inhalte visueller Kunstwerke im Abgleich historischer Vorläufer und Quellen. Abb. 2.7: Panofskys Dreiebenen-Modell Ikonografie und Ikonologie am Beispiel des Hope Poster Panofskys Dreierschema soll an einem der berühmtesten Poster der letzten Deka‐ den anschaulich gemacht werden. Gemeint ist das sogenannte Hope Poster, das im Zuge der Wahlkampagne für die Präsidentschaftskandidatur Barack Obamas im Jahr 2008 von dem Street Art-Künstler und Grafiker Shepard Fairy angefertigt wurde (vgl. Abb. 2.8). 30 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="31"?> Abb. 2.8: Das Hope Poster von Sheppard Fairy I. Vorikonografische Deskription Eigentlich sind das aber strikt betrachtet schon Informationen, die der Vorge‐ hensweise Panofskys widersprechen. Denn bei seinem Dreistufenmodell geht es gerade nicht vom Kontext zum Bild, sondern der Ausgangspunkt ist der möglichst vorurteilsfreie, ja unwissende oder doch Kontextwissen willentlich ausblendende Betrachtung eines Bildes. Damit soll einerseits gewährleistet sein, dass das visuelle Artefakt als eigenständiges (Kunst-)Phänomen ernst genommen und in seiner 2.3 Ikonografie 31 <?page no="32"?> 36 In meinem Studium musste ich immer wieder solche Übungen in Zweiergruppen absolvieren. Einer hat seine Beschreibungen eines Gemäldes, einer Büste oder eines Springbrunnens vorgelesen, ein andere musste aufgrund dieser Beschreibung das (zumeist) unbekannte Artefakt an die Tafel malen. Das war nicht nur häufig peinlich und stressig, sondern manchmal auch lustig, jedenfalls immer lehrreich. Vielen Dank an dieser Stelle an Prof. Felix Thürlemann für diese Übung. Machart akribisch untersucht wird. Anderseits kann solch ein Vorgehen auch praktisch als Sehschulung und Einübung von Beschreibungskompetenz verstanden werden. 36 Erst in den weiteren Stufen wird der Fokus durch Hinzunahmen von Kontextwissen sukzessive erweitert. Auf der ersten Ebene soll zunächst eine sogenannte vorikonografische Deskription stattfinden, also eine Beschreibung, die noch möglichst ohne Referenz auf andere Bilder, Motivgeschichte und künst‐ lerische Darstellungskonventionen erfolgt. Der Gegenstand dieser Ebene wird als primäres bzw. natürliches Sujet bezeichnet. Dementsprechend geht es um Thema, Motiv oder Gegenstand der Darstellung. Panofsky unterscheidet hier noch einmal zwischen einer Beschreibung, die er (A) tatsachenhaft nennt, und einer, die er als (B) ausdruckshaft bezeichnet. Zu (A): Auf der Tatsachenebene lässt sich das Hope Poster folgendermaßen beschrei‐ ben: Zu sehen ist das Dreiviertelprofil eines Mannes, wie er kühn nach oben rechts in die Ferne blickt. Der Mann hat leicht abstehende Ohren eine platte, breite Nase und schwarze kurzgeschnittene Haare. Er trägt Anzug, Hemd und Krawatte. Am Revers findet sich rechts eine Art Abzeichen oder Emblem, kreisrund. Unterhalb dieses Männer-Profils ist das Wort „HOPE“ in hellblauen Großbuchstaben deutlich auszumachen. Zu (B): Auf der ausdruckshaften Ebene situiert Panofsky etwas, was er pseudo‐ formale Analyse nennt. Was immer genau das auch noch sein mag, bedeutet es jedenfalls den Fokus nicht auf die Motive zu richten, sondern auf die Darstel‐ lungsformen, etwa auf Bildaufbau oder Farbgebung. Im Hinblick auf das Hope Poster ist dementsprechend zu formulieren: Bei dem Bild handelt es sich um eine Grafik, zusammengesetzt aus großen monochromen Farbflächen. Dadurch wirken die Züge des Profils abstrahiert. Die Farbpalette ist auf drei Farbschattierungen reduziert, nämlich auf weiß, blau und rot. Oben rechts dominieren rote Flächen; das Gesicht ist von weißen Flächen durchzogen; oben links und vor allem in der unteren Hälfte sind Blautöne vorherrschend. Durch den nach oben gewendeten Kopf im Dreiviertelprofil wird eine Diagonale ins Bild eingezogen, die die Dynamik der Kopfausrichtung nach vorne oben verstärkt. Der Blick des Mannes im Wechselspiel mit dem Wort „HOPE“ ist somit auch formal als ein visionärer markiert. Panofsky zieht bereits hier auf dieser Ebene ein sogenanntes „Korrektivprinzip“ ein. In diesem Fall soll dies die Stilgeschichte sein. Ein Korrektiv stellt die Stilgeschichte insofern dar, als der Fokus über das Bild und dessen konkreter 32 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="33"?> 37 Genau deshalb ist hier der Begriff ‚sekundär‘ gut gewählt: Von der Ebene der Realitätsreferenz treten wir über in die Welt künstlerischer Darstellungstraditionen. Beschreibung hinausführt und die Frage gestellt wird, ob es Vorläufer zu dieser Darstellungsform gibt bzw., ob die Darstellung bestimmten stilistischen Mustern folgt. Dieses Korrektivprinzip kann ein sehr weites Feld aufspannen. Da es hier nur um eine exemplarische Veranschaulichung geht, soll es genügen darauf zu verweisen, dass solche visionäre Dreiviertelprofil-Bilder, die eine dynamische Diagonale nach oben links ausbilden, insbesondere für Herrscherdarstellungen seit der Antike charakteristisch sind. Bezüglich der Farbgebung lässt sich auf die Pop-Art eines Roy Lichtenstein verweisen oder auch auf die farblich reduzierten Siebdrucke des sozialistischen Agitprops. Mit diesen Hinweisen ist man nicht nur schon tief in der Stilgeschichte, sondern auch nah herangerückt an Fragen jenseits bestimmter Formtraditionen, nämlich an Fragen nach Referenzen, Absichten, Funktionalisierungen, konkreten Bedeutungszuweisungen - und damit an der Schwelle zur zweiten Phase Panofskys. II. Ikonografische Analyse Diese zweite Phase nennt Panofsky sekundäres bzw. konventionelles Sujet. Dabei geht es um die Loslösung von konkreten Wahrnehmungen, nämlich um konventio‐ nalisierte Bedeutungszuweisungen, Motivtraditionen, strategische Anknüpfung an Bildmuster u.ä. 37 Auch auf dieser Ebene existiert ein Korrektivprinzip, nämlich die sogenannte Typengschichte. Im Gegensatz zur Stilgeschichte geht es dabei nicht um Fragen der Darstellungsformen, sondern um Darstellungsinhalte, insbesondere solche, die sich zu Mustern, Topoi oder eben Typen verfestigt haben, etwa die Darstellung religiöser Figuren mit einem Heiligenschein. JFK Wiederum anhand des Hope Poster näher veranschaulicht: Das Hope Poster ist das Ergebnis einer materiellen Umarbeitung einer konkreten Fotografie, auf der Obama 2006 abgelichtet wurde und das von der Presseagentur Associated Press (AP) vertrieben wird (vgl. Abb. 2.9). 2.3 Ikonografie 33 <?page no="34"?> 38 Fairey selbst benennt die historische Vorbildrolle dieser Darstellung in einem Kommentar zum Hope Poster explizit, vgl.: William W. Fisher III u. a., Reflections on the Hope Poster Case, in: Harvard Journal of Law & Technology, 25 (2012), S.-243-338, hier: S.-270. Abb. 2.9: Abstraktionsoperationen: vom Foto zum Poster Für die dort ausfindig zu machende Pose existiert aber auch ein klar zu identifi‐ zierendes, zeitlich noch etwas weiter zurückreichendes Vorbild. Gemeint ist eine auch heute noch bekannte Fotografie des ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy (vgl. Abb. 2.10b). 38 Im Falle des Hope Poster wird also durch Ähnlichkeit der Pose Tradition gebildet: vom ehemaligen Präsidenten JFK zum zukünftigen Präsidenten Obama. Die Verknüpfung zu Kennedy wird noch verstärkt durch den Umstand, dass ein Walkampfplakat zu Kennedy Präsidentschaftskandidatur Anfang der 1960er Jahren deutlich als Vorbild fungierte (vgl. Abb. 2.10a). Sowohl die für das Hope Poster charakteristischen Farben Blau, Rot, Weiß - die sehr deutlich die Farben der US-amerikanischen Flagge symbolisieren - sind hier bereits zu finden wie auch der Einsatz schriftlicher Slogans in Großbuchstaben. 34 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="35"?> 39 Vgl. dazu ausführlich: Fleckner u.-a. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie. t Abb. 2.10a-d: Präsidiale Form- und Motivtradition Solch eine Traditionsbildung konnotiert indes nicht nur, dass Obama ebenfalls wie Kennedy Präsident werden sollte. Darüber hinaus ist gerade die Referenz auf Kennedy als einem ganz speziellen US-amerikanischen Präsidenten bzw. Prä‐ sidentschaftskandidaten von Bedeutung: jung, frisch, liberal, demokratisch, beseelt von Visionen einer besseren Welt - wird doch mit keinem anderen US-Präsidenten so sehr die Idee eines Aufbruchs, eines Neuanfangs in wirtschaftlich, sozial wie militärisch schwierigen Zeiten verbunden. Es sei noch erwähnt, dass nach der Popularisierung des Hope Poster auch die grafische Darstellung Kennedys eine Modifikation erfuhr (Abb. 2.10d). Als T-Shirt, Anhänger oder Button wird nunmehr Kennedy mit deutlichen Anleihen an Obamas Darstellung auf dem Hope Poster visualisiert. Diese Modifikation findet sich zwar nicht mehr in der politischen Sphäre im engeren Sinne, zeigt aber doch, wie Darstellungsformen und -motive im Lauf der Zeit aufeinander rückwirken können und so dominante Muster verändert werden. Agitprop Über die konkrete Referenz auf Kennedy hinaus folgt das Hope Poster einer histo‐ risch noch weiter zurückreichenden ikonografischen Darstellungstradition. Ganz generell geht es um eine charakteristische Pose von Führungspersönlichkeiten, die sich bis in die Antike hinein verfolgen lässt. Dementsprechend folgt die Darstellung einem kulturell lang tradierten Typus. 39 Darüber hinaus lässt sich aber die Darstel‐ lung nicht einfach nur diesem Typus zuordnen, sondern hat zudem einen ähnlich konkreten historischen Bezugspunkt wie das Motiv des jungen US-amerikanischen 2.3 Ikonografie 35 <?page no="36"?> 40 Vgl. zur Identifikation dieser Traditionslinie: Fisher III. u. a., Reflections on the Hope Poster Case, S.-283; oder auch: Marita Sturken/ Lisa Cartwright, Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture, New York/ Oxford 2009, S. 228. Zur Agitprop-Bewegung ausführlicher (und für das Folgende grundlegend): Ingo Grabowsky, Agitprop in der Sowjetunion. Die Abteilung für Agitation und Propaganda 1920-1928, Bochum/ Freiburg 2004. Präsidenten Kennedy. Indes ist diese historische Vorläuferschaft geografisch weit entfernt vom Weißen Haus situiert. Die Art des Schriftzuges, die Farbgebung sowie die grafische Gestaltung des Porträts verweisen nämlich deutlich auf den visuellen Plakatstil der bolschewistischen Agitprop-Bewegung, wie sie sich im Zuge der russischen Februar- und Oktober-Revolutionen 1917 in der Sowjetunion der 1920er-Jahren etabliert hat. 40 Der Begriff ‚Agitprop‘ ist ein Neologismus, der durch das Zusammenziehen der Worte Agitation und Propaganda entstand. Ur‐ sprünglich bezeichnete Agitprop die Kurzform für die Abteilung für Agitation und Propaganda, die 1920 innerhalb der bolschewistischen Partei in Russland ins Leben gerufen wurde. Diese ‚Abteilung‘ sollte die revolutionären Ideen der Bolschewiki möglichst flächendeckend in Umlauf bringen. Entscheidend ist dabei nicht so sehr die Überzeugung durch Argumentation bzw. politischer Diskussion. Vielmehr sollten die Rezipient: innen möglichst direkt für eine politische Idee begeistert werden. Genauer: Die Agitation soll einen Affekt auslösen, um eine politische Idee so zu propagieren, möglichst einfach zu verstehen sein, möglichst unmittelbar zu einer politischen Willensbildung führen und möglichst viele ansprechen. Plakate waren in der Sowjetunion lange Zeit eines der bevorzugten Mittel zur Erreichung dieser Ziele. Das hat nicht zuletzt produktionsökonomische und -tech‐ nische Gründe, sind solche Plakate doch einigermaßen günstig herzustellen, in hoher Anzahl zu reproduzieren und können für viele sichtbar im öffentlichen Raum vergleichsweise einfach, wenngleich temporär, angebracht werden. Die Agitprop-Plakate wurden zumeist im Siebdruckverfahren hergestellt. Dement‐ sprechend sind die Vorlagen in groben abstrahierenden Zügen gehalten, damit wiederum vergleichsweise einfach zu reproduzieren. Sie beschränken sich häufig auf einige wenige Grundfarben, wobei zumeist die Farbe Rot als die symbolische Kennzeichung der sozialistisch-revolutionären Bewegung vorherrscht. Zudem sind auf diesen Plakaten so gut wie immer kurze Phrasen, Slogans oder einzelne Worte in Großbuchstaben gedruckt zu finden, die eine zentrale Idee hervorheben sollen. Häufig findet sich eine auf wenige Grundlinien reduzierte Darstellung einer Führungspersönlichkeit. Seit den Anfängen der Agitprop-Bewegung ist das in den allermeisten Fällen Lenin (vgl. Abb. 2.11a). Lenins Konterfei wurde im Zuge dessen so abstrahiert und zu einer Silhouette reduziert, dass es als Matrize verwendetet werden konnte für diverse Plakat-, Poster-, Fahnen oder Wandteppichdarstellun‐ gen (vgl. Abb. 2.11b-c). 36 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="37"?> Dass sich das Hope Poster tatsächlich in diese Traditionslinie der sowjetischen Agitprop-Bewegung einreiht, dafür gibt es einige Indizien im Bild selbst. Erstes Indiz dafür ist die Verwendung der Großbuchstaben, die im unteren Teil des Plakats horizontal platziert sind und einen Slogan bilden: „HOPE“. Genau diese Verwendung der Großbuchstaben ist ein zentrales Merkmal der Agitprop-Plakat‐ gestaltung. Als zweites Indiz lässt sich auf die reduzierte Farbgebung verweisen. Ist es im Fall der Sowjetunion meist die Farbe Rot, die vorherrscht, so sind es im Fall des Hope Poster zwar die Farben Blau, Rot und Weiß - und damit offensichtlich die Farben der US-amerikanischen Flagge. Trotz unterschiedlicher Farbgebung ist jedoch der Operationsmodus, eben die symbolische Aufladung der Farben durch Referenz auf Farben einer Nationalflagge, derselbe. Drittens wird im Falle des Hope Poster, wie auch im Falle sehr vieler Agitprop-Poster, eine ‚Führungspersönlichkeit‘ nicht nur im Dreiviertelprofil vorstellig, sondern - hier noch weit wichtiger, weil für den spezifischen Plakatstil des Agitprop charakteristisch - ikonenhaft, auf wenige Grundlinien reduziert dargestellt. Viertens Indiz: Die Gestaltung des Hope Poster entspricht einer Vorlage für den Siebdruck - und damit eben dem Druckverfahren, das in der Agitprop-Bewegung das dominante war. Abb. 2.11a-c: Lenins Kopf als Muster und Vorbild Der visuelle Stil der politischen Agitprop-Plakate wird im Fall des Hope Poster nicht einfach nur übernommen. Diese Übernahmen werden als das Aufgreifen eines historischen Vorläufers auch deutlich markiert. Das dürfte allein schon deshalb offensichtlich sein, weil für die Herstellung des Posters der Designer Fairey zwar computerbasierte Bildverarbeitungsprogramme verwendete, das Ergebnis dann aber als Vorlage für Siebdrucke diente - eine aus heutiger Sicht antiquiert anmutende Darstellungsform. Zumindest hat man sich im Falle des Hope Poster für eine Darstellungsform entschieden, die mit einem bestimmten historischen 2.3 Ikonografie 37 <?page no="38"?> 41 Diese Lesart wurde auch ausgiebig aufgegriffen auf diversen Internet-Foren und insbesondere aus rechtskonservativen bis rechtsradikalen Perspektiven kritisiert und hat zu diversen Umgestaltungen des Hope Poster geführt, häufig mit der Änderung des Hope-Slogans zu „Communist“. Vgl. dazu: Peggy Shapiro, Obama’s Posters: Message in the Image [15.04.08], in: dies., Amerikan Thinker, Online abrufbar unter: https: / / www.americanthinker.com/ blog/ 2008/ 04/ obamas_posters_message_in_the. html [21.08.21]; zur visuellen Umgestaltung vgl. bspw.: Michael Wolfe, Some Posters for the last legs of the campaign trail [01.09.08], Online zugänglich unter: http: / / americana83.com/ tag/ hope/ [03.02.21]. Index versehen ist. Noch einmal anders formuliert: Die digitale Software, mit der das Hope Poster bei der Umgestaltung von Obamas Fotografie zur Grafik Bearbeitung fand, wurde so eingesetzt, dass es wie das Plakat eines Siebdrucks des Agitprop-Bewegung aussieht. Damit wird in Form und Material mitkommuniziert, dass das Hope Poster auf diese Bewegung als seinem historischen Vorläufer referiert. Hiermit wird die Darstellung in einer bestimmten Weise semantisch aufgeladen: Mag der Darstellungsstil der Agitprop-Bewegung heute auch antiquiert wirken, so stehen Stil und Motiv zumindest für den Impetus der Revolution bzw. dem Willen zur Revolution, zur Veränderung. Oder genauer vielleicht: Dieser Darstellungsart impliziert eine inzwischen vergangene Zukunftshoffnung, die niemals eingelöst wurde, nunmehr aber, mit Obama, eingelöst werden könnte. Entscheidend ist hier: Hoffnung auf Veränderung soll im Hope Poster nicht nur durch den Slogan „HOPE“ ausgedrückt werden, nicht nur durch die Anknüpfung an die Motivtradition der Kennedy-Fotografie. Ebenso tritt sie auf Ebene der grafischen Darstellungsform in Erscheinung. Das besonders Pikante besteht vor diesem Hintergrund in Folgendem: ‚Hoffnung‘ wurde in den Agitprop-Plakaten zum Ausdruck gebracht hinsichtlich des Aufbaus einer dezidiert sozialistischen Gesellschaft, die durch die bolschewistische Partei der Sowjetunion angeleitet werden sollte. Das Hope Poster erneuert die damit verbundenen Hoffnungen nunmehr im Kontext der Präsidentschaftskandidatur Obamas in den USA. Die bolschewistische Hoffnung ist also in Form des Plakats aus dem ehemaligen Ostblock in die USA transferiert. Damit ist die bolschewistische Hoffnung in das Land getragen, das wie kein zweites während des Kalten Krieges für die Abwehr gegen die Bedrohung einer sozialistischen Weltrevolution unter Herrschaft der UdSSR stand. Geoideologisch formuliert ist der Clou des Hope Poster, dass bei der Darstellung Obamas eine System-Kreuzung stattfindet. Mit dem Ver‐ weis auf Kennedy wird deutlich eine US-amerikanische Motivtradition aufgerufen, die mit bolschewistischen Agitprop-Darstellungsformen aus der UdSSR gekreuzt wird. 41 An dieser detaillierten ikonografischen Analyse sollte deutlich werden, dass es dabei vor allem um das Ausfinden von Vorläufern aus der Motivgeschichte sowie den Aufgriff bestimmter Gestaltungsformen geht. In einem weiteren Schritt lässt 38 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="39"?> 42 Vgl. Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“ [1927], in: ders., Aufsätze zu Grund‐ fragen der Kunstwissenschaft, Berlin 2 1974, S.-99-167. sich darüber spekulieren, warum diese Formen und Motive in einer spezifischen Weise aufgegriffen und - was in einem politischen Kontext besonders relevant ist - in welcher Weise diese funktionalisiert werden, um in einer spezifischen Weise an potenzielle Rezipientinnen zu appellieren bzw. diese zu affizieren. III. Ikonologische Interpretation Auf dieser Ebene geht es nach Panofsky um Interpretation im engeren Sinne. Das bedeutet: Hier soll die ‚eigentliche‘ Bedeutung eines Bildes gefunden werden. Wenn man dem Kunsttheoretiker folgen will, dann sind Bilder symbolischer Ausdruck von Weltbildern. Die eigentliche Bedeutung von Bildern findet man also dann, wenn man sie letztlich als Symptom einer Weltanschauung bzw. kultureller Befind‐ lichkeit versteht. Um ein Bild so interpretieren zu können, benötigt es immenses Wissen jenseits der Bilder. Historische Daten, institutionelle Faktoren, politische Konstellationen, kulturelle Tendenzen, Konventionen, Praktiken, die zum einen zueinander, zum anderen zum Bild ins Verhältnis zu setzen sind. Panofsky fasst das unter dem Begriff der synthetischen Intuition. Zur übergreifenden Bezeichnung der gesamten dritten Analyse-Ebene wählt der Kunstwissenschaftler den Begriff der Ikonologie. Nach Panofsky - und hier werden die Dinge etwas kompliziert - wird erst auf dieser Ebene die Betrachtung der Bilder zur Wissenschaft, geht es hier doch nicht mehr nur um Beschreibung, sondern um Deutung. Kompliziert ist das deswegen, weil weiter oben ja bestimmt wurde, dass die Ikonologie als Wissenschaft von den Bildern, die theoretische Reflexionsarbeit über Basis‐ konzepte, Grundbegriffe und Gegenstandsbereich meint, dementsprechend über Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Erforschbarkeit von Bildern reflektiert, also als Grundlage für die Ikonografie fungiert. In Panofskys Schema jedoch ist das anders. Die Ikonologie kommt hier nämlich zum einen erst nach der Ikonografie. Zum anderen ist sie eingebunden in konkrete Deutungspraktiken und dient eben nicht zur Fundierung einer Bild(er)wissenschaft. Diese Differenz der Bestimmung von Ikonologie sollte man sich klar machen, um nicht in Verwirrung zu geraten. Um diese Verwirrungen im Folgenden zu vermeiden, werde ich immer, wenn es um die Ikonologie im Sinne Panofskys gehen wird, von der panofsky’schen Ikonolo‐ gie sprechen und die Bezeichnung Ikonologie ohne Zusatz für die theoretische Fundierung der Ikonografie reservieren. Ein eindrückliches Beispiel für die panofsky’sche Ikonologievariante findet sich bei dem Kunstwissenschaftler selbst. Er versteht die Etablierung der Zentralper‐ spektive als Symptom für ein neuzeitliches Weltbild. 42 Dieses Weltbild zeichnet sich, laut Panofsky, durch einen quantifizierenden, mathematischen Zugriff auf die Welt aus, der den Raum homogenisiert und die Betrachter als Ausgangs- und 2.3 Ikonografie 39 <?page no="40"?> 43 Fisher III. u.-a., Reflections on the Hope Poster Case, S.-284, Übersetzung von mir; SG. Zielpunkt dieser Raumkonstruktion konzipiert. Genau das unterscheidet nicht nur die maßgebliche künstlerische Darstellungsform der Neuzeit von der des Mittelalters, wo keine zentralperspektivischen Bilder zu finden sind, sondern dieser Unterschied gilt dem Kunstwissenschaftler als Symptom für differente Weltverständnisse, die Mittelalter und Neuzeit epochal von einander trennen. Die Zentralperspektive wird dabei als symbolische Form verstanden, die das Weltbild der Neuzeit verdichtet in Bildern der Renaissance zum Ausdruck bringt (vgl. zum Unterschied bildlicher Darstellung im Mittelalter und Renaissance Abb. 2.12a-b). Abb. 2.12a-b: Mittelalterliche Malerei (links) vs. Renaissance-Malerei (rechts): einmal mit, einmal ohne Zentralperspektive. Das Hope Poster könnte - wenn man es darauf anlegen wollte - für diese Per‐ spektive durchaus ein Beispiel sein. Es wäre wohl ein Leichtes in etwa folgende ikonologische Interpretation im Sinne Panofskys anhand des Posters zu entfalten: Man könnte auf die beiden angesprochenen Formtraditionen verweisen, die im Bild verbunden werden, nämlich einerseits auf die Tradition der Herrscherdar‐ stellung mit explizitem Rekurs auf Werbeplakate Kennedys für die US-amerikani‐ sche Präsidentschaft, anderseits auf die Darstellungstradition des sowjetischen Agitprop. Das Prinzip der Vermischung unterschiedlicher Formen könnte als symbolische Form einer bestimmten medienkulturellen Konstellation gelten, in der „Hip-Hop-Musikformen und eine ganze Reihe kultureller Artefakte, die andere kulturelle Formen und Referenzen aufgreifen, vermengen, parodieren und auslei‐ hen“ 43 , an der Tagesordnung sind. Genauer noch: Das Hope Poster offeriert eine symbolisch verdichtete Selbstvisualisierung einer Medienkultur durch Formver‐ mischung: Wir leben in einer durch vernetzte Digitalität bestimmten Kultur, die 40 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="41"?> 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Vgl. zu dieser Kritik genauer: Rainer Leschke, Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien, Konstanz 2010, S.-38ff. gezeichnet ist durch Mash-up, permanente Vermischung aller möglichen Formen, Motive und Materialien. Das dementsprechende Weltbild ist eines, das die Welt als Bricolage aus hochgradig heterogenem Material und Inhalt versteht und visuell zur Erscheinung bringt. In der Forschungsliteratur gelten analog das Hope Poster „und weite Teile von Faireys Arbeit“ 44 als exemplarischer, symptomatischer oder eben symbolischer Ausdruck einer bestimmten medienkulturellen Konstellation, die gern als „Remix-Kultur“ 45 tituliert wird. Zeitlich wird diese Remix-Kultur mit dem Aufkommen der computerbasierten digitalen Medien und dem Internet grob um die Jahrtausendschwelle situiert. 2.3.2 Auf dem Weg zu einer mediologischen Ikonologie Kritik der Ikonologie Das Problem solch einer Deutung ist, dass es unzählige andere, dieser Auffassung widerstrebenden Bilder gibt, nicht zuletzt und wohl vor allem im digitalen Zeitalter. Nicht jedes Bild operiert mit Formvermischungen oder stellt unterschiedliche Formen als different so deutlich aus. Nicht jedes digital erstellte Bild ist ein Remix. Zudem könnten all die oben benannten Beschreibungen auf viele Phänomene vor der Digitalisierung bezogen werden, so hat sich der Begriff der Postmoderne, der genau so ein Spiel heterogener Formen meint, in der Architektur der 1980er-Jahre etabliert, also zeitlich weit vor dem sogenannten Web 2.0. Es könnten viele weitere und historisch weiter zurückreichende Beispiele genannt werden. Zwar ließe sich vielleicht ein Weltbild ausfindig machen, das dem Hope Poster zu Grunde liegt, aber dieses als repräsentativ, symptomatisch oder symbolisch für ein ganzes Zeitalter zu setzen, ist doch kühn, sehr spekulativ und letztlich vor dem Hintergrund anders gestalteter (digitaler) Poster und Bilder unplausibel. Aber Panofskys Ikonologie zielt gerade darauf, eben Bilder als Symptome für übergreifende Weltbilder zu verstehen. Und das scheint doch bereits auf den ersten Blick unplausibel oder zumindest begründungsbedürftig. 46 Statt solch einer möglichen Begründung weiter nachzugehen, sei vor dem Hintergrund dieser meines Erachtens doch erheblichen Probleme und eingedenk dessen, dass vorliegende Publikation ohnehin das Ziel verfolgt, auch und gerade die medialen Aspekte einer Ikonografie in die Analyse zu integrieren, stattdessen an dieser Stelle der 2.3 Ikonografie 41 <?page no="42"?> Vorschlag gemacht, Bildinhalte und -formen nicht als Symptome von grassierenden Weltbildern zu verstehen. Anstelle einer klassischen ikonologische Untersuchung nach Panofsky soll eine mediologisch fundierte gesetzt und so das Schema Panofskys modifiziert werden (vgl. Abb. 2.13). Damit ist zunächst einmal nur gemeint, dass bei der Betrachtung die materiellen Produktionsprozesse als auch die Distributionwege miteinbezogen werden sollen, jenseits und vor der Frage, ob ein Bild eine symbolische Form, also symptomatisch für ein Weltbild ist. mediologische Ikonografie vorikonografische Deskription Tatsachenobjekte Ausdrucksformen ikonografische Analyse künstlerische Vorbilder, Referenzen, Aktualisierungen Darstellungstypen/ -muster mediologische Präfiguration Materialität Infrastruktur Abb. 2.13: Eine medienwissenschaftlich inspirierte Modifikation der Ikonografie-Methode nach Pa‐ nofsky Auch das soll am Beispiel des Hope Poster näher erläutert werden. In einer ausführlichen Beschreibung des Hope Poster findet sich auch eine akribische wie aufschlussreiche Darstellung seines Herstellungsprozesses. Um einen Eindruck von der Komplexität dieses Vorganges zu vermitteln, sei daraus eine längere Passage zitiert: „Die Hauptschritte [! ] in diesem Prozess waren folgende: (1) Er [Fairey] verwendete Photo‐ shop, um die Farbversion des Bildes in eine „Graustufen“-Version (d. h. eine Schwarzweiß‐ version) umzuwandeln. (2) Er hat das Bild dann zugeschnitten. Insbesondere entfernte er den Abschnitt des Fotos über der Oberkante von Obamas Kopf. (3) Mit dem sogenannten Lasso-Werkzeug von Photoshop löschte Fairey die unscharfe Darstellung einer amerikani‐ schen Flagge im Hintergrund des Fotos. (4) Fairey verwendete dann Photoshop, zur Anpassung des Bildes auf verschiedene Weisen, um die Darstellung von Obama schmeichelhafter zu machen. […] (5) Als nächstes verwendete Fairey Photoshop, um eine Reihe von Bitmaps zu erstellen, von denen jedes das Rohmaterial für eine ‚Farbschicht‘ im endgültigen Poster liefern konnte. Um diese Bitmaps zu erstellen, konvertierte Fairey einen Teil des Dichtebereichs im modifizierten Graustufenbild in reines Schwarz oder reines Weiß. Um Schichten zu erzeugen, die er für zufriedenstellend hielt, änderte Fairey wiederholt das zugrundeliegende 42 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="43"?> 47 Ebd., S.-250ff., Übersetzung von mir; S.G. Bild. […]. (6) Fairey wählte vier der sechs Bitmaps aus. Anschließend verwendete er das Adobe Illustrator-Programm, um jeder von ihnen eine bestimmte Farbe zuzuweisen und diese vier Farbebenen in eine zusammengesetzte Skizze zu integrieren. […] (7) Fairey druckte als nächstes Schwarzweiß-Papierkopien der vier Bitmaps, die er hergestellt hatte, um die Skizze anzufertigen. Diese vier Ausdrucke verwendete er dann als Leitfaden für die Schichten Rubylith-Film, die die Grundlage für das endgültige Poster bilden sollten und die er mit der Hand zuschnitt. (8) Als nächstes bat Fairey einen seiner Mitarbeiter, die vier Rubyliths für Photoshop zu scannen. Anschließend importierte Fairey diese vier digitalen Scans aus Photoshop in den Adobe Illustrator. (9) Mit dem Adobe Illustrator nahm Fairey eine Reihe von Anpassungen an den vier Ebenen vor. Er richtete die Schichten aus und passte deren Unebenheit an den Rändern an. Diesen Schichten fügte er Farben hinzu: hellblaue Streifen zur ersten Schicht, festes Hellblau zur zweiten Schicht, ein Rotton, bekannt als Red Pantone # 485, zur dritten Schicht, und dunkelblau zur vierten Schicht. Er schnitt einige der Ränder zu, die den helleren Farben entsprachen […], um sicherzustellen, dass bei einer geringfügigen Fehlausrichtung von zwei Ebenen in der endgültigen Version des Posters die untere der beiden Schichten nicht sichtbar ist. Er fügte dem Hintergrund Farben hinzu: links hellblau, rechts rot. Er veränderte den Kopfwinkel von Obama und machte ihn aufrechter. Schließlich bastelte er ‚eine ganze Weile‘ an den Details der vier Schichten. (10) Als das Bild fertig war, fügte Fairey eine Version des Obama-Kampagnenemblems (das Faireys eigenes Markenzeichen „Obey“ enthielt) zu Obamas linkem Revers und ein Logo am unteren Rand des Bildes hinzu. […] Um die Wirkung des Logos zu maximieren, passte er Buchstaben aus der Futura-Schriftart an - machte das ‚O‘ exakt rund und streckte die anderen Buchstaben so, dass sie gleich breit wie das ‚O‘ waren. Er entfernte zudem das Bild ‚Obey‘ vom Reversemblem. (11) Schließlich schickte Fairey die vier Dateien, die zusammen die endgültige Version des Plakats bilden, per E-Mail an zwei separate Produktionshäuser: Heinz Weber (für Offset-Lithografie) und Superb Graphics (für Siebdruck).“ 47 Interessant daran scheint mir nicht nur, wie komplex die Erstellung des Posters tatsächlich war, wie viele Zwischenstufen, Instrumente, Software, Handwerk damit verbunden sind, also wie lang die Operationskette ausfällt. Noch mehr frappiert in diesem Zusammenhang, dass die hochgradig computerbasierte digitale Herstellung letztlich in vergleichsweise antiquierte Produkte wie Offset-Lithografie und Siebdruck überführt wurde. Einer der Gründe könnte darin zu finden sein, dass nicht nur die Bildinhalte und -formen eine politische Botschaft vermitteln, sondern auch die Materialitäten, die dafür eingesetzt werden, sind doch die Offset-Lithografie und vor allem das Siebdruck‐ verfahren Medien der sowjetischen Agitrop-Bewegung gewesen. Im Zusammenhang mit der Farb- und Grafikdarstellung des Posters, die, wie in der ikonografischen Analyse dargelegt, ebenfalls auf dieses Vorbild zurückzuführen sind, scheint diese Wahl durchaus konsequent - und so als politische Botschaft lesbar. ‚Das Medium ist die 2.3 Ikonografie 43 <?page no="44"?> 48 Ebd., S.-283, Übersetzung von mir; S.G. Botschaft‘, eines der zentralen medientheoretischen Grundaxiome, hat man hier ganz konkret: ‚Der Siebdruck ist die politische Botschaft.‘ Einigermaßen überraschend dürfte die eigentümliche Farbgebung des Hope Poster sein. Zwar ist bereits in der Agitprop-Tradition die Farbgebung meist hochsymbolisch aufgeladen - und zwar bezüglich eines nationalen bzw. politischen Kontextes: Rot als die Farbe der sozialistischen Partei. In dieser Tradition ist ebenfalls die Farbgebung des Hope Poster zu situieren - auf den ersten Blick zumindest. Die dominierenden Farben sind in diesem Falle die Farben der US-Flagge. Doch bei genauerer Betrachtung - eben gerade auf Ebene des Produktionsprozesses - lässt sich zeigen, dass das Poster ganz spezifische Farbtöne hat (etwa ‚Red Pantene #485‘), und das nicht ohne Grund: „Fairey hat diese Farbpalette zu einer Signatur seines Stils gemacht.“ 48 Das bedeutet: Nicht nur die Nationalfarben sollen also solche erkannt werden, sondern auch die (werkübergreifende) Farbsignatur des Künstlers. Die Bezugnahme auf die symbolische Farbgestaltung im Agitprop erhält so eine spezifische Wendung hin zur individuellen Signatur des Künstlers. Dazu passt, dass Fairley für die grafische Darstellung des O in HOPE die Schriftart Futura font nicht nur wählt, um das O ‚perfekt rund‘ zu machen, dann die anderen Buchstaben streckt, um sie passend zu diesem ‚perfekt runden‘ O zu gruppieren, sondern er hat diese ‚neue‘ Schriftart auch patentieren lassen. ‚Das Medium ist die Botschaft‘ hat man hier noch einmal konkret: Farbgebung und Schriftart sind die künstlerische Botschaft. Wie weiter vorne bereits festgehalten, war das Ziel der Produktion, Poster im Siebdruck- und Offset-Lithografieverfahren herzustellen, deren Druck zudem hoch‐ gradig limitiert war. Indes dürften die gedruckten Exemplare des Plakats selbst nur die wenigsten gesehen haben. Bekannt wurde das Hope Poster vielmehr in Form aller möglichen anderer medialer Träger, vor allem als digitale Reproduktion im World Wide Web. Man findet es auf Buttons, Aufklebern, T-Shirts, Kaffeebechern, auf Faireys Homepage, auf Facebook, in etlichen Blogs usw. Noch sehr viel höher als die Zahl der diversen Reproduktionen des Hope Poster ist die seiner Imitationen, Variationen und Parodien im Internet. Das Hope Poster zirkulierte und zirkuliert immer noch ‚memefiziert‘ durch das Netz (vgl. für einige Beispiele Abb. 2.14a-d; zur Bestimmung von Memes [↓ Kap. 4, Meme]). 44 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="45"?> 49 Damit soll ausdrücklich nicht behauptet werden, dass symptomatologische Lesarten prinzipiell abzulehnen sind. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass die allermeisten kultur- und medienwissenschaftlichen Analysen letztlich symptomatologisch ausgerichtet sind, auch Untersu‐ Abb. 2.14a-d: Die Memezifierung des Hope Poster Es geht darum, dass diese Art der Rezeption nicht nur mit dem Inhalt des Posters zu tun hat, sondern seine Ermöglichung in einer bestimmten Infrastruktur findet, eben in der digitalen Vernetzung und den Zirkulationsoptionen von Bildmaterial, die schnelle Reproduktion und Variation, Imitation und Satire ermöglichen und eine spezifische, kollektive Bildproduktion, -rezeption und -weitergabe nahelegen. ‚Das Medium ist die Botschaft‘ hat man hier erneut ganz konkret, diesmal auf Ebene der Infrastruktur. Denn diese macht überhaupt erst eine weite Verbreitung und vergleichsweise einfache Verarbeitung möglich, wodurch das Hope Poster so populär wurde, dass es zu einer Medienikone avancieren konnte [↓ Kap. 3, Medienikonen]. Diese Umbesetzung der ikonologischen Interpretation zur mediologischen Grund‐ lage der Bildgestaltung ist für die Untersuchung politischer Medienikonografie inso‐ fern relevant, als es somit nicht nur mehr darum geht, was auf den Darstellungen zu sehen ist, ob sie als symptomatische Weltbilder zu lesen sind oder nicht, 49 sondern 2.3 Ikonografie 45 <?page no="46"?> chungen, die sich auf Materialität und/ oder Infrastrukturen der Medien konzentrieren. Das Problem an Panofskys Ansatz ist nicht die symptomatologische Ausrichtung, vielmehr deren Skalierung. Denn es geht dem Kunstwissenschaftler immer um übergreifende Weltbilder, die zu bestimmten Zeiten vorherrschen sollen und ganze Epochen bestimmen. Bescheidenere Symptomlektüren schei‐ nen mir sehr viel angemessener. Vgl. bspw. zu einer symptomatologische Lesart von Memes für die Funktionslogik digitaler Plattformen [↓ Kap. 4, Memes]. eben um die Infrastrukturen sowie die Materialitäten, durch die die Bilder überhaupt erst in Erscheinung treten können. Dementsprechend präfigurieren Infrastruktur und Materialität die Botschaftsoptionen der Bilder und können unter anderem auch genutzt werden, um politische Botschaft zu kommunizieren. Darauf wird in Kapitel 4 ausführlicher zurückzukommen sein. Rückblick In diesem Kapitel wurden die für die politische Medienikonografie zentralen Be‐ griffe, nämlich ‚Politik‘, ‚Medien‘ und ‚Ikonografie‘, bestimmt. Diesen wurde nicht in alle möglichen semantischen und historischen Verstrebungen nachgegangen, sondern so, dass auf sie möglichst zielführend bei den folgenden Bestimmungen dessen, was die politische Medienikonografie sein soll, zurückzukommen ist. Im Zuge dessen wurde ein erster Vorschlag unterbreitet, wie die Ikonologie des Kunst‐ wissenschaftlers Panofsky zu einer mediologischen Ikonologie modifiziert werden könnte, um von dort ausgehend einen Weg zur politischen Medienikonografie, die im übernächsten Kapitel näher entfaltet wird, zu ebenen. Weiterführende Forschungsliteratur Ulrich Bröckling/ Robert Feustel (Hg.): Das Politische denken (Bielefeld 3 2012) In dieser Publikation werden zentrale Positionen der politischen Gegenwartsphilosophie vorgestellt (bspw. Rancière, Laclau/ Mouffe, Derrida). Grundlegend ist dabei die Unterschei‐ dung zwischen dem Politischen und der Politik. Letztere referiert, so die Herausgeber, limitierend auf institutionelle Ordnungen und die staatliche Verwaltung des Gemeinwesens. Das Politische dagegen wird sehr viel weiter und anders gefasst. Hier geht es um alle möglichen Aspekte des Dissens, Widerstreits und der Unterbrechung von gesellschaftlichen Ordnungen und Institutionen, um Ereignisse also, die die gesellschaftliche Sphäre erschüttern und/ oder radikal umwandeln. Die im Band vorgestellten Positionen konzentrieren sie vor allem auf dieses Politische. Das macht den Band einerseits interessant, werden doch so Aspekte und Phänomene als politisch verhandelt, die durch die Verengung auf staatliche und institutionelle Politik nicht in den Blick kommen können und die ontologische wie disruptive Dimension des Poltischen diskutiert. Anderseits ist eine m.-E. problematische Differenz 46 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="47"?> 50 Ein Versuch, die Differenz zwischen dem Politischen und der Politik fruchtbar für Bildanalysen zu machen, findet sich hingegen in: Melanie M. Dietz/ Nicole Kreckel, Politische Bilder lesen. Ein Dialog der Herausgeberinnen, in: dies. (Hg.), Politische Bilder lesen. Ein Werkzeugkasten zur Bildanalyse, Bielefeld 2022, S.-7-21, hier: 9ff. zwischen Politik und dem Politischen eingezogen, 50 macht es diese Differenz doch schwer, das Feld politischer Phänomene deutlich zu konturieren (und gegen andere abzugrenzen). Zudem ist die klare Differenz problematisch. Sinnvoller oder zumindest für konkrete Analysen produktiver erscheint mir Politik als eine Unterkategorie des Politischen zu verstehen [↑ Politik]. Nichtsdestotrotz erhalten die Leser: innen in diesem Sammelband einen facettenrei‐ chen Überblick über mögliche philosophisch grundierte Fragestellung hinsichtlich politischer Phänomene, die in vorliegender Einführung, wenn überhaupt, nur am Rande vorkommen. Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft (Stuttgart/ Weimar 2014) In diesem Handbuch wird aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive die Vielfältigkeit des Medienbegriffs anschaulich. Nach der Lektüre des Handbuchs wird man sicherlich zum Schluss kommen, dass in der Medienwissenschaft kein konsistenter Medienbegriff existiert, stattdessen sehr viele konkurrierende und mitunter widerstreitende Vorschläge dort zu finden sind. Nach der Lektüre wird hoffentlich aber auch deutlich geworden sein, dass diese Vielfältigkeit nicht ein Problem sein muss, sondern eher ein Vorteil für ein dynamisches und kreatives Forschungsfeld. Die in vorliegendem Text vorgeschlagene Medienbestimmung erscheint vor der Vielfältigkeit der Medienbestimmungen des Handbuchs arg limitiert. Die Leser und Leserinnen seien ausdrücklich dazu ermuntert, aufgrund der Vorschläge des Handbuchs den Medienbegriff der politischen Medienikonografie anders, womöglich zielführender zu perspektivieren. Erwin Panofsky: Ikonografie und Ikonologie [1955], in: Ekkehard Kaemmerling (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. Ikonographie und Ikonologie. Band-1: Theorien - Ent‐ wicklung - Probleme, S.-207-225 (Köln 1994) Diesem Text liegt ein öffentlicher Vortrag von Panofsky zugrunde. Dementsprechend an‐ schaulich ist der Text zu lesen und bietet damit einen guten Einstieg, wie der Kunstwissen‐ schaftler mit seinem Dreierschema, das von der vorikonografischen über die ikonografische zur ikonologischen Ebene übergeht, Bilder untersuchen will. Elke Grittmann: Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikations‐ forschung. Ein Überblick, in: Katharina Lobinger (Hg.): Handbuch Visuelle Kommunika‐ tionsforschung, S.-528-546 (Wiesbaden 2019) Dieser Handbuch-Artikel führt unter anderem knapp, aber informiert in die ikonografische Methode Panofskys ein. Besonders geeignet ist dieser Text, wenn man sich für aktuelle, zum größten Teil kommunikationswissenschaftlich orientierte Weiterführungen der ikono‐ grafischen Methode interessiert. In diesem Zusammenhang wird die Ikonografie auch mit einer semiotischen Perspektive verknüpft [↓ Kap. 4, Code] und gezeigt, wie diese beiden Zugriffe verschränkt fruchtbar gemacht werden können, insbesondere für die Analyse populärkultureller Phänomene oder auch politischer Bilder. Aspekte medialer Infrastruktur kommen indes nur peripher und wenig konkret vor. Weiterführende Forschungsliteratur 47 <?page no="48"?> W. J. T. Mitchell: Art History on the Edge. Iconology, Media, and Visual Culture, in: ders., Image Science. Iconology, Visual Culture, and Media Aesthetics, S. 4-11 (London 2015) Mitchell ist eine der zentralen Figuren in der gegenwärtigen Bildwissenschaft. Er selbst nennt seinen Ansatz Ikonologie. In diesem kurzen biografisch grundierten Essay stellt der Kunsttheoretiker die drei im Untertitel genannten Begriffe knapp vor. Besonders relevant ist dabei Mitchells Verständnis von Ikonologie. Diese Wissenschaft der Bilder wird ausgehend von der Antike über Panofskys Verständnis der Ikonologie bis zu Mitchells eigener Version dieser Wissenschaft von den Bildern umrissen. Dabei erfährt der Bereich der Ikonologie gegenüber der hier vorgestellten Version eine deutliche Ausweitung. Bei Mitchell fallen darunter auch literarische Metaphern, Imagination, also Vorstellungsbilder, Metabilder, damit Bilder über Bilder, die Frage danach, welchen ontologischen Status Bilder eigentlich haben, bis hin zu geklonten Körpern. Mitchell argumentiert zudem, dass Bilder nicht nur etwas bedeuten oder funktionalisiert werden können, sondern geht in seiner Ikonologie der Frage nach, was Bilder wollen. Mitchell entfaltet seinen Gegenstand dabei mit philosophischer Umsicht und zeigt viele kontra-intuitive und nicht zuletzt deshalb inspirierende Zugriffsmöglichkeiten auf Bilder. Diese Reflexionen gehen weit über die hier vorgestellten ikonografischen Zugriffe wie auch über die politische Medienikonografie hinaus und spielen dementsprechend hier -mit einer Ausnahme [↓ Kap. 4, Was Bilder wollen] - keine Rolle. 48 2 Politik, Medien, Ikonografie <?page no="49"?> 51 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher: Bruhn, Bildwirtschaft, S.-148ff. 3 Politische Ikonografie Überblick In diesem Kapitel werden Zugriffe der politischen Ikonografie identifiziert und anhand vieler Bildbeispiele illustriert. Neben einer kurzen historischen Situierung der Forschung zur politischen Ikonografie, der Ausdifferenzierung möglicher Verhältnisse von Bild und Politik sowie der Unterscheidung diverser Formen historischer Bildreferenzen werden sechs Zugriffe der politischen Ikonografie vorgestellt und hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für konkrete Analysen diskutiert. Im Einzelnen handelt es sich dabei um (1) Pathosformeln, (2) Schlagbilder, (3) Bildfahrzeuge, (4) Medienikonen, (5) das Konzept des fruchtbaren Augenblicks sowie (6) das der Interikonizität. 3.1 Drei ‚Herrschaftsbilder‘ zum Auftakt Obamas Hope Poster, das im vorhergehenden Kapitel näher untersucht wurde, lässt sich problemlos als ein Gegenstand politischer Ikonografie identifizieren, ist dort doch nicht nur ein Politikerporträt abgebildet, das bestimmten traditionellen Darstellungsformen und -motiven politischer Akteure folgt. Zudem handelt es sich um ein Bild, das zum Zwecke politischer Entscheidungsfindung bei der Präsidentschaftswahl 2008 zum Einsatz kam [↑ Kap. 2, Ikonografie und Ikonologie]. Die Darstellung politischer Akteure und der politische Einsatz solcher Bilder existie‐ ren freilich schon sehr viel früher in der abendländischen Bildergeschichte und lassen sich von der Antike bis in die Gegenwart finden. Hierfür soll als Beispiel ein besonders eindrückliches Herrschaftsbildnis aus der frühen Neuzeit angeführt werden. Es handelt sich um ein Gemälde von Willem van Honthorst, das Ende des 17. Jahrhunderts entstanden ist und den Titel Allegorie auf die Gründung Oranienburgs trägt (vgl. Abb. 3.1). 51 <?page no="50"?> Abb. 3.1: Die Gründung Oranienburgs als Bildakt Im Zentrum des Gemäldes stehen der Kurfürst Friedrich Willhelm und seine Gattin Luise Henriette, die das Bild auch in Auftrag gegeben hatten. Für die Deutung des Bildes ist die Kenntnis des historischen Hintergrunds durchaus von Vorteil: Nach der Heirat wählte die Fürstengattin für ihren Hauptwohnsitz das im Norden der Residenzstadt Berlin gelegene Bötzow, wo sie den Bau eines Schlosses finanzierte, das ihr Gatte Oranienburg taufte. Noch bevor das Schloss fertiggestellt war, wurde das Gemälde Allegorie auf die Gründung Oranienburgs angefertigt. Zu sehen ist im Hintergrund das (damals noch fiktive bzw. noch im Bau befindliche) Schloss. Die Szenerie mit dem Ehepaar im Vordergrund wird ins Mythologische verlagert, sind doch dort Bildelemente aus dem Mythos zu finden, der um die List der Königin Dido kreist. Als diese nach Afrika kam, so überliefert der Mythos, bot ihr ein ortsansässiger König so viel Land zum Verkauf an, wie auf eine Stierhaut bzw. Stierfell geht. Die Königin ließ daraufhin das Stierfell so zerschneiden, dass endlos lange Schnüre daraus angefertigt werden konnten. Mit dieser List setzte die Königin ihren Anspruch durch, ein neues Reich in Afrika zu gründen. Das Stierfell ist auf dem Bild rechts neben den Eheleuten, die beide mit ihren Szepter darauf verweisen, abgebildet. Auf dem Fell 50 3 Politische Ikonografie <?page no="51"?> 52 Das entspricht der zweiten Ebene des Analyserasters nach Panofsky, nämlich der ikonografischen Analysen [↑ Kap. 2]. 53 Zur Postkarte als Medium vgl. ausführlich: Anett Holzeid, Das Medium Postkarte. Eine sprachwis‐ senschaftliche und mediengeschichtliche Studie, Berlin 2011. ist die französische Devise Brandenburgs „plus outre“ (dt: „immer mehr“) zu lesen. Durch die allegorische Verknüpfung mit dem mythologischen Geschehen wird der Anspruch auf die Gründung, wenn schon nicht eines neuen Reiches, so doch einer neuen kurfürstlichen Residenz in Szene gesetzt, die auf Expansion angelegt ist. Damit ist dieses Bild erstens ein gutes Beispiel für Bedeutungsaufladung wie -absicherung mittels allegorischer Referenz auf antike Motive. Zweitens ist die gerade vorgestellte Beschreibung des Bildes ein Beispiel für die ikonografische Analyse im Sinne Panofskys, bei der die motivische Tradition ausfindig gemacht und dementspre‐ chend gedeutet wird. 52 Drittens wird mit dem Bild ein politischer Herrschaftsanspruch der beiden Hauptakteure in Szene gesetzt und verankert. Die Abgebildeten sind zudem die Auftraggeber: innen des Bildes, das ihren Machtanspruch nicht nur repräsentiert, nicht nur in einem mythologischen Vorbild verankert. Ihr Machtanspruch ist in besonderer Weise in die Zukunft gewendet, wird doch durch die dem Bild beigefügte Devise sowie vor allem durch das bereits fertiggestellte Schloss im Bildhintergrund, das sich im Moment der Fertigstellung des Gemäldes noch im Bau befand, die (nahe) Zukunft als bereits geschehen in Szene gesetzt. Das Bild wird somit zur performativen Äußerung mit politischem Appell: ‚Wir, Kurfürst und Gattin, versprechen, versichern bzw. beanspruchen einen auf Expansion angelegten politischen Gestaltungswillen.‘ Ein drittes Beispiel ist eine Postkarte, auf der Adolf Hitler hoch zu Ross in einer weißen Ritterrüstung abgebildet ist (vgl. Abb. 3.2b). Das Motiv des weißen Ritters lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen und findet sich prominent etwa auf einem Kupferstich von Albrecht Dürer (vgl. Abb. 3.2a). Der weiße Ritter ist ein Kriegsheld, der sich für das Gute einsetzt und gegen das Böse mit einer Lanze bzw. einer Fahne, die sowohl seine Mission als auch seinen Herrschaftsanspruch ausdrückt, kämpft. Auch hier wurde, wie bei dem Bild des Kürfürsten und seiner Gattin, auf ein mythologisches Motiv zurückgegriffen, in diesem Fall, um den Machtanspruch Hitlers zu bestärken, sei er doch, so die Suggestion, die Wiederkunft des weißen Ritters. Interessanter als diese vergleichsweise offensichtliche Motivreferenz ist hier indes der mediale Träger. Im Gegensatz zum oben benannten Gemälde, das selbst im Schloss Oranienburg repräsentativ ausgestellt wurde (und noch ist), geht es im Fall der Hitler-Darstellung um eine Postkarte (vgl. Abb. 3.2c). Zwar liegt dem Motiv ebenfalls ein Gemälde als Vorlage zu Grunde, bekannt und verbreitet wurde das Motiv aber vor allem durch die Postkarte. 53 Eine solche gibt als medialer Träger und als Element einer postalischen Infrastruktur die Möglichkeit, nicht nur einen Herrscher und eine Herrscherin zu porträtieren, lässt nicht nur bildintern einen Herrschaftsanspruch formulieren, sondern solch ein Anspruch kann nunmehr weiträumig im Deutschen Reich zirkulieren und bis in die private Sphäre der Menschen vordringen. Ermöglicht wird dies durch technische Reproduktionsmittel, ein leicht zu mobilisierendes und 3.1 Drei ‚Herrschaftsbilder‘ zum Auftakt 51 <?page no="52"?> billiges Material, Pappe, ein institutionalisiertes Postwesen und die Konvention von Postkartengrüßen sowie der Bereitstellung von vorgefertigten Ansichtskarten. Hier wird besonders offensichtlich, dass zur Analyse dieses Herrschaftsbildes neben und jenseits der Deutung der Motivtradition des Bildinhaltes die mediale Seite, Materialität und Infrastruktur, relevant zum Verständnis der politischen Bilderstrategie ist - und dementsprechend die politische Ikonografie zu einer politischen Medienikonografie erweitert werden muss [↓ Kap. 4]. Abb. 3.2a-c: Das Motiv des weißen Ritters als Kupferstich und Postkarte Die genannten Beispiele sollten mindestens drei Aspekte verdeutlichen, die für die politische Ikonografie relevant sind. Erstens greifen seit Jahrhunderten häufig der politische Darstellungsinhalt und der strategisch-politische Einsatz solcher Bilder ineinander. Zweitens ist auf diesen Darstellungen sehr häufig eine Motivtradition aufgegriffen - und zwar so, dass Analogieschlüsse nahegelegt werden: Obama ist (wie) Kennedy, die Kurfürstgattin (wie) die mythologische Königin Dido, Hitler (wie) der weiße Ritter. Drittens spielt in allen drei Fällen die Medialität der Darstellungen eine wichtige Rolle: sei es, dass das Hope Poster als Siebdruck-Reproduktion oder Meme zirkuliert, sei es, dass die Allegorie auf die Gründung Oranienburgs repräsentativ als großformatiges Herrschaftsgemälde (bis heute) im Fest- und Speisesaal des Schlosses Oranienburg ausgestellt ist, sei es, dass der Fahnenträger Hitler sich als weißer Ritter auf Postkarten durch das damalige Deutsche Reich bewegte. Die drei genannten Aspekte werden im Folgenden immer wieder aufgegriffen und differenziert. Zunächst sei aber ein kurzer Abriss über die wissenschaftliche und publizistische Institutionalisierung der Forschungsrichtung skizziert, die im deutschen Sprachraum seit den 1990er-Jahren die Bezeichnung ‚politische Ikonografie‘ trägt. 52 3 Politische Ikonografie <?page no="53"?> 54 Genau genommen wurde davor im Kontext der traditionellen Ikonografie eigentlich immer schon politische Ikonografie betrieben - und zwar schlicht deshalb, weil es bei vielen künstlerischen Darstellungen um politische Inhalte und/ oder den Einsatz von Bildern für politische Zwecke geht, beides kommt etwa bei Herrscherbildnissen zusammen (vgl. noch einmal den Auftakt vorliegenden Kapitels). 55 Zur komplexen Geschichte der politischen Ikonografie im deutschsprachigen Bereich seit den 1970er-Jahren vgl. Horst Bredekamp, Politische Ikonologie, in: Probst (Hg.), Politische Ikonologie, S.-25-49 56 Uwe Flecker u. a. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie. Vgl. auch jüngst: Probst (Hg.), Politische Ikonologie. 57 Vgl. dazu und zum Folgenden: Bredekamp, Politische Ikonologie. 3.2 Eine ganz kurze Institutionalisierungsgeschichte der politischen Ikonografie Die genuin kunstwissenschaftliche Zugriffsweise der traditionellen Ikonografie wurde im Laufe der Zeit über die Betrachtung von Kunstwerken im engeren Sinn hinaus auf Fragen politischer Darstellungsformen ausgeweitet, auch und gerade im Kontext von Propaganda sowie Populärkultur. 54 Zurückgegriffen wird dabei meist sowohl auf Panofskys Ideen zur Ikonografie [↑ Kapitel 2, Ikonografie] als auch auf Konzepte des Kunstwissenschaftlers Aby Warburg. Unter der Leitung von Martin Warnke institu‐ tionalisierte sich in den 1990er-Jahren die politische Ikonografie im deutschsprachigen akademischen Bereich, zunächst durch ein Graduiertenkolleg, das unter dem Titel Politische Ikonographie knapp eine Dekade am Kunstwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg angesiedelt war. 55 Parallel dazu wurde die Arbeitsstelle Politische Ikonographie im Hamburger Warburg-Haus in Kooperation mit der Aby-Warburg-Stif‐ tung eingerichtet. In diesem Kontext und von dort ausgehend entstanden und entstehen zahlreiche Publikationen zur politischen Ikonografie. Einen eindrücklichen Überblick über die Facetten dieses Forschungszweiges findet sich im voluminösen zweibändigen Handbuch der politischen Ikonografie. 56 Auf über tausend Seiten sind dort Motive, wie es in den Untertiteln heißt, von Abdankung bis Huldigung (Bd. 1) und Akteur: innen von Imperator bis Zwerg (Bd.-2) zu finden. Politische Ikonografie (nach Martin Warnke) Um zumindest die Programmatik der politischen Ikonografie etwas näher zu cha‐ rakterisieren, die Martin Warnkes Zugriff auszeichnet, seien hier kurz drei zentrale Thesen des Kunstwissenschaftlers vorgestellt. 57 Warnke beschäftigte sich seit den 1970er-Jahren mit dem Politischen in Kunstwerken. In kurzen Vorworten und knappen verstreuten Texten formulierte er dort Programmatisches zur politischen Ikonografie. Dabei werden die Konturen der politischen Ikonografie vor allem durch folgende Eckpunkte bestimmt: 3.2 Eine ganz kurze Institutionalisierungsgeschichte der politischen Ikonografie 53 <?page no="54"?> 58 Martin Warnke, Politische Ikonographie, in: Andreas Beyer (Hg.), Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin 1992, S.-23-28, hier: S.-24. 59 Martin Warnke, Wie die Obrigkeit mit Bildern Politik machte, in: uni hh. Froschung. XXVII, 1992, S.-48-51, hier: S.-50. 60 Warnke, Politische Ikonographie, S.-28. 61 Bredekamp, Politische Ikonologie, S.-37. 1. Bilder sind Medien, die politische Macht und Herrschaft legitimieren bzw. diese absichern sollen. Bilder werden so hinsichtlich ihrer herrschaftsstabilisierenden Funktion verstan‐ den. Diese Funktion wird Warnke zufolge weniger durch sprachlich-schriftliche Medien, etwa Pamphlete, Zeitungstexte oder Reden realisiert, sondern sehr viel eher „in Zeremonien, in Schaustellungen, Schaumünzen, Festivitäten, Theatern, Aufzügen, Paraden, Gebäuden, Gärten, Bildern, Denkmälern, Medaillen, Transpa‐ rente, Balletten, Wasserspielen, Feuerwerken.“ 58 2. Bilder sind Medien des Ausgleichs zwischen Herrschenden und Beherrschten. Nach Warnke haben Bilder nicht nur die Funktion, politische Herrschaft und Macht zu legitimieren und abzusichern. Diese Funktion können Bilder nur genau dann erfüllen, wenn sie auf Interesse und Bedürfnisse der Rezipienten ausgerichtet sind. Politische Ikonografie erstellt dementsprechend nicht einfach einen „Katalog bloßer herrscherlicher Selbstinszenierungen und Machtfantasien“ 59 , sondern Bilder müssen als „Ausgleicherzeugnisse zwischen den Wirkungs- und Lebensinteressen von Auftraggebern und Adressaten“ 60 verstanden werden. Das bedeutet, dass auch die politischen Autoritäten und politisch Herrschenden, wie der Kunstwis‐ senschaftlicher Horst Bredekamp schreibt, „ihrerseits zu Untergebenen von An‐ sprüchen werden […], die über ihnen stehen.“ 61 Bilder haben demensprechend auch Macht über diejenigen, die die Bilder zur Legitimation und Stabilisierung ihrer Macht einsetzen wollen [↓ Kap. 4, XIV]. 3. Bilder sind Medien, die politische Macht und Herrschaft legitimieren bzw. absichern sollen - und zugleich diese (potenziell) subversiv unterwandern. Politische Ikonografie interessiert sich dementsprechend immer auch für die Spannung zwischen politischen Zielen, die mit den Bildern verbunden sind, und der Widerständigkeit der Bilder gegen diese Ansprüche [↓ Kap. 4, XIV]. 3.3 Gegenstand und Zugriff - erste Annäherung Wie die Herausgeber des Handbuchs der politischen Ikonographie im Vorwort schreiben, sei „ein Handbuch […] entstanden, […] das dem Leser und Betrachter vor Augen 54 3 Politische Ikonografie <?page no="55"?> 62 Uwe Flecker u. a., Vorwort, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie, S. 7-13, hier: S.-7. 63 Ebd. 64 Ebd., S.-8. 65 Ebd. 66 Vgl. zu Gegenstandsbestimmung und Zugriff der politischen Ikonografie ebenfalls: Pablo Schneider, Politische Ikonografie, in: Netzwerk Bildphilosophie (Hg.), Bild und Methode. Theoretische Hinter‐ gründe und methodische Verfahren der Bildwissenschaft, Köln 2014, S.-331-338. führt, welche historischen Kontinuitäten und Brüche die Begriffe, Themen und Motive politischer Visualität über die Jahrhunderte hinweg prägen.“ 62 Wichtig an dieser Charakterisierung sind zwei Dinge: Erstens geht es um eine historische Dimension, die bei der Analyse der politischen Ikonografie relevant wird, also um Traditionen, Vorläufer, Traditionsbrüche, allgemeiner formuliert: um einen diachronen Abgleich von Bildern und Bildprozessen. Zweitens ist der primäre Gegenstandsbereich das Motiv, das im Lauf der Zeit wiederkehrt oder abgewandelt wird. Poltische Ikonografie ist damit zuvorderst bestimmt als eine Forschungsrichtung, die sich mit Motivgeschichte auseinandersetzt. Zwar bewegt sich die politische Ikonografie dabei in einem weiten Feld so unterschiedlicher Kontexte und Medien wie Feste, Rituale, Teppiche, Medaillen, Plakate, Karikaturen, Flugblätter, Fotografien bis hin zu Gifs oder Memes. Zentral sind aber nicht die jeweiligen spezifischen medialen Formen, Wahrnehmungsanordnungen oder Materialitäten, sondern die transmedialen und historischen Wanderungen von Bildmotiven. Der Gegenstandsbereich der politischen Ikonografie besteht, so ist weiterhin in der Einleitung des angeführten Handbuchs zu lesen, vornehmlich in der „visuelle[n] In‐ szenierung politischer Ereignisse und ihrer Protagonisten“. 63 Die politischen Ereignisse und ihre Protagonist: innen müssen aber keinesfalls visuelle Dokumentationen histo‐ rischer Ereignisse wie der Reformation und Martin Luther oder die wahrheitsgetreue Darstellung der Anschläge auf das World Trade Center sein, sondern umfassen auch - und wohl vor allem - so unterschiedliche Bereiche wie „Mythen [...], Personifikationen und Allegorien.“ 64 Festzuhalten daran ist als drittes Merkmal der politische Ikonografie: Untersucht werden primär Bilder, die politische oder zumindest politisch als relevant eingeschätzte Ereignisse oder Akteur: innen zeigen. Ein viertes Merkmal der politischen Ikonografie wird im Vorwort nur en passant erwähnt, nämlich, dass es unter anderem auch um die „Einsatzmöglichkeiten“ 65 politischer Bilder geht (vgl. zusammenfassend Abb. 3.3). 66 3.3 Gegenstand und Zugriff - erste Annäherung 55 <?page no="56"?> 67 Urte Krass, Politische Ikonographie, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Stuttgart 2 2011, S.-345-347, hier: S.-345. 68 Die Ebene der polity, also die der politischen Institutionen, kann freilich auf beiden Ebenen eine Rolle spielen, ist hier aber im Fließtext nicht eigens angeführt, weil auch nicht-institutionelle Akutere und Akteurinnen oder Gruppen politische Inhalte verwenden und politisch einsetzen können. Nichtsdestotrotz lässt sich wohl davon ausgehen, dass stark institutionalisierte Akteure, Parteien, Regierungen, Zeitungen, öffentlich-rechtliche Sender zentrale Agenten politischer Inhalte mit dementsprechendem politischen Einsatz von Bildern sein dürften. Vor dem Hintergrund der Entwicklung sogenannter sozialen Medien wird indes die Dominanz dieser institutionalisierten Akteure aufgeweicht und verkompliziert [↓ Kap. 4, Infrastruktur]. politische Ikonografie Deutungsperspektive: diachroner Abgleich von Motiven, Bildern und Bildverhältnissen Bildaspekte: Inhalte und Motive von Bildern Gegenstand: Bilder von politischen Akteur: innen, Ereignissen, Phänomenen Funktion: Bilder, die politisch Machtansprüche vermitteln und/ oder zu solchen eingesetzt werden Abb. 3.3: Zentrale Merkmale der politischen Ikonografie Somit erhält die politische Ikonografie eine doppelte Ausrichtung, beschäftigt sie sich doch, wie es in einem einschlägigen Lexikoneintrag zu diesem Begriff nachzulesen ist, einerseits „mit den sichtbaren Ausformungen politischer Ideen und Inhalte in den Bildkünsten“, anderseits aber auch „mit der Funktion von Bildern in politischen Zusammenhängen.“ 67 Sowohl politische Inhalte in Bildern sind also Forschungsgegen‐ stand der politischen Ikonografie als auch der strategische Einsatz von Bildern für politische Zwecke. Beide Aspekte kommen häufig in den Bildern, die aus Perspektive der politischen Ikonografie untersucht werden, zusammen, müssen es aber nicht. Damit lassen sich idealtypisch drei Varianten des Verhältnisses von Bild und Politik unterscheiden, deren Grenzen durchaus, wie zu zeigen sein wird, fließend, aber zumindest in ihren prinzipiellen Tendenzen zu unterscheiden sind. Im Hinblick auf die in Kapitel 2 beschriebenen drei Facetten des Politischen wäre die erste Ausrichtung der policy, also der normativ-inhaltlichen Ebene zuzuordnen, die zweite Ausrichtung der Ebene der politics, also der Praktiken politischer Steuerung (vgl. Abb. 3.4). 68 56 3 Politische Ikonografie <?page no="57"?> politische Ikonografie politische Inhalte in Bildern politischer Inhalt ohne politischen Einsatz politischer Inhalt und politischer Einsatz politischer Einsatz von Bildern politischer Einsatz ohne politischen Inhalt polity (Norm/ Inhalt) politics (Praktiken) Abb. 3.4: Bilder-Politik-Bilder: drei Verhältnisoptionen Für die drei Optionen des Zusammenhangs von Bildern und dem Politischen seien im Folgenden zur Veranschaulichung einige Beispiele angeführt. Die Beispiele sollen nicht nur illustrieren, was die jeweilige Unterkategorie bedeutet; mindestens ebenso wichtig ist, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen. 1. Politische Inhalte und politischer Einsatz Das im vorangegangenen Kapitel ausführlich auf Grundlage von Panofskys ikonogra‐ fisch-ikonologischem Modell beschriebene Hope Poster ist eindeutig dieser Kategorie zuzuordnen. Denn darin findet sich mit dem Präsidentschaftskandidat Obama ein politischer Akteur als Inhalt sowie der politische Einsatz des Posters im Umfeld von Obamas Präsidentschaftskandidatur, wenngleich nicht institutionalisiert durch die Demokratische Partei, sondern - zumindest zu Beginn - durch die Initiative eines einzelnen Akteurs, der nicht im engeren Sinne dem politischen System angehört, nämlich durch den Designer und Künstler Shepard Fairy. Der Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willi Brandt vor dem Ehrendenkmal für die Toten des Warschauer Ghettos ist ein weiteres Beispiel, bei dem Inhalt und Funktionalisierung des Bildes ineinandergreifen (vgl. Abb. 3.5). Hierbei ging es um einen performativen, dezidiert politischen, auf öffentliche Zirkulation angelegten Akt des Eingeständnisses, der Anerkennung und Entschuldigung deutscher Verbre‐ chen im Nationalsozialismus. Dies gilt umso mehr, als genau an diesem Tag der sogenannte Warschauer Vertrag unterzeichnet wurde, der die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze garantieren sollte, was damals politisch in Deutschland kein unumstrittener Akt war. Brandt flankierte so verstanden seine Unterschrift unter 3.3 Gegenstand und Zugriff - erste Annäherung 57 <?page no="58"?> 69 Vgl. dazu ausführlich: Christoph Schneider, Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006. 70 Vgl. dazu ausführlich dokumentiert und reich bebildert: Rudolf Cainer, Žulový Stalin. Osudy pomníku a jeho autora. [dt. Stalin aus Granit. Das Schicksal des Denkmals und seines Schöpfers], Prag 2008. Für einen kurzen deutschsprachigen Pressetext zur Geschichte der Statue vgl. Martin Nejezchleba, Der Berg, auf dem Stalin explodierte, in: Prager Zeitung, 07.11.12, Online zugänglich unter: https: / / www.pragerzeitung.cz/ der-berg-auf-dem-stalin-explodierte/ [21.08.21]. diesem Vertrag mit einem Kniefall, der auf fotografische Reproduktion und Zirkulation in der Öffentlichkeit angelegt war. 69 Abb. 3.5: Der Kniefall als Performanz Ein drittes Beispiel ist ein Monument aus Stein. Es handelt sich um die größte Stalin-Statue, die je außerhalb der damaligen Sowjetunion errichtet und die passend zum Tag der Arbeit im Jahr 1955 in Prag enthüllt wurde. Sie galt als imposante politische Machtdemonstration der UdSSR in einem ihrer Satellitenstaaten, nämlich der damaligen Tschechoslowakei. Die Statue thronte weit sichtbar über der Stadt (vgl. Abb. 3.6a). 70 Besonders wichtig an diesem Beispiel ist nicht so sehr, dass nicht nur Poster, Postkarten oder Gesten hochgradig politisch sein können, sondern eben auch Statuen oder Monumente. Interessanter ist, was knapp sieben Jahre nach der Errichtung geschah. Im Zuge der Entstalinisierung wurde diese Statue - gut sichtbar und fotogra‐ fisch dokumentiert - gesprengt (vgl. Abb. 3.6b). Allgemeiner formuliert: Sprengung, Auslöschung, Negation politischer Darstellungen sind häufig selbst hochgradig auf öffentliche Wirksamkeit ausgerichtete politische Aktionen. Anführen ließen sich in diesem Zusammenhang auch extremere Beispiele, etwa Tötungen von Soldaten oder Widerstandkämpfer: innen vor laufenden Filmkameras, wie auf vielen vom sogenann‐ 58 3 Politische Ikonografie <?page no="59"?> 71 Vgl. für letztgenanntes Beispiel: Stephan Schwingeler/ Dorothée Weber, Das wahre Gesicht des Krie‐ ges: Die Hinrichtung in Saigon von Eddie Adams. Das Entstehen einer Ikone vor dem Hintergrund ihrer Publikationsgeschichte in den Printmedien, in: Kritische Berichte 33 (2005), S.-36-50. ten Islamischen Staat veröffentlichten Videos oder der fotografischen Dokumentation der Erschießung eines Vietkongs während des Vietnamkriegs. 71 Abb. 3.6a-b: Stalin in Prag, 1955/ 1962 2. Politischer Einsatz ohne politischen Inhalt Für diese Kategorie lässt sich auf ein Werbeplakat der Partei FDP zur Bundestagswahl 2002 verweisen (vgl. Abb. 3.7). Das Plakat beinhaltet sprachlich neben dem Akronym der Partei nur noch den Verweis auf die Ausrichtung dieser Partei, nämlich ‚liberal‘ zu sein. Zentral findet sich in einem gelben Kreis die Zahl „18“. Ohne Kontextwissen muss es völlig rätselhaft bleiben, was dieses Plakat soll. Geht es um eine neue Form von Billardkugel, geht es darum, dass jeder, der 18 ist, wählen können soll, geht es um einen subtilen Verweis auf Adolf Hitler, ist doch der erste Buchstabe des Alphabets ein A und der achte ein H, „18“ wäre so gesehen, ein getarntes Akronym für Adolf Hitler? Bei diesem Plakat muss man - und das ist ein Unterschied zum Hope Poster, zu Brandts Kniefall oder auch zur Stalin-Statue in Prag - vergleichsweise viel Kontextwissen mitbringen, um zu wissen, dass die „18“ die Prozentzahl der Wähler war, die die FDP bei der damaligen Bundestagswahl anstrebte. Nicht, dass man bei den anderen Darstellungen kein Kontextwissen benötigt, um die jeweiligen Bedeutungen und Appelle zu verstehen. Sie sind aber dennoch sehr klar mit politisch äußerst bekannten Akteuren (Obama, Brandt, Stalin) verbunden, die - sei es durch Textzusatz (‚Hope‘), 3.3 Gegenstand und Zugriff - erste Annäherung 59 <?page no="60"?> Gesten an einem bestimmen Ort (Kniefall vor einer Gedenkstätte), sei es mittels eines überlebensgroßen Monuments, das symbolisch wie materiell über einer Stadt thront - eine durch lange Traditionen etablierte, deutlich appellative Ausrichtung erhalten. Die Zahl „18“ ist demgegenüber sehr viel abstrakter, hat keine oder doch zumindest keine lange bzw. populäre politische Motivtradition - und ist sicher nicht per se ein politischer Akteur. Politisiert wird die „18“ eben erst durch den jeweiligen strategischen politischen Einsatz. Abb. 3.7: Politisierung zweier Ziffern Ein aktuelleres Beispiel findet sich im Kontext der sogenannten Black Lives Mat‐ ter-Protestbewegung, die sich aufgrund von rassistischer Polizeigewalt und der damit in Zusammenhang stehender Tötungen afroamerikanischer Personen in den USA konstituierte und mittlerweile transnational diverse Aktionen organisiert, um gegen Rassismus zu protestieren. Als eine Solidaritätsaktion zu dieser Protestbewegung und in direkter Reaktion auf den Tod des Afroamerikaners George Floyd in Folge von Polizeigewalt wurde unter dem Hashtag #blackouttuesday zunächst auf vielen Instagram-Accounts und später auch auf anderen digitalen Plattformen ein schwarzes Rechteck (oder gleich mehrere) gepostet, anstelle der gemeinhin dort zu findenden 60 3 Politische Ikonografie <?page no="61"?> Selfies, Partybilder, Blumengestecke oder Bilder drapierten Essens (vgl. Abb. 3.8c). Auch hier gilt, ähnlich wie im Fall der „18“ des FDP-Wahlplakats: Ein schwarzes Rechteck ist nicht per se politisch und muss als solches erst markiert werden, etwa durch Paratexte, wie schriftliche Zusatzinformationen oder eben einem Hashtag. Die Plattform Instagram selbst zeigte in diesem Kontext ihre Solidarität dadurch, dass das firmeneigene Logo schwarz eingefärbt wurde (vgl. Abb. 3.8b). Die Plattform schwingt sich so mittels temporärer Schwarzfärbung des Logos zum politischen Akteur auf. Das firmeneigene Logo wird dementsprechend zum Medium politischer Darstellung. Ein letztes Beispiel in diesem Zusammenhang: Der Sänger Justin Bieber gab ein Konzert, das auf seinem Instagram-Account, dem sage und schreibe knapp 185 Millionen Instagram-Mitglieder folgen (Stand August 2021), live übertragen wurde. Für ungefähr eine Minute war dabei nur ein schwarzes Bild zu sehen - nicht aus rechtlichen Gründen oder Datenübertragungsproblemen, sondern dezidiert als Solidaritätsbekundung im Zusammenhang der Black Lives Matter-Protestbewegung in Szene gesetzt (vgl. Ab. 3.8c). Abb. 3.8a-c: Instagram-Ästhetik - Politische Statements in schwarzer Monochromie An diesen Beispielen sind meines Erachtens zwei Dinge interessant: Erstens ist die Unterscheidung zwischen politischem Inhalt und nicht-politischem Inhalt situationsbzw. kontextabhängig. Eine Zahl oder eine Farbe können in bestimmten Kontexten politisiert werden oder sein, in anderen sind sie aber ‚nur‘ eine Zahl, eine Farbe, die etwa als schwarzes Quadrat auch Teil eines anderen Bereiches, etwa des Kunstsystems, sein kann. Zweitens bedeutet politischer Einsatz von Bildern nicht nur, wenn ein Kanzler ein Zeichen setzen will, für Obama Wahlkampf gemacht oder mittels einer Stalin-Statue die Vorherrschaft der Sowjetunion außerhalb der UdSSR in Stein gemeißelt wird. Auch 3.3 Gegenstand und Zugriff - erste Annäherung 61 <?page no="62"?> 72 Vgl. dazu knapp: Daniel Terdiman, Mercedes channels Che Guevara for car tech, in: CBS News, 10.01.2012, Online zugänglich unter: https: / / www.cbsnews.com/ news/ mercedes-channels-che-guev ara-for-car-tech/ [25.11.22]. 73 Vgl. zu dieser ‚Medienikone‘ kompakt: Stephan Lahrem, Che. Eine globale Protestikone des 20. Jahr‐ hunderts, in: Paul (Hg.), Bilder, die Geschichte schrieben, S.-164-171. nicht-politische Institutionen, wie etwa Instagram, oder Popsänger mit Instagram- Account, wie Justin Bieber, können mit einem Klick oder einem like ein politisches Statement posten. Es geht mir dabei nicht darum, diese Art politischer Handlungen zu problematisieren, weil sie womöglich nicht ‚echt‘, nur eine Modeerscheinung sind oder Ähnliches. Hier ist erst einmal wichtig, dass solche vermeintlich marginalen Aktionen oder Modeerscheinungen ebenfalls als politische Artikulation zu fassen sind. Dementsprechend fallen sie in den Gegenstandsbereich politischer Ikonografie. 3. Politischer Inhalt ohne politischen Einsatz Um auch für diese Option ein einfaches Beispiel zu geben, sei auf eine Werbeveran‐ staltung von Mercedes Benz in Los Angeles 2012 verwiesen. 72 Bei der Präsentation eines neuen Mercedes-Modell wurde ein großflächiges Porträt von Che Guevara auf die Bühnenwand projiziert und mit dem Schriftzug „Viva la Revolucion“ versehen (vgl. Abb. 3.9). Dieses Guevara-Porträt steht, wie kaum ein zweites, für einen politischen Aufruf zur Revolution. Ursprünglich ging es dabei um eine sozialistische Gesellschafts‐ revolution in Kuba. Der charismatische Che Guevara, insbesondere in Form dieses Porträts, wurde nicht nur zum Gesicht dieses Umsturzes, vielmehr noch zum Inbegriff sozialkritischen politischen Denkens generell. 73 Vor diesem Bedeutungshintergrund ist die Bewerbung eines neuen Autos einer Firma, die wiederum wie kaum eine andere für kapitalistische Bestrebungen und für das Gegenteil gesellschaftsverändender, sozialistischer Revolutionen steht, mit dem Guevara-Porträt zumindest überraschend, eine beabsichtigte Provokation oder einfach in der Hoffnung angefertigt, das in der Populärkultur positiv konnotierte Revolutionsführer-Image auf das neue Merce‐ des-Modell, das eben auch revolutionär im Automobilsektor sein soll, assoziativ zu übertragen. Jedenfalls ist dieser Einsatz eines politischen Porträts für Werbezwecke, um ein Auto anzupreisen, keine politische Strategie, jedenfalls nicht in einem engeren Sinne, sondern eben Werbung für ein bestimmtes Objekt mit einem politischen Motiv. Deshalb wird diese Variante politischer Bilder bzw. Motive hier nicht im Zentrum der Analysen stehen. 62 3 Politische Ikonografie <?page no="63"?> Abb. 3.9: ‚Es lebe die Revolution! ‘ - in der Werbung, nicht aber in der politischen Sphäre Man könnte freilich argumentieren, dass solch eine Werbung politische Impli‐ kationen beinhaltet, wird doch eine bestimmte Ideologie vermittelt bzw. eine Konsumkultur affirmiert, die zuvor politische Darstellungen depolitisiert oder zumindest deren Widerständigkeit und die damit verbundene Gesellschaftskritik negiert. Ich möchte mich in vorliegender Publikation aber primär auf Darstellungs‐ formen konzentrieren, die im Umfeld dezidiert politischer Strategien zu finden sind, schlicht um den Gegenstandsbereich der politischen (Medien-)Ikonografie nicht über Gebühr auszuweiten und so der Gefahr der Indifferenz auszusetzen. 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie Nach diesen zugegebenermaßen recht grobschlächtigen Unterteilungen des Verhält‐ nisses von Bild und Politik und einer ersten Annäherung an das, was der Gegenstand der politischen Ikonografie ist (und was nicht), soll nun im Folgenden insbesondere mit Bezug auf Vorstellungen, die vom Kunsthistoriker Aby Warburg herrühren, näher auf einige Konzepte eingegangen werden, die in der politischen Ikonografie bis dato relevant sind. Wider die reine Bedeutung: Die Pathosformel als Affektzeichen und Mittel der Affizierung Ansätze des Kunstwissenschaftlers Warburg sind in der politischen Ikonografie nahezu allerorten virulent. Ein Konzept, das dort besondere Beachtung fand, wurde von Warburg selbst als Pathosformel bezeichnet. Aus vielerlei Gründen wurde diese 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 63 <?page no="64"?> 74 Vgl. dazu: Manfred Kraus u. a., Pathos, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd.-6, Tübingen 2002, S.-689-718. 75 Aby Warburg, Mnemosyne Einleitung [1929], in: ders., Werke, S.-629-639, hier: S.-633. 76 Aby Warburg, Mnemosyne I. Aufzeichnungen, 1927-29, in: ders., Werke, S.-640-646, hier: S.-640. 77 Philipp Ekardt, Wanderungen im Bild. Goethes ‚tableaux vivants‘ als Erscheinungen im Prozess umordnender Rezirkulation, in: Beyer u.-a. (Hg.), Bildfahrzeuge, S.-122-131, hier: S.-124. ‚Formel‘ wichtig. Ein entscheidender Grund besteht wohl darin, dass der Ansatz eine andere Richtung als Panofskys Dreiphasen-Modell einzuschlagen erlaubt [↑ Kap. 2, Ikonografie und Ikonologie]. Bei Panofsky stehen die Deutung von Motiven sowie das Verständnis eines Bildes als Symptom im Zentrum. Es geht dabei primär um die Fragen nach der Bedeutung von Bildern und Bildelementen, also um Lektüren von Bildern als symbolische Zeichensysteme. Nicht, dass Warburg nicht auch nach der Bedeutung der Bilder und ihrer Zeichen fragt, aber wichtiger noch sind bei ihm Bilder und Bildelemente als spezifische Ausdrucksformen des Affekts sowie der Affizierung der Rezipient: innen. Insofern geht es weniger um motivische Bedeutungen als vielmehr um spezifische Affektdarstellungen und affektive Wirkungsweisen von Bildern, die eben nicht in der semantischen Entschlüsselung von Motiven aufgehen. Pathosformel ‚Pathos‘ stammt wortgeschichtlich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Erlebnis, Leiden, Leidenschaft. Die Verbform ‚pathetisch‘ meint demgemäß erleiden bzw. erdulden im Gegensatz zum Tun. 74 Früh - etwa bereits bei Aristoteles - wird der Pathos zu einem zentralen Begriff für die Beschreibung poetisch-dra‐ maturgischer und vor allem rhetorischer Techniken zur Affektdarstellung und Af‐ fektlenkung von Rezipient: innen. Der Kunsthistoriker Aby Warburg führte Anfang des 20. Jahrhunderts den Begriff der Pathosformel in die kunstwissenschaftliche Debatte ein. Er fasst darunter formelhafte visuelle Darstellungen von Mimik und Gebärden des Affektausdrucks, die wiederum die Rezipient: innen affizieren sollen. Pointierter formuliert: Es handelt sich um Bildelemente, die Darstellungen zu Erregungsbilder machen. Warburg selbst schreibt über die vielfältigen Facetten der Pathosformeln: „Die Entfesselung körperlicher Ausdrucksbewegungen […] umfängt die ganze Skala kinetisch erschütterten Menschentums von hilfloser Versunkenheit bis zum blutdürstigen Taumel, und alle mimischen Aktionen, die dazwischen liegen, wie gehen, laufen, tanzen, greifen, bringen, tragen […].“ 75 Der Kunstwissenschaftler nennt die Elemente auch „Energiekonserve[n]“ 76 , die eine „valenzneutrale Intensität“ aufbewahren. 77 Dabei geht Warburg davon aus, dass solche Pathosformeln Universalien sind, also über historische und kulturelle Grenzen hinweg Affektenergie speichern und transportieren könnten. Als Beispiel dient ihm immer wieder die Aufnahme antiker Vorbilder in der Renaissance. So sei etwa die affektbesetzte Ausdrucksbewegung Orpheus’ bei seiner Tötung auf einem 64 3 Politische Ikonografie <?page no="65"?> 78 Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 168. Dort findet sich im Übrigen auch ein knappes, aber instruktives Kapitel zur Träne als Pathosformel, vgl. ebd., S.-168ff. 79 Warburg, Mnemosyne I, S.-641. Kupferstich aus Italien des 15. Jahrhunderts die Wiederaufnahme eines antiken griechischen Motivs, das dort auf einer Vase abgebildet ist (vgl. Abb. 3.10a-b). Die Übernahme dieser Pathosformel findet sich in vielen weiteren Darstellungen der Renaissance, etwa auf einem Holzschnitt zu einer venezianischen Neuausgabe von Ovids Metamorphosen aus dem Jahr 1497 (vgl. Abb. 3.10c). So verstanden sind Pathosformel erst einmal schlicht „bildlich tradierte Ausdrucksgebärden“. 78 Abb. 3.10a-c: Orpheus’ Tötung als eine Pathosformel über Jahrhunderte hinweg Diese Pathosformeln sind - das muss trotz der ihnen von Warburg unterstellten Universalität und dem hier aufgegriffenen suggestiven Beispiel von Ovids Todes‐ kampf betont werden - nicht gleichzusetzen mit Bildformen, in denen sie auftreten. Vielmehr erhalten in und durch Bildformen Pathosformeln erst ihre spezifische Valenz, also ihren spezifischen Wert. Erst hier findet eine „Polarisation“ statt, die unter anderem auch mit einer „energetischen Inversion“ einhergehen kann. 79 Warburg selbst zeigt an einem Beispiel, wie dieselbe visuelle Form unterschiedliche 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 65 <?page no="66"?> 80 Ekardt, Wanderungen im Bild, S.-125. 81 Dementsprechend schreibt der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme treffend: Pathosformeln sind „die zu Bilder und Figuren geronnenen Interferenzen zwischen Affektenergien und kulturellen Verarbeitungsmustern.“ (Hartmut Böhme, Aby M. Warburg, in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, S. 133-157, hier: S.-143.) Affektaufladungen, genauer eine gegensätzliche Polarisation erhält. So ist in dem Gemälde Geburt Johannes des Täufers von Domenico Ghirlandaio eine Fruchtkorb tragende Dienerin abgebildet, deren Form auf antike Mänadendarstellungen zu‐ rückgehen soll. Mänaden sind Begleiterinnen des Dionysos - und werden passend dazu als rasende, trunkene Figuren beschrieben und dargestellt (vgl. Abb. 3.11a). Die Dienerin mit Fruchtkorb hingegen erhält, trotz ähnlicher Figurenzeichnung, einen heiteren Affekt (vgl. Abb. 3.11b). Das bedeutet: „bei hoher formal-figürlicher Ähnlichkeit“ können „geradezu diametral affektive ‚Ladungen‘“ 80 zur Darstellung kommen. Pathosformeln sind insofern wertneutrale Energiekonserven, als sie erst in den jeweiligen kulturellen Zusammenhängen zu spezifischen Affektmanifestationen gerinnen, also bestimmte Werte annehmen. Pathosformeln bestehen genau bese‐ hen nicht aus ahistorischen stabilen Affekt-Einheiten, sondern aus energetischen Spannungen, die sich in unterschiedlichen Affektdarstelllungen ausdrücken kön‐ nen. Wenn Pathosformeln sichtbar werden, sind es immer bildlich verdichtete Überlagerungen bzw. Überschneidungen von Affektenergien und je kulturspezifi‐ schen Verarbeitungsmustern. 81 Abb. 3.11a-b: Dieselbe Pathosformel - diametral entgegengesetzte Affektaufladung 66 3 Politische Ikonografie <?page no="67"?> 82 Zur sogenannten Laokoon-Gruppe und seiner vielfältigen Rezeption vgl. ausführlich: Christoph Schmälzle (Hg.), Marmor in Bewegung. Ansichten der Laokoon-Gruppe, Frankfurt am Main u. a. 2006. 83 Vgl. zu diesem Bild: Gerhard Paul, Das Mädchen Kim Phúc. Eine Ikone des Vietnamkriegs, in: ders. (Hg.), Bilder, die Geschichte schrieben, S.-220-227. 84 Vgl. dazu ausführlich: Nicole Wiedenmann, Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert. Zwischen Dokumentation, Agitation und Memoration, Köln 2019, v.a.: S.-312ff. So spekulativ dieser Ansatz auch sein mag, so ist damit eine erhebliche Verschie‐ bung der Perspektive auf Bilder verbunden. Denn nunmehr geht es nicht mehr nur um die Deutung visueller Darstellungen als Verdichtung kultureller Einstellungen oder Weltbilder, wie in der Nachfolge der panofsky’schen Ikonologie, sondern die Faszination eines Bildes wird auf tradierte Affektdarstellungen und Affizierungs‐ potenzial gelegt, also jenseits von Motivtraditionen und ihren Bedeutungen erklärt. Um es zugespitzt gegenüberzustellen: Wird in der Tradition Panofskys nach dem motivgeschichtlichen Sinn ikonischer Zeichen gefahndet, so in Nachfolge Warburgs stattdessen nach der ‚Affektenergie‘, also der affizierenden Sinnlichkeit von Bildelementen, mitsamt ihrer mitunter sehr verschlungenen historischen Dynamiken und Verdichtungen zu ‚Formeln‘, also Mustern. Über Gesichter, Hände und Knie - Beispiele für Pathosformeln Für Pathosformeln im Sinne Warburgs ließen sich viele Beispiele im Kontext politischer Bilder anführen. Um nur auf einige wenige kurz hinzuweisen: Pathosformeln finden sich im Zusammenhang mit mimischen Phänomenen, etwa beim Ausdruck von Leid und Schrecken, wie auf der Fotografie von weinenden Kindern während des Vietnam-Kriegs (vgl. Abb. 3.12a), die eine der bis dato populärsten Medienikonen überhaupt ist. Auch Laokoons verzerrter Gesichtsausruck auf einer antiken Statue kann als Pathosformel verstanden werden, die erfahrenes Leid und Schrecken des trojanischen Priesters Laokoon speichert und in dessen Gesichtsausdruck verdichtet (vgl. Abb.3.12b) 82 - einem Ausdruck, der sich auf Mater- und Opferdarstellungen bis in die Gegenwart hinein finden lässt, so etwa in der angesprochenen Fotografie vietnamesischer Kinder (vgl. noch mal Abb. 3.12a). 83 Lenins, Castros oder auch Hitlers Gesten sind mit ihren wild fuchtelnden Armen und Zeigegesten ebenfalls in die Tradition von Pathosformeln einzuordnen. 84 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 67 <?page no="68"?> 85 Zu dieser Bezeichnung und unterschiedlichen Deutungen des Bildes, auf dem diese Hand zu finden ist, vgl. den Sammelband: Michael Kaupert/ Irene Leser (Hg.), Hillarys Hand. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Bielefeld 2014. 86 Vgl. dazu ausführlicher: ebd. Abb. 3.12a-c: Pathosformeln, allerorten Ein besonders eindrückliches Beispiel für eine gestische Pathosformel bietet ‚Hillarys Hand‘ 85 , die auf einer Fotografie abgebildet ist, die die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton zusammen mit dem damaligen Präsidenten Obama, einigen Militärs und Mitarbeiter: innen des Weißen Hauses zeigt, wie diese gerade die Liquidierung des Terroristen Osama Bin Laden via Live-Stream im Situation Room verfolgen (vgl. Abb. 3.12c). Hillary Clinton wurde nach der Veröffentlichung des Bildes unterstellt, genderkonform affektiv Mitleid für einen Terroristen empfunden zu haben. 86 Trotz der Beteuerung Clintons in Interviews, dass es sich bei ihrer Geste um einen Hustenreiz im Zusammenhang mit einer leichten Grippe gehandelt habe, war die vornehmliche Rezeption eine andere. Das Bild wurde vielfach als ein Beweis dafür angeführt, dass die damalige Außenministerin affiziert wurde, denn die an den Mund geführte Hand sei eine deutliche Geste des spontanen Mitleids, durch die sich Clinton - im Gegensatz zu den männlichen Akteuren auf dem Bild - als eine Frau ‚verrate‘, die sich durch ihrer Genderzugehörigkeit der Aufgabe, kühl und strategisch die Gefahr des Terrorismus bekämpfen zu können, nicht gewachsen zeige. Will man diese Deutung nicht einzig als politisch motivierte Unterstellung oder Propaganda abtun - was sie sicherlich auch war -, könnte man behaupten, dass es sich hier um eine genderkonnotiert polarisierte Pathosformel handelt, die in ihrer energetischen Affektbildertradition die Rezeption wirkmächtig ausrichtete. Dabei ist völlig irrelevant, was die beteiligten Akteur: innen tatsächlich fühlten oder im Nachhinein dazu zu sagen haben. Als Pathosformel ist die bildimmanente ‚energetische Affektaufladung‘ der Handgeste bestens zur bildexternen Funktionalisierung in Form politischer Kritik und Agitation geeignet. Denn diese konnte nicht deshalb so wirkmächtiger werden, weil die Geste im Nachhinein beliebig ideologisch besetzt wurde. Vielmehr eignet sich diese Geste bestens für eine bestimmte ideologische Lesart, weil sie an eine tradierte Pathosformeln anschließen kann, die die Lesart mit affektiver Evidenz auflädt. 68 3 Politische Ikonografie <?page no="69"?> 87 Vgl. zu dieser Tradition: Schneider, Der Warschauer Kniefall, S. 263ff.; vgl. auch: Michael Diers, Schlagbilder. Zur politischen Ikonografie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1997, v.a.: S.-44ff. 88 Vgl. ebd. 89 Warburg führt diesen Begriff, wie viele andere, en passant ein, eher an Bildern exemplifizierend als tatsächlich definierend, vgl.: Aby Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten [1920], in: ders., Werke, S. 424-491, hier: S. 456, 466 ff. Dort heißt es z. B., dass in Luthers Zeiten eine „leidenschaftliche […] Schlagbilderpolitik“ (ebd., S.-466) geherrscht habe. 90 Vgl. zu dieser Abbildung knapp: Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 262ff.; vgl. zum reformatori‐ schen Kontext: Warburg, Heidnisch-antike Weissagung, v.-a. S.-466ff. 91 Um das Verhältnis von Pathosformeln und Schlagbildern noch etwas präziser zu fassen: Auf Schlagbildern kommen Pathosformeln vor; andersherum müssen Pathosformeln nicht in einem politisch-propagandistischen Zusammenhang auftauchen. Zudem impliziert der Gebrauch von Pathosformeln nicht notwendigerweise eine emblematisch verkürzte Darstellung. Pathosformeln wurden wortgeschichtlich hergeleitet als Bezeichnung für Situationen des Erleidens im Gegensatz zum Tun (vgl.: Kraus, Pathos, S. 193). Schlagbilder können demgegenüber auch solche sein, die Akteure darstellen, die tätig sind, etwa in Form von Gewaltausbrüchen oder Handlungsappellen. Auch Willi Brandts weiter vorne beschriebene Kniefallgeste lässt sich als solch eine Pathosformel verstehen (vgl. noch einmal Abb. 3.3), ist es doch eine Demuts- und Gedenkgeste, die über Jahrhunderte hinweg im christlichen Abendland zu finden ist. 87 Damit hat diese Abbildung nicht nur einen klaren Zeichencharakter, sondern ist eben auch in spezifischer Weise mit Affektregungen wie Trauer, Schmerz und Demutshaltung aufgeladen. Der Kunstwissenschaftler Michael Diers kategorisiert das Bild von Brandts Kniefall noch etwas anders, nämlich als Schlagbild - ebenfalls ein von Aby Warburg geprägter Begriff. 88 Schlagbild Analog zum Schlagwort bestimmt Aby Warburg einen bestimmten Bildtypus als Schlagbild. Schlagworte werden eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen durch eine besonders pointierte, einprägsame und möglichst Affekt auslösende Formulierung - anschaulich zu finden auf den Titelseiten von Boulevardzeitungen. Genau diese Charakterisierungen bezieht Warburg auf Schlagbilder. Seine Bei‐ spiele sind Flugblätter der Reformationszeit. 89 So ist die Darstellung eines Mönches, auf dem der Teufel Dudelsack spielt, ein Beispiel für ein Schlagbild, weil hier auf pointierte und provokative Weise eine karikaturhafte Charakterisierung des Mönchstums und der damit in Zusammenhang stehenden kirchlichen Institution zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Abb. 3.13a). 90 Das Beispiel zeigt auch, dass solche Schlagbilder insbesondere in propagandistischen Konflikt-Kontexten vorkommen. Sie sollen die Rezipient: innen aufrütteln, affizieren, eben ‚schlagen‘. Schlagbilder sind emblematisch, also sinnbildlich. Sie stehen als pars pro toto für einen größeren Kontext, der durch sie verdichtet ist. Zur Erzeugung von Schlagbildern werden unter anderem Pathosformeln verwendet. 91 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 69 <?page no="70"?> 92 Vgl. dazu: Diers, Schlagbilder, v.a.: S.-8ff. Schlagbilder haben also - so lässt sich resümieren - zumeist eine politisch-propa‐ gandistischen Hintergrund; sie verdichten komplexe gesellschaftliche und politi‐ sche Zusammenhänge emblematisch auf einfache, konkrete Darstellungsformen, die sich tradierter und populärer Formen- und Motivsprache bedienen und zielen so auf möglichst unmittelbare, affektbasierte Evidenz ab. 92 Abb. 3.13a-c: Schlagbilder mit Dudelsack, Kniefall und penetrierendem Dreieck Brandt Kniefall-Bild ist im Sinne Diers ein Schlagbild, weil es pointiert verdichtet einen größeren Zusammenhang ins Bild setzt, der die Rezipient: innen affizieren soll - und zwar durch den Rekurs auf eine traditionsreiche Pathosformel, die in diesem Kontext überraschend, ja provokativ wirkt. Solch ein Schlagbild wird häufig im Lauf der Berichterstattung noch weiter auf das, was daran ‚schlagend‘ ist, verdichtet und kontrovers diskutiert. Im Fall von Brandts Kniefall lässt sich das mit Verweis auf ein Spiegel-Titelbild verdeutlichen (vgl. Abb. 3.13b). Hier wird der Bildausschnitt auf Brands Geste des Knieens reduziert. Begleitet wird der Kniefall auf dem Titelbild mit einer Frage: „Durfte Brandt knieen? “ Dabei wird auf eine kontrovers geführte Debatte über diese Geste verwiesen. Das Schlagbild ist hier eine Art Erinnerungsbild, das als Blickfang fungiert und schlaglichtartig darauf verweist, was vermeintlich jeder kennt. Ein etwas anderes gelagertes Beispiel, nämlich jenseits menschlicher Gebärdenspra‐ che und Mimik, findet sich auf dem Propagandaplakat Mit dem roten Keil schlage die Weißen, das von dem russischen Avantgardisten El Lissitzky in den Jahren 1919 und 1920 hergestellt wurde (vgl. Abb. 3.13c). Darauf sind keine Personen abgebildet, folglich ist kein menschlicher Affektausdruck zu finden. Stattdessen handelt es sich um ein auf basale geometrische Formen reduziertes Bild: Ein roter Keil dringt in einen 70 3 Politische Ikonografie <?page no="71"?> 93 Dies ist auch ein Beispiel dafür, dass ein Schlagbild eben nicht mit Pathosformeln operieren muss. Auf Schlagbildern sind häufig Akteure dargestellt, die handeln, etwa ‚schlagen‘. 94 Vgl. zu diesem Plakat, zur Geschichte sowie zu theoretischen und methodischen Ansätzen zum Medium Plakat im politischen Kontext: Frank Kämpfer, Der rote Keil. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte des Plakates, Berlin 1985. 95 Das Beispiel selbst geht freilich über die ‚reine Lehre‘ Warburgs hinaus. Bei Warburg ist die Pathosformel notwendigerweise mit menschlichen Ausdrucksgebärden verknüpft, was beim ‚roten Keil‘ und ‚weißen Kreis‘ beileibe nicht zutrifft. 96 Vgl.: Warburg, Mnemosyne Einleitung, S.-636ff. Vgl. dazu: Beyer u.-a. (Hg.), Bildfahrzeuge. weißen Kreis ein - insofern ‚schlägt‘ der Keil den Kreis. 93 Die russischen Worte, die ins Bild eingefügt sind, unterstreichen diese Bewegung, geht es doch von oben links mit den Worten „mit dem Roten Keil“ nach unten rechts zu den Worten „schlage die Weißen“. Diese abstrakten Formen und Bezeichnungen benötigen zwar ein historisches Hintergrundwissen, das aber, zum damaligen Zeitpunkt zumindest in einem bestimmen Kontext vorausgesetzt werden kann. 94 Der rote Keil meint die ‚rote Armee‘ der sozialistisch-kommunistischen Bewegung, die gegen die Zarenarmee, deren Soldaten weiße Uniformen trugen, vorgehen soll. Dieses Bild ist also ein extrem abstrahiertes Emblem für den größeren Zusammenhang einer sozialistischen Revolution. Mit der dargestellten Bewegungsrichtung und der Penetration des Kreises durch den Keil wird, wenn man es wieder in Warburgs Vokabular beschreiben möchte, eine Pathosformel verwendet, wodurch eine affektive Spannung durch eine bestimmte Bewegungsenergie aufgebaut wird, mittels derer an den Betrachter appelliert wird: ‚Werde Teil des Umsturzes! ‘. 95 Bilder als Fahrzeuge Ein weiteres im Anschluss an Warburg viel diskutiertes und häufig aufgegriffenes Konzept ist das sogenannte ‚automobile Bildfahrzeug‘. 96 Die wenigen Ausführungen Warburgs zu diesem Konzept tauchen meist im Zusammenhang mit den oben vorge‐ stellten Pathosformeln auf. Dies ist kein Zufall. Denn affektive Ausdrücke können zu Pathosformeln genau genommen erst über längere Zeiträume werden, womit eine historische Tiefendimension immer schon mitgedacht wird. Genau diese zeitliche Dimension wird bei der Diskussion der Bildfahrzeuge weitergeführt und mit einer räumlichen verflochten. Denn dabei geht es nicht einfach darum, dass Bildmotive oder Pathosformeln immer wieder auftauchen und eine Geschichte haben, sondern interessanter noch ist der Umstand, dass Bildfahrzeuge Bilder mobilisieren. Automobiles Bildfahrzeug Mit dem schillernd schönen, gleichsam rätselhaft anmutenden Begriff ‚automobile Bildfahrzeuge‘ geht es Warburg darum, einen Zugriff zu markieren, der sich auf 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 71 <?page no="72"?> 97 Andreas Beyer u. a., Bildbewegung nach Aby Warburg. Zur Einführung, in: ders. u. a. (Hg.), Bildfahrzeuge, S.-9-12, hier: S.-9. 98 Warburg selbst schreibt mit Bezug auf die flandrischen Teppiche deutlich: „Der flandrische Teppich ist der erste noch kolossalische Typus des automobilen Bildfahrzeuges, der, von der Wand losgelöst, nicht nur in seiner Beweglichkeit [sic! ] sondern auch in seiner auf vervielfältigende Reproduktion des Bildinhaltes angelegten Technik ein Vorläufer ist des bildbedruckten Papierblättchens, d. h. des Kupferstichs und des Holzschnitts […].“ (Warburg, Mnemosyne Einleitung, S.-636f.) 99 Beyer u.-a. (Hg.), Einleitung, S.-9. 100 Vgl. Warburg, Mnemosyne Einleitung, S.-636f. ganz bestimmte Bildwanderungsphänomene durch Raum und Zeit bezieht. Dieser Zugriff hat mindestens drei hier relevante Implikationen: 1. Es geht um die ‚Eigenbewegung‘ von Bildern im Sinne einer spezifischen auto‐ nomen Sphäre der Bildentwicklung. Das bedeutet, dass nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse und Dynamiken die Entwicklung von Kunst und Darstellungsformen bestimmen, „sondern - ganz im Gegenteil - die Eigenbewegung der Werke [fordert] uns auf […], diese in ihre eigenen Rechte zu setzen.“ 97 2. Nach Warburg gibt es bestimmte Bildtypen, die von sich selbst aus auf Bewegung angelegt sind. Was sich vielleicht zunächst sehr mysteriös ausnehmen mag, meint etwas konkret Materielles. Flugblätter, Münzen, Briefmarken, Kupferstiche, Plakate, aber auch Fotografien, Fernsehserien oder Instagram-Bilder - dies sind alles Bildfahrzeuge insofern, als sie mobile Bildträger darstellen, also als Bildträger auf Verbreitung angelegt sind. 3. Bildtheoretisch lässt sich die Ebene des Bildobjekts von der Ebene des Bildvehi‐ kels unterscheiden [↓ Kap. 4, Bildinstanzen]. Bei ersterem geht es um das, was das Bild zeigt (Motive, Formen). Im zweiten Fall handelt es sich um den Bildträger, der mehr oder minder stabil oder instabil, immobil oder mobil ist. Interessant an Warburgs Zugriff ist zum einen, dass hierbei nicht nur das Bildvehikel mobil sein kann oder auch nicht (eine Statue ist eher immobil, eine Postkarte eher mobil). Darüber hinaus sollen die Bildobjekte selbst auf mehr oder minder große Mobilität angelegt sein. 98 Zum anderen sind beide Ebenen nicht kategorial getrennt, vielmehr verschränkt. Warburg „erkannte darin [in den Bildvehikeln; SG] Medien, deren Materialität dem spezifischen Potenzial der Bilder und ihrer kulturhistorischen Wirkkraft in besonderer Weise entsprach.“ 99 Das soll an einem Beispiel kurz erläutert werden, dass von Warburg selbst angeführt wird, nämlich den sogenannten flandrischen Bildteppichen, die im 15. und 16. Jahr‐ hundert über die Alpen nach Norditalien transportiert wurden. Solche Teppiche sind aufgrund ihrer Materialität und der damals üblichen Praxis leicht transportabel gewesen, konnten an diversen Wänden angebracht, heruntergeholt und an neuen Orten wieder aufgehängt werden. 100 Verwendet wurden sie zur „prunkvollen Ausstat‐ 72 3 Politische Ikonografie <?page no="73"?> 101 Isabella Woldt, Poesie in Bewegung. Tapisserien als Vehikel politischer Inszenierungen, in: Beyer u.-a. (Hg.), Bildfahrzeuge, S.-112-121, hier: S.-112. 102 Ebd. 103 Vgl. dazu: Ekardt, Wanderung ins Bild, S.-123. tung von Räumen an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Anlässen.“ 101 Sie zeigten entweder aktuelle Ereignisse, historische Ereignisse oder mythologische Themen. Häufig waren sie selbst bereits Ergebnisse einer ‚Bildwanderung‘, lassen sich darauf doch nicht selten Motive finden, die von Holzschnitten oder Kupferstichen übernommen wurden. Diese Wandteppiche wurden in Burgund „als Vehikel politscher Inszenierungen“ 102 eingesetzt. Hier im speziellen Fall gelangten diese mobilen Objekte, wie angeführt, in großen Mengen über die Alpen nach Norditalien. Dort wiederum sollten die Motive und Formen der Teppiche aus dem Ausland nicht einfach nachge‐ ahmt worden sein, sondern genau im Gegenteil hatte die Ankunft und Verbreitung französischer und belgischer Teppiche in Norditalien eine „Gegenreaktion“ 103 zur Folge, nämlich die Wiederaufnahme antiker Muster. Aus diesem Grund sehen die Teppiche aus Frankreich, Belgien und Italien so unterschiedlich aus - und können eben doch ins Verhältnis zueinander gesetzt werden (Abb. 3.14). Inversion Flandern (Belgien) (Nord-)Italien Alpen Abb. 3.14: Inversionsreaktion durch Bildwanderung über die Alpen Die norditalienischen Motive und Formen auf den Bildteppichen finden ihre Vorbilder von Bildwanderungen aus der Antike via Reproduktionen und Stichen. Die Teppiche selbst bildeten wiederum den Ausgangspunkt für weitere Bildwanderungen in andere Medien, etwa auf Keramiken oder Kupferstichen. Der entscheidende Punkt hier ist: Die Bildteppiche wurden zu autonomen Bildfahrzeugen, die vergleichsweise komplexe Reaktionen und Bezugnahmen zwischen Bildern und Medien auslösten. Grundlage dafür ist zum einen ihre materielle Mobilität als Bildvehikel. Zum anderen werden auf diesen Bildvehikeln Bilder gezeigt, die selbst wiederum auf Reproduzierbarkeit angelegt sind bzw. selbst bereist Reproduktionen darstellen oder doch spezifisch Motive 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 73 <?page no="74"?> 104 Woldt, Poesie in Bewegung, S.-112. und Formen zeigen, die zur Bildwanderung animieren oder eine solche zumindest nahelegen. So verstanden sind Bildvehikel und Bildobjekt nicht getrennt, sondern die Materialität des Fahrzeugs entspricht dem „spezifischen Potenzial der Bilder und ihrer kulturhistorischen Wirkkraft“ 104 . Jedenfalls gibt es eine Wechselbeziehung zwischen Vehikel und Objekt. Um das wiederum am Hope Poster zu verdeutlichen: Das via Siebdruck hergestellte und zirkulierende Hope Poster ist im Sinne Warburgs ganz sicher ein automobiles Bildfahrzeug. Es ist überdies insofern ein automobiles Bildfahrzeug, als es auf Verviel‐ fältigung und Zirkulation angelegt ist. Für die digitalen Versionen, die im Internet zirkulieren, gilt dies umso mehr. Das Bildobjekt selbst ist Teil dieses Bildfahrzeugs zumindest in dem Sinne, dass es auf Vorläuferbilder und Darstellungstraditionen referiert, die sich Bildfahrzeugen bedienten (die Fotografie von John F. Kennedy, die Plakatdarstellungsverfahren des sowjetischen Agitprop). Bildvehikel und Bildobjekt wiederum sind nicht nur so verknüpft, dass das Vehikel die weitreichende Zirkulation des Bildobjekts möglich macht, sondern darüber hinaus gilt: Das Bildobjekt selbst ist so abstrahiert, auf prägnante Elemente mit Appellcharakter angelegt, dass es sich um ein Objekt handelt, das auf eine einfache technische Reproduzierbarkeit und Zirkulation ausgerichtet ist. Somit wird zumindest in diesem Fall tatsächlich durch Siebdruck wie mittels der digitalisierten Versionen das ‚spezifische Potenzial des Bildes‘ entfaltet. Hiermit ist bereits angedeutet, dass der mediale Träger wichtig für die Art und Weise der Mobilität der Bildinhalte ist, ja, dass Inhalte und Träger ineinandergreifen. Das ist für einen dezidiert medienwissenschaftlichen Zugriff besonders interessant. Warburg selbst führt diesen Zusammenhang indes nicht näher aus. Genau hier ist anzusetzen, um die Rolle der Medien für Bilder und/ oder Bilder als Medien genauer zu fassen. Dem soll im nächsten Kapitel näher nachgegangen werden. Globale Bildzirkulation 1: Der ‚Kapuzenmann‘ Noch ein anderer Aspekt ist im Zusammenhang mit Warburgs automobilen Bildfahr‐ zeugen in der neueren Forschung aufgegriffen worden. Warburg stellt sich die mit den Bildfahrzeugen verbundenen Bildwanderungen als transnationale, ja globale Verflechtung vor. Diverse Bildwanderungen über Kultur- und Kontinentengrenzen hinweg hat er selbst in eine Karte eingezeichnet (vgl. Abb. 3.15). 74 3 Politische Ikonografie <?page no="75"?> 105 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher - auch und gerade aus ikonografischer Sicht: Werner Binder, Abu Ghraib und die Folgen. Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror, Bielefeld 2013; ebenso: Linda Hentschel, Schauen und Strafen. Nach 9/ 11. Bd.-1, Berlin 2020, S.-19ff. Abb. 3.15: Transnationale Straßen autonomer Bildfahrzeuge nach Warburg Solch ein Konzept ist für die Bildwanderungen unserer digitalen Gegenwart äußerst relevant. Um das an dieser Stelle nur an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Nach dem Irakkrieg wurden in Abu Ghraib Kriegsgefangene kaserniert, die unter dem Verdacht standen, Terroristen zu sein. 105 US-amerikanische Soldaten und Soldatinnen folterten und demütigten die Gefangenen. Davon machten sie selbst Fotos mit Digital‐ kameras. Diese Bilder gelangten schnell an die Öffentlichkeit, waren (und sind) global im World Wide Web zu finden und wurden vielfach kommentiert. Bis dato gelten viele dieser Fotos als Sinnbilder für die Perversion, die mit der Politik der USA nach 9/ 11 einhergeht und sie zeigen, wie der vermeintliche Bewahrer der Werte einer freien Welt selbst zutiefst gegen seine eigenen moralischen Standards verstößt. Eines der bekanntesten Bilder ist in diesem Zusammenhang wohl das, auf dem der sogenannte ‚Kapuzenmann‘ abgebildet ist (vgl. Abb. 3.16). Auf dem Foto ist dieser auf einem Pappkarton zu sehen, die Hände von sich gestreckt, sein Gesicht mit einer schwarzen Kapuze verdeckt. Arme und Geschlechtsteil wurden dem Gefangenen mit Kabeln umwickelt. Daraufhin warnte man ihn, falle er von dem Karton herunter, würden ihn 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 75 <?page no="76"?> der durch die Kabel geleitete Strom töten. Währenddessen wurde in den Raum Wasser eingelassen. Das leise Rauschen war für den ‚Kapuzenmann‘ nur zu hören. Zwar wurde dem Gefangenen diese lebensbedrohende Anordnung nur vorgegaukelt - die Kabel standen nicht unter Strom -, nichtsdestotrotz geht es hier sehr deutlich um massive Einschüchterung und Erzeugung von Todesangst. Abb. 3.16 Abb. 3.16: Das Bild vom ‚Kapuzenmann‘ als autonomes Bildfahrzeug im digitalen Zeitalter globaler Bildwanderungen Das Bild des Kapuzenmannes lässt sich bestens mit dem Konzept des autonomen Bildfahrzeuges beschreiben. Eine digitale Fotografie, aufgenommen im Irak, wandert zunächst nach Nordamerika und Europa, wo sie in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt und in diversen Magazinen und Zeitungen reproduziert wird, meist mit ankla‐ genden Titeln und Kommentaren. Dabei wird das Bild allmählich zum Sinnbild des Folterskandals im Irak und damit als Medienikone weltberühmt [↓ Medienikonen]. Im Iran z. B. wird das Bild im Zuge dieser Entwicklung aufgegriffen, vergrößert und als visuelle Anklage der US-amerikanischen Politik und Ideologie an eine Wand im Stadtzentrum Teherans öffentlich ausgestellt. Eine Fotografie von dieser Wand findet wiederum Eingang in eine in den USA ansässigen Zeitung, die Foto samt Artikel im World Wide Web kostenlos zur Verfügung stellt. All diese Abbildungen wandern wiederum in ein Einführungsbändchen zur politischen Medienikonografie, das von einem Verlag in München herausgegeben wird und nunmehr bei Ihnen zuhause, in der Bibliothek, auf der Wiese als materielles Buch aufgeschlagen ist oder als E-Book auf ihrem Display erscheint (natürlich bereits mit vielen Markierungen und Notizen versehen). 76 3 Politische Ikonografie <?page no="77"?> 106 Vgl. dazu knapp: Gerhard Paul, Der ‚Kapuzenmann‘. Eine globale Ikone des beginnenden 21. Jahr‐ hunderts, in: ders. (Hg.), Bilder, die Geschichte schrieben, S.-276-282. 107 Vgl.: Henry Jenkins, Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York/ London 2006, S.-1ff. Diese transnationale und transkontinentale Zirkulation ist durch ein Bildfahrzeug oder genauer durch mehrere Bildfahrzeuge möglich, die erstens ausgehend von der digitalen Fotografie und der digitalen Vernetzung extrem mobil sind (vgl. noch einmal Abb. 3.16). Zweitens eignet sich die Darstellung der Fotografie motivisch und formal, durch ihre Reduktion auf bestimmte Elemente, Kapuze über dem Kopf, ausgestreckte Hände zur Reproduktion mit schnellem Wiedererkennungswert. Drittens - und hier lässt sich der räumliche Aspekt der autonomen Bildfahrzeuge mit dem zeitlichen der Pathosformeln verknüpfen - ist dem Bild, ob beabsichtigt oder nicht, eine ikonische Motivtradition eingeschrieben oder genauer: Das Bild wird in weiten Teil der Welt in einer solchen Tradition gebracht, nämlich in die der christlichen Kreuzigungsszene. 106 Damit ist einerseits das Leid des Gefangenen als Opfer klar zu bestimmen, mitsamt vielfältiger Konnotationen, anderseits wird durch die bekannte, hochgradig konven‐ tionalisierte Motivtradition das Bild lesbar gemacht. Solche Christusdarstellungen nehmen ihren Ausgangspunkt wiederum in Europa (vgl. ein letztes Mal Abb. 3.16), womit eine raum-zeitliche Bildwanderung zu konstatieren ist, die an keinen Länder-, Kontinenten-, Kultur- oder Stil- und Epochengrenzen Halt macht. Dass es dabei immer auch um hochpolitische Instrumentalisierungen des Bildes vom Kapuzenmann geht, wenngleich diese sehr unterschiedlich ausfallen können, dürfte evident sein. Wichtiger ist hier festzuhalten: Gerade zum Verständnis gegenwärtiger Bildwanderungsphäno‐ mene, auch und insbesondere im Zusammenhang des Wechselspiels von Bildvehikel und Bildobjekt, ist Warburgs Konzept eines autonomen Bildfahrzeugs ein geeignetes Instrument zur Analyse. Das gilt umso mehr, wenn man an der Medialität und der Dynamik politischer Bilder in Zeiten digitaler Globalisierung interessiert ist. Globale Bildkultur 2: Bert & Osama bin Laden Henry Jenkins verweist in seinem Buch Convergence Culture einleitend auf eine sehr spezielle Form der Bildwanderung, die trotz oder vielmehr gerade aufgrund ihrer verqueren Wege signifikant sein soll für das, was Jenkins mit dem Aufkommen digitaler Medien als Konvergenzkultur bezeichnet, also als eine Kultur, in der Medien (etwa Fernsehen und Kino), Rollen (wie etwa Produzent und Konsument) sowie Akteure (beispielsweise Betreiber: innen von digitalen Plattformen, Angestellte, Fans) mehr und mehr vernetzt sind und sich annähern, ineinandergreifen, die jeweiligen Positionen fluide zu besetzen sind. Jenkins erzählt zum Auftakt seiner Monografie von einer ungewöhnlichen Zusammenkunft. Bert aus der Sesamstraße und der damalige al-Kaida-Führer Osama bin Laden sind auf einem Bild vereint (vgl. Abb. 3.17a). 107 Der High School-Student Dino Ignacio setzte mit Hilfe von Photoshop vorgefundenes Bildmaterial aus dem Internet die Handpuppe Bert mit Abbildungen unterschiedlicher, 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 77 <?page no="78"?> 108 Zu finden ist diese Website noch im Internetarchiv Waybackmachine, Online abrufbar unter: htt p: / / www.funkatron.com/ bert/ bert.htm [17.09.21]. Vgl. dazu auch: Hubert Erb, Obamas Marionette [12.10.01], in: Telepolis, Online abrufbar unter: https: / / www.heise.de/ tp/ features/ Osamas-Marionet te-3453002.html [17.09.21]. 109 Vgl.: ebd. real existierender Figuren, wie Hitler oder eben Osama bin Laden, zusammen. Unter dem Titel Bert is Evil veröffentlichte er dann auf seiner Website eine Reihe dieser Fotocollagen. 108 Ein in Bangladesch ansässiger Verleger suchte wenig später im Internet nach Bildvorlagen, die als Grundlage für T-Shirts und Poster mit dem Porträt Osama bin Ladens dienen könnten. Fündig wurde er unter anderem auf der Website von Dino Ignacio. So wurde das Bild, das Bert und Osama bin Laden zeigt, Teil einer Fotocollage mit Bildern des Terroristenführers, die mit großer Auflage in diversen Ländern des Mittleren Ostens in Umlauf gebracht wurde. Als Poster-Collage waren die Porträts von bin Laden unter anderem Teil einer Anti-Amerika-Demonstration in Dhaka, die wiederum, Jenkins zufolge, von einem Reporter gefilmt und auf dem Fernsehsender CNN zur Ausstrahlung kam oder, wie andere Quellen berichten, aufgenommen wurde durch Pressefotografen von Reuters und AP. 109 Ob nun gefilmt oder fotografiert, jedenfalls wurden im Anschluss daran die Bilder von diesen Demonstrationen auf Internetportale wie Yahoo hochgeladen und ‚gingen viral‘ (vgl. Abb. 3.17b). Dadurch kam die überraschende Kombination einer Handpuppe aus dem Kinderfernsehen und einem der damals meistgesuchten Terroristen der Welt wieder zurück in die ‚westliche‘ (Medien-)Hemisphäre. Nachdem bekannt geworden war, dass sich auf diesem Poster Osama bin Laden mitsamt Bert findet, zirkulierten im Internet etliche Memes [↓ Kap. 4, Memes], die aus den Anti-Amerika-Demonstrationen Sympathiebekundungen für Bert aus der Sesamstraße machten (vgl. Abb. 3.17c). Abb. 3.17a-c: Globale Konvergenz von Bert und Osama bin Laden Es geht Jenkins mit diesem Beispiel nicht darum, zu zeigen, dass man den Bildern heute nicht mehr trauen kann. Vielmehr interessiert ihn die spezifische Art und Weise der Vernetzung in einer Konvergenzkultur. Und diese Vernetzung geht eben nicht nur damit einher, dass über bestimmte Ereignisse global berichtet wird oder 78 3 Politische Ikonografie <?page no="79"?> die Wanderung eines Bildes stattfindet, das an je unterschiedlichen Orten politisch kommentiert wird, worauf wieder mit politischen Kommentaren und Darstellungen reagiert wird, wie am Beispiel des ‚Kapuzenmanns‘ beschrieben. In Jenkins Fall handelt es sich auf den Protesttafeln im Gegensatz dazu um eine zufällige, unbeabsichtigte Aufnahme der Verbindung von Bert und bin Laden, die dann wiederum als Kuriosum in Memes zugespitzt und ironisiert wurde. Solch eine zufällige Verknüpfung, die aufgegriffen und zugespitzt wird in weiteren Bildern, ist genau besehen ein noch besseres Beispiel für automobile Bildfahrzeuge als der ‚Kapuzenmann‘. Denn hier werden Bilder transportiert und damit Effekte gezeitigt, die von den Akteuren, wie in dem Fall dem Verleger aus Bangladesch oder Dino Ignacio, nicht beabsichtigt waren. Die Bilder haben sich in solchen Fällen unabhängig von den Ideen ihrer Produzenten und den Zwischenhändlern ‚autonom‘ weiterbewegt und mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Solch eine Art von Bewegung ist auch für dezidiert politische Bilder relevant. Denn es geht eben nicht nur um Bilder, die als politische Kommentare oder Agitationen eingesetzt werden oder politische Inhalte transportieren sollen, sondern ebenso um solche, die im Lauf der Bildwanderung zu solchen erst werden oder neu und anders, in völlig unerwarteter Weise eine Politisierung erfahren können. Dass hierbei die mediale Infrastruktur eine entscheidende Rolle spielt, zeigt das Beispiel Jenkins in einer besonders anschaulichen Weise, ist aber bereits im Konzept der automobilen Fahrzeuge Warburgs angelegt [↓ Kap. 4, Infrastruktur]. Die diachrone Dimension politischer Ikonografie: Wider die lineare Zeit! Es wurde bereits im vorhergehenden Kapitel darauf hingewiesen, dass Ikonografie immer auch und insbesondere die historische Dimension im Blick hat, ja vor allem auf Motivtraditionen fokussiert ist. Anhand der Ausführungen zu Warburgs Konzepten der Pathosformel, des Schlagbildes sowie zum Bildfahrzeug wurde diese historische Dimension mal mehr, mal weniger explizit mitbedacht. Alle drei Konzepte beinhalten eine diachrone Ebene, die für eine Analyse aus Perspektive politischer Ikonografie äußerst relevant ist. Was die drei Zugriffsweisen vereint, ist, dass ihnen keine Vorstellung einer einfachen, linear voranschreitenden Geschichtsentwicklungen zugrunde liegt. Es geht nicht um ein Konzept, das Zeitalter sich ablösen lässt (Barock folgt auf Renaissance, Neuzeit auf Mittealter usw.), das radikale Zäsuren im Lauf der Zeit setzt (vor und nach der Französischen Revolution, vor und nach der Einführung der Zentralperspektive) und damit das Alte vom Neuen durch ein klares Vorher/ Nach‐ her scheidet. Auch wird keine gradlinige bzw. chronologische Entwicklungslogik von Motiven nachgezeichnet. Vielmehr geht es um spezifische, in gewisser Weise autonome oder, an Warburg angelehnt formuliert, ‚automobile‘ Zeitlichkeiten der Bilder bzw. Bildelemente. 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 79 <?page no="80"?> 110 Bei Warburg heißt es in Ergänzung von Zeitkonzepten evolutionärer bzw. genealogischer Entwick‐ lung, es müsse „gleichzeitig der Versuch gewagt“ werden, „in die Tiefe triebhafter Verflochtenheit des menschlichen Geistes mit der geschichteten Materie hinabzusteigen“ (Warburg, Mnemosyne Einleitung, S. 633). Im Fall von Pathosformeln und Schlagbildern bedeutet das zuvorderst: Sie haben eine a-chronologische Struktur. Als Beispiel lässt sich auf Warburgs Lieblings‐ thema verweisen, nämlich auf die Aufnahme antiker Pathosformeln in der Renais‐ sance. Die Idee ist, dass antike Darstellungsformeln des Affektiven im Mittelalter ‚vergessen‘ wurden und erst sehr viel später wiederkehrten. Warburg selbst spricht in diesem Zusammenhang von Schichtungen, wodurch eine räumliche Metapher verwendet wird, um historische Prozesse zu beschreiben: 110 Antike Pathosformeln gingen demnach verschütt, wurden unter anderen Bildformen ‚begraben‘ und erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt wieder ‚ausgegraben‘ (vgl. die Beispiele in Abb. 3.18). Ein räumliches Konzept wird so zur Beschreibung von zeitlichen Prozessen verwendet bzw. mit diesen verschmolzen. t l Abb. 3.18: Räumliches Schichtenmodell eingelagert in einen linearen Zeitstrahl Es muss sich bei diesem a-chronologischen Modell aber nicht notwendigerweise um eine zyklische Wiederkehr von Bildformen handeln, sondern die Formeln kön‐ nen Aktualisierungen, Modifikationen, ja, wie beschrieben, Inversionen erfahren. Bilder haben so verstanden eine eigene Geschichte, die mit einem chronologischen 80 3 Politische Ikonografie <?page no="81"?> 111 Das bedeutet mitnichten, dass Bilder, Bildwanderungen und Bildentwicklung vollkommen unab‐ hängig von diesen Entwicklungen stattfinden. Systemtheoretisch ließe sich vielmehr formulieren: Die Bildfahrzeuge erzeugen ein eigenes System von Bildern, das wiederum durch die Umwelt, etwa ökonomische Prozesse, technische Entwicklungen oder politische Veränderungen irritiert werden kann; diese Irritationen werden aber systemspezifisch verarbeitet und sind nicht einfach mono-kausale verursachte Effekte bildexterner Faktoren. 112 Vgl. zu diesen Bildtafeln den großformativen Band: Haus der Kulturen der Welt u. a. (Hg.), Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne. The Original, Stuttgart 2020. Zeitmodell nicht abzubilden ist. Dementsprechend ist auch für Forscher: innnen, die sich mit politischer Ikonografie beschäftigen, die Kenntnis von Bildmotiven, Pathosformeln, die weit in die Geschichte zurückreichen und lange Zeit vergessen wurden und dann wieder auftauchen können, so unentbehrlich. Im Fall der Bildfahrzeuge geht es zwar um einen sehr viel direkteren kausalen Zusammenhang zwischen Bildern, aber - und das ist entscheidend - um einen, der der konkreten Bilderbewegung und nicht etwa übergreifenden historischen Prozessen folgt. Bildfahrzeuge sind insofern nicht nur automobil, als sie Bilder mobil machen und deren Verbreitung nahelegen - mehr noch gilt: Im Nachvoll‐ zug der Bewegungen und Effekte der Bildfahrzeuge lässt sich eine autonome Bildergeschichte nachzeichnen, die eben nicht einfach unter die jeweiligen gesell‐ schaftlichen, politischen oder ökonomischen Entwicklungen zu subsumieren ist. 111 Warburgs politische Ikonografie der Gegenwart Obwohl Warburg sich in großen Teilen seiner Schriften mit Bildphänomenen beschäf‐ tigt, die dem Kunstsektor zuzuordnen sind, geht es ihm bei seinen Untersuchungen auch um Bildphänomene, die sich in der Populärkultur der Gegenwart, der Werbung oder der Sportberichterstattung wiederfinden lassen. Besonders prägnant lässt sich das an seiner Beschäftigung mit Pathosformeln demonstrieren. So hat der Kunstwis‐ senschaftler etwa in seinem sogenannten Mnemosyne-Projekt, das er zu Lebenszeiten nicht mehr abschließen konnte, Bildtafeln erstellt, die auf der zweidimensionalen Fläche Motive und Pathosformeln versammeln, die aus sehr unterschiedlichen Kon‐ texten und Jahrhunderten stammen und in Form von Kopien und fotografischen Reproduktionen diverse Bildartefakte reproduziert sind, etwa Gemälde, Münzen oder Zeitschriftenwerbungen. Diese sind nicht nur a-chronologisch auf der Fläche angeord‐ net, sondern in einer experimentellen Form zueinander ins Verhältnis gesetzt. So wollte Warburg herausfinden, ob sich die aus sehr unterschiedlichen Kontexten und medialen Zusammenhängen stammenden Bilder derselben Pathosformel zuordnen lassen und welche jeweiligen kulturellen Aktualisierungen die Darstellungen dabei erfahren. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür liefert die Bildtafel 77. 112 Hier werden antike Motive und Pathosformeln sowie Bilder der Renaissance mit Werbefotografien und Sportbildern aus Illustrierten der 1920er-Jahren ins Verhältnis zueinander gesetzt 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 81 <?page no="82"?> 113 Vgl. dazu: Roberto Orth/ Axel Heil, Aby Warburg. Bilderatlas Mnemosyne. Das Original, Köln 2021. Dort schreiben die Autoren zu den Tafeln 77-79: „Warburg konfrontiert Artefakte und Kunstwerke aus mehr als zweitausend Jahren mit den Bildfahrzeugen der modernen Medienwelt: Reklame, touristische Prospekte, Briefmarken, Postkarten und Pressefotos.“ (Ebd., S.-54) 114 Margrit Brehm/ Roberto Orth, Tafeln 77 bis 79: Aby Warburgs Zeit: Die 1920er Jahre. Ein Rundgang in vereinfachter Sprache, in: dies., Warburg für Beginner*innen. Einführender Rundgang ab Sprachni‐ veau C1. Online zugänglich: https: / / www.hkw.de/ de/ programm/ projekte/ 2020/ aby_warburg/ vermi ttlung_bilderatlas/ bilderatlas_tafeln_77_79.php [04.09.21]. 115 Warburg, Heidnisch-antike Weissagung, S.-466. 116 Warburg selbst zielt auf noch sehr viel Umfassenderes, möchte er doch letztlich eine „kulturwis‐ senschaftliche Methode“ für eine „kulturwissenschaftliche […] Bildergeschichte“ entwickeln (ebd., S. 485). Insofern kann Warburg als Wegbereiter einer allgemeinen Bildwissenschaft gelten und wird vielerorts auch so verortet. Vgl. dazu sowie zu den medientechnischen Grundlagen von Warburgs Forschungsmethoden: Thomas Hensel, Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde: Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011. (vgl. Abb. 3.19a-b). 113 Motive und Pathosformeln wandern - so die Suggestion der Bildtafel - aus der Kunstsphäre in die massenmedialen Darstellungen der Zeitungen und Zeitschriften und damit in das alltägliche Leben. Im Begleittext einer Ausstellung zum Mnemosyne-Projekt heißt es diesbezüglich pointiert: „Wo die Mänade mit dem Messer ausholte, schwingt nun eine Golfspielerin ihren Schläger in die Höhe. Wo vorher die Nymphe ins Bild rauschte, erscheint auf Tafel 77 nun ein Matrose, der zu Schiffsreisen einlädt. Die Bänder seiner Mütze und der flatternde Kragen sind das neue bewegte Beiwerk.“ 114 Abb. 3.19a-b: Klassische Kunst in der Sportbildberichterstattung und Werbung Darüber hinaus interessiert sich Warburg auch für seine politische Gegenwart. Bei‐ spielsweise gleicht er in seinem Text Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten aus dem Jahr 1920 die Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs mit dem, wie Warburg es selbst zugespitzt formuliert, „Bilderpressefeldzug“ 115 der Reformations‐ zeit ab. Insofern zumindest betreibt einer der Begründer der kunstwissenschaftlichen Ikonografie selbst bereits politische Ikonografie - und zwar eine, die insbesondere zum Verständnis der Bildpolitik der Gegenwart relevant sein soll. 116 Michael Diers schreibt mit Blick auf Warburg dementsprechend: „Die Gegenwart - zur Selbsthistorisierung 82 3 Politische Ikonografie <?page no="83"?> 117 Diers, Schlagbilder, S.-27. 118 Vgl. zur kritischen Diskussion von Warburgs Vermächtnis als Grundlage für methodische Ansätze der Kultur- und Kunstwissenschaft bereits: Carlo Ginzburg, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition [1966], in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S.-83-173. und Kontrolle - reflektiert im historischen Rückspiegel zu betrachten, war eines der Ziele, die Warburg sich […] gesetzt hatte.“ 117 Warburgs Historiografien Trotz all der beeindruckenden kunst- und bildwissenschaftlichen Kompetenz, des ambitionierten Nachvollzugs transkontinentaler Bildwanderungen, der histo‐ rischen Tiefenschichten, die Warburg freilegt, lassen sich doch ganz prinzipiell kritische Frage an Warburgs Konzepte, ja an den Zugriff der politischen Ikonografie generell stellen: Wie genau hat man sich eigentlich den Prozess der Bildübertagung, der Wiederaufnahme von Motiven oder Pathosformeln vorzustellen? Wie bewusst und strategisch muss dies geschehen? Und noch kritischer gefragt: Wie kommt man von ähnlichen oder sogar gleichen Zeichen zu einer plausiblen Erklärung, dass diese auch miteinander zu tun haben außer in ihrer äußerlichen Form? Es scheint doch abwegig zu behaupten, dass ähnliche oder dieselben Motive zu unterschied‐ lichen Zeiten dieselbe oder nur eine ähnliche Bedeutung haben müssen. Mehr noch scheint dieser Zweifel berechtigt bei der Annahme, dass eine Leidensgeste, die beispielsweise auf dem Bild des ‚Kapuzenmannes‘ zu finden ist, zurückgeht auf eine ähnliche Leidensgeste, die sich auf mittelalterlichen Darstellungen der Kreuzigung Christi finden. Ist die politische Ikonografie mit ihrem nahezu zwanghaften Blick zurück auf frühere Bilder und Bildformen eine Art paranoides Konzept, das Zusammenhänge sieht und behauptet, wo es nur Strukturanalogien bzw. zufällige Form- und Motivähnlichkeiten gibt? 118 [↓ Politische Ikonografie als spekulative Unternehmung] An Warburgs Konzept der Pathosformeln lässt sich das am deutlichsten zeigen. Oszilliert dieser doch zwischen zwei Vorstellungen, die nicht miteinander kom‐ patibel zu sein scheinen, nämlich einem morphologisch-strukturalen und einem genealogisch-historischen Ansatz (vgl. Abb. 20). 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 83 <?page no="84"?> 119 Vgl. zu diesem Beispiel und der folgenden Gegenüberstellung zweier inkompatibler Deutungen: Giovanna Targia, ‚Einverseelung‘, ‚Unbewusstes Gedächtnis‘ und Aby Warburgs Mnemosyne, in: Yasuhiro Sakamoto u. a. (Hg.), Bilder als Denkformen. Bildwissenschaftliche Dialoge zwischen Japan und Deutschland, Berlin 2020, S. 43-56. Die Kunsthistorikerin formuliert hinsichtlich der beiden inkompatiblen Ansätze, die bei Warburg angelegt, genauer ineinander verschränkt sind, bündig: „Morphologisches und genealogisches Denken fließen so gleichsam ineinander.“ (Ebd., S.-48) morphologisch-strukturaler Ansatz genealogisch-historischer Ansatz Untersuchung der Formen und Motive, die über die Zeit hinweg stabil bleiben Untersuchung der Formen und Motive, die sich über die Zeit hinweg verändern die Tiefenstruktur der Pathosformeln aktualisiert sich in den kulturspezifischen Oberflächenphänomenen die Tiefenstruktur der Pathosformeln verändert sich im Lauf der Zeit durch die Dynamik der kulturellen Oberflächenphänomene Strukturähnlichkeit der Formen und Motive kausale Verknüpfung der Formen und Motive Abb. 20: Warburgs Oszillation zwischen zwei untereinander inkompatiblen Ansätzen Diese zwei Ausrichtungen lassen sich an Warburgs Bildtafeln selbst anschaulich machen. Auf Bildtafel 6 des Mnenosyne-Atlas ist zentral eine Reproduktion der bereits weiter vorne beschriebenen antiken Laokoon-Statue gesetzt (vgl. Abb. 21a). Auf Tafel 41a sind viele sehr unterschiedliche Beispiele dieses Motivs versammelt, aber ohne, dass eine Abbildung der Laokoon-Statue dort selbst zu finden ist (vgl. Abb. 21b). 119 t Abb. 21a-b: Entweder Laokoon und die Folgen oder der Immergleiche-Laokoon 84 3 Politische Ikonografie <?page no="85"?> 120 Ernst Cassirer, Die ‚Tragödie der Kultur‘ [1942], in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, Hamburg 2011, S.-108-131, hier: S.-122. 121 Zu dieser Sichtweise und zum Folgenden vgl.: Targia, ‚Einverseelung‘. Was bedeutet das nun? Entweder kann es bedeuten, dass das Motiv an anderen Stellen und zu anderen Zeiten wieder zu Tage tritt. So eine Pathosformel unterliegt, wie es der Philosoph Ernst Cassirer mit Blick auf Warburg formuliert, geradezu einem „Beharrungsgesetz“. 120 Sie tritt immer wieder auf und bleibt dabei hinsicht‐ lich Bedeutung und Affektgehalt vergleichsweise stabil über die Zeit hinweg. Das würde einem morphologisch-strukturalen Ansatz entsprechen. Die Anordnung der Tafeln selbst wiederum deutet auf eine Wanderung des Motivs aus der griechischen Antike in die Renaissance, wo das Laokoon-Motiv wieder aufgegriffen, variiert, modifiziert wird und damit eine Entwicklung durchmacht, die als Herkunfts- und Familiengeschichte von Bildern und Bildmotiven erzählt werden kann. Damit hätten wir es mit einem genealogisch-historischen Konzept zu tun. An dieser Stelle von Warburgs Atlas löst der Kunsthistoriker und -theoretiker diesen Widerspruch nicht auf, sondern lässt diese beiden Möglichkeiten offen und die Interpret: innen können so zwischen beiden Optionen oszillieren. Was als künstlerische Form bzw. genuines Bilddenken durchaus faszinierend ist, ist als Grundlage wissenschaftli‐ cher Analyse unbefriedigend. Auch Diers schöne Beschreibung der Funktion des Warburg’schen Ansatzes, nämlich die Bildtraditionen zur ‚Selbsthistorisierung und Kontrolle‘ der Gegenwart zu nutzen, ist von dieser Kritik betroffen. Nicht nur bleibt an dieser Formulierung unscharf, was denn ‚Selbsthistorisierung‘ und ‚Kontrolle‘ eigentlich sind und warum genau man sie betreiben soll. Viel entscheidender und strukturell tiefgreifender: Es ist in vielen Fällen nicht geklärt, wie die Mechanismen der Bildübertragung und ihres Wiedererscheinens vor sich gehen. Wie so häufig in der Kulturwissenschaft könnte man auch einen ganz anderen Blick auf diese Inkompatibilität werfen. Statt kritisch darauf zu beharren, dass Warburg auf diese Fragen und die ihnen zugrunde liegende Inkompatibilität von morpho‐ logisch-strukturalem und genalogisch-historischem Ansatz keine angemessene Antwort zu geben imstande ist, könnte genau umgekehrt formuliert werden: War‐ burg gibt keine (falschen, widersprüchlichen oder unangemessenen) Antworten, sondern stellt Fragen an uns. In diesem Fall wäre die Frage diejenige, wie und ob die zwei inkompatiblen Ansätze vielleicht doch zu verbinden sein könnten oder auch: ob nicht beide Aspekte zwar inkompatibel, aber zum Verständnis von Bildwanderungen notwendig sind, und wenn ja, wie könnte das gedacht werden. 121 Mit der Kunsthistorikerin Giovanna Targia könnte man noch einen Schritt weiter gehen. Targia legt nicht nur dar, dass der Aufbau von Warburgs Bildatlas immer wieder zwischen morphologischem und genalogischem Ansatz oszilliert, sondern darüber hinaus soll gelten: Erstens passt diese Oszillation zwischen zwei Polen zu 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 85 <?page no="86"?> 122 Ebd. Warburgs prinzipiellem Zugriff auf Bilder, sei es beim Konzept der Pathosformeln, wo Warburg die Affekte zwischen Erregung und Gelassenheit oszillieren lässt, sei es bei den Bildfahrzeugen, deren Wege oft von Umkehrungen belgeitet sind. Aus dieser Perspektive lässt sich die beschriebene Inkompatibilität als eine Polarität beschreiben, die Warburg im Bildatlas durch die Bildanordnung oszillieren lässt. Besonders interessant daran ist, dass Warburg diese Polarität nicht begrifflich beschreibt, sondern eben mittels einer bildlichen Anordnung vorstellig macht. So gewendet ist es vielleicht nicht abwegig zu behaupten, dass Warburgs (Bild-)Werk nicht nur selbst zum Gegenstand einer ikonografischen Untersuchung werden kann, nicht nur ein ikonografischer Ansatz in Bilder inszeniert wird, sondern mehr noch: dass Warburg im und durch den Bildatlas zeigt, wie mit Bildern und durch Bilder zu denken ist. So können Bilder etwas tun und formulieren, das die begrifflich-sprachliche Codierung nicht kann, nämlich gleichzeitig zwei inkompatible Handlungen oder Ideen zur Darstellung bringen [↓ Kap. 4, Ikonik]. Insofern wäre Warburgs Bildatlas ein Denken in Bildern, das über Bilder nachdenkt. Den formulierten Kritikpunkten so wenig wie der Wendung von Warburgs Ansatz zu einem Denken in Bildern soll an dieser Stelle weiter nachgegangen werden [↓ Politische Ikonografie als spekulative Unternehmung]. Stattdessen wird im Folgenden ein Vorschlag zur Ausdifferenzierung diachroner Bildverhältnisse unterbreitet, um so zumindest präziser fassen zu können, wie Rückgriffe auf Bildelemente, die Wiederkehr von Motiven sowie die Wanderschaft von Bildern aussehen und zu denken sein könnten. Politische Ikonografie als Blick zurück nach vorn Der eingangs zitierte Lexikoneintrag zur politischen Ikonografie weist nicht nur auf systematische, synchrone Aspekte der politischen Ikonografie hin, sondern macht besonders auf die historische, diachrone Dimension dieses Zugriffs aufmerksam, heißt es doch dort: „Im Speziellen schließt dies das Aufzeigen von - offensichtlichen oder latenten - inhaltlichen Traditionen, Mustern, Verwandtschaften ein, in denen sich die dargestellten Gegenstände, Aktionen und Ereignisse, Ausdrucksformen, Gesten, Posen, Abzeichen, Symbole usw. verorten lassen.“ 122 Politische Ikonografie fragt also immer auch danach, was man nicht direkt sieht, genauer wie Vergangenes aufgegriffen, angeeignet und/ oder funktionalisiert wird. Sowohl der Lexikon-Eintrag als auch Warburg stellen diese Art des Hineinwirkens der Vergangenheit in die Gegenwart ins Zentrum. Indes werden - zumindest in den mir bekannten Fällen der politischen Ikonografie - nicht systematisch genug die unterschiedlichen Formen historischer Bezugnahmen unterschieden. Das ist insofern misslich, als damit unterschiedliche 86 3 Politische Ikonografie <?page no="87"?> Zugriffsmöglichkeiten auf historische Bildreferenzen, die je nach Interessen, Zielen und Gegenständen anders ausgerichtet sind, strukturell ausgeblendet bleiben. Formen und Zugriffe diachroner Bildverhältnisse Deshalb sollen im Folgenden vier Zugriffsweisen historischer Bildverhältnisse unter‐ schieden und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden (vgl. Abb. 3.22). Gestaffelt sind diese Zugriffe vom Pol der Stabilität hin zu dem der Variabilität. Gemeint ist damit, dass es Zugriffe gibt, die sich insbesondere dafür interessieren, was bei und an Bildern im Lauf der Zeit gleich, also stabil bleibt, und demgegenüber solche Zugriffe, die interessiert, was trotz visueller Ähnlichkeit, Wiederholung oder Verwandtschaft an Bildern variiert, verändert oder transformiert wird. Formen I Zugriffe Muster I Vorlagen Reproduktion, Imitation Serie I Verkettungen Wiederholung/ Variation Tradition I Bezugnahmen Wiederaufnahme, Variation, Inversion Verwandtschaft I Formationen (Un-)Ähnlichkeit, Hybridisierung, Heterogenität Variabilität Stabilität Abb. 3.22: Zugriffe auf Formen diachroner Bildverhältnisse - Muster I Vorlagen Beginnen werde ich mit dem Zugriff, den ich als Mustererkennung bezeichnen möchte. Muster sind Ausgangspunkte und Voraussetzungen für Darstellungen, die möglichst genau reproduziert oder imitiert werden. Hierfür ist auf Warburgs Bildfahrzeuge zu verweisen, vor allem auf solche, denen technische Vervielfältigungslogiken zu Grunde liegen. So gibt es etwa mit dem Siebdruck zum Hope Poster eine materielle Vorlage, die das Poster in großer Stückzahl nahezu identisch reproduzierbar macht (vgl. Abb. 3.23a). Der digitale Code solch eines Musters steigert diesen Effekt noch einmal um ein Vielfaches. Damit ist nicht nur der Code prinzipiell auf allen möglichen Computern abrufbar und durch Vernetzung nahezu beliebig mobilisierbar, wodurch eine hohe Stückzahl von Exemplaren zu produzieren und in Umlauf zu bringen ist. Es ist damit zudem Sorge dafür getragen, dass Muster und/ oder Reproduktionen die Zeit länger überdauern, als wenn es nur wenige oder gar nur ein Exemplar oder überhaupt keine alghoritmische Codierung des Musters gibt. Darüber hinaus dürfte durch eine erfolgreiche Verbreitung via digitaler Vernetzung die Wahrscheinlichkeit erheblich erhöht werden, dass ein Bild in das populärkulturelle Gedächtnis aufgenommen wird und dementsprechend selbst wieder Ausgangspunkt für Imitationen und Referenzen darstellt. 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 87 <?page no="88"?> 123 Vgl. zur Bestimmung und zu Facetten des Seriellen einführend: Simon Rotköhler, Theorien der Serie zur Einführung, Hamburg 2020. Abb. 3.23a-b: Reproduktionen und Variationen des Hope Poster - Serie I Verkettungen Solche Reproduktionsvorlagen können, gerade in digitaler Form, benutzt werden, um sie mit anderen Elementen zu koppeln und dementsprechende Variationen zu erstellen. So gibt es das visuelle Muster Hope Poster beispielsweise in Variationen mit unterschiedlichen Beschriftungen, was das Ganze zur Serie macht (vgl. Abb. 3.23b), lässt sich eine solche doch durch Wiederholung bestimmter Elemente und Variation anderer Elemente charakterisieren. Serien sind somit diachron betrachtet einerseits Formen, die Muster zu Strukturen über die Zeit hinweg stabilisieren. Anderseits sind sie immer auch Mittel der Strukturvariation, da neue Elemente hinzukommen oder etablierte variiert werden. 123 Auch hier kann das Hope Poster als Beispiel fungieren, vor allem in seinen Meme-Variationen, die sich schnell im Netz etablierten. Dabei werden Formen und Motive des Hope Poster aufgegriffen und variiert (vgl. Abb. 3.24). 88 3 Politische Ikonografie <?page no="89"?> 124 Vgl. zu dieser Fotografie: Paul, Das Mädchen Kim Phúc. Abb. 3.24: Memetische Serialisierung des Hope Poster Hieran lässt sich beispielsweise verfolgen, wie welche Variationen sich zeitlich entwi‐ ckelt haben und auf welche Personen sie dabei gewendet werden, welche Phrasen zum Einsatz kommen, welche Farbveränderungen vorgenommen werden usw. Mit anderen Worten: So lassen sich die Verkettungen der einzelnen Darstellungen temporal nachzeichnen. Die Kopplung eines Muster-Elements, das als Stabilisierung fungiert, mit Elementen hoher Variation findet sich beispielsweise bei der Verwendung des sogenannten ‚Napalm-Mädchen‘, einem Bildelement, das aus einer Fotografie stammt, die wie kaum eine andere bis dato für die Schrecken des Vietnam-Kriegs und die damit verbundenen Gräueltaten des US-amerikanischen Militärs steht (unter anderem warfen die USA dort Napalm-Bomben ab). 124 Hier geht es, im Gegensatz zum Hope Poster, nicht um Varia‐ tionen, die auf ein Vorgänger-Bild referiert, sondern darum, dass ein standardisiertes Motiv für die Schrecken des Vietnam-Krieg in unterschiedliche Kontexte gestellt wird, also aus dem ursprünglichen Bildzusammenhang herausgelöst ist (vgl. Abb. 3.25a-d), um die dort mit dem ‚Napalm-Mädchen‘ verschränkten Abbildungen von Ereignissen und Akteuren in einer spezifischen Weise zu kommentieren. 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 89 <?page no="90"?> Abb. 3.25a-d: Das ‚Napalm-Mädchen‘ als Verkettungs-Motiv in unterschiedlichen Kontexten Jedes Mal steht bei den ausgewählten Bildern das ‚Napalm-Mädchen‘ im Zentrum, darum herum gruppiert sind einmal Ronald McDonald und Mickey Mouse als Inbegriffe des American Way of Life, einmal der Einsturz der Twin Towers in New York, drittens der ‚Kapuzenmann‘ aus Abu Ghraib. Im letzten Fall handelt es sich um einen US-ame‐ rikanischen Sportler, der als erster über die Ziellinie sprintet. So unterschiedlich die Bildmotive auch sein mögen, so ist doch deutlich, dass es in all den abgebildeten Fällen um Kommentare zur US-amerikanischen Politik oder die damit assoziierten Ideologie geht. Ausgangspunkt ist jedes Mal das ‚Napalm-Mädchen‘ als Symbol gescheiterter und pervertierter US-amerikanischer Bestrebungen im Vietnam-Krieg. Gekoppelt wird dies Motiv mit weiteren Perversionen, die Folterungen in Abu Ghraib, als Konsequenz geopolitischer Interventionen der Imperialmacht USA, als Kritik am Konsumismus der USA oder schlicht als Ausweis der Arroganz und dem Ziel, immer erster sein zu wollen. Wichtig ist daran, dass diese Art serieller Verkettung sich sowohl dem redundanten Anteil zuwenden kann und somit danach gefahndet wird, wo dasselbe Muster überall ausfindig zu machen ist und wie es sich als Muster etablieren konnte, als auch den Variationsanteilen, die danach befragt werden können, welche Kontexte und Ereignisse in Zusammenhang mit dem ‚Napalm-Mädchen‘ gebracht werden. Die Bildsymbole, die auf politische Ereignisse oder ideologische Figurationen referieren - und zwar durch symbolisch verdichtete Bilder (Einsturz der Twin Towers, der ‚Kapuzenmann‘, Ronald McDonald, Mickey Mouse), die einen ähnlichen medienikonischen Status haben, wie das ‚Napalm-Mädchen‘ [↓ Medienikonen] und in Verschränkung mit dieser Darstellung etwas ausbilden, das der Fotografiehistoriker Clément Chéroux Interikonizität nennt [↓ Interikonizität] - werden auffällig häufig zur politischen Kommentierung oder Agitation eingesetzt. Somit lassen sich zunächst zwei Arten von Serien unterscheiden, nämlich (1) Serien, deren Exemplare auf vorhergehende Exemplare der Serie referieren und diese variieren und (2) Serien, die vorhergehende (Muster-)Merkmale der Serie reproduzieren und mit anderen Merkmalen koppeln. Davon sind wiederum Serien zu differenzieren, die (3) im Laufe der Serie das Verhältnis von Wiederholung und Variation transformieren. Ein Beispiel dafür lässt sich wieder ausgehend vom ‚Napalm-Mädchen‘ veranschaulichen. 90 3 Politische Ikonografie <?page no="91"?> 125 Zum historischen Hintergrund dieses Konflikts knapp: Saran Kaur Gill, Language Policy Challenges in Multi-Ethnic Malaysia, Dordrecht u.-a. 2014, S.-92ff. Denn es finden sich nicht nur Muster-Wiederholungen mit Variationen, sondern auch Substitutionen des Mädchens durch ein anderes Objekt, etwa einen Frosch auf einem Einrad (vgl. Abb. 3.26a). Ebenso lassen sich Bilder finden, die den Fokus von dem Mädchen zu einem Jungen auf der Ursprungsfotografie verschieben und mit Beschrif‐ tungen verbinden und/ oder neue Akteur: innen integrieren, die das Bild in einen neuen Kontext stellen. So wird in einem dieser Bilder der Junge mit Dong Zong verbunden (vgl. Abb. 3.26b). Dong Zong ist die Bezeichnung für die Vereinigung Chinesischer Schulkomitees, die unter anderem zuständig ist für die Überwachung des Schulsystems in Malaysia. Dort gab es Bestrebungen, das sogenannten Jawi-Schreibsystem als Unterrichtsfach einzuführen. Dies ist ein Schreibsystem, das es möglich macht, die malaysische Sprache zu transkribieren. Der Konflikt, um den es dabei ging, war, ob dieses System eingeführt werden darf oder nicht, weil die chinesische Regierung befürchtete, dass die Akzeptanz dieses Schriftsystems den Autonomiebestrebungen Malaysiens und letztlich der Islamisierung des Landes Vorschub leisten könnte. 125 Abb. 3.26a-b: Transformation des Bildmotivs Entscheidend ist hier weniger diese politische Wendung oder die Veralberungstendenz mit dem Frosch auf dem Fahrrad anstelle des ‚Napalm-Mädchens‘. Wichtiger ist der damit verbundene Transformationsprozess der Bildervorlage, der die basalen Muster‐ 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 91 <?page no="92"?> elemente verändert. Solche Prozesse sind insbesondere für die Analyse evolutionärer Prozesse der Schema- und Musterveränderungen von Interesse. Eine vierte Variante bilden Serien, die invertierende Elemente beinhalten. Mit Warburg, vor allem im Hinblick auf sein Konzept automobiler Bildfahrzeuge, lassen sich solche Umkehrungen als Teil serieller Prozesse bestimmen. Genau dann liegt so ein Fall vor, wenn sich zeigen lässt, dass auf ein Vorbild Bezug genommen, ein Bild ins Verhältnis dazu gesetzt - und damit durch Inversion zum Teil der Serie wird. Abb. 3.27a-b: Inversion als serielle Operation Ein sehr anschauliches Beispiel aus der Populärkultur liefert die Coverdarstellung für ein Lied der Indie-Rockband Band Franz Ferdinand (vgl. Abb. 3.27b), das 2016 veröf‐ fentlicht wurde. Durch grafischen Stil, Farbgebung, Beschriftung und Wahl des Motives wird deutlich auf das Hope Poster als Vorläufer referiert (Abb. 3.27a). Die Bezugnahme ist in diesem Fall als eine Umkehrung zu interpretieren. Für diese Auffassung gibt es viele meines Erachtens schlagende Argumente. Erstens: Augenscheinlich handelt es sich um das Gesicht von Donald Trump, das - genau im Gegensatz zu Obamas Porträt - nach unten weist. Der Mund ist zweitens weit geöffnet zum Schrei, wiederum in Gegensatz zu Obamas geschlossenem Mund. Drittens ist die Beschriftung über dem Halbgesicht angebracht und nicht wie bei Obama unterhalb des Porträts. Viertens: Auch die Semantik des gewählten Begriffs geht in eine Richtung, welche der des Hope Poster gegenläufig ist - ist es im letzteren Fall noch der Slogan „Hope“, so ist es im Fall 92 3 Politische Ikonografie <?page no="93"?> des Musikcovers „Demagogue“. Mit einem Demagogen ist das Gegenteil von Hoffnung verbunden. Die Differenzen lassen sich fünftens bis in die grafischen Formen hinein verfolgen. Ist das Hope Poster dominiert von weichen Rundungen, sind es bei Trump harte diagonale Linien, die nach unten führen. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass serielle Bezüge auf vorhergehende Darstellungen eben nicht nur durch imitative Anverwandlung stattfinden können, sondern ebenso durch Inversionen (vgl. Abb. 3.28). [↓ Kap. 4, Serielle Nachahmung] Serie I Verkettungen (1) Variierende Wiederholung Perspektive auf das, was gleich bleibt Perspektive auf das, was variiert wird (2) Reproduktion einzelner Elemente und Kopplung mit anderen Elementen Perspektive auf das, was mit Ausgangsmaterial verbunden wird (3) Transformation des Strukturprinzips von Wiederholung und Variation Perspektive auf das, was sich im Verlauf wandelt (4) Variation als Inversion Perspektive auf das, was als Gegensatz Teil der Serie wird Abb. 3.28: Serientypen und unterschiedliche Frageinteressen - Tradition I Bezugnahmen In der klassischen politischen Ikonografie steht die Suche nach Motiv- und Formtradi‐ tionen im Zentrum. Diese können als Wiederholungen gängiger oder auch vergessener Bildmotive und Formen in Erscheinung treten, als Variationen eines Bildmotivs oder auch als Inversionen von Bildmustern. Der Unterschied zur Serie besteht erstens darin, dass die zeitliche Dimension eine andere ist. Traditionen können über Jahrhunderte hinweg Strukturen ausbilden, an die Darstellungen anschließen. Sie können auch vergessen und irgendwann wieder erinnert und aktualisiert werden. Traditionen bilden Strukturen, bei denen es zumeist nicht mehr um die Referenz auf einzelne Bilder oder Bildverkettungen geht, wie bei einer Serie, sondern um universalisierte Motive- oder Formbestände, die hochgradig variabel sind. Dafür wurden weiter vorne bereits etliche Bilder benannt, die so funktionieren, sei es Willi Brandts Kniefall, bei dem das Büßer- und Demutsmotiv aufgegriffen wird, das mindestens bis ins Mittelalter reicht, sei es der ‚Kapuzenmann‘, der vor dem Hin‐ tergrund von Gekreuzigten-Darstellungen gelesen wurde. Mit den beiden Beispielen ist auch eine zeitliche Dimension mitformuliert: Sie können sehr weit zurückreichen, stabilisieren sich häufig über Jahrhunderte oder können - wie am Beispiel der 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 93 <?page no="94"?> 126 Werner Bies, Rezension zu Michael Diers: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, in: MEDIENwissenschaft. Rezensionen I Reviews, 3 (1998), S.-295-297, hier: S.-296. Wasserträgerin von Warburg gezeigt [↑ Pathosformel] - nach Jahrhunderten wieder in Erscheinung treten. Bilder, die in bestimmten Bildtraditionen stehen, sieht man meist ihre historischen Bezugnahmen nicht unmittelbar an. Genau deshalb scheint es nicht verwunderlich, dass sich Ikonografinnen besonders dafür interessieren. Im Gegensatz zu Mustern und Serien sind diese sehr viel verborgener, zeitlich häufig sehr weit auseinanderliegend und benötigen somit einen vergleichsweise hohen interpretativen Aufwand, was zum einen die Aufgabe der Ikonografie als Finde- und Archäologiekunst nobilitiert. Zum anderen sind diese Deutungen sehr spekulativ und die Mechanismen der Bildübertragung und -wanderung häufig dunkel, was wiederum das Nachdenken über geeignete Zugriffe auf Bilder stimuliert wie auch die Kritik an der (politischen) Ikonografie befeuert. Politische Ikonografie als spekulative Unternehmung jenseits von Absich‐ ten In einer ansonsten sehr wohlwollenden Rezension zu Michael Diers Buch Schlag‐ bilder wird in einem kurzen Abschnitt zur Herangehensweise der politischen Ikonografie kritisch formuliert: „[D]och droht durch eine allzu raffinierte Herme‐ neutik […] nicht auch die Gefahr einer ikonographischen Überterminierung? Sind es nicht gelegentlich doch weniger die Zeichenregisseure in Politik und Werbung, die auf die Bildvorräte der Kunst zurückgreifen, als vielmehr die zeichendeutenden, kunsthistorisch versierten Interpreten, die die Bilder auslegen, entziffern und enträtseln? “ 126 Selbst wenn dies zuträfe - was es meines Erachtens in den meisten Fällen nicht tut - scheint mir die Frage bereits falsch gestellt und verkennt das, auf was politische (Medien-)Ikonografie abzielt oder zumindest abzielen sollte. Dass die politische Ikonografie in vielen Fällen hochgradig spekulativ vorgeht, scheint mir in der Tat ein Charakteristikum dieser Forschungsrichtung zu sein, was aber nicht prinzipiell als Problem verstanden werden muss. Einerseits liegt das in der Sache des diachronen Interpretationszugriffs selbst begründet. Ander‐ seits versteht die politische Ikonografie genau dadurch viele interessante und ungewöhnliche Zusammenhänge herzustellen, die nicht nur das zu untersuchen erlauben, was Produzent: innen von Bildern bewusst und strategisch einsetzen, sondern auch und gerade das, was diesen selbst nicht bewusst ist, intuitiv oder aufgrund von Automatismen zum Einsatz kommt und/ oder Wirkungen zeitigt, die nicht beabsichtigt waren. Das macht solche Untersuchungen meines Erachtens überhaupt erst wirklich interessant. Denn damit wird immer schon mehr in den Blick genommen als der bewusst strategisch gesetzte Appell in einem einzelnen Bild oder einer Bilderkampagne - und also Interpretationen vorgelegt, die über die vermeintlichen Intentionen der Akteure hinausgehen. 94 3 Politische Ikonografie <?page no="95"?> Zwar soll hier, wie in Kapitel 2 dargelegt, Politik begrenzt werden auf strategisches Handeln [↑ Kapitel 2, Politik]. Politische Bilder können dementsprechend im engeren Sinne nur solche sein, die strategische Kommunikationsappelle beinhal‐ ten, also bewusst gesetzt sind. Dass die politische (Medien-)Ikonografie sich aber in besonderem Maße für Phänomene jenseits solcher bewussten, strategisch gesetzten Appelle interessiert, braucht kein Widerspruch zu dieser Bestimmung des Politischen zu sein, geht es doch in der politischen Ikonografie auch um Bedingungen, Kontexte, tradierte Automatismen und Wirkungen politischer Bilder jenseits des strategischen politischen Handelns, das den jeweiligen Bildern zu Grunde liegt. Im Idealfall greifen in den spekulativen Interpretationen politischer Ikonografie Beobachtungen zu dezidiert politischen Strategien und dem, was hinter dem ‚Rücken‘ der politisch Agierenden deren Aktionen ausrichten sowie die Rezeption ihrer bildlichen Artikulationen mitbestimmen, ineinander. Um exemplarisch nur eine besonders spekulative Bezugnahme an dieser Stelle anzu‐ führen, sei noch einmal auf die Fotografie eingegangen, die nicht nur ‚Hillarys Hand‘ zeigt, sondern auch Obama. Hier findet - so die hier zu Grunde gelegte Annahme - eine Inversion ikonischer Traditionsdarstellungen von Führertypen statt. Auf diesem Bild ist nicht nur die damalige Außenministerin und Vizepräsidenten Hillary Clinton abgebildet, sondern auch der frühere Präsident Obama. Gemeinsam mit weiteren Mitgliedern der damaligen US-amerikanischen Regierung und Militärs verfolgen sie die Liquidierung von Osama Bin Laden via Live-Stream im Situation Room (vgl. Abb. 3.28b). Dieses Bild wurde - gemeinsam mit acht weiteren - von der Presseabteilung des Weißen Hauses freigegeben und mittels der Bildplattform Flickr in Umlauf gebracht. Seitens des Presseabteilung wurde sich also bewusst dafür entschieden, genau diese Fotos zu veröffentlichen, um ein Bild von der Rezeption der Tötung von Osama bin Laden zu vermitteln - und nicht andere. Da hier nachvollziehbarerweise eine Zensur erfolgt und die beteiligten Akteur: innen, allein schon aufgrund ihrer Profession, darüber nachdenken, was wie in die Öffentlichkeit gelangen soll, kann von einem durchaus strategisch kalkulierten politischen Appell ausgegangen werden: eben ein bestimmtes Bild des Umgangs mit dem Terror während Obamas Präsidentschaft der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dabei ging es meines Erachtens nicht darum, die Hand der damaligen Außenmi‐ nisterin in den Fokus zu rücken, wie es später in der Rezeption dann geschah, sondern vielmehr darum, ein bestimmtes Bild des Präsidenten zu vermitteln. Schon diese Rezeption des Bildes zeugt deutlich davon, dass die politische Wirkung dieses politischen Bildes eine ganz andere war als beabsichtigt. 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 95 <?page no="96"?> Inversion Abb. 3.29a-b: Zwei Bilder der Terrorbekämpfung: Bush vs. Obama Doch zurück zur Inversion: Dieses Bild stellt eine Umkehrung der Bildmotivik dar, derer sich Obamas direkter Amtsvorgänger, nämlich Georg W. Bush, häufig bediente, insbesondere im Kampf gegen den Terrorismus, der unter seiner Regierung nach 9/ 11 martialisch geführt und bebildert wurde. Um dafür nur ein bis dato populäres Beispiel zu nennen: Ein Bild wurde in Umlauf gebracht, das Bush in Pilotenmontur auf einem US-amerikanischen Flugzeugträger zeigt (vgl. Abb. 3.28a). Der damalige Präsident verkündete dort unter dem Signum „Mission accomplished“ den erfolgreichen Kriegs‐ zug gegen den Irak, der aufgrund der Terroranschläge am 11. November 2001 in den USA geführt wurde. Wir sehen hier im Bildzentrum einen entschlossenen ‚Herrscher‘, der mit einer Zeigegeste seinen Gefolgsleuten den Weg weist. Dies entspricht der Motivtradition eines Herrschaftsbildes bis hinein in die Pathosformel einer nach vorne gerichteten Zeigegeste und referiert unmittelbar auf die Darstellung einer Rede ‚an die Welt‘, die der US-amerikanische Präsident im Spielfilm Independence Day hält, kurz bevor er den Angriff auf die Alien-Bedrohung anführen wird. Obama ist im Gegensatz dazu kein Handelnder, sondern jemand der mit anderen gemeinsam und in Zivil die Übertragung der Exekution von Osama Bin Laden verfolgt. Er ist im Gegensatz zu Bush in den Bildhintergrund gerückt; die anderen Personen auf dem Bild schauen nicht zu ihm hin, sind auch nicht hinter im gruppiert, sondern vor ihm. Auch die aktive nach vorne zielende Geste Bushs findet sich nicht; Obama hat die Hände in den Schoß gelegt und schaut konzentriert, während Bush gerade Anweisungen zu geben scheint. Damit sind nicht nur sehr unterschiedliche Präsident‐ schaftstypen in Szene gesetzt, sondern Obamas Darstellung geradezu diametral zu der Bushs gesetzt - und zwar auf vielen Ebenen: Handelnder Held vs. konzentrierter Beobachter; zentraler Akteur, der vor Ort selbst handelt vs. Akteur im Kollektiv, der wohl auch Anweisungen gibt, aber deren Ausführung aus der Ferne beobachtet; der eine im Bildzentrum, der andere am Rand, der eine sprechend, der andere schweigend; der eine in militärischer Kleidung, der andere in Zivil; der eine vor Ort auf dem Flugzeugträger im Meer, der andere drinnen im Lagebesprechungsraum des Weißen Hauses. Vor diesem Hintergrund scheint es zwar notgedrungen spekulativ, weil keine direkte Bezugnahme auf der Fotografie zu finden ist, dennoch nicht allzu kühn, die 96 3 Politische Ikonografie <?page no="97"?> 127 Übersetzung vom Verf.; SG. Darstellung Obamas im Situation Room als Inversion der Tradition im Sinne Warburgs zu interpretieren, die bei Bush aufgegriffen und stabilisiert wird, ist es doch ein motivisch und formal verdichtetes Sinnbild für einen ‚anderen‘ Umgang mit dem Terrorismus. Ob es sich hier tatsächlich strategisch bewusst um eine historische Bezugnahme handelt, ist insofern spekulativ, als es bildintern keine direkten Bezugnahmen gibt - im Gegensatz zur Inszenierung von Bush, bei der die Referenz zum Film Independence Day klar auszuweisen ist. Das Situation Room-Bild kann hingegen nur ex negativo als Bezugnahme auf die Bildinszenierungen des Vorgängerpräsidenten gedeutet werden. Jedenfalls geht es bei dieser Deutung erstens um nicht unmittelbar sichtbare Referen‐ zen; diese müssen dementsprechend sehr viel spekulativer sein als bei unmittelbar oder doch sehr einfach auszuweisenden sichtbaren Referenzen. Zweitens: Sind die Referen‐ zen nicht unmittelbar sichtbar, ist auch die Frage nach den strategischen Absichten der Bildproduzent: innen schwierig zu beantworten. Hatten die Bildproduzent: innen für die Öffentlichkeitsarbeit des Weißen Hauses tatsächlich den Vorgängerpräsidenten vor Augen, als genau dieses Bild ausgewählt wurde? Ging es tatsächlich um die strategische Setzung eines Präsidentenbildes, das für eine ‚andere‘ Politik als die des Vorgängers steht oder war sehr viel weniger konkret zielgerichtet die Idee, Obama als einen Politiker zu zeigen, der einen gewissen, nicht-martialischen Politikstil pflegt? Vielleicht hatte man auch schlicht kein besseres Foto, wählte dieses intuitiv, weil darauf der Präsident ‚irgendwie‘ noch am vorteilhaftesten aussah. Diese Auflistung ließe sich lange fortsetzen. Vielleicht aber ist all das auch gar nicht so wichtig, sondern sehr viel entscheidender, dass sich anhand des Bildes eine Inversionsbewegung herausarbeiten lässt, die jenseits aller Fragen strategischer Absichten als Sinnbild einer ‚anderen‘ Politik als die des Vorgängers deuten lässt. So verstanden ist es richtig und wichtig, dass sich Bilddeutungen, die der Tradition politischer Ikonografie verpflichtet sind, um mehr und anderes kümmern als ‚nur‘ um den vermeintlich bewussten strategischen Einsatz von Bildern für politische Zwecke. Ein etwas anderes gelagertes Inversions-Beispiel findet sich in einem tschechoslo‐ wakischen Boulevardmagazin aus dem Jahr 1968. Auf der Titelseite der Mlady Svet sind mehrere Fotografien abgebildet, die Alexander Dubček zeigen, zu dieser Zeit Ge‐ neralsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Unter der Überschrift „ALEXANDER DUBČEK IN DER LUFT, IM WASSER“ 127 sehen wir Dubček, bekleidet nur mit einer Badehose, wie er Anlauf nimmt, um von einem Fünf-Meter-Brett mit offenen Armen gekonnt ins Wasser zu hechten (vgl. Abb. 3.30, rechts). 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 97 <?page no="98"?> 128 Selbst der politische ‚Sunnyboy‘ par ecellence, nämlich John J. Kennedy, wurde in den 1960er-Jahren zwar im Polohemd auf einer Jacht bildlich in Szene gesetzt, nicht aber in Badehose, vgl. bspw. zu einer Deutung der Darstellung von JFK auf der Jacht mit Polohemd als politische Strategie: Felix Heidenreich, Politische Metaphorologie. Hans Blumenberg heute, Berlin 2020, S.-87ff. 129 Vgl. dazu und zum folgenden ausführlicher: Iris Kempe/ Wim van Meurs (Hg.), Europäische Zeiten‐ wende: Prager Frühling: Zeitzeugenberichte, Analysen, Hintergrunddarstellungen, Stuttgart 2021. strukturelle Inversion Abb. 3.30: Strukturelle Inversion mit Badehose So eine private, ja intime Fotostrecke der Freizeitaktivitäten eines Politikers wäre in der Berichterstattung damals selbst im ‚Westen‘ kaum vorstellbar gewesen. 128 Für die Berichterstattung jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs gilt dies wohl noch mehr. Man denke nur an eine x-beliebige Darstellung der sowjetischen Regierungsführer Le‐ onid Breschnew oder Nikita Chruschtschow in Zeitungen und Zeitschriften der 1960erbis Anfang der 1980erer-Jahre. Dies gilt auch dann, wenn man Darstellungen der beiden Staatsführer in russischen Illustrierten betrachtet, etwa auf Titelseiten der Ogonjok (vgl. bspw. Abb. 3.30, links): Beide Generalsekretäre der Kommunistischen Partei der Sowjet‐ union sind so gut wie immer im Anzug und/ oder Mantel, wenn es hochkommt ohne Jackett abgebildet, in Badehosen jedenfalls nie, auch in keiner Boulevardzeitschrift, weder im ‚Osten‘, noch im ‚Westen‘. Im Fall der Dubček-Darstellung findet somit eine Inversion statt, die sich weniger auf ein einzelnes, konkretes Vorbild beziehen lässt, wie im Fall des Terrorbekämpfungsbildes mit Präsident Obama. Vielmehr hat man es hier mit einer strukturellen Inversion zu tun, die vor dem Hintergrund übergreifender Darstellungskonventionen politischer Amtsträger als solche zu interpretieren ist. Die Fotografien von Dubček in Badehose scheinen mit einer deutlichen politischen Signalwirkung ausgestattet, war dieser doch ein maßgeblicher Akteur und eine zentrale Leitfigur des sogenannten Prager Frühlings im Jahr 1968. 129 Unter ihm wurde die 98 3 Politische Ikonografie <?page no="99"?> 130 Vgl. zur ‚Familienähnlichkeit‘ als philosophischem Konzept: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1953], in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band-1, S.-225-577, hier: S.-277ff. Phrase ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ zum geflügelten Wort und damit die Hoffnung, dass neben den kommunistischen und kapitalistischen Systemen ein dritter Weg möglich wäre. Dubček zeichnete sich auch verantwortlich für Abmilderung und Aussetzung der Zensur. Er wurde zumindest vor dem Einmarsch der Warschauer Truppen, die den Prager Frühling beendeten und im Zuge dessen Dubček abgesetzt wurde, dementsprechend als Hoffnungsträger eines neuen politischen Systems und einer wahrhaftig sozialistischen Gemeinschaft in der Berichterstattung gefeiert. Die Differenz zum sowjetischen Sozialismus wird auf der Titelseite der Mlady Svet visuell stark gemacht: ein dynamischer, offener Staatsführer, der sich unters Volk mischt, dabei Spaß zu haben scheint, halbnackt, nicht in der Menge, sondern mit der Menge badend. Offensichtlich hat er auch kein Problem dabei abgelichtet zu werden. Zumin‐ dest wurden diese Aufnahmen nicht zensiert. Diese Bilder suggerieren Freiheit auf vielerlei Ebenen: Freizeitvergnügen, Freikörperkultur, Freiheit der Presse, Freiheit von der ikonografischen (Selbst-)Zensur sowjetischer Darstellungstraditionen. Pointiert formuliert: Das Politische wird privat und dadurch das Private politisch aufgeladen. - Verwandtschaft I Formationen Die vielleicht interessanteste, jedenfalls komplexeste oder zumindest am schwierigsten zu fassende Art historischer Bildreferenz möchte ich als Verwandtschaft bezeichnen. Verwandtschaft ist ein Verhältnis von Bildern untereinander, die nicht eine identische Reproduktion meinen, genauso wenig einer Traditionslinie folgen oder sich gegen diese stellen. Es geht auch nicht um einfache Folgen von Wiederholungen und Variationen. Entscheidend ist vielmehr, dass einzelne Bilder untereinander überhaupt keine Ähnlichkeit aufweisen müssen und dennoch als Teil derselben Formation ver‐ standen werden können, wie es etwa bei Familienähnlichkeiten vorkommt. 130 Manche Verwandte haben ähnliche Eigenschaften (etwa die Haar- oder Augenfarbe), andere haben indes keinerlei äußerliche Ähnlichkeit und sind dennoch verwandt. Ein sehr augenscheinliches Beispiel dafür sind Meme-Formationen [↓ Kap. 4, Infra‐ struktur]. Memes zirkulieren ja nicht nur im Internet und werden mehr oder minder häufig weitergereicht. Viel entscheidender ist hier, dass diese Memes permanent verändert werden, neue Elemente werden eingefügt und variiert, Meme-Serien werden gebildet. Dabei kann solch eine Serie so stark variierende Exemplare beinhalten, dass einzelne Exemplare keinerlei visuelle Ähnlichkeit miteinander haben, auch keine klaren Inversionselemente ausbilden - und dennoch durch Zwischenglieder - ‚andere Verwandte‘ - miteinander verwandt sind. So werden Serien nicht nur transformiert, sondern zu Verwandtschaftsgebilden. Verwandtschaftsverhältnisse werden häufig hergestellt durch Vermischung vorher separater Elemente, womit hier Hybridisierung besonders virulent ist. Der Zugriff auf 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 99 <?page no="100"?> Verwandtschaft ist besonders geeignet, eine Vielzahl heterogener Bilder in Relation zueinander setzen zu können [↓ Kap. 4, Familienähnlichkeit der Bilder]. Einige Dynami‐ ken des Hope Poster bieten dafür sehr geeignete Beispiele, gibt es dort doch ausgehend von diesem Poster etliche Versionen, die bis heute in immer neuen Variationen ins Netz gestellt werden und in etlichen Sammlungen selbst als verwandt markiert werden. Einige Elemente sind deutlich ähnlich, andere in so starker Differenz, dass sie ohne Zwischenglieder nicht als verwandt erkannt werden könnten. So besteht im Kontext der Entwicklung des Hope Poster keinerlei äußere Ähnlichkeit zwischen einer Lenin-Darstellung und dem Joker aus Christopher Nolans Batman-Filmen. Dennoch können sie retrospektiv als verwandt und ähnlich verstanden werden, weil das Zwischenglied des Hope Poster beide miteinander verbindet und somit Lenin, Obama und Joker-Darstellung in eine Formationsreihe gebracht werden können (vgl. Abb. 3.31). Abb. 3.29 Abb. 3.31: Verwandtschaftsverhältnisse des Hope Poster Diskursanalyse Was aber ist - so ließe sich fragen - mit solch einer weitschweifigen historischen Beziehungsrelation, die sehr heterogene und hybride Motive und Formen zusammen‐ führt, gewonnen? Meines Erachtens muss es hierbei nicht einfach um eine paranoide oder wahlweise spielerische Suche nach Ähnlichkeit und Verknüpfbarkeit vielfältiger 100 3 Politische Ikonografie <?page no="101"?> 131 Zur historischen Diskursanalyse vgl. einführend und instruktiv: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main/ New York 2 2018. Zur Diskussion, ob und inwieweit Bilder Diskurse sein können, vgl. knapp: ebd., S. 54ff. Es gäbe im Übrigen auch andere Zugriffsoptionen, etwa ein evolutionärer ‚Stammbaum‘ der Bilder oder Ähnliches. Hier ist aber nicht der Ort, all die mit dem Konzept der Verwandtschaft verbundenen Zugriffe zu diskutieren. 132 Willibald Steinmetz, Diskurs, in: Stefan Jarden (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S.-56-61, hier: S.-57. Bilderwelten gehen. Vielmehr lassen sich solche Formationen fruchtbar machen für eine historische Diskursanalyse bildlicher Darstellungen. 131 Diskurs, Diskursanalyse Ein Diskurs ist eine Menge von Aussagen über einen bestimmten Gegenstand - z. B. Politik, Bilder oder Medien. Diese Aussagen folgen gewissen Regeln. Mit einer Diskursanalyse will man herausfinden, nach welchen Regeln einem Diskurs zu einer bestimmten Zeit (und an einem bestimmten Ort) gefolgt wird. Diskurse beinhalten nicht einfach wahre oder falsche Aussagen über einen existierenden Gegenstand. Vielmehr wird in Diskursen normiert, was überhaupt wie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sagen ist bzw. was wie ins Blickfeld kommen konnte. Diskurse lassen sich so als Indikatoren zur Reflexion von Welt- und Selbstwahr‐ nehmungen verstehen und/ oder als produktive Faktoren, die bestimmte Welt- und Selbstwahrnehmungen präformieren und/ oder neu ausrichten. Folgerichtig ist die Diskursanalyse zu verstehen als „Versuch, für spezifische historische Situationen Regeln zu ermitteln, nach denen Aussagen hervorgebracht werden“ 132 , um daraus Schlüsse für die Existenz bestimmter Welt- und Selbstwahr‐ nehmungen zu einer bestimmten Zeit ziehen zu können und/ oder diese Regeln als Faktoren zu interpretieren, die die Welt- und Selbstwahrnehmung neu und anders formieren. Wendet man diese Bestimmung des Diskurses auf visuelle Darstellungsformen, lässt sich analog formulieren: Eine Menge an Bildern gehört zu einer diskursiven Formation, genau dann, wenn sich daraus Regeln ihrer Verwendung und ihres Zusammenhangs extrapolieren lassen und somit zu fragen ist, was zu welcher Zeit wie sichtbar war oder ist. Diese Bildformationen können so als Indikatoren für bestimmte Wahrnehmungs- und Ordnungsmuster dienen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmen Ort gültig waren und/ oder als Faktoren, die bestimmte Regel definieren, etablieren bzw. stabilisieren und damit Wahrnehmungsweisen formieren. Um das nur sehr knapp an einem Beispiel zu erläutern: So ließen sich anhand der Verwandtschaftsformationen des Hope Poster zeigen, dass trotz aller Heterogenität der Formen und Motive eine klare Regel für die Darstellungen ausfindig zu machen ist (vgl. noch einmal Abb. 3.31). Alle Darstellungen sind nämlich binär strukturiert, wie im Märchen. Positiv konnotierte visionäre politische Führer (Kennedy, Obama, Lenin) 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 101 <?page no="102"?> 133 Dass dieser Ansatz ganz ähnliche Probleme hat, wie Panofskys dritte Analyseebene der Ikonologie [↑ Kap., 2, III. Ikonologische Interpretation], das sei hier nur kurz vermerkt. Dieser Punkt hätte eine ausführlichere Diskussion verdient, die hier aber unterlassen wird, weil sie nicht den Kern der politischen (Medien-)Ikonografie trifft und dementsprechend nicht zentral für eine Einführung in dieselbe ist. stehen Bösewichten gegenüber (so einer kann der Joker sein oder der Sozialismus und Lenin), die im Profil zu sehen sind und entweder visionär in die Zukunft schauen oder aber von unten her diabolisch zu uns hin. Der Punkt, der hier entscheidend ist: Es wird ein bestimmtes Bild politischer Akteure vermittelt, das in einem binären Raster in Szene gesetzt wird. Zwar kann das Raster der Bewertung normativ umbesetzt werden einmal ist Obama der Hoffnungsträger, ein andere mal der Superschurke -, aber die Formationsregel folgt einem Schema, das nur entweder gut oder böse, entweder visionär oder destruktiv kennt. Dazwischen gibt es nichts. Das wiederum könnte als Indikator für eine bestimmte Weltwahrnehmung zu einem bestimmten his‐ torischen Zeitpunkt interpretiert werden oder auch als eine bestimmte Formierung der Weltwahrnehmung aufgrund der Aufmerksamkeitsstrukturlogik digitaler Plattformen [↓ Kap. 4, Infrastruktur]. 133 Man könnte das Ganze auch diachroner betrachten insofern, als der Entwicklung der einzelnen Bilder nachgegangen und so weniger darauf achtet wird, welche diskursive Formation sich zu einer bestimmen Zeit an einem bestimmen Ort finden lässt, sondern wie sich die Bilder diachron entwickeln und dementsprechend unter Umständen die diskursive Formation sich verändert. Bezogen wiederum auf das zugegeben triviale und sehr hypothetische Lenin-Kennedy-Obama-Joker-Beispiel würde das in etwa bedeuten: Von den Darstellungen visionärer Führertypen geht die Entwicklung durch ‚Meme‐ fizierung‘ [↓ Kap. 4, Meme] über zur Vermischung der Abbildung historisch-realer Personen und fiktionaler Personen, bei gleichzeitiger Umbesetzung des visionären Führertypus zu einem anarchistisch-dämonischen Typus und der Lust am visuellen Variationsspiel damit. Auch wenn diese Beispiele sehr grobschlächtig daherkommen, geht es mir an dieser Stelle wohlgemerkt darum, vor allem darauf zu verweisen, dass die analytische Suche nach Formatierungsregeln visueller Verwandtschaftsverhältnisse, Zusammenhänge und Prozesse zu Tage treten lassen könnte, die durch die Beobachtung einer Bild-, Motiv- und Formtradition schlicht unbeobachtbar bleiben muss. Diachrone Bezugnahmen am Beispiel Crossing the Swamp Bei der Unterteilung diachroner Bildverhältnisse dürfte offensichtlich geworden sein, dass keine klare Trennung zwischen Forschungsgegenstand und Forschungsperspek‐ tive auf diesen Gegenstand gezogen wurde. Das heißt: Zum einen wurden Muster, Serien, Tradition und Verwandtschaft als Aspekte der Bildgegenstände selbst bestimmt, zum anderen eigens darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Unterteilung um unterschiedliche analytische Zugriffe auf diese Gegenstände handelt, die je nach 102 3 Politische Ikonografie <?page no="103"?> 134 Vgl. dazu bspw.: Annika Brockschmidt, Jon McNaughton. Trumps Pinsel, in: Zeit Online, 18.07.20202, Online zugänglich unter: https: / / www.zeit.de/ kultur/ kunst/ 2020-07/ jon-mcnaughton-donald-trump -maler-konservative-kunst-usa/ komplettansicht [18.09.21]. Interesse gewählt werden können. Das mag aus Sicht einer rigiden wissenschaftstheo‐ retischen Perspektive problematisch sein. Jedoch entspricht diese Unschärfe durchaus der Bildpraxis und den damit verbundenen Suchoptionen. Das möchte ich im Folgenden an einem Beispiel plausibilisieren, das vergleichsweise große Aufmerksamkeit in der Berichterstattung erfahren hat und im Zuge dessen mit viel Häme überschüttet wurde. 134 Es handelt sich um ein Ölgemälde des bekennenden Trump-Verehrers Jon McNaughton. Das Bild trägt den Titel Crossing the Swamp und wurde von McNaughton selbst auf seinem Twitter-Account am Morgen des 31. Juli 2018 zum ersten Mal beworben, begleitet von einem Zitat aus dem Gedicht Crossing the Swamp von Mary Oliver, das erstmals 1978 veröffentlicht wurde (vgl. Abb. 3.32). Abb. 3.32: Trump durchquert den Sumpf auf der Suche nach Beute Vor dem Hintergrund des Weißen Hauses ist ein Boot platziert, das morastiges Gewässer bzw. eben einen Sumpf durchquert. Die zentrale Person im Boot ist schnell als Donald Trump zu identifizieren. Er hält eine Laterne hoch und ist umringt von einigen seiner Kabinettsmitgliedern, privaten und geschäftlichen Weggefährten: innen. Hinter ihm weht schräg nach oben ragend die US-amerikanische Flagge. Unschwer dürfte darin eine visuelle Allegorie auf Trumps politische Agenda zu verstehen sein, nämlich 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 103 <?page no="104"?> 135 Als Indikator für die Wichtigkeit dieses Wortes soll hier nur angeführt werden, dass Trump in den drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl 2016 den Slogan Drain the Swamp, zu deutsch: Trockne den Sumpf aus, meist verbunden zu einem Hashtag, nicht weniger als 79mal auf seinem Twitter-Account getweetet hat, vgl. dazu: https: / / www.thetrumparchive.com/ archive [18.09.21]. 136 Vgl. noch einmal bspw.: Brockschmidt, Jon McNaughton. den Sumpf von Korruption und Seilschaften der politischen Elite in Washington ‚auszutrocknen‘ 135 ,wofür er diesen Sumpf, wie auf dem Bild deutlich markiert ist, freilich durchqueren muss auf der Suche nach denjenigen, die im Sumpf leben und die Sumpflandschaft verursachen. Durch die Referenz im Titel und mittels des direkten Verweises im Tweet von McNaughton auf ein Gedicht mit dem Titel Crossing the Swamp, in dem dieses Überqueren des Schlamms existenzialistisch überhöht wird (vgl. Abb. 3.33b), ist die ‚Schlammschlacht‘ Trumps zu einer fundamental existenziellen Tat heroisiert. So weit, so trivial. Interessanter sind in diesem Zusammenhang wohl die diversen historischen Bild‐ bezugnahmen. In kaum einem Text über dieses Gemälde fehlt der Hinweis auf ein Monumentalgemälde, auf das dieses Bild referiert und in dessen Tradition es sich deutlich einreiht. 136 Es handelt sich dabei um das Gemälde Washington Crossing the Delware des Historienmalers Emanuel Leutze aus dem Jahr 1851 (vgl. Abb. 3.33a). Das Bild zeigt George Washington, den ersten US-amerikanischen Präsidenten in spe, wie er begleitet von einigen Kampfgefährten in der Nacht des ersten Weihnachtsfeiertages den Fluss Delware überquert, um einen Überraschungsangriff anzuführen, der bis dato als Wendepunkt im Unabhängigkeitskrieg der USA von 1776 gilt und demensprechend immer wieder als Ereignis gefeiert wird, das die Unabhängigkeit der USA entscheidend initiierte. Die motivischen und formalen Übernahmen sind offensichtlich. Trump steht wie Washington im Boot. Hinter beiden befindet sich die US-amerikanische Flagge im selben Neigungswinkel. Hier wird per Analogie bzw. historischem Wiedergängertums dargestellt und argumentiert: Trump ist wie Washington, hat eine Funktion wie Washington, nämlich die USA (wieder) unabhängig zu machen, bringt den Geist Washingtons, des ersten Präsidenten, wieder nach Washington usw. 104 3 Politische Ikonografie <?page no="105"?> Abb. 3.33a-b: Vorläufer des Gemäldes Crossing the Swamp Eine etwas andere Richtung erhält die Ikonografie des Bildes dann, wenn man sich vor allem auf die Ebene der Muster konzentriert (vgl. Abb. 3.34, links oben). Hier ist zuvorderst die US-amerikanische Flagge auffällig, die nahezu identisch auf dem Bild Washington Crossing the Delware abgebildet ist. Diese Flagge findet sich etwa auch auf Postkarten Anfang des 20. Jahrhunderts, die eine Reproduktion des Gemäldes in Umlauf brachten. Ist die Suchrichtung einmal auf dieses Muster ausgerichtet, ist es auch in anderen populären Bildern der US-amerikanischen Geschichte ausfindig zu machen. Sehr prominent findet sich solch eine Fahne beispielsweise auf der Aufnahme der US-amerikanischen Soldaten, die beim Flaggenhissen nach der Eroberung der japanischen Insel Iwo Jima im Zweiten Weltkrieg gezeigt werden. Dreht man diese Fotografie um 90 Grad, erscheint diese Flagge wie eine Imitation der Flagge auf dem Gemälde mit Washington. Entscheidend ist: Durch diese Perspektivenverlagerung von der ikonischen Tradition zu Musterelementen kommt man zu anderen historischen Referenzverläufen und Vorbildern. Interessiert man sich hingegen für die serielle Verkettung, dann ist in diesem Fall naheliegend den Blick nicht in die Vergangenheit des ‚Sumpf ‘-Bildes mit Trump zu richten, sondern auf die Darstellungen, die sich auf dieses Gemälde beziehen und das Motiv variieren (vgl. Abb. 3.34, rechts oben). In der Tat zirkulierten mit Referenz auf Crossing the Swamp viele Memes, die dieses Bild meist ironisch oder kritisch variieren. So wird beispielsweise in einem dieser Memes Wladimir Putin mit nacktem Oberkörper zu einem der Weggefährten Trumps auf dem Boot, womit denn auch auf die undurchsichtigen Seilschaften Trumps mit Russland hingewiesen ist. Auf einer anderen Abbildung wird Trump durch eine zylindrische Kopfbedeckung als Mitglied des Ku-Klux-Klans ‚verkleidet‘ - und damit als Rassist markiert. Auf einem dritten 3.4 Aby Warburg und die politische Ikonografie 105 <?page no="106"?> Meme findet sich das Boot Trumps an einem Wasserfall, augenscheinlich kurz vor dem Absturz in diesen. Zeitlich nach ihrem Erscheinen im Netz geordnet geht es vom Wasserfall über den Zustieg Putins auf das Boot hin zur Ku-Klux-Klan-Verkleidung. Das zeigt nicht nur, dass sich alle drei Memes kritisch gegen Trump und dessen Darstellung auf dem Bild von McNaughton positionieren; die Darstellungen gehen auch in unterschiedliche Richtungen (Rassismus, Seilschaften/ Korruption, Scheitern des politischen Vorhabens Trumps generell). Zudem ist hier eine Steigerungslogik am Werke [↓ Kap. 4, Überbietung] - und zwar insofern, als es vom Scheitern der Politikbestrebungen Trumps zum Vorwurf der Korruption und der Seilschaft mit der russischen Regierung geht und von da aus zum Vorwurf des gewaltbereiten Rechtsradikalismus. Die Polemik in den Memes wird also im Laufe der Zeit radikalisiert [↓ Kap. 4, Meme-Serien]. SERIE MUSTER VERWANDTSCHAFT TRADITION Abb. 3.34: Crossing the Swamp - Crossing the Picture Type Sequences Daran lässt sich veranschaulichen, wie anders die Blickrichtung ausgehend von ein und demselben Gegenstand, hier dem Gemälde Crossing the Swamp, in unterschiedliche Richtungen gelenkt wird, sei es, dass sich die Ikonografin für diachrone Bildverhält‐ nisse der Tradition interessiert, für Musterreproduktionen oder eben für serielle Verkettungen. Etwas ganz Ähnliches lässt sich für den Aspekt der Verwandtschaft zeigen. Im Kontext von McNaughtons Gemälde wird diese Verwandtschaft vor allem über die Metapher des Sumpfes und visuell insbesondere durch die Personifikation zum Sumpfmonster hergestellt (vgl. Abb. 3.34, unten) - sei es, dass CIA oder NSA zu Sumpfmonster-Personifikationen mutieren, die den Inner State (also den illegitimen und demokratiefeindlichen Staat im Staat) repräsentieren, gegen den Trump den Kampf angesagt hat, sei es, dass Trump in einer Inversionsbewegung selbst als Sumpfmonster 106 3 Politische Ikonografie <?page no="107"?> 137 Um hier nur eine knappe Darstellung von Paul zu nennen: Gerhard Paul, Bilder, die Geschichte schrieben. Medienikonen des 20. u. beginnenden 21. Jahrhunderts. Einleitung, in: ders., (Hg.), Bilder, die Geschichte schrieben, S. 7-16. (In diesem Sammelband finden sich viele Einzelstudien zu Medienikonen versammelt, drei von Paul selbst.) figuriert, der den Sumpf nicht bekämpft, sondern dieser selbst ist. Hier mutiert Trump besonders häufig zum Swamp Thing, das vor allem aus Comics und B-Movies der 1950er-Jahre populär ist, und mit dem Trump analogisiert wird. Gerade an dieser Sumpfmetapher ist gut zu zeigen, wie sich eine diskursive Formation ausgebildet hat, die in und mit der Metapher Sumpf viele unterschiedliche Aspekte nicht nur vereint. Darüber hinaus lässt sich eine einfache diskursive Regel zur Wahrnehmung US-amerikanischer Politik ableiten: Ein Freund/ Feind-Schema wird durch die Dicho‐ tomien Sumpfverursacher/ Sumpftrockenleger, amoralisch/ moralisch, im Verborgenen operierend/ öffentlich bekämpfend bzw. sichtbar machend, stabilisiert. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Trump die Heldenrolle zukommt oder die des Sumpfmonsters. Das diskursive Schema, wie die politische Welt wahrzunehmen ist, bleibt unabhängig vom jeweils gewählten Vorzeichen über die Zeit hinweg stabil. Auch hier geht es um Polemik, aber anders als mit Blick auf serielle Phänomene, weniger um die Überbietung als vielmehr um das, was über die Zeit hinweg an den heterogenen Bildern und Bildelementen gleich bleibt. Ob die hier vorgeschlagene Ausdifferenzierung diachroner Bezugnahmen analytisch wirklich produktiv zu machen ist, müssen die Leser und Leserin selbst beurteilen. Was hoffentlich unabhängig davon, wie dieses Urteil auch immer ausfallen mag, deutlich wurde, ist, dass die Entscheidung dafür, ob ein Bild nun in eine serielle Relation zu anderen Bildern gesetzt oder in eine Tradition eingereiht wird, ob Musterelemente durchforstet werden oder aber nach Verwandtschaftsverhältnissen gefahndet wird: die Entscheidung für eine dieser Optionen bestimmt das, was in Zukunft überhaupt möglicherweise gefunden werden kann - und das ist eben bei den jeweiligen Perspek‐ tivierungen immer etwas anderes. 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie Medienikonen sind ein bestimmter Gegenstandsbereich, genauer ein Bildtypus. Es ist aber auch ein Begriff, der mit einem sehr speziellen Zugriff auf diesen Gegenstand‐ bereich in Zusammenhang steht. Im deutschsprachigen Forschungsbereich ist dieser Zugriff vor allem mit dem Namen Gerhard Paul verbunden, der dementsprechend den Begriff Medienikonen entscheidend prägte. 137 Pauls Ansatz ist nicht explizit als politische Ikonografie ausgeflaggt. Das scheint erst einmal konsequent, ist doch der Gegenstandsbereich der Medienikonen einerseits sehr viel weiter als der der politischen Ikonografie. Medienikonen umfassen nicht nur politische bzw. politisch funktionalisierte Bilder, sondern ebenso Werbung, Sportfotografien oder Bilder von Popstars. Anderseits ist der Zugriff sehr viel enger als der der politischen Ikonografie, 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 107 <?page no="108"?> 138 Es sei nur auf Darstellungen verwiesen, die Paul im Sammelband Bilder, die Geschichte schrieben analysiert, hierbei handelt es sich zum einen um das Bild des ‚Napalm-Mädchens‘, zum anderen um die sogenannte Mushroom Cloud-Fotografie, die aufgenommen wurde, während der Detonation einer Atombombe in Hiroshima. Vgl.: Paul (Hg.), Bilder, die Geschichte schrieben. 139 Vgl.: ebd., S.-8. 140 Vgl.: ebd., S.-8f. denn Medienikonen sind - zumindest, wenn man Paul folgt - vor allem Fotografien, darüber hinaus, wenn überhaupt noch technisch-audiovisuelle Medien, wie Filme, Fernsehbilder oder Videos. Dennoch scheint es mir sinnvoll, diesen Ansatz im Rahmen eines Kapitels über politische Ikonografie vorzustellen. Nicht nur überschneiden sich erstens die Gegenstandsbereiche bei den politischen Bildern. Viele Beispiele, die Paul selbst analysiert, sind politische Bilder im engeren Sinne. 138 Zweitens geht es, wie bei der politischen Ikonografie auch, um die Frage nach dem Gebrauch der Bilder - und damit eben unter anderem um deren politische Funktionalisierung. Drittens sind bei Medienikonen - analog zu den expliziten Ansätzen politischer Ikonografie - primär Bildtraditionen relevant, die zur Herstellung von Medienikonen aufgegriffen und durch diese weitertradiert werden. Medienikone ‚Ikon‘ ist die allgemeine Bezeichnung für Bilder ausgehend vom griechischen Wortstamm eikṓn, das ‚Bild‘ bedeutet. Folgt man Gehard Paul ist mit der Bezeich‐ nung Ikon indes nur ein vergleichsweise kleiner Teil von Bildern gemeint, denen bestimmte Eigenschaften und Funktionen zukommen. Nach Paul lassen sich grundsätzlich zwei Ikonen-Typen unterscheiden, nämlich eine antike von einer modernen Variante. 139 Bei antiken Ikonen handelt es sich um Heiligenporträts, die im christlichen Kontext verehrt wurden. Eine der herausragenden Funktionen dieser Bilder besteht in einer paradoxen Konstellation: Sie referieren auf Heilige, verweisen also auf etwas, das sie selbst nicht sind und an dessen Stelle sie stehen; gleichzeitig machen diese Ikonen diese Heiligen anwesend. Anders formuliert: Diese Ikonen repräsentieren etwas (beziehen sich auf ein Objekt jenseits des Bildes) und appräsentieren es zugleich (suggerieren die Präsenz dieses Objekts durch eine Ähnlichkeitsrelation). Für moderne Ikonen soll wiederum gelten: Es sind Bilder, die herausragend sind, weil sie besonders populär und/ oder einflussreich und/ oder nahezu omnipräsent im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Weiterhin unterscheidet Paul Kunstikonen von Medienikonen. Kunstikonen sind herausra‐ gende visuelle Kunstwerke, die über längere Zeit hinweg großen Einfluss auf die weitere Geschichte der Kunstgeschichte hatten oder haben und häufig auch in der Populärkultur aufgegriffen werden. Paul bezeichnet diese Kunstikonen aufgrund ihrer historisch langanhaltenden Bekanntheit und/ oder ihrer Einflussnahme auch als Superikonen. 140 Medienikonen unterscheiden sich von diesen dadurch, dass sie aufgrund ihrer medientechnologischen Trägereigenschaft der mechanischen oder 108 3 Politische Ikonografie <?page no="109"?> 141 Gestützt auf Überlegungen von Siegried Weigel könnte man noch einen Schritt weiter gehen und den Medienikonen eine Dreifachfunktion zuweisen: Sie wären so nicht nur Repräsentationen via Ähnlichkeit, hätten nicht nur symbolischen Charakter, sondern gerade in fotografischer Form eine indexikalische Funktion des Präsent-Machens des Abgebildeten (vgl.: Weigel, Grammatologie der Bilder, S.-138ff.) [↓ Kap. 4, Ikon, Index, Symbol]. 142 Vgl.: Paul, Bilder, die Geschichte schrieben, S.-9. elektronischen Reproduzierbarkeit weit verbreitet sind, Ländergrenzen überschrei‐ ten und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen virulent werden, im populärkulturellen Kontext eine hohe Bekanntheit haben und damit disen Bildern ein hoher Wiedererkennungswert zukommt und im kollektiven Gedächtnis fest verankert sind (vgl. zur Ausdifferenzierung Abb. 3.34). Ikone allg.: Bild spezifischer Bildtypus antike Ikone Kunstikone/ Superikone moderne Ikone Medienikone Abb. 3.34: Ikonentypen Das heißt unter anderem auch, dass Medienikonen nicht von Anfang an Medi‐ enikonen sind, sondern sie werden zu solchen erst im Lauf ihrer Rezeption. Ebenso kommt diesen Bildern wie antiken Ikonen eine Doppelfunktion zu: Es sind einerseits konkrete Darstellungen bestimmter Ereignisse oder Akteure und sie beinhalten anderseits einen übergreifenden Sinnzusammenhang. Sie verschalten so - um es in semiotischem Vokabular zu formulieren - ikonische und symbolische Bildeigenschaften [↓ Kap. 4, Zeichentrias: Ikon, Index, Symbol]. 141 Medienikonen repräsentieren also eine Situation, ein Ereignis oder eine Person und symbolisieren gleichzeitig verdichtet einen übergreifenden gesellschaftlichen bzw. kulturellen Zusammenhang. Naheliegenderweise sind im Kontext der politischen Ikonografie insbesondere die Medienikonen von Interesse. Paul unterscheidet hier wiederum diverse Bereiche (vgl. Abb. 3.36). 142 Dies Ausdifferenzierung mag für eine erste Orientierung sinnvoll sein, ist aber keinesfalls als kategoriale Differenz zu verstehen, sind doch - wie bereits weiter vorne gezeigt - politische Bilder im engeren Sinne auch in Teilbereichen kultureller Ikonen zu finden; sie werden zu Werbeikonen oder Ikonen des Populären. Man denke nur an das Hope Poster oder 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 109 <?page no="110"?> die Darstellung des Revolutionärs Che Guevara im Kontext einer Autowerbung (vgl. noch einmal Abb. 3.9). Medienikonen Politische Ikonen Ereignisikonen Kulturelle Ikonen Ikonen der Popkultur Werbeikonen Coca-Cola-Flasche Che Guevara-Fotografie (von Alberto Korda) Hope Poster Einsturz der Twin Towers Brandts Kniefall Minions DNA-Doppelhelix erste bemannte Mondlandung (Aldrin vor der amerikanischen Flagge) Abb. 3.36: Die Vielfalt der Medienikonen Funktionaler Doppelcharakter Wichtiger aber als diese mitunter recht unscharfen Abgrenzungen sind die funktiona‐ len Bestimmungen. Zuvorderst ist in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte Doppelcharakter zu nennen, eben einerseits eine konkrete Situation darzustellen, anderseits einen übergreifenden Sinnzusammenhang zu symbolisieren. Hierfür ist wiederum die Fotografie von Brandts Kniefall vor dem Holocaust-Denk‐ mal in Polen ein geeignetes Bespiel (vgl. noch mal Abb. 3.5). Es geht einerseits um eine sehr konkrete Situation, die abgelichtet wurde. Aufgegriffen ist anderseits eine symbolische, über Jahrhunderte hinweg tradierte Bußgeste. Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse wird damit ein Sinnzusammenhang symbolisch hergestellt und verdichtet, nämlich die Veränderung der bundesrepublikanischen Strategie hin‐ sichtlich ihrer Ost/ West-Politik während des Kalten Krieges aufgrund des Schuld‐ eingeständnis für die nationalsozialistischen Verbrechen durch den maßgeblichen politischen Vertreter der damaligen BRD. 110 3 Politische Ikonografie <?page no="111"?> 143 Vgl.: ebd., S.-11f. Welche Bilder werden warum zu Medienikonen? Brandts Kniefall-Foto ist auch ein wunderbares Beispiel für eine ästhetische Frage, nämlich: Warum werden bestimmte Bilder zu Medienikonen, andere wiederum nicht? Neben bildexternen Verbreitungsmöglichkeiten, institutionellen Faktoren der Verbrei‐ tung, etwa durch Bildagenturen oder Zensur [↓ Kap. 4, Agentur], spielen, laut Paul, bildimmanente Faktoren eine wesentliche Rolle. 143 Brandts Kniefall eignet sich für die Untersuchung dieser Frage insofern besonders gut, als bei diesem Anlass sehr viele Pressefotograf: innen anwesend waren und es deshalb sehr viele unterschiedliche Aufnahmen dieses Ereignisses gibt. Lang wäre darüber zu spekulieren, warum es genau das Foto von Sven Simon war, das es zur Medienikone brachte - und andere Darstellung derselben Szenerie nicht. Zumindest lassen sich dafür im Sinne Pauls mindestens folgende ästhetische Aspekte stark machen: - 1. Narrative Anordnung der Elemente Horizontal, von links nach rechts leicht abfallend sind drei Objekte ins Bild gesetzt: ein Mahnmal, ein Kranz und der kniende Willie Brandt. Die Handbewegung des im linken oberen Teil des Bildes zu findenden Soldaten weist von oben auf Brandt als Zentrum dieser Anordnung hin. Diese Zentrierung wird durch die Anordnung und Ausrichtung der Foto- und Filmkameras der anderen Akteure noch verstärkt. Mit diesen drei Elementen, (1) Mahnmal, (2) Kranz, (3) Zentrierung auf den ehemaligen Bundeskanzler vor dem Hintergrund vieler Pressevertreter: innen, wird knapp eine Geschichte erzählt: Der Kanzler kniet, nachdem er einen Kranz niedergelegt hat, vor dem Mahnmal zur Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen, was eine große mediale Resonanz auslöste und als symbolisches Bild für die Veränderung deutscher Ostpolitik in die Geschichte eingegangen ist (vgl. Abb. 3.36). Hier ist bereits die ganze Geschichte des Vorgangs simultan verdichtet erzählt. 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 111 <?page no="112"?> 144 Vgl. dazu: Carolin Bohn, Lektüren des fruchtbaren Augenblicks. Zu Lessings Darstellungstheorie, in: Etudes Germaniques, 279 (2015), S.-379-392. Abb. 3.37: Brandts Kniefall als Medienikone Aus dieser Perspektive ist die Fotografie zudem ein besonders geeignetes Beispiel für das, was der Schriftsteller und Kunstkritiker Gotthold Ephraim Lessing in seinen Tex‐ ten zur Ästhetik bereits im 18. Jahrhundert als fruchtbaren Augenblick bezeichnete, 144 ist doch dort das Vorher und Nachher des Geschehens im Augenblick des Bildes besonders anschaulich gemacht. Fruchtbarer Augenblick In der 1766 erstmals erschienenen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie diskutiert Gotthold Ephraim Lessing das Verhältnis von Lite‐ ratur und bildender Kunst. Literatur bestimmt Lessing als Zeitkunst, die bildenden Künste als Raumkünste. Gemeint ist damit, dass Literatur Geschichten erzählt. Um Geschichten zu erzählen, muss Zeit vergehen. Denn nur wenn Ereignisse, die temporal voneinander abzugrenzen sind, in ein Verhältnis des Nacheinanders gesetzt sind, kann erzählt werden. Malerei oder Bildhauerei stellen hingegen aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften nur genau einen Augenblick in der Zeit dar. Insofern sind es Künste, die aus der Zeit genommen sind. Es handelt sich um Raumkünste, die Eigenschaften von Körpern simultan darstellen. Lessing leitet aus dieser basalen Charakterisierung umfassende ästhetische Nor‐ men der Darstellung ab: Literatur muss erzählen und darf Körper, Objekte und 112 3 Politische Ikonografie <?page no="113"?> 145 Vgl. dazu: Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Bemerkungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte [1766], Berlin 2013, S. 24. 146 Ebd., S.-25. 147 Lessing selbst beschreibt das in anschaulichen und markigen Worten: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Eigenschaften nur genau dann beschreiben, wenn sie für die Erzählung eine Funktion erfüllen, diese also vorantreiben. Andersherum gilt nach Lessing, dass Malerei und Bildhauerei nicht den Eindruck erwecken dürfen, es vergehe Zeit. So darf etwa, laut Lessing, eine Laokoon-Statue nicht so dargestellt werden, als würde sie schreien. Denn ein Schrei wäre ein Vorgang in der Zeit (vgl. zu dieser Statue noch einmal Abb. 3.12b). Einflussreich wurde diese Gegenüberstellung vor allem für die Raumkünste - und zwar dadurch, dass Lessing diesen aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften verbietet, einen Vorgang in der Zeit darzustellen. Keine Veränderung in der Zeit soll im Bild suggeriert werden. Dennoch - und das mag sich auf den ersten Blick seltsam ausnehmen - soll auch darin erzählt werden, aber in einer sehr besonderen Weise. Ein gelungenes Werk bildender Kunst zeichne nämlich aus, dass es nicht irgendeinen beliebigen Augenblick darstellt, sondern einen fruchtbaren. Ein fruchtbarer Augenblick ist einer, der zwei Merkmale aufweist: Erstens wird darin das Vorher und Nachher eine Geschichte besonders anschaulich verdichtet. 145 So soll die Geschichte von Laokoon nicht so dargestellt werden, dass dieser tot am Strand liegt. Damit wäre einfach das Ende der Geschichte des Priesters Laokoon dargestellt, was wiederum nicht das Vorher und Nachher umfasst, sondern eben nur den Endpunkt der Geschichte. Wird hingegen Laokoons Kampf ums Überleben mit den Schlangen dargestellt, ist das laut Lessing ein fruchtbarer Augenblick, weil hier der entscheidende Punkt der Geschichte verdichtet ist, ein Umschlagspunkt, der auf der Schwelle von Tod und Leben steht. Zweitens ist ein fruchtbarer Augenblick einer, der der Einbildungskraft „freies Spiel“ 146 bietet. Damit will Lessing darauf hinweisen, dass nicht genau der Moment dargestellt werden soll, der den Höhe- oder Endpunkt einer Handlung bildet. Den Rezipient: innen wird so die Möglichkeit gegeben, ihre Fantasie zu aktivieren, um sich diesen möglichen Höhe- oder Endpunkt selbst zu imaginieren. Fruchtbar ist also ein Augenblick genau dann, wenn er die Imagination der Rezipienten aktiviert, eben ‚befruchtet‘. Um es wieder an Laokoon zu verdeutlichen: Läge dieser bereits Tod am Strand, müsste man sich nicht imaginieren, wie es mit dem Kampf weiterging. Genauso gilt laut Lessing, dass Laokoon auch deshalb nicht schreien darf in der bildenden Kunst, weil es der Höhepunkt der Affektion darstellen würde, womit wiederum keinerlei Imaginationspotenzial für die Rezipient: innen übrigbliebe, sich diesen Schrei vorzustellen. 147 Lessings Ästhetik für die bildenden 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 113 <?page no="114"?> Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet. Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.“ (Ebd., S.-24) 148 Anhand der Gegenüberstellung von herausgehobenen und beliebigen Momenten führt Gilles De‐ leuze eine ideengeschichtliche Linie aus der Antike bis in die Moderne zum Film. Diese Rekonstruk‐ tion geht mit dem Einziehen von Mediendifferenzen einher: Die Malerei ist durch herausgehobene Momente charakterisiert, der Film als bewegtes Bild mit beliebigen Momenten. Vgl.: Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main 1996, S.-16ff. Künste ist so gesehen letztlich einer sehr speziellen Affektökonomie geschuldet: Es geht darum, bei der Affektdarstellung die Betrachter: innen zu affizieren, und zwar durch Affektminderung der dargestellten Figuren, um so das ‚freie Spiel‘ der Einbildungskraft zur Imagination der ‚ganzen Geschichte‘ zu aktivieren (vgl. zusammenfassend Abb. 3.38). Literatur / Poesie Raumkunst Diachronizität (Sukzession) nur ein Merkmal in/ für die Handlung mehrere Merkmale Bildende Künste (Malerei, Bildhauerei) Zeitkunst Synchronizität (Simultanität) nur ein Augenblick in der Handlung fruchtbarer Augenblick …wenn dieser das Vorher und Nachher suggeriert sowie nicht den absoluten Höhepunkt der Handlung darstellt …wenn für die Handlung funktional Abb. 3.38: Lessings normative Ästhetik als Medienkomparatistik - Fruchtbare Augenblicke von Medienikonen Obwohl Lessing noch nichts von Medienikonen oder Fotografien wissen konnte, lässt sich das Konzept des fruchtbaren Augenblicks produktiv machen für die Analyse von Medienikonen. Nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit einer Differenz von Bildtypen. Gilles Deleuze greift in seiner Filmphilosophie die Unterscheidung von Beliebigem und Nicht-Beliebigem auf, um das filmische Bewegungsbild näher zu charakterisieren. So ist nach Deleuze der Film dadurch zu charakterisieren, dass er, eben weil er bewegt ist, herausragende Momente konstitutiv dezentriert, also in beliebige Momente überführt. 148 Malerei hingegen oder auch Fotografie haben stattdessen eine Affinität zum herausragenden Moment, der dort zur Darstellung kommt. Zurückgewendet auf Lessings Charakterisierung ist dieser herausragende Moment der frucht‐ bare Augenblick. Susan Sonntag schreibt in ihrer Auseinandersetzung mit Fotografien 114 3 Politische Ikonografie <?page no="115"?> 149 Susan Sonntag, Das Leiden anderer betrachten [2003], Frankfurt am Main 2013, S.-29. 150 Vgl. bspw. die Videoausschnitte in: Willy Brandt und der Kniefall von Warschau | Genuflection in Warshaw, https: / / www.youtube.com/ watch? v=wiWPX9k4QQY [29.11.22] oder auch: Vor 50 Jahren: Der Kniefall Willy Brandts in Warschau [07.12.20], Online zugänglich: https: / / www.youtube.com/ w atch? v=wRe0XmtOdZs [10.09.21]. 151 Vgl.: Paul, Bilder, die Geschichte schrieben, S.-9. ganz in diesem Sinn der Gegenüberstellung von Bewegtbild und Fotografien im Hin‐ blick auf die spezifische Erinnerungsfunktion von Standbildern bzw. nicht-bewegten Bildern, insbesondere der Fotografie: „Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen unsere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild.“ 149 In der Tat scheint dieser medialen Differenz durchaus eine gewisse Plausibilität zuzukommen. Zumindest bei dem hier relevanten Beispiel. Man schaue sich nur einmal den Unterschied zwischen den Filmaufnahmen und der populären Fotografie von Brandts Kniefall an. 150 Nicht nur ist das Filmbild bewegt und zeigt also eine Handlungsfolge. Entscheidender noch ist die Szene durch den engeren Bildausschnitt aus dem Kontext einer Kranzniederlegung vor einem Mahnmal entbunden oder doch zumindest entkontextualisiert. Der Kniefall wird insofern dezentriert, als Brandts Figur nicht vollständig im Bild ist, sondern immer nur Ausschnitte zu sehen sind. Hier scheint es also sehr viel mehr um Momentaufnahmen zu gehen als auf der fotografi‐ schen Aufnahme Sven Simons. Mögen diese Filmaufnahmen auch nicht ausschließlich beliebige Bilder zeigen, immerhin sieht man auch hier den Bundeskanzler kniend, so ist die Bewegung der Figuren wie der Filmausschnitt doch so ausgerichtet, dass alle Momente zusammengenommen beliebig werden und auf weitere beliebige Momente außerhalb des Bildes verweisen. Erst durch die Arretierung auf der Fotografie wird ein herausragender Moment als ein solcher markiert und über die Zeit hinweg festgehalten. Der fruchtbare Augenblick von Bewegtbildern Die Beschreibung des fruchtbaren Augenblicks könnte nichtsdestotrotz durchaus auf Bewegtbilder ausgedehnt werden - etwa auf knappe Handlungen, selektierte Videosequenzen oder GIFs, also auf Bewegtbilder, die kurze Sequenzen zeigen, die auf einen endlosen Loop angelegt sind. 151 Zwar ist hier streng genommen nicht ein fixierter Augenblick zu sehen, aber es sind oft Ausschnitte, die aus längeren Film- oder Videoeinheiten selektiv herauspräpariert sind. Allein schon aufgrund dieser Operation sind die Sequenzen nicht beliebig, sondern eben herausgehoben [↓ Kap. 4, Der fruchtbar zu machende unfruchtbare Augenblick]. Herausgehoben werden wiederum häufig genau die Momente, die fruchtbar sind, also kurze Sequenzen zeigen, die endlos eine entscheidende Szene wiederholen und insofern einfrieren. So etwas findet sich etwa bei dem bekannten Zapruder-Video, das die Ermordung von John F. Kennedy zeigt. Im Netz gibt es unzählige GIFs, die aus 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 115 <?page no="116"?> 152 Für eine Vielzahl solcher GIFs vgl.: https: / / gfycat.com/ discover/ zapruder-film-gifs [10.09.21]. 153 Vgl. dafür bspw.: https: / / gifer.com/ de/ g1g1 [10.09.21]. 154 Vgl.: Paul, Bilder, die Geschichte schrieben, S.-9. diesem Video den von einer Kugel getroffenen Kopf Kennedys zeigen und wie seine Ehefrau sich über den damaligen Präsidenten beugt. 152 Diese Sequenz lässt sich ganz im Sinne von Lessings Bestimmung des fruchtbaren Augenblicks deuten - auch wenn diese Sequenz bewegte Bilder zeigt, so doch in einer sehr eigenen Zeitlichkeit, nämlich einem auf Dauer gestellten Loop, der einen ‚Augenblick‘ aus der linear vergehenden Zeit nimmt und ein Ereignis permanent erinnernd verdichtet. Ähnliches ließe sich für die Aufnahmen des Einsturzes der Türme des World Trade Centers vom 11. September 2001 behaupten. Auch hier finden sich etliche GIFs, die in Endlosschleife den Aufprall des zweitens Flugzeuges in das World Trade Center wiederholen. 153 Aus diesem Grund ist Lessings Konzept des fruchtbaren Augenblicks für unterschied‐ liche mediale Kontexte und Bildtypen auch heute noch - die Leser: innen verzeihen mir den Kalauer - analytisch fruchtbar zu machen, insbesondere im Kontext politischer Medienikonografie. Unterwanderungen des fruchtbaren Augenblicks Zu fragen wäre jedoch, wie weit das Konzept eines ‚bewegten‘ fruchtbaren Augenblicks auszuweiten ist. Paul bezieht beispielweise solche ikonischen Endlos‐ schleifen auf Fälle aus dem Fernsehen, die die damit verbundenen Ereignisse in kurzen Sequenzen vor allem zu Jahrestagen wieder und wieder senden. 154 Auch wenn es sich dabei nicht im strikten Sinn um Endlosschleifen handelt, ist doch häufig eine kurze Sequenz ausgewählt und diese wird häufig wiederholt, während sie immer wieder (anders) kommentiert wird. Kritisch zu fragen wäre, wie lange dürfen denn diese Sequenzen sein, um noch als fruchtbare Augenblicke zu gelten und wie oft müssten sie wiederholt werden. Zudem gibt es solch Endlosschleifen (oder auch Ausschnitte aus Fotografien) mindestens ebenso häufig in umgekehrter Variante, zumindest in Form von GIFs und Fotos im Netz. Dabei wird der Fokus auf scheinbar nebensächliche Aspekte eines politischen Bildes gelegt, die durch Endlosschleifen ins Zentrum gerückt werden und dabei die vorherrschende Deutung eines Bildes unterminieren [↓ Kap. 4, Punctum]. Hierbei hat man es, um es im Hinblick auf Lessings Konzept zu formulieren, mit einer Ästhetik des (scheinbar) beliebigen Augenblicks zu tun, der genau das Gegenteil von Medienikonen auch und gerade ästhetisch darstellt und in vielen Fällen Medienikonen aufgreift und deren Bedeutungen subversiv unterwandert oder zumindest ironisiert. 116 3 Politische Ikonografie <?page no="117"?> 2. Der fruchtbare Augenblick eines Kniefalls Doch zurück zu Brandts Kniefall-Fotografie: Diese verdichtet nicht nur das Vorher und Nachher in einem Augenblick, sondern entspricht zudem der Forderung Lessings, eben die, dass keine Bewegung im Bild dargestellt werden soll. Brandt verharrt kniend, also kurz stillgestellt, vor dem Mahnmal. Zudem ist diese Situation nicht der Höhepunkt der Handlung. Es ist nicht das plötzliche - und für die Öffentlichkeit überraschende - Niedersinken ins Bild gesetzt, sondern der Augenblick, an dem Brandt bereits zu Boden gesunken ist. Genau das ermöglicht gemäß Lessing dem Betrachter und der Betrachterin das ‚freie Spiel‘ der Imagination. - 3. Zentralperspektive Ausrichtung und zentrierende Rundung Als weiteres formales Kriterium der Bildgestaltung lässt sich anführen: Zentralper‐ spektivisch laufen Linien auf die Figur Brandt zu. Dahinter befindet sich eine Men‐ schenmasse, die in einigen Abstand gruppiert ist, so dass durch die Differenz von Masse und Einzelnem die Figur im Vordergrund noch weiter ins Zentrum gerückt wird. Die Menschenmasse ist darüber hinaus so angeordnet, dass am einen wie am anderen Ende eine Rundung entsteht, die das Bildgeschehen umfasst. Hinter der Menschenmasse sind Hochhäuser zu erkennen. Damit wird eine dritte Bildebene eingezogen, die die profane Alltagswelt ins Bild einführt und so die Gedenkstätte im Vordergrund als solche in Differenz dazu noch stärker in den Brennpunkt rückt (vgl. Abb. 3.39). Abb. 3.39: Die zentrale Figur visuell zentriert 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 117 <?page no="118"?> 155 Vgl. dazu: Schneider, Warschauer Kniefall, S.-106ff. Aus einer formalästhetischen Sicht der Dinge ist der Aufbau des Bildes von Sven Schneider sehr klar geordnet und nach Differenzkriterien organsiert, so dass das Hauptgeschehen in den Vordergrund tritt. Die genannten formalästhetischen Aspekte sind in anderen Fotografien des Ereignisses, die veröffentlicht wurden, nicht, zumin‐ dest nicht alle zu finden (vgl. bspw. Abb. 3.40a-d). Das ist aus einer Perspektive, die sich für die bildimmanenten formalen Merkmale interessiert, so zu deuten, dass genau die Fotografie von Sven Simon als Medienikone sich anbot und eben nicht eines der vielen anderen Fotografien derselben Szenerie zu einer Medienikone avancierte. Abb. 3.40a-d: Viermal Brandts-Kniefall - dreimal keine Medienikone - 4. Kniefall als Pathosformel Gebärde und Mimik von Brandts Kniefallbild lassen sich als Elemente für eine Pathosformel im Sinne Warburgs verstehen [↑ Pathosformel], ist es doch eine Demuts- und Gedenkgeste, die sich über Jahrhunderte hinweg im christlichen Abendland findet. 155 Damit erhält das Bild nicht nur ein vergleichsweise einfaches Deutungsschema, sondern ist zudem mit Affektregungen wie Trauer, Schmerz und Demutshaltung hochgradig besetzt. Der Kunstwissenschaftler Diers kategorisiert das Bild von Brandts 118 3 Politische Ikonografie <?page no="119"?> 156 Vgl.: Paul, Bilder, die Geschichte schreiben, S.-10f. Kniefall, wie bereits beschrieben, folgerichtig auch als politisches Schlagbild [↑ Schlagbild]. Abstraktion & Entkontextualisierung Medienikonen haben - das lässt sich bei Paul ebenfalls nachlesen - eine Tendenz zur Abstraktion und Entkontextualisierung. 156 Wieder lässt sich diese Behauptung an Brandts Kniefall-Bild exemplifizieren. Die Rezeptionsgeschichte des Bildes ist sogar primär anhand seiner Abstraktions- und Entkontextualisierungstendenzen nach‐ zuzeichnen. Nicht nur auf dem erwähnten Spiegel-Titelbild wird das Kniefall-Bild beschnitten und damit partiell die Umgebung abgeschattet (vgl. Abb. 3.41a). Auf einer Sonderbriefmarke zum fünfzigjährigen Jubiläum des Kniefalls erfuhr das Bild eine noch stärkere Begrenzung (vgl. Abb. 3.41b). Außerdem ist die Fotografie inzwischen auf wenige Schemen reduziert, also abstra‐ hiert, selbst zum Erinnerungsmonument an dem Ort, wo der Kniefall einst in Szene gesetzt wurde, in eine Bronzetafel gegossen zu betrachten (vgl. Abb. 3.41c). Eine ganz ähnliche Operation fand für die Darstellung Brandts auf der zwei Euro-Münze anlässlich des fünfzigsten Jahrestags des Kniefalls in Warschau statt (vgl. Abb. 3.41d). In beiden Fällen wird im Übrigen ein siebenarmiger Leuchter ins Bild integriert, der auf der Fotografie von Sven Simons nicht zu finden ist. Dieser Leuchter ist eine Menora, die in jüdischen Gebetsstätten zu finden ist und dementsprechend als pars pro toto für den jüdischen Glauben steht. Die Abstraktionen, Schematisierungen und Entkontextualisierungen gehen in beiden Fällen einher mit einer nicht minder schematisierten Neukontextualisierung, die eine klare Leseanweisung und politisch strategische Präzisierung für Brandts Geste mitliefert, eben die, dass Brandts Demuts- und Entschuldigungsgeste den jüdischen Opfern gilt. 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 119 <?page no="120"?> 157 Vgl. dazu knapp: Elena Demke, ‚Die Macht der Ohnmächtigen‘ im Bild. Die Ikone des Prager Frühlings aus Bratislava, in: Paul (Hg.), Bilder, die Geschichte schreiben, S.-204-210. Abb. 3.38a-d Abb. 3.41a-d: Medienikonischer Reduktionsprozess Ähnliche Dynamiken finden sich häufig bei Medienikonen, beispielsweise auf einer Fotografie, die einen Mann zeigt, der sich in Bratislava während des Einmarsches der Armee des Warschauer Pakts zur Niederschlagung des sogenannten Prager Frühlings 1968 ostentativ vor einen Panzer positionierte. Auch diese Abbildung wurde zur Me‐ dienikone und auch sie wird im Lauf ihrer Rezeptionsgeschichte auf das ‚Wesentliche‘ reduziert, etwa für eine slowakischen Briefmarkenvariante (vgl. Abb. 3.42). 157 120 3 Politische Ikonografie <?page no="121"?> Abb. 3.42: Das Ende des Prager Frühlings in Bratislava Noch deutlicher werden diese Tendenzen bei dem berühmten Che Guevara-Porträt von Alberto Korda. Dieses Porträt erfuhr nicht nur bereits vor der Veröffentlichung einen Beschnitt. Zudem wurde das Gesicht von Che Guevara schmaler gemacht. Entscheidender noch ist aber, dass im Lauf der Zeit eine sukzessive Entkontextualisie‐ rung und Abstrahierung stattfand. Parallel dazu wurde das Bild rekontextualisiert und damit neusemantisiert. Das Che Guevara-Porträt bringt es im Lauf dessen bis zur Werbeikone für einen Automobilhersteller und endet als semantisch weitgehend entleertes Wandornament (vgl. Abb. 3.43). 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 121 <?page no="122"?> ENTKONTEXTUALISIERUNG Abb. 3.43: Umgestaltung und Entleerung von Kordas Guevara-Porträt Medienikonen haben nicht nur eine Tendenz zur Abstraktion sowie zur Ent- und Rekontextualisierung; sie werden auch permanent bearbeitet, variiert, also umgestaltet. Um nur auf ein paar wenige Beispiele im Kontext des Che Guevara-Porträts hinzuwei‐ sen: Längst hat dieses Porträt Eingang in die Meme-Kultur gefunden, wo es unter anderem durch Einfügung von Textelementen zu kritisch-politischen Verlautbarungen genutzt wird (vgl. Abb. 3.44a). Ebenso lässt sich auf eine Neubearbeitung im Zusam‐ menhang mit Werbung verweisen (vgl. Abb. 3.44b) oder auch auf seine ästhetische Umgestaltung in einem Werk der Popart (vgl. Abb. 3.44c). Auf einem Spiegel-Titelbild ist der Revolutionsführer gar mit einem Heiligenschein abgebildet (vgl. Abb. 3.44d). Auf diese Art der Bearbeitungen und Variationen soll hier nicht näher eingegangen werden, schlicht deshalb, weil im Kontext der Forschung zu Medienikonen darauf, soviel ich sehe, nicht näher eingegangen wurde. Im folgenden Kapitel soll indes diesem Phänomen näher nachgegangen werden, vor allem hinsichtlich politischer Memes und ihrer medialen Infrastruktur [↓ Kap. 4, Meme, Meme-Serie]. 122 3 Politische Ikonografie <?page no="123"?> 158 Vgl. zur ikonischen Tradition dieses Bildes genauer: Wiedenmann, Revolutionsfotografie, S.-380ff. Abb. 3.44a-d: Lesarten einer Medienikone Medienikonen und ikonografische Tradition Noch ein weiterer Aspekt der Medienikonen ist hier relevant, vor allem weil daran die Verbindung zur politischen Ikonografie besonders auffällig ist. Medienikonen werden nicht nur zu solchen im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte. Sie bedienen sich in vielen Fällen älterer Motiv- und Formbestände. Auf dem angeführten Spiegel-Titelbild wird solch eine Referenz explizit gemacht (vgl. noch mal Abb. 3.44d): Che Guevara figuriert dort als Wiedergänger der klassischen Heiligendarstellung oder genauer eigentlich noch: als Wiederkunft von Jesus Christus. Damit ist auch formuliert, dass Medienikonen unter anderem auf Superikonen im Sinne Pauls zurückgreifen. Solche diachrone Bildreferenzen sind ebenfalls auf einer weiteren Fotografie von Che Guevara zu finden, nämlich auf derjenigen, die den Revolutionär nach seinem Tod aufgebahrt und ausgestellt zeigt (vgl. Abb. 3.45c). Dieses Bild weist einige Parallelen zu einem berühmten Gemälde, nämlich der Beweinung Christi von Andrea Mantegna aus dem 15. Jahrhundert (vgl. Abb. 3.45a), auf. Die Fotografie wird mit einem weiteren berühmten Gemälde in Verbingung gebracht, nämlich mit einer Sezierdarstellung Rembrandts (vgl. Abb. 3.45b). Zumindest scheint es nicht unplausibel, diese Gemälde als Vorbilder der Fotografie des toten Che Guevara zu verstehen oder diese zumindest in die Tradition der damit verbundenen Bildformen der Kunst einzureihen. 158 Damit soll darauf verwiesen sein, dass Medienikonen durchaus unterschiedliche Bildtraditionen gleichzeitig aufgreifen können. 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 123 <?page no="124"?> Abb. 3.45a-c: Die Lieblingsbeschäftigung der Ikonografen: historische Vorbilder in der Kunst finden Es sind in diesem Zusammenhang im Übrigen auch Bilder anzuführen, auf denen kein menschlicher Akteur zu finden ist. So scheint es mir - um nur ein Beispiel zu nennen - schwierig, das Titelbild des Spiegels, auf dem die Trümmer des World Trade Center abgebildet sind, nicht vor dem Hintergrund romantischer Bildtradition und ihrer Ruinendarstellungen zu rezipieren, für die die Bilder von Caspar David Friedrich prototypisch sind (vgl. Abb. 3.45a-b). 124 3 Politische Ikonografie <?page no="125"?> 159 Vgl.: Diers, Schlagbilder, S.-43ff. 160 Ebd., S.-43. 161 Ebd. 162 Ebd. Abb. 3.46a-b: Die ‚Romantik‘ der New Yorker Turmruinen Sinn und Zweck diachroner Bildreferenzen Die Frage lässt sich freilich in diesem Zusammenhang stellen, warum solche Rückgriffe erfolgen bzw. warum viele Bilder häufig vor solch einem Hintergrund rezipiert werden. Eine sehr pragmatische und meines Erachtens plausible Erklä‐ rung liefert der Kunstwissenschaftler Michael Diers mit Bezug auf Schlagbilder: 159 Zum einen ist der Rückgriff auf Bildstrategien, „die vordem von den Künsten ausgearbeitet worden sind“ 160 naheliegend - Diers schreibt sogar „unerlässlich“ 161 -, wenn Bilder strategisch auf affektive Wirkung angelegt sind. Populärkulturelle, aber auch politische Bilder sind ganz besonders auf solche Wirkung im öffentlichen Raum angelegt. 162 Die lange Tradition der Künste bietet ein riesiges Archiv an Angeboten und Optionen, wie affektive Wirkungen zu erzielen sind. Zum anderen garantiert die Referenz auf künstlerisch etablierte Motive, Bildformen oder auch Pathosformeln ein hohes Maß an Wiedererkennbarkeit, Lesbarkeit und Verständ‐ lichkeit, was für eine möglichst breitenwirksame Aufmerksamkeit und Verbreitung von Bildern durchaus von Vorteil ist. 3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer Ikonografie 125 <?page no="126"?> Transmediale Wanderschaft von Medienikonen Ein letzter Aspekt, der hier zur Charakterisierung von Medienikonen angeführt sein soll, ist ihre Affinität zu transmedialen Wanderungsprozessen. Che Gueveras fotografisches Porträt wird zur Lithografie, zum Wandgemälde, zur Popart, zum T-Shirt, zum Meme (vgl. noch einmal die Beispiele in Abb. 3.43 und 3.44). Mit anderen Worten: Das Porträt ist inzwischen in unterschiedlichen medialen Kontexten, also medienübergreifend ausfindig zu machen. Die damit verbundenen transmedialen Wanderungsprozesse beinhalten - wahrscheinlich in unserer digitalen Gegenwartkul‐ tur noch sehr viel stärker als jemals zuvor - auch permanente Reaktualisierungen, Bearbeitungen, Variationen, Umformulierungen von Medienikonen. Medienikonen mögen zwar häufig ihren Ausgangspunkt in Fotografien finden, wie Paul in seinen Veröffentlichungen veranschaulicht, aber zu Medienikonen werden sie eigentlich erst dann, wenn sie transmedial zirkulieren, also in mehreren medialen Kontexten virulent sind, in neue mediale Kontexte einwandern und sich dabei verändern oder doch zumindest neu semantisiert werden (vgl. zusammenfassend die entscheidenden Merkmale von Medienikonen Abb. 3.47 [↓ Kap. 4, Meme]). Medienikone Kontext: Populärkultur, Öffentlichkeit Funktion: kulturelles Erinnern Doppelcharakter: konkretes Ereignis/ Akteure (Ikon) übergreifende Sinngebung (Symbol) Formale Aspekte: fruchtbarer Augenblick, Schlagbild, Pathosformel Dynamik/ Verlauf: Abstraktion, Ent-Rekontextualisierung, Neusemantisierung, transmediale Ausweitung Kunstbezug: Rückgriff auf künstlerische Traditionsbestände mit der Funktion affektive Wirkungen, Wiedererkennbarkeit und Verständlichkeit herzustellen Abb. 3.47: Merkmale von Medienikonen 126 3 Politische Ikonografie <?page no="127"?> 163 Vgl. zur genaueren Bestimmung der Interikonizität im Kontext der Kunstwissenschaft: Christoph Zuschlag, Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität, in: Silke Horstkotte/ Karin Leonhard (Hg.), Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln 2006, S. 89-99. Zur folgenden Verwendung der Ikonizität als Analyseinstrument für politische Bilder vgl.: Clément Chéroux, Diplopie. Bildpolitik des 11. September, Konstanz 2011, v.a.: S.-74ff. 164 Bei Genette heißt es: Intertextualität liegt genau dann vor, wenn eine „effektive […] Präsenz eines Textes in einem anderen“ (Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993, S.-10) ausfindig zu machen ist. 165 Zu dieser ‚Medienikone‘ vgl. knapp: Jost Dülffer, Iwo Jima. Die patriotische Siegesikone der USA, in: Paul (Hg.), Bilder, die Geschichte schrieben, S.-116-123. 3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie Interikonizität Interikonizität meint anlog zur Intertextualität die Relation zweier oder mehrere Bilder bzw. Bildeinheiten. 163 Genauer und in Anlehnung an Ausführungen des Literaturtheoretikers Gérard Genette formuliert: Interikonizität liegt genau dann vor, wenn zwei oder mehrere Bilder in einem Bild ko-präsent gemacht werden. 164 Das kann zunächst einmal ganz einfach meinen, dass zwei oder mehre Bilder zu einem zusammengefügt werden, wie in einer Collage oder zum Vergleich, wie etwa im Fall von Warburgs Bildtafeln (vgl. noch einmal Abb. 3.19). Interessanter scheint indes der Fall, wenn die Ko-Präsenz durch formale oder strukturelle Referenzen hergestellt wird. Iwo Jima in New York Für beide Varianten der Interikonizitätsoption bietet die Berichterstattung über die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA viel Anschauungsmaterial. Auf einer Homepage, die eigens zur Erinnerung an diesen Anschlag eingerichtet wurde, sind zwei Bilder gegenübergestellt und mit der Frage untertitelt, ob sich Geschichte wiederhole (vgl. Abb. 3.48a). Auf der linken Seite findet sich eine der Medienikonen der USA, nämlich das Fahnenhissen durch US-amerikanische Soldaten nach dem verlustreichen Sieg gegen die japanische Armee auf der Insel Iwo Jima - für viele der Inbegriff für Heldentum, Hoffnung und Ausdruck des Erfolgs der US-amerikanischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg. 165 Rechts daneben sind New Yorker Feuermänner während der Aufräumarbeiten in den Trümmern des World Trade Center abgebildet. Die Bilder werden - wie der Untertitel deutlich hervorhebt - in ein Analogieverhältnis gesetzt. Die Darstellungen sind für solch eine Operation besonders geeignet, nicht nur, weil in beiden Fällen die US-amerikanische Flagge gehisst wird, sondern auch aufgrund ihrer formalen Organisation. Insbesondere betrifft dies die Bilddiagonale, die durch die Fahnenstange gezogen ist. Das Bild aus dem Zweiten Weltkrieg hat als Medienikone im Sinne Pauls einen Doppelbezug [↑ Funktionaler Doppelcharakter], ist es doch 3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie 127 <?page no="128"?> zum einen das Bild einer konkreten Situation während der Aufräumarbeiten, zum anderen wird darin Heldentum und Siegeswillen des US-amerikanischen Militärs symbolisch verdichtet. Auf das Bild der Feuerwehrsoldaten in New York soll genau dieser Doppelbezug durch einen Analogiebezug übertragen werden. Denn zum einen ist eine konkrete Situation während der Aufräumarbeiten abgebildet; zum anderen soll damit symbolisch verdichtet eben Heldentum, Sieg und Hoffnung angesichts der Terrorgefahr dargestellt werden. Auf der Titelseite der britischen Boulevard-Zeitung The Sun sind ebenfalls beide Fotos zueinander ins Verhältnis gesetzt. Diesmal ist das Iwo Jima-Bild oben rechts als kleines Erinnerungsbild reproduziert (vgl. Abb. 3.48b). In beiden Fällen sind die Bilder tatsächlich ko-präsent. Abb. 3.48a-c: Flaggenhissen während des ‚Krieges‘ Demgegenüber ist auf der Titelseite der US-amerikanischen Newsweek nur das Bild der Fahne hissenden Feuerwehrleute abgebildet (vgl. Abb. 3.48c). Hier ist die Ko-Präsenz der Bilder sehr viel indirekter zu finden, nämlich durch motivische, formale bzw. struk‐ turelle Analogien, die nur als solche erkannt werden können, wenn das Bild von Iwo Jima den Rezipient: innen bekannt und dementsprechend während des Rezeptionsaktes in der Einbildung präsent ist. Das dürfte wiederum für die meisten Rezipient: innen insbesondere in den USA zutreffen, ist doch dieses Bild vor allem dort eine bis dato äußerst populäre Nationalikone. Ikonografie und/ oder Interikonizität Die Praxis solch eines Ineinanderblendens von Bildern, ob unmittelbar oder unmittel‐ bar, ist im Kontext der Ikonografie-Untersuchungen selbstverständlich keine Neuig‐ keit. Wie in vorliegendem Kapitel dargelegt, geht es bei der politischen Ikonografie immer auch, ja zentral um historische Referenzen, also um die Suche nach Vorbildern und Bildtraditionen. Der Mehrwert des Interikonizität-Zugriffs besteht dennoch in mindestens vier Aspekten. Erstens geht es zumeist um eine konkrete, vergleichsweise deutlich nachzuweisende Bezugnahme auf ein Vorläuferbild. Zweitens handelt es sich 128 3 Politische Ikonografie <?page no="129"?> 166 Vgl. dazu und zum Folgenden: Chéroux, Diplopie, S.-55ff. dabei nicht um Variation, Modifikation, Imitation oder Kritik, auch nicht einfach um Ähnlichkeit, sondern um Herstellung einer Analogie, also um Ähnlichkeit zur Herstellung einer Identitätssuggestion - Trump ist (wie) George Washington, Iwo Jima ist (wie) 9/ 11, Obama (wie) Kennedy usw. Drittens wird bei diesen Bezugnahmen primär auf Medien- oder Superikonen im Sinne Pauls referiert. Medienikonen werden nicht nur, wie weiter vorne bereits formuliert, im Lauf ihrer Rezeption überhaupt erst hergestellt, sondern ebenso gilt aus dieser Perspektive: Medienikonen finden Verwen‐ dung, um möglichst weitere Medienikonen zu produzieren. Viertens - und das ist in diesem Kontext vielleicht das Interessanteste - werden interikonische Operationen des Ineinanderblendens propagandistisch, also politisch strategisch, eingesetzt, etwa um Kriege zu legitimieren oder diese zumindest denkbar zu machen. Jedenfalls zeigt der Fotohistoriker Clément Chéroux solch eine Praxis sehr eindrücklich anhand der US-amerikanischen Berichterstattung über 9/ 11. 166 9/ 11 als interikonisch geführter Bilderkrieg Zunächst beobachtet Chéroux bei seiner Auswertung von knapp 400 Titelbildern aus der US-amerikanischen Presse vom 11. und 12. September 2001, dass dort hohen Wert auf das Verfahren dieses Ineinanderblendens gelegt wurde. Zweitens ist auffällig, so der Fotohistoriker, dass die historischen Referenzen immer wieder auf Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgreifen. Zwei Ereignisse werden dabei vor allem relevant, zum einen Darstellungen von Pearl Harbour - und damit auf den unvorhergesehenen Überfall Japans auf einen US-amerikanischen Flugzeugstützpunkt, der den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zur Folge hatte. Es finden sich die Bilder der brennenden World Trade-Türme häufig durch Titel begleitet, die genau darauf verweisen. So ist etwa auf einer Titelseite unterhalb der brennenden Türme fettgedruckt in Großbuchstaben zu lesen: „‚SECOND PEARL HARBOUR“ (vgl. Abb. 3.49a). In anderen Fällen werden die Rauchwolken der brennenden Türme visuell analog gesetzt zu den Bildern des in Flammen stehenden Flugzeugstützpunktes Pearl Harbour beim Angriff des japanischen Militärs (vgl. Abb. 3.49b). Solche Analogien sind mitnichten einfache, wertneutrale Vergleiche. Vielmehr wird so für die Terrorangriffe ein Interpretationsmuster etabliert. Die Terrorangriffe sind, wie der Angriff Japans auf Pearl Harbour, faktisch eine Kriegserklärung, auf die man eben nur mit einem Kriegsfeldzug reagieren kann oder sollte - so der visuell nahe gelegte Analogieschluss. 3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie 129 <?page no="130"?> 167 Ebd., S.-143. 168 Der Fotohistoriker formuliert das sehr viel eleganter. Er schreibt: „Die Medien sind gewiss nicht verantwortlich für die Kriegspolitik der amerikanischen Regierung, doch sie trugen dazu bei, die Bedingungen ihrer Verwirklichung zu schaffen.“ (Ebd., S.-81) Abb. 3.49a-b: Visuelle Kriegserklärungen Genau nach diesem Muster lässt sich die interikonische Verknüpfung des Iwo Jimas-Bil‐ des mit dem Hissen der Flagge durch Feuerwehrmänner nach den Anschlägen in New York verstehen. Durch die Analogie wird der Kriegsappell oder doch zumindest die Rechtfertigung eines möglichen Kriegseinsatz visuell bekräftigt. Denn - so suggeriert die Analogie - die USA befinde sich faktisch bereits im Krieg oder sollte sich bereits dort befinden. Chéroux fasst seine Überlegungen in einer pointierten Sentenz, die besonders passend im Umfeld einer politischen Ikonografie ist, zusammen: „Die Interikonizität dient auch dazu, Kriege zu führen.“ 167 Es geht bei dieser Deutung nicht darum, die Presse als bloßes Instrument der US-amerikanischen Regierung zu brandmarken, die die öffentliche Zustimmung für eine Krieg gegen den Terror sicherlich durchaus suchte. Die Presse macht so einen Krieg aber doch durch diese Analogisierungen denkmöglich oder perspektiviert solch einen Kriegseinsatz zumindest zustimmungswürdiger und als wahrscheinliche Lösung [↓ Kap. 4, Premediation]. 168 Selbst dann, wenn man die jeweiligen Redakteur: innen und Fotograf: innen nicht als Kriegstreiber: innen verstehen muss, so ist doch frappant, wie häufig diese Form der Interikonizität in der US-amerikanischen Presse ausfindig 130 3 Politische Ikonografie <?page no="131"?> 169 Zum Zusammenhang von Bild und Interkulturalität vgl.: Sergej Seitz u. a., Bildtheorie und Interkul‐ turalität, in: ders. u. a. (Hg.), Facetten gegenwärtiger Bildkultur. Interkulturelle und interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2018, S.-1-18. 170 Vgl.: Chéroux, Diplopie, S.-82ff. zu machen ist. Zur Erklärung könnte man auch die Ebene von Handlungen und Absichten menschlicher Akteure auf die der generellen Funktion von Medienikonen wechseln. Dann wäre diese Strategie zu verstehen als der Versuch, ein Ereignis im Bild verständlich bzw. kommunikativ anschlussfähig zu machen oder auch als Teil einer den Massenmedien inhärenten Aufmerksamkeitsökonomie [↓ Kap. 4, Aufmerk‐ samkeitsökonomie], die Superlativen folgt. Wie auch immer dieser Zusammenhang zu deuten sein mag, wird - unabhängig von den jeweiligen Intentionen, politischen Zielen und Ideologien - durch diese Bildoperationen ein politischer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsraum aufgespannt, der für bestimmte, in diesem Fall für sehr konkrete politische Absichten und Ziele den Weg ebnet. Insofern fällt diese Art der Berichterstattung ganz sicher in den Gegenstandsbereich politischer Ikonografie. Interikonizität und Interkulturalität Noch einen anderen Aspekt verdeutlichen die Ausführungen Chérouxs, verbindet der Bildhistoriker doch seine Pressebildanalysen mit der Frage nach deren Interkultura‐ lität. 169 Anhand von Titelseiten, insbesondere solcher, die in Frankreich erschienen, zeigt Chéroux, wie signifikant abweichend die Darstellungsformen dort gegenüber denjenigen US-amerikanischer Zeitungen- und Zeitschriften sind. 170 Zwar finden sich auch in der französischen Presse häufig interikonische Verknüp‐ fungen, aber mit ganz anderen Referenzen. Ist auf den Titelseiten der US-amerika‐ nischen Zeitungen- und Zeitschriften der Vietnam-Krieg als mögliche historische Referenz weitgehend ausgeblendet, so ist die Analogie der Terrorangriffe mit Bildern aus dem Vietnamkrieg in französischen Publikationen allgegenwärtig. Auch dort wird meist auf Medienikonen zurückgegriffen. So findet sich etwa auf einer Sonderausgabe von Le Figaro nicht etwa ein Bild der Anschläge oder des Einmarsches der US-ameri‐ kanischen Militärtruppen im Irak, sondern ein Bild aus dem Film Apocalypse Now von Francis Ford Coppola, der sich primär mit den problematischen und wahnwitzigen Aspekten des Vietnamkriegs beschäftigt (vgl. Abb. 3.50a). In Libération wiederum wurde eine Karikatur publiziert, die die Anschläge auf das World Trade Center mit dem Bild, auf dem das ‚Napalm-Mädchen‘ abgebildet ist, verbindet (vgl. Abb. 3.50b). Anführen lässt sich in diesem Zusammenhang auch ein Titelbild des Spiegels (vgl. Abb. 3.50c). Dort führt der damalige US-amerikanische Präsident George W. Bush seine Minister: innen an, um in einen „Bush Krieg“ zu ziehen. Bush wird hier als Rambo dargestellt, einem fiktiven Charakter, der im ersten Teil der gleichnamigen Spielfilmreihe traumatisiert aus dem Vietnamkrieg heimkehrt und im zweiten Teil nach 3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie 131 <?page no="132"?> 171 Vgl.: Rambo: First Blood II (USA 1985). Vietnam zurückkehrt, um die letzten US-amerikanischen Kriegsgefangene zu befreien, wobei er im Schnitt alle 1,5 Minuten einen Vietkong tötet. 171 Abb. 3.50a-c: Post 9/ 11 als ‚Bush-Krieg‘ in Vietnam All diese Referenzen zeugen deutlich von einer kritischen Haltung gegenüber den US-amerikanischen Kriegsplänen durch Analogie zu einem Krieg, den die USA nicht nur nicht gewonnen haben, sondern der auch in die Geschichte als ein kolonialistischer Krieg der USA einging und gegen den weltweit protestiert wurde. Hier könnte man - analog zur Situation in den USA - wiederum diskutieren, ob es sich bei dieser Art der Berichterstattung dezidiert um politische Kritik handelte oder ‚nur‘ die Verstehbarkeit durch historische Bild- und Motivmuster erhöht werden sollte oder auch die kommu‐ nikative Konsenswilligkeit in Frankreich oder Deutschland, wo traditioneller Weise in der Presse, insbesondere in den hier angeführten Zeitungsorganen, über Dekaden hinweg amerikaskeptisch bis amerikafeindlich berichtet wurde, wahrscheinlicher zu machen. Wichtiger als diese Diskussion ist hier: Es lassen sich interkulturelle Vergleiche unterschiedlicher Praktiken und Referenzen zur Erlangung oder Kritik von politischen Zielen bzw. deren Zustimmung oder Ablehnung ermitteln, die - wie das Beispiel USA vs. Frankreich im Fall der Bildberichterstattung zu 9/ 11 zeigt - sehr unterschiedliche Bildtraditionen und Medienikonen mobilisiert. Luther als Paulus vs. Papst als Petrus Um zumindest kurz darauf hinzuweisen, dass die Strategie der Interikonizität nicht erst im 21. Jahrhundert eine gängige Praxis wurde, sondern schon lange, auch im politischen Kontext, eine etablierte Darstellungsform ist, sei auf ein Beispiel im Kontext der Reformationszeit verwiesen. Martin Luther und seine Anhänger: innen 132 3 Politische Ikonografie <?page no="133"?> 172 Warburg, Heidnisch-antike Weissagung, S.-466. 173 Vgl. dazu: Weigel, Grammatologie der Bilder, S.-263ff. 174 Warburg, Heidnisch-antike Weissagung, S.-466. 175 Vgl. dazu: Bruhn, Bildwirtschaft, S.-105. 176 Ebd. führten in dieser Zeit einen regelrechten „Pressefeldzug“ 172 gegen Doktrinen der katholischen Kirche. Die gegenreformatischen Maßnahmen ließen nicht lange auf sich warten. Interessant an diesem Werbefeldzug ist, dass er vor allem mit Bildern geführt wurde. Insbesondere Bilder angefertigt im Holzdruckverfahren und in Umlauf gebracht auf Flugblättern wurden dafür verwendet. 173 Aby Warburg bezeichnet diese Konstellation als „leidenschaftliche […] Schlagbilderpolitik“ 174 [↑ Schlagbild]. Im Zuge des Wormser Reichstag im Jahr 1521, auf dem Luther den Papst treffen sollte, wurden beispielsweise mehrteilige Druckstöcke hergestellt, die im ersten Fall den Papst im Disput mit Luther zeigen (vgl. Abb. 3.51a), im zweiten Fall mit dem Apostel Paulus (vgl. Abb. 3.51b). 175 Die zwei Abbildungen setzen sich aus insgesamt drei Druckblöcken zusammen. Ein Druckblock, der den Papst und seine Gefährten darstellt, wird einmal mit einem Druckblock gekoppelt, der Paulus zeigt, einmal - unter Verwendung desselben Druckblocks - mit einem, auf dem Luther zu sehen ist. Mit diesen Darstellungen wird, wie im Fall der Titelseiten zu den Anschlägen in den USA am 11. September 2001, eine Argumentation per Analogie visuell vollzogen, die durch die identische Reproduktion des Papst-Druckblocks in beiden Fällen besonders markiert wird, nämlich Luther ist (wie) Paulus. Der Kunst- und Medienhistoriker Matthias Bruhn schreibt diesbezüglich treffend: „Durch den Austausch der Figuren wird Luther zum Stellvertreter Pauli auf Erden, welche dem Stellvertreter Petri [also dem Papst; SG] die Stirn bietet.“ 176 3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie 133 <?page no="134"?> 177 Vgl. zur Karikatur im historischen Überblick: Günter Osterle/ Ingrid Oesterle, Karikatur, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4, Basel/ Darmstadt 1980, S. 696-701. Abb. 3.51a -b: Luther ist (wie) Petrus: Bildpolitik der Reformation Os/ bama Das solch ein Ineinanderblenden nicht nur bei außergewöhnlichen Situationen zu finden ist, sondern gängige Praxis politischer Bilder, insbesondere dann, wenn es um Karikaturen geht, die stark mit Schematisierungen und Überzeichnungen operieren, 177 lässt sich am Titelbild des New Yorker vom 21. Juli 2008 zeigen (vgl. Abb. 3.51b). Hier ist der damalige Präsidentschaftskandidat Obama mit seiner Frau Michelle im Weißen Haus abgebildet. Imaginiert wird somit eine mögliche Zukunft, in der Obama Präsident ist. (Über-)Deutlich wird Obama durch Kleidung und Porträt als Sympathisant von Osama bin Laden präsentiert (vgl. Abb. 3.52c). Genauer eigentlich werden Obama und Osama bin Laden analogisiert. 134 3 Politische Ikonografie <?page no="135"?> Abb. 3.52a-d: Der Terrorismus ist im Herzen Amerikas angekommen Man muss keine Doktorarbeit über politische Ikonografie geschrieben haben, um zu erkennen, dass damit die Angst visualisiert ist, mit Obama könnte ein US-amerikani‐ scher Terrorist ins Weiße Haus Einzug halten. Obama ist (wie) Osama, der sichtlich belustigt, die US-amerikanische Fahne im offenen Kamin des Weißen Haus verbrennt - ein politischer Bildakt, der im Zusammenhang mit Protesten gegen die USA vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten bekannt ist (vgl. Abb. 3.52d). Michelle Obama wiederum hat ein Gewehr umhängen, ist in para-militärischer Kluft gekleidet und trägt das Haar im Afrolook. Damit wird auf Akteurinnen der Black Panther Party referiert, die bewaffneten Widerstand gegen die Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung während der 1960er- und 1970er-Jahre in den USA leisteten (vgl. Abb. 3.52a). Die Identitätszuweisung per Analogie ist hier ebenfalls überdeutlich: Michell Obama ist (wie) eine gewaltbereite Akteurin der Black Panther Party. Damit - so das imaginierte Schreckensszenario - wären islamischer Terrorismus als auch bewaffneter Widerstand seitens einer afroamerikanischen Gruppierung im Herzen Amerikas angekommen und würden die Grundwerte und Grundfesten der USA von innen wie außen zersetzen. Die Karikatur und ihrer deutliche Lesbarkeit - insbesondere für US-amerikanische Rezpient: innen - operiert hier genauso wie im Fall der Beispiele Chérouxs auf Grundlage interikonischer Analogiebildung. Rückblick Dass die politische Ikonografie mit politischen Bildern und politisch-strategischem Einsatz von Bildern zu tun hat, dürfte ebenso wenig verwundern, wie der Verweis darauf, dass diese Forschungsrichtung in der Nachfolge kunstwissenschaftlicher 3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische Strategie 135 <?page no="136"?> Ikonografie Bildmuster, Motive und deren Traditionsbestände zum Gegenstand hat und dabei auch ästhetische Aspekte wie den fruchtbaren Augenblick (Lessing) untersucht. Interessanter dürfte schon sein, dass die politische Ikonografie nicht nur nach Bedeutungen von Bildern fragt, sondern nach deren affektiven Dimensionen (Pathosbilder und Schlagbilder nach Warburg) - und damit mehr oder minder implizit auch nach der Besonderheit visueller Kommunikation und Darstellung. Die Beschreibung der Medienikonen (Paul) hat zudem zeigen sollen, dass politische Bildinhalte und -formen sehr häufig einer Doppelbewegung zu folgen scheinen, nämlich einerseits sehr konkret ikonische Phänomene darzustellen, anderseits symbolisch verdichtet übergreifende politische Zusammenhänge zu visualisieren und politische Einstellungen zu animieren. Unter Rückgriff auf die Interikonizität konnte im Anschluss daran gezeigt werden, dass diese Doppelbewegung oftmals eine Referenz auf vorhergehende Bilder, zumeist selbst Medienikonen, beinhaltet, um so bestimmte, eben auch politisch re‐ levante Analogieschlüsse nahezulegen. Die Dopplung von ikonischer und symboli‐ scher Referenz - häufig verbunden mit einer diachronen Bedeutungsstabilisierung durch Bildformeln und Muster - scheint eine Eigenart oder sogar Besonderheit vieler (politischer) Bilder zu sein. Darauf wird im folgenden Kapitel ausführlicher zurückzukommen sein. Hervorzuheben ist insbesondere der zeitliche Aspekt von Bildern und Bilderwan‐ derungen, geht es doch bei der Untersuchung eben nicht darum, linear Bildern und Bilderreihen über die Zeit hinweg zu folgen, sondern ganz im Gegenteil um eine diametral entgegengesetzte Perspektive: Bildmotive, Bildformen und -elemente verschwinden, können zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt in ganz anderen Kontexten wieder auftauchen bzw. politisch fruchtbar gemacht werden, etwa durch Analogiebildung (Chéroux). So werden diachrone Bildverhältnisse eine Angelegenheit a-linearer Zeitorganisation oder gleich einer Aussetzung von Zeit, zielt doch etwa interikonische Analogiebildung auf die Aufhebung historische Differenzen. Vier Arten historischer Referenzen wurden ausdifferenziert, nämlich Tradition, Muster, Serie und Verwandtschaft. Damit sollte nicht nur gezeigt werden, welche unterschiedliche Formen von Bildbezügen ausfindig zu machen sind, sondern sehr viel wichtiger: Je nachdem, welchen Formen man folgt, bekommt man es mit unterschiedlichen Aspekten politischer Bildpraktiken zu tun und findet so womöglich sehr unterschiedliche Bildphänomene. 136 3 Politische Ikonografie <?page no="137"?> Weiterführende Forschungsliteratur Aby Warburg: Mnemoysne Einleitung [1929], in: ders., Werke in einem Band, S.-629-639 (Berlin 2018) In dieser kurzen Einleitung in ein Buchprojekt, das der Kunsthistoriker nie zu Ende führen konnte, werden zentrale Konzepte Warburgs, etwa Pathosformel oder automobile Bildfahr‐ zeug, knapp bestimmt und in Zusammenhang zueinander gebracht. Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne. Das Original, in: Homepage zur gleichnamigen Ausstellung im HKW Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 04.09.-01.11.2020, Online abrufbar unter: https: / / www.hkw.de/ de/ programm/ projekte/ 2020/ aby_warburg/ bilderatlas_mnemos yne_start.php [01.09.21] Auf dieser Homepage, die anlässlich der Ausstellung des unvollendeten Buchprojektes War‐ burgs eingerichtet wurde, finden sich zum einen viele der von Warburg vorbereitenden Bild‐ tafeln, die deutlich machen, wie Warburg Bilder aus über 2000 Jahren und unterschiedlichen Kontinenten a-chronologisch ins Verhältnis setzt. Zum anderen gibt es viele Informationen zu Warburgs Werk. Besonders hilfreich sind die Bestimmungen von Warburgs zentralen Begrifflichkeiten. Kerstin Schankweiler/ Philipp Wüschner: Images that move. Analyzing affect with Aby Warburg, in: Anje Kahl (Hg.), Analyzing Affective Societies. Methods and Methodologies, S.-101-119 (New York/ London 2019) In diesem Text wird Warburgs Pathosformel aufgegriffen und diskutiert, wie dieses Konzept für eine methodische Analyse der affektiven Dimensionen von Bildern nutzbar zu machen sein könnte - auch und gerade für Bilder jenseits des kunstwissenschaftlichen Kanons, insbesondere für Protestbilder, die heute auf digitalen Plattformen zirkulieren. Im zweiten Teil gehen die Autor: innen auf die Analogie zwischen Warburgs Praxis der Bildkombination (auf Bildtafeln) ein und vergleichen damit die Art und Weise, wie Bilder auf digitalen Bildschirmen und Archivangeboten heute versammelt und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Damit wird Warburgs Forschungspraxis der heterogenen Bildorganisation nicht nur als Vorläufer einer heute alltäglichen digitalen Bilderpraxis verstanden, sondern darüber spekuliert, ob diese Art des Zugriffs auf Bilder nicht nur ein Denken über Bilder ist, sondern vielmehr ein Denken mit und in Bildern. Leider führen die Autor: innen nicht ausführlich genug aus, was genau es bedeuten könnte in und mit Bildern zu denken (im Gegensatz zu begrifflichen Denken) und wie genau das mit dem affektiven Aspekt von Bildern zusammenhängt. Vielleicht holen die Autor: innen das noch in zukünftigen (ausführlicheren) Arbeiten nach. Gerhard Paul (Hg.): Bilder, die Geschichte schrieben: 1900 bis heute (Göttingen 2011) In diesem mit Bildern opulent ausgestatteten Sammelband werden sehr viele Medienikonen, insbesondere Fotografien, versammelt und von Expert: innen instruktiv kommentiert. So erhält man einen sehr guten Überblick darüber, was für Arten von Medienikonen existieren, was ihr jeweiliger historischer Entstehungsort ist und welche Bildwanderungen sie hinter sich haben. Trotz des instruktiven Vorworts von Paul wird indes das Konzept der Medien‐ ikonen zu knapp diskutiert bzw. zu viele Facetten dieser Ikonenart angesprochen, ohne diese angemessen auszuführen und in Zusammenhang zu bringen. Eine Methode der Analyse von Weiterführende Forschungsliteratur 137 <?page no="138"?> Medienikonen wird nicht systematisch ausformuliert. Deshalb sind in den einzelnen Beiträ‐ gen auch mitunter sehr unterschiedliche, meist implizit bleibende Vorstellungen darüber zu finden, was Medienikonen sind. Clément Chéroux: Diplopie. Bildpolitik des 11. September (Konstanz 2011) In diesem Buch wird materialgesättigt und instruktiv an einem konkreten Beispiel, nämlich der Titelseiten US-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften, die Bildberichterstattung zu 9/ 11 untersucht. Anschaulich gemacht ist so, wie klassisch kunstwissenschaftliche Zugriffe zur Analyse politische Bilder und Bildpolitiken fruchtbar zu machen sind, insbesondere mit dem Konzept der Interikonizität. Marion G. Müller/ Stephanie Geise: Politische Ikonografie und Ikonologie, in: dies., Grundlagen der Visuellen Kommunikation, S.-183-196 (Konstanz/ München 2 2015) Hier wird das Analyseschema des Kunstwissenschaftlers Erwin Panofsky modifiziert, wo‐ bei der Versuch unternommen wird, das Schema nicht nur auf Kunstwerke, sondern, wie es im Titel deutlich markiert ist, auf politische Bildphänomene anzuwenden. Dem Einführungscharakter des Buches entsprechend werden dazu anschauliche Beispiele aus der Populärkultur angeführt. Dennoch bleiben meines Erachtens einige Beschreibungen, gerade auf der Ebene der Ikonologie, die bei Müller und Geise erheblich modifiziert wird, recht vage und werden in den Einzelanalysen nicht ausführlich genug entfaltet. Nichtsdestotrotz scheint mir dieser Band ganz generell eine leicht zu lesende, voraussetzungslose Einführung in das Themenfeld, wie mit Bildern auch und gerade jenseits von Kunstwerken strategisch-politisch kommuniziert wird. Sigrid Schade/ Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdiszi‐ plinäres Forschungsfeld (Bielefeld 2011) Vor allem im Kapitel „Von der Kritik an der Ikonologie zu einer kritischen Ikonologie“ (S. 71ff.) rekonstruieren die Autorinnen die Ikonologie ausgehend von der kritischen Rezeption Pa‐ nofskys bis hin zu dem, was W.J.T Mitchell ‚kritische Ikonologie‘ nennt. Daran anschließend entwickeln Schade und Wenk mit Bezug auf die Semiotik Roland Barthes‘ [↓ Kap. 4, Bilder ‚ohne Code‘] die Ikonologie zu ihrer Variante einer semiotisch fundierten ideologiekritischen Ikonologie weiter. Dieser Ansatz ist für konkrete Analysen politischer Bilder sehr hilfreich, limitiert aber den Blick auf solche Bilder doch allzu selektiv auf eine ideologiekritische Variante aus Perspektive der Cultural Studies [↓ Kap. 4, Von ‚Left Wing‘ zu ‚Right Wing‘ Cultural Studies]. Nicht, dass Selektion an und für sich ein Problem wäre, ja vielmehr ist sie Voraussetzung für wissenschaftliche Forschung. Aber mit Bezug auf die Entwicklung einer politischen (Medien-)Ikonografie bleiben dabei doch zu viele andere, durchaus relevante oder zumindest interessante Aspekte außen vor. Jörgen Probst (Hg.): Politische Ikonologie. Bildkritik nach Martin Warnke (Berlin 2022) In diesem Sammelband wird erstens die Geschichte der Institutionalisierung der politischen Ikonologie bzw. Ikonografie und die Widerstände, die diese innerhalb der Kunstwissenschaft erfahren hat, anhand eines ihrer zentralen Akteure, nämlich Martin Warnke, vorgestellt. Zweitens werden Methoden dieser Forschungsrichtung diskutiert (wenngleich recht kurz). Drittens wird anhand vieler Beispiele gezeigt, wie der Ansatz zur Analyse und Interpretation gegenwärtige Phänomene politischer Bildpraktiken fruchtbar zu machen ist. Vor allem 138 3 Politische Ikonografie <?page no="139"?> der historische Teil und die exemplarischen Analysen digitaler Bildphänomene sind sehr instruktiv und hilfreich, um zu verstehen, was politische Ikonologie/ Ikonografie will, war und ist und wie sie zur Untersuchung konkreter Phänomene beitragen kann. Was indes aus meiner Sicht zu kurz kommt, ist eine Diskussion was Ikonologie und Ikonografie eigentlich genau unterscheidet, außer einem kurzen Hinweis darauf im Vorwort, liest man dazu nichts im gesamten Sammelband. Ebenso bleibt eine übergreifende systematische Aufarbeitung politischer Ikonologie/ Ikonografie, ihrer Methoden und Medien ausgespart. Das mag, wie die historische Skizze zeigt, daran liegen, dass diese Forschungsrichtung von Anfang an skeptisch gegenüber allzu einfachen Schematisierungen war, bleibt aber dennoch unbefriedigend, wenn man eine wissenschaftstheoretische Grundlegung dieses Ansatzes sucht oder an übergreifenden methodischen Hilfestellung für die eigene Analysen medialer Phänomenen interessiert ist. Weiterführende Forschungsliteratur 139 <?page no="141"?> 4 Politische Medienikonografie Überblick In diesem Kapitel sollen die Facetten dessen vorgestellt werden, was ich unter dem Begriff ‚Politische Medienikonografie‘ verstehe. Auf Grundlage der Unterteilung des Medienbegriffs in Code und Kanal werden diverse Ansätze der Kultur- und Medienwissenschaft vorgestellt und veranschaulicht, wie diese für die Analyse politischer Bilder produktiv zu machen sind. Der Ablauf ist so angelegt, dass er von der prinzipiellen Frage danach, was Bilder sind, über Zugriffe, die Bilder als Codesysteme begreifen, zur Materialität von Bildern verläuft und von dort dann zu den Kontexten von Bildern, ihren jeweiligen Wahrnehmungsanordnungen, in denen Bilder zur Erscheinung gebracht werden, zu Agenturen, die Bilder archivieren, selektieren und vermitteln, bis hin zu den Infrastrukturen, die Bilder in spezifischer Weise zirkulieren lassen und ins Verhältnis zueinander setzen. Zugespitzt formuliert: Die Darstellung geht von dem aus, was wie spezifisch auf Bildern zur Erscheinung kommt, und folgt davon ausgehend dem, was sich hinter der Bildoberfläche befindet, sich immer weiter von den Bildinhalten entfernt und dennoch die Wahrnehmbarkeit der Bilder reguliert und ihre Inhalte präformiert. 4.1 Über die Medienvergessenheit politischer Ikonografie Häufig, vielleicht etwas zu häufig wurden in den vorangegangenen Kapiteln auf die Medienvergessenheit der (politischen) Ikonografie hingewiesen. Indes dürfte bei der konkreten Vorstellung einzelner Positionen und Beispiele klar geworden sein, dass dort ‚die Medien‘ nicht einfach bis dato vergessen wurden. So hat sich beispielsweise bei der Diskussion von Warburgs Konzept der Bildfahrzeuge gezeigt, dass dort durchaus Ansätze für eine medienwissenschaftliche Perspektivierung von Bildern zu finden sind, insbesondere Warburgs Überlegungen zum Zusammenhang von Bildobjekt und Bildträger treffen ins Zentrum der Frage nach der Medialität bildlicher Darstellungen [↑ Kap. 2, Automobiles Bildfahrzeug]. Zu verweisen ist hier etwa auch auf Gerhard Pauls Medienikonen-Konzept [↑ Kap. 3, Transmediale Wanderschaft…], auf das Handbuch der politischen Ikonografie oder den 2022 erschienen Sammelband Politische Ikonologie, in denen unterschiedliche mediale Konstellationen durchaus relevant sind. Es ist nicht so, dass dort der materielle Unterschied zwischen Skulpturen, Fotografien oder Briefmarken nicht bedacht wird, medientechnologische Infrastruk‐ turen, Meme-Zirkulation, Medieninstitutionen oder digitale Archive irrlevant für die Analyse von Bildern sind. Nichtsdestotrotz finden sich dort kaum prinzipielle bzw. systematische Überlegungen zu dem, was eigentlich ein Bild ist, welche unterschied‐ <?page no="142"?> lichen Bildtypen existieren, welchen Einfluss Materialität, Medientechnologie oder Infrastrukturen auf Bildproduktion, -gestaltung und -rezeption haben. Diese Aufgaben werden - so scheint es mir zumindest - stillschweigend entweder der Bildwissenschaft überlassen oder an die Medientheorie delegiert. Das ist insofern misslich, als damit viele Untersuchungen der politischen Ikonografie zum einen ihre Grundbegriffe zu wenig reflektieren und diese dementsprechend unscharf bleiben müssen. Zum anderen - und hier noch wichtiger - bleiben so viele mediale Aspekte, die zum Verständnis für die Funktions-, Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen politischer Bilder relevant sind, ja, durch diese präformiert werden, unsichtbar. Dieser Art der Medienvergessenheit soll in diesem Kapitel auf unterschiedlichen Ebenen des Medialen mit möglichst facettenreichen Zugriffen, die innerhalb der Kultur-, Bild- und Medienwissenschaft zu situieren sind, entgegengearbeitet werden. 4.2 Aspekte politischer Medienikonografie Wie bereits in Kapitel 2 vorgeschlagen [↑ Medien], soll dem Medialen politischer Bilder ausgehend von einer einfachen Unterscheidung zwischen Code- und Kanalebene nachgegangen werden (vgl. Abb. 4.1). Diese Unterscheidung erlaubt es je nach Ebene und Interessen zwischen Medien und Formen zu unterschieden [↑ Kap. 2, Code I Kanal; Medium I Form…]. Medien Code sprachlich visuell Fotografie Film Malerei Denkmal ... Kanal materiell infrastrukturell Abb. 4.1: Medienaspekte und ihre Ausdifferenzierung mit Fokus auf dem Visuellen Trotz der Unterteilung in zwei Ebenen und die daran anschließenden Binnendifferen‐ zierungen soll im Folgenden kein übergreifender Zugriff oder gar eine allgemeine Theorie bzw. Methodologie politische Medienikonografie entfaltet werden. Auf beiden Medien-Ebenen werden stattdessen sehr unterschiedliche, mitunter auch untereinan‐ der nicht kompatible Ansätze aus der Kultur-, Bild- und Medienwissenschaft vorge‐ 142 4 Politische Medienikonografie <?page no="143"?> 178 Vgl. für dieses Grundvokabulars: Pichler/ Ubl, Bildtheorie zur Einführung, v.a.: S.-20ff. stellt, die, wenn überhaupt, bestenfalls eine Familienähnlichkeit ausbilden [↓ Anstatt einer Bilddefinition]. Die Entscheidung für die heterogene Vielfalt und die damit verbundene Absage an die Konturierung eines kohärenten Forschungsfeldes liegt erstens schlicht darin begründet, dass es sehr viele unterschiedliche Ansätze gibt, die produktiv für die Analyse politischer Bilder zu machen sind. Hier eine normative Selektion zugunsten von Kohärenz vorzunehmen, scheint mir zweitens gerade im Kontext einer Einführung problematisch. Zumindest meiner Überzeugung nach sollte solch eine Einführung einen möglichst vielfältigen Überblick über unterschiedliche Zugriffe geben. Drittens ist die Darstellung einer Vielzahl an Zugriffen deshalb interessant, weil so gezeigt werden kann, dass anhand differenter Zugriffe unterschiedliche Fragen zu stellen und Antworten zu erwarten sind. Dementsprechend variabel, je nach Interesse und Problem, kann die so konturierte politische Medienikonografie eingesetzt werden und, wie ich hoffe, nützlich sein. Damit ist viertens eine weitere Aufgabe einführender Literatur verbunden, nämlich als eine Art Nachschlagewerk zu fungieren, das je nach Interesse möglich macht, auf bestimmte Ansätze gezielt und selektiv zuzugrei‐ fen. Nichtsdestotrotz sollen fünftens die vielen Facetten und Zugriffsmöglichkeiten zumindest so versammelt werden, dass das, was eine politische Medienikonografie ausmachen könnte, deutlich Konturen erhält. Bevor aber solche Zugriffe vorgestellt werden, sollen zunächst einige Basisbestim‐ mungen vorgenommen werden, um so unterschiedliche Ebenen eines Bildes begrifflich klarer ausdifferenzieren zu können. Ausgehend davon kann im Anschluss der kompli‐ zierten Frage danach, was eigentlich die entscheidenden Merkmale eines Bildes sind, nachgegangen werden. Bildinstanzen Ein Bild konstituiert sich prinzipiell durch drei Instanzen, die ineinandergreifen: (1) das Bildvehikel, (2) der Bildinhalt und (3) die Bildreferenz (vgl. Abb. 4.2). 178 4.2 Aspekte politischer Medienikonografie 143 <?page no="144"?> (1) Bildvehikel (a) bildgebende Schicht (b) bildtragende Schicht (2) Bildinhalt (a) Bildobjekt (b) Bildraum (3) Bildreferenz (a) definite Bezugnahme (b) indefinite Bezugnahme lose vs. fixe Kopplung konkret/ singulär vs. abstrakt/ typisiert vor/ unabhängig von Bild existierend vs. aufgrund des Bildes existierend bzw. in Erscheinung tretend Abb. 4.2: Bildinstanzen und einige ihrer Relationen (1) Bildvehikel Damit ist die materielle Dimension eines Bildes bezeichnet, das, was man tradi‐ tionellerweise Bildträger nennt. Zu unterscheiden ist hierbei (a) die bildtragende Schicht und (b) die bildgebende Schicht. Bildtragend ist die Schicht, auf die die bildgebende Schicht aufgetragen wird. Ein einfaches Beispiel ist das Material, auf das ein Gemälde gemalt wurde, etwa auf Holz oder Leinwand. Zu denken wäre auch an eine Fotografie, deren bildtragende Schicht, eine Fotoplatte sein kann, das Fotopapier oder auch eine digitale Bilddatei. Bildgebend wäre demgegenüber die Farbe, mit der die Leinwand bemalt wird, die chemische Emulsion, die es möglich macht, eine Lichtspur auf einem Fotopapier zur Erscheinung zu bringen, die Pixel auf einem Monitor, die eine digitale Datei visualisieren oder auch die Konstruktionslinien einer zentralperspektivischen Bildanordnung. (2) Bildinhalt Hierunter ist schlicht zu verstehen, dass Bilder Inhalte haben. Damit gemeint ist, dass ein Bild etwas ist, das auf Grundlage eines Bildvehikels, (a) Gegenstände bzw. Objekte (etwa Bäume, Menschen) und/ oder (b) Bildräume (etwa eine Landschaft) zur Erscheinung gebracht werden. (3) Bildreferenz Die Bildinhalte bringen etwas zur Erscheinung, das sie selbst nicht sind (das Bild eines Baumes ist selbst kein Baum); vielmehr beziehen sie sich auf Objekte 144 4 Politische Medienikonografie <?page no="145"?> 179 Viele weitere Ausdifferenzierungen finden sich in: ebd. wie Bäume oder Räume wie Landschaften. Zu unterscheiden sind (a) definite von (b) indefinite Referenzobjekte. Definite Bezugnahme meint eine Referenz auf ein bestimmtes Objekt - dieser spezielle Politiker (etwa Obama), dieser spezielle Ort (etwa der Bundestag). Dagegen sind indefinite Referenzen Bezugnahmen auf unbestimmte Objekte, etwa der Politiker (als Typus), die Regierungsinstitution. Diese Unterscheidung ist deshalb hilfreich, weil damit die Frage zu beantworten ist, um was es im Bild eigentlich geht. So macht es ja durchaus zur Deutung und dem Einsatz eines Bildes einen Unterschied, ob die Gestalt auf dem Bild als Obama zu identifizieren ist oder aber, ob die Gestalt als Typus des Politikers fungieren soll. Das Bild als ‚logisches Skandalon‘ und Faszinosum Hieran ließen sich viele weitere Unterscheidungen anschließen, die wenigen hier angeführten sollen indes für einen ersten Zugang genügen. 179 Wichtig sind mir besonders drei Aspekte, die daran deutlich zu machen sind. Erstens ist ein Bild nur genau dann ein Bild, wenn alle drei Instanzen ausfindig zu machen sind. Auch wenn nicht immer genau deutlich ist, was die Bildreferenz eines Bildinhaltes ist, so ist ein Inhalt ohne Referenz kein Bild, schlicht nicht vorstellbar. Genauso gilt: Ohne materielle Grundlage keine Bildinhalte und -referenzen, die (außer‐ halb der Fantasie) in Erscheinung treten könnten und dementsprechend intersubjektiv wahrnehmbar zu machen wären. Zweitens ist das Verhältnis der drei Instanzen zueinander sehr vielfältig und je nach konkretem Bildsachverhalt verschieden. Um dafür nur einige wenige Beispiele zu geben: Das Verhältnis von Bildvehikel und Bildinhalt lässt sich beispielsweise durch die Unterscheidung zwischen loser und fixer Kopplung näher bestimmen. Gemälde entfalten ihre Inhalte aufgrund stabiler Bildvehikel. Vehikel und Inhalt haben also eine fixe Kopplung. Fernsehbilder hingegen sind gekennzeichnet durch eine lose Kopplung zwischen Bildvehikel und Bildinhalt. Das Bildvehikel bietet eine variable, durch Pixel oder Zeilen- und Spaltenanordnung elektronischer Signale, eine fluide Mosaikstruk‐ tur auf dem Inhalte in Erscheinung treten und wieder verschwinden können. Das Verhältnis von Referenzobjekt und Inhalt kann in unterschiedliche Richtung laufen. So kann sich ein Bildinhalt einfach auf ein bereits vorher in der Welt existierendes Objekt beziehen, ein Bild von Obama, das sich auf den bereits vorher existierenden Obama bezieht. Andersherum kann aber ebenso ein Referent durch den Bildinhalt überhaupt erst bekannt gemacht werden, ja in den allermeisten Fällen dürfte das sogar den üblicheren Zusammenhang zwischen Referenz und Bildinhalt darstellen, nicht zuletzt im Kontext politischer Bilder. Wer von uns kennt schon Obama persönlich? Vielmehr kennen die meisten von uns Obama als Bildobjekt. Dementsprechend wäre zu formulieren: Obama, der Referent, wird überhaupt erst erkennbar durch das Bildobjekt, 4.2 Aspekte politischer Medienikonografie 145 <?page no="146"?> 180 Ebd., S.-37. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 So formuliert Gottfried Boehm pointiert: „Das Faktische lässt sich als das, was es ist, anders sehen.“ (Boehm, Jenseits der Sprache? , S.-80) also die visuelle Darstellung von Obama. Zumindest aus dieser Perspektive ist das Bildobjekt dem Referenten vorgängig (und prägt entscheidend unseren Blick auf den Referenten). Der Zusammenhang von Bildvehikel und Bildreferent wiederum ist beispielsweise so zu fassen, dass eine analoge Fotografie den Bildreferenten als Lichtspur aufbewahrt, also mit dem Referenten ein indexikalisches Verhältnis ausbildet. Im Gegensatz dazu stehen symbolische, primär auf Konventionen basierende Bilderformen, etwa Verkehrsschilder [↓ VII. Zeichentypen]. Durch die in der analogen Fotografie aufbe‐ wahrte Lichtspur ist eine definite Referenz technisch nahegelegt. Ich fotografiere eine bestimmte, singuläre Politikerin in Raum und Zeit; ich Fotografie nicht die Politikerin an und für sich, also nicht als Typus. Um in der Fotografie den Typus Politikerin zur Erscheinung zu bringen, muss ich aktiv gegen die Momentaufnahme, die einen singulären Augenblick in Raum und Zeit aufzeichnet, anarbeiten und bestimmte Strategien entwickeln, etwa durch Verundeutlichung der Person, Ausstaffierung der Person mit bestimmten Insignien, etwa einer Uniform, einem Anzug oder einem adretten Kostüm. Genau umgekehrt liegt der Fall bei Verkehrsschildern oder ganz generell bei Piktogrammen [↓ Piktogramme]. Hierbei ist die Darstellung eines Typus naheliegend, nicht die Referenz auf ein einzelnes Objekt in der Welt (vgl. noch einmal Abb. 4.2). Drittens: Eine besondere philosophische Faszination, die ein Bild auslösen kann, ist dessen zwiespältiger ontologischer Status. Das sollte meines Erachtens zu Beginn einer Beschäftigung damit, was denn ein Bild sein könnte, unterstrichen werden. Der Bildinhalt eines Bildes ist ja nicht nur dadurch bestimmt, dass ein Bildvehikel eine notwendige Voraussetzung dafür ist und dass der Bildinhalt nur ein solcher sein kann, wenn der Inhalt auf etwas referiert. Wichtiger ist: Der Bildinhalt kann nur auf etwas referieren, was er selbst nicht ist und was nicht zur selben Zeit am selben Ort ist. Bilder machen so etwas sichtbar, was - faktisch hier und jetzt - materiell gar nicht existiert. Pichler und Ubl bezeichnen das als „logische[s] Skandalon“. 180 Der Bildinhalt ist eine „logische Unmöglichkeit“ 181 ; das Bildobjekt ist insofern ein „unwirkliches Ding, als es nicht wirklich da ist. Und es ist nicht wirklich da, weil an seiner Stelle etwas anderes da ist“ 182 . Das wiederum macht den Bildinhalt nicht nur zu einem ontologisch obskuren Gegenstand, sondern ebenso zu etwas Faszinierendem, das ähnlich wie Phantome und Geister da zu sein scheint und gleichzeitig abwesend ist, Räume und Zeiten durchqueren kann und uns, die Beobachter: innen, gerade aufgrund dieses verqueren Status geheimnisvoll heimsucht, Faktisches anders sehen lassen kann 183 - oder uns vielleicht anders - direkter und gleichsam indirekter? - affiziert und anruft als etwa Textnachrichten oder auch unmittelbare Begegnung mit Politikern und Politikerinnen. 146 4 Politische Medienikonografie <?page no="147"?> 184 Zur Darlegung und Gegenüberstellung phänomenologischer und semiotischer Ansätze vergleiche knapp, aber instruktiv: Martin Schulz, Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissen‐ schaft, München 2004, S.-64ff.; vgl. auch: Wiesing, Hauptströmungen. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes Nach diesen vorläufigen, vielleicht etwas umständlichen Ausdifferenzierungen zen‐ traler Instanzen eines Bildes möchte ich mich nun näher der Ebene des Codes zuwenden und damit einem Aspekt des Medialen, der insbesondere das, was ein Bild als Zeichensystem ist, in den Fokus rückt. Das Bild als Zeichen Mit der Bezeichnung ‚Code‘ geht eine semiotische Perspektivierung einher, also die Deutung des Bildes als Zeichensystem. Dementsprechend werden wahrnehmungs‐ theoretisch oder phänomenologisch ausgerichtete Zugriffe, also solche, die das Bild nicht von seiner Zeichenhaftigkeit her deuten, sondern von seiner konkreten sinnlichen Erscheinung, abgeschattet. 184 Dies ist eine bewusste Vorentscheidung, weil ich überzeugt bin, dass semiotische Zugriffe sehr viel zielführender sind für die Analyse politischer Bilder. Dass es sich dabei dennoch um eine durchaus zu problematisierende Selektion und Präferenz des Verfassers handelt, sei zumindest zugestanden. Wie noch zu zeigen sein wird, ist streng genommen der Begriff Code für diese Ebene eigentlich zu eng, werden hier doch auch Zugriffe vorgestellt, die über das Verständnis von Bildern als codierte Elemente hinausgehen oder zumindest an manchen Stellen diese Grenze überschreiten. Dementsprechend wäre der Begriff Bildinhalt wohl der genauere, zumindest derjenige, der am Bild mehr erfassen lässt als die Codierung von Bildern, nämlich alle möglichen Objekte und Räume [↑ Bildinstanzen]. Der Einfachheit halber sowie um dem Anschluss an gängigere medienübergreifende Unterteilungen zu folgen, wird hier dennoch der Begriff ‚Code‘ präferiert. Vierzehn Zugriffe, die meines Erachtens ausgehend von der Ebene des Codes für die Konturierung der politischen Medienikonografie relevant sind, sollen im Folgenden vorgestellt werden (vgl. Abb. 4.3). 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 147 <?page no="148"?> 185 Roesler, Code/ Codierung, S.-45. 186 Vgl. dazu bspw.: Boehm, Jenseits der Sprache? ; Wiesing, Hauptströmungen. Code I Bildinhalt I. Bildspezfik Nelson Goodman, Sigrid Weigel, Wolfram Pichler, Ralph Ubl u.a. II. Ikonik Max Imdahl III. Bildfeld Gilles Deleuze V. Bild- Text- Verhältnisse Roland Barthes IV. Bilder als Sprache Sybille Krämer u.a. VI. Bildtypen John T. Caldwell, Gotthold Ephraim Lessing VII. Zeichentypen Charles S. Peirce VIII. Bilder ‚ohne Code‘ Roland Barthes IX. Interpellation Louis Althusser X. Bildakt Horst Bredekamp XI Hyper-/ Heterokonnektivität Urs Stäehli" Marion G. Müller/ Stephanie Geise XII. Encoding / Decoding Stuart Hall XIII. Punctum Roland Barthes XIV. Bildbegehren W. T. J. Mitchell Abb. 4.3: Zugriffe auf Ebene des Codes bzw. des Bildobjekts, samt maßgeblich damit verbundener Forscher: innen Code Ein Code ist „eine Anweisung zum Ver- und Entschlüsseln einer Nachricht […].“ 185 Es handelt sich also um eine Zuordnungsregel, die das Verhältnis unterschiedlicher Einheiten organisiert. Die Buchstabenfolge T R U M P, die aus der Einheit des Alphabets stammt, referiert (unter anderem) auf die Person Trump, also auf eine andere Einheit (Personen). Beide Ebenen sind klar unterschieden und durch den Code regelhaft verbunden. Der Code kann dementsprechend als Medium verstan‐ den werden, das zwischen zwei Einheiten vermittelt und die Möglichkeiten der Vermittlung präformiert. Unterschiedliche Codesysteme lassen sich unterscheiden, etwa sprachliche Codierungen, nummerische Codierungen oder eben visuelle Codierungssysteme. Hier könnte man noch eine weitere Binnendifferenzierung einziehen, nämlich den Code der Architektur, der Malerei, der Fotografie etc. Mit diesem Zugriff ist hinsichtlich der Beschreibbarkeit von Bildern eine wichtige, durchaus prekäre Vorentscheidung getroffen: Bildern liegt so verstanden ein Code zu‐ grunde, was nichts anderes heißt als, dass Bilder Zeichensysteme sind. Diese Annahme wurde bereits häufig problematisiert, insbesondere aus phänomenologischer Sicht. Von einem phänomenologischen Standpunkt aus wird die Auffassung kritisiert, Bilder auf Zeichen und Codes zu reduzieren, da somit gerade das sinnliche, affizierende Potential von Bildern nicht in den Blick geraten kann. 186 Ob das tatsächlich zutrifft, ist schwierig zu entscheiden und würde eine längere Diskussion erfordern. An dieser Stelle möchte ich mich zunächst einmal mit der Annahme begnügen, dass Bilder zumindest auch als Codierungssysteme verstanden werden können - wenngleich als sehr spezielle, 148 4 Politische Medienikonografie <?page no="149"?> 187 Vgl. dazu bereits (im Abgleich mit phänomenologischen Ansätzen) medienübergreifend: Grampp, Medienwissenschaft, S.-148ff. wie noch zu zeigen sein wird. Es scheint mir sogar angeraten, Bilder zuvorderst so zu betrachten. Zumindest ist diese Betrachtungsweise äußerst hilfreich im Kontext politischer Darstellungen und Kommunikationsstrategien, zielen doch politische Bilder in den allermeisten Fällen darauf ab, konkrete Botschaften zu vermitteln, die als solche auch verstanden werden sollen, also decodierbar, d. h. entschlüsselbar sein müssen. Jedenfalls sollen bestimmte Effekte damit erzielt werden. Der Einsatz erfolgt kalkuliert und strategisch, wobei häufig, wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, auf konventionalisierte Muster und Bildformen zurückgegriffen wird, also letztlich auf Codes. Medienbestimmung via Codedifferenz Interessant an Codes ist aus einer dezidiert medienwissenschaftlichen Perspektive vor allem die Frage nach deren Differenz. Denn durch einen auf Differenz ausgerich‐ teten Abgleich - so die Idee - lässt sich unter Umständen herausfinden, was die jeweilige mediale Spezifik von Codesystemen sein könnte, etwa die eines visuellen Codesystems iim Unterschied zu einem sprachlichen Code. 187 Konkreter gewendet könnte so beispielsweise gefragt werden: Gibt es eine fundamentale - und letztlich für die Analyse von politischen Botschaften bzw. der Darstellung von Politik relevante - Differenz zwischen einer sprachlich-alphabetischen Bezeichnung wie „Trump“ in einem (Presse-)Text und einer (Presse-)Fotografie, die die Person Trump abbildet (vgl. Abb. 4.4). (Presse-)Text (Presse-)Fotografie „Twitter has suspended President Trump from its platform […].“ ? Codesystem 1 Codesystem 2 Abb. 4.4: Mediensemiotik als Wissenschaft von der Codedifferenz Es gibt vergleichsweise viele kulturwissenschaftliche Zugriffe, Interessen sowie Ana‐ lysemethoden, die die Spezifik visueller Codes - bzw. das, was weiter vorne Bildinhalt genannt wurde - mitunter sehr unterschiedlich perpsektivieren. Im Folgenden sollen einige dieser Aspekte vorgestellt werden, um so zum einen den Facettenreichtum 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 149 <?page no="150"?> der Bildcodierungen zu veranschaulichen und zum anderen diverse Analysemethoden zur Decodierung von Bildern, speziell von politischen Bildern, die im Gegenstandfeld politischer Ikonografie zu situieren sind, vorzustellen (vgl. noch einmal Abb. 4.3). Als Auftakt soll zunächst einmal eine Diskussion darüber erfolgen, was Bilder sind und was eben nicht. Der Sinn dieses Unternehmens besteht darin, präziser zu fassen, was gemeint ist, wenn auf Bilder eingegangen wird bzw. Bilder als Codesysteme bestimmt werden. I. Bildbestimmungen: Was ist ein Bild, was nicht? Die Spezifik dessen, was ein Bild ist, ist eine Frage, die recht kompliziert ist und an der sich sehr viel Forschungsliteratur abgearbeitet hat. Wenn schon die Medienspezifik des Ikonischen, also des Bildlichen, ernst genommen werden soll, dann muss trotz aller Schwierigkeit zumindest in Umrissen geklärt werden, was ein Bild ist. Das kann am besten durch Abgleich damit geleistet werden, was es nicht ist. Ein erstes Merkmal eines Bildes scheint vielleicht trivial, ist aber Voraussetzung für die Existenz eines Bildes. Bilder kann es nur geben, wenn eine Begrenzung vorliegt (vgl. Abb. 4.5). Mit anderen Worten: Ein Bild benötigt einen Rahmen. Etwas, das nicht abgegrenzt ist von anderem und keinen Rahmen hat, kann kein Bild sein. Rahmenbedingung etwas abgegrenzt von etwas anderem Interpretationsresultat etwas als etwas anderes materielle Grundlage etwas in etwas Abb. 4.5: Wolkenbilder 150 4 Politische Medienikonografie <?page no="151"?> 188 Meyer Schapiro, Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Kunst: Feld und Medium beim Bild-Zeichen [1969], in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? , S.-253-274, hier: S.-253. 189 Marius Rimmele/ Bernd Stiegler, Visuelle Kulturen/ Visual Culture zur Einführung, Hamburg 2012, S.-9f. 190 Darauf werde ich zurückkommen, denn dies hat einerseits mit Konventionen und Praktiken, andererseits mit Wahrnehmungsanordnungen jenseits der Bildcodierung zu tun [↓ Kanal]. Kein Rahmen, nirgends? Der Kunsthistoriker Meyer Schapiro argumentiert in einem einflussreichen Text vehement gegen die Annahme, dass Bilder sich per se durch klare Rahmungen bestimmen lassen. Er plädiert dafür, dass solche Bestimmungen historisch rela‐ tiviert werden müssen. Schapiro schreibt diesbezüglich: „Die Höhlenmalereien der Altsteinzeit haben keinen präparierten Bildhintergrund, sondern wurden unmittelbar auf die nackte Höhlenwand aufgetragen […]. Der Künstler arbeitete damals auf einem Feld ohne feste Grenzen […].“ 188 Doch scheint mir das kein wirkliches Gegenargument. Es wurde ja nicht behauptet, dass der Rahmen eine klare Abgrenzung haben muss. Ein Bild kann auch in einem Nebel zu sehen oder zu projizieren sein. Der Rahmen kann also auch unscharfe Grenzen haben. Es ist auch möglich, dass nicht genau klar ist, wo eigentlich der Rahmen ist oder beginnt. Die von Schapiro angeführte Höhlenmalerei ist ein gutes Beispiel dafür. Hier ist häufig nicht klar, wo der Bildraum endet. Dass indes zumindest ein solcher Rahmen angenommen werden muss und prinzipiell zu markieren ist, ist davon unbenommen. Deshalb gilt weiterhin: ohne Rahmung kein Bild. Weiterhin gilt es, Bild und Visualität präziser ins Verhältnis zueinander zu setzen. Bilder können als visuelle Codierungsformen verstanden werden. Dennoch sind Bild und Visualität keine Synonyme. Erstens gibt es Phänomene, die keine Bilder sind und dennoch visuell wahrgenommen werden können (Wolken etwa). Visuelle Wahrnehmung muss also keine visuelle Wahrnehmung von Bildern sein. Zweitens gibt es Bilder, wie beispielsweise Fotografien, aber auch reine Vorstellungsbilder, die beide sehr unterschiedliche visuelle Phänomene darstellen (einmal materiell, einmal immateriell). Drittens sind Bilder „prinzipiell eingebettet in Praktiken des Blickens, Zu-Sehen-Gebens, der Repräsentation, die zum Teil auch ganz ohne materielle Fixie‐ rung ihre Wirkungen entfalten.“ 189 Dementsprechend sind Wirkung und Interpretation von Bildern immer schon von mehr und anderem abhängig als von dem, was und wie auf Bildern visualisiert wird. 190 Viertens ist genau betrachtet die Wendung ‚Visualisierung‘ im Zusammenhang mit Bildern problematisch, insbesondere aus einer Perspektive, der es um Medien geht. Denn Bilder visualisieren nicht eigentlich einfach Phänomene der Welt, etwa Politiker oder Zellen. Als terminus technicus bedeutet ‚Visualisierung‘, dass etwas, das 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 151 <?page no="152"?> 191 Vgl. dazu knapp, aber instruktiv: Weigel, Grammatologie der Bilder, S.-10. 192 Vgl. ebd., S.-10ff. 193 Ebd., S.-10. 194 Ebd., S.-24. 195 Weigel schreibt diesbezüglich pointiert: „Was dem Visuellen vorausgeht, ist nicht unsichtbar, sondern diesseits der ikonischen Welt; es ist an-ikonisch […].“ (Ebd., S.-11.) 196 Ebd. vorher existiert, aber nicht sichtbar war, beispielsweise durch bildgebende Verfahren wie Röntgenaufnahmen, sichtbar gemacht wird. 191 Etwas Unsichtbares, aber vor jeder Visualisierung Existierendes soll so mehr oder minder neutral sichtbar zu machen sein. Genau das meint die Bezeichnung ‚Visualisierung‘. Das, so ein Argument, das Sigrid Weigel stark macht, passiert bei der Bildgebung eben nicht. 192 Dies gilt analog nicht nur für vorher Nichtvisuelles, das sichtbar gemacht wird, sondern ebenso für Phänomene wie Politiker: innen, die vor allem aufgrund fotografischer Darstellungen, sichtbar existent sind. In beiden Fällen geht es nicht - und das ist das Entscheidende, wenn die medialen Prozesse, die dabei am Werke sind, in den Blick kommen sollen -, um einen bloßen Übergang aus der Sphäre des unsichtbar oder sichtbar Existierenden in die der Visualität von Bildern. „[M]it der Bildgebung geht vielmehr“, so Weigel, „ein grundlegender Wechsel zwischen ganz unterschiedlichen, ja heterogenen Sphären einher […].“ 193 Mit diesem Wechsel wird das Dargestellte in der und durch die Darstel‐ lung in einer ganz bestimmten Weise transformiert. Dementsprechend wird der Blick davon abgewendet, ob etwas eine richtige oder angemessene Visualisierung erfährt - und stattdessen gewendet auf die Verfahren, Operationen und Techniken der Bildge‐ bung. „Damit treten die Verfahren, Techniken, Formen, Konventionen und Codes der Verbildlichung ins Zentrum des Interesses. Es wird aus dieser Perspektive also vor allem danach gefragt, auf welche Art und Weise und mit welchen Mitteln und Bildformen der in Frage stehende Übertritt von physischen Phänomenen [etwa Politiker: innen; SG], Unsichtbarem [etwa Zellen; SG] und Immateriellem [etwa Träume; SG] in die Welt der Bilder bewerkstelligt wird.“ 194 Konzentriert man sich auf diesen Übergang, steht nicht nur nicht das visuell Abgebildete - der Inhalt, die Formen - im Zentrum des Interesseses, sondern vielmehr noch das, was nicht direkt visualisiert wird, ja, genau genommen das, was dem Visualisierten vorausgeht und dieses ermöglicht. 195 Einfacher formuliert: Bei der Analyse der Bildgebung ist nicht das Was, sondern das Wie des „In-Erscheinung-Tretens“ 196 entscheidend - und dieses Wie ist eben nicht selbst visuell. Ausgangspunkt und Zentrum sind im folgenden materielle Bildgebungen. So gear‐ tete Bilder werden hier verstanden als Phänomene, die in etwas (beispielweise in Wolken) etwas als etwas anderes (beispielsweise als ein Gesicht) visuell zur Erscheinung bringen. Aus dieser Perspektive sind beispielsweise Wolken am Himmel keine Bilder, auch wenn ich bestimmte Formkonstellation als Wolken wahrnehme (vgl. Abb. 4.5). Ich nehme diese dann nicht als Bild einer Wolke wahr. Wenn indes etwas anderes in Wolkenformationen gesehen wird, etwa ein Gesicht, handelt es sich um ein Bild. Dieses 152 4 Politische Medienikonografie <?page no="153"?> 197 Wiederum Weigl beschreibt dies mit folgenden Worten: „Etwas Nichtkörperliches [oder auch etwas nichtkörperlich Anwesendes; SG] wird in das Gesehene hineingesehen.“ (Ebd., S.-15) 198 Solch einen Ausschluss an Möglichkeiten definiert etwa Luhmann als entscheidendes Kriterium zur Herstellung von Evidenz: „Von Evidenz kann man sprechen, wenn etwas unter Ausschluss von Möglichkeiten einleuchtet.“ (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2, Frankfurt am Main 1999, S.-548) 199 Zumindest scheinen sie ihre ‚Urteile‘ sehr viel besser verstecken zu können als sprachliche Verlautba‐ rungen. Das ist bereits ein zentrales Argument in: Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 5 1980, S. 160ff. Gesicht ist nicht tatsächlich, ‚physikalisch‘ anwesend ist, sondern in die materielle Konfiguration Wolke ‚hineingesehen‘. 197 Wolken auf Fotografien, im Fernsehen, im Film oder in Diagrammen sind in diesem Sinne ebenfalls genau dann Bilder, wenn dabei eine materiell zur Erscheinung ge‐ brachte Form- und Farbkonstellation, sei sie fix oder lose gekoppelt [↑ Bild als vielfältige Möglichkeit], als etwas anderes interpretiert und verstanden wird als eine Form- und Farbkonstellation, die ‚nur‘ eine Wolke wahrnehmbar macht. In vorliegendem Beispiel muss dementsprechend ein Bild von einer Wolke als Bild von einer Wolke verstanden werden; wird eine Abbildung einer Wolke ‚nur‘ als Wolke erkannt, kann dieser Vorgang nicht als Rezeption eines Bildes gelten; dann wird eben ‚nur‘ eine Wolke wahrgenommen und nicht die bildliche Repräsentation einer Wolke (vgl. noch einmal Abb. 4.5). Zwar sollen reine Vorstellungsbilder nicht Teil meiner Untersuchung sein, geht es doch hier primär um massenmediale Bilder bzw. Bilder aus sozialen Medien wie etwa Instagram und nicht um einen Blick ins Hirn. Indes können, wie beschrieben, solche dezidiert materiellen Bilder nur aufgrund von Interpretationen zu Bildern werden; insofern ist das Vorhandsein von Vorstellungsbildern notwendig, um etwas überhaupt zu einem Bild machen zu können. Es gibt nicht an und für sich Bilder in der Welt; sie werden erst im Gebrauch, durch Interpretation zu Bildern gemacht. Bilder als negationsresistente Codesysteme Bilder haben ein anderes Verhältnis zur Negation, also zur Verneinung, als sprachliche Artikulationsformen. Damit verknüpft ist ein besonderes Mittel zur Evidenzherstel‐ lung durch ihren präsentischen Darstellungsmodus, der andere Möglichkeiten der Darstellung auszuschließen oder doch zumindest abzuschatten scheint. 198 Jedenfalls bleibt bei Bildern häufig unscharf, was genau die Negation des Dargestellten sein könnte. 199 ‚Bildaussagen‘ scheinen weit weniger klar negierbar zu sein als sprachliche Verlautbarungen. Zumindest ist die Negation bei vielen Bildtypen weit weniger konventionalisiert als in der Sprache, wo Negationsoperationen auf unterschiedlichen Ebenen zur Verfügung stehen: angefangen bei der logischen Negation, die eine Aussage im Gesamten negiert (‚Es ist nicht der Fall, dass …‘) bis hin zu Spezifikationen der Negation (‚Trump war kein guter Präsident‘, ‚Nicht einmal Obama konnte den 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 153 <?page no="154"?> Rassismus in den USA verringern‘ etc.). In diesem Sinne lassen sich via Negation sehr viel präzisere Gegenbegriffe (‚nicht gut‘, Anti-Präsident‘) finden als Gegenbilder. Man versuche sich einmal vorzustellen: Wie sähe die Darstellung einer Nicht-Wolke denn genau aus? Wie sollte visuell klargemacht werden, dass es genau darum geht, eine Wolkenexistenz zu negieren? Man nehme eine sehr konventionalisierte Form visueller Negation, das Durchstreichen, wie es üblich ist auf Verkehrsschildern (vgl. Abb. 4.6a). Was genau würde uns so ein Bild sagen? ‚Achtung, Wolken sind hier verboten‘ oder vielleicht doch eher: ‚Hier bitte nicht rauchen‘ oder gar: ‚Wolken wurden hier noch nie gesehen‘? Aus dieser Perspektive lässt sich formulieren: Bilder sind nicht nur weniger präzise zu negieren als sprachliche Negationen, sie sind in gewisser Weise sogar negationsresistent oder sie bergen zumindest erheblich Probleme, eine klare Negation zu formulieren. Korrespondierend geht damit eine besondere Form von Evidenzerzeugung einher, zumindest bei bestimmten Bildtypen, wie etwa einer Fotografie oder auch einem Video. Zwar werden hierbei andere Möglichkeiten der Darstellung nicht ausgeschlossen, sie sind aber in der bildlichen Darstellung weniger naheliegend als bei einer sprachlichen Artikulation, die ihre Möglichkeit der Negation immer schon mitführt. Denn jede sprachliche Beschreibung eines Sachverhalts kann durch ein ‚nicht‘ ganz einfach negiert werden. Dementsprechend haben Bilder eine besondere Abschattungstendenz. Die Wolke, die dargestellt wird, schattet, wenn man so will, einen wolkenlosen Himmel ab, zumindest stärker als der Satz ‚Der Himmel ist bewölkt‘, der klar durch eine Negation umgekehrt werden kann: ‚Der Himmel ist nicht bewölkt‘ (vgl. Abb. 4.6b). verminderter Negationsfähigkeit verneinungsresistent Abschattungstendenz präsentistisch/ Alternativen verdecken Abb. 4.6a-b: Negation und Verschattung von Wolken Dieser Punkt wird hier so stark gemacht, weil er für die bildliche Darstellung und Interpretation politscher Phänomene von hohem Belang ist. Denn es scheint doch eine solche Bildgebung genau dann besonders geeignet, wenn Alternativen abgeschattet, Dinge evident gemacht werden sollen. Zumindest aus solch einer zeichentheoretischen Perspektive lässt sich durchaus behaupten, dass Bilder besonders geeignet sind für die 154 4 Politische Medienikonografie <?page no="155"?> 200 Vgl. dazu facettenreich: Lars Nowak (Hg.), Bild und Negativität, Würzburg 2019. 201 So argumentiert etwa wirkmächtig der Philosoph Jacques Derrida, vgl. bspw.: Jacques Derrida, Die différance [1968], in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S. 110-149; für die knappe Einführung in Derridas Dekonstruktion: Grampp, Medienwissenschaft, S.-162ff. 202 Vgl. dazu und zum Folgenden: Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie [1968], Frankfurt am Main 1995, v.a.: Kap. IV. Vermittlung von Ideologie bzw. Weltbildern, die als evident, selbstverständlich, ja als alternativlos gesetzt werden sollen. Darauf werde ich später näher eingehen. Negierbare Bilder Genau besehen ist das Verhältnis von Bild und Negation sehr viel komplizierter als hier dargestellt. Wie noch zu zeigen sein wird, gibt es durchaus Bildtypen, die vergleichsweise deutlich negiert werden können, etwa Pikogramme [↓ Pikto‐ gramme]. Weiterhin ließe sich kritisch einwenden, dass unterschiedliche Arten der Verneinung auszudifferenzieren sind: Negation von Bildern, Negation in Bildern, Bilder als Negation. 200 Andersherum wäre es möglich darauf zu verweisen, dass jegliche codierte Verlautbarung letztlich konstitutiv infinit bedeutungsoffen ist, also Negationen - jenseits von rein formalen Systemen, also auch solche natürlicher Sprachen - unscharf bleiben müssen. 201 All diese kritischen Aspekten werden hier nicht direkt weiter verfolgt, sondern sehr viel pragmatischer in eine Differenzierung von Bildtypen und den kontextabhängigen Umgang mit Bildern überführt. Weisen der Bildzeugung Der hier konstatierte Mangel an Negationsfähigkeit bzw. das Vorliegen eingeschränk‐ ter Negierbarkeit hängt wohl damit zusammen, dass Bilder kein klar geregeltes oder doch zumindest ein sehr viel offeneres Zeichenrepertoire haben als alphabetische Sprachen, also einem fundamental anderen Code unterliegen. Um diese Besonderheit von Bildern präziser fassen zu können, ist der zeichentheoretische Zugriff des Philo‐ sophen Nelson Goodman besonders geeignet. Mit Goodman lassen sich lassen sich alphabetische Codierungen von bildlichen unterscheiden. 202 Ein alphabetisches Zei‐ chensystem ist, laut Goodman, gekennzeichnet durch syntaktische Differenziertheit und Disjunktheit. Bilder hingegen seien charakterisiert durch ein syntaktisch wie semantisch dichtes Schema. Das heißt: Für eine alphabetische Sprache gilt, dass die Buchstaben eines Alpha‐ bets klar voneinander zu unterscheiden sind. „A“ ist eben ganz eindeutig nicht „B“. Weiterhin ist ein Alphabet endlich. Das lateinische Alphabet etwa besteht aus genau 24 Buchstaben. Zudem gilt: Jede Markierung entspricht genau einem Buchstaben. Egal ob ein „A“ auf Papier gedruckt wird, rot oder weiß ist, Teil einer SMS, einer Werbegrafik oder als Bestandteil einer Buchstabensuppe erscheint: diese materiellen 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 155 <?page no="156"?> 203 Georg W. Bertram, Kunst. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2 2016, S.-189. 204 Vgl. dazu: Greg Dickinson/ Karrin Vasby Anderson, Fallen: O. J. Simpson, Hillary Rodham Clinton, and the recentering of white patricarchy, in: Communication and Critical/ Cultural Studies, 1 (2004), S.-271-296. Differenzen sind für die Identifikation als „A“ irrelevant. Bei einem Bild treffen diese Zuschreibungen indes nicht zu: Es ist erstens nicht klar, was die kleinsten Einheiten sein sollten, aus denen ein Bild zusammengesetzt ist. Was sollte das Strukturanlogon zu „A“ in einem Bild sein, ein Pixel oder eine weiße Farbschattierung? Zweitens sind die Einheiten, aus denen ein Bild zusammengesetzt sein mag, nicht zu schließen. Jede noch so kleine Farbvariation könnte Bedeutung haben und dementsprechend die Bedeutung des Gesamtbildes modifizieren. Drittens macht es einen Unterschied, ob ein roter Fleck groß ist oder klein, das Bild dominiert oder nicht, auf einem Pappkarton oder auf einen Spiegel aufgetragen wurde etc. Dementsprechend lässt sich - im Gegensatz zu sprachlichen Artikulationen - auch nicht behaupten, dass bestimmte Markierungen genau einem Symbol zuzuordnen wären. Ein Bild folgt im Gegensatz zur alphabetischen Sprache keiner digitalen Logik. Es ist vielmehr analog, und hat somit keine endliche Menge an Symbolen, dementsprechend eine unendliche Menge möglicher Relationierungen seiner Elemente. Wenn es zutrifft, dass ein Bild per se in diesem Sinne syntaktisch und semantisch dicht ist, dann bedeutet das ebenfalls: Es ist, auf Grundlage seiner medialen Eigenschaften, per se auch sehr viel bedeutungsoffener als eine sprachliche Artikulationsform. Ja, im Grunde genommen sind somit Bilder infinit bedeutungsoffen. Das soll nicht heißen, dass jedes Bild einfach alles bedeuteten kann, stattdessen bedeutet es: Jedes noch so minimale Detail kann in Bildern eine entscheidende Bedeutungsverschiebung des Ganzen ausmachen. Um dies deutlicher zu markieren, spricht der Philosoph Georg W. Bertram nicht von infiniter Bedeutungsoffenheit der Bilder, sondern von „definitiver Bestimmtheit“. 203 D.h.: Jedes Detail, jede Relationie‐ rungsmöglichkeit der Elemente kann wichtig werden zur Bestimmung des Ganzen. Farbabdimmungen machen Leute Ein bekanntes Beispiel findet sich im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Prozess des ehemaligen Football-Spielers O. J. Simpson. Viele Magazine wählten die Aufnahme, die während der Verhaftung Simpsons von der Polizei gemacht wurde als Titelbild (vgl. Abb. 4.7a-c) . Im Fall des Time-Magazins wurde durch Verdunklung der Eindruck von Schuld verstärkt. 204 Auch auf anderen Titelblättern, die gerne als Kontrast zum Time-Titelbild zitiert werden, findet sich aber bereits eine Verdunklung, wie etwa auf dem Titelbild von Newsweek zu erkennen. Der blaue Anzug der ursprünglichen Fotografie wird zu einem schwarzen und die Überbelichtung der Polizeiaufnahme weggenommen, wodurch Simpson selbst sehr viel dunkler wirkt. Was immer auch die Gründe für diese Eingriffe gewesen sein mögen und welche Implikationen damit noch einhergehen mögen, hier ist wichtig, dass - im Sinne Goodmans und Bertrams - eine 156 4 Politische Medienikonografie <?page no="157"?> 205 Übersetzung von mir; SG. 206 Bertram, Kunst, S.-188f. minimale Veränderung, hier das Abdimmen des Lichts, entscheidende Veränderungen der Bildbedeutung ausmachen können. Abb. 4.7a-c: Die allmähliche Verdunklung O. J. Simpsons bei der Bildgebung Die jeweiligen Überschriften „Trail of Blood“, also ‚Blutspur‘, oder gleich „Eine ame‐ rikanische Tragödie“ 205 tun ihr Übriges, um aus dem Beschuldigten einen Täter zu machen [↓ II. Bild-Text-Verhältnisse]. Kunst, nicht Bilder! Einzuwenden wäre hier, dass Goodman in Sprachen der Kunst weniger an Bildern ganz allgemein interessiert ist, sondern vielmehr an Bildern im Kontext von Kunst, ja eigentlich an einer allgemeinen Bestimmung von Kunst. So könnte man, wie es beispielsweise Bertram im Nachvollzug der Thesen Goodmans macht, Kunst‐ bilder von (wissenschaftlichen) Diagrammen abgrenzen [↓ Diagramme]. Bertram schreibt: „Für das Kunstwerk ist es […] charakteristisch, dass jede Veränderung der Breite eines Striches eine Veränderung des Ganzen bedeutet. In diesem Punkt kann man es von einem Diagramm abgrenzen. Bei einem Diagramm wie der Aufzeich‐ nung von Elektrokardiographen zählt nur die Position der Linie in Relation zur X und zur Y-Achse. Ändert sich die Breite der Linie, hat das keine Auswirkung auf die Darstellung.“ 206 Darauf ließe sich zumindest entgegnen, dass die Bestimmung des Bildes als konstitutiv infinit bedeutungsoffen eben nicht für jeden Bildtypus zutrifft. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass kein Bildtypus infinit bedeutungsoffen wäre bzw. dass diese Bedeutungsoffenheit nicht doch genau das trifft, was an Bildern besonders ist. (Zur Diskussion unterschiedlicher Bildtypen 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 157 <?page no="158"?> 207 Vgl.: Max Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? , S. 300-324, v.a.: S.-308ff. 208 Ebd., S.-310. 209 Vgl.: ebd., v.a.: S.-300ff. und dem Problem einer allumfassenden Bestimmung dessen, was das Bild im Wesenskern ist, vergleiche die Ausführungen weiter unten im Fließtext). II. Ikonik - Jenseits der Ikonografie, jenseits sprachlicher Codierung Die Frage nach der Spezifik von Bildern stellt auch der Kunsttheoretiker Max Imdahl, wenngleich aus einem anderen Blickwinkel als Goodman. Imdahl knüpft mit seiner Ikonik an Panofskys Ikononologie an [↑ Kap. 2, Ikonografie und Ikonologie] - und zwar in kritischer Absicht. 207 Hauptkritikpunkt ist der Vorwurf, dass Panofsky zwar eine Methode zur Bildanalyse entwirft, recht besehen aber die spezifische Bildlichkeit der Bilder nicht ernst nimmt. Nämlich genau die Differenz zwischen bildlicher Dar‐ stellung und sprachlicher wird, letztlich durch die immer umfassendere Analyse, die Rückführung der Bilder auf (zumeist) sprachliche Quellen und dem Verständnis der Bilder als Symptome kultureller Befindlichkeiten obsolet gemacht [↑ Kap. 2, Kritik der Ikonologie]. Die Spezifik bildlicher Darstellungsweise ist so den Bildern ausgetrieben, ja, der Sprache untergeordnet. Imdahl schreibt: „Was indessen das Bild als solches ist, widersetzt sich aller sprachlicher Substitutionen.“ 208 Dagegen oder, weniger radikal formuliert, komplementär zur Ikonologie/ Ikonografie setzt Imdahl seine Ikonik. Die Spezifik der Bilder und der Collagen-Test Imdahl findet die Spezifik der Bilder in vier Merkmalen: (1) Bilder zeichnen sich durch visuell wahrnehmbare geometrische Körper- und Raumproportionen aus. Solche Proportionen unterscheiden Bilder von sprachlichen Elementen, deren Bedeutung - jenseits konkreter Poesie - eben nicht durch Proportion, sondern durch sukzessive Wortreihungen auf Grundlage von Syntax und Semantik herstellt werden. Ob das Wort ‚Obama‘ von dem Verb ‚hofft‘ räumlich weit entfernt ist, sehr viel größer als das Verb geschrieben steht, ist für die sprachliche Bedeutung nicht entscheidend. In einem Bild ist das anders, Proportionen generieren Bedeutung [↑ Weisen der Bilderzeugung]. Imdahl zeigt das an Beispielen aus der Kunst. In einem seiner bekanntesten Texte diskutiert er beispielsweise eine Abbildung aus dem soge‐ nannten Codex Egberti, der um das Jahr 980 angefertigt wurde. 209 Der Kunsttheoretiker will anhand von Bildmontagen zeigen, dass es für die Bildspannung einen wesentlichen Unterschied macht, ob die Mittlerfigur Jesus weiter links oder rechts angeordnet ist. So ist es, laut Imdahl, zur angemessenen Verknüpfung der beiden Gruppen links und rechts relevant, wo genau Jesus als Mittler steht. Im ersten Fall steht Gottes Sohn zu nah 158 4 Politische Medienikonografie <?page no="159"?> 210 Vgl. dazu den Sammelband: Kaupert/ Leser (Hg.), Hillarys Hand. an der linken Gruppe (vgl. Abb. 4.8a). Im zweiten Fall ist Jesus zu mittig platziert (vgl. Abb. 4.8b). Ästhetisch ideal ist, laut dem Kunstwissenschaftler, hingegen die originale Lösung, in der Jesus leicht versetzt zur linken Gruppe situiert ist und dabei dynamisch zur rechten Gruppe leitet (vgl. Abb. 4.8c). Unabhängig davon, ob die Beurteilung dessen, was die beste Lösung ist, plausibel erscheint oder nicht, ist damit auf einen wichtigen Aspekt von Bildern hingewiesen: Das Verhältnis der bildinternen Elemente zueinander bestimmt deren Wirkung bzw. deren Interpretation. Und minimale Differenzen im Verhältnis der Objekte zueinander können unter Umständen einen großen Unterschied für ihre Beurteilung machen. Um diese Herangehensweise näher an das hier relevante Thema zu führen, sei ein populäres, im Kontext politischer Bildikonografie gerne behandeltes Beispiel ange‐ führt, das auch hier schon vorgestellt wurde [↑ Kap. 3, Über Gesichter, Hände und Knie]: Das Bild ist unter dem schmucklosen Titel Situation Room bekannt geworden. 210 Es wurde von Peter Souza, dem offiziellen Fotografen des Weißen Hauses, aufgenommen, und zwar während dem Präsidenten und dem Verteidigungsstab die Tötung des Terroristen Osama Bin Laden via Satellitenverbindung übermittelt wurde. Wir sehen, wie dieser Stab die Tötung sieht, nicht die Tötung selbst. Zunächst einmal soll es hier nur um die Position des Präsidenten gehen. Augenscheinlich handelt es sich nicht um ein klassisches Herrschaftsbild [↑ Kap. 3, Drei ‚Herrschaftsbilder‘], auf dem der Herrscher größer als die anderen Figuren ist oder gar über ihnen thront. Obama scheint hingegen in legerer Alltagskleidung im Hintergrund des Bildes zu sitzen. Dennoch bildet Obama letztlich doch das (Macht-)Zentrum des Bildes. Und das lässt sich sehr leicht zeigen, wenn man den von Imdahl im Kontext von Kunstbildanalysen gern bemühten Collagen-Test vornimmt. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 159 <?page no="160"?> Abb. 4.8a-f: Imdahls ‚Collagen-Test‘, einmal von ihm selbst anhand eines Bildes, das um das Jahr 1000 entstand, durgeführt (linke Bildreihe), einmal anhand einer politischen Medienikone des 21.-Jahrhun‐ derts (rechte Bildreihe) Wenn Obama nah an die Figur links rückt (vgl. Abb. 4.8d), statt wie im Original einen gewissen Abstand zu bewahren (vgl. Abb. 4.8f), wird durch diese minimale Umgruppierung der Bedeutungshorizont nicht unwesentlich verschoben. Denn so ist Obama nach links aus seiner singulären Position heraus, von den anderen abgesetzt und gleichzeitig von der Ecke des Raums aus, die Gruppe rechts von ihm und die Figur links neben ihn verbindet, aus dem Zentrum gerückt. Obama wäre dann, proportional gesehen, eine Figur unter vielen. In der Originalversion ist Obama indes das unaufdringliche Zentrum des Bildes aus dem Hintergrund (vgl. Abb. 4.8f). Noch deutlicher wird die zentrale Stellung Obamas meines Erachtens, wenn man einen extremeren Eingriff vornimmt, nämlich Obama aus dem Bild herausnimmt (vgl. Abb. 160 4 Politische Medienikonografie <?page no="161"?> 211 Imdahl, Ikonik, S.-308. 4.8e). Damit wird das Bildzentrum leer gelassen. Umgekehrt lässt sich formulieren: Durch die Operation wird sehr deutlich, was das eigentliche Zentrum des Bildes ausmacht - und zwar unabhängig davon, ob man diese Person als US-amerikanischen Präsidenten erkennt, welche Merkmale man ihr zuweist oder in welche ikonische Tradition die Figur gestellt wird. Auch wenn diesen Deutungen nicht jede: r zustimmen wird, sollte dennoch hieran, wie bei Imdahls Beispiel, deutlich werden, dass Proportionen, Körperdistanzen und Raumanordnung bedeutungskonstitutiv und also für die Bildcodierung relevant sind - und im Fall des Situations Room ähnlich wie beim Codex Egberti sehr strategisch gesetzt werden können. (2) Bilder haben laut Imdahl eine hochkomplexe, detailreiche Sinnstruktur, die eine hohe Deutungsvielfalt in das Bild bringt, da jedes Detail relevant in Relation zu allen anderen sein kann. Das ist ein Argument, das weiter vorne anhand der Ausführungen zu Goodman bereits erläutert wurde. Dort hieß es, Bilder haben eine syntaktische und semantische Dichte [↑ Weisen der Bilderzeugung]. Weil das Argument, wenngleich in einem gänzlich anderen Vokabular, letztlich auf dasselbe hinausläuft, gehe ich gleich zum dritten Aspekt über: (3) Bilder entfalten, so Imdahl, eine „evidente szenische Simultanität.“ 211 Während Sprache sich sukzessive entfaltet, dementsprechend Dinge oder Sachverhalte im Laufe der Zeit allmählich nacheinander erzählt werden, ist es in und durch Bilder möglich, verschiedene Dinge und Sachverhalte simultan, also gleichzeitig vor Augen zu führen [↑ Kap. 3, Fruchtbarer Augenblick]. Diese Gleichzeitigkeit ermöglicht eine eigene Form der Darstellung, denn die abgebildeten Elemente können auf einmal ins Verhältnis zueinander gesetzt werden und zudem sehr unterschiedlich. Auch das sei am Situation Room-Bild exemplifiziert: Hier soll nur relevant sein, dass dort diverse Personen abgebildet sind, die sehr unterschiedlich auf das, was sie sehen, reagieren (vgl. Abb. 4.9). Die damalige Außenministerin Hillary Clinton hält die Hand vor den Mund, Obama scheint hingegen einigermaßen entspannt in der Ecke zu sitzen. Beide Figuren sehen wir auf dem Bild simultan, was zu einer Relationierung, also einem Abgleich beider Elemente einlädt, da diese Spannung auf Dauer gestellt ist. Andere Elemente könnten ebenfalls ins Verhältnis gesetzt werden - die Personentraube im Hintergrund etwa zu den vereinzelten Figuren im Vordergrund, die monochrome Fläche der Wand links oben mit dem ‚Wimmelbild‘ der Personen, die unter ihr zu finden ist, die einzelnen Dinge, die auf dem Tisch im unteren Bildfeld abgebildet sind oder auch die einzelnen Elemente auf dem Tisch zu einer Person etc. Der entscheidende Punkt ist hier: Dieser Appell zur permanenten Relationierung und Neurelationierung wird durch die Bildspezifik hervorgerufen. Das Ergebnis solcher Verbindungen lässt sich natürlich sprachlich festhalten. Aber das sukzessive Festhalten unterschiedlicher Relationierungen ist nicht das Äquivalent des simultanen Spannungsverhältnisses, das sich am Bild erfahren lässt. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 161 <?page no="162"?> Abb. 4.9: Unzählige Relationierungsmöglichkeiten im Situation Room (4) Dies ist eigentlich ein Unterpunkt des vorhergehenden Aspekts. Geht doch der Kunsttheoretiker davon aus, dass nicht nur permanente Relationierungen der Elemente im Rezeptionsakt aktualisiert werden, sondern diese auch so gestaltet sein können, dass simultane Widersprüchlichkeiten bzw. Unsicherheiten zur Darstellung kommen. Imdahl verweist in diesem Zusammenhang auf eine Darstellung Giottos. Auf diesem Bild ist der Verrat von Judas an Jesus dargestellt. Jesus und Judas umarmen sich und schauen sich intensiv an (vgl. Abb. 4.10). 162 4 Politische Medienikonografie <?page no="163"?> Abb. 4.10: Jesus und Judas gehen aufeinander zu und blicken sich an Imdahl stellt sich die Fragen, wer hier die eigentliche Handlungsmacht hat, wer aktiv, wer passiv ist. Auf den ersten Blick scheint es so, dass Judas die Handlungsmacht innehat. Er umgreift Jesus, der wiederum ein wenig zurückzuweichen scheint. An‐ derseits zeigt sich vor allem an den Kopfhaltungen, dass Jesus sich sehr deutlich und selbstbewusst Judas entgegenstreckt. Hier scheint wiederum Jesus der aktive, handelnde Part zu sein. Der Punkt, um den es Imdahl geht, ist: Die Figuren sind jeweils immer beides, aktiv und passiv, Handelnde und Erleidende, handlungsmächtig und ohnmächtig zugleich. Die Spezifik des Bildes besteht so verstanden nicht in der Darstellung ambivalenter Handlungen oder Emotionen. Das lässt sich auch in einem Text beschreiben. Vielmehr geht es um die Gleichzeitigkeit der Darstellung eines Widerspruchs oder doch zumindest einer Ambivalenz, die im Bild simultan zur Darstellung kommen kann und eben nur dort (vgl. zusammenfassend Abb. 4.11). 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 163 <?page no="164"?> Ikonik (1) geometrische Körper- und Raumproportionen (2) detailreiche, relationale Sinnstruktur (3) szenische Simultanität (4) simultane Widersprüchlichkeit/ Ambivalenz Abb. 4.10 Abb. 4.11: Zentrale Merkmale der Ikonik nach Imdahl Obama und Trump, händeringend Man könnte vielleicht vermuten, dass Darstellungen solcher widersprüchlichen Kon‐ stellationen primär in der Kunst beheimatet sind. Indes ist diese Form durchaus auch in der politischen Berichterstattung gängig. Ein einfaches Beispiel soll das veranschaulichen: Die traditionelle Übergabe eines Präsidenten an den nächsten wird im Weißen Haus öffentlich zelebriert und durch einen Handschlag besiegelt. So war es auch bei der Übergabe von Obama an Trump im Jahr 2017 (vgl. Abb. 4.12). In den Bildern dazu wird sehr deutlich, dass sich die beiden nicht besonders mögen. Zwar schütteln sie sich die Hand. Doch schon der Blick ins Gesicht des Gegenübers scheint zumindest Donald Trump schwer zu fallen. Wichtiger ist mir aber der Widerspruch zwischen den Gesten der Hände. Die rechten Hände vollziehen den obligatorischen Handschlag, während die linken Hände ganz andere Dinge tun. Trumps linke Hand weist von Obama ostentativ weg. Obama streckt zwar seine Hand zu Trump hin; diese ist aber deutlich vor Anspannung gespreizt. 164 4 Politische Medienikonografie <?page no="165"?> 212 Vgl. dazu und zum Folgenden: Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, S.-36ff. 213 Vgl. dazu bereits, z.T. wortidentisch: Sven Grampp, Medienanalyse. Eine medienwissenschaftliche Einführung, Tübingen 2021, S.-107ff. Abb. 4.12: Obama gibt Trump die Hand (nicht) Auch hier gilt: Wie spekulativ diese Deutungen auch immer sein mögen, wie bewusst oder unbewusst dieses Händespiel von statten geht, entscheidend ist, dass mit diesen Händen ein simultaner Widerspruch zur Darstellung gebracht wird, der als symboli‐ sche Verdichtung dieser Spannung interpretiert werden kann. Dass ein Bild diesen Widerspruch buchstäblich auf den (zeitlichen) Punkt bringen kann, genau darin lässt sich mit Imdahl ein Spezifikum von Bildern behaupten, das sich eben nicht vollständig in sprachlichen Artikulationsformen auflösen lässt und ebenso wenig nur als Symptom einer politischen Lage zu deuten ist. Zumindest geht die spezielle (Seh-)Erfahrung, die in Anbetracht des Bildes gemacht werden kann, darin nicht auf. III. Bildfeld - (Binnen-)Räume des Bildes Mit den Ausführungen des Philosophen Gilles Deleuze zum Bewegungsbild lässt sich die formale Organisation des Bildraumes [↑ Bildinstanzen] systematisch fassen. Deleuze beschreibt die Bildkadrierung und deren Binnenkadrierungen in den Anfangspassagen seiner Monografie Das Bewegungs-Bild mit drei Gegensatzpaaren, die für die formale Analyse von Bildern produktiv zu machen sind. 212 Im Einzelnen sind das die Gegensatzpaare (1) gesättigt vs. verknappt, (2) geometrisch vs. physikalisch, (3) schließend vs. öffnend (vgl. Abb. 4.13). 213 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 165 <?page no="166"?> Bildfeld geometrisch physikalisch gesättigt verknappt schließend öffnend Abb. 4.13: Pole der formalen Bildraumorganisation (1) Gesättigt sind Bilder, in denen zumeist viele Objekte versammelt sind, die den Bildraum ausfüllen, zumindest einen großen Teil desselben. Verknappte Bilder sind hingegen Bilder, in denen kaum Objekte vorhanden sind und monochrome Flächen dominieren. (2) Geometrisch organisierte Bilder bestehen vornehmlich aus Objekten, die eine klare Kontur haben, von anderen Objekten des Bildes eindeutig abzugrenzen und deren Relationen untereinander dezidiert geometrisch nachzuzeichnen sind. Bilder hingegen, in denen Objektgrenzen verwischt oder uneindeutig sind, nennt Deleuze physikalische Bilder. (3) Das Gegensatz paar schließend und öffnend bezieht sich auf das Verhältnis von dem, was auf der Bildfläche zu sehen ist und dem, was sich außerhalb des Bildes befindet. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob der Bildraum auf die Ränder hin als abgeschlossen in Szene gesetzt wird oder geöffnet auf das, was sich jenseits des Bildes befindet. Trump gesättigt I verknappt I geometrisch I physikalisch I schließend I öffnend Um zur Veranschaulichung mit dem letztgenannten Gegensatzpaar zu beginnen, soll auf zwei Pressefotografien eingegangen werden, die Trump sehr unterschiedlich in Szene setzen (vgl. Abb. 4.14a-b). In einem Fall ist er zu sehen in einem SUV, in dem er sich während seiner Covid-19-Infizierung den Schaulustigen zeigte; im anderen Fall wurde er abgelichtet im Garten des Weißen Hauses alleine mit einem Regenschirm durch den Regen stapfend. Im Fall der SUV-Darstellung haben wir es eindeutig mit einem öffnenden Bild zu tun. Das Bild des Wagens wurde, wie durch die Spiegelungen auf Karosserie und im Fenster zu erkennen, während der Fahrt fotografiert. Da der Wagen nur angeschnitten ins Bild kommt, wird auf den Bereich jenseits der Aufnahme verwiesen - dorthin, wo der Wagen herkommt und wo er hinfahren wird. Deshalb ist das Bild öffnend. Im Gegensatz dazu steht das Bild von Trump auf dem Friedhof im Regen. Dort gibt es am linken wie am rechten Bildrand deutlich vertikale 166 4 Politische Medienikonografie <?page no="167"?> Binnenkadrierungen durch Objekte - einmal mittels eines Baums, einmal mittels einer Stange. Demensprechend wirkt - obwohl Trump in Bewegung ist - das Bild hinsichtlich seines Verhältnisses zur Welt außerhalb des Bildes geschlossen. Die anderen Gegensatzpaare lassen sich ebenfalls im binären Abgleich der beiden Fotografien erläutern: Im ersten Bild finden sich viele Objekte, vor allem deutlich zu erkennen, wenn man sich das Autofenster genauer anschaut. Dort sitzt nicht nur Trump und im Vordergrund der Fahrer hinter Trump, auf der anderen Seite des Wagens, sind viele Schaulustige zu finden. Dementsprechend lässt sich dieses Bild als ein gesättigtes bestimmen. Im Bild daneben bildet hingegen die Grasfläche ein monochromes Feld, auf dem vergleichsweise wenige Objekte zu finden sind. Deshalb lässt sich dieses Bild als ein in großen Teilen zumindest verknapptes bezeichnen. Das Bild vom SUV ist sehr klar durch vertikale und horizontale Binnenkadrierungen dominiert, so dass die Organisationsform des Bildes eine geometrische ist. Auf dem ‚Friedhofsbild‘ findet sich im oberen Teil, der ein Baumensemble zeigt, im Gegensatz dazu eine physikalische Organisation. Die Abgrenzung einzelner Äste, Bäume und Blätter ist verwischt (vgl. Abb. 4.14c-d). geometrisch öffnend schließend verknappt gesättigt schließend öffnend physikalisch verknappt geometrisch Abb. 4.14a-d: Zweimal Trump: unterschiedliche Bildorganisationen Diese klaren Differenzen werden indes etwas aufgeweicht. Denn im linken Bild finden sich durchaus auch Flächen, die als physikalisch auszuweisen sind, etwa die Effekte der Fensterspiegelung. Ebenfalls ließe sich die schwarze, monochrome Oberfläche des Wagens dominiert durch verknappende Flächen kennzeichnen. Im rechten Bild ließe sich wiederum die Anordnung des Regenschirms, mit seinen klaren vertikalen und 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 167 <?page no="168"?> 214 Die Bildunterschrift lautet demensprechend: „Angela Merkel: Was bleibt, wenn sie geht? “, vgl.: Ulrich Schlie, Keine polemischen Debatten, kein rhetorisches Pathos - wie Angela Merkel die Politik prägte, in: Neue Züricher Zeitung, 22.06.21, Online zugänglich unter: https: / / www.nzz.ch/ meinung / keine-polemischen-debatten-kein-politisches-pathos-wie-angela-merkel-ld.1631496? reduced=true [29.09.21]. horizontalen Linien als ein geometrisch organisiertes Bildobjekt bestimmen (vgl. noch einmal Abb. 4.14c-d). Politische Bildverknappung Zwei Aspekte sind mir daran wichtig: Erstens sind die Begriffspaare nicht als katego‐ riale Differenzen konzipiert. Es handelt sich um Pole, innerhalb derer sich Bilder an‐ ordnen lassen. Die allermeisten Bilder, insbesondere politische Pressefotografien, sind in diesem Kontext hybrid, beinhalten also formal unterschiedliche, ja gegenstrebige Ausrichtungen. Zweitens werden häufig, wiederum insbesondere bei Pressefotogra‐ fien, die genannten formale Merkmale verwendet, um bestimmte Atmosphären und Bedeutungshinsichten nahe zu legen. Am offensichtlichsten wohl beim Einsatz von verknappten Bildern. Soll die Einsamkeit eines Regierungschefs - sei es bei seinen Entscheidungen, sei es beim Verlust der Unterstützung durch die Partei oder der Wähler: innen, sei es am Ende einer Regierungszeit - nicht nur dadurch bebildert werden, dass der Regierungschef allein im Bild vorkommt. In vielen Fällen wird dieses ‚Alleinsein‘ durch große monochrome Flächen - eben durch Verknappung - deutlich herausgehoben (vgl. bspw. Abb. 4.15). 214 Abb. 4.15: Die Einsamkeit der Regierungschefin verknappt in einem monochromen Bildraum 168 4 Politische Medienikonografie <?page no="169"?> Politische Geometrie vs. Physikalitiät Solch eine Bedeutungszuweisung wird aber auch durch die Hybridisierung formaler visueller Elemente deutlich Kontur verliehen. Ein sehr anschauliches Beispiel findet sich auf einer Spiegel-Titelseite. Dort ist Trump abgebildet, wie er im Oval Office sitzt (vgl. Abb. 4.16). Im Hintergrund sind durch ein Fenster Menschenmassen zu erkennen, über denen Rauchwolken aufsteigen. Neben aller deutlicher textueller Markierung („Der Feuerteufel“) und der Verwendung indexikalischer Bildobjekte (ein entzündetes Streichholz, das die kausale Verursachung eines Feuers markiert, das wiederum als Ausgangspunkt der im Hintergrund aufsteigenden Rauchwolken zu deuten, nicht schwerfallen dürfte) [↓ VII. Zeichentypen], ist hier die Gegenüberstellung von geometrischen Formen im Vordergrund und der physikalischen Gestaltung des Raumes hinter dem Oval Office in bestimmter Weise genutzt. Die strenge Gestaltung der vertikalen und horizontalen Linie des Oval Office zeigt eine klare Ordnung eines Schutz- und Machtraumes, von dem aus der gesellschaftliche, öffentliche Raum ins Chaos gestürzt wird - ein Chaos, das durch physikalische Formgebung veranschaulicht wird. Abb. 4.16: Die Geometrie Trumps und seine physikalische Wirkung IV. Bilder als Sprache Trotz aller Bedeutungsoffenheit und Bildspezifik, die Goodman, Imdahl und Deleuze, je unterschiedlich diskutieren, scheint es doch Bildtypen zu geben, die diesen Bestim‐ 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 169 <?page no="170"?> 215 Vgl. dazu und zum Folgenden: Sybille Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016, v.a.: S.-59ff. 216 Christoph Ernst formuliert das in einem Beitrag zur Funktionalisierung von Diagrammen im Kontext der Covid-19-Ausbreitung noch sehr viel anschaulicher: „Kulturgeschichtlich handelt es sich bei Visualisierungen, wie sie uns jetzt rund um die Corona-Pandemie begegnen, um Mittel der Evidenzerzeugung, die - so jedenfalls ihre traditionelle Deutung - Informationen aus komplexen Daten visuell aufbereiten und es uns ermöglichen, sich eine anschauliche Vorstellung von einem abstrakten Sachverhalt zu machen. Was an Informationen in unanschaulichen Zahlenkolonnen enthalten ist, wird in verräumlichter Form unter den Vorrang des Sehsinns gestellt. Einher geht damit die Hoffnung, dass es insbesondere für Laien leichter ist, sich auf diese Weise unter abstrakten Sachverhalten etwas Konkretes vorstellen zu können.“ (Christoph Ernst, Die Kurve abflachen! Über Informationsvisualisierung und die Corona-Pandemie [02.04.20]. Online zugänglich unter: https: / / www.uni-bonn.de/ de/ neues/ die-kurve-abflachen-2013-ueber-informationsvisualisierung-und-die-c orona-pandemie [22.09.21].) 217 Darauf macht etwa Sigrid Weigel aufmerksam, um die generelle Text-Bild-Differenz zu kritisieren, vgl.: Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 22f. Vgl. zudem für eine generelle Kritik der klaren Unterscheidbarkeit von Text und Bild: W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S. 136ff. Ob Diagramme überhaupt als Bilder klassifiziert werden sollen, diskutieren die Kunsttheoretiker Pichler und Ubl, vgl. Pichler/ Ubl, Bildtheorie zur Einführung, S. 126ff. mungen nicht entsprechen. Die Bedeutung von Bildern und der Umgang mit ihnen wird insbesondere in und durch bestimmte Bildtypen ganz entschieden eingeschränkt, ja soll dort für einen einigermaßen reibungslosen Umgang mit ihnen vereindeutigt werden. Zu denken wäre hier als besonders eindrückliche Beispiele an Diagramme oder Piktogramme. Diagramm als besonderer Bildtypus Diagramme Diagramme sind schematische, strikt auf (vermeintlich) wesentliche Merkmale hin selektierte Darstellungen von Sachverhalten oder Zusammenhängen, die bestimme Elemente zueinander möglichst präzise und anschaulich in eine räumliche Relation setzen. 215 Zu denken wäre hier etwa an das Diagramm eines U-Bahnnetzwerkes, ein Kuchendiagramm zur Darstellung der Prozentverteilung nach der Bundestagswahl oder eine zeitliche Verlaufskurve von Infektionserkrankungen. Ein Diagramm ist ein Typus bildgebender Verfahren, kurz der Visualisierung im engeren Sinne - werden doch hierdurch vorher nicht sichtbare oder doch nur sehr schwer sichtbare Phänomene auf engem Raum zusammengebracht, um damit deren entscheidende Verknüpfungen einsichtig zu machen. 216 Diagramme erhalten durch ihre spezifische Darstellung von Relationen eine besonders schlagende Beweiskraft, die eben gerade nicht in ihrer Mehrdeutigkeit besteht, sondern genau umgekehrt, in ihrer (vermeintlichen) Evidenz der visuellen Repräsentation von Sachverhalten. Diagramme erhalten Überzeugungs- und Erklärungskompetenz zumeist in Verbindung mit textuellen und nummerischen Elementen. 217 170 4 Politische Medienikonografie <?page no="171"?> 218 Gerade durch die unterschiedliche Relationierbarkeit der Elemente, die auf einem Diagramm räum‐ lich angeordnet sind, laden Diagramme zudem zu einem spielerischen Umgang ein, unterschiedliche Elemente kreativ und nicht unbedingt im Sinne derjenigen, die die Diagramme erstellt haben, zu deuten. Darauf macht en passant aufmerksam: Ernst, Kurve abflachen. Im Übrigen ist das eines der Merkmale, das der Kunsttheoretiker Imdahl als ein bildspezifisches bezeichnet [↑ Ikonik]. Das hindert diagrammatische Darstellungen indes nicht daran, assoziationsreich sein zu können bzw. durch ihre (vermeintliche) Evidenz Glaubwürdigkeit über die Sachverhaltstaufzeichnung hinaus herzustellen, was sie wiederum für strategischen Einsatz, auch und gerade im politischen Kontext, attraktiv macht. 218 Bidens Twitter-Impfdiagramm Um zunächst ein recht einfaches Beispiel dafür anzuführen, sei auf das Profilbild des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden, das seinen Twitter-Account im Herbst 2021 zierte, hingewiesen (vgl. Abb. 4.17). Hier findet sich nicht nur das Portrait Bidens, der gut gelaunt im Hemd abgebildet ist. Die Hintergrundkachel zeigt zudem - einigermaßen unüblich für einen Twitter-Account - ein Diagramm mit diagonal nach oben strebender Linie vor einem himmelblauen Hintergrund. Eine hohe Zahl, „50.000.000“, ist riesengroß daneben abgebildet. Der kleinformatige Text semantisiert diese Linie so, dass deutlich markiert ist: Es handelt sich um eine Linie, die den rasanten Anstieg der Impfungen gegen Covid-19 in den USA veranschaulichen soll. In diesem Fall sind Zahlen und textuelle Elemente Bestandteil des Diagramms. Die Visualität des Diagramms ist also nicht an sich selbstevident, wird dies erst im Zusammenspiel mit Zahl und Text. Abb. 4.17: Bidens Impferfolge auf Twitter Zudem veranschaulicht dieses Diagramm nicht einfach einen Sachverhalt räumlich, sondern dieser Sachverhalt soll als Erfolg der neuen Regierung markiert und also auf 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 171 <?page no="172"?> 219 Vgl. dazu und zum Folgenden: Ernst, Kurve abflachen. Biden übertragen werden. Dieser Zusammenhang wird nicht nur dadurch hergestellt, dass diese Info eben auf dem Twitter-Account von Biden vermerkt ist; darüber hinaus findet sie sich in der Bildkonstellation der beiden Bildtypen, nämlich der des fotogra‐ fischen Porträts und des Diagramms. Da das eine Bild vor dem Hintergrund des anderen erscheint, wird so visuell ein Zusammenhang hergestellt. Passend dazu korrespondiert die Farbgebung. Die Farbe der aufsteigenden Linie findet sich im Hintergrund des Porträts von Biden wieder. Der himmelblaue Hintergrund des Diagramms wird in den Linien von Bidens Hemd wieder aufgegriffen. Wie strategisch das auch immer gesetzt sein mag, hier ist wichtig: Diagramme werden in politischen Kontexten nicht nur zur Evidenzerzeugung eingesetzt, sondern - zumindest in vorliegendem Fall - auch um inhaltliche wie formale Übertragungen von Merkmalen auf Akteure jenseits des Diagramms zu initiieren. Die Covid-19-Medienikone und ihre politischen Implikationen Um hierfür ein noch sehr viel subtileres Beispiel für mögliche politische Implikationen eines Diagramms anzuführen, sei auf das Dashboard der John-Hopkins-University verwiesen. 219 Dieses Dashboard dürfte - dafür bedarf es wohl keiner allzu großen Prognosekompetenz - als eines der Medienikonen die Covid-19-Pandemie überdauern [↑ Kap. 3, Medienikonen]. Zumindest ist es das Diagramm, das in Sachen Informations‐ beschaffung und Veranschaulichung der Pandemie nahezu weltweit am häufigsten im Netz aufgerufen, in den sozialen Medien gepostet und den klassischen Massenmedien reproduziert wurde. Dieses Dashboard besteht aus einer skalierbaren Karte, die die Pandemieherde mit roten Punkten auf globaler Ebene markiert (vgl. das Beispiel der USA Abb. 4.18a). Links davon sind die Sterbe- und Infektionszahlen diverser Länder dargestellt, über der Karte die Impf-, Sterbe- und Infektionszahlen. In der rechten Bildhälfte sind drei Kurven eingezeichnet, welche die Zahlen, die über der Karte angebracht sind, in Kurvendiagramme umwandeln. Sie zeigen die Sterbe-, Impf- und Infektionsrate. 172 4 Politische Medienikonografie <?page no="173"?> 220 Ebd. USA Komoren „No data available in this place“ Abb. 4.18a-b: Die Sichtbarkeit der Welt: Covid-Erkrankungs-Dashboard Das Dashbord hat neben seinem unbestreitbar hohen Informationswert auch politische Implikationen. Mit dieser diagrammatischen Darstellung wird, so schreibt Christoph Ernst, „stets auch das ‚Kurvenmanagement‘ der jeweiligen Staaten und das damit einhergehende Bestreben repräsentiert, ‚Normalität‘ und Handlungsfähigkeit zu ga‐ rantieren“. 220 Welcher Staat hohe ‚Normalität‘ und Handlungsfähigkeit garantiert, welcher eher nicht, wird erstens im Abgleich der aufgelisteten Staaten illustriert (vgl. bspw. Abb. 4.18a-b). Zweitens ist auf dem Diagramm auch vermerkt, wo keine Daten zu finden sind, keine Daten freigeben wurden oder welcher Staat aufgrund eines problematischen Gesundheitswesens nicht in der Lage ist, solche Daten zu erheben. Hier findet sich bei einigen Staaten, insbesondere bei der Angabe der ‚Impflage‘ die Formulierung „No Data available in this region“, flankiert von einem Diagramm, dessen Kurve nicht flach ist, sondern hart an der x-Achse entlangschlängelt. Drittens: Manche Staaten und Regionen kommen überhaupt nicht vor, weil von diesen schlicht keine Daten zugänglich sind, sei es wiederum aus staatlichem Kalkül oder aufgrund des Fehlens verwertbarer Daten. Dieses Fehlen heißt aber mitnichten, dass es dort keine Fälle gibt, keine Impfungen vorgenommen werden etc. Aber genau dies wird im Diagramm selbst nahegelegt, weil diese Gebiete einfach schwarz bleiben. Im Länderabgleich sowie ex negativo durch die Abwesenheit einzelner Länder wird also nicht nur veranschaulicht, wie viele Fälle und Opfer existieren, sondern eben auch, wie viele Impfungen vorgenommen wurden bzw. wo vermeintlich überhaupt nicht geimpft wird und/ oder sich keine Infizierten finden. Somit sagt dieses Diagramm auch darüber etwas aus, wie stark, wie schwach oder wo gar keine Impfungen eingesetzt werden, wo nicht kontrolliert oder keine Opfer zu finden sind, wo die Ausbreitung besonders stark zu sein scheint - betont durch die Rotfärbung der Pandemieherde vor dem Hintergrund der schwarzen Kontinente auf der Hauptkarte. All diese Verweise, Farbgebungen, Relationierungen und Selektionen suggerieren insbesondere vor dem Hintergrund einer vermeintlich gemeinsamen globalen Agenda, 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 173 <?page no="174"?> nämlich die ‚Kurve abzuflachen‘ - also die Zahl der Neuinfektionen einzudämmen -, dass die Ausbreitung, Kontrolle und Maßnahmen gegen den Virus nicht nur visuell zu beobachten ist, sondern auch dessen politische Bewertbarkeit. Jedenfalls wird mit dieser Art visueller Datenvermittlung der implizite Appell formuliert, diese Kurven, Zahlen und Daten politisch zu beurteilen. Diese Beurteilung erfolgt viertens eben durch die Visualisierung nummerischer Daten, also aufgrund von Quantifizierungso‐ perationen, deren Erstellung und vor allem Selektionskriterien - zumindest für Laien mehr oder minder - intransparent sind (zumindest auf Ebene des Dashboard-Interface). Gleichwohl wird aber mittels Visualisierung der Daten ein Sachverhalt konstruiert und evident gemacht. Indes werden weder Kontextdaten zu Regierungsformen, Gesund‐ heitswesen, wirtschaftlicher Lage o.ä. vermerkt noch wird visuell erinnert, warum be‐ stimmte Daten und damit Staaten im Diagramm schwarz bleiben. Solch ein Diagramm ist also nicht nur eine problematische Übermittlung von Daten, das die Sachverhalte nicht einfach richtig beschreibt, hochgradig selektiv und interpretativ darstellt, darüber hinaus liegt ihm eine politische Agenda zugrunde [↓ Corona-Prognosen]. Diagramme als Medien Mit den Ausführungen zum Bildtypus Diagramm wurden zwei Ziele verfolgt. Einerseits sollte dargelegt werden, dass gerade bei diesem Bildtypus die generelle Charakterisie‐ rung von Bildern als infinit bedeutungsoffen problematisch ist [↑ Weisen der Bilderzeu‐ gung]. Anderseits und gegenläufig dazu hatten die beiden Beispiele den Sinn aufzeigen, dass trotz der Vermeidung von Bedeutungsoffenheit, gerade durch spezifische Aus‐ wahl, Anordnung, Quantifizierungen und Ausblendung solche Diagramme politische Implikationen beinhalten können. Dementsprechend lässt sich universalisierend for‐ mulieren: Diagramme sind mitnichten reine Mittel der Informationsversammlung und -übermittlung, sondern Medien [↑ Kap. 2, Medien], die Botschaften jenseits der direkt vermittelten Informationen in Kurven und Zahlen mit sich führen - eben auch politische. Piktogramm als vereindeutigender Bildtypus Noch klarer wird die Einschränkung der Interpretationsoffenheit von Bilder beim Bildtypus Piktogramm. Piktogramme Von der Wortgeschichte her sind Piktogramme ‚geschriebene Bilder‘. Damit ist schon auf eine entscheidende Funktion solcher Bilder verwiesen: Piktogramme sind abstrahierte, stilisierte Bilder, die mittels Ähnlichkeit eindeutig auf Objekte bzw. Vorgänge verweisen und zudem mittels symbolisch so stark konventionali‐ 174 4 Politische Medienikonografie <?page no="175"?> 221 Generische Zeichen sind Zeichen, die Gattungen darstellen, wie die Gattung Mensch oder eine Klasse, etwa alle Männer. 222 Tilman Baumgärtel schreibt zur Bestimmung von Pikogrammen instruktiv und anschaulich: „Ein Piktogramm repräsentiert ein Objekt, eine Person oder eine Handlung. Bei GIF 1.0 steht ein Briefkasten mit bewegter Klappe für E-Mail, ein Pinsel, von dem Farbe heruntertropft, für Malerei, Pacman, der seinen Mund öffnet und schließt, für Computerspiele. Als visuelle Möglichkeiten, Dinge jenseits von gesprochener und geschriebener Sprache auszudrücken, sind Piktogramme letztlich eine Art der Darstellung, die bis zur Keilschrift oder den Hieroglyphen zurückreicht und die bis heute bei anderen digitalen Bildphänomenen wie Emojis oder Emoticon fortlebt.“ (Tilman Baumgärtel, GIFS. Evergreen aus Versehen, Berlin 2020, S.-49) Zu den vielen, ambivalenten, mitunter paradoxen Facetten des Piktogramms vgl. instruktiv: Anette Geiger/ Bianca Holtschke (Hg.), Piktogrammatik. Grafische Gestaltung als Weltwissen und Bildordnungen, Bielefeld 2021. 223 Vgl. instruktiv und kritisch gerade gegen die auch hier vertretene reduktionistische Lesart von Emojis: Lukas A. Wilde, Emoji als Piktogrammatik, in: Geiger/ Holtschke (Hg.), Piktogrammatik, S.-162-184. sierten, häufig generischen Zeichenformen 221 , - zumindest in einem bestimmten kulturellen Kontext - eine eindeutige Lesbarkeit gewährleisten (vgl. Abb. 4.19a). 222 In vielen Fällen sind solche Bilder Teil eines standardisierten Piktogrammsystems, das möglichst sprachenübergreifend und transnational oder sogar global lesbar sein soll. Abb. 4.19a-b: Piktogramme allerorten Das bekannteste Beispiel für solch ein Piktogrammsystem stellen wohl Verkehrsschil‐ der dar. Auch Hinweisschilder, die verdeutlichen sollen, welcher Objekttyp oder welche Institution sich wo befindet, fallen darunter. Buchstäblich einem universalen globalen Standard, nämlich dem Emoji Unicode, sind Emojis verpflichtet, die knapp, textunab‐ hängig Meinungen, Reaktionen oder Bekundungen Ausdruck oder auch Nachdruck verleihen sollen (vgl. Abb. 4.19b). 223 Auch zur schnell orientierenden politischen Meinungsbildung oder -bekundung werden Piktogramme gern eingesetzt, etwa in Form von Aufklebern im öffentlichen Raum, auf Poster oder Aufnähern auf Jacken oder Buttons (vgl. Abb. 4.20). Mehrdeutigkeit soll bei diesem Bildtypus möglichst ausgeschlossen werden. Etwas polemisch formuliert: Piktogramme sind Schlagbilder für Arme [↑ Kap. 3, Schlagbilder]. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 175 <?page no="176"?> 224 Vgl. dazu und zum Folgenden: Anette Geiger, Vom falschen Bild das Richtige denken. Pikogrammatik seit Platon, in: Geiger/ Holtschke (Hg.), Pikogrammatik, S.-23-44, v.a.: S.-37ff. Abb. 4.20: Politische Handlungsanweisung verdichtet auf Buttons oder Aufnähern Implikationen von Piktogrammen Aber selbst bei Piktogrammen gilt: Ihre Generalisierungen und Stereotypisierun‐ gen haben hohes konnotatives Potenzial [↓ Denotation/ Konnotation]. Das betrifft nicht nur Piktogramme, die einer klaren politischen Agenda folgen, bei‐ spielsweise ein Hakenkreuz, das eine bestimmte Ideologie bezeichnen soll, als Erkennungszeichen von Personen dient, die als Nationalsozialist: innen identifizier‐ bar werden (wollen) und eine ganze Vielzahl semantischer Assoziationen mit sich führt (etwa Holocaust, Massenmörder, Glatzen, Neofaschismus, weiße Dominanz usw.). Dasselbe gilt überdies für Piktogramme in vermeintlich sehr viel weniger politisch aufgeladenen Kontexten, etwa Gendermarkierungen für Toiletten. 224 Standard ist ein Piktogramm für Frauen und eines für Männer (vgl. Abb. 4.21a). Beide Piktogramme sind abstrahierte Zeichen, die auf alle Männer bzw. alle Frauen dieser Welt referieren und beide Geschlechter darüber orientieren, durch welche Tür sie gehen müssen. So weit, so deutlich und eindeutig lesbar. Was nun aber die Konnotation betrifft, ist diese ideologisch hochbrisant, wird damit doch suggeriert, dass Menschen entweder Frauen oder Männer sind, ein drittes, anderes gibt es nicht. Inzwischen existieren indes bekanntlich auch Transgender-Toiletten, die ebenfalls mit Piktogrammen markiert sind. 176 4 Politische Medienikonografie <?page no="177"?> Abb. 4.21a-b: Männer und Frauen und ‚Andere‘ an der Toilettentür An einem der Vorschläge zu deren Bezeichnung ist deutlich zu erkennen, dass es sich bei Trans-Gender-Personen scheinbar um halbe Frauen und halbe Männer handeln muss (vgl. Abb. 4.21b). Mit anderen Worten: Solche Personen werden vor dem Hintergrund eines binären Geschlechterschemas klassifiziert. Es sind so ‚nur‘ abgeleitete Personen aus den primären, eigentlichen Geschlechtern oder im Zweifelsfall einfach ‚alle anderen‘. Hier hat man es nicht nur mit der Darstel‐ lungsschwierigkeit zu tun, welche Art von Piktogrammen angemessen wären, um etwas jenseits einer binären Geschlechterauffassung darstellbar zu machen. Mehr noch gilt: Diese Pikogramme haben Konnotationen insofern, als sie fundamentale Vorstellungen von Geschlechterordnungen vermitteln. So verstanden sind Pikto‐ gramme immer auch Teil einer Politik der Geschlechter, die gesellschaftspolitische Relevanz haben und umstritten sind. Jedenfalls sind es keine neutralen Zeichen, die einfach Sachverhalte in der Welt bezeichnen. Sie werden so nur häufig eingesetzt oder suggerieren diese Neutralität, was sie umso interessanter für politische Praktiken macht. Konventionalisierung visueller Merkmale Auch wenn Bilder nicht zu Piktogrammen verdichtet sind, ist dennoch die Konventio‐ nalisierung von Bildformen und Motiven eine gängige Operation - ein Argument, das ja bereits die klassische Ikonografie immer wieder stark gemacht hat [↑ Kap. 3]. Be‐ stimmte Gesten, die Faust, das Victory-Zeichen oder auch Handlungen, man denke nur noch einmal an den Kniefall Brandts [↑ Kap. 3, Über Gesichter, Hände und Knie…], sind als kommunikative (Bild-)Handlungen vergleichsweise einfach - freilich immer relativ zu kulturellen Kontexten - zu decodieren. Solche Konventionalisierungen können auch aktiv hervorgebracht werden. So hat Trump als Gastgeber der Fernsehshow The Apprentice über Jahre und Staffeln hinweg nichts unversucht gelassen, eine bestimmte Geste zu etablieren, die einen seiner zentralen Sprüche der Serie begleitete, nämlich: 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 177 <?page no="178"?> 225 Dieses Bild zirkulierte im Internet lange Zeit als Titelbild des Magazins Time, was es indes nie war (vgl. dazu: Satya Priya, Fact check: Viral image of Trump’s pic as Hitler’s moustache on Time magazine cover is false, in: Newsmeter, 4.6.2020, Online zugänglich unter: https: / / newsme ter.in/ fact-check-viral-image-of-trumps-pic-as-hitlers-moustache-on-time-magazine-cover-is-false/ [01.12.22].). Auf vielen Homepages wird inzwischen darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen Fake handelt, was der Deutlichkeit der Aussage - Trump ist (wie) Hitler - keinen Abbruch tut, eher im Gegenteil. „You’re fired! “ Wiederholt wurde diese Geste, samt verzerrtem Gesichtsausruck, auf Premierefeiern, Titelbildern oder in Talkshows (vgl. bspw. Abb. 4.22a). Im Laufe der Jahre und auch im Zeitraum seiner Präsidentschaft wurde diese Geste tatsächlich so konventionalisiert, dass sie zum eindeutig lesbaren Markenzeichen Trumps wurde. Hier gilt: Je öfters diese Geste wiederholt wurde, desto eindeutiger lesbar wurde sie. Abb. 4.22a-b: Trump/ Hitler Auch stark abstrahierte Körperelemente, Haare oder Bärte beispielsweise, lassen sich eindeutig Personen zuordnen, um bestimmte politische Einstellungen zu markieren, was sich auch kombinieren lässt, um nicht weniger eindeutige Aussagen zu platzieren. Etwa Hitlers Scheitel und Trumps Haarpracht können so problemlos gekoppelt werden zu einem Gesicht mit einer deutlichen Aussage, nämlich Trump ist wie Hitler, also ein extremistischer Rassist (vgl. dafür bspw. Abb. 4.22b). 225 Sprache ⟷ Bild Interessant an dieser ‚Gegenrechnung‘ ist erstens, dass die Differenz zwischen sprachli‐ cher und bildlicher Codierung nicht so absolut zu setzen ist, wie bei der Darstellung von 178 4 Politische Medienikonografie <?page no="179"?> 226 Vgl.: Scott McCloud, Understanding Comics. The Invisible Art, New York 1993. 227 Geeignet ist solch ein dreipoliges Schema allein schon deshalb, weil Bilder zumeist alle drei Aspekte aufweisen, selbstverständlich in sehr unterschiedlichen Mischverhältnissen. Brandts Kniefall, um nur dieses Beispiel kurz aufzugreifen, hat durchaus viele Aspekte einer kalkulierten geometrischen Anordnung und Bedeutungsdimensionen, die weit über die eigentlichen Inhalte des Bildes hinaus‐ gehen [↑ Kap. 3, Welche Bilder werden warum …]. Goodmans Argumentation nahegelegt wurde [↑ Weisen der Welterzeugung]. Es kommt eben darauf an, welcher Bildtypus gemeint ist und/ oder welche Funktion Bilder jeweils haben. Eine schöne Veranschaulichung der verschiedenen Dimensionen des Bildes und seines Verhältnisses zur Sprache findet sich in einem Buch des Comic-Zeichners und -Theoretikers Scout McCloud. In Understanding Comics fasst McCloud Comics als einen Bildtypus, der sich zwischen den Polen (Außen-)Referenz, (geometrische) Form und (symbolische) Sprachbedeutung aufspannen lässt. 226 Innerhalb dieses Dreiecks differenziert McCloud unterschiedliche Darstellungsstile und situiert sie innerhalb des Dreieckes (Abb. 4.23a). Abb. 4.23a-b: Der Bildtypus Comic im Comic Übersichtlicher dekliniert McCloud dieses Dreigestirn im Buch noch genauer anhand von Gesichtsdarstellungen durch (vgl. Abb. 4.23b). Mir geht es hier vor allem um den Pol der Sprache. Piktogramme sind demzufolge sehr nah an sprachlichen Elementen und der damit verbundenen Eindeutigkeit anzusiedeln, El Lissitzkys Schwarzes Quadrat eher am Pol der (geometrischen) Formen und die Fotografie von Brandts Kniefall wiederum sehr nah am Pol der (Außen-)Referenz [↑ Kap. 3, Über Gesichter, Hände und Knie]. 227 Außerdem wird anhand McClouds Diagramm noch ein zweiter, in diesem Kontext wichtigerer Aspekt deutlich: Texte sind häufig Bestandteile von Bildern, nicht nur als Paratexte wie Bildunterschriften, sondern als Bestandteil des Bildes - und das nicht einzig als Inhalt von Sprechblasen in Comics [↓ II. Bild-Text-Verhältnisse]. Ein historisch weit zurückreichendes Beispiel bieten Künstlersignaturen auf Gemälden. Ein besonders makabres Expempel dafür ist das Bild Die Enthauptung Johannes des Täufers 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 179 <?page no="180"?> 228 Vgl. etwa: Mitchell, Bildtheorie, S.-136ff. 229 Vgl. dazu: Marilyn DeLaure/ Moritz Fink, Introduction (Hg.), Culture Jamming. Activism and the Art of Cultural Resistance, New York 2017. aus dem Jahr 1608 von Michelangelo Merisi da Caravaggio. Am unteren Ende des Bildes läuft über Hals und Kehle des Täufers ein Blutrinnsal hinab und mündet in eine Lache, von der ausgehend der Künstler sein Werk quasi mit Blut signiert (vgl. Abb. 4.24a). Ein weiteres Beispiel bildet das Akronym ‚MG‘ für Matt Groening, seines Zeichens Schöpfer der Animationsserie The Simpsons. Der Hauptfigur dieser Serie, Homer, hat Groening sein Akronym visuell an Haar und Ohr eingeschrieben (vgl. Abb. 4.24b). Mit dieser Signatur macht Groening spielerisch deutlich, was Bildwissenschaftler: innen wie W. J. T. Mitchell begrifflich herzuleiten bemüht sind, 228 nämlich, dass die Differenz zwischen Text und Bild nicht eine materielle oder kategoriale sein kann, sondern, wenn überhaupt, eine der Beobachtungsperspektive. Abb. 4.24a-b: Künstlersignaturen, einmal Anfang des 17. Jahrhunderts, einmal Ende des 20. Jahrhun‐ derts Auch in dezidiert politischen Bilder finden sich häufig Textelemente, etwa ganz einfach auf Fotografien von Protestveranstaltungen, die häufig von Plakaten und Tafeln begleitet werden, auf denen Slogans und Appelle zu finden sind, zur Identifikation gegen oder für was dort eigentlich demonstriert wird. Damit ist nicht nur vor Ort verdeutlicht, gegen oder für was es eigentlich geht, sondern ebenso die Bedeutung eines Bildes durch den Text vereindeutigt (für ein Beispiel im Zusammenhang mit der Black Lives Matter-Bewegung vgl. Abb. 4.25a). Ein anderes Beispiel findet sich im Kontext des sogenannten cultural jamming (vgl. Abb. 4.25b). 229 Dabei wird unter ande‐ 180 4 Politische Medienikonografie <?page no="181"?> rem in existierende Produktwerbungen im öffentlichen Raum subversiv eingegriffen. Ein bekanntes Beispiel stammt von dem Street Art-Künstler Buga Up. Dieser griff in ein Coca-Cola-Werbeplakat ein - und zwar durch ‚Bearbeitung‘ der Zähne der Abgebildeten. Vor allem wurde der Werbetext so verändert, dass die Botschaft auf den Zuckergehalt des Getränks und die damit einhergehenden Konsequenzen gelenkt wird. Diese (Text-)Bearbeitung eines öffentlichen Werbebildes ist als politische Aktion auf und mit einem Bild zu verstehen. Abb. 4.25a-b: Zweimal Proteste mit Texten im öffentlichen Raum Gegenstrebige Bildbewegungen Mit den Verweisen auf unterschiedliche Bildtypen, diverse Bild-Text-Relationen wie auch mit Rekurs auf McClouds Dreipoligkeit von (Comic-)Bildern sollte deutlich gemacht werden, dass Bilder ein facettenreicher Gegenstand mit gegenstrebigen Ten‐ denzen ist. Genau besehen findet sich beim Blick auf Bilder eine doppelt gegenstrebige Konstellation. Einerseits sind Bilder, zumindest einige Bildtypen, sprachähnlich; ander‐ seits gilt aber ebenso: Bilder sollen sprachunabhängig zu verstehen sein (man denke nur an Piktogramme oder Emojis). Weiterhin wurde behauptet: Einerseits sind Bilder per se bedeutungsoffen, anderseits ausgerichtet auf eindeutige Bedeutungszuweisungen. Aus diesen Schwierigkeiten kann man sich schwerlich durch weitere definitorische Festsetzungen oder normativen Ausschluss bestimmter Bildtypen befreien, sondern muss sich - auch wenn sich das definitorisch unbefriedigend und letztlich trivial ausnehmen mag - konkret jeweils die Bilder, Bildkonstellationen und deren Funkti‐ onsweise anschauen, um zu entscheiden, wie Bilder operieren, eingesetzt und weiter‐ verarbeitet werden, ja, noch prinzipieller: was Bilder jeweils überhaupt sind. Für eine politische Medienikonografie heißt das, von einer essentialistischen oder auch nur universellen Bestimmung dessen, was alle Bilder auf Ebene des Codes vereint, Abstand zu nehmen. Auch wenn es zutreffen mag, dass Bilder durch drei zentrale Instanzen zu charakterisieren sind - Bildvehikel, -inhalt und -referenz [↑ Bildinstanzen] - und auch wenn es zustimmungsfähig sein sollte, dass Bilder nur genau das sein können, was von etwas anderem abzugrenzen ist, in etwas anderem erscheint und dort als etwas anderes wahrgenommen wird [↑ Bildbestimmungen], so ist diese 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 181 <?page no="182"?> ontologische Minimalbestimmung vor dem Hintergrund, wie unterschiedlich Bilder funktionieren, in Erscheinung treten und verwendet werden, doch recht grobschlächtig und zumindest für konkrete Analysen wenig hilfreich. Demgegenüber sollen im Folgenden unterschiedliche Aspekte des Bildlichen vorge‐ stellt werden, die eben nicht zu einer vollständigen Bestimmung dessen führen können, was allen Bildern gemeinsam ist. Vielmehr sollen einige Forschungsfacetten konturiert werden, die unterschiedliche Bildtypen und Bildpraktiken perspektivieren und so je anders geartete Fragen an die Funktion und Darstellung von Bildern im Kontext des Politischen zu stellen helfen. Anstatt einer Bilddefinition: Familienähnlichkeit der Bilder Auch wenn hier davon ausgegangen wird, dass es keine umfassende Bestimmung aller Bilder und Bildtypen gibt, hat das nicht zur Konsequenz, Bilder überhaupt nicht bestimmen zu können. Nicht alles kann irgendwie ein Bild sein. Erstens gibt es eben Phänomene, die mit guten Gründen als Bilder bezeichnet werden und andere nicht [↑ Bildbestimmungen]. Je nach Situation, Praxis und Gegenstand muss das indes konkret und differenziert bestimmt werden. Zweitens gibt es zu einer stren‐ gen und systematisch ausdifferenzierten Wesensbestimmung eines Gegenstandes einen attraktiven Gegenvorschlag, nämlich das Konzept der Familienähnlichkeit. Abb. 4.26: Die Familienähnlichkeit geometrischer Figuren Folgt man dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, meint ‚Familienähnlichkeit‘ nicht einfach ein genetisches Verwandtschaftsverhältnis von Lebewesen, sondern kann auch auf ganz andere Phänomene angewendet werden, insbesondere auf Zeichen und ihre Bedeutung. Bei dem Philosophen wird Familienähnlichkeit zu dem Prinzip erkoren, das sprachliche, begriffliche oder eben auch bildliche Einheiten ganz prinzipiell strukturiert. Damit setzt Wittgenstein anstelle klar 182 4 Politische Medienikonografie <?page no="183"?> 230 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S.-277. 231 Ebd., S.-278. 232 Diese Idee übernehme ich aus: Ingeborg Reichle u. a., Die Familienähnlichkeit der Bilder, in: dies u. a. (Hg.), Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2 2017, S.-7-11. abgetrennter und eindeutig zu bestimmender Einheiten die Ähnlichkeit - und damit eine komplexe wie unscharfe Vernetzung der Elemente einer Gruppe. Wittgenstein exemplifiziert das anhand des Begriffs ‚Spiel‘. Er geht der Frage nach, was alle Spiele gemeinsam haben, ob sich also so das Wesen des Spiels ausmachen lässt, das sich mittels einer endlichen Menge an Merkmalen definieren lässt. Wittgenstein verneint dies und stellt eine Alternative zu dieser Suche vor, eben das Konzept der Familienähnlichkeit: „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament etc. etc. - Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie.“ 230 Diese Familie - und das ist wichtig - bildet eine Einheit, auch wenn es keine abgeschlossene Merkmalszuweisung gibt und die Menge der möglichen Gegenstände offen bleibt (vgl. Abb. 4.26). Wittgenstein verwendet zur Beschreibung dieser Einheit die Metapher eines Fadens, der aus Einzelfasern zusammengesetzt ist. Er schreibt: „[D]ie Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch die ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.“ 231 Das lässt sich wunderbar auf die Bestimmung von Bildern übertragen. 232 Ein Bild wäre dementsprechend etwas, dem eine Familienähnlichkeit mit anderen Bildern zukommt. Eine wichtige Konsequenz dieses Verständnisses von Bildern ist, dass es so nicht nur kein übergreifend eindeutig zu bestimmendes Set an Merkmalen gibt, das das Bild charakterisiert, sondern darüber hinaus bedeutet dies: Das einzelne Bild kann als ein solches nur im Verhältnis zu anderen Bildern bestimmt werden. Das wiederum lässt sich in zwei Richtungen wenden: Einerseits heißt das, dass das, was die Bildlichkeit eines Bildes ist, nur durch Beobachtung anderer Bilder zu finden ist, die in Relation zu dem zu untersuchenden Bild stehen. Anderseits ist die Bildlichkeit des Bildes nur in der Relation einzelner Bilder zu finden, also jeweils eine andere. Der Wesenskern des Bildes, die Bildlichkeit des Bildes, ist also ein kontextabhängiges, dynamisches, sich veränderndes Geflecht. Daraus lässt sich eine nicht unerhebliche Konsequenz für Bildanalysen ableiten: Die Untersuchung eines Bildes muss notwendigerweise immer schon mehrere ‚familienähnliche‘ Bilder beinhalten. Noch pointierter und in einem anderen Vo‐ kabular formuliert: Anstelle der Werkanalyse muss eine Netzwerkanalyse treten. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 183 <?page no="184"?> 233 Vgl. dazu und zum Folgenden: Roland Barthes, Rhetorik des Bildes [1964], in: ders., Der entgegen‐ kommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 28-46, v.a.: S. 34ff. 234 Ebd., S.-36. 235 Ebd. V. Bild-Texte-Verhältnisse: Funktionale Intermedialität Sollte es zutreffen, dass trotz der Beispiele für Piktogramme, der Diagramme und vieler konventionalisierter visueller Formen in Bildern zumindest einige Bildtypen existieren, die sehr viel bedeutungsoffener sind als sprachliche Codierungen, liegt es nahe, dass Bilder - insbesondere im Kontext öffentlicher Kommunikation - häufig durch sprachliche, vor allem textuelle Elemente begleitet werden, um die Interpretation der Bilder in eine bestimmte Richtung zu lenken. Allein schon deshalb sind auch sprachliche, genauer textuelle Artikulationen Teil politischer Medienikonografie. sprachliche Funktion in/ für Bilder Verankerung potentielle Bedeutung des Bildes wird limitiert potentielle Bedeutung des Bildes wird erweitert Relais Abb. 4.27: Öffnung und Schließung der Bedeutung von Bildern durch Sprache Mit dem französischen Semiotiker Roland Barthes lässt sich die Funktion der Sprache für Bilder in zwei Unterbereiche differenzieren, die gegenstrebige Funktionen erfüllen. Zum einen kann Sprache eine Verankerungsfunktion übernehmen. 233 Der Text zum Bild erhält hier eine Kontrollfunktion durch die Limitierung möglicher Bedeutungen. Ein Beispiel dafür bietet Obamas Hope Poster. Die sprachliche Markierung ‚Hope‘ richtet das Bild in eine spezifische Interpretationsrichtung aus. Der schräg nach oben ausgerichtete Kopf Obamas wird so als Geste politischer Zukunftshoffnung verankert, deren Inbegriff eben Obama sein soll. Damit wird der Bedeutungshorizont stark limitiert. Nachvollziehbar dürfe das werden, wenn man sich andere textuelle Begleitungen desselben Posters betrachtet. Durch Bezeichnung wie ‚Change‘ oder ‚Progress‘ werden die Angebote für die Bedeutungszuweisung anders, wenngleich nicht radikal anders, ausgerichtet (vgl. noch einmal Abb. 3.23b). Die zweite Funktion nennt Barthes die „Relaisfunktion“ 234 der Sprache. Der Semioti‐ ker schreibt dazu: „Bild und Wort […] stehen hier in einem komplementären Verhältnis […] und die Einheit der Botschaft entsteht auf einer höheren Ebene: der der Geschichte […].“ 235 Um es wieder am Beispiel des Hope Poster zu veranschaulichen: Sprachliche Zu‐ weisungen wie ‚Nope‘, ‚Yes, we scan‘ oder ‚Socialism‘ richten die Bedeutungsoptionen neu aus - und zwar so neu, dass diese Ausrichtung nicht mehr die möglichen inten‐ 184 4 Politische Medienikonografie <?page no="185"?> 236 Vgl.: Müller/ Geise, Grundlagen der Visuellen Kommunikation, S.-19ff. dierten Bedeutungsoptionen des Bildes limitiert, sondern eine neue, überraschende Deutung vorschlägt. Mit anderen Worten: Aufgrund dieser textuellen Operation wird auf Ebene der intermedialen Bild-Text-Konstellation eine neue ‚Geschichte‘ im Sinne Barthes erzählt, eine die die Bedeutung des Bildes erweitert. Sprache hat hier also nicht nur eine limitierende Funktion, sondern eben auch eine erweiternde (vgl. Abb. 4.27). Beide Operationen finden sich häufig im Kontext visueller Kommunikationsstrategien des Politischen. VI. Bildtypen: Abstrakte Codierung vs. konkrete Konventionalität Trotz einiger universaler Aspekte der Bildcodierung lassen sich - das wurde bereits bei der Diskussion des Diagramms und des Piktogramms deutlich gemacht - durchaus diverse Bildtypen unterscheiden, die mit unterschiedlichen (Binnen-)Codierungen einhergehen. Dementsprechend ist es gängig, beispielsweise Fotografie, Film, Skulptur, Architektur, Gemälde, Comic zu unterscheiden, so etwa in dem Einführungsband zu Grundlagen der visuellen Kommunikation (vgl. Abb. 4.28, vgl. auch die hier im zweiten Kapitel vorgeschlagene Ausdifferenzierung, Abb. 2.3). 236 Film lässt sich dem‐ entsprechend als Bewegtbild vom Comic als einem Bildtypus unterscheiden, der durch unbewegte Panel codiert ist. Die Fotografie wiederum lässt sich charakterisieren als ein technisches Reproduktionsmedium, das die äußere Wirklichkeit in ihrer Lichtspur auf einer zweidimensionalen Fläche aufzeichnen kann, im Gegensatz wiederum bei‐ spielsweise zu einer Skulptur, die dreidimensional ist und - wenn überhaupt - die äußere Wirklichkeit indirekt in Materialien wie Stein, Marmor oder Holz nachahmt, jedenfalls diese nicht technisch reproduziert. Die Beispiele ließen sich beliebig fort‐ setzen. So eine (potenziell endlose) Liste unabhängig von konkreten Darstellungen und Verwendungspraktiken scheint mir wenig zielführend. Vier konkrete Beispiele sollen veranschaulichen, warum solch eine Bestrebung geradezu fehlgeleitet wäre. Anhand dieser Beispiele lässt sich auch zeigen, dass die unterschiedlichen Bildtypen nicht allein aufgrund prinzipieller materieller Bedingungen des Bildvehikels bestimmte Codierungen erhalten [↑ Bildinstanzen], sondern Kontext und Konventionalisierung spielen mindestens ebenso entscheidend mit hinein. Abb. 4.28: Konventionelle Ausdifferenzierung von (Einzel-)Medien Zunächst zum Unterschied von Text und Fotografie (vgl. Abb. 4.29a-b): Im einen Fall handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem Pressetext. Hier geht es im Sinne 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 185 <?page no="186"?> Goodmans um eine Aussage, die im alphabetischen Code formuliert ist, syntaktisch differenziert und disjunkt [↑ Weisen der Welterzeugung]. Die Aussage ist sehr deutlich mit klaren Referenzen versehen: Der Twitter-Account des Präsidenten Trump wurde abgeschaltet. Die Pressefotografie zeigt zwar dagegen sehr deutlich den Präsidenten Trump. Das Bild ist indes nicht nur eine fotografische Reproduktion einer konkreten Situation, die einen bestimmten Zeitpunkt der äußeren Wirklichkeit herausgreift. Es ist darüber hinaus insofern syntaktisch und semantisch dicht, als hier nicht genau zu bestimmen ist [↑ Weisen der Welterzeugung], was zentral wichtig ist. Ist es der fotografische Nachweis, dass Trump zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich an einem bestimmten Ort war? Oder ist seine Handgeste das Entscheidende? Vielleicht der Anstecker, den er trägt oder das Schärfe/ Unschärfe-Verhältnis von Vorder- und Hintergrund? Text und Bild referieren auf Trump nicht nur unterschiedlich, sondern haben differente Bedeutungsspielräume aufgrund ihrer spezifischen Codierungen. GIF Livebilder im TV Grafik auf Magazintitelseite (Presse-)Text (Presse-)Fotografie „Twitter has suspended President Trump from its platform […].“ Abb. 4.29a-e: Trump - nicht medienindifferent Das zweite Bild ist ein Screenshot aus einer Fernseh-Liveberichterstattung des Senders CNN (vgl. Abb. 4.29c). Wir sehen zwei Live-Bilder im CNN-typischen Split-Screen-Ver‐ fahren, umgeben von Texten, etwa einer Einblendung, die als „Breaking News“ dekla‐ riert wird. Der Code ist somit zum einen aufgrund des televisuellen Bildvehikels bestimmt durch die Möglichkeit, zwei Orte gleichzeitig live ins lose gekoppelte Bewegtbild zu setzen [↑ Bildinstanzen]. Zum anderen werden die Bilder mit Schrift flankiert, die erstens eine Verankerungsfunktion im Sinne Barthes erfüllen. Es soll klar bestimmt werden, dass das eine Bild Trump zeigt, das andere die Sitzung des Senats. Zweitens erfüllen bestimmte Textelemente eine Relaisfunktion: Es wird markiert, dass es sich hier um die visuelle Darstellung wichtiger Ereignisse handelt. Denn 186 4 Politische Medienikonografie <?page no="187"?> 237 Vgl. zu dieser Ästhetik: John T. Caldwell, Televisualität [1995] in: Ralf Adelmann u. a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, Konstanz 2002, S.-165-202, hier: S.-166f. das eigentliche Programm wurde unterbrochen für die „Breaking News“. Damit wird aus vergleichsweise unspektakulären Bildern eine spektakuläre Geschichte. Dies alles wird durch den Code der Fernsehbilder möglich gemacht (Live-Bilder, Split-Screen, Text-Bild-Collagen). Diese Möglichkeiten des Fernsehcodes werden indes nicht für jede Übertragung, nicht für jede Sendung, ja nicht einmal auf jedem Sender genutzt. Diese Form ist sehr spezifisch für Nachrichtensender ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, eingeführt und etabliert durch den Sender CNN. 237 Demensprechend geht es bei diesem Fernsehcode nicht einfach nur um die Möglichkeiten des Codes, sondern eben auch um die Konventionen, die sich im Laufe der Zeit tatsächlich etablieren und wandeln. Bei meinem dritten Beispiel handelt es sich um ein Titelbild des Politikmagazins Der Spiegel (vgl. Abb. 4.29d). Hier steht eine Zeichnung im Zentrum. Sie zeigt die Erde und darüber einen großen, stark abstrahierten Männerkopf, den eine blonde Haarpacht dominiert. Ein Merkmal das immer wieder zur (karikaturhaften) Bezeichnung von Donald Trump dient - und dementsprechend definit auf ihn referiert [↑ Bildinstanzen]. Trumps Mund scheint im Begriff die Erde zu verschlingen. Darunter ist zu lesen: „Das Ende der Welt“. Ein apokalyptisches Szenario wird damit unterstrichen (wenngleich mit der Klammer „wie wir sie kannten“ etwas relativiert). Wichtig ist hieran, dass das Bild gar keine direkte Abbildung der äußeren Wirklichkeit sein will, im Gegensatz zu den geschilderten CNN-Bildern oder der Pressefotografie. Wir haben es hier vielmehr mit einer allegorischen Darstellung des Zustands der politischen Welt zu tun, also mit einer visuellen Deutung der Welt mit abstrahierten grafischen Mitteln, die wie in einer Karikatur bestimmte Merkmale von Objekten und Personen hervorheben. Zudem ist dieses Bild im Sinne Goodmans syntaktisch und semantisch dicht, aber durch die Limitierung auf sehr wenige Elemente und Abstraktion sicherlich in einem weniger starken Sinne als die weiter vorne besprochene (Presse-)Fotografie und sehr viel näher an Piktogrammen - und also ähnlich einer sprachlichen Codierung. Auch hier gilt - wie im Fall der CNN-Fernsehbilder: Es sind bestimmte mediale Formen, die sich auf der Titelseite des Spiegels etabliert haben, ganz andere - etwa fotografische Abbildungen - wären ebenso möglich. Die grafische-abstrahierende Darstellung ist also nicht per se der Titelseiten-Code politischer Wochenmagazine, sondern eben ‚nur‘ eine konventionalisierte Codierung in einem bestimmten Kontext. Das letzte Beispiel ist ein GIF, das den ehemaligen Präsidenten Trump während einer Ansprache zeigt (vgl. Abb. 4.29e). Dort macht sich Trump über einen kör‐ perbehinderten Journalisten lustig, indem er in nachahmt. Genau die Szene dieser Nachahmung wird im GIF wieder und wieder wiederholt. Das Bildmaterial wurde dabei so bearbeitet, dass ein Blitz während der Nachahmung Trumps herabfährt und Teile von Trumps Gerippe zum Vorschein bringt. Hier geht es erstens darum, die entscheidende Szene von Trumps Auftritt in eine Endlosschleife zu bannen. Zweitens wird diese Szene durch Bearbeitung als entscheidende Szene in einer Weise markiert, 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 187 <?page no="188"?> 238 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher: Weigel, Grammatologie der Bilder, S.-141ff. die sie als einen herausgehobenen, vielleicht sogar fruchtbaren Moment im Sinne Lessings [↑ Kap. 3 Fruchtbarer Augenblick] markiert, wird doch hiermit eine Zäsur gesetzt, nämlich die Überschreitung einer moralischen Grenze politscher Artikulation in der Öffentlichkeit und damit auf ein Vorher und Nachher verwiesen. Drittens wird auf die populärkulturelle Darstellung des Imperators aus Star Wars referiert - und damit der mächtigste Antagonist der dunklen Seite der Macht mit Trump parallelisiert [↓ Hyper- und Heterokonnektivität]. Die Codierung funktioniert hier also nicht nur durch den Endlosloop einer kurzen Szene. Es ist zudem ein entscheidender Augenblick herausgegriffen, der Trump charakterisieren soll, was wiederum durch die Parallelisierung mit dem Imperator aus Star Wars deutlich Kontur gewinnt. Auch hier gilt: Nicht jedes GIF funktioniert so, aber zumindest ist dies Form des GIF häufig zu finden und insofern eine konventionalisiert mediale Form des GIF. All die genannten Beispiele sollen letztlich vor allem eines zeigen: Bilder sind nicht gleich Bilder und zu den möglichen allgemeinen Codierungen unterschiedlicher Bildtypen muss der jeweilige Kontext und die dabei sich etablierenden und variablen Konventionalsierungen mitbedacht werden. Eine universelle Typologie von Bildfor‐ men zur Grundlegung ikonografischer Analysen geht also an wichtigen Aspekten der Bildgebung vorbei. VII. Zeichentypen Was sich aber im Gegensatz zur haarkleinen Ausbuchstabierung aller erdenklicher Bildtypen durchaus sinnvoll und zielführend ausdifferenzieren lässt, sind Zeichenty‐ pen. Mit Charles Sanders Peirce sind drei Zeichentypen unterscheidbar. 238 Diese bilden zu dem, was sie bezeichnen, ihrem sogenannten Referenten, spezifische Verhältnisse aus. Das ikonische Zeichen basiert auf Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten. So stimmt beispielsweise eine Karikatur über Donald Trump mit dem realen Trump in bestimmten Merkmalen überein und ist deshalb diesem ähnlich (vgl. Abb. 4.30b). 188 4 Politische Medienikonografie <?page no="189"?> 239 Genau genommen müsste man mit Peirce noch zwischen genuinen und degenerierten indexikali‐ schen Zeichen differenzieren. Die beiden letztgenannten wären dann degenerierte Indexe, die erstgenannten genuine. Doch erscheint mir das Verfolgen dieser Verzweigungen hinein in die Untiefen der Zeichentheorie Peirces für mein Vorhaben wenig zielführend. Vgl. dazu indes: Uwe Wirth, Zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität: Eine Peircesche Perspektive auf Derridas und Freuds Spurenbegriff, in: Sybille Krämer u. a. (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S.-55-81. Ikon I Ähnlichkeit (selektiv) Index I Anzeichen (unwillkürlich) Index I Anzeichen (kausal) Symbol I Konvention Index I Anzeichen (unwillkürlich) Index I Anzeichen (kausal) Index I Anzeichen (willkürlich) Abb. 4.30a-e: Zeichentypen mit Trump Das indexikalische Zeichen bildet eine physische Verbindung mit dem Referenten aus. Dieser Zeichentypus ist wahrscheinlich der komplexteste und vielseitigste der drei Zeichentypen. Der Puls ist ein natürliches Anzeichen dafür, das ein Organismus lebt. Die Anzeige „40,8 °C“ auf einem Thermometer ist ein kausales Anzeichen dafür, dass ich erhöhte Temperatur habe. Erhöhte Temperatur ist ein unwillkürliches Anzeichen für Fieber, nämlich ein Symptom dafür. Die Geste des Handbebens wiederum ist ein willkürliches Anzeichen für eine Meldung in einem Klassenzimmer. Ein Straßenschild ist im Gegensatz dazu ein hergestelltes Anzeichen dafür, dass hier eine Einbahnstraße vorliegt. 239 Um zumindest einige wenige Beispiele anzuführen, die etwas näher an den Codes politischer Medienikonografie situiert sind: Eine Fotografie ist ein indexikalisches Zeichen insofern, als es eine direkte Verbindung zum Aufgezeichneten bereithält - und zwar sogar in einer zweifachen Weise. Bei einer analogen Fotografie handelt es sich zum einen um ein natürliches Anzeichen, ist doch der aufgenommene vergangene Zeitpunkt materiell immer noch in der fotografischen Lichtspur präsent. Zum anderen ist das Verhältnis zu diesem Zeitpunkt kausal verbunden. Trump wurde beispielsweise fotografiert, während er eine US-amerikanische Flagge küsste (vgl. Abb. 4.30c.). In dieser Fotografie ist die Lichtspur dieses Ereignisses aufbewahrt. Die Fotografie hat eine kausale Verbindung zum Ereignis, das auf ihr abgebildet wird. Der Bildtypus Diagramm lässt sich demgegenüber als willkürliches Anzeichen verstehen. Basieren doch die selektiven Verbindungen zwischen Referenten und Zeichen in diesem Fall 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 189 <?page no="190"?> auf arbiträren Konventionen, also auf willkürlich etablierten, kulturell relativen Ver‐ knüpfungen von Bildinhalt und Referent. Diagrammatische Verknüpfungen basieren zwar auf willkürlichen Operationen, haben aber eine funktionale Ausrichtung, näm‐ lich entweder bestimmte Relationen des Referenten strukturell abzubilden (etwa ein U-Bahn-Fahrplan) oder aber ein Anzeichen dafür zu sein, welche Regeln in der Welt vorliegen (etwa Straßenschilder). Um den Index wieder am Beispiel Trump zu erläutern: Eine bestimmte Form blonder Haarpracht ist ein Anzeichen für Trump als natürliches und unwillkürliches Zeichen, wenn wir es mit einem Teil von Trumps echtem Haar zu tun haben (vgl. Abb. 4.30d) oder aber als willkürliches Anzeichen, wenn eine Zeichnung von Trumps Haarpracht als Teil für das Ganze (eben Trump) stehen soll (vgl. Abb. 4.30e). Der symbolische Zeichentypus basiert auf Konventionen, die erlernt werden müssen. Ein symbolisches Zeichensystem ist deshalb arbiträr. Damit ist gemeint, dass das Ver‐ hältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem willkürlich ist und auf Konventionen beruht. Die Wortfolge T R U M P T O W E R hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem realen Gebäude, auch ist die Buchstabenfolge kein kausaler Effekt oder eine Funktion, kein pars pro toto des real existierenden Gebäudes. Die Relationierung von T R U M P T O W E R und dem Gebäude wird erst durch Sprachregeln hergestellt, die erlernt werden müssen - und somit wandelbar wie kontextabhängig sind (vgl. Abb. 4.30a). Zeichentypen: Ikon, Index, Symbol Ikon Ein ikonisches Zeichen bezieht sich auf einen Referenten im Modus der Ähnlich‐ keit. Das materielle Zeichen und das Bezeichnete weisen partielle Merkmalsüber‐ einstimmungen auf. Index Ein indexikalisches Zeichen bezieht sich auf einen Referenten im Modus des Anzeichens. Das materielle Zeichen und das Bezeichnete sind dabei wahlweise natürlich, kausal, unwillkürlich, willkürlich oder funktional verbunden. Symbol Ein symbolisches Zeichen bezieht sich auf einen Referenten im Modus der Kon‐ vention. Das materielle Zeichen und das Bezeichnete sind dabei arbiträr, also willkürlich verbunden. Diese scheinbar so wohlgeordnete Trinität der Zeichentypen ist genau besehen kom‐ plizierter - das macht sie aber auch so interessant für die Analyse konkreter Bilder. Zwar lassen sich die drei benannten Zeichentypen vergleichsweise klar voneinander unterscheiden, aber erstens sind diese Zuweisungen immer auch Produkt einer be‐ stimmten Interpretation, also keine stabilen Eigenschaften von Objekten. Zweitens - und entscheidend - stellt jedes artikulierte Zeichengebilde, also auch jegliches Bild, 190 4 Politische Medienikonografie <?page no="191"?> immer ein Hybrid aus allen drei Zeichentypen dar, wenngleich in unterschiedlichen Gewichtungen. So kann, wie oben dargelegt, die Fotografie mit guten Gründen als inde‐ xikalisches Zeichensystem verstanden werden. Aber ebenso kommt der Fotografie ein ikonisches Verhältnis zum Abgebildeten zu. Was könnte dem realen Trump ähnlicher sein als eine gute Fotografie desselben? Zudem wird jede Fotografie spätestens beim Rezeptionsakt symbolisch aufgeladen - etwa aufgrund einer spezifischen Handlung des Abgebildeten. Wenn Trump eine amerikanische Fahne küsst, dann ist das ein deutliches Symbol für Vaterlandsliebe. Diese Bedeutungszuweisung ist trotz ihrer klaren Lesbarkeit hochgradig arbiträr (vor dem 19. Jahrhundert war diese Flagge schlicht unbekannt, Umarmen und Küssen waren und sind nicht immer und überall als Liebesbekundungen codiert etc.). Die indexikalische Funktion der Haarpracht Trumps hat notwendigerweise auch ikonischen Charakter, um sie als Trumps Haarpracht überhaupt identifizieren zu können. Die übertriebene Form der Haarpracht selbst lässt sich wiederum symbolisch deuten, etwa als Zeichen von Exzentrik. Die Wortreihe ‚Trump Tower‘ ist nicht nur symbolisch, sondern steht ebenso - angebracht am Gebäude - indexikalisch als pars pro toto für das gesamte Gebäude, das diesen Namen trägt, usw. Um zur Verdeutlichung noch ein Beispiel jenseits von Trump zu wählen: Die Fotografie von Willi Brandts Kniefall vor dem Mahnmal nationalsozialistischer Opfer ist zuvorderst insofern indexikalisch, als es sich hier um eine (Licht-)Spur handelt, die kausal vom Referenten eines bestimmten Ereignisses an einem Ort herrührt und dieses über die Zeit hinweg festhält (vgl. Abb. 4.31). Ikonisch ist diese Fotografie wiederum, weil die Abgebildeten ähnlich sind zu den tatsächlichen Personen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zusammenkamen. Symbolisch ist die Fotografie, weil die Geste des Kniens als Demutsgeste ein arbiträres Zeichen ist; auf die Knie könnte man ja auch aus ganz anderen Gründen gehen. Inkonizität Ähnlichkeit mit dem, was abgebildet wird Indexikalität Bild als (Licht-)Spur des Abgebildeten Symbolizität (Bild vom) Kniefall als Zeichen der Demut Abb. 4.31: Brandts Kniefall-Bild und seine semiotische Dreifaltigkeit Diese Vermischungen und Relativierungen bedeuteten aber mitnichten eine vollstän‐ dige Auflösung der Unterschiede zwischen den genannten Zeichentypen. Die ange‐ 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 191 <?page no="192"?> 240 Vgl.: Roland Barthes, Die Fotografie als Botschaft [1961], in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S.-11-27. 241 Vgl. dazu bereits, z.T. wortidentisch: Grampp, Medienwissenschaft, S.-153ff. führten Hybridisierungen und Einschränkungen bedeuten lediglich, dass man sich den jeweiligen Kontext, die jeweilige Funktionalisierung und Interpretation der Zeichen genauer anschauen sollte. Noch wichtiger in vorliegendem Zusammenhang gilt: Gerade diese Hybridität kann strategisch funktionalisiert werden, was sich wiederum besonders gut an fotografischen Darstellungen veranschaulichen lässt. VIII. Bilder ‚ohne Code‘ Roland Barthes veröffentlichte 1961 einen Text mit dem Titel Die Fotografie als Botschaft. 240 Barthes untersucht darin einen speziellen Typus von Bildern, nämlich Werbefotografien. Zunächst prüft er, was an einer Fotografie - etwa im Gegensatz zu einem Text oder einer Zeichnung - als Zeichentypus besonders sein könnte, um danach zu klären, warum die Fotografie in der Werbung eine so große Rolle spielt. 241 Dabei rekurriert der französische Kulturtheoretiker auf eine in der Semiotik wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen Denotation und Konnotation. Denotation/ Konnotation Denotation Grundbedeutung eines Zeichens bzw. Vorgang der Bezeichnung eines Gegenstan‐ des der außersprachlichen Wirklichkeit. Konnotation Zusatzbzw. Nebenbedeutungen eines Zeichens bzw. Vorgang einer kulturbeding‐ ten Bedeutungszuweisung und Sinngebung. Das Wort „Trump“ bezeichnet bei‐ spielsweise (unter anderem) die Person Donald Trump. Die Zeichenfolge „T r u m p“ denotiert somit einen Gegenstand in der außersprachlichen Wirklichkeit, eben die Person Donald Trump. Die Konnotation des Wortes „Trump“ ist demgegenüber alle Nebenbzw. Zusatzbedeutung(en) des Zeichens, die diesem aus unterschiedlichen Perspektiven und Kontexten gegeben wurden und werden. Das Wort konnotiert etwa: ‚Niedergang des politischen Systems‘, ‚Realityshow-Präsident‘, ‚Rassist‘ oder auch ‚der, der den Sumpf in Washington austrocknen wollte‘ [↑ Kap. 3, Diachrone Bezugnahmen] usw. Die konnotative Ebene hat es also mit weitreichenden, sehr unterschiedlichen Assoziationen, Affizierungen und extrem variablen Bedeutun‐ gen und Sinnstiftungen zu tun, die abhängig vom jeweiligen kulturellen Kontext sind. 192 4 Politische Medienikonografie <?page no="193"?> 242 Barthes selbst drückt die Besonderheit der Fotografie sehr klar aus. Er schreibt: „Was übermittelt die Fotografie? Definitionsgemäß die Begebenheit als solche, das buchstäblich Wirkliche […]. [E]s ist keineswegs notwendig, zwischen diesem Objekt und dem Bild von ihm […] einen Code anzubringen; gewiß ist das Bild nicht das Wirkliche: Aber es ist zumindest das perfekte Analogon davon.“ (Barthes, Fotografie, S.-12f.) Dass politische Strategien allgemein und im Besonderen politische Bildgebungen gerade an Justierung und Ausrichtung der Konnotationen interessiert sind, dürfte wenig verwunderlich sein. Gleichzeitig gilt, dass gerade die Konnotationen, die im Re‐ zeptionsakt tatsächlich virulent werden, vergleichsweise schlecht zu kontrollieren sind und schnell eine politisch relevante Eigendynamik entwickeln können [↓ Punctum, ↓ Infrastruktur; ↑ Kap. 3, Globale Bildkultur 2]. Eine reine Denotation wurde in der Welt noch nicht gesichtet Keine Denotation, keine Konnotation ohne Zeichencode - zumindest gilt dies für ein symbolisches Zeichensystem wie die Sprache. Das Wort „Trump“ denotiert nur in einem bestimmen regelgeleiteten Zeichensystem die Person Donald Trump. Bevor Do‐ nald Trump überhaupt geboren wurde, war ‚Trump‘ im englischsprachlichen Kontext reserviert für die Bezeichnung eines Trumpfes im Kartenspiel und dementsprechender metaphorischer Übertragungen auf andere Situationen (‚seinen größten Trumpf aus‐ spielen‘, ‚Herz ist Trumpf ‘ etc.). Das heißt wieder allgemeiner gewendet: Es gibt weder Denotation noch Konnotation ohne einen Code, der die Bedeutungszuweisungen regelt und der von den jeweiligen Konventionen und Traditionen der Kommunizierenden abhängt. Sprache hat bei der Bezeichnung der Dinge der Welt zwangsläufig eine gewisse Distanz zu dieser Welt. Die Bezeichnung funktioniert nicht unmittelbar, sondern immer nur vermittelt durch den je (kultur-)spezifischen und innerhalb eines wandelbaren, arbiträren symbolischen Zeichencodes. Mediensemiotik Genau an dieser Stelle der Argumentation zeigt sich Barthes im Text Die Fotografie als Botschaft als Mediensemiotiker. Der Clou der Fotografie soll sein: Sie scheint ein Zeichensystem zu sein, das - im Gegensatz zur symbolischen Sprache - ohne Code funktioniert und dennoch denotieren kann. Denn die Fotografie zeigt etwas, das vormals in der Welt tatsächlich gewesen ist - und zwar ohne den Umweg des symbolischen Zeichensystems der Sprache nehmen zu müssen. Sie scheint in der Lage zu sein, ein direktes, unmittelbares Bild eines vergangenen Zustandes der sinnlichen Welt zu liefern. 242 Die Fotografie bezeichnet so gesehen einen Gegenstand neutral, so wie er tatsächlich aussah zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Fotografie ist die indexikalische (Licht-)Spur beispielsweise der Person Trump, da diese Person zu einem 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 193 <?page no="194"?> 243 Ebd., S.-12. 244 Ebd., S.-14. bestimmten Zeitpunkt im Bild festgehalten wurde und so mit der Fotografie kausal verbunden ist. Zusätzlich ist die Fotografie ein, wie Barthes formuliert, „perfektes Ikon“ 243 , weil es die größtmögliche visuelle Ähnlichkeit aufweist mit Trump, wie er zu einem be‐ stimmten Zeitpunkt einmal existiert hat. Dies geschieht vermeintlich alles ohne Code. Keine Bedeutung, keine Sinnzuschreibung regelt das Denotat der Fotografie. Mögen danach auch Deutungen und Konnotationen erfolgen, die Fotografie ist unabhängig von solchen Deutungen existent und in der Welt jenseits der Zeichen verankert. Das unterscheidet die Fotografie scheinbar fundamental von der Sprache oder auch von Zeichenpraktiken der Malerei oder dem Theater. Dort sind die Darstellungen zwangsläufig immer schon überformt von kulturellen Codierungen. Aber - und hier erfolgt nun eine ideologiekritische Wendung - es ist, wie Barthes schreibt, indes nur ein „Gefühl“ 244 der reinen Denotation, das die Fotografie vermittelt. Dieses Gefühl wird zwar durch die spezifischen indexikalischen und ikonischen Eigenschaften der Fotografie nahegelegt - ist aber letztlich doch selbst eine kulturbedingte Zuschreibung an die Fotografie. Auch die Fotografie entkommt dem Code nicht. Jede Fotografie weist einen bestimmten (zumeist wohlkalkulierten) Ausschnitt aus der Welt auf. Ganz zu schweigen von Posen, die in der Fotografie in Szene gesetzt werden oder von manipulativen Eingriffen ins Bildmaterial, etwa bei Fotomontagen. Und selbst dann, wenn eine Fotografie tatsächlich ohne Pose, ohne Ausschnittwahl und zufällig gemacht wurde, wird das wiederum nur lesbar durch Bedeutungszuweisungen, also durch Codierungen im Rezeptionsakt. Dennoch - daran hält Barthes fest - erzeugt die Fotografie eben ein ‚Gefühl reiner Denotation‘. Die Fotografie kann somit aufgrund bestimmter Zeicheneigenschaften dazu verwendet werden, einen Authentizitätseffekt herzustellen, der ungleich überzeu‐ gender ist, als es etwa durch sprachliche Vermittlung möglich ist. Insofern ist die Fotografie auch der ideale, weil glaubwürdige Dokumentations- und Werbeträger, kann doch so - ausgehend von der Suggestion reiner Denotation - vergleichsweise unbemerkt, die konnotative Seite strategisch besetzt werden: durch bestimmte Posen, Ausschnitte oder Interpretationssteuerungen mittels sprachlicher Zusätze, um so die Rezipient: innen von der Authentizität vermeintlicher Sachverhalte zu überzeugen. Die Konnotationen werden damit quasi als natürliche Eigenschaften der dargestellten Ob‐ jekte kommunizierbar. Denn mit der Fotografie kann so getan werden, als würde man ‚nur‘ Realität abbilden, während die Codierungen und Interpretationen stillschweigend in die Fotografie eingelassen werden können. Oder umgekehrt formuliert: Die Fotogra‐ fie ist, Barthes folgend, das ideale Zeichensystem zur Naturalisierung des Kulturellen, 194 4 Politische Medienikonografie <?page no="195"?> 245 Zu Begriff und Geschichte der Propaganda vgl. knapp: Jonas Staal, Propaganda in the 21st Century, Cambridge/ London 2019, v.a.: S. 17ff.; ausführlicher: Alexandra Bleyer, Propaganda als Machtinstru‐ ment. Fakten, Fakes und Strategien, Norderstedt 2 2018. insofern ein ideales Werbemittel - auch und gerade für politische Öffentlichkeitsarbeit bzw. Propagandazwecke. 245 Auch hierfür scheint mir Brandts Kniefall exemplarisch (vgl. noch mal Abb. 4.30) [↑ Kap. 3, Über Gesichter, Hände und Knie]. Die Fotografie zeigt etwas, das tatsächlich geschah und in der fotografischen Spur der technischen Reproduktion dokumentiert ist. Insofern suggeriert die Fotografie eine Darstellung ohne Code. Die vermeintliche Spontanität der Geste - sicherlich im vollen Bewusstsein des Hauptakteurs für die symbolische Wirkung und ihre Verbreitung, was wiederum die ihn umgebenen Medienvertreter eindrücklich im Bild selbst veranschaulichen - ist nicht nur denotativ zu deuten, ein Mann kniet nieder vor einem Mahnmal, sondern hochgradig konnotativ ausgerichtet. Mit dieser Geste wird von einem deutschen Regierungschef Schuld der deutschen Nation gegenüber der polnischen Nation eingestanden hinsichtlich der Verbrechen der Nationalsozialisten. Brandts Knien ist nicht nur eine Geste der Demut, der Bitte um Vergebung einer Einzelperson, sondern ein Appell sowohl an die polnische als auch an die deutsche Bevölkerung dies als Aussöhnungsgeste zweier Nationen aufgrund einer geteilten, hochgradig problematischen Vergangenheit zu verstehen. Direkter noch handelt es sich um einen Appell an die Rezipient: innen angesichts des Bildes ebenfalls die Haltung Brandts einzunehmen. Unabhängig davon, wie diese Geste tatsächlich rezipiert wurde - und sie war in der Presse ganz und gar nicht unumstritten [↑ Kap. 3, Über Gesichter, Hände und Knie] -, so korrespondiert hier die vermeintlich spontane (nicht im Protokoll des Staatsbesuchs vorgesehene) Geste mit der Suggestion der Fotografie, nur das darzu‐ stellen, was geschehen ist - ein Schnappschuss, ohne weitere Konnotationen. Genau durch diese Kopplung können die ideologischen Absichten in vermeintlich spontane Gesten und deren fotografischer Dokumentation ‚eingespeist‘ und ‚versteckt‘ werden. So verstanden sind fotografische Bilder in der Tat hochgradig geeignet politische und ideologische Absichten als quasi natürlich zu vermitteln oder doch zumindest die Glaubwürdigkeit des Abgebildeten immens zu steigern - insbesondere im Vergleich etwa zu einer Rede über Vergebung und Demut oder einem Text dazu. Das, was Barthes für das fotografische Bild veranschlagt, kann ohne größere Probleme auf filmische Bewegtbilder, Videos oder Fernsehbilder übertragen werden, insofern diese eine indexikalische Lichtspur des Geschehenen aufbewahren. Barthes, Authentizität und Glaubwürdigkeit digitaler Bilder Was Barthes mit Bezug auf die Fotografie formulierte und was auf ähnliche Aufzeichnungsmedien wie Video oder Film ausgedehnt werden kann, mag für ein analoges Zeitalter noch gegolten haben, ist aber spätestens mit der Etablierung 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 195 <?page no="196"?> 246 Vgl.: Claus Pias, Das digitale Bild gibt es nicht. Über das (Nicht-)Wissen der Bilder und die informatische Illusion, in: zeitenblicke, 2 (2003), Online zugänglich unter: https: / / doi.org/ 10.25969/ mediarep/ 4082 [19.12.22]. 247 Pias schreibt diesbezüglich sehr deutlich: „Es gibt also etwas, das Daten ergibt (informationsgebende Verfahren), und es gibt etwas, das Bilder ergibt (bildgebende Verfahren), aber diese Dinge sind vollständig entkoppelt und gänzlich heterogen. Oder anders gesagt: Wir haben es zwar dauernd mit ästhetischen (also: wahrnehmbaren) Ereignissen zu tun, aber ein Bit Information hat trotzdem noch niemand in freier Wildbahn gesehen. Man sollte sich auch nicht von der Darstellung der Datensätze als Zahlenkolonnen täuschen lassen: Alphanumerische Zeichen sind um keinen Deut näher an einer vermeintlichen ‚Wahrheit‘ der Daten als bunte Pixel.“ (Ebd.) digitaler Fotografie und der Zirkulation digitaler Bilder obsolet. So ließe sich zu‐ mindest argumentieren. Grundlage dieser Behauptung ist zuvorderst die Differenz der Codierung: Mag bei der analogen Fotografie eine indexikalisches Verhältnis von Referenten und Aufnahme garantiert, also etwas tatsächlich Geschehenes in einer Lichtspur aufbewahrt sein, so ist durch eine digitale Codierung, die strikt quantitativ-nummerisch durch diskrete Signale im binären Code Daten verarbeitet, speichert und überträgt, ein symbolisches Codierungssystem Grund‐ voraussetzung. Damit ist die Verbindung zum Referenten eben nicht mehr durch physische Verbindung garantiert, sondern ein Bild ‚berechnet‘ - und in diesem Sinne referenzlos. Zudem gilt: Diese ‚berechneten‘ Daten sind beliebig bearbeitbar. Das wiederum hieße: Der fotografische ‚Authentizitätseffekt‘ muss obsolet sein, dementsprechend auch dessen politisch-strategischer Einsatz. Gegen diese wohl naheliegende Einschätzung vor dem Hintergrund eines funda‐ mentalen medientechnologischen Wandels ließe sich viel einwenden. Einige dieser Argumente seien zumindest kurz angeführt: 1. Zunächst einmal gilt es ganz prinzipiell zwischen medientechnologischer Da‐ tencodierung und medialer Wahrnehmung zu unterscheiden. Der Medienwissen‐ schaftler Claus Pias formuliert prägnant in diesem Kontext bereits im Titel einer seiner Aufsätze: „Das digitale Bild gibt es nicht.“ 246 Damit meint Pias genau diesen Unterschied. Wir nehmen digitale Fotografien niemals als digital codiert war - das ist wahrnehmungsphysiologisch gar nicht möglich -, sondern immer schon umgewandelt in analoge. 247 Insofern gibt es eigentlich keine digitalen Fotografien, sondern nur digital gespeicherte Daten, die unter anderem in (analoge) Bilder umgewandelt werden können. Auf der Wahrnehmungsebene gibt es also über‐ haupt keinen Unterschied, ob eine Fotografie nun analog oder digital gespeichert ist. So verstanden trifft das, was Goodman für Bilder formuliert [↑ Weisen der Welterzeugung], nämlich dass sie analog, syntaktisch und semantisch dicht und so bedeutungsoffen sind, im Gegensatz zu diskreten, finiten Codierungen, wie etwa alphabetische oder das nummerische Codesystem digitale operierender Computer, auch auf ‚digitale‘ Bilder zu. 196 4 Politische Medienikonografie <?page no="197"?> 248 Jens Schröter schreibt diesbezüglich pointiert: „Streng genommen ist jedes digitalisierte Bild eine Art ‚Fotografie‘, insofern das von der Vorlage (und sei sie ein Gemälde) reflektierte Licht abgetastet und dann in digitalen Code umgewandelt wird.“ ( Jens Schröter, Das Ende der Welt. Analoge vs. digitale Bilder - mehr oder weniger ‚Realität‘? , in: Analog/ Digital - Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, 335-354, hier: S.-347) 249 Vgl. dazu historisch gewendet: Richard Gartner, Metadata. Shaping Knowledge from Antiquity to the Semantic Web, Cham 2016. 250 Vgl. für ein historisches Beispiel: David King, Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion, Hamburg 1997. Für einen schnellen, ersten Überblick über Mechanismen und Techniken der Bildmanipulation vgl.: Christian Schicha, Bildethik. Grundlagen, Anwendungen, Bewertungen, Tübingen 2021, S.-153ff. 2. Reduziert man Indexikalität auf einfache materielle bzw. natürliche Verhältnisse zum Referenten, bspw. die Lichtspur in einer analogen Fotografie, so wie es bei Barthes selbst geschieht, dann scheint der Fall klar zu sein. Die digitale Fotografie ist nicht indexikalisch. Dem liegt aber erstens ein technisches Missverständnis zu Grunde, zweitens eine problematische Verengung der Begriffsbestimmung von Indexikalität. Zunächst zum technischen Missverständnis: Digitalisierte Daten basieren - wenn man von mathematisch berechneten Computersimulationen absieht - auf Abtastungen von Licht, Schall oder anderen Phänomenen, wie etwa magnetischen Kräften, und sind insofern auf ‚die reale Welt‘ bezogen. 248 Zur Verengung des Begriffes der Indexikalität: Legt man Peirces Definition von Indexikalität zu Grunde [↑ Zeichentypen], dann ist auch die digitale Fotografie dem indexikalischen Zeichentypus zuzuordnen. Denn die Daten der digitalen Fotografie sind, wenn auch nicht materiell, so doch kausal auf den Referenten bezogen. 3. Genau besehen gilt das nicht nur für die diskreten Signale der Datenspeicherung und des Datentransfers, sondern mehr noch für die sogenannten Metadaten, 249 die Informationen darüber bereithalten, wo und wann die Daten aufgenommen bzw. verarbeitet wurden. So verstanden ist die auf digitalen Daten basierenden Fotografie sogar die ‚authentischere‘ oder zumindest glaubwürdigere Quelle im Verhältnis zur analogen Fotografie. Denn jenseits der direkten Wahrnehmung, auf Ebene der Metadaten, kann mit der digitalen Fotografie sehr viel schlechter strategisch ‚gelogen‘ werden als bei der analogen. 4. Der Manipulation und dem Manipulationsverdacht war und ist die analoge Fotografie immer schon ausgesetzt. Dafür gibt es genügend Beispiele in der Geschichte der Fotografie, die von solchen mehr oder minder avancierten Tech‐ niken der Manipulation und der Skepis gegenüber der Fotografie zeugen. 250 Der Unterschied von analoger und digitaler Manipulation lässt sich somit allein schon medienhistorisch nicht auf die Differenz zwischen dokumentarischer Darstellung bzw. Suggestion von Authentizität und Auflösung der dokumentarischen Funktion und des Authentizitätseffekts herunterbrechen. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 197 <?page no="198"?> 251 Vgl. bspw.: Martineau, Paris, How an Infowars Video became a White Hous Tweet, in: Wired, 11.09.2019, Online zugänglich unter: https: / / www.wired.com/ story/ infowars-video-white-house-cn n-jim-acosta-tweet/ [15.06.21]. 252 Im Original heißt es „hard pass“, was genauer formuliert ein Presseausweis meint, mit dem man permanenten Zugang zu den Pressekonferenzen im Weißen Haus erhält. 253 Im Original heißt es: „As a result of today’s incident, the White House is suspending the hard pass of the reporter involed furhter notice.“ (Tweet von Sara Sanders @PresSec, 7.11.2018, 16.56 Uhr, Online zugänglich unter: https: / / twitter.com/ PressSec/ status/ 1060335251682222085 [09.06.20].) 254 Im Original heißt es: „President Trump believes in a free press and expects and welcomes tough questions of him and his Administration. We will, however, never tolerate a reporter placing his hands on a young woman just trying to do her job as a White House intern…“ (Tweet von Sara Sanders @PresSec, 7.11.2018, 16.48 Uhr, Online zugänglich unter: https: / / twitter.com/ PressSec/ statu s/ 1060333176252448768 [09.06.20].) Was man vielleicht stattdessen konstatieren könnte, ist die Zunahme kritischer Beobachter: innen oder zumindest die Vermehrung von Akteur: innen, die Bilder, kaum dass sie öffentlich gemacht werden, kritisch lesen und diese kritischen Lektüren wiederum bildreich auf sozialen Medien posten. Politische Strategien der Erzeugung von Authentizitätseffekte durch Bilder sind dabei jedenfalls nicht obsolet. Genau das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Sarah Huckabee Sanders Videobeweis auf Twitter: kritische Lektüren Um zumindest ein Beispiel für den politischen Einsatz und die kritische Lektüre solcher Bilder anzuführen, sei auf ein ‚kleines Medienereignis‘ eingegangen, das Ende 2018 zu einem solchen wurde (und inzwischen wohl längst wieder weitestgehend vergessen sein dürfte). 251 Am 7.11.2018, einem Mittwoch, exakt um 16.56 Uhr Ortszeit wurde per Twitter bekannt gegeben, dass dem CNN-Chefkorrespondenten Jim Acosta die Akkreditierung für die Pressekonferenzen im Weißen Haus entzogen wurde. Sarah Huckabee Sanders, die damalige Pressesprecherin Trumps, veröffentlichte zu diesem Zeitpunkt nämlich folgenden Tweet: „Als Folge des heutigen Vorfalls setzt das Weiße Haus die Presse-Akkreditierung 252 des betroffenen Reporters bis auf weiteres aus.“ 253 Bei dem ‚heutigen Vorfall‘ handelt es sich um eine Handbewegung des CNN-Re‐ porters Jim Acostas, die er ausführte, als ihm eine Praktikantin des Weißen Hauses das Mikrofon aus der Hand nehmen wollte. Darauf Bezug nehmend postete Sanders bereits acht Minuten vor dem zitierten Tweet folgende Nachricht: „Präsident Trump glaubt an eine freie Presse und erwartet und begrüßt, wenn er und seine Regierung hinterfragt wird. Wir werden jedoch niemals dulden, dass ein Reporter sich an einer jungen Frau vergreift, die nur versucht, ihre Arbeit als Praktikantin im Weißen Haus zu erledigen…“ 254 Vorangegangen war eine Pressekonferenz im Weißen Haus, während derer Acosta dem amtierenden US-Präsidenten Donald Trump kritische Fragen stellte zu den laufenden Ermittlungen über den vermuteten Einfluss der russischen Regierung auf 198 4 Politische Medienikonografie <?page no="199"?> den US-amerikanischen Wahlkampf. Es kam dabei zu einem Wortgefecht zwischen dem CNN-Korrespondenten und Trump. Im Zuge dessen soll, wie in Sanders Tweet nachzulesen, Acosta handgreiflich geworden sein gegenüber einer Praktikantin, die ihm das Mikrofon abnehmen wollte. Auf die unmittelbar folgenden Proteste gegen diesen Akkreditierungsentzug twitterte Sanders knapp zweieinhalb Stunden später, dass die Akkreditierung weiterhin ausgesetzt bleibt. Entscheidend ist, dass die Presse‐ sprecherin ihrem Tweet ein vermeintliches Beweisvideo beifügte, das kurz davor durch Paul Joseph Watson von INFOWARS.com in Umlauf gebracht wurde (vgl. Abb. 4.33a). Abb. 4.32a-b: Videografischer ‚Beweis‘ eines vermeintlichen Übergriffs Dieses visuelle Material soll, so zumindest die Suggestion, als indexikalisches Video ‚ohne Code‘ im Sinne Barthes die Realität vermeintlich neutral darstellen [↑ Bilder ‚ohne Code‘]. Solch ein Video soll unhinterfragbare Evidenz auch im digitalen Daten‐ raum eines sozialen Mediums wie Twitter erzeugen - obwohl es sich dabei um ein Bild handelt, das aufgrund digitaler Verarbeitung und Speicherung Daten visualisiert. Die Funktionalisierung dokumentarischer Bilder ist zumindest in diesem Fall eines ‚digitalen‘ Bildes also genau dieselbe wie bei analogen Bildern, auch wenn darauf nicht mehr unmittelbar die Lichtspur des vergangenen Geschehens materiell eingeschrieben ist. Von Auflösung des strategischen Einsatzes fotografischer bzw. videografischer Bilder zur Erzeugung eines Authentizitätseindrucks im Zeitalter digitaler Medien findet sich hier kein Anzeichen. Was sich vielleicht dennoch verändert hat, ist die kritische Rezeption solcher Tweets. Nicht, dass es nicht schon Investigation und Aufdeckung von fotografischen oder filmischen Bilderfälschungen historisch lange vor deren digitalen Speicherung und Verarbeitung gegeben hätte, dennoch ist die Akribie, Schnelligkeit und Viralität des kritischen Durchleuchtens solcher Bilder - auch und gerade gekoppelt mit politischem Impetus - erstaunlich und sicherlich nicht zuletzt auf die digitale Infrastruktur der Vernetzung zurückzuführen [↓ Infrastruktur]. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 199 <?page no="200"?> Dementsprechend schnell wurde Kritik an der Glaubwürdigkeit des Videos laut, auf vielen Plattformen gepostet und auch schnell an Sanders zurück getwittert. Zwar waren die Metadaten in diesem Fall nicht zugänglich. Dennoch wurde nahezu instantan die Glaubwürdigkeit des Videos angezweifelt und vorsätzliche Manipulationsabsicht unterstellt. Hingewiesen wurde dabei erstens darauf, dass bei diesem Video der Ton weggeblendet ist. Damit ist Acostas Entschuldigung, die er seiner harschen Verteidigung des Mikrophones folgen ließ, wie andere Videoaufnahmen desselben Ereignisses aufzeichneten, nicht zu hören. Zweitens ist an entscheidender Stelle in das Ausgangsmaterial durch einen Zoom auf die Hände des Journalisten und der Praktikantin eingegriffen worden, womit der Kontext nicht nur weitestgehend ausgeblendet ist, sondern dieses ‚Händespiel‘ eine dramatische Verdichtung erfährt (vgl. Abb. 4.32b). Drittens wurde der Ablauf der Bilder offenbar im entscheidenden Moment beschleunigt, was die Aktion des Journalisten wesentlich brutaler erscheinen lässt als andere Fassungen, die im Zuge dieser Veröffentlichungen zum Vergleich auf unterschiedlichen digitalen Plattformen zu Rate gezogen und ausgiebig diskutiert wurden (vgl. bspw. Abb. 4.33a-b). Abb. 4.33a-b: Videografische ‚Gegen-Beweise‘ eines vermeintlichen Übergriffs Dabei kommen meist Bilder zum Einsatz, die selbst visuelle Evidenz erzeugen wollen. In diesen Fällen sind es diagrammatische Anordnungen, bei denen ein Bildervergleich im Zentrum steht. In gewisser Weise handelt es sich dabei um Metabilder zu Sand‐ ersʼ/ Watsonsʼ Videosequenz. Entscheidend ist: Auch hier soll ein Authentizitätseffekt erzielt werden, aber eben durch einen anderen Bildtypus und eine andere Form von Indexikalität. An diesem Beispiel sollte deutlich gemacht werden, dass es auch im digitalen Zeitalter wie selbstverständlich um Fragen nach ‚wahrer‘ visueller Darstellung geht - und davon ausgegangen wird, dass es möglich ist, an so etwas heranzukommen, zumindest ex negativo, durch Aufdeckung von Unstimmigkeiten und Manipulation. Bei der Investigation wird einerseits den vermeintlichen Manipulator: innen ein politisches Ziel unterstellt, anderseits liegt der Investigation selbst eine politische Agenda oder doch zumindest eine politische Überzeugung zu Grunde, die meist textuell auch klar 200 4 Politische Medienikonografie <?page no="201"?> 255 Vgl. dazu: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatapparate [1970], in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 108-153, v.a.: S.-142ff. formuliert wird, nämlich Ablehnung der und Widerstand gegen die US-amerikanische Regierungspolitik im Umfeld von Trump. Eine andere Frage ist indes, wie sich die veränderte mediale Infrastruktur auf Wissensmöglichkeiten, Wahrheit, skeptische Einschätzungen zum Gezeigten, kurz generell, auf die epistemischen Grundlagen zur Beurteilung des Status von Bildern, der Zuschreibung oder Aberkennung von Evidenz auswirkt. Dieser großen und schwierigen Frage soll hier nicht näher nachgegangen werden. Wichtiger scheint mir festzuhalten, dass eine kategoriale Trennung zwischen analoger und digitaler Fotografie hinsichtlich ihrer Einschätzung und Funktionalisierung unplausibel ist. IX. Interpellation: Bilder, die uns anrufen Ähnlich wie Barthes folgt auch der neomarxistische Denker Louis Althusser einem ideologiekritischen Ansatz. Anders als Barthes operiert Althusser dabei aber nicht mit semiotischem Vokabular, fragt nicht danach, wie die mediale Spezifik der Fotografie einen Authentizitätseffekt auslöst. Sein Blickwinkel ist umfassender und auf sehr viel mehr als auf einzelne Botschaften oder Zeichentypen medialer Angebote gerichtet. Seine Hypothese ist weitreichender, nämlich: Wir werden durch Vertreter: innen von Institutionen, etwa des Staates, der Kirche oder auch der Werbeindustrie mittels Werbeplakaten, Gottesdiensten, Filmen ‚angerufen‘ - und dabei aufgefordert eine ganz bestimmte Subjektposition einzunehmen, ja ein bestimmtes Subjekt zu sein. Diese wahrscheinlich zunächst einmal etwas undurchsichtigen Annahmen benennt Althusser auch noch mit einem recht sperrigen Begriff, nämlich als Interpellation. Interpellation Die lateinische Wendung interpello bedeutet ‚unterbrechen‘ bzw. ‚Einspruch erhe‐ ben‘. Als terminus technicus meint ‚Interpellation‘ im politischen Kontext die förm‐ liche Anfrage von Parlamentsmitgliedern an die Regierung. Althusser verwendet den Begriff anders, nämlich zur Bezeichnung der kommunikativen Anrufung einer Person, um dieser einem bestimmten Subjektstatus zuzuweisen oder doch zumindest anzubieten. 255 Kommunikative Angebote beinhalten neben explizit artikulierten Botschaften, dieser Vorstellung zufolge, immer auch den Appell an die Rezipient: innen, sich als Subjekt in ein Verhältnis zum Wahrgenommenen zu setzen. Durch solche Anrufungen werden 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 201 <?page no="202"?> 256 Althusser selbst formuliert diesen Vorgang als Mittel einer Ideologie, derer sich niemand entziehen kann: „Wir behaupten […], daß die Ideologie in einer Weise ‚handelt‘ oder ‚funktioniert‘, daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ‚rekrutiert‘ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ‚transformiert‘ (sie transformiert sie alle).“ (Ebd., S.-142) 257 Ebd., S.-142f. 258 Diese Verknüpfung wird hergestellt und entfaltet in: W. J. T. Mitchell, Iconology and Ideology: Pa‐ nofsky, Althusser, and the Scene of Recognition, in: Claire Farago (Hg.), Reframing the Renaissance: Visual Culture in Europe and Latin America, 1450-1650, New Haven 1991, S.-292-300. 259 Vgl.: Panofsky, Ikonografie und Ikonologie, S.-207ff. also nicht nur Sinnesdaten und codierte Bedeutung übermittelt, sondern Subjektposi‐ tionen angeboten und Subjektvorstellungen geprägt. 256 Althusser selbst gibt ein einfaches Beispiel dafür, was er unter dem Vorgang der Interpellation verstanden wissen will: „Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ‚He, Sie da! ‘ Wenn wir einmal annehmen, daß die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, daß der Anruf ‚genau‘ ihm galt und daß es ‚gerade er war, der angerufen wurde‘ (und niemand anderer).“ 257 Entscheidend daran ist, dass ein Subjekt zu werden, Resultat eines spezifischen kommunikativen Appells ist, der jeden einzeln oder genauer jeden als Einzelnen anspricht. Panofsky vs. Althusser: Von der Ikonografie zur politischen Ikonografie Anschließend an dieses Beispiel lässt sich vergleichsweise elegant eine Differenz dieser Art der politischen Ikonografie zur traditionellen Ikonografie in Nachfolge Panofskys aufzeigen (vgl. Abb. 4.34). 258 Panofsky veranschaulicht sein Drei-Ebe‐ nen-Modell [↑ Kap. 2, Ikonografie] in den Eingangspassagen des Textes Ikonografie und Ikonologie anhand eines Mannes, der seinen Hut zum Grüßen hebt. 259 Auf der vorikonografischen Ebene erkennen wir einen Mann, der seinen Hut zum Grüßen hebt. Hier haben wir es, laut Panofsky, mit praktischem Wissen zu tun: Wir erkennen Tatsachen, in dem Fall ein Objekt, einen Mann, der einen Hut, zweites Objekt, aufhat, dann diesen abnimmt, also eine Veränderung der Relation beider Objekte vornimmt. Wichtig ist hier, dasss diese Erkenntnis über rein formale Konstellationen und Relationen hinausgeht. Nicht nur soll laut Panofsky ein Objekt als Mann und eines als Hut identifizierbar sein, sondern darüber hinaus beinhaltet diese Identifikation auch psychologische Aspekte bzw. Affektwirkungen. Der Kunstwissenschaftler schreibt: „Nun werden natürlich die dergestalt identifizierten Gegenstände und Ereignisse eine bestimmte Reaktion in mir hervorrufen. Aus der Art und Weise, wie mein Bekannter seine Handlung vollzieht, kann ich vielleicht erkennen, ob er guter oder schlechter Stimmung ist und ob seine Gefühle mir gegenüber gleichgültig, freundlich oder feindselig sind. Diese psychologischen 202 4 Politische Medienikonografie <?page no="203"?> 260 Ebd., S.-208f.; Herv. von mir; SG. Nuancen werden die Gebärden meines Bekannten mit einer weiteren Bedeutung füllen, die wir ausdruckshaft nennen werden.“ 260 Panofsky Althusser vor-ikonografisch praktisches Wissen tatsachenhaft, ausdruckshaft politisch ikonografisch subjetkonstituierend ideologisch präformierende Macht-/ Ideologieanordnung ikonografisch konventionelles Wissen, interpretatorisch ikonologisch kulturhistorisches Wissen, weltanschaulich Abb. 4.34: Panofskys grüßender Mann vs. Althussers rufender Polizist Panofsky geht von dieser vorikonografischen Ebene schnell über zur ikonogra‐ fischen, wo es um historische Herkunft und Konventionen des Hutziehens als Grüßen, das sich aus der Versicherung, nicht bewaffnet zu sein, ableiten und interpretieren lässt. Von dort aus wird die ikonologische Ebene am Vorgang des Hutziehens veranschaulicht. Hier geht es Panofsky um die Darstellung, inwie‐ weit das Abnehmen eines Hutes die symbolische Verdichtung eines bestimmten Weltbilds darstellt. Für Ikonografie und Ikonologie interessiert sich Panofsky ausführlich. Die vorikonografische Ebene wird mehr oder minder en passant angeführt. Der Kunstwissenschaftler will, mit anderen Worten, schnell zu den eigentlich interessanten Bedeutungen und Interpretation kommen, die nicht im praktisch-intuitiven Verstehen von Tatsachen und Ausdrucksgebärden bestehen sollen, sondern die Arbeit eines Kunstexperten oder eine Kulturexpertin verlangt. Panofskys Ebenen-Modell ist sehr deutlich ein hierarchisches System des allmäh‐ lichen Aufstieges vom Unwesentlichen zum Wesentlichen, von der Erscheinung zum Wesen. Mit Althussers Polizisten, der einen Passanten anspricht, verhält es sich anders. In Panofskys Vokabular formuliert geht es Althusser um die vor-ikonografische Ebene. Also nicht darum, welche Motivgeschichte, welche historische Herleitung 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 203 <?page no="204"?> 261 Vgl. zum Kontext der Entstehung des Plakats und seiner Rezeption: Philip Kennedy, ‚I Want YOU‘ - The Story of James Montgomery Flagg’s Iconic Poster, in: ders., Illustration Chronicles, Online zugänglich unter: https: / / illustrationchronicles.com/ i-want-you-the-story-of-james-montgomery-fl agg-s-iconic-poster [04.01.22]. der Ausruf des Polizisten hat oder ob und inwieweit sein Rufen der symbolische Ausdruck eines Weltbildes sein könnte. Stattdessen geht es darum, dass dieser Ruf ‚bestimmte Reaktionen‘ hervorrufen soll und wird, genau das also, was auch Panofsky mit seinem Beispiel eines Mannes, der seinen Hut zieht, beschreibt. Althusser nimmt diese Situation aber nicht einfach als ein natürliches Sujet, einen tatsachenhaften und ausdruckshaften Vorgang, der auf praktischem Wissen beruht. Vielmehr will er zeigen, dass diese vermeintlich natürliche Reaktion hoch‐ gradig ideologische Implikationen und Effekte hat. Gerade auf dieser Ebene, wo es noch nicht um hermeneutische Interpretation geht, findet, so lässt sich Althusser verstehen, politisch das Entscheidende statt. Eine Person wird angerufen, um eine bestimmte Subjektposition einzunehmen - sich schuldig zu fühlen, wenn man sich zum Polizisten umdreht oder - übertragen auf Panofskys Beispiel - ebenfalls grüßen müssen zu wollen, wenn man gegrüßt wird. Bei diesen Anrufungen geht es um Macht, nicht um Motivgeschichte. Politische Ikonografie ist aus dieser Perspektive vor allem an dem interessiert, was vor und jenseits der ikonografischen Interpretationen existiert, mit anderen Worten daran, in welchem Macht- und Ideologiekontext die Bilder stehen und wie sie zur Anrufung von Subjekten eingesetzt werden. Solch eine politische Ikonografie interessiert sich auch und gerade dafür, was jenseits der Bilder, der Decodierung von Bedeutung, durch die Bilder hindurch geschieht und die Rezipient: innen affiziert. Um Karl Marx zu paraphrasieren: Panofskys Ebenen-Modell muss aus Perspektive Althussers auf den Kopf gestellt werden. Ein anderes Beispiel für Althussers Interpellation findet sich mit einem berühmten Rekrutierungsplakat, das von der US-amerikanischen Regierung während des Ersten Weltkriegs in Umlauf gebracht wurde (vgl. Abb. 4.35). Es handelt sich dabei um eine von James Montgomery Flagg im Jahr 1917 angefertigte Uncle Sam-Allegorie. 261 Uncle Sam appelliert darauf mit direktem Fingerzeig, parasozialem Blickkontakt, in Signalfarben und großformatigen Lettern („I WANT YOU“) eindringlich an die vorbeilaufenden Passant: innen, sich freiwillig zum Kriegseinsatz zu melden. An die Passanten: innen soll damit nicht nur eine Information übermittelt oder eine Bitte formuliert werden. Vielmehr ‚will‘ Uncle Sam in erster Person Singular unser mehr oder minder achtloses Vorbeiflanieren an diesem Plakat anhalten und jeden einzelnen von uns („YOU“) ganz konkret eine bestimmte Subjektposition zuweisen, die wir einnehmen sollen (‚Ich, der US-amerikanische Soldat in spe‘). 204 4 Politische Medienikonografie <?page no="205"?> Dieses Beispiel veranschaulicht sehr deutlich, was Althusser unter Interpellation eigentlich verstanden wissen will. Denn es geht dem französischen Philosophen nämlich nicht nur darum, dass jedem einzelnen Rezipienten eine Subjektposition vor‐ geschlagen wird. Vielmehr erfolgt solch eine Zuweisung aufgrund einer übergeordneten Subjekt-Autorität. Dieses ‚Über-Subjekt‘, das mir meine Subjektposition zuweist, ist in diesem Fall die Nationalallegorie Uncle Sam (in Althussers eigenem Beispiel ist es ‚der Polizist‘) und damit die US-amerikanische Nation und deren Werte. Dieses Über-Sub‐ jekt macht die ‚Gesetze‘, genauer: ist das Gesetz, dem sich jeder Einzelne unterzuordnen hat. Untergeordnet hat sich der einzelne Rezipient, die einzelne Rezipientin genau dann, wenn die angebotene Subjektposition tatsächlich eigenommen wird. Abb. 4.35: Uncle Sam interpelliert uns Die Wahrscheinlichkeit diese Position tatsächlich einzunehmen - so die tiefenpsycho‐ logisch inspirierte, von Jaques Lacan herrührende Prämisse Althussers - wird dadurch erhöht, dass jedes Individuum prinzipiell einen Mangel verspüren soll - einen Mangel 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 205 <?page no="206"?> 262 Vgl. für eine klare Rekonstruktion und Weiterführung dieses Konzeptes: Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S.-27ff. 263 Ebd., S.-30. noch nicht oder nicht mehr, der zu sein, der man eigentlich ist oder sein müsste. Aufgrund dieses konstitutiven Mangels seien Menschen generell empfänglich für Anrufungen, ein bestimmtes Subjekt zu werden. Da hierbei das Versprechen formuliert ist, diesen Mangel aufheben zu können. Interpellationen haben insofern eine paradoxe Struktur, wird doch verlangt bzw. versprochen: ‚Werde, was Du bist! ‘ 262 Im genannten Beispiel bedeutet das, dass eine Autorität mit ihrem Appell eigentlich formuliert: ‚Werde, was Du bist oder moralisch zumindest sein solltest, in dem Du endlich das tust, was richtig und notwendig ist und Du eigentlich schon immer als richtig und notwendig akzeptiert hast (nämlich als Soldat für die ‚freie Welt‘ zu kämpfen).‘ Da aber der Einzelne niemals tatsächlich der werden kann, der er wirklich ist, weil - so die Weiterführung dieses Gedankens durch den Soziologen Ulrich Bröckling - jede Anrufung zwar ein Versprechen enthält, endlich der zu werden, der man eigentlich ist (oder sein sollte), aber durch die Unterwerfung deutlich wird, dass das Gesetz, dem ich mich dabei unterwerfe, nicht mein eigenes ist und - noch wichtiger - ich mir zudem niemals sicher sein kein, tatsächlich den Anfordernissen der Autorität zu entsprechen. Das ‚Gesetz‘, die Subjektinstanz, wendet sich uns, so verstanden, nicht nur zu, sondern gleichzeitig wieder ab. Interpellation bietet also einerseits eine Subjektbestimmung an, anderseits wird dadurch ein spezifischer Subjektmangel konstituiert (vgl. Abb. 4.35). Daraus ergibt sich, laut Bröckling, das „Drama der Subjektivierung“, das eben darin besteht, permanent „[e]in Subjekt zu werden […], dem niemand entgeht und das zugleich niemand gelingt.“ 263 anrufen hinwenden 1. 2. Rat suchen abwenden anrufen/ Abgewandt-sein hinwenden/ Rat suchen Subjektbestimmung Subjektmangel 3. Subjektunschärfe Abb. 4.36: Widerstreitende Facetten der Interpellation Althussers 206 4 Politische Medienikonografie <?page no="207"?> 264 Althusser, Ideologie und ideologische Staatapparate, S.-146. 265 Ebd. 266 Vgl. für diesen Interpretationsvorschlag: Heike Kanter u.-a., Zur Einleitung, S.-40ff. 267 Vgl. dazu auch: Sturken/ Cartwright, Practices of Looking, S.-52ff. Mit Blick auf ein zweites Beispiel, das Althusser anführt, lässt sich noch eine dritte wichtige Komponente der Interpellation bestimmen, die sich aus den ersten beiden benannten ableiten lässt. Es gibt nämlich nicht nur eine Subjektbestimmung, nicht nur gleichzeitig einen Subjektmangel, die durch die Interpellation hervorgerufen werden, sondern zudem eine Subjektunschärfe (vgl. noch einmal Abb. 4.36). Althussers zweites Beispiel ist eine biblische Szene, in der Moses die Gesetzestafeln von Gott empfängt. Althusser zitiert: „‚Zu jener Zeit sprach der Herr ( Jahwe) zu Moses aus einer Wolke. Und der Herr rief Moses: ‚Moses! ‘ ‚Hier bin ich‘, sprach Moses, ‚ich bin Moses, Dein Diener. Sprich, und ich werde Dich hören.‘ Und der Herr sprach zu Moses und sagte ihm: ‚Ich bin der, der Ich bin‘.‘“ 264 Althusser selbst will daran vor allem noch einmal den autoritären Gesetzesstatus der Interpellation markieren, wenn er schreibt: „Es wird dann deutlich, daß die Anrufung der Individuen als Subjekte die ‚Existenz‘ eines Anderen, Einzigen und zentralen SUBJEKTS voraussetzt, in dessen Namen die religiöse Ideologie alle Individuen als Subjekte anruft.“ 265 Interessanter an diesem Beispiel ist vielleicht aber, dass Gott - mitsamt seiner tautologischen Aussage ‚Ich bin der, der ich bin‘, die vom Informationswert her beurteilt gleich null ist -, nicht nur das oberste Subjekt ist, sondern einigermaßen unbestimmt bleibt. Zwar erscheint er Moses in einem (als? ) Dornenbusch. Aber weder ist klar, wie Gott genau aussieht - ja, wir sollen uns, so Gott selbst zu Moses, kein Bild von ihm machen -, noch wer er genau ist, noch was die Subjektanrufung Gottes genau von uns will. So verstanden ist die Interpellation verbunden mit einer Unschärfe, einer Unbestimmtheit hinsichtlich dessen, was wir eigentlich genau für ein Subjekt sein sollen und wollen. 266 Wir werden also nicht nur angerufen, ein bestimmtes Subjekt zu sein, es wird nicht nur ein Mangel durch Abwendung desjenigen, der uns anruft, hervorgerufen, sondern eben auch eine Unschärfe erzeugt, was genau wir werden sollen. Gerade dieser letztgenannte Aspekt ist für eine ganz bestimmte Form politisch motivierter Anrufungen produktiv zu machen [↓ Rechtspopulistische Memes mit Althusser]. Interpellation jenseits der Polizei und Gott Das Konzept der Interpellation lässt sich nicht nur auf institutionalisierte Organisatio‐ nen, wie die Polizei, oder auf Geschichten aus der Bibel beziehen, sondern überdies wunderbar auf Anrufungen der Werbung oder auf Unterhaltungsangebote wie Filme, Fernsehserien oder auch Memes. 267 In all diesen Fällen wird nämlich an uns appelliert, eine bestimmte Subjektposition einzunehmen. Dabei geht es nicht einfach darum, Begehrlichkeiten zu aktivieren, ein Objekt besitzen, essen, fahren, lesen oder schauen zu wollen, eine Weltanschauung kennen zu lernen, uns inspirieren, überzeugen oder affizieren zu lassen. Weniger geht es um das Haben (von etwas), vielmehr darum, etwas 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 207 <?page no="208"?> sein zu wollen, von dem zumeist nicht genau klar ist, wer oder was das genau sein soll. Diese imaginäre, temporäre, immer wieder scheiternde, auf Unschärfe beruhende Einnahme solcher Subjektpositionen sind es, die (Medien-)Angebote attraktiv machen. Auch politische Verlautbarungen lassen sich aus dieser Perspektive instruktiv unter‐ suchen, wie später noch zu zeigen sein wird. „Du bist nicht Du, wenn Du hungrig bist“: Interpellation in der Werbung Abb. 4.37a-f: ‚Sei, wer Du bist - mittels eines Schokoriegels! ‘ Um diese Perspektive zunächst an einem Beispiel aus der Werbung zu veranschauli‐ chen: Nicht die Begehrlichkeit des Zucker-Fett-Gemisches ist es, der mich diesen (und nicht einen anderen) Schokoriegel kaufen lässt, sondern die damit verbundene Lässigkeit. Die Catch-Phrase aus einer Snickers-Werbung „Du bist nicht Du, wenn Du hungrig bist“ verspricht zwar, dass man keinen Hunger mehr haben wird nach 208 4 Politische Medienikonografie <?page no="209"?> 268 Dabei handelt es sich um die Schauspielerin Joan Collins, die noch heute populär ist, insbesondere für ihre ‚divenhafte‘ und böswillige Rolle als Alexis Carrington Colby in der Fernsehserie Dynasty. dem Genuss eines Snickers. Wir sehen im Werbespot dazu auch eine Diva 268 , die sich nach der Einnahme des Snickers, wieder in einen ‚normalen‘ Menschen verwandelt (vgl. Abb. 4.37a-f). Entscheidender aber ist: Uns wird nicht nur die Attraktivität einer direkten Hungerstillung verkauft, auch nicht nur um uns unser Dasein als ‚schwierige‘ Diva zu imaginieren, sondern vielmehr ist uns zusätzlich die Position desjenigen angeboten, der lässig und ironisch das Snickers anbietet. Das ist die Subjektposition, die besonders attraktiv ist: Trotz unerträglichen Verhaltens bleiben wir entspannt, empathisch, handlungs- und zielorientiert. Belohnt wird unser Stellvertreter im Clip mit einem dankbaren Blick der (nunmehr) Ex-Diva (vgl. Abb. 4.37f). Daran lassen sich die zwei weiteren Facetten der Interpellation-Interpretation, Mangel und Unschärfe, anschließen: Diese Subjektposition hat insofern etwas mit Subjektmangel zu tun, als beim Rezeptionsakt eine Position angeboten wird, die retrospektiv einen Mangel in das Subjekt markiert, nämlich der Mangel, dass wir immer schon so entspannt, emphatisch, handlungs- und zielorientiert hätten sein sollen. Der Schokoriegel transformiert so verstanden nicht nur die ‚Diva‘ wieder zu einem ‚erträg‐ lichen‘ Menschen, sondern der Erwerb dieses Zucker-Fett-Gemisches verspricht, uns (wieder) zu dem zu machen, was wir immer schon waren, oder zumindest hätten immer schon sein sollen. Das Snickers präsentiert sich dementsprechend zunächst visuell sehr attraktiv, während es sich öffnet und sich uns regelrecht darbietet, um sich am Ende natürlich wieder zu entziehen. Um es zu besitzen, müssen wir es kaufen. Unscharf ist die Subjektposition in dieser Werbung wiederum deshalb, weil zwar eine deutliche normative Aussage getroffen wird, eben „Du bist nicht Du, wenn Du hungrig bist“ - und damit letztlich ein klarer Appell für die Einnahme einer Subjektposition formuliert wird, nämlich: ‚Esse ein Snickers, damit wirst Du wieder Du! ‘ Zumindest aus der hier vorgeschlagenen Perspektive geht es aber vielmehr oder zumindest auch darum, jemand zu sein, der in allen Lebenslagen ein Snickers bereithalten kann für andere. Diese Doppelbesetzung geht mit Unschärfen einher: Sei jemand, der ein Snickers essen muss, um nicht unausstehlich zu sein und besitze ein Snickers (und verspeise es nicht sofort), um es weitergeben zu können. Vielleicht lässt sich sogar behaupten, dass die vorgeschlagene Subjektposition unscharf bleiben soll, um so eine assoziative Analogiereihe bestimmter Subjekteigenschaften etablieren zu können, die sehr unterschiedlich, wenn nicht sogar widersprüchlich sind: großmütig, entspannt wie auch aufbrausend und heißhungrig. Durch diese Streuung wie Analogisierung ist zwar nicht mehr ganz klar, was der Schokoriegel eigentlich genau für ein Subjekt herstellen soll, was aber für die weite Streuung für unterschiedliche Rezipient: innen und Bedürfnisse durchaus von Vorteil sein dürfte. Der Schokoriegel wird so zu sehr viel mehr als einem Zucker-Fett-Gemisch, ohne dass aber deutlich wird, was der Schokoriegel eigentlich mit uns macht, mit anderen Worten: welche Interpellation eigentlich stattfindet. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 209 <?page no="210"?> 269 Tweet von Sara Sanders @PresSec, 7.11.2018, 16.48 Uhr; Übersetzung von mir; SG. Das unterscheidet die Werbung erst einmal recht deutlich von dem Beispiel des Uncle Sam-Plakats oder auch Althussers Beispiel mit dem Polizisten. In beiden Fällen scheinen die Anrufungen - zumindest auf den ersten Blick - recht eindeutig, bei dem Werbebeispiel nicht. Dass politische Bilder und Strategien sehr häufig zumindest eher dem Werbebeispiel folgen, soll weiter unten ausgehend von einem (kleinen) politischen Skandal und den damit verbundenen Reaktionen verdeutlicht werden. Codespezifische Anrufungen Unabhängig von ihren Differenzen lässt sich anhand der genannten Beispiele über Althusser hinaus der Frage nachgehen, ob es medienspezifische Interpellationen gibt, die je nach verwendeten Zeichentypen und Codierungen möglicherweise unterschied‐ lich attraktiv an die Rezipient: innen appellieren, eine bestimmte Subjektposition einzunehmen. Damit rückt wieder die Rolle der Bilder in den Mittelpunkt. Auch hier scheint mir die heuristische Unterscheidung zwischen sprachlicher und bildlicher Codierung hilfreich. Sanders’ Twitter-Text-Anrufung Zur Diskussion dieser möglichen Unterschiede sei zunächst noch einmal auf einen Tweet von Sarah Sanders eingegangen, der bereits weiter vorne bei der Diskussion um die vermeintliche Hand-anlegen-Affäre eines Reporters während einer Presskonferenz zitiert wurde [↑ Sarah Huckabee Sanders Videobeweis.] Sanders tweetete: „Präsident Trump glaubt an eine freie Presse und erwartet und begrüßt, wenn er und seine Regierung hinterfragt wird. Wir werden jedoch niemals dulden, dass ein Reporter sich an einer jungen Frau vergreift, die nur versucht, ihre Arbeit als Praktikantin im Weißen Haus zu erledigen …“ 269 In diesem Tweet sind nicht weniger als sechs Subjektpositionen bestimmt und zueinander ins Verhältnis gesetzt (vgl. Abb. 4.38). 210 4 Politische Medienikonografie <?page no="211"?> Trump Administration Praktikantin/ junge Frau WIR Journalist [SIE] Presse Abb. 4.38: Sechs Subjekt-Positionen mit einem Tweet Zunächst einmal wird das Subjekt ‚Trump‘ eingeführt und dieses ins Verhältnis zu einem anderen Subjekt gesetzt (‚die Presse‘). Dabei werden dem Subjekt ‚Trump‘ propositionale Einstellungen zugewiesen (x glaubt, erwartet, begrüßt), die seine Offen‐ heit gegenüber dem anderen Subjekt, ‚der Presse‘, verdeutlichen sollen. Anschließend wird das Subjekt ‚Trump‘ ausgeweitet (‚seine Administration‘) und zu einem ‚Wir‘ zusammengeschlossen. Dann wird klar gemacht, was dieses Kollektiv-Subjekt nicht tolerieren wird, nämlich den Übergriff auf ein vergleichsweise schwaches Subjekt (‚Praktikantin‘), das als Teil des ‚Wir‘ ausgewiesen wird und demensprechend unter allen Umständen und zu allen Zeiten (‚niemals zu tolerieren‘) zu verteidigen ist gegen - und damit wird das letzte Subjekt angeführt - einem ‚Journalisten‘. Dieser Journalist wird nicht als bestimmtes Individuum mit Namen bezeichnet, sondern in einer Funktionsbeschreibung mit unbestimmtem Artikel belassen (‚ein Journalist‘). Genau diese grammatikalische Unbestimmtheit ermöglicht es, den Bereich der Presse - trotz expliziter gegenteiliger Bekundung, dass Trump um ein gutes Verhältnis mit der Presse bemüht ist - indirekt so zu perspektivieren, dass die Charakterisierung prinzipiell alle Journalist: innen trifft. Das wiederum macht nicht nur die Handlung eines ‚Journalisten-Subjekts‘ moralisch verwerflich, sondern potenziell diejenige aller Journalist: innen. Somit wird eine asymmetrische Gegenüberstellung von ‚wir vs. sie‘ etabliert, wobei der zweite Term gegenüber dem ersten eindeutig abgewertet ist. Diese mit dem Tweet von Sanders implizierte Gegenüberstellung von ‚wir‘ und ‚sie‘ ist nicht nur keine neutrale Beschreibung eines Sachverhalts, sondern setzt semiotisch aktiv die Ungleichheit ins Werk, die als vorfindlich ausgegeben wird. Dementsprechend lässt sich auch die Anrufung des Tweet-Lesers bzw. der Tweet-Le‐ serin vergleichsweise klar bestimmen: Wenn auch der Leser oder die Leserin nicht gleich Teil der Trump-Administration werden wollen muss, ja sogar nicht kann, so soll er oder sie sich doch als Subjekt zu diesem ‚Wir‘ hingezogen fühlen und diesem ‚Wir‘ die Autorität zuschreiben, moralische Beurteilungen vornehmen zu können. Mit anderen Worten: Das Über-Subjekt ‚Wir‘ soll zum Gesetz der Subjektpositionierung 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 211 <?page no="212"?> 270 Vgl.: Horst Bredekamp, Theorie des Bildaktes. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Neufassung 2015, Berlin 2015. Für einen Überblick diverser Bildakt-Theorien, unter die hier auch die Ansätze von Paul und Mitchell gefasst werden: Marion Lauschke. Bildakt-Theorie, in: Jörg R. J. Schirra u. a. (Hg.), Glossar der Bildphilosophie. [2012-2022], Online zugänglich: http: / / www.gib.uni-tuebingen. de/ netzwerk/ glossar/ index.php? title=Bildakt-Theorie&oldid=27751 [04.01.22]. 271 Vgl.: John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) [1955], Stuttgart 1986. der Rezipient: innen werden. Bei solch einem Appell zur Parteinahme geht es also nicht nur um die Decodierung einzelner Zeichenbedeutungen, auch nicht um eine Einladung einfacher Identifikation, sondern vor allem um den kommunikativen Appell, der durch die Relationierung von Personalpronomen und Funktionsträger hergestellt wird und mich damit als Rezipientin unscharf, leicht distanziert zum Geschehen anordnet, gleichsam involviert und als moralisches Subjekt interpelliert. X. Bildakt - als Anrufung Anrufungen im Sinne Althussers funktionieren selbstverständlich auch mit Bildern, wie das angeführte US-amerikanische Rekrutierungsplakat verdeutlichen sollte. An‐ schließend an Barthes Analyse von Werbefotografien ließe sich fragen, ob Fotografien eine besondere Codierungspotenz zur politischen Interpellation haben [↑ Bilder ‚ohne Code‘]. Hier möchte ich mich aber zunächst einem anderen Konzept zuwenden, um nach einer möglichst umfassenden Spezifik der Bildgebung über Fotografien, Film oder Video hinaus fragen zu können. Dieses Konzept stammt vom Kunstwissenschaftler Horst Bredekamp, wie er es insbesondere in seiner Monografie Theorie des Bildaktes ausgeführt hat. 270 Bredekamp bestimmt einen Bildakt analog zu einem Sprechakt in der Tradition des Philosophen John L. Austin, vertritt doch Austin in seinen berühmten Vorlesungen, die unter dem Titel How to do things with words? veröffentlicht wurden und in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Zur Theorie der Sprechakte zu finden ist, folgende These: Worte haben nicht nur die Funktion, Sachverhalte zu beschreiben, sondern sie tun ebenfalls insofern etwas, als durch sie die Realität verändert bzw. ein Sachverhalt zuallererst hervorgebracht wird (etwa werden Besitzverhältnisse durch eine Unterschrift verändert, mittels Taufe verändert sich der Status einer Person ‚vor Gott‘, womit ein neuer, sozial relevanter Sachverhalt geschaffen wird etc.). 271 Analog dazu können auch Bilder etwas tun, so argumentiert zumindest Bredekamp. Ein Bild handelt, indem es uns in einer ganz bestimmten Weise anspricht. Zunächst einmal analog zum Sprechakt, ist ein Bild generativ: Es bringt Realität in dem Sinne hervor, als es die Realitätswahrnehmung seiner Rezipient: innen verändert und darüber hinaus durch seinen Appell an den Rezipienten als Handlungs(an)stifter fungieren kann. Die Spezifik des Bildaktes besteht aber laut Bredekamp im Gegensatz zu Sprechakten darin, dass er uns Bilder nicht nur kognitiv, in einem bestimmten Code, Dinge oder Appelle vermittelt, sondern - und hier zeigt sich Bredekamp als gelehriger 212 4 Politische Medienikonografie <?page no="213"?> 272 Bredekamp geht auf Warburgs Ideen zum Bild gleich zu Beginn seines Buches ein: Bredekamp, Bildakt, S. 13; insb. auf Warburgs Pathosformel [↑ Kap. 3, Pathosformel] wird später im Buch eingegangen: ebd., S.-288ff. 273 Gottfried Boehm beschreibt die Spezifik der Bilder instruktiv für diesen Zusammenhang, wenn er die Zeichenhaftigkeit von Bildern und ihre Affektivität benennt als ein „Energiegefälle, das sich zwischen Zeichenhaftigkeit und Impulsivität aufbaut“ (Gottfried Boehm, Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: ders. u. a. (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S.-15-43, hier: S.-37) 274 Bredekamp, Bildakt, S.-52. 275 Ebd. Schüler Aby Warburgs 272 - diese eine energetische Handlungsmacht besitzen [Kap. 3, Pathosformel]. 273 Bildakt Ein Bildakt ist analog zum Sprechakt konzipiert und fragt nach der generativen sowie nach der energetischen Handlungsmacht von Bildern. Bilder bringen insofern Realität hervor, als sie die Wahrnehmung, Affekte und Einstellung der Rezipi‐ ent: innen verändern oder hervorbringen und unter Umständen damit auf die Handlungen des Rezipienten: innen Einfluss haben oder zumindest darauf abzielen. Bredekamps Ausgangspunkt ist die Frage: „[W]elche Kraft [befähigt] das Bild dazu […], bei der Betrachtung […] aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen [? ]“ 274 Die Antwort des Kunstwissenschaftlers besteht darin, dass Bilder eben Bildakte vollführen können. Bredekamp definiert den Bildakt als „eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln […] die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berüh‐ renden und auch hörenden Gegenüber entsteht.“ 275 Mit anderen Worten: Durch die spezifische Materialität der Bilder und ihre visuelle Formgestaltung sollen Bilder in ganz besonderer Weise in der Lage sein, ein spezifisches Konglomerat aus Affekten, Denken und Handlungsimpulsen hervorzubringen. Der Kunstwissenschaftler differenziert drei Typen ‚handelnder Bilder‘ (vgl. Abb. 4.39): 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 213 <?page no="214"?> Bildakt intrinsisch Bildraum und Relationierung von Bildobjekten irritieren oder wirken immersiv schematisch Bildinhalte werden verlebendigt substituierend Biildvehikel wird zerstört oder definite Bildreferenten verletzt. Abb. 4.39: Drei Arten von Bildakten Schematische Bilder Hierunter fallen Bilder, die verlebendigt werden, etwa das tableau vivant oder Bilder, die das menschliche Köperschema verwenden (beispielsweise bewegte mechanische Apparaturen oder Androiden). Im Vokabular von Pichler und Ubl formuliert [↑ Bildinstanzen]: Entweder wird der Bildinhalt oder das Bildvehikel verlebendigt. Solche Bilder lösen in hohem Maße Affekte, Faszination und Irritation aus. Substitutive Bilder Hierunter lassen sich einerseits Bilder subsumieren, die zerstört werden, um ihre vermeintliche gefährliche Affizierung zu negieren oder aber um anstelle menschlicher Akteur: innen diese zu negieren (etwa die Zerstörung von Statuen eines Herrschers) [↑ Kap. 3, 1. Politische Inhalte]. Anderseits sind hier Bilder zu versammeln, die Menschen zeigen, die verletzt oder getötet wurden, und zwar zum Zwecke, diese Aktionen zum Bild werden zu lassen (man denke nur an Videos des sogenannten IS oder das Attentat auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001). Solche Bilder sind ganz direkt Handlungen an Bildern (Zerstörung) oder aber ins Bild gesetzte Handlungen, um Rezipienten zu affizieren und zu Handlungen zu bewegen. Wiederum im Vokabular von Pichler 214 4 Politische Medienikonografie <?page no="215"?> 276 Paul, Bilder, die Geschichte schrieben, S.-12. und Ubl formuliert [↑ Bildinstanzen]: Entweder wird das Bildvehikel zerstört und/ oder die definiten Bildreferenten werden verletzt. Beide Aspekte sind für die Untersuchung politischer Bilder von hohem Interesse [↑ Kap. 3, 1. Politische Inhalte; ↓ Öffentlichkeitsarbeit politischer Bildagenturen]. Intrinsische Bilderer Hier geht es um formale Aspekte der Bilderkomposition. Zum einen lässt sich auf Formen hinweisen, die irritieren bzw. Aufmerksamkeit auf das Bild ziehen. „[A]uffällige Linienführungen und Perspektiven, ungewöhnliche Bildausschnitte und Bewegungsrichtungen sowie provozierende Kontraste und Asymmetrien und natürlich auch die Farbe [sind] Elemente der Erregung von Aufmerksamkeit […]“ 276 , um so eine Sogwirkung auf die Rezipientin auszuüben. Zum anderen handelt es um formale Maßnahmen zur Situierung der Rezipientin hin zum Bild. Man denke etwa an Halbrückenfiguren, die sich zum Rezipienten wenden und ihn damit einladen ‚einzutreten‘. Oder aber die simulierte Überschreitung der ästhetischen Grenzen zwischen Bild- und Betrachterraum durch Fenster, Tür oder Bilderrahmen werden als Schwellen des Zugangs markiert. Die involvierten Bildinstanzen sind hier: die Organisation des Bildraums und/ oder Relationierung von Bildobjekten, die auf Irritation oder auf Involvierung der Rezipientin angelegt sind [↑ Bildinstanzen]. Für den Fall der Interpellation nach Althusser sind vor allem die intrinsischen Bilder von Interesse. Denn damit sind bildspezifische bzw. -kompositorische Aspekte in die Analyse von Interpellationen zu integrieren - und also etwas, das bei Althusser selbst unterbelichtet bleibt, interessiert sich dieser doch nicht für mediale Spezifika. Uncle Sams Sprech- und Bildakt Dass dieser Zugriff nicht nur für große Kunst, die Bredekamp vor allem in seiner Monografie interessiert, fruchtbar zu machen ist, sondern auch für dezidiert politische Bilder, lässt sich relativ einfach wiederum an dem Propagandaplakat zeigen, das Uncle Sam vorstellig macht, wie er an die Passanten appelliert, sich beim nächsten Rekrutierungsbüro zu melden, um als Soldat für die ‚gute Sache in Übersee zu kämpfen‘ (vgl. noch einmal Abb. 4.35). Mit dem Uncle Sam-Plakat wird ein direkter Sprechakt vollzogen. „I WANT YOU“ - viel direkter geht eine Aufforderung zur Handlung kaum und demensprechend zur Veränderung des Weltverhältnisses durch Transformation des Personenstatus, nämlich der Wechsel vom Passanten zum Soldaten. Zum Bildakt wird das Plakat durch die Abbildung der Uncle Sam-Allegorie, insbesondere durch den Zeigefinger von Uncle 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 215 <?page no="216"?> Sam, der direkt auf uns zu zielen scheint, ja, der perspektivisch so aus dem Bild herauszuragen scheint, als würde er uns berühren wollen. Genau dieser Gestus ist eine simulierte Überschreitung der ästhetischen Grenze und macht demensprechend das Plakat zu einem intrinsischen Bildakt im Sinne Bredekamps. Sanders’ Twitter-Account-Profilbild Dass die Bildakttheorie auch zur Analyse von sehr viel unspektakulären Fällen geeignet ist, das lässt sich zeigen, indem noch einmal auf die ehemalige Pressesprecherin Trumps, Sarah Sanders, eingegangen wird, speziell auf ihre Twitter-Aktivitäten. Dies‐ mal soll die grafische Gestaltung des Twitter-Profils von Sanders genauer betrachtet werden und - eingestandenermaßen recht spekulativ - gedeutet werden. Sanders Twitter-Hintergrundbild bildet - Stand November 2018 - eine fotografische Szenerie aus dem US-amerikanischen Repräsentantenhaus (vgl. Abb. 4.40): Die Abgeordne‐ ten lauschen gerade einer Rede von Donald Trump, der am Rednerpult steht. Der US-amerikanische Präsident bildet das Zentrum des Bildes, auf das hin nicht nur alle Anwesenden ausgerichtet sind, sondern darüber hinaus treten die aufsteigenden Sitzreihen so in Erscheinung, dass die Betrachter: innen des Bildes die Linien der halbkreisförmigen Bestuhlung imaginär nur verlängern müssen, um selbst Teil des Geschehens im Repräsentantenhaus zu werden. Das ist ein einfaches Beispiel für die Involvierung der Rezipient: innen durch die simulierte Überschreitung der ästhetischen Grenze. Hier wird eine Positionierung ganz konkret angeboten: Den Beobachter: innen wird eine Subjektposition zugewiesen, die sie zum abgebildeten Geschehen so ins Verhältnis setzen, dass das Zentrum der US-amerikanische Präsident bildet. Die Anrufung an uns ist demgemäß im Sinne Althussers: ‚Werde zum Subjekt, indem Du dich auf das zentrale Subjekt-Gesetz aus‐ richtest, nämlich auf Donald Trump.‘ Im Grunde ist dieses Hintergrundbild damit genau besehen nur eine Abwandlung des weiter vorne untersuchten Rekrutierungsplakats, auf dem Uncle Sam an uns appelliert, der US-amerikanischen Armee beizutreten [↑ VI. Interpellation]. 216 4 Politische Medienikonografie <?page no="217"?> Abb. 4.40: Sanders’ Twitter-Account als interpellative Wahrnehmungsanordnung Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Sanders’ Profilbild nicht nur etwas nach links vorn vom Zentrum weggerückt ist. Das dürfte der Format-Voreinstellungen von Twitter entsprechen. Zudem ist ihr Blick nicht auf die Rezpient: innen gerichtet, sondern nach links vorn an diesen vorbei. Zum einen wird mit der Positionierung vor dem Hintergrundbild deutlich: Sanders ist eben als Pressesprecherin die Verlängerung und kommunikative Vermittlungsinstanz des Präsidenten hinein in die Öffentlichkeit, etwa in soziale Medien wie Twitter. Zum anderen ist doch einigermaßen verwunderlich, dass mit Sanders’ Blick nicht eigentlich die Follower ihres Twitter-Accounts adressiert sind, sondern die Presse. Diese Deutung wird durch den Kontext des Bildes unterstützt. Denn dieses Bild ist während einer Presskonferenz im Weißen Haus aufgenommen worden. Zumindest steht Sanders auf dem dafür vorgesehenen Podium. Auf diesen Pressekonferenzen finden sich systembedingt vor allem eben Pressevertreter: innen. Die Rezipient: innen des Profilbildes - ein Bild, das bei jedem neuen Tweet von Sanders mitabgebildet wird - sind also in eine Subjektposition gebracht, die den Disput zwischen Sanders und den Vertretern der traditionellen Nachrichtenagenturen beobachtet, aber jenseits dieser Blick- und Kommunikationssituation positioniert ist. Sanders schaut ja nicht zu den Rezpient: innen hin, sondern zu dem Ort, wo die Pressevertreter: innen zu vermuten sind. Auch dieser Umstand lässt sich im Sinne von Althussers Konzept der Interpellation deuten: Die Rezipient: innen werden nicht direkt durch Sanders Blick auf sie angerufen, sondern vermittelt über eine dritte Instanz, die Presse. Dabei wird die Anrufung indirekt zu einer ‚Feier‘ der sozialen Medien oder doch zumindest zur Nobilitierung der digitalen Plattform Twitter. Denn hier erhalten doch die Rezipienten, so die Suggestion der Abbildung von der Pressekonferenz, direkt Nachrichten von der Presssprecherin und eben nicht vermittelt durch die massenmediale Berichterstattung, die - so formulierte es Sanders ehemaliger Vorgesetzter bekanntlich immer wieder gern - zu einem Großteil aus Fake News bestehen soll. Während Sanders sich auf ihren Pressekonferenzen mit Vertreter: innen dieser ‚Fake News‘ herumschlagen muss und 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 217 <?page no="218"?> 277 Zu finden u.-a. unter: https: / / twitter.com/ tomrichell/ status/ 1060593809761939457 [04.12.22]. dabei - wie uns das Twitter-Profilbild zu verstehen gibt - freundlich bleibt, können wir, die Twitter-Follower von Sanders, direkt Informationen aus dem Weißen Haus beziehen. Dazu gehören unter anderem Tweets voller Kritik an der massenmedialen Berichterstattung über das Weiße Haus, inklusive der Beschuldigung eines CNN-Kor‐ respondenten, der seine Hände ungebührlich an eine junge Praktikantin gelegt haben soll [↑ Sanders‘ Twitter-Text-Anrufung]. Die zentrale Anrufung des Subjekts durch die geschilderte Bildkonstellation auf Sanders Twitter-Account lässt sich - wieder mit Bredekamp - als kognitiver wie affektiver Bildakt interpretieren und in folgenden Appell - im Sinne Althussers - übersetzen: ‚Sei ein Subjekt, das ungefiltert an Informationen und Einschätzungen des Subjekt-Gesetzes partizipieren kann! Sei nah an der Macht platziert! Misstraue den traditionellen Massenmedien, um die kümmert sich mit freundlicher Miene die Pressesprecherin. Sie wird gekonnt deren Angriffe abwehren! ‘ Auch die drei Aspekte der Subjektpositionierung lassen sich hier ausmachen: Erstens wird ja eine Subjekt‐ position angeboten. Diese wird aber zweitens neben der Macht positioniert, die die Angelegenheit erledigen wird, ohne dass wir selbst unmittelbar beteiligt sein werden, wir auch nicht wissen, wie genau die Macht das machen wird. Ihre Operationen und Strukturen bleiben intransparent. Drittens ist unsere Subjektpositionierung insofern unscharf, als ja nicht klar ist, wo genau und in welcher Rolle wir uns zum Präsidenten platzieren sollen, der Ort der Positionierung ist konstitutiv außerhalb des Bildes zu finden, bleibt also unscharf. Ob strategisch gesetzt oder nicht, diese Form buchstäblich politischer Positionierung ist ein durchaus subtiler Bildakt, der in besonderer Weise durch seine intrinsische Bildanordnung an uns appelliert. Anrufungen seitens der kritischen Presse Anrufungen erfolgen im Fall dieses Akkreditierungsentzugs nicht nur von der Seite, die die faktisch institutionalisierte politische Macht in Händen hält. Auch die kritische journalistische Berichterstattung über die Regierung, in diesem Fall insbesondere über das von Sanders gepostete Beweisvideos, lässt sich nicht nur als kritische Berichterstat‐ tung über ‚Sanders Anrufungen‘ interpretieren, sondern selbst als politische Anrufung, die sich unter anderem in Formen intrinsischen Bildakte äußert. Ein besonderes aufschlussreiches Beispiel hierfür ist ein von der Internetzeitung The Independent hochgeladene investigative ‚Aufklärungsvideo‘. 277 In diesem Video wird nicht nur akribisch anhand der weiter oben geschilderten Bilderanordnung vorgeführt, dass das von Sanders gepostete Video zum Beweis unangemessenes Verhaltens eines Korrespondenten manipuliert wurde (vgl. noch einmal Abb. 4.33b), sondern in diesem Zusammenhang noch wichtiger: Es wird visuell eine Wahrnehmungsanordnung eta‐ bliert, die den Rezipient: innen einen bestimmten Platz im Geschehen zuweist und diese damit ‚anruft‘, eine spezielle Subjektposition einzunehmen. Wir sehen nämlich 218 4 Politische Medienikonografie <?page no="219"?> während des knapp fünfminütigen Videos immer wieder Tom Richell, seines Zeichen - wie durch textuelle Einblendung markiert wird - Leiter der Videoabteilung von The Independent. Tom Richell erklärt uns mithilfe der Visualisierung eines Videoschnitt‐ programmes, warum es gute Gründe gibt, davon auszugehen, dass das Video, das Sanders auf ihrem Twitter-Account hochgeladen hat, bearbeitet wurde. Dabei sehen wir aber nicht etwa nur das Analysematerial, durch das uns Richell lange mittels Off-Kommentar führt. Zusätzlich kommt der Head of Video selbst immer wieder ins Bild - und zwar, zumindest wird das im Video suggeriert, an seinem Arbeitsplatz (vgl. Abb. 4.41). Abb. 4.41: Interpellation der kritischen Presse Vor ihm liegt eine kleine Tatstatur auf dem Tisch, darüber ragen zwei Bildschirme auf, die Szenen aus dem Sanders-Video und denen des Senders C-plus zeigen, bereits beides in der Timeline eines Videoschnittprogramms angeordnet. Im Hintergrund sind andere Personen auszumachen, die ebenfalls an solchen Monitoren wie Richell zu arbeiten scheinen. Der Leiter der Videoabteilung spricht direkt in die Kamera und damit - parasozial - uns an. Zwar wird niemals direkt ein Appell formuliert. Es kommt kein Satz vor wie „Halt stehenbleiben! “ oder „I want you! “. Vielmehr referiert Richell in einem sehr sachlichen Ton darüber, was er bei seinen Videorecherchen herausgefunden haben will. Die Anrufung findet hier subtiler statt: Ist doch die Kameraposition und -perspektive so gewählt, dass wir am Nebentisch sitzen könnten. Damit ist unsere Subjektposition so gewählt, dass wir Presse-Mitarbeiter: innen der Abteilung Video sein könnten oder wenigstens gern gesehene Gäste dort. Richell erklärt uns - so die Suggestion -, während er sich kurz von seiner eigentlichen Arbeit abwendet und 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 219 <?page no="220"?> auf seinem Bürostuhl zu uns dreht, was er herausgefunden hat. Jeder Zuschauer, so impliziert die Wahrnehmungsanordnung, ist Mitarbeiter am Projekt der kritischen Investigation manipulativer Tendenzen. Zumindest wird jeder einzelne von uns durch diesen intrinsischen Bildakt, bei dem die ästhetische Grenze überschritten wird und wir Teil des Videoraumes werden, als solch ein Subjekt angerufen. Die Anrufung videografischer Bilder Dieses Beispiel verdeutlicht meines Erachtens überdies, dass im digitalen Zeitalter ein spezifischer Zeichentypus immer noch besonders geeignet zu sein scheint für politische Interpellationen, nämlich der indexikalische Zeichentypus des Videos im funktionalen Sinne nach Barthes [↑ Barthes, Authentizität]. Zwar verschleiert das Video nicht, dass die Szenerie für die Zuschauer: innen vor den digitalen Endgeräten inszeniert wurde. Dennoch wird im Video eine Arbeitsplatzsituation denotiert, die genauso auch jenseits der Repräsentation zu finden sein sollte. In dieses Bild sind diverse Konnotationen eingeflochten oder doch zumindest nahe‐ gelegt: kollektive Investigation (viele arbeiten vor ihren Rechnern), flache Hierarchien (alle scheinen an ähnlichen Rechner zu arbeiten, Großraumbüro), Konzentration auf Arbeit, nicht auf Alter oder Etikette (junger Chef, legere Kleidung). Durch die direkte indexikalische Ansprache des Rezipienten (samt sprachlich-symbolischer Identifika‐ tion) erhalten die Informationen nicht nur ein Gesicht und eine Adresse. Konnotiert wird damit überdies, dass der Chef der Videoabteilung Verantwortung für die Re‐ chercheergebnisse seiner Abteilung vor der Öffentlichkeit übernimmt, die Zeitung dementsprechend wert legt auf Transparenz und Rückführung der Nachrichten auf die dafür verantwortlichen Akteure. Dass Kameraperspektive und -positionierungen so gewählt sind, als würde Richell von einem Kollegen am nebenstehenden Arbeits‐ platz gesehen werden, konnotiert überdies einen impliziten Rezipienten, der sich auf Augenhöhe befindet, und aufgrund von Faktennachvollzug durch einen Experten eigene Schlüsse ziehen kann. Audiovisuell ist somit ein kritisch-aufgeklärtes Subjekt angerufen, das autonom die richtigen politischen Schlüsse ziehen wird. Welche das genau sein sollten, bleibt über den Nachvollzug der Video-Manipulation zwar unklar, aber das kann, wieder im Hinblick auf Althussers Konzept der Interpellation gewendet, für die Subjektpositionierung durchaus von Vorteil sein. Und - Hand aufs Herz: Wer würde diesem Ruf, der die Rezpient: innen in eine so schmeichelhafte Subjektposition versetzt, nicht gerne folgen? Von Barthes zu Althusser über Bredekamp zurück zu Barthes Festzuhalten bleibt bei den Ausführungen zur Interpellation und dem Bildakt, dass Anrufungen auf unterschiedlichen Ebenen, in unterschiedlichen Bildtypen vorkom‐ men können. Mit Rückgriff auf das Konzept des Bildaktes nach Bredekamp wurde dabei erkundet, ob und inwieweit Althussers transmedial angelegtes Verständnis der 220 4 Politische Medienikonografie <?page no="221"?> 278 Urs Stäheli, Die Wiederholbarkeit des Populären. Archivierung und das Populäre. In: Hedwig Pompe/ Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 73-83, hier: S. 73. Die systemtheoretische Herleitung der Funktion des Populären wie auch das zweite Basisprinzip, nämlich Affekterzeugung, die Stäheli thematisiert, werden hier aufgrund anderer gelagerter Interessen erst mal ausgespart [↓ Dispositiv, Handy-Protest-Video; ↑ Meme als Schlagbild]. Interpellation bildspezifisch gewendet werden könnte. Insbesondere die intrinsischen Aspekte der Bildakte, einerseits die simulierte Überschreitung der ästhetischen Grenze des Bildraums, anderseits der Rückgriff auf indexikalische Bildmodi zur Erzeugung von Authentizitätseffekte im Sinne Barthes, erscheinen mir für solch ein Unterfangen vielversprechend. XI. Hyper- und Heterokonnektivität: Populäre Bilder Der Soziologe Urs Stäheli unterbreitet im Zusammenhang mit der Frage, was das Po‐ puläre ausmacht, einen interessanten Vorschlag, wie Kommunikations- und Wahrneh‐ mungsangebote strukturiert sein müssen, um überhaupt populär werden zu können. Angelehnt an Stäheli lässt sich dies das Prinzip der „Hyperkonnektivität“ 278 nennen. Laut dem Soziologen zeichnen sich hyperkonnektive Darstellungsangebote dadurch aus, dass sie möglichst viele Themenfelder, in möglichst bereits populären Motiven und Formaten aufrufen, um für möglichst viele Rezipient: innen auf unterschiedlichen Ebenen attraktiv zu sein. Diese Strategie soll die allermeisten auf Popularität angeleg‐ ten Kommunikationsangebote ausmachen. Um es an einem Beispiel zu konkretisieren, das hier schon öfters aufgegriffen wurde: Das Hope Poster ist insofern hyperkonnektiv als es bereits populäre Motive und Formen aufgreift, sei es die Referenz auf Kennedy, sei es die Assoziation mit dem Konterfei Che Gueveras, der wie kein Zweiter in der Populärkultur als Inbegriff des Revolutionärs figuriert, sei es mittels Farben, die an Pop Art-Darstellungen von Warhol denken lassen, seien es die lithografische Darstellungstechniken des sowjetischen Agitprop (vgl. Abb. 4.42). 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 221 <?page no="222"?> Abb. 4.42: Collage aus Hope Poster, Kennedy-Fotografie, Lenin-Plakat und Andy Wahrhol: Marylin Monroe (1967) Diese nahezu überschäumende Vielzahl an Referenzen und Assoziationen funktionie‐ ren nach dem Prinzip der Hyperkonnektivität. Bereits populäre Vorbilder werden aufgegriffen und im Hope Poster versammelt, womit das Hope Poster nicht nur an bereits Bekanntes anschließt, sondern durch die Versammlung einer Vielzahl an bereits Bekanntem für unterschiedliche Rezipient: innen und Rezeptionsarten attraktiv wird oder zumindest durch Streuung diverse Anschlussmöglichkeiten an bereits etablierte Schemata, Motive und Konnotationen bereitstellt. Assoziative Logik der Bilder Dass die einzelnen Verbindungen bei der Hyperkonnektivität in sehr unterschiedliche Richtung gleichzeitig weisen - sei es hinsichtlich ideologischer Implikationen, zeitli‐ cher Situierung, Bildtypen oder auch gesellschaftlicher Sphären - ist wahrscheinlich eher von Vorteil. Zumindest gilt dies für viele Bildgebungen, was diese wiederum geeignet macht für spezifische politische Operationen. Die Bedeutungsaufladung von Bildern funktioniert häufig weniger durch eindeutige schematische Einteilungen, logische Relationierungen der Bildelemente oder durch die Verwendung eindeutig bestimmbarer konventionalisierter Zeichenelemente. Eher 222 4 Politische Medienikonografie <?page no="223"?> 279 Vgl. dazu: Müller/ Geise, Visuelle Kommunikation, S. 37ff.; oder auch: Urs Stäheli, Die Sichtbarkeit sozialer Systeme. Zur Visualität von Selbst- und Fremdbeschreibungen, in: Soziale Systeme, 13 (2007), S.-70-85, v.a.: S.-76f. operieren Bilder aufgrund einer assoziativen Kombinationslogik. 279 Dies kann, wie im Fall des Hope Poster, eine temporale Ausrichtung haben, also auf historische Vorbilder rekurrieren oder aber spatial, also räumlich gleichzeitig zueinander ins Verhältnis gesetzt sein. Um auch dafür ein einfaches Beispiel anzuführen: Wenn auf einem Titelbild des New Yorker Barack Obama und seine Ehefrau Michell abgebildet sind (vgl. Abb. 4.43), so werden sie durch ihren Kopfschmuck jeweils in unterschiedliche Tradi‐ tionslinien gesetzt. Barack Obama wird dabei den Taliban, genauer noch Osama bin Laden zugeordnet, Michell Obama der afroamerikanischen Black Panther-Bewegung [↑ Kap. 3. Interikonizität und Interkulturalität]. Abb. 4.43: Heterogene Kopfschmucktraditionen im Weißen Haus Heterokonnektivismus Dass Bilder und Bildelemente auf historische Vorbilder rekurrieren, ist im Zusammen‐ hang ikonografischer Forschung zwar ganz und gar nichts Neues, ja die Ikonografie findet darin ihren zentralen Zugriff. Entscheidender ist in diesem Zusammenhang, dass es sich um heterogene Elemente handelt. Die Black Panther-Bewegung hat wenig 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 223 <?page no="224"?> 280 Vgl. dazu bspw.: Andrew L. Jenks, The Cosmonaut who couldn’t stop smiling. The Life and Legend of Yuri Gagarin, Illinois 2014, v.a.: S.-123ff. mit dem Terror der Taliban zu tun, sowohl ideologisch als auch ikonografisch. Ihre Versammlung auf einem Bild ist so keine kohärente Zuordnung, eine kausale Bestimmung oder eine Äquivalenzbestimmung, sondern folgt einer Versammlung heterogener Elemente durch Assoziation, die beide ‚irgendwie‘ Ärger, Gewalt und Terror konnotieren. Um noch ein anderes, diesmal fotografisches Beispiel für diese assoziative Logik anzuführen: Der erste Mensch im All, Juri Gagarin, wurde für eine populäre Fotografie gemeinsam mit einer Taube in der Hand abgelichtet. Das Bild diente unter anderem als Titelseite der Zeitschrift Sovetskoye Foto aus dem Jahr 1961 (vgl. Abb. 4.44) und ist bis heute eine Medienikone [↑ Kap. 3, Medienikonen] der Populärkultur, vor allem in Osteuropa. Darauf finden sich zwei voneinander recht klar zu unterscheidende Bildelemente: der lächelnde Gagarin und eine Taube. Taube und Gagarin werden jedoch auf diesem Bild nicht etwa typlogisch, kausal, final oder aufgrund perzeptiver Ähnlichkeit ins Verhältnis gesetzt, sondern assoziativ kombiniert. Dies geschieht auf Grundlage der allegorischen Bedeutung der Taube, die vergleichsweise strikt konventionalisiert ist und deren Charakterisierung als Friedensbringer auf Gagarin assoziativ übertragen wird mittels einer Merkmalsähnlichkeit: beides sind ‚Flieger‘. Da die Taube ein fliegender Friedensbringer ist, wird auch Gagarin dazu, hat er doch die Taube in der Hand. Explizit formuliert wird dieses Verhältnis sprachlich nicht. Ebenso wird Gagarin hier nicht zur Taube gemacht, dieser generisch zugeordnet oder seine Taten aufgrund der Existenz einer Taube erklärt. Stattdessen werden die heterogenen Merkmale ‚weiße Taube als Friedensbringer‘ und ‚Kosmonaut Gagarin‘ - vor dem Hintergrund einer indexikalischen Fotografie, die beglaubigt, dass Gagarin tatsächlich eine Taube in der Hand hielt - assoziativ kombiniert und damit Gagarin als ‚Friedensbringer‘ konnotiert, der genau als solcher in der sowjetischen Propaganda eine wichtige Rolle spielte. 280 224 4 Politische Medienikonografie <?page no="225"?> 281 Stäheli, Sichtbarkeit sozialer Systeme, S.-76. Abb. 4.44: Die Taube als Friedensbringer-Spender Sowohl im Tauben/ Gagarin-Beispiel als auch im Fall des Präsidenten-Terror-Paares werden die Interpretationen assoziativer Bildlogik trotz heterogener Elemente eini‐ germaßen deutlich ausgerichtet. Dies geschieht durch die Wahl hochgradig konventi‐ onalisierter bzw. populärer Bildelemente, die sehr deutliche Konnotationen (Terror, Friede) aufrufen - und trotz disparater Herkünfte und Darstellungstraditionen wie‐ derum vergleichsweise unproblematisch zu verknüpfen sind. Stäheli sieht genau darin Spezifik wie Herausforderung visueller Semantik, wenn er schreibt: „In einem Bild können einzelne Bedeutungselemente aus äußerst disparaten Kontexten miteinander in Verbindung gesetzt werden, ohne dass sofort eine vereinheitlichende Logik sichtbar würde“ 281 oder - wie hinzuzufügen wäre - vorhanden ist bzw. sein soll. Noch sehr viel offensichtlicher - gleichzeitig für eine Interpretation herausfordern‐ der - wird die assoziative Logik von Bildern in Fällen, in denen disparate Elemente und Bildtypen in einer visuellen Darstellung kombiniert werden und die daraus resultierende Heterogenität als Heterogenität offensichtlich oder gar ausgestellt bzw. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 225 <?page no="226"?> 282 Vgl. zur demensprechenden Inkongruenz-Theorie des Witzes: Helga Kothoff, Humor in der Pragma‐ tik, in: Frank Liedtke/ Astrid Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, Stuttgart 2018, S. 302-311, v.a.: S.-302f. 283 Vgl. zur ausführlichen und instruktiven Deutung dieses Memes: Simon Strick, Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus, Bielefeld 2021, v.a.: S.-110ff. 284 Im Original heißt es: „IMMIGRANTS THREATINING YOUR WAY OF LIFE? / I KNOW-HOW THAT FEEL BRO.“ strategisch eingesetzt wird. Beispiele für die Versammlung sehr disparater Elemente findet sich bei vielen Bildern, die das Motiv des sogenannten ‚Napalm-Mädchen‘ auf‐ greifen [↑ Kap. 3, Serie I Verkettungen] und mit anderen Bildelementen verbinden (vgl. Abb. 4.45a-d). Hier wird einerseits eine heterogene Assoziation disparater Elemente vorgenommen (‚Abu Ghraib ist wie Vietnam‘, ‚Amerikas Konsumismus geht Hand in Hand mit Grausamkeiten‘). Anderseits sind die disparaten Elemente als solche kenntlich und schaffen so eine Spannung zueinander in ihrer Heterogenität. Diese Spannung lässt sich genauer als Inkongruenz von Elementen beschreiben, die häufig Grundlage von Witzen ist. 282 Zwei oder mehr Elemente werden dabei überraschend, ungewöhnlich, irritierend verbunden. Statt dem ‚Napalm-Mädchen‘ ein Frosch auf einem Einrad, das ‚Napalm-Mädchen‘ als Teil eines Wettrennens - hier werden Elemente besonders inkongruent verbunden, was eben Humor auslösen soll oder zumindest irritiert und wahlweise ironisch oder zynisch zu wenden ist. Gerade die Spannung zwischen disparaten Elementen, bei gleichzeitiger assoziativer Verknüpfung der Elemente lässt sich in ganz besonderer Weise politisch instrumentalisieren [↓ ‚White American Natives‘]. 283 Abb. 4.45a-d: Wilde Assoziationsverknüpfungen in Memes: Mädchen, Kapuzenmänner, Frösche und Roland McDonald Um dies nur an einem Meme zu verdeutlichen, das im Kontext der rassistischen, rechtsradialen Alt Right-Bewegung populär wurde: Hier wird eine historische Foto‐ grafie eines Native American, genauer eines Häuptlings eines indigenen Stammes, verwendet (Abb. 4.46) und mit folgenden Zeilen verbunden: „Immigranten bedrohen Deine Art zu leben? / Ich weiß, wie Du Dich fühlst, Kumpel.“ 284 Disparat sind hier Text und Bildelemente. Die Fotografie eines Native American, der hier durch den Text als symbolische Verdichtung für das Schicksal der Ureinwohner Amerikas steht, die bekanntlich durch Einwanderer dezimiert, ja Ende des 19. Jahrhunderts nahezu ausgerottet wurden, wird ins Verhältnis gesetzt zur vermeintlichen Bedrohung des ‚weißen Mannes‘ in den USA durch multikulturelle Einwanderung im 21. Jahrhundert. 226 4 Politische Medienikonografie <?page no="227"?> Abb. 4.46: Die ‚weißen‘ Männer des 21. Jahrhunderts sind die ‚native Americans‘ des 19. Jahrhunderts Durch den Text wird nicht einfach nur die existenzielle Bedrohung der Ureinwohner Amerikas durch Einwanderer aus Europa im 18. und 19. Jahrhundert analog gesetzt zur Situation des ‚weißen Mannes‘ der Gegenwart. Diese Analogie ist darüber hinaus höchst überraschend, ja irritierend, eben inkongruent. Diese Inkongruenz wird noch forciert durch die Sprecherrolle, die mit dem Text eingenommen wird. Denn diese ist eine freundschaftliche, ja intime Ansprache durch den Native American in einem Slang (‚Bro‘), der Zeiten (19. Jahrhundert - Gegenwart), Status (Häuptling als Respektperson) und Ethnie (Ureinwohner - weißer Nachkomme von Immigranten) zu überbrücken scheint. Ich möchte behaupten, dass diese Inkongruenzen bewusst gesucht und als solche ausgestellt werden, nicht um dadurch eine Differenz zwischen der Situation der Native Americans und der des ‚weißen Mannes‘ zu markieren, sondern um durch den dadurch erzeugten zynischen Witz - indirekt, assoziativ - doch zu einer vagen Analogie zu kommen [↓ ‚White American Natives‘]. Argumentativ-diskursiv wäre diese In-eins-Setzung schwer vorstellbar. Wie ließe sich ernsthaft die Situation der Ureinwohner mit der des ‚weißes Mannes‘ als Opfer argumentativ herleiten, außer über einen vagen Hinweis darauf, dass durch Einwanderung die prozentuale Zahl der 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 227 <?page no="228"?> 285 Man denke nur an die Tötungen und Vertreibungen der amerikanischen Ureinwohner durch die Einwanderer, die Verträge, die mit ihnen geschlossen und gebrochen wurde. All das scheint doch für den ‚weißen Mann‘ nicht zuzutreffen. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass die naheliegendste Verknüpfung eigentlich darin besteht, dass die Vorfahren des ‚weißen Mannes‘ für die Tötung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung verantwortlich sind. Auch das könnte man unter Umständen als gewollte Inkongruenz lesen, die dann aber doch kaum zu überbieten zynisch wäre. 286 Stäheli, Sichtbarkeit sozialer Systeme, S.-76. 287 Urs Stäheli, Soziologie der Entnetzung, Berlin 2021, S.-165. indigenen Bevölkerung wie des ‚weißen Mannes‘ kleiner wird? 285 Bildlich scheint es einfacher zu sein, eben weil - um noch einmal in Anlehnung an Stäheli zu formulieren - einzelne Bedeutungselemente aus äußerst disparaten Kontexten miteinander in Verbindung gesetzt werden können, ohne dass eine vereinheitlichende begriffliche Logik dem Ganzen zu Grunde liegen muss. 286 Durch Assoziation sind vielmehr dispa‐ rate Elemente ins Verhältnis zu setzen, die ihrer Heterogenität nicht neutralisieren, gleichsam aber in Richtung Analogisierbarkeit der disparaten Elemente weisen und damit daran arbeiten, die Elemente ‚identitär‘ zu machen. Hyper- & Heterokonnektivität Hiermit ist auch eine Verknüpfung zur Hyperkonnektivität gegeben. Denn durch die heterogene, auf Humor durch Inkongruenz angelegte Verknüpfung zweier disparater Elemente, die selbst jeweils populäre Topoi darstellen - Ureinwohner als Opfer, gängig intimisierende Slang-Ansprache -, wird die kommunikative Anschlussmög‐ lichkeiten über eine dezidiert rechtsradikale, rassistische Klientel hinaus auf andere gesellschaftliche Gruppen und Individuen geöffnet und attraktiv gemacht. Aus dieser Perspektive scheint es mir durchaus plausibel, diese Strategie als eine vergleichsweise subtile politische Strategie zu deuten, die wiederum Stäehli in einem anderen Kontext pointiert, wenn er den „Populismus als hyperkonnektive Politik“ 287 beschreibt. Genauer noch und auf den vorliegenden Kontext gewendet lässt sich vielleicht daran anschlie‐ ßend formulieren: Populismus betreibt vorrangig eine hyperwie heterokonnektive Bild-Politik [↓ (2) Polarisierung! ]. Noch wichtiger: Diese disparaten Elemente werden zumeist nicht in einem einheit‐ lichen Sinn aufgelöst, sondern bleiben disparat. Ihre assoziative Verknüpfung löst sich nicht in einer Einheit auf, zielt auch nicht auf eine solche ab. Das ist in vorliegendem Zusammenhang besonders interessant, sind doch die klassische Ikonografie, aber tendenziell auch der Ansatz zu Medienikonen und die Interikonoizitiät letztlich auf der Suche nach einem den Bildern zugrundeliegenden kohärenten Sinn. Es wäre aber ein Fehler, immer nur danach zu suchen. Die Pointe politscher Memes, aber auch vieler klassischer politischer Medienangebote, wie Plakate oder Fotografien, bleibt damit unverstanden, eben, weil es um eine Form von Offenheit und Disparatheit geht, die gerade nicht auf Kohärenz angelegt ist und damit viele Anschlussoptionen herstellt. Noch einmal anders formuliert: Hyperkonnektivität wird durch Heterogeni‐ 228 4 Politische Medienikonografie <?page no="229"?> 288 Allein schon deshalb ist das der Fall, weil es in dieser Einführung nicht um Aspekte der Medi‐ enwirkungsforschung gehen wird, vgl. dazu einführend: Heinz Bonfadelli/ Thomas N. Friemel, Medienwirkungsforschung, Konstanz 6 2017. tät hergestellt. Genau das macht den Ansatz so interessant im Kontext politischer (Medien-)Ikonografie [↓ Politik politischer Memes]. Wozu Hyperkonnektivität? Das Prinzip der Hyper- und Heterokonnektivität ist genau besehen ein Prinzip der Ikonografie. Wie Heterokonnektivität funktioniert Hyperkonnektivität durch historische Referenzen. Im Fall der Hyperkonnektivität stammen die historischen Referenzen vorrangig aus der Populärkultur. Medienikonen [↑ Kap. 3] funktio‐ nieren ganz ähnlich, ebenso die Interikonizität [↑ Kap. 3]. Also warum eigens noch dieses Konzept einführen? Wichtig erscheinen mir dabei vor allem zwei Differenzen. Oder weniger auf Unterschiede fokussiert formuliert: Mit dem Kon‐ zept der Hyper- und Heterokonnektivität ist die Perspektive verschoben. Es geht erstens um die Vielfältigkeit der Anschlüsse. Es ist meist nicht nur eine historische Referenz auszumachen, im Gegensatz zur Interikonizität, sondern viele, um so die Anschlussfähigkeit an eine möglichst große Klientel herzustellen. Zweitens ist die ostentativ ausgestellte Heterogenität ein entscheidender Faktor. Das trifft auf Konzepte der politischen Ikonografie oder der Medienikonen nicht zu. XII. Encoding - Decoding: Aneignung I Ermächtigung Das Prinzip von Hyper- und Heterokonnektivität zielt auf die Deutung von Strukturen und Formen populärer Medienangebote. Über die tatsächliche Aneignung dieser Medienangebote ist damit aber noch nichts formuliert, obwohl wohl zu vermuten ist, dass hyper- und heterokonnektive Angebote sehr unterschiedliche Rezeptionsweisen auslösen, die wiederum unterschiedliche Medienangebote zur Folge haben können. Überhaupt ist der zentrale Fokus der politischen Ikonografie, zumindest wie sie hier bisher dargestellt wurde [↑ Kap. 3], auf Formen und Motive von Bildern und Bildwanderungen angelegt, sehr viel weniger auf ihre Rezeption. Dass beispielsweise Medienikonen nicht nur gemacht werden und zirkulieren, sondern dabei auch sehr spezifische Aneignungen erfahren, ist in Pauls Konzept der Medienikonen zwar angelegt, wird dort aber nicht näher systematisch ausbuchstabiert [↑ Medienikonen], etwas ganz Ähnliches gilt für Warburgs autonome Bildfahrzeuge und Pathosformeln [↑ Kap. 3, Autonome Bildfahrzeuge; ↑ Pathosformel]. Dieses Desiderat lässt sich hier nicht ausräumen, 288 aber zumindest aus einer Perspektive bearbeiten, die sich im Kontext der 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 229 <?page no="230"?> 289 Vgl. knapp dazu einführend: Grampp, Medienwissenschaft, S.-125ff. 290 Vgl. in deutschsprachige Übersetzung: Stuart Hall, Kodieren/ Dekodieren [1973], in: Ralf Adelmann u.-a. (Hg.): Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft, Konstanz 2002, S.-105-124. 291 Vgl. dazu z.T. wortidentisch bereits: Grampp, Medienwissenschaft, S.-128ff. Cultural Studies etabliert hat. 289 Speziell meine ich einen Ansatz von Stuart Hall, den dieser verdichtet in einem Aufsatz mit dem Titel Encoding/ Decoding vorstellt. 290 Die Grundannahme dieses Ansatzes ist so einfach wie folgenschwer: Rezipient: in‐ nen werden in kommunikativen Prozessen selbst produktiv. Sie sind nicht passive Empfänger: innen, die die vom Sender übermittelten Botschaften entweder richtig oder falsch verstehen, die durch die Botschaften einfach manipuliert, unterhalten oder informiert werden. 291 Hall argumentiert in diesem Zusammenhang, wie der Titel seines Aufsatzes unschwer zu erkennen gibt, aus semiotischer Perspektive. Ihm geht es aber nicht darum, dass Codierungen klaren Bedeutungen zuzuweisen sind, sondern im Gegenteil: Alle kommunikativen Zeichenprozesse, so das Argument, sind immer mehrdeutig. Hall selbst nennt dies die Polysemie der Zeichen. In der Sprachwissenschaft sind polysemische Ausdrücke solche, die mehrere Bedeutungen haben können, etwa kann ein Pferd ein Tier, ein Turm im Schachspiel oder ein Sportgerät bezeichnen. Hall radikalisiert dieses sprachwissenschaftliche Verständnis, indem er diesen Sachverhalt auf alle Zeichenprozesse überträgt. Das bedeutet erst mal nichts anderes, als dass Zei‐ chen in unterschiedlichen Kontexten und/ oder zu verschiedenen Zeitpunkten und/ oder von differenten Menschen unterschiedlich verstanden werden können. Bedeutungen sind also niemals prinzipiell fixierbar, auch nicht vom Sender der Botschaft. Wie die Empfänger: innen die vom Sender encodierten, also verschlüsselten, Botschaften decodieren, also entschlüsseln, ist nicht vom Sender kontrollierbar. Dieser Umstand macht aus der je spezifischen Aneignung der Rezipient: innen einen aktiven und damit wichtigen Bestandteil von Kommunikationsprozessen. So verstanden werden die Rezipient: innen ermächtigt bzw. können sich selbst ermächtigen, die Botschaft kreativ, nach den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Kontexten umzudeuten, zu bearbeiten und unter Umständen so durch weitere mediale Artefakte, etwa Bilder, selbst zu kommunizieren. Hall schlägt also vor, Rezeptionsvorgänge als eine produktive Auseinandersetzung mit medialen Angeboten und somit als kreative Aneignung ihrer Botschaft zu verste‐ hen. Dabei unterscheidet er drei unterschiedliche Lesarten: die (1) konformistische, die (2) oppositionelle und die (3) aushandelnde. Lesarten (nach Stuart Hall) (1) Konformistische Lesart (dominant/ hegenomic position) Hierbei verstehen und akzeptieren die Rezipient: innen die Botschaft im Sinn des Senders. Sie richten ihr Denken, Fühlen, Handeln und Kommunizieren danach aus oder akzeptieren zumindest die Botschaft. 230 4 Politische Medienikonografie <?page no="231"?> (2) Oppositionelle Lesart (oppositional position) Die Rezpient: innen verstehen bei dieser Einstellung die Absicht des Senders, aber verweigern sich dieser und nehmen eine dieser Botschaft widerständige, ja entgegengesetzte Position ein. (3) Aushandelnde Lesart (negotiated position) Darunter fallen all die Lesarten, die zwischen den beiden Extremen der konformis‐ tischen und der oppositionellen Lesart liegen. Rezipient: innen akzeptieren einen Teil der Botschaft und zeigen sich skeptisch gegen andere. An Halls drei Lesarten lässt sich noch eine weitere Lesart hinzufügen: (4) Verschiebende Lesart (shifting position) Damit sollen all die Lesarten bezeichnet werden, die die Ausgangsbotschaft in ein neues semantisches Feld versetzen und so neue Bedeutungen und Assoziationen erzeugen. Die Besonderheit der vierten Lesart besteht nicht nur darin, dass sie bei Hall nicht vorkommt, sondern auch darin, dass diese Lesart mit allen anderen Les‐ arten verknüpft sein kann, verschiebende Lesarten können mit konformistischen, oppositionellen und/ oder aushandelnden einhergehen. An einem einfachen Beispiel sollen die vier Lesarten veranschaulicht werden. Das Titel‐ bild der Spiegel-Ausgabe vom 4. Februar 2017 zeigt Donald Trump, der augenscheinlich gerade der Freiheitstatue den Kopf abgeschlagen hat (vgl. Abb. 4.47, erste Spalte). Betitelt ist das Bild mit Trumps Slogan „America First“. Die Botschaft des Senders dürfte recht deutlich zu entschlüsseln sein: Trump attackiert bzw. zerstört die Grundpfeiler der ‚freien‘, demokratischen Welt. Eine konformistische Lesart übernimmt diese Bot‐ schaft und trägt sie in die Welt, so etwa geschehen auf einer Demonstration gegen Trumps Politik in Denver (vgl. Abb. 4.47, zweite Spalte). Dort wurde des Spiegel-Cover aufgegriffen und auf Plakaten durch die Straßen getragen. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 231 <?page no="232"?> Sender- Botschaft Konformistische Lesart Oppositionelle Lesart Aushandelnde Lesart Verschiebende Lesart Abb. 4.47: Lesarten von Trump bis Merkel Eine oppositionelle Lesart liegt hingegen im Fall einer Bild-Text-Montage vor, die von der Partei AFD per Twitter in Umlauf gebracht wurde (vgl. Abb. 4.47, dritte Spalte). Dorf finden sich vor dem Hintergrund des Spiegel-Titelbildes Zitate aus der deutschsprachigen Presse, die allesamt harsche und polemische Urteile über die Person Trump fällen. Diese Einstellung wird nicht weniger polemisch kritisiert mit den Worten: „Kein intelligentes Leben mehr? In deutschen Redaktionen scheint es bereits ausgestorben zu sein.“ Die oppositionelle Lesart der AFD ließe sich ungefähr folgendermaßen ausbuchstabieren: ‚Die Agenten der ‚Lügenpresse‘ - also aus Sicht der AFD, die Institutionen der öffentlich-rechtlichen Medien und die sogenannte Qua‐ litätspresse - manipulieren uns oder sind doch die zentralen Instanzen hegemonialer Meinungsmache, die andere Meinungen und Bedürfnisse unterdrücken.‘ Solch ein Tweet stellt insofern ein Gegenentwurf der Gegenöffentlichkeit dar, als er - so die Suggestion - via sozialer Medien endlich in die Lage versetzt, sich zu ermächtigen, andere Meinungen, ‚alternative Wahrheiten‘ und Bedürfnisse, eben eine ‚alternative‘ Politik für Deutschland artikulieren zu können. Eine aushandelnde Lesart findet sich wiederum in einem Artikel der taz. Dort wird einerseits die Polemik des Spiegel-Titelbildes kritisiert. Anderseits wird auf eine alternative visuelle Gestaltung verwiesen, etwa auf das Titelbild des New Yorker, auf dem sich die erloschene Fackel der Freiheitsstatue findet (vgl. Abb. 4.47, vierte Spalte). Aushandelnd ist diese Lesart insofern, als hier zwar die Art der Darstellung des Spiegels kritisiert, aber dennoch die prinzipielle kritische Haltung gegen Trumps Politik geteilt wird. Zusätzlich wird eine alternative Form der visuellen Ausgestaltung dieser Kritik vorgestellt. 232 4 Politische Medienikonografie <?page no="233"?> Eine verschiebende Lesart findet sich wieder auf dem AFD-Twitter-Kanal (vgl. Abb. 4.47, fünfte Spalte). Dort ist Angela Merkel dargestellt, die mit derselben Geste wie Trump ein blutverschmiertes Messer in der Hand hält. Darauf findet sich ein Halbmond. In der anderen Hand hält Merkel ein Exemplar des Grundgesetzes, das in Flammen steht. Damit wird aber nicht die Freiheitsstatue geköpft. Statt ‚America First‘ ist hier zu lesen: „Wir schaffen das schon“ - ein Zitat von Merkel, das für den problematischen Umgang der Regierung mit syrischen Flüchtlingen sprichwörtlich wurde. Es geht hier also nicht mehr um Trump, um die USA und deren Freiheitsbeschränkung, sondern um Merkel, Deutschland und die Flüchtlingspolitik, die kritisiert wird. Diese Lesart verschiebt also den Fokus - und ist gleichzeitig deutlich als oppositionelle Lesart ausgewiesen, wird doch impliziert: Trumps Freiheitsbeschränkungen und sein Fokus auf das Nationale sind die richtige Politik, die unkontrollierte Grenzöffnung Merkels hingegen sind es im Gegensatz dazu eben nicht. Bilder-Encoding Bilder sind erst einmal auch als Träger von Codes im Sinne von Hall zu verstehen. Bilder haben aber - zumindest, wenn man der Argumentation von Nelson Goodman folgen will [↑ Was Bilder sind] - eine besondere Codierungsform. Zur Erinnerung: Laut Goodman sind Bildcodierungen zentral bestimmt durch syntaktische und semantische Dichte, bei denen jede minimale Änderung eines Details die Gesamtbedeutung verän‐ dern kann. Zudem gibt es keine endliche Menge von eindeutig zu differenzierenden Zeichen. Beide Aspekte führen dazu, dass Bilder bedeutungsoffener sind als etwa sprachliche Codierungssysteme. Nimmt man das ernst, dann bedeutet das für das Encoding/ Decoding-Modell Halls zweierlei: Erstens ist die Bedeutung eines Bildes sehr viel schwieriger zu entschlüsseln als die sprachlicher Zeichen. Zweitens können genau deswegen Bilder mit nur geringem Aufwand, eben durch minimale Modifikationen, eine neue Bedeutung erhalten. So können Rezipienten: innen vergleichsweise einfach die Ausgangsbotschaft umcodieren und damit neu ausrichten. Um dafür noch einmal auf den Tweet der AFD zurückzukommen: Dort wird zum einen vorgefundenes Bildmaterial aufgegriffen und mit einfachsten Softwaremitteln modifiziert (vgl. noch einmal Abb. 4.47, letzte Spalte). Zum anderen wird die Bildbe‐ deutung durch Textelemente fixiert und also die Bedeutung im Sinne Barthes deutlich neu oppositionell ausgerichtet [↑ V. Bild-Texte-Verhältnisse]. Ähnliches ließe ich anhand des Hope Poster leicht zeigen, wurde dieses Poster doch schnell zu einem Meme, das in allen möglichen Varianten dominierender, oppositio‐ neller, aushandelnder und verschiebender Lesarten in Umlauf gebracht wurde (vgl. noch einmal Abb. 3.24, 2.14a-d). Memes scheinen ganz prinzipiell der Prozessualität permanenter Variation, Umsemantisierung, Bearbeitung zu unterliegen [↓ Meme-Se‐ rien] und lassen sich dementsprechend mit Halls Kategorien beschreiben, nämlich als permanente Encoding/ Decoding-(Neu)Verkettungen. Damit sind sie als Reihen oder Serien aktiver Lesarten der Rezpient: innen auch und gerade im Kontext politischer 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 233 <?page no="234"?> 292 Vgl. dazu bspw.: Julie Webber u. a., The Political Force of the Comedic, in: Contemporary Political Theory, 20 (2021), S. 419-446, Online zugänglich unter: https: / / doi.org/ 10.1057/ s41296-020-00451-z [19.12.22]. Oder knapp: Dirk von Gehlen, Meme. Muster digitaler Kommunikation, Berlin 2020, S. 53f. 293 Zu Geschichte und Struktur dieser Plattform vgl. ausführlicher: Matthew Brennan, Attention Factory: The Story of TikTok and China’s ByteDance, o.-O. 2020. Bilder, Bildwanderungen und deren Neuausrichtungen untersuchen. Vor allem im Kontext sozialer Medien bzw. digitaler Plattformen ist diese Perspektive interessant, kommen doch so nicht mehr nur die traditionellen Medieninstitutionen und -experten - Fernsehen, Zeitungen, Journalist: innen, Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen oder politischer Parteien - in den Blick, sondern eben auch ganz andere Akteure [↓ Infrastruktur]. Lippensynchronie als oppositionelle Lesart Um in diesem Zusammenhang auf eine besondere Form politischen Widerstands hinzuweisen, sei auf Sarah Coopers Trump-Parodien eingegangen, die sie ab Frühjahr 2020 auf der Plattform TikTok veröffentlichte und die schnell nahezu weltweit bekannt wurden. 292 Cooper bediente sich hierfür einer Darstellungsform, für die TikTok bekannt ist, wurden und werden dort doch vorrangig kurze Videos hochgeladen, die Personen tanzend zu populärer Musik und lippensynchron die Gesangspassagen imitierend zeigen. 293 Cooper greift diese Imitationsform auf. Zu hören ist dabei aber keine Musik, sondern O-Töne aus Reden und Interviews des damaligen Präsidenten Trump. Ein kurzes Video zeigt Cooper beispielsweise vor einem Whiteboard, während wir eine Ansprache Trumps zur Corona-Impfsituation in den USA hören (vgl. Abb. 4.48a-c). Coopers Mimik ist, während sie Trumps Worte lippensynchron nachahmt, einerseits sehr theatral ausgerichtet. Cooper öffnet etwa den Mund übertrieben stark. Anderseits zieht sie dazwischen immer wieder Grimassen, die andeuten sollen, dass der Sprecher gerade nachdenkt, verwirrt ist, in eine andere Richtung weiter argumentiert. Das Whi‐ teboard im Hintergrund zeigt ein Diagramm, mit Zahlen und Kurven zu Corona-Toten. Auf dieses Diagramm verweist Cooper immer wieder, während Trump aus dem Off Zahlen äußert und dabei verlauten lässt, dass ‚wir‘ in Sachen Corona-Toten sehr erfolgreich sind. 234 4 Politische Medienikonografie <?page no="235"?> 294 Originaltitel: ZZ Packer, Sarah Cooper Doesn’t Mimic Trump. She Exposes Him, in: The New York Times, 25.06.2020, Online zugänglich: Online zugänglich unter: https: / / www.nytimes.com/ 2020/ 06/ 25/ magazine/ sarah-cooper-doesnt-mimic-trump-she-exposes-him.html [16.12.22]. Abb. 4.48a-c: Lesartenbewegung: konformistisch → verschiebend →-oppositionell Im Sinne Halls könnte man in einem ersten Zugriff formulieren, hier handle es sich um eine konformistische Lesart, ahmt Cooper doch augenscheinlich Trump nach. Doch dürfte schnell klar werden, dass es sich vielmehr um eine verschiebende Lesart handelt, ist doch die Diskrepanz zwischen den Personen (Cooper ist eine junge, schlanke, afroamerikanische Frau, Trump ein vergleichsweise alter, voluminöser, weißer Mann), dem Setting (Trumps öffentliche Ansprache vs. Coopers Aufnahmen in einem privaten Setting) sowie der Mimik (die ausgestellt karikaturhafte Kopf-, Augen- und Mundbewegungen Coopers bei ihrer Lippensynchronie) so groß, dass damit klar markiert wird, hier liegt eine Differenz und insofern eine Verschiebung vor. Diese Verschiebung mündet in eine oppositionelle Lesart, da Cooper mit diesen Differenzen, ihren Übertreibungen und der damit deutlich ausgestellten Inkongruenz satirisch auf Trumps Ansprache reagiert. Durch das Minenspiel, bei dem Cooper nicht nur Grimassen zieht, wenn Trump Pausen macht und immer wieder neu ansetzt, sondern auch akzentuiert, wo Trump sich in Widersprüche verstrickt, wo er ohne Zusammenhang zum vorhergehenden abrupt ein anderes Thema anschneidet oder auch wenn er vom Erfolg bei den Toten spricht, obwohl er wahrscheinlich eigentlich vom Erfolg bei der Bekämpfung (neuer) Todesfälle sprechen wollte. In der New York Times wurde ein Text dazu veröffentlicht, der diesen Umstand im Titel klar formuliert. Dort ist zu lesen: „Sarah Cooper imitiert Trump nicht. Sie entlarvt ihn“ 294 . 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 235 <?page no="236"?> 295 Vgl. dazu instruktiv: Herbert Schwaab, The Carnival is Over. Roseanne Barr, Donald Trump und die Cultural Studies, in: Dominik Maeder u. a. (Hg.), Trump und das Fernsehen. Medien, Realität, Affekt, Politik, Köln 2020, S.-342-373. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang: Es handelt es sich um eine kreative Lesart im Sinne Halls. Eine Ansprache des US-amerikanischen Präsidenten Trump, die während einer Pressekonferenz im Weißen Haus vor Journalisten: innen gehalten und im Fernsehen übertragen wurde, also in einem institutionalisierten Machtbereich und innerhalb einer traditionell massenmedialen Infrastruktur, wird von Cooper aufgegriffen und in Form einer oppositionelle Lesart in einem sozialen Medium, mit vergleichsweise einfachen Mitteln, veröffentlicht. Damit wird am ‚Flaschenhals‘ klassischer massenmedialer Berichterstattung vorbei eine oppositionelle Lesart öffent‐ lich. Die vermeintlich passiven Rezipient: innen werden durch solche soziale Medien animiert, selbst aktiver, kreative, in diesem Fall subversiv-politische Verlautbarungen zu äußern. Einher geht damit eine Ermächtigung (empowerment) der Rezipient: innen, die mit digitalen Plattformen wie TikTok aus einer marginalisierten, weil nicht unmit‐ telbar selbst öffentlich sichtbare Rolle, heraustreten und eigene Bedürfnisse oder eben politische Meinungen veröffentlichen können. Trump, Thanos, Joker und die produktiven Lesarten der Cultural Studies Solch eine subversive Aneignung politischer Verlautbarungen der Mächtigen ist nicht nur ein Gegenstand der in Nachfolge Halls forschenden Cultural Studies. Diese Art kreativ-subversiver Ermächtigung galt auch lange Zeit geradezu als sozialpolitische Agenda der Cultural Studies. Denn es ging nicht nur darum, Minderheiten, marginalisierte, nicht in der Öffentlichkeit erscheinende Gruppen zu untersuchen, sondern ihnen ebenso mit und in der Forschung eine Stimme zu geben und dementsprechend die herrschenden sozialpolitischen Verhältnisse zu kritisieren [↑ XII: Encoding - Decoding]. Interessant ist im Kontext politischer Medienikonografie, dass diese dezidiert sozialpolitische Ausrichtung der Cultural Studies in die Krise geraten ist, und zwar dadurch, dass sich inzwischen ganz anders ausgerichtete politische Akteure und Kollektive - konservative, nationalistische, homophobe, xenophobe und/ oder bereits mächtige - genau dieser Strategien und Selbstbeschreibungen bedienen, die die Cultural Studies zur Stärkung einer gerech‐ teren, sozialeren, liberaleren, vielfältigeren Gesellschaft stark gemacht hatten [↓ Right Wing Cultural Studies]. 295 Ein Beispiel hierfür ist - wenig verwunderlich - Trump selbst, ist er doch nicht nur Ziel politischer Kritik und Selbstermächtigung oppositioneller Akteure und Akteurinnen, sondern hier bedient sich ein politisch ‚Mächtiger‘ der Formen und Strategien verschiebender und oppositioneller Lesar‐ ten. 236 4 Politische Medienikonografie <?page no="237"?> 296 Vgl. bspw.: Dirk von Gehlen, Mashup. Lob der Kopie, Frankfurt am Main 2011. Um hier nur einen konkreten Fall in diesem Zusammenhang anzuführen: Es gibt ein Video, das vergleichsweise große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Darin wird Trump mit dem Titanen und Superschurken Thanos aus dem Film Avengers: Infinity Wars gekreuzt. Thanos ist so mächtig, dass er mit einem Schnippen die Hälfte der Menschheit auslöscht. Trump wird im Video zu Thanos, in dem Trumps Kopf auf den muskelbepackten Körper von Thanos gesetzt wird (vgl. Abb. 4.49). Dieses Beispiel scheint mir aus mehreren Gründen geeignet, zu zeigen, dass einerseits grundlegende Strategien der hall’schen Variante der Cultural Studies hier am Werke sind, anderseits die politische Agenda der Cultural Studies dabei unterminiert wird. Abb. 4.49: Trumps Lesart der Cultural Studies Erstens erscheint dieses Video wie ein handwerklich alles andere als perfekt gemachtes Artefakt und erhält somit in gewisser Weise die Form eines ‚Fanvi‐ deos‘ (kein Medienstudio steht dahinter, nicht die allerbeste Software etc.). Das Video operiert mit einem in der Populärkultur sehr beliebten Format, das sich in vielen Angeboten etwa auf Videoplattformen wie YouTube findet, nämlich die Verschränkung unterschiedlichen, bereits existierenden Bildmaterials, wodurch ein Phänomen, eine Figur, eine Person neu perspektiviert oder gedeutet werden kann. Kurz: Es handelt sich um das Prinzip des Mash-up. 296 In vorliegendem Fall werden Merkmale von Thanos auf Trump per Analogie übertragen, also 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 237 <?page no="238"?> 297 Die weiter oben angeführte Parodie von Cooper auf Trump funktioniert ja nur, weil sie auf weitläufig bekanntes Material zurückgreift. Würden nur wenige Trump bzw. seine Reden und Interviews kennen, wäre die Parodie gar für die allermeisten gar nicht als solche verständlich. letztlich eine recht einfache Operation der Interikonizität vorgenommen [↑ Kap. 3, Interikonizität]. Zweitens: Da die Figur Thanos aus einer Filmreihe stammt, die bis dato welt‐ weit mit am erfolgreichsten ist, was Zuschauerzahlen und Einnahmen betrifft, dürfte klar sein, dass die Figuren daraus bekannt und also wiedererkennbar sind. Speziell Thanos Schnippen wurde rasch populär und so zur dominanten Charakterisierungsgeste dieser Figur, womit sie als Element zur Herstellung von Hyperkonnektivität in der Populärkultur - unmittelbare Erkennbarkeit, hohe Anschlussmöglichkeit - geradezu prädestiniert ist [↑ Hyperkonnektivität]. Auch das ist ein Merkmal vieler aktiver Lesarten im Sinne Halls. 297 Drittens: Da die Pointe dieses Fingerschnippens darin besteht, dass die halbe Menschheit ausgelöscht wurde von einem Gegner der Avengers, also der Superhel‐ den, die für das ‚Gute‘ kämpfen, waren viele Kommentator: innen dieses Videos hochgradig irritiert. Dass sich der US-amerikanische Präsident selbst als massen‐ mordender Superschurke in Szene setzt, dürfte durchaus recht überraschenden Neuigkeitswert haben. Vielen der Kommentare entgeht aber die eigentliche Pointe dieses Videos: Trump ist ja angetreten, um gegen das ‚Establishment‘ (‚Avengers‘) vorzugehen - den ‚Sumpf in Washington auszutrocknen‘, das war einer der zentra‐ len Slogans seiner Wahlkämpfe und Regierungsversprechen [↑ Kap. 3, Diachrone Bezugnahmen] - und sich nicht an politisch korrekte Regeln zu halten. Er ist nicht nur mächtig, sondern schert sich nicht um Regeln, ist unberechenbar und anarchistisch, also all das, was die Cultural Studies an so gearteten kreativen wie subversiven Aneignungen und Selbstermächtigung feiern. Im Sinne Halls ist damit zunächst eine verschiebende Lesart verbunden, von Thanos/ Avengers/ fiktionalem Kosmos zu Trump/ Präsident/ Wahlkampf. Damit einher geht eine oppositionelle Lesart. Diesmal aber nicht bezogen auf Thanos’ Rolle, sondern mit Referenz auf die Rolle des Präsidenten und die Erwartungen, die in diese Rolle gesetzt werden. In diesem Video werden diese regelrecht umgestülpt: der Präsident als Massenmörder, moralisch nicht integer, mit Spaß an der Zerstörung. Dies ist wiederum als Selbstermächtigung zu verstehen in einem sehr konkreten Sinne: Der Präsident löst sich aus der ihm zugewiesenen Rolle, ja aus dem Korsett sich politisch korrekt verhalten zu müssen. Damit zeigt Trump seinen eigentlichen Machtanspruch, der in der Erfüllung einer Rolle nicht nur nicht aufgeht, sondern diese unterwandert. Es wurde bereits formuliert: Diese Aneignung von subversiven Strategien und Lesarten durch ‚konservative, nationalistische Mächtige‘ ist in diesem Fall zwar das 238 4 Politische Medienikonografie <?page no="239"?> 298 Vgl. dazu knapp und forsch: Vinzenz Hediger, Trump Fans: Warum lieben ihn so viele? , in: FAZ, 07.10.2020, Online zugänglich unter: https: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ trump-als-idol-warum-i hn-so-viele-lieben-16988988.html [23.11.2020]. 299 So nachzulesen im Titel von Neil Postmans Buch Wir amüsieren uns zu Tode, ein Buch, in dem Postman den Abgesang auf den politisch-rationalen Diskurs vor dem Hintergrund des Siegeszugs des Fernsehens in den USA bereits in den 1980er-Jahren anstimmte. Vgl.: Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main 1988. Gegenteil der politischen Ziele der Cultural Studies, entspricht aber sehr genau den Strategien, die Anhäger: innen der Cultural Studies vorschlagen. Das ist durchaus irritierend und erstaunlich [↓ Right Wing Cultural Studies]. Davon aber einmal ab‐ gesehen, liefert Halls Konzept ein geeignetes Analyse- und Interpretationsschema für diese Art von Artikulationsweisen. Dieser Blickwinkel lässt sich verallgemeinern: Deutlich wird dies bereits mit einem kurzen Blick auf die politischen Kommentare in der sogenannten Qualitätspresse, aber auch in den Verlautbarungen der Politikwissenschaft. Dort ist man nicht nur irritiert angesichts Trumps Verhalten, sondern geradezu ratlos. Keine der gängigen politikwissenschaftlichen Kategorien scheint anwendbar. Diskursive Aushandlung ist hier ganz sicher kein geeignetes Konzept, genauso wenig aber Erklärungsversuche, die auf charismatische Führer setzen, auf moralische Kate‐ gorien, klare ideologische Programme, Machterhalt durch Intransparenz - all das scheint hier nicht zu greifen. Deshalb könnte mit einigem Recht behauptet werden, dass Untersuchungen medialer Strategien, deren Grundlage die kreative bzw. subversive Aneignung vorgängigen populärkulturellen Materials darstellen, wie es eine Basisoperation der Cultural Studies darstellt, sehr viel hilfreicher zur Erklärung des Phänomens Trump sein könnten. 298 Um noch eine Drehung zu vollziehen, die meines Erachtens ein Grund mehr liefert, gerade die politische Sphäre aus Perspektive der Cultural Studies zu beleuchten: Freilich nicht nur, aber doch nicht zuletzt aufgrund der Präsidentschaft Trumps und der damit einhergehenden sehr speziellen Kommunikations- und Bildstrategien ist es nicht nur so, dass Politik vermehrt, ja exzessiv mit populärkulturellem Material operiert, sondern genauso gilt umgekehrt: Die Populärkultur selbst wurde im Zuge dessen stark politisiert. Und das ist zumindest aus Sicht derjenigen überraschend, die die Unterhaltungsindustrie und die damit einhergehende Populärkultur als Mittel zur Entpolitisierung verstehen und im Zweifelsfalls aburteilen als Mittel ‚uns zu Tode zu amüsieren‘. 299 „Stattdessen“, so schreibt der Amerikanist Johannes Völz, „setzte […] ein Prozess der Hyperpolitisierung ein. Bestand die Befürchtung des späten 20. Jahrhunderts noch darin, dass Politik, Religion, Wirtschaft, Bildung und Sport auf bedeutungslose Oberflächen reduziert wurden, zeichnet sich nun 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 239 <?page no="240"?> 300 Johannes Völz, Das Zeitalter der Hyperpolitisierung, in: Zeit Online, 05.11.2020, Online zugänglich unter: https: / / www.zeit.de/ kultur/ 2020-11/ demokratie-usa-donald-trump-stephen-colbert-politisier ung-unterhaltung [23.11.20]. 301 Vgl. dazu knapp: viewfromaloft, Evolution of Obama as The Joker [11.08.11], Online zugänglich unter: https: / / viewfromaloft.typepad.com/ viewfromaloft/ 2009/ 08/ evolution-of-obama-as-the-joker. html [05.12.22]. ab, dass sich eine durchkosmetisierte Welt besonders gut dafür eignet, mit neuer - politischer - Bedeutung aufgeladen zu werden.“ 300 Nicht mehr nur das ironische Spiel der Aneignung, die Umschreibung vorgängigen Materials, die Artikulation eigener Interessen oder die exzessive Beschäftigung mit Stars und Sternchen stehen im Zentrum populärkultureller Verlautbarungen, sondern immer mehr explizit politische Verlautbarungen, die zumeist mit klaren und hochgradig affektbesetzten Freund-/ Feindbildern aus der politischen Semantik operieren, also auf Konflikt ausgelegt sind. Damit verbunden sind Ziele, wie Arti‐ kulation politische Handlungsprogramme, Werbung für politische Einstellungen oder Erzeugung von Unwohlsein hinsichtlich der gegenwärtigen sozialpolitischen Situation [↓ Metapolitik] - und zwar mit den Mitteln, Formen und Motiven der Populärkultur. Abb. 4.50a-c: Hyperpolitisierung der Populärkultur: von Obama zu Joker Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert die allmähliche Verwandlung von Obama zu Joker. 301 Ist der Ausgangspunkt noch ein Titelbild eines klassischen Massenme‐ diums, auf dem eine Fotografie Obamas reproduziert wird und die Frage gestellt wird, ob Obama der nächste Präsident sein könnte (vgl. Abb. 4.50a), so gibt es eine ‚Umarbeitung‘ von Obama, der nunmehr mit Schminke zu Joker, dem Superschurken aus dem Spielfilm The Dark Knight gemacht wird (vgl. Abb. 4.50b), die kurz darauf völlig losgelöst vom Time-Magazin-Cover als Meme mit dem 240 4 Politische Medienikonografie <?page no="241"?> 302 Völz, Zeitalter der Hyperpolitisierung. 303 Vgl. dazu instruktiv und an vielen Beispielen illustriert: Strick, Rechte Gefühle. 304 Vgl. dazu und zum Folgenden: Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1990, S.-35ff. 305 Roy Grundmann, Punktum [12.10.12], in: Lexikon der Filmbegriffe, Online zugänglich: https: / / filml exikon.uni-kiel.de/ doku.php/ p: punktum-1529 [14.10.21]. 306 Barthes, Helle Kammer, S.-35. Deutungszusatz „socialism“ in diversen sozialen Medien zirkulierte (vgl. Abb. 4.50c). Von der Ankündigung einer Illustrierten über eine mögliche Präsidentschaft zu Obamas Verunglimpfung als Joker, der einer sozialistischen Agenda folgt, geht die polarisierende Zuspitzung und mündet so in ein politisches Schlagbild [↑ Kap. 3, Schlagbilder] der Populärkultur. Statt Entpolitisierung in und durch Populärkultur lässt sich somit genau umgekehrt eine „Hyperpolitisierung“ 302 in und durch die Populärkultur konstatieren. Dementsprechend scheinen Instrumentarien der Cultural Studies durchaus brauchbar, um insbesondere die visuellen Grundme‐ chanismen einer ‚hyperpolitisierten‘ Populärkultur zu verstehen [↓ Metapolitik]. 303 XIII. Punctum - Subversive Bildelemente Nach Roland Barthes gibt es neben Bildintentionen und kreativem Rezeptionsakt noch einen anderen Faktor, der für die Analyse von Bildern, insbesondere von Fotografien, relevant ist. Barthes verdeutlicht dies anhand der Gegenüberstellung von punctum und studium. 304 Studium ist das, was der Bildintention zugrunde liegt. Durch die Analyse der studium-Elemente erfahren wir etwas darüber, für welche Zwecke Bilder hergestellt sind, welche Formen dafür benutzt werden, was auf einem Bild dokumentiert werden soll etc. All das sind Aspekte, die in einer konventionellen ikonografischen Lektüre relevant werden [↑ Kap. 2, Ikonografie]. Das punctum hingegen ist ein zunächst unscheinbares fotografisches Detail, das die Aufmerksamkeit des Rezipienten oder der Rezipientin auf sich zieht, ohne dass es Bestandteil der Gesamtkonzeption ist oder auch nur von den Bildproduzent: innen strategisch platziert wurde (oder doch zumindest so erscheint). Das punctum, so schreibt Barthes, „nistet sich subversiv in den dominanten Bildinhalt ein“ 305 und kann zum dominanten Rezeptionseindruck werden. Diese punctum „selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren“ 306 , wie Barthes metaphorisch formuliert. Spannend an diesem Konzept ist, dass das punctum auch in und für die Rezeption politischer Bilder relevant werden kann. Egal, wie subjektiv der Eindruck solch eines punctum auch sein mag, unabhängig davon, ob es vielleicht doch ganz subtil intendiert gewesen sein mag, so werden häufig fotografische oder auch videografische Elemente als punctum verstanden und kommuniziert. Zumeist soll damit auf etwas sonst Unbedachtes oder kaum Sichtbares hingewiesen werden, das für das Verständnis 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 241 <?page no="242"?> einer Situation oder einer Person von entscheidender Bedeutung ist oder zumindest sein könnte, sich neben und jenseits der jeweiligen Inszenierungen und Strategien aus Versehen, unbedacht, unkontrolliert, zufällig zeigt. Mit Fokus auf solch ein punctum soll häufig darüber aufgeklärt werden, was eigentlich hinter den Inszenierungen und Darstellungsstrategien stattfindet und im Bild selbst unterlaufen werden. Das punctum wird so zu einem Politikum, genauer das Auffinden eines solchen zu einer investigativen politischen Praxis. ‚Hillarys Hand‘ als punctum Ein Beispiel hierfür wurde bereits im vorangegangenen Kapitel behandelt, nämlich ‚Hillarys Hand ‘ [↑ Kap., 3, Über Gesichter, Hände und Knie]. Diese Hand findet sich auf einer Fotografie, die Teile der damaligen US-amerikanische Regierung und Militärs zeigt, wie diese die Liquidierung von Osama Bin Laden via Live-Stream im Situation Room betrachten. Hillarys Hand funktioniert hier insofern als punctum, als sie aus dem Gesamtensemble heraussticht (vgl. Abb. 4.51). Keiner der anderen Akteure hat auch nur annährend eine ähnliche Gestik wie Hillary Clinton. Die meisten, überwiegend männlichen Akteure haben die Arme verschränkt, an ihren Körpern angelehnt, die Hände auf Stuhllehnen gelegt oder ineinander gefaltet. Gerade durch die Differenz von passiver, ablehnender oder, wie im Fall von Obama, entspannter Gestik von Händen und Armen zu Clintons horizontal nach oben gerichteten, auf den Mund gelegten Hand, sticht letztgenannte Geste besonders aus dem Bildzusammenhang heraus. 242 4 Politische Medienikonografie <?page no="243"?> 307 Vgl. zu diesen Aspekten ausführlicher: Kaupert/ Leser (Hg.), Hillarys Hand. Zu einer ganz anderen Deutung von ,Hillarys Handʻ, nämlich als strategisch gesetztem Gegengewicht zu den ,männlichenʻ Gesten im Bild vgl. Boris Traue, Geschlechterstereotype in der propagandistischen Kommunikation, in: Kanter u.-a. (Hg.), Bilder, soziale Medien und das Politische, S.-51-76. Abb. 4.51: ‚Hillarys Hand‘ als punctum Subversiv ist dieses Detail, weil es der vermeintlichen Bildintention zuwiderläuft. Wurde dieses Bild doch vom offiziellen Fotografen des Weißen Hauses geschossen und als autorisierte Bildvorlage an die Presse weitergeben. Es wurde dabei sehr darauf geachtet, die Ermordung selbst nicht zu zeigen, sondern eben die Beobachter: innen, die den Auftrag dazu gaben. So soll der Eindruck vermittelt werden, dass der Auftrag ‚erledigt wurde‘ und mehr noch: die Regierungselite sich selbst davon live überzeugt und dies ohne größere Rührung, Freudentaumel oder sonstigen Gefühlsäußerungen. Professionell, distanziert und voller Gewissheit, dass dieser ‚Job‘ endlich erledigt werden musste. Zumindest scheint mir diese Deutung - auch und gerade vor dem Hintergrund der Bildpolitik des Weißen Hauses unter Obama - plausibel. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch nachvollvollziehbar, dass die aus dem Rahmen fallende Geste Clintons in der Rezeption zu ‚Hillarys Hand‘ werden konnte und eine kontrovers geführte Diskussion um die ‚wahre‘ Bedeutung dieser Geste in der Öffentlichkeit geführt wurde bzw. diese Geste politisch instrumentalisiert werden konnte, um die politische Führungskraft Clintons anzuzweifeln. 307 Ob die Geste selbst zufällig war, ganz andere Motivation hatte, ein tatsächlicher Ausdruck von Mitgefühl ist, ist dabei 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 243 <?page no="244"?> 308 Vgl. dazu bspw.: Edward Helmore, Anger as grinning Trump gives thumbs-up while Melania holds El Paso orphan, in: The Guardian, 09.08.2019, Online zugänglich unter: https: / / www.theguardian.co m/ us-news/ 2019/ aug/ 09/ trump-el-paso-melania-orphan-baby-thumbs-up [14.10.21]. nicht von Belang. Wichtig ist hingegen: Es wird ein Detail herausgegriffen, das sich subversiv ‚einschleicht‘ in den dominanten Bildinhalt, nämlich die professionelle und kollektiv geschlossene Beobachtung der Liquidierung eines Terroristen durch Regierung und Militär. ‚Donalds Daumen‘ als punctum Ein weiteres Bild könnte man analog zu ‚Hillarys Hand‘ als Donalds Daumen‘ be‐ zeichnen. Es handelt sich dabei um eine Fotografie, die Melania Trump auf ihrem Twitter-Account veröffentlichte. Dort ist sie zu sehen, wie sie ein Baby in der Hand hält, daneben ihr Ehemann, umrahmt von Onkel und Tante des Babys (vgl. Abb. 4.52a). 308 Abb. 4.52a-c: Trumps Daumen als punctum Der Kontext ist schnell erzählt: Trump und seine Ehefrau kamen zu einem Fototermin in ein Krankenhaus nach El Paso, um sich dort mit Hinterbliebenen eines Ehepaares, das von US-amerikanischen Rechtsextremisten erschossen wurde, ablichten zu lassen. Das Baby, das Trump in den Armen hält, ist das Waisenkind dieses Paares. Pikant wird dieses Foto zum einen durch gewisse Hintergrundinformationen: So wollte sich keiner der anderen Hinterbliebenen und Opfer, die noch im Krankenhaus weilten, mit dem Präsidentenpaar ablichten lassen, weil diese Trump mitverantwortlich machten für das Massaker. Zudem gilt: Das Baby auf dem Foto war eigentlich schon aus dem Kran‐ kenhaus entlassen worden und wurde eigens zum Fototermin wieder ‚eingeliefert‘. Allein schon durch dieses Hintergrundwissen wird das Bild zu einer Farce oder erhält zumindest eine ironische Komponente. Dies wird bildintern - und das ist hier das Entscheidende - durch ein Detail auf der Fotografie verstärkt. Die Geste Trumps, die er mit seinem Daumen vollführte, wurde zum maßgeblichen Aufhänger der kritischen Berichterstattung darüber (vgl. bspw. Abb. 4.52b-c). Trumps Daumengeste fand eine deutliche Interpretationsrichtung, nämlich sie galt als Zustimmung Trumps zur Tötung der Eltern und damit zum Massaker einer rechtsextremen Gruppierung. Oder es gab 244 4 Politische Medienikonografie <?page no="245"?> 309 Vgl. knapp dazu: Dushko Petrovich, All Thumbs. Punctum, punctum, punctum [19.08.19], Online zugänglich unter: https: / / www.nplusonemag.com/ online-only/ online-only/ all-thumbs/ [05.12.22]. 310 Barthes, Helle Kammer, S.-35. zumindest eine moralische Verurteilung aufgrund des vermeintlichen Fehlens jeglicher Empathie des Präsidenten. Dieses Daumen-Detail kann als punctum verstanden werden, 309 erstens deshalb, weil es ganz prinzipiell aus dem konventionellen Rahmen solcher Öffentlichkeitsbilder fällt. Ein Lächeln scheint angemessen, ein Waisenkind in die Arme zu nehmen ebenfalls, einen Daumen nach oben zu wenden indes eher nicht, zumindest ist es in einem solche Kontext unkonventionell. Zweitens wird diese Unkonventionalität zu einem Skandalon vor dem Hintergrundwissen um das Waisenkind. Jedenfalls wurde die Geste, wie Barthes das punctum umschreibt, als „Pfeil, der aus dem Bild schießt“ 310 rezipiert, als Skandalon kommentiert oder doch zumindest als Irritation diskutiert und als kritisch-politischer Appell gegen den Präsidenten gewendet. ‚Bernies braune Handschuhe‘ als punctum Ein anders gelagerter Fall findet sich im Zusammenhang mit der Inaugurationsfeier von Trumps Nachfolger Joe Biden. Im Nachklang der Feier - passend zu einer punctum-Rezeption - war schnell nicht mehr der neue Präsident im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit, sondern sein ehemaliger Konkurrent um die Präsident‐ schaftskandidatur, nämlich Bernie Sanders, der dieser Zeremonie beiwohnte. Hieran lässt sich eine besondere Variante der punctum-Rezeption veranschaulichen: Während der televisuellen Live-Berichterstattung über die Inaugurationsfeier kam immer wieder das Publikum ins Bild. Hierunter befand sich auch Sanders. Dieser wurde aber während der Live-Berichterstattung als periphere Figur vorgeführt - ein Zuschauer unter vielen anderen. Kaum einmal ging die Kamera nah an ihn heran (vgl. Abb. 4.53a). Das änderte sich schnell nach der Feier. Aus einer von sehr vielen ‚Schnappschüssen‘, die während dessen gemacht wurden und zirkulierten, wurde ein Detail allmählich herausgeschält, nämlich Sanders Handschuhe (vgl. Abb. 4.53b). 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 245 <?page no="246"?> 311 Ebd. 312 Vgl. bspw. Best of Bernie Sanders Memes, https: / / www.youtube.com/ watch? v=_xpcxAyus88 [05.12.22]. Zur Analyse diese Phänomens ausführlicher: Viktoria Caroline Parker, After Inaugura‐ tion. Memes als Verhandlungen politischer Gegenwart, in: Melanie M. Dietz/ Nicole Kreckel (Hg.), Politische Bilder lesen. Ein Werkzeugkasten zur Bildanalyse, Bielefeld 2022, S.-201-220. Abb. 53a-c: Sanders Handschuhe als punctum Diese wirkten im Detail betrachtet tatsächlich antiquiert und stachen im Vergleich zu den Handschuhen der anderen Zuschauer: innen heraus. Diese Handschuhe können durchaus als „Pfeil, der aus dem Bild schießt“ 311 , verstanden werden. Das Bild ,ging viralʻ und etablierte eine Meme-Serie [↓ Meme-Serien], in deren Verlauf Sanders immer wieder in neue populäre Hintergründe aus Fernsehserien oder historischen Szenarien und Akteur: innen gesetzt wurde (vgl. Abb. 4.53c, auf YouTube finden sich derzeit, Stand Oktober 2021, Dutzende Kompilationen solcher Memes). 312 Der zeitliche Verlauf, der zu diesem Meme geführt hat, ist aufschlussreich: Erst eine periphere Figur in der Live-Berichterstattung wurde Sanders durch die Zirkulation einer Momentaufnahme zur zentralen Figur, genau deshalb, weil er ein bestimmtes ungewöhnliches Detail mit sich führt, eben seine Handschuhe. Im Zuge dessen wurde Sanders zu einer Figur passiven Widerstands gegen Biden semantisiert, da er augenscheinlich missmutig, vielleicht beleidigt oder zumindest gelangweilt der Feier beiwohnt und seine antiquierten, riesigen Handschuhe in einer Verschränkungsgeste vorzeigt. Schnell wurde im Laufe der Meme-Zirkulation diese politische Implikation aufgegeben oder doch marginalisiert und es dominierte immer stärker das Prinzip hedonistischer Aufmerksamkeitsökonomie [↓ Aufmerksamkeitsökonomie]. Ein Wett‐ bewerb wurde so initiiert, dessen Grundlage in der Überbietung liegt: Wer kann noch kreativer, verrückter oder zumindest lustiger die Handschuhszene neu situieren und variiieren? 246 4 Politische Medienikonografie <?page no="247"?> 313 Vgl. dazu: Baumgärtel, GIFS, S.-54f. 314 Viele davon sind versammelt auf Top 30 Adolf Hitler GIFs, Online zugänglich unter: https: / / gfycat. com/ discover/ adolf-hitler-gifs [15.10.21]. ‚Adolfs Affekt‘ als punctum Eine weitere Variante der politischen punctum-Lektüre findet sich in der Durchfors‐ tung von Bewegtbildmaterial, das an bestimmten, leicht zu übersehenden, mitunter die Wahrnehmungsschwelle häufig unterschreitenden Bildsequenzen etwas ansichtig macht, das überraschend ist, aus der Inszenierung herausfällt und gleichzeitig, jenseits der vermeintlichen Autorenintention und seiner politischen Strategien, scheinbar ‚tiefere Wahrheiten‘ vermittelt. Diese Betrachtungsweise von Bildern wäre vielleicht als eine politisch motivierte punctum-Investigationsrezeption zu bezeichnen. 313 Beispiele zuhauf finden sich in etlichen GIFs zu Adolf Hitler. Um hier nur eines herauszugreifen (vgl. Abb. 4.54a): 314 Eine kurze Sequenz aus einem öffentlichen Auftritt Hitlers, die den ‚Führer‘ in einer untypischen Szene, vor allem mit überraschenden Gebärden und Grimassen, zeigt, präsentiert ihn gerade nicht als dämonischen Verfüh‐ rer, sondern als etwas ungelenke, ja lächerliche Figur. Da diese Szene zudem im GIF in einer unendlichen Wiederholung gefangen ist, wirkt Hitler mit der Zeit immer noch ungelenker und lächerlicher. Abb. 4.54a-b: Hitler lächelt, Melania Trump lächelt nicht mehr ‚Melanias Missmut‘ als punctum Ein weiteres Beispiel dafür liefert wieder das Ehepaar Donald und Melania Trump. Hier wird aus einer Videoaufnahme eine kurze Sequenz herausgeschält und zu einem GIF moduliert, in dem Melania erst ihren Mann anlächelt. Sobald dieser sich umdreht, versteinert Melanias Miene abrupt (vgl. Abb. Abb. 4.54b). Hiermit soll ein punctum aus einer längeren Bildsequenz markiert werden, um zu verdeutlichen, welch hochgradiger Wille zur politischen Inszenierung nicht nur öffentlichen Auftritte der Trumps zu Grunde liegt, sondern wie schnell die Maske fallen kann, um ganz kurz nur, nahezu unbemerkt die ‚Wahrheit‘ hinter der Inszenierung und der Ehe der beiden aufblitzen 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 247 <?page no="248"?> 315 Vgl.: Deleuze, Das Bewegungs-Bild, S.-16ff. zu lassen. Melanias versteinert Blick - so lässt sich wieder auf Barthes Metapher zurückgreifen - ist ein ‚Pfeil, der aus dem Bild schießt‘. Vor allem wird das aufgrund der Differenz zu Melanias vorherigen Lächeln deutlich, das durch diesen Umschlag, der dann wieder permanent durch das GIF wiederholt wird, noch künstlicher, artifizieller, aufgesetzter wirkt. Der fruchtbar zu machende unfruchtbare Augenblick Etwas pointiert könnte man diese Strategie mit Bezug auf Lessings fruchtbaren Augenblick [Kap. 3, Furchtbarer Augenblick] die Methode der Präparierung eines unfruchtbaren Augenblicks nennen. Denn hier wird, um eine Wendung von Gilles Deleuze aufzugreifen, ein beliebiger Moment aus einer Bewegtsequenz her‐ ausgegriffen und fokussiert. 315 Aber gerade nicht der Moment wird herausgegriffen, der die Gesamtsituation des Vorher und Nachher verdichtet, wie es bei Lessing als fruchtbarer Augenblick beschrieben wird. Zudem sind es - häufig zumindest - Momentaufnahmen, in dem Sinne, dass eine Bewegung im Verlauf arretiert wird. Damit sind zwei entscheidende Kriterien für einen fruchtbaren Augenblick nach Lessing eben nicht erfüllt. Der Clou daran ist aber, dass diese Bilder mit Bedacht nicht die fruchtbaren Augenblicke sind, sondern subversiv mit der Konzentration auf ein punctum den Inszenierungswillen der Produzent: innen hin auf einen fruchtbaren Augenblick unterlaufen. So soll unter oder hinter des Inszenierungswillens die ‚wahre‘ Bedeu‐ tung oder doch die Brüchigkeit der Inszenierung in Erscheinung treten. Insofern sind diese Bilder doch wiederum letztlich fruchtbare Augenblicke, als in ihnen verdichtet ist, welche ‚Wahrheiten‘ hinter den Handlungen und Gesten politischer Akteur: innen tatsächlich stehen. Bewegtbilder eignen sich dafür besonders gut, weil gerade der Inszenierungswille der Akteur: innen sehr viel fragiler und unkon‐ trollierbarer ist als bei einer Fotografie, auf der sich die Abgebildeten in Pose setzen können. Das GIF wiederum scheint eine mediale Codierungsform zu sein, die noch eine sehr viel größere Affinität zu diesem Darstellungsziel hat als ein arretiertes Standbild. Denn im GIF wird die Bewegung aufgegriffen, aber durch permanente Wiederho‐ lung einer kurzen Sequenz der Umschlag vom Rollenspiel ins Herausfallen aus dieser Rolle, von Kontrolle zu Kontrollverlust besonders deutlich augenscheinlich. 248 4 Politische Medienikonografie <?page no="249"?> 316 So der Titel eines Aufsatzes von Mitchell: What Do Pictures Want? An Idea of Visual Culture, in: Terry Smith (Hg.), In Visible Touch. Modernism and Masculinity, Sydney 1997, S. 215-232. Die deutsche Übersetzung findet sich in einer Textsammlung: W. J. T. Mitchell, Was will das Bild? , in: ders., Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2 2012, S.-46-77. 317 Vgl. dazu und zum Folgenden: ebd. XIV. Was Bilder begehren - Die Politik der Bilder selbst Der Bildwissenschaftler W. T. J. Mitchell stellt eine außergewöhnliche wie irritie‐ rende Frage, nämlich: Was wollen Bilder? 316 Damit ist nicht die vergleichsweise konventionelle Vorstellung gemeint, dass Bilder auch jenseits der Absichten von Bildproduzent: innen Bedeutung zugewiesen werden können und erhalten [↑ XIII. Code: Punctum; ↑ XII. Encoding - Decoding]. Mitchell nimmt die Frage danach, was Bilder wollen, tatsächlich ernst. Er geht von der Voraussetzung aus, dass wir, die Rezpient: innen, Bildern mehr oder minder intuitiv Handlungsmacht zuschreiben, so als würden die Bilder selbst etwas von uns wollen. 317 Die zweite Voraussetzung besteht darin, Bildern eine Begierde zuzuweisen, die sich aus einem Defizit speist. Bilder sind gegenüber Menschen defizitär insofern, als sie keine souveränen Subjekte sein können. Bilder sind so verstanden im Verhältnis zu Menschen subaltern, haben also einen untergeordneten Rang und beschränkte Entscheidungsbefugnis. Die Begierde der Bilder besteht deshalb, laut Mitchell, im Willen der Aufhebung des Mangels durch die Besetzung und Belagerung des menschlichen Körpers. Dies meint erst einmal ganz einfach: Menschen sollen vor den Bildern fixiert, von den Bildern gebannt werden - sei es aufgrund ihrer Schönheit, Faszination, der Irritation oder dem Schock, den Bilder auslösen können. Es geht also um Schauwerte. Mitchells Zugriff ist nicht zu verwechseln mit Althussers Konzept der Interpellation [↑ Interpellation]. Zwar wirbt bei letzterer Vorstellung das Bild ebenfalls um die Gunst der Rezipient: innen; dahinter sind aber immer noch Bildproduzent: innen situiert, die bestimmte Absichten mit den Bilden verfolgen, nämlich uns bestimmte Subjektpositionen zuzuweisen. Diese Anrufungen können falsch verstanden, kritisch gewendet oder kreativ verändert werden [↑ XII. Encoding - Decoding]. Nichtsdesto‐ trotz gibt es Absichten, Strategien, Appelle, institutionell-ideologische Kräfte, die jen‐ seits des Bildes, die Interpretation des Bildes ausrichten. Mitchell kappt diese Ebene. Das Bild selbst, aufgrund seiner spezifischen defizitären Existenzweise, will etwas, jenseits und unabhängig davon, was Menschen damit wollen oder institutionelle Komplexe nahelegen. In einem anderen Vokabular formuliert: Bilder begehren Handlungsmacht aufgrund ihrer ontologischen Verfassung als Bilder. Ihre Verfassung lässt sich, laut Mitchell, vor allem als Mangel bestimmen, der genau dieses Begehren auslöst. Was auch immer von diesem Anthropomorphismus zu halten ist, spannend daran ist jedenfalls, dass der Blick ausschließlich auf die bildspezifischen visuellen Lockmittel gerichtet wird, um einen Mangel zu beseitigen durch bestmögliche Affizierung von Menschen. Mitchell macht seinen Zugriff anhand eines Bildes deutlich, das auch hier schon öfters thematisiert wurde, nämlich des Rekrutierungsplakat der US-amerikanischen 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 249 <?page no="250"?> 318 Mitchell selbst schreibt diesbezüglich pointiert: „Das Begehren des Bildes liegt, kurz gesagt, darin, mit dem Betrachter die Position tauschen zu wollen, ihn zum Erstarren zu bringen oder zu lähmen; es strebt danach, durch etwas, das man den ‚Medusa-Effekt‘ nennen könnte, aus dem Betrachter ein Bild für den eigenen Blick zu machen.“ (Ebd., S.-48) Regierung von James Montgomery Flagg (vgl. noch einmal Abb. 4.35). Das Bild will nicht nur durch seine spezifische Gestaltung, die grellen Signalfarben, den per‐ spektivisch verkürzten Zeigefinger, der aus dem Bild herauszuragen scheint, direkt gerichtet auf die Passant: innen, letztere arretieren. 318 Darüber hinaus appelliert das Bild an die Passant: innen, ihren ‚Körper hinzugeben‘, sprich für das Vaterland in den Krieg zu ziehen. Die Allegorie des Uncle Sam soll so aus einer abstrakten Idee einer Volksgemeinschaft verlebendigt werden. So gewendet geht es also nicht darum, dass die US-amerikanische Regierung etwas will, nämlich Soldaten, dass sie einen Künstler beauftragt, ihren Wunsch visuell attraktiv umzusetzen. Das Bild selbst will das - aufgrund seines ontologischen Mangels. Oder anders formuliert: Das Bild lässt sich bereitwillig als Medium der Kriegspropaganda funktionalisieren, um seinen eigenen, eigentlichen Zweck zu erreichen, nämlich das Begehren der Rezipient: innen nach dem Bild zu wecken. Für wie verrückt man solch eine Deutung auch halten mag, für die Agenda einer politischen Medienikonografie lassen sich mindestens zwei Lehren aus solch einer Perspektivierung ziehen. Erstens wird dadurch der Blick auf die visuellen Affizie‐ rungspotenziale der Bilder gelenkt, die jenseits von Absichten und Botschaften, die von Sendern mittels des Bildes transportiert werden sollen, situiert sind. Politische Absichten menschlicher Akteur: innen gehen nicht in der Ästhetik der Bilder auf, die für den Zweck der Bewusstseinsbildung in Umlauf gebracht werden. Vielmehr ‚wollen‘ die Bilder ihre Rezipient: innen aufgrund ihrer Existenz als Bilder in ihren Bann ziehen. Ganz praktisch - und jenseits der Frage, wie plausibel Mitchells Argument hinsicht‐ lich der Bildontologie tatsächlich sein mag - vollzieht sich so ein Perspektivenwechsel, der heuristisch für Bildanalysen fruchtbar zu machen ist. So wäre etwa die Frage nach der Statue Stalins, die überlebensgroß über Prag ragte, nicht nur eine der ideologischen Machtdemonstration, sondern mindestens ebenso eine Frage nach dem bildlichen Appellcharakter an die Passant: innen, nämlich innezuhalten und den Blick nach oben zur Statue zu richten [↑ Kap. 3.1. Politische Inhalte]. Das Bild des Twitter-Accounts von Sanders ist nicht nur strategisch von der Öffentlichkeitsarbeit des Oval Office gewählt; es ist so gewählt, damit das Bild im Kontext des Twitter-Accounts den Blick auf sich zieht [↑ Sanders‘ Twitter-Text-Anrufung]. Eine Darstellungsform wie die Zentralper‐ spektive wäre so verstanden ein Verführungsmittel des Bildes, in es ‚einzutreten‘ [↑ Kap. 2, III. Ikonologische Interpretation]. Punctum-Elemente im Sinne Barthes könnten wiederum als Bildstrategien gefasst werden, Aufmerksamkeit auf das Bild zu ziehen - entgegen den vermeintlich politischen Absichten ihrer Bildproduzent: innen [↑ Code XIII: Punctum]. Es wäre sogar möglich, verschwommene, verwackelte Videos, die beispielsweise Polizeiübergriffe auf Demonstranten dokumentieren, nicht nur in ihrer Zeugenschaft oder als Beweismittel zu perspektivieren, die dann für politische Aktio‐ 250 4 Politische Medienikonografie <?page no="251"?> 319 Ebd., S.-57. 320 Ebd. nen und Bewegungen eingesetzt werden können [↓ Analoge vs. digitale Bildkultur]. Mehr noch könnte die Frage gestellt werden, wie gerade das, was nicht zu sehen ist, das Bild attraktiv macht und seine Betrachter in ihren Bann zieht, weil es aktiv die Fantasie der Rezipient: innen anregt, sich die Unschärfen und Unbestimmtheiten selbst auszumalen. Damit sollen nicht Rolle und Funktionalisierung von Bildern als Medien politischer Agitation marginalisiert oder gar durch einen rein formalistischen Zugriff nivelliert werden. Vielmehr geht es, im Sinne Mitchells, um eine testweise „Verlagerung“ 319 bzw. „leichte Modifikation“ 320 des Blickwinkels, um Aspekte, insbesondere bildimmanente und solch jenseits der Absichten menschlicher Akteure, in den Blick nehmen zu können, die unter Umständen die Rezeption, Zirkulation oder auch die visuelle Weiterverarbeitung steuern oder zumindest beeinflussen. Weiterhin könnte aus Mitchells Perspektive formuliert werden: Es gibt nicht nur eine Politik menschlicher Akteur: innen, sondern daneben eine Politik der Bilder selbst, die sich unabhängig von Menschen auf das Beherrschen von Menschen richtet [↓ Politik der Algorithmen]. Sollte das plausibel sein, nimmt man es wirklich ernst, dann hat die politische Medienikonografie ein gravierendes Problem. Ist doch dann der Gegenstandbereich erheblich erweitert. Da jedes Bild, folgt man Mitchell, streng genommen aufgrund seines ontologischen Mangels Politik betreibt, ganz unabhängig davon, ob mehr oder minder gewitzt, mehr oder minder subtil, muss gelten: Jedes Bild ist potenziell Gegenstand einer politischen Medienikonografie, weil jedes Bild per se politisch ist. Allein schon forschungspragmatisch scheint mir diese Ausweitung keine gute Idee zu sein, wird doch so der Gegenstand arg beliebig und politische Medienikonografie zu einer allgemeinen Bildwissenschaft, die es schon gibt. Ergo bräuchte niemand eine politische Medienikonografie. Mir scheint diese Ausweitung zudem gar nicht nötig zu sein. Deshalb möchte ich genau hier eine Grenze ziehen: Die Politik der Bilder im Sinne Mitchells ist nur insofern Gegenstand einer politischen Medienikonografie, als daneben und dahinter politische Willensbildungsprozesse menschlicher Akteure ausfindig zu machen sind [↑ Kap. 2, Politik]. 4.3 Politische Medienikonografie 1 Codes 251 <?page no="252"?> 321 So scheinen ihn etwa Pichler und Ubl zu verstehen, vgl.: Pichler/ Ubl, Bildtheorie zur Einführung, S.-10. 322 Mitchell, Was wollen Bilder? , S.-57. 323 Ebd. 324 Ebd. Das Begehren der Bilder Hier wurde mehrmals formuliert, dass Mitchell Ansatz ‚verrückt‘ oder wenig plausibel klingen mag. Zur Ehrenrettung Mitchells sei hier präzisierend formuliert, dass Mitchell nicht die Position vertritt, dass Bilder einfach wie Lebewesen zu behandeln sind, die Begierden und Bedürfnisse haben. 321 Es geht ihm vielmehr um einen hypothetischen Perspektivenwechsel. Bilder sollen so erst einmal ‚geschützt‘ werden, um sie nicht sofort als reine Mittel einer vorgängigen Botschaft oder als bloße Symptome für gesellschaftliche Machtverhältnisse oder Weltbilder zu verstehen. Anders formuliert: Es geht darum, die Fragen nach der medialen Spezifik der Bilder ernst zu nehmen, um so zum Wesen der Bilder vorzudringen. Mitchell selbst schreibt zu seiner Ausgangsfragen, nach dem, was Bilder wollen: „Alles, was diese Frage zutage fördert, ist eine subtile Verlagerung des Interpretationsziels, eine leichte Modifikation des Bildes, das wir von Bildern selbst […] haben.“ 322 Und die zentrale ‚Verlagerung des Interpretationsziels‘ besteht eben darin, der Prämisse „zur konstitutiven Fiktion von Bildern als ‚belebten‘ Wesen, Quasi-Akteuren, Pseudo-Personen“ 323 zuzustimmen. Es geht also explizit um ein ‚Als-ob‘ und die Frage danach, was dieser Perspektivenwechsel zu Tage fördern könnte. Dass zumindest eine Sensibilisierung für formale Aspekte und Affizierungspotenzial der Bilder damit einhergeht, habe ich weiter oben bereits zumindest anzudeuten versucht. Zudem reflektiert Mitchell selbst, dass er über das (vermeintliche) Begehren der Bilder selbst immer nur schreiben kann, in dem er „semiotische, hermeneutische und rhetorische Verfahrensweisen“ 324 umkreist und damit letzt‐ lich, das, was Bilder eigentlich tatsächlich wollen, niemals ohne Rückgriff auf das Vokabular traditioneller, ‚anthropozentrischer‘ Bildinterpretationsansätze, von denen Mitchell selbst eigentlich Abstand nehmen will, formuliert werden kann. Das scheint mir aber weniger ein Zeichen für die grundsätzliche Aussichtslosigkeit von Mitchells Ansatz zu sein, sondern vielmehr als Hinweis auf ein methodisches Vorgehen, das durch kontra-intuitive, ‚verrückte‘, eben spekulative Annahmen Standardinterpretationen herausfordert und produktiv in Bewegung setzt. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal Nach der Darstellung sehr unterschiedlicher Zugriffe auf Code-Phänomene des Bildes soll nun etwas Ähnliches auf Ebene des Kanals vollzogen werden. Anhand der 252 4 Politische Medienikonografie <?page no="253"?> 325 Vgl. als Überblick: Alexander Roesler, Kanal, in: ders./ Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, S.-114-121. Unterscheidung von Materialität und Infrastruktur (vgl. Abb. 4.54) werden diverse Ansätze vorgestellt, die produktiv zur Analyse politischer Bilder zu machen sind. Zunächst jedoch soll übergreifend auf den, wahrscheinlich recht technisch klingenden Begriff ‚Kanal‘ eingegangen werden. 325 Kanal Materialität Infrastruktur Abb. 4.55: Vom Kanal zu Materialität und Infrastruktur Kanal Der Begriff hat einen lateinischen Ursprung; er leitet sich ab vom Wort canalis, was so viel bedeutet wie ‚Rinne‘ und stammt somit aus dem Kontext eines (Ab-)Wassersystems. Die Rinne ist ein materielles Behältnis und Transportmittel, das die Funktion erfüllt Wasser von A nach B zu transportieren. Aus Perspektive der Informationstheorie ist ein Kanal eine materielle Einrichtung, die Daten übertragbar, sicherbar, verarbeitbar und/ oder wahrnehmbar macht. So ist zwischen zwei Telefonierenden der Kanal z. B. das Kupferkabel, das die Schallwellen in elektrische Signale umzuwandeln und von A nach B transportiert (vgl. Abb. 4.56a). 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 253 <?page no="254"?> Sender Sender/ Empfänger Kanal Kanal Sender/ Empfänger Empfänger Abb. 4.56a-b: Zwei Varianten von Kanälen Neben dieser räumlichen Kommunikationsvernetzung lässt sich der Kanal auch zeitlich verstehen. So ist eine Zeichnung auf Stein in einer Höhle ein Kanal, der über lange Zeit hinweg Informationen bzw. Daten speichert und für diverse Rezipient: innen (etwa Besucher: innen von einem anderen Planeten) zugänglich macht (vgl. Abb. 4.56b). Stein, Farbe und Höhlensystem wären insofern Teil des Kanals zur Übermittlung von visuellen Informationen. Mit einem anderen hier bereits zu Beginn des Kapitels formulierten Vokabular ausgedrückt: Der Kanal ist das Bildvehikel [↑ Bildinstanzen]. Dies ist eine materielle Entität, die Infor‐ mationen und Daten speichert (die Leinwand, samt Farbauftrag, ein belichteter Filmstreifen, eine digitale Informationseinheit, die auf dem Computerbildschirm visuell ausgegeben werden kann). Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist das Bildvehikel bzw. der Kanal nicht einfach ein neutrales Übertragungsund/ oder Speichermittel, sondern hat Einfluss auf die Produktion, den Inhalt und auf Rezeptionsbedingungen von Bildern. Es macht eben einen wichtigen, ja in vielen Fällen entscheidenden Unterschied für die Betrachtungs‐ weise und Sichtbarkeit, ob ich vor der Mona Lisa im Louvre stehe mit einer Masse an Menschen um mich, die dann auch noch von den Museumsangestellten zur Eile gerufen wird, oder ob ich die Mona Lisa in einem Bildband zu Hause stundenlang betrachten kann oder sie kleinformatig auf meinem Handy anschaue. Die Vorstellung, 254 4 Politische Medienikonografie <?page no="255"?> dass Bildinhalte ‚neutral‘ von Bildvehikel zu Bildvehikel übertragen werden können, ist eine Illusion, die im Zeitalter digitaler Vernetzung wahrscheinlich naheliegender ist als zuvor, was die Vorstellung indes nicht weniger illusionär macht. Unterschiede auf Ebene des Bildvehikels ließen sich nahezu beliebig für politische Bilddarstellungen anführen. Deshalb reicht es eben nicht aus, Motive, Formen und/ oder Absichten zu erörtern, die mit politischen Bildern einhergehen, sondern eben auch deren Kanäle bzw. jeweilige Bildvehikel. Demensprechend muss die Frage nach den Bildkanälen bzw. Bildvehikeln Teil einer politischen Medienikonologie sein. Bildfahrzeuge, -vehikel und -inhalte Wie in Kapitel 3 mit Bezug auf Aby Warburgs Bildfahrzeuge angeführt [↑ Kap. 3, Automobiles Bildfahrzeug], wird bildtheoretisch traditionellerweise zwischen der Ebene des Bildobjekts (Motive, Formen) bzw. des Bildinhalts und der Ebene des Bildvehikels unterschieden [↑ Bildinstanzen]. Interessant an Warburgs Zugriff ist die Beobachtung, dass die Bildinhalte häufig auf die Materialität ihres Bildvehikels reagieren, genauer: darauf angelegt sind. Es ist also nicht nur so, dass das Bildvehikel Einfluss darauf hat, wer was wie und wo wahrnehmen kann, son‐ dern darüber hinaus gilt: Das Bildvehikel präformiert bereits vor der Herstellung eines Bildinhalts, wie dieser gestaltet wird oder werden kann, zumindest trifft das häufig zu und sicherlich nicht zuletzt auf strategische Kommunikation, die eine dezidiert politische Botschaft vermitteln will. Damit wird ein Sachverhalt, auf den Warburg hinweist und der insbesondere für einen medienwissenschaftlichen Zugriff wichtig ist, deutlich: Die Ebene des Bildvehikels und der des Bildinhalts sind nicht kategorial getrennt, sondern wirken aufeinander ein, zumindest sollte ihr Wechselspiel untersucht werden (vgl. als Beispiel: das Hope Poster [↑ Kap. 3, Bilder als Fahrzeuge]. ‚Aufeinander einwirken‘ und ‚Wechselspiel‘ bedeuten dann eben nicht nur, dass das Bildvehikel auf die Inhalte Einfluss hat, sondern auch umgekehrt, die Inhalte auf das Bildvehikel. Um ein einfaches Beispiel dafür zu wählen: Emojis sind inzwischen nicht nur alltägliche Mittel bildlicher Kommunikation, die durch den digitalen Bildträger und die dementsprechende Software möglich gemacht wurde und den Erfordernissen von WhatsApp oder SMS auf knappe und/ oder lustige Kommunikation entsprechen. Die massive Verwendung von Emojis hat die zunächst auf rein schriftliche Kommunikation angelegte digitalen Angebote wie SMS oder WhatsApp innerhalb des sprachlichen Codes ‚bebildert‘ und so zur Modifikation der Kanäle geführt. Nunmehr gibt es etliche Bildangebote, die ich nicht über Tastenkombination selbst herstellen muss, sondern die sofort 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 255 <?page no="256"?> 326 Vgl. dazu knapp, aber informativ: Gala Rebane, EMOJIS. Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer digitalen Bilderschrift, Berlin 2021. mittels eines dementsprechenden Reiters angeboten werden, die sich bewegen, die unterschiedlich einzufärben sind etc. 326 Wichtig ist mir an der Bestimmung des Kanals und analog dazu des Bildvehikels, dass sie nicht zu reduktionistisch ausfällt - und damit nicht auf die Materialität von Bildern im engeren Sinn verengt wird. Kanäle bzw. Bildvehikel sollen nämlich die gesamte Infrastruktur [↓ Infrastruktur], in die die Bilder eingebunden sind, umfassen. So entscheidet beispielsweise nicht nur die Leinwand, der Farbauftrag oder das Format eines Gemäldes darüber, wie ich die Mona Lisa wahrnehmen kann, sondern auch das Museum, das als architektonisches Gebilde, die Art und Weise die Rezeption ausrichtet. Als Institution reglementiert das Museum zudem, wie lange ich das Originalbild anschauen kann, wo es hängt, in welchem Verhältnis zu anderen Bildern vor Ort es situiert ist. Ebenso entscheidet der Rechteinhaber eines Bildes, wer wo wie wann ein Bild reproduzieren kann. Längst haben sich sogenannte Bildagenturen etabliert, die nicht nur darauf achten, dass ihre Bildrechte gewahrt bleiben, sondern die auch eine bestimmte Bildauswahl und Bildtypen anbieten, was wiederum entscheidend dazu beträgt, welche Bilder und welche Art von Bildern wir in Zeitungen oder im Internet zu sehen oder eben nicht zu sehen bekommen [↓ Bildagenturen]. Ein Telefongespräch kann nur zustande kommen, wenn es elektrische Leitungen gibt, die von einem Elektrizitätsversorgungsunternehmen gewartet werden; die Höhlenmalerei kann es als eine solche nur geben, wenn es Gebirgsformationen oder Grotten mit einem Zugang gibt (vgl. noch einmal Abb. 4.56b). Der entscheidende Punkt ist, dass diese Aspekte des Kanals weit über eine klassische Bildanalyse oder die Frage nach der Materialität des Bildträgers hinaus gehen. Relevant sind eben Aspekte jenseits des Bildes oder genauer: die Infrastruktur, in die die Bilder eingelassen sind. Dazu gehören neben materiellen Aspekten der Hardware und Software im engeren Sinne auch räumliche, institutionelle, rechtliche, ökonomische Aspekte. Diese lassen sich, wie noch näher auszuführen sein wird, von den materiellen Aspekten nicht trennen. Heuristisch werde ich im Folgenden die beiden Facetten der Materialität und des Kanals der übersichtshalber dennoch nacheinander verhandeln, wobei Fragen der Materialität deutlich kürzer ausfallen werden als die zur Infrastruk‐ tur. Das hat nicht mit einer vermeintlich höheren Relevanz der Letzteren zu tun, sondern vielmehr damit, dass anhand des Konzeptes Infrastruktur sehr viele unter‐ schiedliche Aspekte in ihrer Wechselwirkung zu beschreiben sind und die Infrastruktur zudem das weitgreifendere Konzept darstellt. ‚Weitgreifender‘ und ‚unterschiedliche Facetten beschreibend‘ bedeuten unter anderem auch, dass die Infrastruktur die Materialität des Bildes immer schon umgibt, rahmt und in Wechselwirkung mit ihr 256 4 Politische Medienikonografie <?page no="257"?> 327 Elke Wagner/ Niklas Barth, Die Medialität der Liste. Digitale Infrastrukturen der Kommunikation, in: Herbert Kalthoff u. a. (Hg.), Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaf‐ ten, München 2019, S. 343-356, hier: S. 345. In diesem Sammelband finden sich viele Aspekte der Materialität, die auch für die Analyse von Bildern fruchtbar zu machen wären, die in vorliegender Einführung aber ausgespart bleiben. Zum Zusammenhang von Bild und Materialität vgl. den instruktiven Sammelband: Marcel Finke/ Mark A. Halawa (Hg.), Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin 2012. 328 Wagner/ Barth, Medialität der Liste, S.-345. tritt. Deshalb scheint mir das Verhältnis von Infrastruktur und bildlicher Materialität von ersterem ausgehend sehr viel besser erläuterbar zu sein als umgekehrt. 4.4.1 Materialität Materielle Aspekte des Bildes im Kontext politischer Medienikonologie zu themati‐ sieren - das sei noch einmal eigens betont -, ist deshalb relevant, weil diese nicht als passive bzw. neutrale Vermittler vorgängiger Interessen und Strategien figurie‐ ren, sondern diese präformieren, ja „selbst sinnerzeugend auf die Kommunikation wirken.“ 327 Ausgegangen wird von einem prinzipiellen „kommunikativen Eigensinn technisch-medialer Objekte“ 328 . Für den hier relevanten Gegenstand reformuliert: Es geht um den kommunikativen und wahrnehmungsrelevanten Eigensinn von Bildve‐ hikeln. Im Zusammenhang mit Fragen nach der Materialität von Bildern möchte ich nur drei, in der Kultur- und Medienwissenschaft seit langem kanonische Ansätze vorstellen, die mir besonders relevant für die Analyse politischer Bilder erscheinen (vgl. Abb. 4.57). Materialität Herrschaftsräume: Stein vs. Papier (Harold A. Innis) Kulturelles Gedächtnis: transitorische Medien vs. Aufzeichnungsmedien I analoge vs. digitale Medien (Aleida Assmann/ Jan Assmann) Technische Reproduzierbarkeit: identische Exemplare vs. singuläre Artefakte (Walter Benjamin) Abb. 4.57: Drei medien- und kulturwissenschaftliche Zugriffe auf Materialität - Raum- und Zeitmedien: Imperien aus Papier und Stein Für politische Aspekte stellen die Ausführungen des Wirtschafswissenschaftlers Ha‐ rold Innis zur Materialität von Kommunikationsmitteln ein besonders geeigneter 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 257 <?page no="258"?> 329 Vgl.: Harold A. Innis, Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien/ New York 1997. Für eine knappe Einführung zu Innis’ Zeit- und Raummedien: Gabriele Schabacher, Zur Einleitung [zum Kap. Infrastrukturen; SG], in: Andreas Ziemann (Hg.), Grundlagentexte der Medienkultur. Ein Reader, Wiesbaden 2019, S.-283-288, hier: S.-285. 330 Diese einfache Gegenüberstellung wird in Innis’ historischen Untersuchungen relativiert zugunsten der Vorstellung eines Wechselspiels zwischen Zeit- und Raummedien. Zur Verdeutlichung des Arguments wird dieser Aspekt hier indes unterschlagen. Weiterhin zieht Innis auch weitere Binnen‐ differenzierung ein, etwa hinsichtlich der Funktionalisierung der Schrift einerseits im religiösen bzw. juridischen Kontext, anderseits im militärischen bzw. administrativen, wobei die Differenz zwischen Zeit- oder Raumdimension wiederkehrt. Auch diese Differenzierungen werden hier vernachlässigt. Vgl. dagegen bspw.: Bernhard Siegert, Translatio Imperii: Der cursus publicusim römischen Kaiserreich, in: Archiv für Mediengeschichte, (3) 2003: Medien der Antike, S.-41-59. Zugriff dar. 329 Denn der kanadische Professor für Politische Ökonomie interessiert sich primär dafür, wie materielle Kommunikationsmittel zur Stabilisierung und/ oder Ausweitung politischer Sphären führen oder doch zumindest dazu beitragen. Innis ver‐ anschaulicht das anhand einer einfachen Gegenüberstellung von Stein und Papier und verallgemeinert diese zur Differenz von Raum- und Zeitmedien. Politische Imperien, die auf Stein gründen, also Mauern bauen und Monumente zur Machtrepräsentation verwenden, sind vor allem auf Beständigkeit angelegt, also auf Sicherung der Macht über die Zeit hinweg. Denn ‚Stein‘ ist zwar schwer zu transportieren, kann aber lange Zeit überdauern. Imperien, die eher mit Papier operieren, also Flugblätter verteilen, Aktenanweisungen zirkulieren lassen etc., sind vielmehr auf Machtausweitung im Raum angelegt, weil sie mobile Medien verwenden. Dafür sind sie wiederum weniger beständig als Imperien, denen Steinmonumente als Leitmedien dienen. Medienwissen‐ schaftlich ließe sich auch andersherum formulieren: Die Materialität des dominanten Kommunikationsmittels entscheidet darüber, welche Art politischer Hegemonie und Machtausübung - Stabilisierung oder Expansion - in einem bestimmten gesellschaft‐ lichen Kontext vorherrscht, ja, überhaupt erst wünschenswert und denkbar wird. So lassen sich Herrschaftsreiche, die vor allem auf Ausdehnung angelegt sind, von solchen, die auf Stabilisierung gründen, unterscheiden. 330 Um es sehr plakativ zu formulieren: Das Christentum konnte sich im römischen Reich und dann darüber hinaus so schnell ausbreiten, weil auf Grundlage von Schrift und Papier ein weit verzweigtes postalisches System etabliert wurde und das ‚Buch der Bücher‘, die Bibel, zum maßgeblichen Medium der Missionierung wurde (vgl. Abb. 4.58a-b). Das chinesische Reich war vor allem auf Stabilisierung angelegt, materiell verdichtet in der bis heute berühmten Chinesischen Mauer, erbaut während der Ming-Dynastie zum Schutz des eigenen Territoriums (vgl. 4.58c-d). 258 4 Politische Medienikonografie <?page no="259"?> Christlicher Briefverkehr Chinesische Mauer (erbaut im 16. Jahr.) Papierene Missionierung Chinesische Mauer (1907) Abb. 4.58a-d: Mauer vs. Bibel: Raumvs. Zeitmedium Es geht mir nicht so sehr um die (historische) Plausibilität dieser Vorstellung; eben so wenig interessiert mich eine Anwendung auf ganze politische Imperien. Vielmehr ist die Gegenüberstellung durchaus brauchbar, um materielle Aspekte diverser Kommu‐ nikations- und Darstellungsmedien über die Achse Raum und Zeit auszudifferenzieren (vgl. Abb. 4.59). Diese Ausdifferenzierung mitsamt der Zuteilung diverser Medien soll aber nicht bedeuten, dass diese Medien entweder nur zur Überwindung der Zeit oder des Raumes zu gebrauchen sind. Vielmehr sind sie auf einer Skala zwischen Raum- und Zeit- Tendenzen zu situieren. In den jeweiligen Kontexten politischer Kommunikation und Bildgestaltung werden Medien indes sehr spezifisch und auch abweichend einge‐ setzt und entfalten differente Wirkungen. Die vorgestellten Tendenzen sind eher eine erste heuristische Orientierung für konkrete Analysen und mögliche Fragerichtungen. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 259 <?page no="260"?> 331 Vgl. knapp einführend und mit dem Fokus auf Medien: Aleida Assmann/ Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten u. a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 114-140; vgl. auch v.a.: Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 3 2017, v.a.: S. 135ff. Stimme, Mimik, Gestik (Kommunikation unter Anwesenden) Pressesprecher (Bote) Telekommunikation Grafitti Video HTML codierte Daten im WWW Monument Papier goldene Schallplatte (Voyager-Sonde) Überwindung des Raums Überwindung der Zeit Abb. 4.59: Skalierung von Raum- und Zeitmedien - Medien des kulturellen Gedächtnisses Ein weiteres Konzept, dem in diesem Kontext Relevanz zukommt, kursiert unter dem Namen ‚kulturelles Gedächtnis‘. Es wurde im deutschsprachigen Bereich vor allem von Aleida und Jan Assmann entwickelt und bekannt gemacht. 331 Die Grundidee ist vergleichsweise einfach: Es gibt nicht nur ein individuelles, psychisches Gedächtnis, sondern ebenso ein soziales, das als solches zwischen Menschen kommuniziert werden muss, um Wiedererkennbarkeit und Kontinuität zu sichern. Es handelt sich um kollektive Erinnerungen, die Vergangenes selektiv, basierend auf gegenwärtigen Inter‐ essen und Bedürfnissen aktualisieren. Die Funktion dieser Art des Erinnerns besteht darin, Normen, Werte und Herkunft zu reflektieren, Vergemeinschaftungsprozesse durch Rückgriff auf geteilte Geschichtsereignisse zu initiieren und so sinnstiftende Kontinuität über die Zeit hinweg zu garantieren. Mit anderen Worten: Diachron wird so Kultur perspektiviert, reflektiert, hochgradig selektiv konturiert und hergestellt. Diese funktionale Ausrichtung macht kulturelles Erinnern extrem attraktiv für politische 260 4 Politische Medienikonografie <?page no="261"?> Projekte, Vergangenes aufgrund bestimmter Interessen und Ideologien zu perspekti‐ veren und zu instrumentalisieren. Kulturelles Erinnern benötigt notwendigerweise Medien als materielle Träger, damit das Kommunizierte die Zeit überdauern und so überhaupt erst über lange Zeiträume hinweg erinnert werden kann. Zu unterscheiden sind hier transitorische Medien wie Ritus, Tanz oder Umzüge und Aufzeichnungsmedien (wie Schrift, Fotografie oder Denkmäler). Insbesondere letzte Kategorie ist in vorliegendem Kontext relevant, weil es hier ja insbesondere um unterschiedliche Bilder und ihre Materialitäten geht - Gemälde, Memes, Fotografien, Filme oder auch Architektur. - In Stein und Glas gehauene Erinnerung Für die Architektur ist das Berliner Reichstagsgebäude, in dem heute der Bundestag seine Sitzungen abhält, ein anschauliches Beispiel (vgl. Abb. 4.60). Denn hier wird nicht nur ein historisches Gebäude gewählt, das hochgradig geschichtsträchtig ist - dort wurde 1918 die erste deutsche Republik ausgerufen, dort fand 1933 Adolf Hitlers Machtergreifung statt -, sondern durch das Aufsetzen einer transparaente Kuppel, wird diese Geschichte in einer spezifischen Weise erinnert: Der hochproblematischen deutschen Geschichte, die hier im Stein als Spur und Überrest eingeschrieben ist, wird mit der transparenten Kuppel ein politisches Symbol auf- und entgegengesetzt. Die Debatten und Entscheidungen des Bundestages sollen transparent und prinzipiell für alle sichtbar sein. Insofern ist dieses Gebäude ein Medium des kulturellen Erinnerns, das zum einen materieller Teil der deutschen Geschichte ist, in Stein gemeißelt diese Geschichte verdichtet veranschaulicht, und zum anderen durch die gläserne Kuppel eine andere Fortsetzung der Geschichte, eben eine demokratisch und transparente verspricht. Die Kuppel ist so verstanden eine politische Handlung und Haltung in Glas. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 261 <?page no="262"?> Abb. 4.60: Der Reichstag als materielle Einschreibung kulturellen Gedächtnisses Relevant für das kulturelle Gedächtnis sind die jeweils gewählten Medien insofern, als sie darauf Einfluss haben, wie überhaupt erinnert werden kann, welche Form des Erinnerns durch die Wahl des Mediums nahegelegt ist und welche Art politischer Indienstnahme des kulturellen Gedächtnisses damit verbunden werden kann. Der Reichstag mit seiner gläsernen Kuppel wäre dafür ein Beispiel. Ein viele Jahrzehnte überdauerndes Gebäude kann als stabiles Einschreibungsmedium politischer Artiku‐ lation verwendet werden. - Stalins Retuschen - Trotzkis Verschwinden auf einer Fotografie Um noch ein anders gelagertes Beispiel zu wählen: Die Fotografie suggeriert aufgrund ihrer vermeintlich neutralen Reproduktion der äußeren Wirklichkeit eine spezifische Authentizität, nämlich genau das abzubilden, ‚wie es war‘ [↑ Bilder ‚ohne Code‘]. Die Lichtspur der Fotografie bewahrt so, im Gegensatz zur schriftlichen Darstellung, vermeintlich eine direkte materielle und insofern indexikalisch-kausale Verknüpfung zum Geschehenen [↑ Zeichentypen]. Das Erinnerte wird so glaubwürdiger. Zumindest handelt es sich um einen Naturalisierungs- und Authentizitätseffekt im Sinne Roland Barthes’ [↑ Bilder ‚ohne Code‘]. Besonders anschaulich wird diese Annahme bei fotografischen Manipulationen, die das Erinnern an Geschehenes in eine spezifische Richtung lenken wollen. So sind etli‐ che solcher Manipulationen in Form von Retuschen im Kontext sowjetischer Bildpolitik bekannt geworden, insbesondere aus der Stalin-Ära, weshalb sie als ‚Stalin-Retuschen‘ 262 4 Politische Medienikonografie <?page no="263"?> 332 Vgl.: King, Stalins Retuschen. 333 Vgl. dazu: Wiedenmann, Revolutionsfotografie, S. 301ff. oder auch: Klaus Waschik, Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren, in: Zeithistori‐ sche Forschungen/ Studies in Contemporary History, 7 (2010), S.-30-54. bezeichnet werden. 332 Eines der bekanntesten Beispiele ist die Tilgung von Trotzki aus Fotografien, die ihn neben Lenin zeigen (vgl. Abb. 4.60a-b). 333 Abb. 4.61a-b: Lenin ohne Trotzki Kulturelles Erinnern soll so politisch ausgerichtet werden: Nachdem Trotzki für die sowjetische Regierung nicht mehr opportun erschien, wurde er aus den offiziellen Fotografien entfernt, nicht nur, damit sich an ihn niemand mehr erinnern kann nach einer gewissen Zeit, sondern ebenso, damit Lenin als der alleinige Gründungsvater der kommunistischen Revolution installiert werden konnte. Die Fotografie scheint hierfür aufgrund ihres materiellen Aufzeichnungsmodus ein besonders geeignetes Medium, 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 263 <?page no="264"?> 334 Vgl. dazu die offizielle Homepage der EU, online zugänglich unter: https: / / european-union.europa. eu/ principles-countries-history/ symbols/ eu-motto_de [06.01.22]. da ihr eben durch die Präsentation dessen, was und wie etwas vermeintlich wirklich gewesen ist, eine quasi-objektiver Zeugenschaft zugeschrieben wird. - Der Geldschein als Medium des kulturellen Erinnerns Ein noch mal ganz anders gelagertes Beispiel findet auf dem 20-Euro-Geldschein (vgl. Abb. 4.62). Auf diesem sind fiktive Kirchenfenster abgebildet, die - obwohl fiktiv - eine bestimmte europäische Kunstepoche repräsentieren, nämlich die Gotik. Hier wird also nicht ein historisches Ereignis oder ein geschichtsträchtiger Ort abgebildet, sondern eine transnationale Epoche, die genau deshalb an die gemeinsame Tradition vieler europäischer Länder erinnert. Insofern wird die Idee der Einigung in der Vielheit - gemäß dem Motto der Europäischen Union, nämlich „In varietate concordia“ (deutsch: „In Vielheit geeint“) 334 - jenseits konkreter Orte und Ereignisse symbolisch visualisiert. Abb. 4.62: Geldschein-Zirkulation als politische Willensbekundung Die Materialität des Geldscheins wird hier insofern für diese Idee produktiv gemacht, als ein solcher Schein durch die Hände vieler Menschen geht und dabei die Lan‐ desgrenzen problemlos überschreiten kann, weil der Euro Zahlungsmittel in vielen europäischen Länder ist. Die politische Agenda der EU, die transnationale Vergemein‐ schaftung auf ökonomischer wie kultureller Ebene, wird hier durch die Herstellung einer gemeinsamen Historie in den Alltag eingespeist und bei jeder Geldtransaktion zumindest potenziell erinnert. - Analoge vs. digitale Bildkultur Die Materialität der Medien ist mit Bezug auf die Erinnerung auch für die Analyse von Medienikonen (im Sinne Gerhard Pauls) relevant [↑ Kap. 2, Medienikonen]. Damit meine ich hier nicht, dass fotografische Medienikonen auf unterschiedliche 264 4 Politische Medienikonografie <?page no="265"?> 335 Vgl. bspw.: Paul, Bilder, die Geschichte schrieben. 336 Das behaupten Aleida und Jan Assmann bereits für die elektronischen Medien, wie Beispiel dem Fernsehen, vgl.: Assmann/ Assmann, Gestern im Heute, S. 137ff.; oder auch: Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, v.a.: S.-9ff. 337 Kerstin Schankweiler, Bildproteste. Widerstand im Netz, Berlin 2019, S.-64. materielle Träger übertragen werden (Plakate, T-Shirts, Graffitis). Wichtiger ist: Für das vordigitale Zeitalter ist das Konzept fotografischer Medienikonen sehr passend, geht es doch davon aus, dass nur eine bestimmte Anzahl herausragende Fotografien über die Zeit hinweg zu Medienikonen avancieren und in diversen Aneignungen zirkulieren. Ein Kanon an Medienikonen lässt sich so ausmachen oder doch zumindest wird ein solcher in diversen Publikationen behauptet. 335 Für digital vernetzte Kommunikation via sozialer Medien und Plattformen lässt sich von solch einem Kanon nur noch bedingt ausgehen. Nicht nur, dass die Aneignung von Medienikonen, ihre Rekombinationen und Trans‐ formationen, sehr viel schneller vonstatten geht als zuvor [↓ (3) Technisch-prozessuale Infrastruktur]. Radikaler noch lässt sich formulieren: Die Zirkulationsgeschwindigkeit sowie die Vielzahl der eingespeisten Bilder machen einen Kanon herausragender Bilder, die an Vergangenes erinnern und verdichten, zwar nicht automatisch obsolet, lassen aber zumindest daran zweifeln, ob solch ein Zugriff nicht entscheidende Aspekte des kulturellen Erinnerns unterschlägt, in diesem Fall die Schnelligkeit, die Vielzahl, die Heterogenität, die Relationalität mittels derer kulturelles Erinnern stattfindet, sich ausdifferenziert, umgebildet und ‚umbebildert‘ wird. 336 In diesem Sinne schreibt die Bildwissenschaftlerin Kerstin Schankweiler: „Die Affektzeugenschaft der Bilder, die rasante Ausbildung von Genres und generischen Bildern und die memefication der Bildkultur - diese Paradigmen weisen alle in die gleiche Richtung: hin zu vielfach und horizontal miteinander verbundenen Bildern, die nur noch im Verhältnis zueinander wahrnehmbar und organisierbar sind. […] [D]igitale Bildschwärme […] wirken durch die vielfachen Relationierungen und Referenzen einer Hierarchie der Bilder entgegen. Die bedeutet das Ende des Zeitalters der Bildikonen.“ 337 Digitale Bildschwärme als Ende der Medienikonen? Die These vom Ende der Medienikonen im Zeitalter digitaler Bildzirkulation lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. Erstens gab es eine solche Art Bildzirkulation auch schon lange vor der Existenz digitaler Netzwerke [↑ Kap. 2, Medienikonen]. Ja, man könnte zweitens behaupten, dass diese Art der Bildzirkulation, die mit Modifikationen, Umwertungen, Medienwechsel zu tun haben, konstitutive Eigen‐ schaften von Medienikonen sind. Drittens scheint es doch der Fall zu sein, dass sich herausragende Bildikonen in digitalen Netzwerken konstituieren, selektiert werden und als zentrale Erinnerungsmarker fungieren. Schankweiler selbst, die die These vom Ende der Medienikonen programmatisch ans Ende eines Büchleins 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 265 <?page no="266"?> 338 Vgl.: ebd. 339 Ebd. 340 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936/ 1939], in: ders., Medienästhetische Schriften, S.-351-383. über Protestbilder setzt, 338 bietet dafür in eben dieser Publikation viel Anschau‐ ungsmaterial für das Gegenteil ihrer eigenen Behauptung. Das trifft etwa auf die sogenannte ‚Tank Man‘-Fotografie zu. Dabei handelt es sich um die Abbildung eines Mannes auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989, der sich im Zuge der gewaltsamen Niederschlagung eines Volksaufstands mit einer Plastiktüte in der Hand einer Panzerkolonne entgegengestellte. Schankweiler geht diversen Zirku‐ lationswegen dieses Bildes im Internet nach - und zwar unter dem sprechenden Titel „Ikonische Bildformeln“. 339 Bildikonen scheint es also auch nach dem Ende der Bildikonen noch zu geben, wenngleich vielleicht in gewandelter Form [↓ (5) Prozessualisiere! ]. Wie auch immer man zum Argument vom Ende der Medienikonen stehen mag, so ist im Hinblick auf die materiellen Träger des kulturellen Gedächtnisses eine Idee zentral: Die Veränderung der vorherrschenden Medien, etwa von analoger Fotografie und deren Zirkulation in klassischen Massenmedien zur digitalen Vernetzung und Bildzirkulation in sozialen Medien prägen die politischen Möglichkeiten des Erinnerns durch ihre unterschiedlichen materiellen Grundlagen. - Das Bild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Ein anderes in der Medienwissenschaft sehr populäres Konzept, bei dem die Materia‐ lität eine zentrale Rolle spielt, stammt von Walter Benjamin. Im Text Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit  340 argumentiert Benjamin, dass die Rezeption von Kunstwerken aufgrund ihrer nahezu ubiquitären Zugänglichkeit in Form technischer Reproduktion, auf Plakaten, Zeitschriften, Fotografien oder Büchern, nicht nur einen Demokratisierungseffekt hat, weil nun ‚jeder‘ die Kunstwerke besitzen kann (ich muss nicht mehr in den Louvre gehen, um mir die Mona Lisa anschauen zu können). Interessanter noch ist: Benjamin geht davon aus, dass sich insbesondere mit den technischen Reproduktionsmitteln der Fotografie und des Films die Rezeption der Kunstwerke entscheidend verändert. Der Betrachter versenkt sich nicht mehr kontemplativ in ein einzigartiges Kunstwerk vor Ort und lässt es auf sich wirken. Stattdessen ergibt sich aufgrund der fotografischen Reproduzierbarkeit von Kunst‐ werken eine kritische Distanz zum Kunstobjekt. Das Kunstwerk verliert so seine auratische Wirkung - sei es, weil der Kontext der Rezeption ein anderer ist (etwa die Fotografie eines Kunstwerkes in einer Zeitschrift), sei es, dass Detailaufnahmen des Kunstwerks fotografisch reproduziert werden, sei es, dass das Kunstwerk in und durch die Reproduktion ins Verhältnis gesetzt wird zu anderen Kunstwerken (vgl. Abb. 4.63). 266 4 Politische Medienikonografie <?page no="267"?> 341 Vgl. dazu v.a.: ebd., S.-378, 380. 342 Ebd., S.-383. 343 Ebd., S.-381. Kunstwerk Original bspw. Gemälde, Statue, Architektur Exemplar v.a. Film, Fotografie Anzahl singuläres Werk mehrere bzw. viele Exemplare materielle Herstellungslogik manuelle Produktion technische Reproduktion Zeit/ Raum Hier und Jetzt Zeit und/ oder Raum überwindend Rezeptionsmodus kontemplativ kritisch Verhältnis Politik und Kunst Ästhetisierung der Politik Politisierung der Kunst Wahrnehmungsorganisation affizierend, synthetisierend distanzierend, fragmentierend Abb. 4.63: Das Kunstwerk im und vor dem Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Über diese These ließe sich trefflich streiten. Entscheidend ist für mich aber auch hier: Durch den materiellen Wechsel der Herstellungslogik - in diesem Fall vom singulären, manuell hergestellten Werk, etwa einer Zeichnung, zur technischen Reproduktion der Außenwelt auf einer Fotografie und deren prinzipiell belieb häufig vorzunehmenden Reproduzierbarkeit einer fotografischen Platte - passiert etwas Prinzipielles mit unserer Art und Weise, wie wir Kunstwerke wahrnehmen, ja, folgt man Benjamin, wie man die Welt ganz generell wahrnimmt. Ein Wandel der materiellen Produktions‐ logik führt aus dieser Perspektive - ganz unabhängig davon, welche Motive und Formen Verwendung finden - zu fundamentalen Wahrnehmungsveränderungen. In vorliegendem Zusammenhang geht die Wahrnehmungsverschiebung von einer primär kontemplativen, auf Affizierung angelegten Wahrnehmung, die das Kunstwerk als eine organische Einheit erfassen soll, hin zur Zerstreuung, auf Fragmentierung des Kunstwerkes angelegte Wahrnehmung, die wiederum in eine kritische Rezeption mündet. 341 Ausgehend von dieser Gegenüberstellung entwickelt Benjamin eine Gesellschafts‐ utopie, die darin besteht, nicht nur die Besitzverhältnisse zu ändern, sondern vor allem darin, kritisches Denken flächendeckend zu ermöglichen. Mit dieser Utopie ist ein po‐ litisches Projekt verbunden: Die neuen Künste, Fotografie und insbesondere der Film, sollen ihr kritisches Potenzial durch geeignete Anwendung nutzen. Benjamin nennt das selbst die „Politisierung der Kunst“ 342 und setzt diese gegen die „Ästhetisierung der Politik“ 343 , wobei er insbesondere die affektive Überwältigung des Nationalsozialismus, seinen Aufmärschen und öffentlichen Kundgebungen vor Augen hat. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 267 <?page no="268"?> 344 Vgl.: S.-377f. 345 Hito Steyerl, In Defense of the Poor Image, in: dies., The Wretched of the Screen, Berlin 2012, S. 31-45, hier: S.-32. Das politische Bild im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit I: Punctum Benjamin selbst denkt bei der Politisierung der Kunst weniger an konkrete politische Motive oder Appelle, die in den einzelnen Fotografien oder Filmen zu finden sein mögen. Er setzt - das dürfte deutlich geworden sein - sehr viel tiefer an. Der materiellen Produktionslogik liegt per se ein Potenzial, ja eine Präformation zu einer neuen, ge‐ sellschaftsübergreifenden kritischen Wahrnehmung zu Grunde. Benjamin interessiert sich sehr viel mehr für Verfahrensweisen dadaistischer Kunst als für Kunstwerke mit dezidiert politischen Inhalten. 344 Möchte man dennoch Benjamins Ansatz auf politische Bilder im engeren Sinne anwenden, so wäre beispielsweise auf Fotografien und GIFs zu verweisen, die sich auf punctum-Phänomene konzentrieren. Damit sind in diesem Zusammenhang insbesondere Aspekte in Fotografien und Filmsequenzen gemeint, die von den Herstellern und Herstellerinnen unbedacht reproduziert wurden oder nur marginal sichtbar auf den Bildern sind und deren Sichtbarmachung, etwa den Inszenierungswillen politischer Akteure bzw. den damit verbundenen politischen Appellen unterwandern, bloßstellen und so kritisieren [↑ Code X: Punctum]. Diese Strategie ist nicht nur eine investigative politische Praxis, sondern - im Sinne Ben‐ jamins - lässt sich diese Strategie als eine verstehen, die konsequent die mit der technischen Reproduktionslogik der Fotografie etablierte kritische Wahrnehmung der Welt umsetzt. - Das politische Bild im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit II: ‚Arme Bilder‘ Ebenso lassen sich sogenannte ‚arme Bilder‘ in diesem Kontext anführen. Hito Steyerl bezeichnet das digitale GIF-Format als solch ein armes Bild. Sie schreibt diesbezüglich: „Das arme Bild ist eine Kopie in Bewegung. Es ist von schlechter Qualität, seine Auflösung unterdurchschnittlich. Mit seiner Beschleunigung zersetzt es sich. Es ist das Gespenst eines Bildes […], eine umherschweifende Idee, ein kostenlos verbreitetes Wanderbild, das durch langsame digitale Verbindungen gequetscht, komprimiert, reproduziert, gerippt, remixt, kopiert und in andere Kanäle eingespeist wird. […] Das arme Bild wurde hochgeladen, heruntergeladen, geteilt, umformatiert und bearbeitet. Es verwandelt Qualität in Zugänglichkeit […], Kontemplation in Ablenkung.“ 345 Was Steyerl mit Blick auf GIFs beschreibt, lässt sich meines Erachtens problemlos auf andere digitale Formate und Formen beziehen, etwa auf Memes. In diesem Fall ist zwar in den allermeisten Fällen keine Bewegung dargestellt, dennoch sind es oft Darstellungen mit niedrigen Auflösungen, häufig ‚kostenlos verbreitete Wanderbilder, die ‚hochgeladen, heruntergeladen, geteilt, umformatiert, bearbeitet werden.‘ Was an dieser Art ‚armer Bilder‘ im Zusammenhang mit den Thesen Benjamins zur technischen Reproduzierbarkeit besonders faszinierend erscheint, ist erstens, dass 268 4 Politische Medienikonografie <?page no="269"?> 346 Nach Benjamin ist der Film „das eigentliche Übungsinstrument“ (Benjamin, Kunstwerk, S. 380) zur radikalen Umgestaltung der Rezeptionsweise von Kunstwerken sowie der Selbst- und Weltwahrneh‐ mung generell. aus ‚Qualität‘ ‚Zugänglichkeit‘ wird. Das entspricht Benjamins These, dass technische Reproduktion einen Demokratisierungseffekt hat. Zweites ist relevant, dass mit der schlechten Auflösung und der permanenten Zirkulation und Modifikation, die die armen Bilder noch ärmer machen, eine bestimmte Rezeptionsform einhergehen soll, statt Kontemplation laden diese Bilder nämlich zur Ablenkung ein [↓ Ökonomie der Aufmerksamkeit]. Aus Benjamins Perspektive lässt sich solch eine Ablenkung auch als zerstreute Wahrnehmung bezeichnen, die wiederum zu einer distanzierten und letztlich kritischen Rezeptionshaltung führen soll, die in vielen Fällen eine dezidiert politisierende Wendung erfährt. ‚Arme Bilder‘ legen so verstanden aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften eine bestimmte Rezeptionshaltung nahe. Etliche Beispiele aus dem Kontext politischer Memes ließen sich zur Veranschauli‐ chung dieses Zusammenhangs anführen. Verwiesen sei nur auf das Hope Poster, das als Meme diverse Modifikationen und kritische Rezeptionen erfahren hat (vgl. Abb. 4.64a-d). Auch wenn es arg zugespitzt ist, lässt sich für diesen Fall vielleicht behaupten: Je ärmer das Hope Poster wurde, desto kritischer seine Rezeption. Man vergleiche nur die schlechte Auflösung einer Modifikation, anhand derer Obama als Kommunist denunziert werden soll, passend zu Benjamins These im direkten kritischen Abgleich mit einer Darstellung Lenins (vgl. Abb. 4.64d). Abb. 4.64a-d: Der Weg zu ‚armen Bildern‘ - Film als Schock- und Distanzmedium Der Film ist für Benjamin das technische Reproduktionsmittel, das er ganz besonders revolutionär und gesellschaftsutopisch auflädt. 346 Weniger ist dabei die flächende‐ ckende Verbreitung durch technische Vervielfältigung relevant, ebenso wenig geht es um die Fixierungspotenz der fotografischen Reproduktion, sondern im Gegenteil, um das per se nicht fixierbare Bewegungsbild des Films. Dieses in sich permanent in 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 269 <?page no="270"?> 347 Ebd., S.-378. 348 Ebd. 349 Ebd., S.-380f. 350 Ebd., S.-381. 351 Vgl. dazu Eisenstein selbst in diversen Aufsätzen: Sergej Eisenstein, Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, Frankfurt am Main 2006. Vgl. dazu und zum Folgenden knapp und instruktiv: Kay Kirchmann, Sinn oder Sinnlichkeit? Eine filmhistorische Fallstudie vor dem Hintergrund von Foucaults Freud-Kritik, in: Christoph Ernst/ Heike Paul (Hg.), Präsenz und implizites Wissen. Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 79- 94, v.a.: S.-86ff. 352 Vgl. zum Classical Hollywood Cinema und dem ‚unsichtbaren Schnitt‘ genauer unter dem Stichwort Continuity Editing: David Bordwell/ Kristin Thompson, Film Art. An Introduction, Boston u. a. 7 2004, S.-310ff. Zu Gegenüberstellung beider Montagetypen pointiert: Deleuze, Bewegungs-Bild, S.-49ff. Bewegung befindliche Bild soll laut Benjamin eine „Chockwirkung“ 347 hervorrufen. Damit ist erstens eine kontemplative Rezeptionsform zugunsten einer zerstreuenden Wahrnehmung verabschiedet. Zweitens wird der filmische ‚Chock‘ „durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen“ 348 und damit eine kritische Distanz zum Gesehenen eingenommen. Auch hier gilt: Benjamin interessiert sich nicht für dezidiert politische Inhalte und Stoffe, die im Film verhandelt werden, sondern sehr viel universeller für die Technik der Montage und damit für die Technik der Fragmentierung zur Herstel‐ lung von Schockwirkungen. Daraus resultiert nach Benjamin eine auf Distanzierung bedachte, „begutachtende Haltung im Kino“ 349 . „Das Publikum“, so Benjamin weiter, ist im Kino „ein Examinator“, also ein (kritisch) Prüfender - und zwar durch die filmische Zerstreuung. 350 Eine versuchsweise Übertragung auf politische Filme und Bewegtbilder im engeren Sinne scheint mir hier nicht abwegig. Das sei an einigen Sequenzen aus Filmen von Sergei Eisenstein getestet. - Politische Ästhetik des Films: Die Filme Sergei Eisensteins Nach Sergei Eisenstein ist der Film ein besonders geeignetes Medium, um auf un‐ terschiedlichen Ebenen heterogene Elemente zu organisieren. 351 Zuvorderst geht es um Kollision dieser Elemente. Das gilt sowohl auf Bildebene - etwa gegenläufige Bewegungsrichtungen, Aufnahmewinkel, kontrastive Beleuchtung - als auch für die Verknüpfung der Bilder und Bildsequenzen, also der Montage. Die Montage soll somit gerade nicht, wie etwa im Classical Hollywood Cinema, möglichst homogen die einzelnen Elemente durch einen sogenannten unsichtbaren Schnitt kaschieren, sondern diesen im Gegenteil hervorheben. 352 Eisensteins Vorstellung der Bild- und Montagorganisation passt strukturell gesehen wunderbar zu Benjamins Konzeption des Films als eines technischen Reproduktionsmittels, das durch dynamische Bewe‐ gung und vor allem Montage einen Schock bei den Rezipient: innen auslösen soll. Dass dieser Schock Benjamins Überzeugung nach zu einer analytischen Distanzierung führt, passt ebenfalls zu Eisensteins Vorstellung, was der Film leisten soll. Dieser soll nämlich nicht primär etwas zeigen, eine Abbildung der Welt liefern oder ein 270 4 Politische Medienikonografie <?page no="271"?> sinnliches Spektakel, sondern ein bedeutungskonstituierendes, erkenntnisstiftendes System herstellen - und zwar durch die konfliktuöse Anordnung seiner Elemente. Diese ästhetische Konzeption des Films wird in Eisensteins Spielfilmen - und das ist besonders relevant im Kontext einer politischen Medienikonografie - umge‐ setzt, die dezidiert politischen Inhalt haben. Insbesondere die Filme Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925) und Oktober. Zehn Tage, die die Welt erschütterten (UdSSR 1928) beschäftigen sich mit der sozialistischen Revolution im russischen Zarenreich, also mit historisch hochgradigen konfliktbeladenen politischen Umbruchsituationen. Dabei sollen - wenn man Zeitpunkt und Ort der Filmproduktionen betrachtet, wohl wenig überraschend - die sozialistische Revolution positiv dargestellt, als notwendige historische Verbesserung der gesellschaftspolitischen Lage und ihre Akteure heroisch dargestellt werden. In diesem Sinne sind Eisensteins Filme ganz sicher Propaganda‐ filme mit politisch missionarischem Eifer und im Sinne Benjamins ein besonders gutes Beispiel für die ‚Politisierung der Kunst‘ im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Abb. 4.65: Lenin dynamisiert die Massen in einer dynamischen Bildsequenz Um nur einige Beispiele für diese Art ästhetischer Politik auf Bildebene anzuführen: In Oktober wird eine öffentliche Kundgebung Lenis vor finnischen Arbeitern in Szene gesetzt (vgl. Abb. 4.65). Lenin erscheint nicht einfach nur als Held der Revolution mit starken Affekten und Affizierungskompetenz der Massen aus der Untersicht auf‐ genommen, sondern noch wichtiger: Der russische Revolutionär wird kontrastiv, mit gegenläufigen Bewegungsrichtungen in Szene gesetzt. Lenin selbst bewegt sich nach unten links, während eine im Wind wehende Fahne nach oben rechts gerichtet ist. Das Bild selbst wird in der Diagonalen streng unterteilt und die beiden Teile gegeneinander geführt. Lenin ist im Hintergrund, plastisch vor verknapptem Hintergrund zu sehen; die Fahne im Vordergrund ist hingegen flächig angeordnet und durch die Schrift 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 271 <?page no="272"?> gesättigt [↑ III. Bildfeld]. Das Bild ist somit an der Diagonalen auf Kollision der beiden Bildhälften angelegt, die das Bild dynamisiert - und korrespondiert so mit der revolutionären Situation, in der Lenin sein Publikum aufwiegelt und begeistert. Ein anders Beispiel aus Oktober kommt ganz ohne menschliche Akteure aus. Zu sehen sind vertikal aufragende Statuen und Monumente der alten Zarenmacht, schräg dazu und davor finden sich wehende Transparente mit politischen Slogans der Revo‐ lutionäre (vgl. Abb. 4.66a-c). Auch hier ist das Kollisionsprinzip am Werk. Unbewegte, vertikal ausgerichtete Stein und Marmor-Elemente werden in Widerstreit zueinander gesetzt, der sich über Gegensatzpaare organsiert: vertikal/ horizontal vs. diagonal, hinten vs. vorne, unbewegt vs. bewegt, Vergangenheitsausrichtung vs. Zukunftsvision, Statik vs. Dynamik. Abb. 4.66a-c: Steine vs. Transparente Aber nicht nur in einzelnen Bildanordnungen findet sich das Kollisionsprinzip, sondern ebenso auf Ebene der Bilderverknüpfung, also der Montage. Eisenstein entwickelte für seine Filme unterschiedliche Montagetypen. Um nur zwei sehr populäre hier anzuführen und anhand jeweils eines Beispiels zu veranschaulichen, sei auf die sogenannte Kollisionsmontage und Eisensteins intellektuelle Montage eingegangen. - Widerstreit der Bilder - die Kollisionsmontage Hierbei handelt es sich um eine Montageform bei der heterogene, zumeist gegensätz‐ liche Bildsequenzen durch einen Schnitt ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, womit die Bildsequenzen ‚kollidieren‘, also aufeinanderprallen. Beispiele dafür sind: Ein einzelner Akteur wird gegen Menschenmassen geschnitten, eine Bildsequenz aufgenommen aus der Untersicht gegen eine aus der Aufsicht gefilmte, eine dunkle Bildsequenz gegen eine helle, eine Bewegung in das Bild hinein gegen eine Bewe‐ gung aus dem Bild heraus usw. In Oktober gibt es etliche solcher Sequenzen. So ist beispielsweise ein Soldat der Zarenarmee mit einem Maschinengewehr zu sehen und in schnellem Wechsel gegen eine protestierende Menschansammlung geschnitten (vgl. Abb. 4.67a-b). 272 4 Politische Medienikonografie <?page no="273"?> Abb. 4.67a-b: Ein Maschinengewehr trifft auf die Masse Die Bewegungsrichtung der Maschinegewehrmündung und die der protestierenden Menschen sind dabei gegenläufig organisiert, im ersten Fall von unten rechts nach oben rechts, im zweiten Fall von oben links nach unten rechts mit einem ‚Knick‘ mittig am rechten Rand, um von dort nach links unten zu wechseln. Ist die erste Bildsequenz vergleichsweise verknappt, so die zweite durch die vielen wuselnden Menschen gesättigt [↑ III. Bildfeld]. Mit diesen Kollisionen wird die Differenz zwischen militärischer Zarenmacht und demonstrierenden Arbeitern offensichtlich gemacht - und im Laufe der Filmsequenz moralisch aufgeladen. Spätestens dann, wenn der Soldat beginnt, wild und willkürlich in die Menschenmasse zu schießen, wir deutlich markiert, wer hier blindwütiger Akteur, wer hingegen unschuldiges Opfer ist. - Zwischen den Bildern - die intellektuelle Montage Bei der intellektuellen Montage geht es darum, dass zwei isolierte Einstellungen erst durch eine von Rezpient: innen selbst zu leistende Abstraktion Bedeutung erhalten. Ist die Bedeutung bei oben geschilderter Kollisionsmontage vergleichsweise einfach per Gegensatz und bei Beibehaltung der Einheit von Raum und Zeit strukturiert - das Maschinengewehr des Soldaten ist auf die Menschenmasse vor Ort gerichtet - so ist eine solche Verknüpfung durch oppositionellen Widerstreit bei der intellektuellen Montage nicht gegeben. Die zwei Einstellungen stehen in einem Konflikt insofern, als sie unmittelbar nichts miteinander zu tun haben scheinen, metaphorisch ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Genau das erfordert eine hochgradige Abstraktionsleistung im Rezeptionsakt. Um dies an einem Beispiel aus Oktober zu veranschaulichen: Der General Kerenski wird in mehreren Einstellungen gezeigt, abwechselnd mit Einstellungen einer Pfauen‐ statue (vgl. Abb. 4.68). Beide Einstellungsreihen sind vollkommen isoliert voneinander, stehen in keinem raum-zeitlichen Verhältnis, haben keine kausale Verbindung. Die Rezpient: innen müssen aktiv den Konflikt dieser Einstellungen kognitiv lösen, indem 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 273 <?page no="274"?> sie den Pfau als Metapher zur Charakterisierung des Generals verstehen. Die Bewer‐ tung von Kerenski, nämlich als jemand, der sich als Pfau gebärdet, also eitel ist, findet sich nicht selbst in den Einstellungen, sondern eben nur zwischen den Bildern. Synthese Bedeutung von Einstellung A und B durch Verknüpfung mittels Montage Kerenski gebärdet sich wie ein Pfau - These - Einstellung 1 - Kerenski - Antithese - Einstellung 2 - Pfau Abb. 4.68: Das Eitle zwischen den Bildern: Kerenski gebärdet sich wie ein Pfau Dass diese Verknüpfung einer dialektischen Struktur entspricht und insofern einer dezidiert marxistisch-leninistischen Vorstellung von Geschichts- und Erkenntnisent‐ wicklungen, zeugt deutlich von der politischen Agenda, die Eisensteins Filmen zu Grunde liegt. Das Besondere daran ist, dass es sich eben nicht nur um inhaltliche Darstellung politischer Ereignisse und Charakterisierung politischer Akteure handelt, sondern korrespondierend durch die (Montage-)Form realisiert wird. - Benjamins ‚Chock‘ und Eisensteins Kollision Vor allem Eisensteins Kollisionsmontage passt zu Benjamins Thesen vom prinzipiel‐ len ‚Chock‘-Charakter des Films, der uns dazu animiert, eine kritisch-distanzierte Rezeptionshaltung einzunehmen. Die intellektuelle Montage wiederum löst vielleicht keinen ‚Chock‘ aus, ist aber zumindest auf hochgradige Irritation angelegt, weil zwei isolierte Einstellungen in Konflikt zueinanderstehen und nur durch distanzierte Abstraktionsleistung (in Form einer Metaphernbildung) sinnvoll verbunden werden können. Die technische Reproduktionslogik des Films - also das, was die Materialität des Films laut Benjamin ausmacht und worauf seine gesellschaftspolitische Utopie fußt - wird in Eisensteins Filmen durch Verknüpfung von Bild- und Montageform 274 4 Politische Medienikonografie <?page no="275"?> mit dem Inhalt sozialistischer Revolutionsbestrebungen in einer dezidiert politischen Filmästhetik materialisiert. Variabilität und Unbestimmtheit der Materialität Das Problem an Benjamins Ansatz besteht indes darin, dass es viele Fälle gibt, die weniger gut zu seinen Thesen passen als Eisensteins Filme. Man denke nur an Filme wie Triumph des Willens von Leni Riefenstahl aus dem Jahr 1935. Der Film doku‐ mentiert den sechsten Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg. In diesem Film wird Adolf Hitler nicht nur ähnlich heroisiert wie Lenin bei Eisenstein. Diese geschieht überdies gerade nicht mittels Kollisionsmontage oder konfliktöse Verknüpfung heterogener Elemente, sondern durch eine quasi-organische Verknüpfung der Bildelemente und ihrem harmonischen Zusammenspiel. Das ist etwa der Fall, wenn Hitler aus starker Untersicht als Akteur in Szene gesetzt wird, dem sich die Wolken in seiner Bewegung anzuschmiegen scheinen und er so in langen Einstellungen als Himmelsgestalt vorstellig wird (vgl. Abb. 4.69). Eine zerstreuende oder gar kritische Rezeption scheint dabei nicht nahe zu liegen, eher ein kontemplatives Versenken in die Filmbilder. Hier wird nicht etwa durch das technische Reproduktionsmittel Film eine Politisierung des Kunstwerks vorgenommen, sondern genau im Gegenteil eine Ästhetisierung des Politischen. Abb. 4.69: Hitler, die Himmelsgestalt Ähnliches ließe für viele digitale Bilder formulieren. Zu denken ist etwa an sogenannte Cinemagramme, die - im Gegensatz zu GIFs - keine ‚armen Bilder‘ dar‐ stellen, sondern digitale Standbilder, die eine kleine, sich wiederholende Bewegung enthalten in besonders guter Auflösung. Auch hier scheint eine kontemplative Rezeptionsart sehr viel näher zu liegen als eine kritische, obwohl es sich dabei 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 275 <?page no="276"?> ganz sicher um technisch reproduzierte Bilder handelt. Auch Bilder mit minimalen Bewegungen, etwa einem langsamen Zoom hin auf ein Gesicht, werden auf diversen Plattformen zum Kauf angeboten, um damit für Werbezwecke, Dokumen‐ tarfilme und Ähnlichem eingesetzt zu werden. Das Unternehmen Pond 5 bietet beispielsweise ein solches Bild von Hitlers Gesicht vor schwarzem Hintergrund an (vgl. Abb. 4.70). Abb. 4.70: Hitler, auratisch herangezoomt Pond 5 lizenziert unter anderem Stock Footage und Bilder. Ein beliebtes Motiv ist Hitlers Gesicht vor schwarzem Hintergrund, an das langsam herangezoomt wird. Auch hier geht es wohl eher um Atmosphäre und buchstäblich eine sich ins Bild versenkende Rezeption, weniger um eine kritische. Diese Gegenbeispiele sollen nicht zeigen, dass die Frage nach der Materialität obso‐ let ist. Es soll damit vielmehr darauf hingewiesen sein, dass die Materialität der Bilder immer schon in bestimmte Praktiken, Institutionen, Ideologien, rechtlichen und ökonomischen Bestimmungen eingebunden ist. Das wiederum heißt für die Analyse, dass ein mono-kausaler Schluss von der Materialität auf die Wirkung oder Darstellungsoptionen der Bilder viel zu kurz greift. Die technische Reproduzierbarkeit von Bildern erzeugt nicht automatisch eine kritische Rezeptionsart; auch Medieniko‐ nen können stabil im digitalen Netzwerk zirkulieren oder dort ausgebildet werden; Herrschaftsräume sind nicht automatisch nur auf Dauer und nicht auf Expansion angelegt, wenn sich dort Statuen und Monumente finden. Um die Materialität der Bilder plausibel fruchtbar machen zu können, muss die Analyse der Materialität der Bilder erweitert werden, womit der zweite und entscheidendere Aspekt des medialen Kanals in den Blick zu nehmen ist, nämlich die Infrastruktur. 276 4 Politische Medienikonografie <?page no="277"?> 353 Zur Nutzbarmachung des Konzepts der Infrastruktur für die Medienwissenschaft vgl. instruktiv: Gabriele Schabacher, Medium Infrastruktur. Trajektorien soziotechnischer Netzwerke in der ANT, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2 (2013), S.-129-148 wie auch: dies., Infrastruktur-Ar‐ beit. Kulturtechnik und Zeitlichkeit der Erhaltung, Berlin 2022, v.a.: S.-27ff. 354 Vgl. dazu und zum Folgenden auch: Schabacher, Zur Einführung, S.-283f. 4.4.2 Infrastruktur ‚Infrastruktur‘ ist ein Begriff, der in diesem Zusammenhang vielleicht erst einmal verwunderlich erscheinen mag, denkt man doch bei diesem Wort wahrscheinlich eher an Dinge wie die städtische Wasserversorgung oder Verkehrswege, nicht aber zuvorderst an Medien, geschweigen denn an Bilder. 353 Unterschieden wird in lexika‐ lischen Einträgen zur Infrastruktur häufig zwischen sozialen Infrastrukturen, etwa Krankenhäuser, Einkaufsstätten oder kulturelle Einrichtungen wie Jugendzentren oder Kinos, und technischen Infrastrukturen, beispielsweise Energieversorgung, Verkehrs- oder Nachrichtenübermittlung. Die Funktion solcher Infrastrukturen besteht darin, diverse und heterogene Elemente in ein Verhältnis zueinander zu setzen, um soziale und/ oder technische Zusammenhänge zu harmonisieren, zu stabilisieren und in vielen Fällen zu standardisieren, etwa um die Müllentsorgung in einer bestimmten Region oder auch den Rundfunkempfang zu garantieren. Infrastruktur Der Begriff hat seine wortgeschichtliche Herkunft aus dem Lateinischen. Er setzt sich zusammen aus inf(e)ra, was ‚unterhalb‘ bedeutet und aus structura, was so viel wie ‚Struktur‘, ‚Aufbau‘, ‚Bau‘ meint. Dementsprechend bedeutet Infrastruktur ‚Unterbau‘, womit letztlich eine Anordnung diverser, zumeist heterogener Teile gemeint ist, die ‚unterhalb‘ des direkt Zugänglichen bzw. Offensichtlichen situiert sind und dieses organisieren bzw. (strukturierend) tragen. 354 Daran sind in vorliegendem Zusammenhang insbesondere zwei Aspekte wichtig. Erstens geht es darum, was unterhalb bzw. jenseits der Bildoberfläche existiert und dennoch eine Verbindung zum Bild hat, dieses ‚trägt‘ bzw. seine Sichtbarkeit garantiert und strukturiert, insofern es Einfluss auf die Wahrnehmbarkeit Wirkung und Deutung des Bildes hat - obwohl oder genauer eigentlich: weil diese Aspekte untergründig, zumeist der Sichtbarkeit entzogen, situiert sind. Zweitens teilen Medien mit Infrastruk‐ turen die Eigenschaft, zu verbinden und zu vermitteln [↑ Kap. 2, Medien]. Damit ist nicht nur eine Analogie der Funktionsweise von Medien und Infrastruktur bezeichnet, sondern weit wichtiger: Medien haben eine infrastrukturelle Dimension, die über ihre unmittelbare Trägermaterialität hinausgeht. Es ist nämlich nicht nur wichtig, ob ein Bild als steinernes Denkmal in Erscheinung tritt oder als fotografische Reproduktion, sondern eben auch, in welchen institutionellen, ökonomischen, technologischen Infra‐ strukturen das Bild eingebunden ist. Ob ein Bild Bestandteil eines Museums ist, als GIF 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 277 <?page no="278"?> 355 Vgl. dazu und zum Folgenden: Staal, Propaganda Art, S.-22ff. im Netz zirkuliert oder als Poster an der Wand hängt, ist ein für die Wahrnehmbarkeit, Wirkung und Funktion nicht unwesentlicher Aspekt, der mit vielen anderen Elementen zusammenhängt. Beim Museum sind das beispielsweise Konventionen, wie man sich im Museum verhält, welche Hausordnung einem solchen Besuch zugrunde liegt, wie die Räume gestaltet sind, ob das Museum einen staatlichen oder privaten Träger hat etc. Welche Aspekte solcher Infrastrukturen besonders relevant sein können und auf welche Weise solche zu analysieren sind, darum soll es im Folgenden gehen. - Telegraphen-Kabel-Empire Um einleitend ein Beispiel anzuführen, das deutlich machen dürfte, warum Infrastruk‐ tur ein entscheidender Faktor im Kontext politischer Kommunikation ist, sei nur auf die sogenannte All Red Line-Telegraphenverbindung eingegangen. 355 Am 4. August 1914 erklärte das britische Empire Deutschland den Krieg. Im Zuge dessen kappte Großbritannien einige der Telegraphenverbindung ihrer 1902 in Betrieb genommen All Red Line (vgl. Abb. 4.71). Dies war ein Kommunikationsnetz, das die Gebiete der damaligen imperialen Macht tatsächlich rund um den Globus mit ihren Kolonien verband. Beliebt war dieses Telegraphennetz, weil es schnellen und - im Gegensatz zu akustischen Kommunikationsformen wie dem Funk - abhöhrsicheren Informati‐ onsaustausch ermöglichte. Gekappt wurde die Verbindung zu Beginn des Ersten Weltkrieges, da sie dem Deutschen Reich bis dahin eine direkte Verbindung mit den USA ermöglichte. Die verbleibenden Verbindungen wurden indes vermehrt genutzt, um Informationen jenseits des deutschen Zugriffs zirkulieren zu lassen. 278 4 Politische Medienikonografie <?page no="279"?> Abb. 4.71: All around the World: Telegraphen-Empire Der Punkt, um den es geht, ist: Infrastrukturen sind nicht einfach nur dafür da, die Möglichkeit bereitzustellen, Informationen von A nach B zu senden, sondern durch - in diesem Fall politisch motivierte - Monopolisierung und Exklusion feindlicher Akteure festzusetzen, wer überhaupt welche Informationen zu welchen Zwecken erhalten kann und wer davon ausgeschlossen ist. Passend dazu etablierte die britische Regierung das erste (streng geheime) Propagandabüro, das unter anderem politische Appelle durch die Telegrapheninfrastruktur nahezu weltweilt versendete. Technische und institutionelle Aspekte gingen so Hand in Hand. Um es wieder auf die Analyse politischer Bilder zu wenden: Es geht nicht nur um die politischen Botschaften der Bilder, sondern ebenso um die politische Macht und die politische Auseinandersetzung, wer überhaupt unter welchen Bedingungen Bildbotschaften verbreiten kann (und wer nicht bzw. wer daran gehindert wird). - Drei Zugriffe auf Infrastrukturen Zur Analyse werde ich drei Zugriffe vorstellen, die die Infrastruktur unterschiedlich perspektivieren und skalieren (vgl. Abb. 4.72). Beim ersten Zugriff geht es um die materiell-räumliche Dimension - und damit um die Wahrnehmungsanordnung der Bilder im Raum. Der zweite Zugriff fokussiert die organisational-institutionelle Dimen‐ sion. Hierbei handelt es sich um das, was als Bildagenturen bezeichnet werden kann, also um Institutionen bzw. Organisationen, die Besitz, Zugriff und Zirkulation von Bildern regulieren. Der dritte Zugriff beschäftigt sich mit der technisch-prozessualen Dimension. Damit rückt zuvorderst die Hard- und Software in den Blick, die die 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 279 <?page no="280"?> 356 Vgl. dazu knapp einführend: Grampp, Medienanalyse, S.-265ff. 357 Vgl. dazu: Schabacher, Medium Infrastruktur, S.-133. Grundlage für Zugänglichkeit, Speicherung und Verbreitung von Bildern garantieren und strukturieren. materiell-räumliche Dimension: Wahrnehmungsanordnung der Bilder organisational-institutionelle Dimension: Agenturen der Bilder technisch-prozessuale Dimension: Zirkulation der Bilder Infrastruktur Abb. 4.72: Drei Ebenen der Infrastruktur Im ersten Fall geht es um eine räumlich-materielle Infrastruktur, in denen die Bilder situiert sind, also um das, was im medienwissenschaftlichen Kontext häufig als Dispo‐ sitiv bezeichnet wird. 356 Im zweiten Fall sind es maßgebliche institutionelle Akteure, etwa Informations- und vor allem Bildagenturen, wie Stock Photography, die für viele Bilder die Rechte innehaben, Bildzirkulation dementsprechend überwachen sowie verknappen. Hier geht es dann nicht um die politischen Inhalte von Bildern, sondern um die rechtlichen Rahmenbedingungen, den ökonomischen Wert und die im Kontext der Bilder auftretenden politischen Strategien. Kürzer formuliert: Nicht relevant ist die Politik der Bilder, sondern die Politik mit Bildern. Die dritte Ebene kommt dem, was gemeinhin als Infrastruktur im engeren Sinn bezeichnet wird, wohl am nächsten. Sie beinhaltet genau besehen zwei Bereiche, nämlich einerseits eine räumliche Etablierung von Infrastrukturen und anderseits eine zeitliche, werden doch auch die Prozesse von Arbeitsabläufen oder Vernetzungsroutinen infrastrukturell geregelt. 357 Die Trennung in diese drei Dimensionen und Zugriffe ist aber, das sei eigens vermerkt, eine heuristische, was konkret bedeutet: Aspekte der Dimensionen lassen sich in den jeweiligen Bespielanalysen nicht scharf trennen und greifen immer wieder ineinander. 280 4 Politische Medienikonografie <?page no="281"?> 358 Vgl.: Jean-Louis Baudry, Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat [1970], in: EIKON. Interna‐ tionale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, 5 (1993), S.-36-43. I. Materiell-räumliche Infrastruktur: Wahrnehmungsanordnung der Bilder Die Konzentration auf die materiell-räumliche Anordnung des politischen Bildes geht aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive meist einher mit einer bestimmten Prämisse: Ob etwa eine Statue vor Ort rezipiert wird, wo sie steht, ob als Teil eines Wahlplakates, einer Reproduktion auf einer Postkarte, auf dem Handy oder als Teil eine Nachrichtensendung im Fernsehen - entscheidend ist, dass die Wahrnehmung der Statue vor Ort, als Teil eines Wahlplakates, auf der Postkarte, im Fernsehen oder auf dem Handydisplay durch die jeweilige materielle-räumliche Anordnung präformiert ist - und zwar unabhängig davon, was die Statue konkret darstellt. Dies bedeutet dann eben auch: Der räumliche Kontext, in dem die Statue situiert ist, entscheidet maßgeblich darüber, wie die Statue überhaupt wahrgenommen werden kann und welche Art und Weise der Rezeption nahegelegt wird. Besonders interessant scheint mir dieses Konzept nicht nur, weil es für die konkrete technisch-räumliche Wahrnehmungsanordnung sensibilisiert, die (meist unbewusst) die Rezeption eines medialen Angebots ausrichtet. Darüber hinaus soll gelten: Dem Rezipienten wird eine bestimmte Vorstellung von sich selbst, ‚seinem Selbst‘ nahege‐ legt. Insofern beinhaltet das Dispositiv ein Appell nicht nur zur spezifischen Rezeption, sondern prinzipieller noch: einen Aufruf eine bestimmte Subjektposition zu besetzen und zu verinnerlichen. Kurz: Das Dispositiv ist ein Mechanismus zur Subjektivierung. Das mag sich recht abstrakt ausnehmen. Zur Plausibilisierung soll auf ein Konzept verwiesen werden, das weiter vorne bereits ausführlicher dargestellt wurde, nämlich die Interpellation nach Louis Althusser [↑ Interpellation]. Zur Erinnerung: Bei Althus‐ ser meint dieser Begriff die kommunikative Anrufung eines Individuums, um diesem einen bestimmten Subjektstatus zuzuweisen oder doch zumindest anzubieten. Mediale Angebote beinhalten neben explizit artikulierten Botschaften und Formen immer auch den Appell an den Rezipienten, sich als Subjekt in ein Verhältnis zu dem Wahrgenom‐ menen zu setzen. Durch solche Anrufungen werden nicht nur Informationen und Bedeutung übermittelt, sondern Subjekte geformt oder doch Subjektvorstellungen geprägt. Man denke nur noch mal an das Beispiel des US-amerikanischen Rekrutie‐ rungsplakats mit Onkel Sam, der die Passanten ‚direkt‘ anspricht mit den Worten „I want you! “ [↑ Abb. 4.35]. - Dispositive Wahrnehmungsanordnung als Interpellation Geht es im Fall von Althussers Interpellation um sehr konkrete Inhalte und Formen medialer Angebote, so wird dies in und mit der Dispositivanalyse verlagert. Einer der zentralen Vordenker der Dispositivanalyse, nämlich der psychoanalytisch ausgerich‐ tete Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry bezieht sich explizit auf Althussers Interpella‐ tionskonzept und wendet dieses auf die technisch-räumliche Anordnung. 358 Nicht die 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 281 <?page no="282"?> Inhalte von Filmen erzeugen aus dieser Perspektive die Interpellation, sondern das Kino als technisch-räumliche Wahrnehmungsanordnung stellt die eigentliche Anrufung zur Subjektivierung dar. Baudry vergleicht die Situation der Zuschauer: innen im Kinosaal mit dem Traum‐ geschehen, ist das Publikum doch in einem abgedunkelten Raum immobilisiert und hin auf eine große Leinwand ausgerichtet. Abgeschattet ist dabei der technische Projektor. Durch diese Anordnung vergessen die Zuschauer: innen temporär, dass das, was sie auf der Leinwand wahrnehmen, nur eine Fiktion ist, ähnlich wie im Traum. Damit lassen sich, laut Baudry, regressive Bedürfnisse befriedigen, indem man sich von dem Wahrgenommenen sinnlich überwältigen lässt, sich mit buchstäblich übergroßen Figuren auf der Leinwand identifiziert und damit seine narzisstische Weltwahrnehmung imaginär ausleben kann. Unabhängig davon, ob man diesen tiefenpsychologischen Implikationen folgen will oder nicht, ist daran wichtig: Jenseits vom Inhalt des jeweiligen Films wird durch die Wahrnehmungsanordnung des Kinosaals eine Subjektposition nahegelegt. Das Kino wird so nicht mehr nur als Ort betrachtet, an dem je nach individueller Vorliebe ein Unterhaltungsbedürfnis befriedigt wird. Es geht nicht einfach darum, eine räumliche Wahrnehmungsanordnung zur Verfügung zu haben, mittels derer man unbeobachtet im dunklen Kino endlich einmal seine regressiven und narzisstischen Begierden ausleben kann. Vielmehr gilt untergründiger und subtiler: Die Zuschauer: innen werden zuallererst als bestimmte Subjekte situiert, die sich genau durch solche Begierden im Innersten selbst verstehen und definieren sollen. - Lenin als Dispositiv Solch eine Annahme lässt sich auch jenseits der Kinoanordnung für die Analyse politischer Medienikonografie produktiv machen, etwa für die Analyse politischer Monumente. Auf dem Lenin-Platz in Berlin Friedrichshain wurde 1970 eine Lenin-Sta‐ tue zum 100-jährigen Jahrestag des sowjetischen Staatsgründers eingeweiht. Die Höhe der Statue betrug 17 Meter und ragte über dem Platz vor dem Hintergrund von Plattenbauten auf (vgl. Abb. 4.73a). Die Wahrnehmungsanordnung impliziert nicht nur, dass sich Menschen auf dem Platz unter der Statue versammeln und gemeinsam, im Kollektiv, nach oben zu Lenin schauen. Darüber hinaus passen sich die geometrisch rechteckigen Elemente der Statue in die Musterformen der sie umgebenden Platten‐ bauten ein, womit ein Zusammenhang zwischen Lenin und den (damals modernen) Plattenbauten hergestellt wird. Schauen die auf dem Platz Versammelten von unten hoch zur Statue, verlängert sich ihr Blick auf die Plattenbauten darüber und dahinter. Durch diese Anordnung wird ein Zusammenhang zwischen Lenin und Plattenbauten suggeriert, der Lenin zur Grundlage der Plattenbauten und damit zum Gründungsvater des Sozialismus macht, der in die materiellen Errungenschaften des Sozialismus der Gegenwart buchstäblich materiell hineinragt. 282 4 Politische Medienikonografie <?page no="283"?> Abb. 4.73a-b: Lenin draußen und drinnen An diesem Beispiel wird hoffentlich deutlich, wie die räumlich-materielle Anordnung die Wahrnehmung der Statue präformiert und wie hier den Rezipient: innen eine Subjektposition im Kollektiv unter dem alles überragenden Lenin angeboten wird. Zudem ist es auch ein Beispiel dafür, wie Wahrnehmungsanordnung, ästhetische Formen und Inhalte eines medialen Artefakts zu politisch-strategischen Zwecken und Machtdemonstrationen verbunden werden können. - Lenin, geköpft Folgt man dem Dispositiv-Ansatz konsequent, muss mit einem Wechsel der Räume eine andere Präformation der Wahrnehmung einhergehen wie auch andere Subjektpositi‐ onen angeboten werden. Das weitere Schicksal der Lenin-Statue liefert hierfür ein anschauliches, - je nach politischer Haltung - mehr oder minder trauriges Schicksal. Nach dem Zerfall der DDR wurde die Statue Lenins vom Friedrichhain abgetragen. Der Kopf der Statue landete nach einigen Irrungen und Wirrungen vor wenigen Jahren im sogenannten Proviantmagazin der Zitadelle in Berlin Spandau und ist dort seither Teil der Dauerausstellung Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler (vgl. Abb. 4.73b). Hier ragt Lenin nicht mehr über den Besucher: innen auf, sondern ist in einem vergleichsweise niedrigen Innenraum auf einer Ebene mit diesen angeordnet. Zudem ist der Kopf auf die Seite gewendet und erweckt so den Eindruck, dass Lenin schläft oder doch zumindest längst vergangenen (besseren) Tagen mit leicht geöffneten Augen nach unten gewendet nachsinnt. Was man auch immer von solch einer Deutung halten mag, Lenis Kopf legt durch diese Wahrnehmungsanordnung eine ganz andere Rezeptionseinstellung nahe, als wenn der Kopf knapp 15 Meter über dem Boden in den Himmel ragt vor dem Hintergrund einer Plattenbausiedlung. Die Subjektposition, die den Rezipient: innen angeboten wird, könnten unterschiedlicher kaum sein: Einmal soll man sich unter Lenin versammeln und sich als Teil eines leninistischen Kollektivs 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 283 <?page no="284"?> verstehen, im anderen Fall sieht man auf ein liegendes Lenin-Gesicht, dessen Blick nach unten gerichtet ist. Wir blicken so nicht auf einen Lenin, der ‚unsere‘ Zukunft einläutet und mit seinem in die Ferne gewendeten visionären Blick uns dahin geleiten wird, sondern auf einen Lenin-Kopf, der einer vergangenen Epoche angehört und dem gegenüber man, wenn überhaupt nur noch, Nostalgie, Melancholie oder morbide Ruinen-Faszination empfindet. Dementsprechend ist das Subjekt, das hier angerufen wird, ein sehr viel distanzierteres als das, das uns im Friedrichshain angeboten wurde, nehmen doch bei ersterem touristische Museumsbesucher: innen Kontakt mit Spuren einer konstitutiv längst abgeschlossenen Epoche auf. Die in Stein gehauene Zukunftsvision im Friedrichshain ist längst vergangen. - Lenin im Kino, auf dem Handy und einer Postkarte Wenn die Lenin-Statue als Reproduktion etwa auf dem Handy, im Kino, auf einer Post‐ karte oder im Fernsehen zu sehen ist (vgl. Abb. 4.74a-c), sind die räumlich-materiellen Wahrnehmungsanordnungen ebenfalls jeweils sehr unterschiedlich, dementsprechend die jeweiligen Rezeptionsvorgaben anders ausgerichtet. Es macht eben einen großen Unterschied, ob ich die Lenin-Statue auf einer großen Leinwand in einem verdunkelten Raum zu sehen bekomme oder als Teil eines Fernsehprogramms, das auf einem kleinen Apparat im privaten Wohnzimmer ‚nebenbei‘ rezipiert wird. Good Bye, Lenin! ; -) Abb. 4.74a-c: Lenin in unterschiedlichen Reproduktionsanordnungen Eine Reproduktion der Lenin-Statue, die ich auf einem Handy aufrufen kann, macht nicht nur die individualisierte, hochgradig mobile Zugänglichkeit des Monuments deutlich, sondern zudem, dass mit Dispositiv-Wechsel häufig auch Formatwechsel einhergehen, die den Ausschnitt einer Abbildung verändern und/ oder Nähe bzw. Ferne zum Monument neu justieren - und damit eben auch das Verhältnis der Rezipient: innen zum Objekt. Bei unterschiedlichen Ausschnitten kommt es durch Formatvorgaben zu Effekten, die etwa den Status der Statue im Hinblick darauf betreffen, ob diese zentral ist und der Kontext abgeschattet ist oder aber, ob der Kontext, etwa die Korrespondenz zwischen der Lenin-Statue und Plattenbauten, in den Fokus rücken. Je nachdem - und häufig 284 4 Politische Medienikonografie <?page no="285"?> 359 Vgl. dazu und zum Folgenden: Schankweiler, Bildproteste, S.-21ff. auch unabhängig von Absichten derjenigen, die das Bild veröffentlichen - verändert es die Rezeption und die Interpretationsspielräume der Statue. Anhand einer historischen Postkarte aus den 1970er-Jahren ist das besonders deutlich zu erkennen (vgl. noch einmal Abb. 4.74c). Hier sind mehrere fotografische Ausschnitte vom Lenin-Platz versammelt. Nur einer dieser Ausschnitte zeigt die Lenin-Statue. Wir schauen in diesem Fall also nicht nur nicht zu Lenin hinauf, haben ihn nicht nur en minature vor uns, sondern betrachten ein collagiertes Panorama des Lenin-Platzes aus unterschiedlichen Ansichten. Genau besehen wird hier Lenin im Verhältnis zu modernen technischen Errungenschaften, Automobil, Straßeninfrastruk‐ tur und Plattenbauten, an den Rand gedrängt. Lenin ist damit eine Sehenswürdigkeit unter vielen anderen - und nicht einmal die wichtigste. Ob Lenins Statue auf einer Postkarte erscheint, auf einer Filmleinwand in einem abgedunkelten Kinosaal reproduziert wird, auf dem Display eines Handys samt textu‐ eller Verabschiedung, hoch vor Plattenbauten aufragt oder nur der Kopf der Statue an einem musealen Erinnerungsort archiviert ist, macht für die Rezeption jedenfalls einen erheblichen Unterschied. - Dispositiv Handy-Protest-Video Um eine dispositive Wahrnehmungsanordnung noch anders zu perspektiveren und so zu zeigen, wie diese in vielen Fällen bereits auf Vernetzung angelegt ist [↓ (3) Technisch-prozessuale Infrastruktur], sei auf ein kurzes mit dem Handy gefilmten Video verwiesen, das noch am selben Tag der Aufnahme, nämlich am 25. Januar 2001 auf Plattformen wie YouTube und Facebook hochgeladen wurde und im Anschluss daran schnell ,viral gingʻ. Dabei handelt es sich um ein Video, das unter dem Titel Tianan‐ men-like courage in Cairo bekannt wurde. 359 Verwackelt und in schlechter Auflösung ist eine Straßenszenerie in Kairo zu sehen (vgl. Abb. 4.75a). Dort versammelten sich Menschen, um an einem offiziellen Feiertag, dem sogenannten Tag der Polizei, gegen den autokratisch regierenden Staatspräsidenten Hosni Mubarak zu demonstrieren. Im Laufe des Videos ist zu erkennen, dass Polizeikräfte vorrücken und die Demonstrie‐ renden mit Wasserwerfern auf gepanzerten Fahrzeugen auseinandertreiben wollen. Eine einzelne Person bleibt vor den gepanzerten Wagen stehen und versperrt ihnen kurz die Weiterfahrt (vgl. Abb. 4.75b). Diese Person wurde bereits im oben genannten Titel (‚Tiananmen-like ‘) verglichen mit dem sogenannten Tank Man, der sich während der Proteste in Peking im Jahr 1998 auf dem Tiananmen-Platz einer Panzerkolone entgegengestellt hatte [↓ Tank Man und Panzer ]. Eine Fotografie von dieser Situation wurde schnell zu einer äußert populären Medienikone [↑ Kap. 3, Medienikonen] und zum Inbegriff für mutigen Widerstand gegen staatlich-totalitäre Gewalt. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 285 <?page no="286"?> 360 Zitiert nach: ebd., S.-22. 361 Zu Formen und Funktionen von Zeugenschaft, auch und gerade im Kontext ‚verteilter‘ Zeugenschaft digitaler Fotografien instruktiv und ausführlicher: Winfried Gerling u. a., Bilder verteilen. Fotogra‐ fische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018, S.-161ff. Abb. 4.75a-b: Ein ‚Tank Man‘ in Kairo am Tag der Polizei Doch nicht die ikonischen Qualitäten oder die Interikonizität [↑ Kap. 3, Interikonizität] dieser Aufnahme ist hier von Interesse, sondern sehr viel mehr, wie sie aufgenommen wurde und welche Wahrnehmungsanordnung damit verbunden ist. Zunächst einmal ist auffällig, dass es eine dreifache Staffelung von Wahrnehmungsanordnungen zu geben scheint. Erstens wird ein Ereignis dokumentiert und videografisch bezeugt. Zweitens hören und sehen wir zum Teil diejenigen, die Handyvideos von einem Balkon aus aufnehmen (vgl. noch einmal Abb. 4.75a). So spricht der Aufnehmende beispielsweise mit den Demonstrierenden, wenn er ihnen zuruft „Seid vorsichtig, sie werden Gasbomben auf Euch werfen! “ 360 . Der Bezeugende ist also vor Ort und in gewisser Weise Teil des Bezeugten. Drittens werden wir sehr schnell, potenziell noch am selben Tag, Zeugen dieser Zeugenschaft, da das Video auf diversen digitalen Plattformen weltweit zugänglich gemacht und geteilt wurde. Diese Staffelung von Zeugenschaften, die nahezu simultan von statten geht, ist gerade aufgrund ihrer zeitlich engen Verzahnung - möglich gemacht durch eine spe‐ zielle dispositive Anordnung: ein Handy, das Videos aufnehmen kann und verbunden mit dem Internet ist - nicht nur Zeugenschaft von einer politischen Demonstration. Darüber hinaus ist diese Wahrnehmungsanordnung eine, die affektgeladene Demons‐ trierende sowie davon affizierte Zeugen zeigt und somit auch eine affektive Rezeption nahelegt (vgl. Abb. 4.76). 361 286 4 Politische Medienikonografie <?page no="287"?> 362 Schankweiler, Bildproteste, S.-25. Zeugenschaft 1 Ein Handyvideo bezeugt ein Ereignis: protestierende Akteure und deren Konflikt mit Akteuren einer exekutiven Staatsgewalt Zeugenschaft 2 Akteure bezeugen das Ereignis vor Ort (simultan). Zeugenschaft 3 Die Rezipienten eines Handyvideos werden Zeugen eines Ereignisses und der simultanen Bezeugung dieses Ereignisses vor Ort an anderen Orten (nahezu simultan). Erzeugung einer Affektgemeinschaft Abb. 4.76: Affektive Zeugenschafts-Staffelung Dementsprechend findet zum einen in solchen Bildern eine Affektaufladung im Sinne Aby Warburgs statt [↑ Kap. 3, Pathosformel], zum anderen eine Interpellation im Sinne Althussers [↑ Interpellation]. Oder genauer eigentlich: Wir haben es mit einer Affekt aufgeladenen, auf Affizierung angelegte Anrufung der Rezipient: innen vor dem Bildschirm, Handy-Display oder Touchscreen zu tun, die uns zuzurufen scheint: ‚Werde und sei Teil dieser Affektgemeinschaft! ‘ Schankweiler schreibt in diesem Sinne: „Die geteilten Bilder vermitteln eine geteilte Gegenwart der Gemeinschaft der Augen‐ zeug*innen - jenen vor Ort und jenen an den Bildschirmen. Es ist diese Gleichzeitigkeit und die Vernetzung, die Bande zwischen den Ereignissen, den Zeug*innen und den Bildern knüpfen und eine Affektgemeinschaft konstituieren.“ 362 Freilich muss ein vernetztes Handy mit Videofunktion so eine Affektgemeinschaft nicht notwendigerweise erzeugen. Dennoch scheint mir das Dispositiv solch einen Einsatz durchaus nahezulegen, zumindest möglich zu machen. Das Dispositiv gibt es nicht! So instruktiv der Dispositiv-Ansatz auch sein mag, vor allem um die Aufmerksam‐ keit weg vom Bild und hin auf die Kontextfaktoren zu richten, so ist nichtsdes‐ totrotz seine Pauschalität ein Problem für konkrete Analysen. ‚Das Monument‘, ‚das Kino‘, ‚das Fernsehen‘, ‚die Postkarte‘, ‚das vernetzte Handy‘ sind letztlich gesehen zu grobschlächtige Kategorien, um für konkrete Analysen politischer Bilder fruchtbar gemacht zu werden. Zu unterschiedlich sind die historischen, 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 287 <?page no="288"?> 363 Vgl. dazu ausführlicher: Helmut Schanze/ Erhard Schüttpelz, Fragen an die Agenturtheorie der Medien, in: Archiv für Mediengeschichte. Themenheft: Agenten und Agenturen, 8 (2008), S. 149-164. sozialen, politischen Kontexte, zu variabel die jeweiligen Umgangsformen mit und Konventionalisierung von Wahrnehmungsanordnungen. Das Handy macht nicht an und für sich bestimmte Aufnahmen von Protestbewegung; eine Statue muss nicht zwangsläufig zur Gemeinschaft aufrufen usw. Wie eine Statue, eine Postkarte oder ein Handyvideo tatsächlich die Wahrnehmungen und das Subjektverständnis der Rezpient: innen präformieren, bleibt auf dieser Ebene nicht nur recht spekulativ, sondern birgt die Gefahr, die materiell-räumliche Anordnung zu essentialisieren. Zumindest - auch das zeigen meines Erachtens die angeführten Beispiele - muss der jeweilige Kontext über die rein-räumliche Wahrnehmungsanordnung vor Ort hinaus sowie die jeweiligen Funktionalisierungen betrachtet werden. Vor allem die jeweiligen strategischen Interessen, die damit verbunden sind, kommen ohne solch eine Kontextualisierung kaum in den Blick. Sie kommen indes vor allem dann in den Blick, wenn die konkreten Akteur: innen innerhalb von Infrastrukturen in den Fokus genommen werden. II. Organisational-institutionelle Infrastruktur: Agenturen der Bilder Agentur Der Begriff ‚Agentur‘ bezeichnet zunächst einmal ein Verhältnis zwischen einem Auftraggeber und einem Agenten, also dem Beauftragten, der sein spezialisiertes Wissen, seine ökonomischen Ressourcen, Kontakte und/ oder technologischen Netzwerke für den Auftraggeber einsetzt. 363 Dafür erhält der Agent entweder direkt eine Vergütung vom Auftraggeber oder indirekt, wenn er durch Steuergelder fi‐ nanziert wird. Eine Mehrzahl an Agenten können sich zu einer Agentur verbinden, verselbstständigen und sich als Organisationen institutionalisieren. So verstanden sind Agenturen Organisationen, die im Auftrag eines anderen handeln, um etwas oder jemanden zu vermitteln. Die Bundesagentur für Arbeit vermittelt Arbeitsstellen an Arbeitssuchende; eine Künstleragentur vermittelt Künstler: innen an Film- oder Fernsehprojekte im Auftrag dieser Künstler: innen. Eine Nachrichtenagentur wie dpa sammelt Nachrichten vorrangig aus der Politik und bietet diese meist in multimedialer Form für Presse, Fernsehen oder Online-Plattformen an, die insofern deren Auftraggeber sind. Der Auftrag dieser Agenturen besteht darin, Pressorgane mit Nachrichten aus der Welt zur Verbreitung oder Weiterverarbeitung, also, wenn man so will, gegen Vergütung mit Spezialwissen zu versorgen, um Öffentlichkeit herzustellen. Solche Agenturen können staatlich oder privatwirtschaftlich organi‐ siert sein, politische und/ oder ökonomische Ziele verfolgen. Privatwirtschaftliche 288 4 Politische Medienikonografie <?page no="289"?> 364 Vgl. zu Stock-Fotografien ausführlich: Paul Frosh, The Image Factory. Consumer Culture, Photogra‐ phy and the Visual Content Industry, New York 2003; knapper und mit neueren Daten: Philipp Sack, Andere Bilder, andere Archive, in: Victoria Fleming u. a. (Hg.), (Post)Fotografisches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Marburg 2016, S. 144-163. Zur Bestimmung dessen, was Agenturfoto‐ grafie generell ist und tut, vgl. auch: Bruhn, Bildwirtschaft, S.-19ff. 365 Vgl. dazu: ebd. 366 Chéroux, Diplopie, S.-35. Bildagenturen wie Alamy Stock bieten eine große Anzahl an Bildern zum Kauf an, unter anderem in Vertretung diverser Fotograf: innen. Diese Bilder können lizensiert auf Homepages oder in Zeitungen reproduziert werden. 364 Wichtig ist in vorliegendem Kontext, dass diese Agenturen, insbesondere wenn es sich um große Agenturen handelt, zentral mitentscheiden, welche Bilder und Bildmuster populär werden oder doch zumindest weite Verbreitung finden, welche überhaupt Relevanz in weiten Teilen der Öffentlichkeit erhalten, welche nicht. Bildagenturen verwalten, verwerten und bestimmen weite Bereiche öffentlicher Sichtbarkeit - eben auch von politischen Phänomenen. 365 - Verwaltung der Sichtbarkeit von 9/ 11 durch Bildagenturen Eindrückliche Beispiele dafür liefern die Titelseiten US-amerikanischer Tageszeitun‐ gen, die an den Tagen des 11. und 12. September 2001 veröffentlicht wurden. Der Fotohistoriker Clément Chéroux hat 400 solcher Titelseiten untersucht. Dabei kam er zu einem recht erstaunlichen Ergebnis. Nur 30 (! ) unterschiedliche Fotografien finden sich auf den 400 Titelseiten. Häufig abgebildet - wenngleich in unterschiedlichen Formanten und Zuschnitten - wurde die Explosion in einem der World Trade Tower, fotografiert von Spencer Blatt, der von der Agentur Getty Images vertreten wird (vgl. bspw. Abb. 4.77a-e). Chéroux formuliert im Anschluss an diesen Befund unter der Kapitelüberschrift „Das Paradox des 11. September“ diesbezüglich: „Eine kaum über‐ sehbare Menge Bilder wurde […] an jenem Tag gemacht. Wie aber ist dann die geringe Anzahl an Fotografien zu erklären, die auf den Titelseiten der Zeitungen veröffentlicht wurden? Eben hier liegt das Paradox der Berichterstattung über die Attentate in den Printmedien. Der 11. September stellt zweifelslos das meistfotografierte Ereignis in der Geschichte des Fotojournalismus dar, seine mediale Repräsentation scheint jedoch die am wenigsten differenzierte zu sein.“ 366 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 289 <?page no="290"?> 367 Vgl.: ebd., S.-36ff. 368 Ebd., S.-45. 369 Vgl.: ebd., S.-47. 370 Vgl.: ebd. 371 Ebd. S.-48. Abb. 4.77a-e: Unterschiedliche Zeitschriftentitelbilder - dasselbe Foto Nachdem der Fotohistoriker einige mögliche Gründe dafür diskutiert hat, 367 kommt er zum entscheidenden Punkt, nämlich die Hegemonie weniger Bild- und Nachrich‐ tenagenturen, die sich im Zuge der Deregulierung der Finanz- und Kommunikations‐ märkte seit den 1980er-Jahren herauskristallisiert hat. Diese Agenturen bilden seither ein „Fast-Oligopol“ 368 . Vor allem Nachrichtenagenturen wie Reuters und Associated Press (AP) bauten im Zuge dieser Entwicklung ihre Bilderdienste aus und konnten so ihrer Markanteile stark vergrößern. Faktoren für diese Expansion und die Vor‐ herrschaft auf dem Nachrichten- und Bildsektor waren infrastrukturelle Aspekte im engeren Sinne, nämlich die gut etablierten Vertriebsnetze, Erfahrungen mit Daten‐ übermittlung und die vergleichsweise frühe Verwendung digitaler Technologien. 369 Die US-amerikanische Berichterstattung über 9/ 11 bestätigt und verdichtet visuell diese Vorherrschaft in eindrucksvoller Weise. Von den 400 Titelbildern, die Chéroux untersucht hat, stammen sage und schreibe 299 (! ) von AP. 370 Doch damit nicht genug, AP, Reuters und AFP waren auch die globalen Lieferanten der Bilder. Dabei wurde ein zentrales Bildmotiv besonders häufig für die Titelseiten aufgegriffen: „Der Feuerball, den die Explosion des Tanks des Fluges 175 verursachte, […] umrundete dank AP auch den ganzen Planeten. Wenn in europäischen Tageszeitungen die Bilder nicht von Associated Press kamen, dann wurden sie gewöhnlich von Reuters oder AFP geliefert.“ 371 Mit dieser Hegemonie der Nachrichten- und Bildagenturen geht erstens eine ver‐ knappende Vereinheitlichung der Darstellung des Ereignisses im großen Maßstab, also nicht nur national, sondern transnational, ja, global einher. Zweitens formieren die Bildagenturen so entscheidend die Sichtbarkeit eines Ereignisses wie 9/ 11 als auch deren Erinnerung in weiten Teilen der Öffentlichkeit. Damit sind Bild- und Nachrich‐ 290 4 Politische Medienikonografie <?page no="291"?> 372 Natürlich kann es auch den Fall geben, dass Bildagenturen selbst mit dezidiert politischen Interessen verbunden sind, etwa, wenn Medienoligarchen wie Silvio Berlusconi ihre Medienunternehmen dazu verwenden, eine eigene politische Karriere zu initiieren und dementsprechend die (Bild-)Be‐ richterstattung auszurichten, vgl. zum Beispiel Berlusconis instruktiv: Tanja Weber, Ist Trump der amerikanische Silvio Berlusconi? Die italienische Medienpolitik und Medienpräsenz des Cavaliere, in: Maeder u. a. (Hg.), Trump und das Fernsehen, S. 266-306. Das soll hier aber nicht weiterverfolgt werden. 373 Frosh, Image Factory, S.-7, übersetzt von mir; SG. 374 Ebd., S.-2, übersetzt von mir; SG. tenagenturen nicht schon per se politisch, 372 aber sie sind durchaus relevant für die Analyse politischer Bilder und Strategien. Denn sie sind mächtige Präformationswie Schematisierungsinstanzen für die Wahrnehmung politischer Bilder und dementspre‐ chend Voraussetzung für eine Politik mit Bildern. Zugespitzt formuliert: Bildagenturen sind in der heutigen Medienlandschaft transzendental-politische Instanzen. Das soll heißen: Sie schaffen die Bedingungen, aufgrund derer konkrete Bildpolitik überhaupt erst möglich wird. Aufschlussreich ist daran zudem nicht nur, dass hinter solchen Darstellungen, die die Sichtbarkeit politischer Ereignisse regulieren und schematisieren, wenige Bildagenturen stehen. Zudem gilt, dass die Hegemonie bestimmter Nachrichten- und Bildagenturen, die zu solchen Schematisierungen und Reglementierungen führen, in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt oder zumindest in der Rezeption abgeschattet sind und unbemerkt bleiben. Auf den einzelnen Bildern jedenfalls ist dieser Zusam‐ menhang - mag man diese auch noch so lange akribisch betrachten, wie man will - nicht zu finden. Paul Frosh schreibt in seiner Untersuchung zur Stock Photography in diesem Sinne: „Es zeigt sich, dass die Stockfotografie gegenüber anderen Bereichen der zeitgenössischen visuellen Kultur einen mächtigen ideologischen Vorteil genießt, nämlich: Unsichtbarkeit.“ 373 Diese Beobachtung lässt sich auf global agierende Bild- und Nachrichtenagenturen generell ausweiten, also auf Instanzen, die große Teile unserer Bildwahrnehmung regulieren: „Unsere gewöhnliche, alltägliche visuelle Umgebung ist also das Produkt verborgener Kräfte.“ 374 Auch in diesem Sinne sind Bildagenturen transzendental-politische Instanzen. Sie sind Bedingungsmöglichkeiten von Bildern, aber eben als solche nicht selbst sichtbar, zumindest nicht unmittelbar. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich meines Erachtens besonders eindrücklich, wie eine klassische politische Ikonografie durch die Ausweitung zu einer politischen Medienikonografie gewinnen kann, geht es doch hier um mediale Aspekte, die Sichtbarkeit politischer Ereignisse formieren und doch selbst jenseits des (direkt) Sichtbaren situiert sind. - Typische und typisierte Bilder von Bildagenturen - Trump als ‚gewinnbringender‘ Narziss Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit Agenturbildern relevant ist, möchte ich ausgehend von einer Abbildung Donald Trumps verdeutlichen, die auf der Ge‐ tty-Homepage zum Kauf angeboten wird (vgl. Abb. 4.78). 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 291 <?page no="292"?> Abb. 4.78: Trump und sein Spiegelbild Darauf ist Trump an einer offenen Glastür im Weißen Haus zu sehen, in der sich der damalige Präsident spiegelt. Fotografiert wurde Trump von Chip Somodevilla, wie dem auf dem Bild angebrachten Wasserzeichen zu entnehmen ist. Aufgenommen ist das Bild, wie wiederum der Begleittext formuliert, am 5. November 2020 und damit zwei Tage nach der Präsidentschaftswahl. Zu diesem Zeitpunkt weigerte sich Donald Trump immer noch den Wahlsieg seines Kontrahenten Joe Biden anzuerkennen. Er verwies immer wieder darauf, dass noch Stimmen auszuzählen seien. Interessant scheint mir im Zusammenhang mit Bildagenturen, welche formalen Aspekte dieses Bild aufweist und wie es in der Presse aufgegriffen und spezifisch kontextualisiert wurde. Erstens ist daran auffällig, dass ganz ähnliche Darstellungen von Trump - immer am selben Ort, aber zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen - im Kontext politischer Berichterstattung in Zeitungen und Online-Magazinen von anderen Fotografien diver‐ ser großer Bildagenturen zu finden sind (vgl. Abb. 4. 79a-h). Diese Funde lassen sich so interpretieren, dass es nicht immer nur ein Bild bzw. ein sehr limitiertes Bildrepertoire gibt, das - gesteuert durch die Bildagenturen - Sichtbarkeit reglementiert, sondern darüber hinaus lässt sich konstatieren: Dasselbe Bildmotiv ist in minimalen Varianten vermittelt durch diverse Bildagenturen in der Presseberichterstattung virulent. Das heißt, dass trotz unterschiedlicher Bildagenturen immer wieder ähnliche Bildformen und -motive in der Presseberichterstattung verwendet werden. Also auch über mehrere Bildagenturen hinweg lässt sich - trotz aller ökonomischer Konkurrenz der Agenturen - eine homogenisierende Schematisierung der Sichtbarkeit konstatieren. Zweitens fungieren diese Bilder zur Illustration sehr unterschiedlicher Themenfel‐ der und Ereignisse. Zwar ist Chip Somodevillas Bild von Trump zwei Tage nach der Präsidentschaftswahlkampf aufgenommen. Dennoch geht es nur in einem einzigen der hier zusammengestellten Artikeln, in deren Kontext das Spiegelbild-Motiv Trumps in Erscheinung tritt, um die Weigerung des zu diesem Zeitpunkt noch amtierenden Präsidenten, das Wahlergebnis anzuerkennen. Stattdessen wird etwa die Sperrung von 292 4 Politische Medienikonografie <?page no="293"?> 375 Frosh, Image Factory, S.-74. Trumps Twitter-Account verhandelt, darüber berichtet, dass Trump ein Kunstwerk aus einer Botschaft mitgenommen hat, dass er seine Kritiker hasst; in einem Fall geht es um eine generelle Regierungsbilanz, dann wieder um eine mögliche Anklage Trumps durch ein Geschworenengericht. Der Punkt, um den es mir hier geht, ist folgender: Die Spiegelbilder werden in diesem Zusammenhang nicht so sehr als fotografische Authentifizierungsstrategie im Sinne Roland Barthes eingesetzt [↑ Bilder ‚ohne Code‘], die das, was im Text verhandelt wird, glaubwürdig machen. Ebenso wenig hat die Sprache hier die Funktion, die Bedeutung des Bildes zu verankern, also zu vereindeutigen [↑ II. Bild-Text-Verhältnisse]. Die Bilder sind vielmehr hochgradig dekontextualisiert (vgl. noch einmal Abb. 4.79a-h). Abb. 4.79a-h: Trumps Spiegelbilder en masse Auch wenn die Fotografien indexikalischer Natur sind - zeigen sie doch Trump zu einem bestimmen Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, ‚so wie es gewesen ist‘ (Barthes) -, sind sie vielfältig und sehr unterschiedlich symbolisch aufzuladen. Andersherum formuliert: Diese Fotografien können alles Mögliche illustrieren und bedeuten. Angelehnt an eine elegante Umkehrung, die Paul Frosh in seiner Studie zur Stock-Fotografie vornimmt, lässt sich in diesem Zusammenhang pointieren: Bei diesen Fotografien trifft gerade nicht das zu, was laut Roland Barthes die Rhetorik der Fotografie ausmacht, nämlich zu suggerieren, eine Botschaft ohne Code zu sein [↑ Bilder ‚ohne Code‘]. Vielmehr gilt nach Frosh: Diese Bilder sind Codes ohne Botschaft. 375 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 293 <?page no="294"?> 376 Schankweiler, Bildproteste, S.-64 377 Immer wieder wurde und wird Trump in diese Richtung als Narziss pathologisiert, vgl. als eindrück‐ liches Zeugnis dafür das Enthüllungsbuch seiner Nichte Mary Trump, Zu viel und nie genug: Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf, München 2020. Oder auch: Alina Schadwinkel, Trump liebt nur sich selbst, in: Zeit Online, 07.02.2017, Online zugänglich unter: https : / / www.zeit.de/ wissen/ gesundheit/ 2017-02/ donald-trump-psychologie-narzisst-diagnose/ kompletta nsicht [13.11.21]. Auch wenn das sehr zugespitzt formuliert ist, verweist Frosh damit auf einen wich‐ tigen Punkt: Die Spiegelbilder referieren zwar eindeutig indexikalisch auf Trump, aber in einer Form, die nicht nur vergleichsweise dekontextualisiert, sondern symbolisch hochgradig aufladbar ist. Geeignet zur symbolischen Aufladung sind diese Bilder vor allem aufgrund ihrer Form und ihrem Motiv, die eine lange Darstellungstradition haben. Diese sind so weit konventionalisiert, dass man hier von einer hochgradig schematisierten „ikonischen Bildformel“ 376 sprechen kann oder eben von einem Code, ohne konkrete oder zumindest vergleichsweise variable Botschaft. Will man einer klassischen ikonografischen Perspektive folgen [↑ Kap. 2, Ikono‐ grafie], wäre in diesem Zusammenhang naheliegend, auf das Motiv des Narziss zu rekurrieren, der sich im Wasser spiegelt und dabei häufig eine Art Dopplung im Bild erfährt. Eines der bis dato bekanntesten Beispiele ist eine Darstellung Caravaggios, gemalt gegen Ende des 16. Jahrhunderts (vgl. Abb. 4.80a). Dreht man dieses Bild um 90 Grad, wird die Ähnlichkeit der Bildorganisation von Trumps Spiegelbild und Caravag‐ gios Narziss recht deutlich (vgl. Abb. 4.80b-c). Hier geht es mir aber nicht darum, dem Fotografen eine Analogieargumentation - ‚Trump ist (wie) Narziss‘ - zu unterstellen. Wichtiger ist: Es liegt eine lang tradierte Bildformel vor, die ausgehend von dem das Narziss-Motiv umgebenden semantischen Hof und den damit in Zusammenhang stehenden Assoziationen, etwa Reflexion, Selbstverliebtheit, Selbstüberschätzung, Täuschung, Tragik, die je spezifisch aktualisiert werden in den Texten, ohne jedoch dem Thema Trump als (modernem) Narziss explizit nachzugehen. 377 Abb. 4.80a-c: Narziss/ Trump/ Narziss Weiterhin gilt: Die Spiegelbilder finden sich - soweit zumindest meine Recherche - nie im Zusammenhang mit einer positiven Berichterstattung über Trump. Demenspre‐ 294 4 Politische Medienikonografie <?page no="295"?> 378 Frosh, Image Factory, S.-17. 379 Ebd., S.-73. 380 Ebd. 381 Ebd., S. 17. Bruhn beschreibt diesen Bildtypus bei seiner Untersuchung von Bildagenturen als ‚Symbolbilder‘ (vgl.: Bruhn, Bildwirtschaft, S. 69ff.), die einer „Ökonomie der Bildstereotype“ (ebd., S.-41) folgen. chend lässt sich an diesem Beispiel präzisieren: Solche Bilder können wahrscheinlich nicht alles Mögliche bedeuten, aber vieles Mögliche, das sich in einem diffusen semantischen Assoziationsraum finden lässt, der sich im Laufe der Jahrhunderte anreicherte und veränderte. Diese Bilder haben - um noch auf einmal auf Formulierungen von Paul Frosh im Zusammenhang mit seiner Untersuchung zur Stock Fotografie zurückzugreifen - also eine „begrenzte Pluralität“ 378 . Sie sind eben nicht unbeschränkt polysemisch, also offen für alle möglichen Bedeutungszuweisungen, sondern stellen eher „ein Möglichkeitsfeld flexibler Beschränkungen“ 379 dar. Insofern sind solche Bilder „sparsam polysemisch“ 380 . So eine Beschreibung ähnelt meines Erachtens stark derjenigen, die Gerhard Paul der formalen Struktur von Medienikonen geben hat [↑ Kap. 3, Medienikonen]. Denn diese zeichnen sich ebenfalls durch eine Verknüpfung konkreter, indexikalischer Referenz mit hochgradig dekontextualisierter Symbolpotenz aus. Der Unterschied zu Medienikonen besteht aber zum einen darin, dass die Bild- und Nachrichtenagenturen Millionen solcher Bilder zur Verfügung stellen. Die Bilder dieser Agenturen sind insofern Medienikonen für ‚Arme‘ - oder noch mal anders: Medienikonen für den Alltagsgebrauch. Zweitens bedeutet ‚Alltagsgebrauch‘ erst mal das ökonomische Angebot der Bildagenturen für und an Produzierende, also an diejenigen, die die Rechte für diese Bilder erwerben, um ihre eigenen Texte zu illustrieren. Dementsprechend geht es hier nicht nur um eine ‚sparsame Polysemie‘, sondern um eine möglichst „gewinnbringende Polysemie“. 381 Das ist insofern nicht irrelevant, als es zu erklären hilft, warum viele der Bilder, die von Agenturen angeboten werden, so aussehen, wie sie aussehen. Sollen diese doch möglichst häufig verkauft werden können. Je ein‐ geschränkter, konkreter, kontextabhängiger die Referenz ist, desto weniger anschluss‐ fähig ist das Bild an unterschiedliche Text- und Themen-Kontexte, desto weniger potenzielle Absatzmöglichkeiten. So verstanden sind diese Bilder auch hyperkonnektiv [↑ Hyperkonnektivität], wiederum aber auf Angebotsebene, weniger auf Seiten der Rezeption. Denn die Bilder selbst werden in der Berichterstattung meist auf sehr klare Bedeutungen hin verankert [↑ II. Bild-Text-Verhältnisse] - und so textuell zumeist nicht auf Anreicherungen weiterer hyperkonnektiver Anschlüsse ausgerichtet. Andersherum gilt freilich ebenso - gerade für dokumentarische politische Bilder -, dass diese Bilder ein Mindestmaß an Kontext und Identifizierbarkeit von Personen, Raum und Zeit bereithalten müssen, um überhaupt als dokumentarisch gelten zu können. Darum folgen diese Bilder auch nicht dem Ideal eines reinen ‚Codes ohne Bedeutung‘. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 295 <?page no="296"?> 382 Darauf gehen mit dieser Begrifflichkeit ein: ebd., , S.-166ff., Frosh, Image Factory, S.-79. 383 Vgl. dazu ausführlicher: Bruhn, Bildwirtschaft, S. 166ff. Generell zu Bildarchiven und ihrer Sammel‐ logik vgl.: Gerling u.-a., Bilder verteilen, S.-207ff. Bildagenturen als ikonografisch indexikalisierte Archive Viele Bilder, die von Bild- und Nachrichtenagenturen stammen und die für die Be‐ richterstattung genutzt werden, sind selbst nicht nur vergleichsweise stark kodifiziert und folgen ikonischen Mustern bzw. Bilderformeln. Als solche lassen sie sich auch ordnen und differenzieren. Solche Ordnungen ausfindig zu machen, ist ja die klassische Aufgabe der Ikonografie. Entscheidend ist der nächste Schritt hin zu etwas, das als praktische Ikonografie bezeichnet werden kann: 382 Bereits in der frühen Neuzeit wurde dieses Wissen um Muster und Formeln in Bildkatalogen gesammelt und als Handbücher für kunsthandwerkliche Projekte verwendet [↑ Kap. 2, Ikonografie]. So ist etwa die Iconologia eine Bildenzyklopädie für antike Motive, Allegorien, Metaphern, alphabetisch geordnet und mit einer kleinteiligen Indexikalisierung zur bessern Auf‐ findbarkeit versehen (vgl. noch einmal Abb. 2.6a). Die Archive von Nachrichten- und Bildagenturen funktionieren nach einem analogen Prinzip, 383 sind doch dort zumindest einige der Optionen in den Suchmasken ganz ähnlich verschlagwortet (vgl. Abb. 4.81). Insbesondere anhand der Kategorie „Motive“ wird dies offensichtlich. Dort finden sich nämlich zur Auswahl Bildformen wie „Rede-halten“, „Ankommen und Begrüßung eines Staatsoberhaupts“. Filter (Unter-)Kategorien Person Anzahl der Personen (keine Person I eine Person I zwei Personen I Menschengruppe) I Einstellungsgröße I spezifische Personen (mit Vorschlägen aufgrund häufiger Verknüpfung auf Bildern und Suche) Sortierung neuste, älteste, beste, populärste Treffer Motive diverse, z.B. Rede-halten, Ankommen, Nominierung, Amtsinhaber Ereignisse diverse (chronologisch geordnet) Orte diverse (Vorschläge, angefangen mit USA, dann Washington, gefolgt von diverse Bundestaaten) Zeitraum diverse (chronologisch, angefangen mit „letzte 24 Stunden“) Bildauflösung 12 MB und größer I 16 MB und größer I 21 MB und größer Ausrichtung vertikal I horizontal I quadratisch I panoramatisch Fotografen diverse (Suchmaske zur Eingabe) Kollektion diverse (alphabetisch) Einzubettende Bilder ja/ nein Abb. 4.81: Suchmaskenkriterien der Getty Images-Homepage (Oktober 2021). 296 4 Politische Medienikonografie <?page no="297"?> Unter der Kategorie „Personen“ lässt sich zudem auswählen, ob keine Person erschei‐ nen soll, eine, zwei oder eine Gruppe. Interessant an dieser Kategorie ist, dass es zwar die Auswahlmöglichkeit „keine Person“ gibt, aber diese nur eine unter vielen ist, die alle Personen beinhalten, und nur als Negation (‚keine‘) in Erscheinung tritt. So betrachtet ist die Suchmaske personenzentriert, was wiederum für politische Phänomene bedeu‐ tet: Politik wird visuell insbesondere mit Handlungen von Personen in Zusammenhang gebracht und nicht etwa mit institutionellen Zwängen, Gesetzesmaßnahmen oder Ähnlichem. Dass es sich bei dieser Suchmaske regelrecht um eine ‚praktische Ikonografie‘ zur Anleitung von Bildverwendungen handelt, zeigt vor allem die Kombinierbarkeit der Kategorien: So kann ich beispielsweise die Personenanzahl festlegen, wobei mir Vorschläge gemacht werden, welche Kombinationen besonders populär bzw. häufig auf Bildern vorkommen. Damit wird eine ‚Familienähnlichkeit‘ suggeriert, die ich etwa mit dem Motiv ‚Rede-halten‘ kombinieren kann. Zudem wird durch die Kategorie „Ausrichtung“ möglich, Motiv und Personenkonstellation mit einem Formatkriterium zu verbinden. Sollen die Personen, die sich während Trump eine ‚Rede-hält‘ um ihn gruppieren in vertikaler, horizontaler Ausrichtung vorkommen oder das Ganze als Panoramabild in Szene gesetzt werden? Es kann sogar gewählt werden, ob die Bildrahmung offen gestaltet werden soll oder geschlossen. Mit anderen Worten: Hier können tradierte Motive, Formen und Personenkonstellation für eine Suchanfrage kombiniert werden. Entscheidend daran ist: Die Suchmaske verwaltet die Bilder nach distinkten (Unter-)Kategorien, die frei kombinierbar sind. Die Suchmaske folgt so erstens einem digitalen Codierungssystem im Sinne Goodmans. Der Zugriff auf Bilder mittels solch einer Suchmaske codiert die Bilder digital und überführt sie in eindeutig zu bestimmende Schemata, die dem, was Bilder laut Goodman ausmachen, nämlich syntaktisch und semantisch dicht zu sein, zuwiderlaufen [↑ Kap. 3. Weisen der Welterzeugung]. Zweitens passt zu diesen codierenden Suchoptionen der Umstand, dass die Archivbilder selbst - wie weiter oben gezeigt - häufig extrem schematisiert, entkontextualisiert und damit eben kodifiziert sind. Beide Codierungsformen, der Zu‐ griff auf die Bilder via Suchmaschine sowie die Ästhetik der Bilder, greifen ineinander und machen so die Bilder immer sprachähnlicher. Diese praktische Ikonografie schreibt Bilder so um, dass diese wie ein digitales Codierungssystem handhabbar werden. - (Transzendental-)Politik der Agenturen Bild- und Nachrichtenagenturen sind also nicht einfach nur durch Selektion und Zir‐ kulationsreglementierungen verantwortlich dafür, wie politische Ereignisse überhaupt sichtbar und bildlich erinnert werden. Sie organisieren diese Sichtbarkeit zudem - häufig zumindest - in Form eines bestimmten Bildtypus reglementierter, entkontexu‐ talisierter ‚gewinnbringender‘ Polysemie. Dieser Bildtypus wird durch Rubrizierungen auf Ebene der Suchmaske, insbesondere mit Fokus auf Muster, Format und Personen‐ konstellation, ausgerichtet und dementsprechend stabilisiert. Politik wird so sichtbar 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 297 <?page no="298"?> gemacht mit einem bestimmten Bildtypus. Auch hier lässt sich formulieren: Bild- und Nachrichtenagenturen müssen nicht selbst politisch agieren, um die Wahrnehmung von Politik zu beeinflussen und unseren Blick auf politische Sachverhalte zu lenken, sei es hinsichtlich dessen, in welchen Motiven politische Phänomene sich fassen lassen, sei es, dass einzelne Personen entscheidend für politische Entwicklungen gehalten werden, sei es in welchen Formaten oder auch bei welchen Ereignissen sie erscheinen. Bildagenturen sind - um es noch einmal zu wiederholen - transzendental-politisch. Sie präformieren in einem ganz konkreten Sinne unsere Wahrnehmung von Politik und die Möglichkeiten, politisch mit Bildern zu agieren. Ja, so erhalten wir sogar überhaupt erst eine Vorstellung davon, wie Politik aussehen könnte. Um es noch einmal in Anlehnung an eine Formulierung von Paul Frosh zu fassen: Der Code ist die eigentliche politische Bildbotschaft, nicht die Inhalte der Bilder. Deshalb scheint es wichtig und notwendig eben nicht nur die formalen Aspekte eines Fotos, dessen Motive, nicht nur die vermeintlichen Intentionen dahinter, die Wahrneh‐ mungsanordnung und Reaktionen auf die Fotografien zu untersuchen, sondern eben auch die institutionellen Rahmenbedingungen und Organisationen der Infrastruktur. Insbesondere gilt das für global agierende Bild- und Nachrichtenagenturen wie Getty Images, Alamy Stock, Reuters oder Associated Press, die Art und Weise der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit politischer Handlungen regulieren, speichern, möglich machen und normalisieren. Mythos Allmacht der Bildagenturen Dass es demgegenüber andere Tendenzen politischer Bildproduktionen und Bildarten gibt, die nicht durch global operierende Bildagenturen reglementiert werden und ganz anderen Logiken folgen, dürfte vor allem im Zeitalter der Handykameras und der sozialen Medien evident sein. Es soll mit der Interpretation global operierender Nachrichten- und Bildagenturen als transzendental-politische Institutionen nicht eine umfassende und uniformierende Schreckensherrschaft digitaler Bildagenturen das Wort geredet werden, aber doch darauf hingewiesen werden, dass diese zentrale Akteure in der digitalen globalen Bilderwelt sind. Auf andere Institutionen und Formen der Bildproduktion, -rezeption wie -zirkulation wird an anderer Stelle näher eingegangen [↑ Dispositiv Handy-Protest-Video; ↓ Meme-Serien]. - Öffentlichkeitsarbeit politischer Bildagenturen: Das Beispiel der Terrorbekämpfungsbilder Auch wenn hier zunächst der Fokus auf global operierende, kapitalistisch ausgerich‐ tete Bild- und Nachrichtenagenturen gerichtet wurde, lässt sich das Konzept der Bildagentur auch auf politische Akteure im engeren Sinne anwenden, etwa auf die 298 4 Politische Medienikonografie <?page no="299"?> Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen oder politischer Parteien, deren Öffentlichkeits‐ abteilungen im Auftrag der Regierung oder Partei Bilder entwerfen und veröffentli‐ chen, beispielsweise Wahlplakate oder Fotos des Regierungschefs, wie dieser mit Mitarbeiter: innen im Situation Room zusammen kommt, um die Ermordung von Osama bin Laden via Live-Schaltung zu verfolgen (vgl. Abb. 4.82d) [↑ Kap. 3, Tradition I Bezugnahmen, Abb. 3.29b]. Dieses zur Medienikone [↑ Kap. 3, Medienikone] avancierte Bild weist eine klare strategische Richtung auf. Dass gerade dieses Bild bzw. diese Art und Weise der Bildgebung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, im Gegensatz zu vielen anderen, die ebenfalls fotografiert wurden oder hätten fotografiert werden können in diesem Zusammenhang, scheint mir vor allem darauf abzuzielen, ein anderes ‚Bild‘ der US-amerikanischen Politik unter der Führung von Obama zu etablieren als dasjenige, das unter Bush in dessen Zeit als Präsident in Szene gesetzt wurde. Bush trat bei seinen öffentlichen Inszenierungen und der Bebilderung seiner Präsidentschaft als heroisch-martialischer Terrorbekämpfer in Erscheinung (vgl. Abb. 4.82a). Es scheint wohl nicht allzu kühn zu sein, diese unterschiedlichen Inszenierungen als strategische Operation der Presseabteilungen zu deuten, um ein Sinnbild für den je sehr unterschiedlichen Umgang mit dem Terrorismus zu produzieren und öffentlichkeits‐ wirksam in Umlauf zu bringen. Die jeweiligen ‚Bildagenturen‘ der beiden Präsidenten hatten offensichtlich unterschiedliche Strategien. Dass Obamas ‚Bildagentur‘ eine ganz andere Agenda zur Visualisierung des Präsi‐ denten gewählt hat, scheint sehr plausibel, wenn man sich den historischen Kontext US-amerikanischer Terrorbekämpfung betrachtet. Denn es wurde der Irak-Krieg inter‐ national vehement kritisiert, nämlich als ein Krieg, der als eine Maßnahme gegen den Terrorismus nur behauptet wurde, ohne Beweise oder eindeutige Indizien [↓ ‚Sprea‐ ding the Disease‘…]. Das Ansehen der USA wurde damit international nicht gerade befördert. Bushs martialische Inszenierung in Anlehnung an die Darstellung eines US-amerikanischen Präsidenten im Spielfilm Indendepence Day, der die Menschheit gegen Aliens anführt, wird in so einem Zusammenhang schnell zum Inbegriff einer Hegemonialmacht, die wahlweise willkürlich Kriege anzettelt oder aber geopolitisch ausschließlich nach Maßgaben eigener Machtinteressen handelt, etwa um Zugang zu Ölressourcen zu erhalten. Die Folterbilder von Abu Ghraib, die im Nachgang zu diesem Krieg in Umlauf gebracht wurden und US-amerikanische Soldaten und Soldatinnen dabei zeigen, wie sie Gefangene scheinbar aus purer Lust oder Langeweile quälen und foltern, sind ein besonders eindrückliches Beispiel dafür. Der sogenannte Kapu‐ zenmann wurde für diese Taten der Inbegriff, ja im präzisen Sinne eine Medienikone, die global zirkulierte und immer wieder als kritisches Mahnmal für US-amerikanische Macht- und Unterdrückungspolitik verwendet, etwa als Plakat in den Straßen von Bagdad (vgl. Abb. 4.82b) [↑ Kap. 3, Globale Bildzirkulation 1]. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 299 <?page no="300"?> 384 Vgl. dazu knapp: Nico Prucha, Die Evolution des Dschihadismus online und die Medien des Dischhad - von „al-Qaida“ zum „Islamischen Staat“, in: Jasmina Rupp (Hg.), Der (Alb)traum [sic! ] vom Kalifat. Ursachen und Wirkung von Radikalisierung im politischen Islam, Wien u. a. 2016, S. 65-78, v.a.: S.-73ff. Abb. 4.82a-c: Bilder der Terrorbekämpfung Ebenso steht Obamas zurückhaltende, indirekte Darstellung der Terrorbekämpfung in Kontrast zu den Hinrichtungs-Bildern, etwa der Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staates. Diese bringen häufig Videos in Umlauf, auf denen Gefangene direkt sichtbar vor laufender Kamera hingerichtet werden. 384 In beiden Fällen werden Personen getötet. Im einen Fall ist jedoch die Hinrichtung direkt zu sehen, zielt auf eine unimittelbare Schockwirkung; im anderen Fall ist die Hinrichtung nicht zu sehen, sondern die Reaktion einiger Akteur: innen auf diese. Auch bei diesem Vergleich sind sehr unterschiedliche Vorstellungen visualisiert, was Terror bzw. Terrorbekämpfung ist und welche Wirkung diese auslösen soll. Gerade durch die Differenz direkter und indirekter Darstellung des Tötungsaktes wird das offensichtlich. - Die Öffentlichkeitsarbeit der NASA als Bildagentur Ein anderes Beispiel findet sich mit der Öffentlichkeitsarbeit der US-amerikanischen Organisation NASA. Diese stellte und stellt Informationen und Bilder über und während Weltraummissionen der Öffentlichkeit zur Verfügung, Bilder, die wiederum etwa von diversen Fernsehsendern zur Live-Beichterstattung über Missionen im All gesendet wurden. Auch hier geht es in einem sehr konkreten Sinne um Bildpolitik. Soll doch die Sichtbarkeit des Weltraums und der Weltraummissionen von einer Zentralinstanz reguliert und gesteuert werden. 300 4 Politische Medienikonografie <?page no="301"?> 385 Vgl. dazu und zum Folgenden: Michael Allen, Live from the Moon. Film, Television and the Space Race, London, 2009, S.-141ff. Ein einschlägiges Beispiel dafür bieten die Live-Bilder zur ersten bemannten Mond‐ landung. Lange machten man sich bei der NASA Gedanken darüber, ob und wie dieses Ereignis für die Öffentlichkeit visuell in Szene gesetzt werden sollte. Die Entscheidung fiel dafür, dass Neil Armstrong noch vor seinem Ausstieg eine Kamera in Position bringen sollte, die ihn dann beim Ausstieg aufnahm und diese Bilder live zur Erde sandte. 385 Somit wurde nicht nur ein entscheidender Moment der bemannten Mondlandung aller Welt sichtbar live zugänglich gemacht. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass diese Operation als Bildpolitik zu verstehen ist, weil damit der Weltöffentlichkeit auch gezeigt wurde, dass die NASA - im Gegensatz zu den gleichzeitig stattfindenden Missionen der Sowjetunion - offen (vermeintlich) alles live zeigt, also einer Politik der Transparenz folgt. Abb. 4.83: Das teuerste Telefongespräch aller Zeiten als politische Machtdemonstration am 21.07.1968 live im Fernsehen Mit dieser US-amerikanischen Machtdemonstration sollte nicht nur belegt werden, dass die erste bemannte Mondladung der USA und eben nicht dem Konkurrenten im Kalten Krieg, der UdSSR, gelang. Mindestens ebenso wichtig war die Botschaft, dass die medientechnologische Infrastruktur so fortgeschritten ist, Live-Bilder vom Mond prinzipiell überall auf die Erde live senden zu können. Verdichtet und verschränkt wurde diese politische Machtdemonstration während der Live-Berichterstattung, als 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 301 <?page no="302"?> 386 Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart/ Weimar 1998, S.-274. 387 Vgl. generell zur Bildzensur im digitalen Zeitalter: Katja Müller-Helle, Bildzensur, Berlin 2022; dies. (Hg.), Bildzensur. Löschung technischer Bilder, Berlin 2020. eine Telefonschaltung zwischen den Astronauten auf dem Mond und dem damaligen US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon aus dem Weißen Haus als Splitt Screen auf den Fernsehapparaten dieser Welt zu bewundern war (vgl. Abb. 4.83). Der US-ame‐ rikanische Präsident telefoniert über 380.000 km hinweg mit US-amerikanischen Astronauten, die derweil vor der von ihnen gehissten US-amerikanischen Flagge positioniert sind, während die Welt per Television dem Gespräch folgt. Dies nicht als wohlkalkulierte politische Machdemonstration während des Kalten Krieges zu verstehen, dürfte schwerfallen. - Angebote zur kostenlosen Ausstrahlung von Fernsehdokumentationen Um noch ein etwas anders gelagertes Beispiel im Kontext der NASA-Agenturarbeit anzuführen: Die Weltraumorganisation bot während der Apollo 11-Mission Doku‐ mentationen über Raumfahrtmissionen an, die die großen Lücken zwischen den Live-Schaltungen aus dem All füllen sollten. Weltweit konnten so kostenlos „sieben Kurzsendungen mit insgesamt 90 Farb- und 40 Schwarzweiß-Minuten“ 386 von allen Fernsehstationen dieser Welt ins Programm genommen werden. Die NASA fungierte also zu diesem Zeitpunkt - lange vor Stockfoto-Agenturen wie Alamy - neben allen technologischen Raketenangelegenheiten als Bildagentur mit hegemonialem Impetus. Denn so sollte möglichst global auf allen Fernsehsendern dieser Welt ein einheitliches Welt(raum)bild zur Erscheinung kommen, dementsprechend die Sichtbarkeit des Weltraums und seiner Missionen reguliert werden. - Negations- und Zensuroperationen von Bildagenturen Bildagenturen sind indes nicht nur für die Inszenierung und das Öffentlich-machen bestimmter Akteure verantwortlich, mit denen sie bestimmte Ziele verfolgen, sei es politisch oder wirtschaftlich; sie sind ebenso das genaue Gegenteil, nämlich Bildver‐ weigerungs- oder Bildvernichtungs-Agenturen. Neben der Auswahl von Bildern, die erst gar nicht hergestellt werden bzw. deren Herstellung verhindert wird, gibt es ebenso die Zensur (Bilder werden nicht veröffentlicht aufgrund bestimmter Aspekte, die sie nicht geeignet erscheinen lassen und wandern ins Archiv oder deren Veröffentlichung wird schlicht verboten, weil etwa Persönlichkeitsrechte damit beschnitten werden [↓ Konnektives Deplatforming]) oder auch die (Aus-)Löschung, also die Zerstörung oder Negation von Bildern oder Bildelementen [↑ Kap. 3, 1. Politische Inhalte]. 387 Ein anschauliches Beispiel dafür bilden die Sperrungen des Twitter-, Facebook und Instagram-Accounts von Donald Trump 2021. Hier haben wir es mit einer Form der moralisch-politischen Zensur seitens ‚sozialer Medien‘ zu tun - als Teil ihrer content 302 4 Politische Medienikonografie <?page no="303"?> 388 Content moderation ist ein Moderationssystem, aufgrund dessen Beiträge auf einer Plattform sortiert werden nach Kriterien wie nützlich, informativ, vertrauenswürdig, obszön, illegal, beleidigend. Je nach den Kriterien werden bestimmte Beiträge gelöscht oder eben Accounts gesperrt. Dieses System kann durch menschliche Akteure überwacht und/ oder aber algorithmisch automatisiert werden. Vgl. ausführlich und facettenreich dazu: Tarleton Gillespie, Custodians of the Internet: Platforms, Content Moderation, and the Hidden Decisions That Shape Social Media, New Haven 2018. 389 Vgl. dazu ausführlicher: King, Stalins Retuschen. moderation. 388 Visuell werden diese Sperrungen selbst zum Bild - und auch sehr häufig in der Berichterstattung über diese Sperrungen reproduziert (vgl. Abb. 4.82a-b). Abb. 4.84 a-b: Bilder der Bilderlöschung und -sperrung Die bekanntesten Bildelement-Löschungen finden sich im Zusammenhang mit Stalins Herrschaft in der Sowjetunion. Große Teile der Zensurbehörden waren in dieser Zeit damit beschäftigt, unliebsam gewordene Personen retrospektiv aus den öffentlichen Bildern zu löschen. 389 Wiederum eines der populärsten Beispiele aus diesem Fundus ist die Entfernung Trotzkis aus einer Fotografie, die Lenin als Redner zeigt, daneben befinden sich Kamenow und Trotzki (vgl. noch einmal Abb. 4.61a-b). Beide wurden, nachdem sie politisch in Ungnade gefallen waren, aus dem fotografischen Bildzeugnis entfernt - und damit ganz konkret aus dem Bildgedächtnis gelöscht. Bildnegation ist hier ein politisch motivierter (Vergessens-)Akt. Im Gegensatz dazu ist es im Fall der Löschung des Trump-Accounts eine Negation, die als solche visuell ausgestellt und erinnert werden soll. - Tank Man und Panzer als Enten: Zur Produktivität der Zensur Die Fotografie des sogenannten Tank Man, der sich auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 ‚bewaffnet‘ mit einer Plastiktüte in der Hand einer Panzerkolonne entgegengestellt - dieses Bild ist bis dato in China verboten [↓ Digitale Bildschwärme]. Seine Veröffentlichung wird strikt zensiert. So lässt sich dort mit keiner digitalen 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 303 <?page no="304"?> 390 Vgl. dazu: Schankweiler, Bildproteste, S.-50ff. Suchmaschine dieses Bild finden. Indes zirkulieren diverse Varianten dieses Bildes in sozialen Medien unter unterschiedlichen Titeln und Hashtakes. Im Jahr 2013, zum Jahrestag dieses Protestes, wurde auf der Interplattform Sina Weibo, in etwa das chinesische Äquivalent zu Twitter, ein Meme [↑ Meme] veröffentlicht, das die Panzer des Ursprungsbildes durch überdimensionierte gelbe Gummientchen ersetzte. Diese Enten schwammen aufgrund einer Kunstaktion mit dem Titel Rubber Duck kurz davor unter anderem bereits im Victoria Harbour in Hongkong und zogen dabei international große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich (vgl. Abb. 4.85a-c). 390 Abb. 4.85a-c: Enten auf dem Platz des Himmlischen Friedens Der entscheidende Punkt ist, dass politische Zensur nicht in allen Fällen zur Abschat‐ tung, zum Ausschluss, zum Vergessen von Bildern führt, sondern in vielen Fällen dazu, die Zensur kreativ zu umgehen oder noch zugespitzter formuliert: Zensur ist in vielen Fällen produktiv, weil sie gerade durch Unterdrückung von Daten und Verbot politische Gegenreaktionen herausfordert, die zu visuellen Modifikationen, kreativen Neuverbindungen und damit zur Unterwanderung von Zensursuchmaschinen und Bilderkennungen führen. 304 4 Politische Medienikonografie <?page no="305"?> 391 Vgl. dazu z. B.. kritisch: Joseph Vogl, Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart, München 2021, S.-60ff. Digitale Plattformen und Suchmaschinen als Bildagenturen Auch digitale Plattformen wie Instagram, YouTube, Facebook, 4inch oder Suchmaschi‐ nen wie Google oder Bing können in gewisser Weise als Bildagenturen verstanden werden. Solche Plattformen und Suchmaschinen sind Mittler zwischen unterschiedli‐ chen Akteuren, die zwar nicht, wie klassische Bildagenturen, von einer Seite beauftragt werden, eine mögliche Klientel zu suchen, um politische oder ökonomische Angebote zu übermitteln [↑ Agentur]. Nichtsdestotrotz sind Plattformen und Suchmaschinen zumindest insofern Bildagenturen, als es Orte sind, an denen unterschiedliche Akteure sich austauschen können, in spezifischer Weise vernetzt bzw. nach bestimmten Krite‐ rien für einander zugänglich werden. Sie sind wiederum Bildagenturen, weil es auf diesen Plattformen und Suchmaschinen eben auch, häufig zentral, um Bilderteilen und/ oder Bilder-Zugänglichkeit, ganz allgemein um Sichtbarkeit geht. Suchmaschinen sind Bildagenturen der Sichtbarkeitsorganisation, Plattformen sol‐ che der Bildervernetzung. Beide sind nicht nur zentrale Agenturen gegenwärtiger digitaler Infrastruktur, sondern darüber hinaus sehr spezielle Agenturen, weil sie auf Algorithmen basieren [↓ Algorithmen; ↓ Politik der Algorithmen]. Auf einige ihrer infrastrukturellen Aspekte werde ich mich im Folgenden konzentrieren. Dies geschieht nicht, weil es vorher und gleichzeitig nicht auch andere mediale Infrastrukturen gab und gibt. Indes scheint mir gerade die digitale, auf Algorithmen basierende Infrastruk‐ tur zum einen deshalb so interessant, weil sie gegenwärtig besonders virulent ist. Zum anderen lässt sich daran sehr deutlich machen, dass der Blick hinter und jenseits der Bilderoberfläche wichtig ist, um eine angemessene Analyse der Funktionslogik politischer Bilder und deren Wechselwirkung mit ihrer infrastrukturellen Situierung vornehmen zu können. Plattformen und Suchmaschinen sind indes nicht schon per se politisch, ja, ihre Betreiber beteuern häufig, dass ihre Algorithmen politisch neutral und deren Möglich‐ keiten und Limitierungen durch rechtliche Bestimmungen geregelt seien. Mitunter werden sie sogar als wahrhaft demokratische Institutionen gefeiert, die ohne Vorurteile jedem eine Artikulationsmöglichkeit geben. 391 Spätestens seit den Manipulationsvor‐ würfen im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Wahlkampf 2016, als viele Accounts auf sozialen Medien von nicht-menschlichen Bots mit Posts überflutet wur‐ den und noch einmal sehr deutlich nach der Stürmung des Capitols mit der Sperrung von Trumps-Accounts auf Facebook, Twitter und Instagram erodiert diese Neutralität zusehends oder zeigt sich vielleicht sogar als eine immer schon nur scheinbare. Ganz zu schweigen von der notorischen Intransparenz der Rankings und Werbungen auf populären Suchmaschinen wie Google. Zumindest sind Suchmaschinen und Plattfor‐ men nicht nur Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen, sondern werden selbst als politische Faktoren und Akteure diskutiert, deren Agenda und Struktur genau 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 305 <?page no="306"?> 392 Vgl. z.-B. sehr deutlich: ebd., S.-81. Ausführlicher: Müller-Mall, Freiheit und Kalkül. deshalb genauer untersucht werden müssen, weil ihre Strukturlogik intransparent sei. 392 Die digitale Infrastruktur gibt es nicht! Eigentlich wäre der Plural viel angemessener, denn die digitale Infrastruktur gibt es überhaupt nicht, ebenso wenig, wie es den Film an und für sich geben kann oder die digitale Plattform, oder die Funktionslogik von digitalen Plattformen. Denn die jeweiligen Aspekte und Faktoren, die die Infrastruktur einer digitalen Plattform bilden, sind zeitlich und räumlich so variabel, dass universalisierende Aussagen über die digitale Infrastruktur oder die Funktionslogik digitaler Plattformen ähnlich problematisch sind, wie bei der Bestimmung dessen, was ein Bild ist oder ein Dispositiv [↑ Was Bilder sind; ↑ Das Dispositiv gibt es nicht! ]. Denn die Differenzen etwa zwischen einer Plattform wie 4inch, auf der anonym gepostet werden kann, abgeschottete Untergruppen existieren, und Twitter, wo es in den allermeisten Fällen um maximale Bekanntheit und möglichst viele Follower geht, sind bereits auf den ersten Blick so offensichtlich, dass die Subsumierung unter denselben Begriff, eben ‚digitale Plattform‘, wenig bis Irreführenderes über die spezifische Funktionslogik der Plattformen aussagt. Dementsprechend ist es eine durchaus problematische Gratwanderung, wenn in einer Einführung wie der vorliegenden, einerseits exemplarische Fälle vorge‐ stellt werden sollen, die als solche über den einzelnen Fall hinaus relevant, vorbildlich und anwendbar sein sollen, weil darin universelle Strukturen (des Dispositivs, der digitalen Infrastruktur oder im Folgenden der Funktionslogik der Suchmaschine bzw. der digitalen Plattform) zur Veranschaulichung kommen. Anderseits soll gleichzeitig gelten, dass es sich jeweils um spezielle Fälle handelt, also die Überzeugung stark gemacht werden, dass es solche universellen Strukturen eben nicht gibt. Aufzulösen scheint mir dieser Widerspruch ohne Weiteres nicht, höchstens überführbar in Konzepte, die das Allgemeine und das Spezifische in ein dynamisches wie variables Verhältnis setzen, wie etwa Wittgensteins Prinzip der Familienähnlichkeit [↑ Anstatt einer Bilddefinition …]. Eine ausführlichere Diskus‐ sion und Herleitung dieses Zusammenhangs überschreitet indes den eigentlichen Kompetenzbereich einer Einführung in die politische Medienikonografie. 306 4 Politische Medienikonografie <?page no="307"?> 393 Vgl. dazu ausführlich: Kurt Vogel, Mohammed ibn Musa Alchwarizmi’s Algorismus. Das früheste Lehrbuch zum Rechnen mit ind. Ziffern, Aalen 1963. 394 Vgl. dazu und zum Folgenden: Müller-Mall, Freiheit und Kalkül, S.-9ff. Algorithmen Einer der entscheidenden und speziellen Faktoren digitaler Plattformen und Suchma‐ schinen ist ihre Soft- und Hardware-Konfiguration, zuvorderst ihre Operationslogik aufgrund von Algorithmen. Algorithmus Abgeleitet ist das Wort ‚Algorithmus‘ von dem Namen eines aus dem Iran stam‐ menden Mathematikers, Astronom und Geographen des Frühmittelalters, nämlich Chwarizmi, latinisiert: Algorismi, der das Dezimalsystem und die Null aus dem indischen in das arabische Zahlensystem einführte. 393 Ein Algorithmus ist zunächst einmal jede Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Das können so unterschiedliche Phänomene sein, wie Kochrezepte oder die Bauanleitung für das Spielzeug in einem Kinderüberraschungsei. 394 Im engeren, hier relevanteren Sinne lässt sich ein Algorithmus bestimmen als eine (1) Handlungsvorschrift, die (2) in endlich vielen, (3) klar definierten Einzelschrit‐ ten, ausgehend von einem (4) klar bestimmten Problem zu einem (5) eindeutigen Ergebnis führt. Damit ist impliziert: Aus denselben Voraussetzungen folgen immer dieselben Ergebnisse. Noch strenger formuliert: Ein Algorithmus setzt sich aus einer finiten Anzahl an Elementen zusammen, ist terminiert, also zeitlich begrenzt, und kausal determiniert. Algorithmen, die für digitale Plattformen, Suchmaschinen und überhaupt für jede Art von Computertechnologie relevant sind, gilt weiterhin: Die Handlungsvor‐ schriften bestehen ausschließlich aus formalisierten Elementen, die aufgrund einer nummerisch-binären, digitalen Codierung des Rechners durch Programmierspra‐ chen spezifisch codiert und anschließend in natürliche Sprachen oder auch Bilder ausgegeben werden können. Dadurch wird zwischen Rechneroperationen und menschlicher Wahrnehmbarkeit bzw. natürlichen Zeichensystemen vermittelt. Was im Folgenden besonders relevant werden wird und was die computergenerier‐ ten Algorithmen für Suchmaschinen und Plattformen sehr spezifisch macht: Viele Algorithmen, auch und gerade die von Suchmaschinen und Plattformen, sind auf Dynamik, Veränderung und Lernfähigkeit angelegt, das heißt „sie können ihre Fähig‐ keit, Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen, in einem bestimmten Sinne verbessern. Je mehr Daten solche lernenden Algorithmen zur Verfügung gestellt bekommen, je häufiger sie Datensätze durchlaufen und trainieren, desto schneller und 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 307 <?page no="308"?> 395 Ebd., S. 11f. Vgl. für einen Überblick zum Einsatz von Machine Learning unter anderem für und von Plattformen: Lev Manovich, Media Analytics & Gegenwartskultur, in: Christoph Engmann/ Andreas Sudmann (Hg.), Machine Learning. Medien, Infrastrukturen und Technologien der künstlichen Intelligenz, Bielefeld 2018, 269-288. 396 Vgl. dazu: Markus Unternährer, Die Ordnung der Empfehlung, in: Kölner Zeitschrift für Soziolo‐ gie und Sozialpsychologie (2021), Online zugänglich: https: / / doi.org/ 10.1007/ s11577-021-00753-z [23.11.2021]. 397 Vgl. zu diesem ‚Imaginären der Algorithmen‘ instruktiv: Ed Finn, What Algorithms want. Imagina‐ tion in the Age of Computing, London 2017. Oder auch knapper: Christian Schulz/ Tobias Matzner, Feed the Interface. Social-Media-Feeds als Schwellen, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaft, 2 (2020), S.-147-165, v.a.: S.-153f. genauer können sie Daten in einen Zusammenhang bringen.“ 395 Das maßgebliche Ziel, das mit solchen Algorithmen verbunden ist, ist die Prognosefähigkeit und damit eine nummerische Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse bzw. zukünftigen Verhaltens. Relevant wird dies etwa für die Berechnung, welche ‚individualisierte‘ Werbung für einen User bereitgestellt werden soll, welche weiteren Video-Angebote in einem Feed von TikTok vorgeschlagen werden, welches Ranking eine Suchmaschine aufgrund vorhergehender Suchen erstellt usw. Hiermit ergibt sich eine für solche Algorithmen typische Verschaltung von vielen Daten über viele Individuen zur Zurechnung auf letz‐ tere. Aufgrund möglichst vielfältiger Zuordnungsrelationen für spezifische User: innen werden so Vorschläge und Rankings generiert. 396 Zum einen folgt dies der Maxime, attraktive Angebote möglichst erfolgsversprechend, zielgerichtet und personalisiert oder zumindest für so kleine Zielgruppen wie möglich zu kreieren. Zum anderen sollen damit die zukünftigen Handlungen nicht nur vorausgesehen, sondern eben auch organisiert und ausgerichtet werden. Der Mythos von der autonomen Handlungsmacht der Algorithmen Um es hier eigens betonen: Diese Form algorithmisch generierter Wahrscheinlich‐ keiten und daraus resultierend die individualisierten Angebote bedeuten mitnich‐ ten, dass Algorithmen quasi autonom operieren. Nicht nur werden diese von Menschen programmiert, sondern die User: innen können freilich selbst über die algorithmisch generierten Angebote reflektieren, ja, vielleicht wird sogar deren Verhalten mehr noch als von den tatsächlichen Algorithmen von der Vorstellung darüber beeinflusst, was Algorithmen tun und wie sie funktionieren. 397 Jedenfalls hat das Verhalten der User: innen wiederum Einfluss auf die Wirksamkeit und Wei‐ terentwicklung von Algorithmen. Zudem ist die Mensch-Maschine-Verbindung meist sehr viel komplexer als ein eindeutiger, linearerer Ablauf vom Programmie‐ rer über den algorithmischen Code zum User bzw. der Userin. In fast allen Fällen werden die Vorschläge für User: innen wiederum von Menschen kontrolliert und entschieden, welche Angebote tatsächlich beim User bzw. der Userin ankommen. Weiterhin gilt: Zur Herstellung von neuen Angeboten werden in vielen Fällen eigens Zufallstreffer vorgesehen, die nichts mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen 308 4 Politische Medienikonografie <?page no="309"?> 398 Vgl. für solch ein komplexes Mensch-Maschine/ Code-Netzwerk am Bespiel von TikTok: ebd. 399 Vgl. zu diesem Beispiel: Müller-Mall, Freiheit und Kalkül, S.-66. zu tun haben, sondern aktiv gerade umgekehrt zur Erzeugung von Emergenz eingesetzt werden, um den User: innen ‚Neues‘ zu offerieren. 398 - Politik mit/ der Algorithmen Solche Algorithmen können auf unterschiedlichen Ebenen ins Verhältnis zur Sphäre des Politischen [↑ Kap. 2, Politik] gesetzt werden (vgl. Abb. 4.86). Algorithmen I Politik Algorithmen als Mittel zur politischen Propaganda Algorithmen als Mittel politischer Überwachung und Kontrolle Politik der Algorithmen Abb. 4.86: Facetten des Zusammenhangs von Algorithmen und Politik - (1) Algorithmen als Mittel zur politischen Propaganda Algorithmen können als Mittel eingesetzt werden, um politische Botschaften persona‐ lisiert zu verbreiten. Ein bekanntes Beispiel ist die Wahlkampfstrategie bei der ersten Präsidentschaftskandidatur Obamas, wurden dabei doch große Datenmengen unter‐ sucht, um vor allem an die Haushalte Werbung zu verschicken, die noch unentschieden waren, für wen sie bei der bevorstehenden Wahl stimmen sollten. 399 Zu denken ist hier etwa auch an Social Bots, also algorithmisch programmierte nicht-menschliche Akteure, die auf sozialen Netzwerken einen menschlichen Nutzer imitieren. Social 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 309 <?page no="310"?> 400 Adrian Lobe, Die Macht der Algorithmen, in: Spektrum der Wissenschaft, 4/ 2016, Online zugäng‐ lich unter: https: / / www.spektrum.de/ news/ 20-prozent-aller-wahltweets-stammten-von-bots/ 14291 17 [23.11.21]. 401 Müller-Mall, Freiheit und Kalkül, S.-20. Boots reagieren automatisch auf Schlagwörter, antworten, teilen und liken daraufhin. Um in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel zu erwähnen: Während der TV-Duelle zwischen Trump und Hillary Clinton im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfes 2016 sollen knapp 20 Prozent der Twitter-Beiträge von Social Bots stammen, die meisten von „automatisierte[n] Pro-Trump-Accounts“, die „als aggressive Agenda-Set‐ ter“ fungierten, denn sie „feuerten siebenmal mehr relevante Hashtags ab als das Clinton-Lager“. 400 - (2) Algorithmen als Mittel politischer Überwachung und Kontrolle Algorithmische Systeme werden häufig eingesetzt zur Überwachung öffentlicher Orte, um Terrorist: innen via Gesichtserkennung zu identifizieren oder die Wahrschein‐ lichkeit zu berechnen, in welchem Distrikt ein Verbrechen stattfinden wird. In all diesen Fällen geht es „um Ausschlüsse und Zugänge zu Orten oder Infrastrukturen, um Ungleichbehandlungen durch staatliche Einrichtungen oder um Überwachungs‐ maßnahmen.“ 401 Im Zusammenhang mit politischer Herrschaft und Kontrolle sind Algorithmen hocheffiziente Mittel, die mehr und mehr Einzug in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche halten. Häufig wird dieser politische Einsatz auch unter dem Aspekt der Ungleichheit diskutiert, die nicht nur mit Ausschluss bestimmter Individuen und Gruppen zu tun hat, sondern die aufgrund uneinsichtiger oder gar unbeabsichtigter Prämissen und Ausgangsdaten Fakten schaffen. Gesichtserkennungssysteme analysieren aus Scans, fotografischen Aufnahmen oder auch Videoaufnahmen Gesichter, um so entweder die Identität einer Person festzu‐ stellen oder klassifikatorisch einer Person einer Gruppe zuzuordnen. Hierbei werden häufig Algorithmen eingesetzt, die aufgrund von Datensätzen trainieren, Muster in Bildern zu erkennen. Genauer noch: Erkannt werden diese Muster auf Ebene von Bildpixeln, deren jeweilige Konstellationen nach Mustern gescannt werden. Das ‚Gelernte‘ kann so genutzt werden, um neue Bilder einzuordnen. Somit wird die Gesichtserkennung immer weiter ausgeweitet und gleichzeitig wird das Verfahren sukzessive optimiert. Problem dabei ist häufig, wie Müller-Mall anschaulich an einem Beispiel beschreibt: „Personen aus bestimmten Gruppen wurden schlechter erkannt oder häufiger bestimmten Personengruppen falsch zugeordnet als Personen aus anderen Gruppen. Eine Studie der American Civil Liberties Union (ACLU) konnte beispielsweise nachweisen, dass die kommerzielle Gesichtserkennungssoftware Re‐ kognition, die u. a. in der Strafverfolgung zum Abgleich verdächtiger Personen mit Fahndungskarteien eingesetzt wird, in einem Testeinsatz 28 aller Abgeordneten und 310 4 Politische Medienikonografie <?page no="311"?> 402 Ebd. 403 Vgl. dazu genauer: Roland Meyer, Gesichtserkennung, Berlin 2021. Senator*innen fälschlich als Straftäter*innen erkannte, unter diesen überproportional viele People of Color waren.“ 402 Problematisch war, dass die Ausgangsdaten zum Deep Learning für die Algorithmen vornehmlich aus Bildern weißer Männer kreiert wurden. Alles davon Abweichende wurde dann schnell als verdächtige Personen identifiziert. Diese Verzerrungen der Ergebnisse aufgrund der gewählten Ausgangsdaten und der damit in Zusammenhang stehenden Untersuchungsmethoden wird als bias algorithms bezeichnet. Gemeint ist damit, dass Denk- und Urteilsfehler bzw. Wahrnehmungsverzerrungen entstehen aufgrund algorithmischer Zugriffe. - Algorithmen als politische Ikonografen: Ein kurzes Zwischenfazit Daran sind für die politische Sphäre mindestens drei Aspekte interessant: Erstens sind die auf Grundlage von Algorithmen erzielten Ergebnisse trotz aller präziser Berechnung und Regelfolge prekär, weil das Problem der Selektion bei der Eingabe situiert ist. Sollten sich politische Entscheidungen auf Algorithmen stützen, wäre hier (ideologie-)kritisch anzusetzen. Zweitens bleiben bei solchen algorithmischen Anwendungen häufig die Verbindungen zwischen Eingabe und Ausgabe intransparent. Die Ergebnisse scheinen zum einen eine Selbstevidenz zu besitzen, sind sie doch präzise berechnet auf Grundlage großer Datenmengen, ohne dass die User: innen immer genau wissen, wie das Ganze berechnet wurde und was genau die Ausgangsdaten waren. Zum anderen wird so schnell ein zirkulärer, sich selbstverstärkender bias kreiert. Werden etwa immer mehr ‚People of Color‘ als tatverdächtig kontrolliert aufgrund der hochselektiven Eingabe der Ausgangsdaten, werden immer mehr Täter ‚People of Color‘ sein, was wiederum relevant für die Datenverarbeitung der Algorithmen wird usw. Drittens ist gerade bei der digitalen Gesichtserkennung die visuelle Ebene relevant, also Bilder. 403 Solche Formen des ‚Maschinensehens‘ können durchaus als Gegenstand politischer Medienikonografie verstanden werden, geht es in diesem Fall doch nicht nur um politische Implikationen von Algorithmen, sondern sehr viel spezifischer um eine Medientechnologie, die selbst in einer besonderen Weise, nämlich quantitativ-digital Bilder ‚sieht‘ oder genauer vielleicht: visuell abtastet und nach bestimmten Regeln liest und einordnet. Algorithmen sind so verstanden selbst Ikonografen, wenn auch maschinelle, die auf Musterbzw. Motiverkennung aus sind. Denn es geht sowohl beim maschinellen Bilderlesen wie auch in der klassischen Ikonografie um Mustererkennung in Bildern und Bildelementen [↑ Kap. 2, Ikonografie]. Anfällig für Fehler sind wohl beide. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 311 <?page no="312"?> 404 Vgl. dazu und zum Folgenden: Müller-Mall, Freiheit und Kalkül. (3) Politische Algorithmen Unabhängig von ihrer konkreten Verwendungsweise für politische Zwecke lässt sich die sehr viel weitreichendere Frage stellen, ob Algorithmen nicht per se politisch sind. 404 Dafür gibt es durchaus gute Gründe. Angelehnt an Ausführungen von Müller-Mall lassen sich mindestens drei Aspekte anführen, warum Algorithmen jenseits politischer Funktionalisierung durch menschliche-Akteure als genuin politisch verstanden werden können. Wenn man einmal die Idee ernst nimmt, politische Entscheidungsfindungen an Al‐ gorithmen zu delegieren, dann wäre zunächst zu konstatieren, dass diese Prozesse strikt formalisiert werden. Unterschiedliche Meinungen, Standpunkte, Perspektivierungen, wie Entscheidungen gefällt werden sollten zur sozialen Gestaltung der Zukunft sind im Verfahrensprozess selbst nicht vorgesehen. Damit ist etwas ausgeschlossen, was zumindest in demokratisch orientieren Gemeinschaften konstitutiv ist, nämlich eine Aushandlung verschiedenster Meinungen, Einstellungen und Vorstellungen. Statt‐ dessen werden diese Prozesse durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen substituiert. Weiterhin sind bei solchen algorithmischen Prozessen die Wege von Eingabe zur Ausgabe in den allermeisten Fällen, trotz klarer Regelfolge, intransparent. Auch hier gilt, Meinungen, Perspektiven, Bedürfnisse werden nicht ausgetauscht und möglichst für alle zugänglich gemacht, womit wiederum die Entscheidungsfindungsprozesse zumindest auf Transparenz angelegt wären. Entscheidend ist bei diesem Verfahren, dass etwas hergestellt wird, das als ‚objektive Normierung‘ bezeichnet werden könnte. Denn es wird nicht nur aufgrund vorliegender Daten, ein Schluss auf die Zukunft gezogen. Darüber hinaus wird - zumindest in vielen Fällen - unterstellt, dass früheres Verhalten von Personen deren zukünftiges Verhalten - Wahrscheinlichkeitsvariablen hin oder her - letztlich deterministisch steuern. Auch dies entspricht nicht der Vorstellung eines autonomen Individuums, das sich für unterschiedliche Dinge entscheiden kann und sich eben nicht notwendigerweise für eine bestimmte Handlung oder Einstellung entscheiden muss aufgrund vorhergehen‐ der Entscheidungen oder Handlungen. Solch ein autonomes Individuum wird indes in demokratisch strukturierten Gesellschaften vorausgesetzt, um Urteile über die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft zu fällen. Diese Voraussetzung impliziert: Urteile in diesem emphatischen Sinne sind eben nicht aus vorhergehenden Urteilen und Handlungen einer Person abzuleiten, sondern können sich ändern. Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang ist aber, dass solche Schlüsse auf die Zukunft nicht nur Wissen generieren, sondern Normen setzen. Aus einem ‚So ist es‘ oder einem ‚Wenn es so weiter läuft wie bisher, wird es höchstwahrscheinlich so oder so werden‘ wird ein ‚So muss es sein‘, ‚So muss gehandelt werden‘. Hier liegt, strikt klassisch philosophisch betrachtet, ein Kategorienfehler vor, wird doch nicht 312 4 Politische Medienikonografie <?page no="313"?> 405 Vgl. dazu bereits: David Hume, Ein Traktat über die menschliche Vernunft. Bd. 2. Buch III: Über die Moral [1739], Hamburg 1978, S. 211ff.; für einen knappen historischen Abriss der philosophischen Diskussion des Kategorienfehlers vgl.: Andreas Kemmerling, Kategorienfehler, in: Joachim Ritter u.-a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. IV. Basel 1976, S.-781-783. mehr unterschieden zwischen deskriptiven und normativen Aussagen. 405 Auch wenn bestimmte Handlungen wahrscheinlicher als andere sein mögen, damit zukünftiges Handeln besser vorherbestimmt werden könnte, bedeutet das ja nicht, dass daraus automatisch Normen für zukünftiges Handeln und Regulierung von Handlungen folgen. Genau hier liegt der Kategorienfehler: Wie wir leben wollen, leitet sich eben nicht daraus ab, wie wir gelebt haben. Wie die politische Regulierung des zukünftigen Lebens aussehen soll, lässt sich nicht einfach aus dem Ist-Zustand ableiten. Aber genau diese Funktionslogik - so wäre zumindest vor dem Hintergrund solch einem Szenario zu folgern - liegt Algorithmen strukturell zu Grunde, wenn man sie konsequent auf die menschliche Sphäre und politische Entscheidungsfindungsprozesse überträgt. Dabei wird die Normativität, die die Algorithmen für zukünftige Entscheidungen formulieren, behandelt, als leite sie sich automatisch aus wahren Annahmen über das bisher unter bestimmten Kategorien ausgewertete Verhalten der Menschen ab. Sollte es zutreffen, dass politisches Handeln ein auf die Zukunft gerichtetes strate‐ gisches Verbindungshandeln zur (de-)regulierenden Gestaltung eines Kollektivs ist [↑ Kap. 2, Politik], dann sind Algorithmen aus dieser Sicht ganz sicherlich politisch - und zwar in einem sehr speziellen Sinne: Politische Auseinandersetzung, Meinungs- und Widerstreit, Abwägen, deren Institutionalisierungen, Steuerungsmechanismen und damit verbundenen Praktiken werden letztlich obsolet gemacht und in ein formales Verfahren überführt (vgl. Abb. 4.86). Etwas forcierter formuliert: Die Politik der Algo‐ rithmen besteht letztlich in der Entpolitisierung von Entscheidungsfindungsprozessen. Wohlgemerkt geht es hier nicht darum, ein Schreckensszenario zu etablieren, vielmehr soll gezeigt werden, dass es durchaus Gründe gibt, einen nicht-menschlichen Akteur, Algorithmen, als prinzipiell politisch zu verstehen. Nimmt man deren Struktur‐ logik ernst, fragt also nicht nach dem Einsatz von Algorithmen für politische Zwecke, sondern nach ihren politischen Implikationen, lässt sich durchaus mit guten Gründen formulieren: Es gibt nicht nur Politik mit Algorithmen, sondern ebenso eine Politik der Algorithmen selbst. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 313 <?page no="314"?> Politik Willensbildung I Normen Institutionen I Systeme Steuerung I Praktiken Algorithmus Verfahren: Umwandlung von Daten in ‚objektive Normen‘ für die Zukunft Kalkül: Regelfolgen, zielorientiert, digital codiert Prognose: Wahrscheinlichkeit durch Daten von Gruppen aus der Vergangenheit, Zurechnung auf individuelles Verhalten in der Zukunft Abb. 4.87: Algorithmen wandern in die Mechanismen der Politik ein - Was tun? Beschneidung des Gegenstandbereiches Auch wenn es plausibel sein mag, den Begriff des Politischen auf nicht-menschliche, medientechnologische Akteure in beschriebenem Sinne auszuweiten, bleiben dennoch meines Erachtens immer noch genügend gute Gründe, den Zugriff der politischen Medienikonografie auf Algorithmen zu beschneiden. Zunächst einmal hat die vorge‐ schlagene Reflexionsebene überhaupt nichts mehr mit Bildern zu tun; zumindest ist solch eine Argumentation schlicht bildindifferent [↑ Barthes, Authentizität …]. Deshalb muss gefragt werden, was Algorithmen mit Bildern zu tun haben. Weiter vorne wurde dafür das Beispiel der algorithmischen Gesichtserkennung genannt [↑ (2) Algorithmen als Mittel politischer Überwachung]. Hieran anschließend könnte gefragt werden, welche politischen Implikationen die digitale Rasterfandung hat, wie ihrer Selektionen und Klassifikationen Erwartungen und Vorurteile Handlungen für bestimmte Ethnien, soziale Klassen, Gender-Zugehörigkeit hervorbringen und tradieren. Da aber Algorithmen bis dato, jenseits von Science-Fiction-Szenarien, in der Welt nicht als autonome Akteure vorkommen, das heißt Algorithmen immer noch in institutionellen Zusammenhängen, von Menschen programmiert, durch ökonomische Interessen oder eben dezidiert politische von menschlichen Akteur: innen strategisch eingesetzt werden, scheint es mir naheliegend, davon auszugehen, dass Algorithmen als Teil eines meist komplexen Netzwerks aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, aus menschlichen Programmierern, algorithmischen Operationen und spe‐ zifischen Einsatzorten relevant werden - und dementsprechend innerhalb solch eines 314 4 Politische Medienikonografie <?page no="315"?> Netzes zu untersuchen sind, das noch durch andere Politiken als die der Algorithmen selbst strukturiert wird. Deshalb ist es sinnvoll, im ersten Schritt jeweils die konkreten Weisen anzuschauen, in denen algorithmisch verarbeitete Bilder als Mittel für und in politischen Prozessen zum Einsatz kommen. Im zweiten Schritt kann davon ausgehend immer auch gefragt werden, ob die algorithmischen Operationen und ihre Eigenlogik rückwirkend oder antizipierend auf den Einsatz von Algorithmen Einfluss haben, auf die Art und Weise, wie Bilder in Erscheinung treten und in welchen Kontext diese Bilder rezipiert werden können. Algorithmen mögen per se politisch sein; in vorliegendem Kontext wird ihrer Politizität aber nur in politischen Zusammenhängen relevant, die zum einen mit Bildlichkeit zu tun haben und zum anderen im Verhältnis stehen zu menschlichen Strategien und Willensbildungsprozessen. Dabei werde ich mich im Folgenden auf einen Bereich konzentrieren, nämlich auf algorithmisch fundierte Vernetzungsstrategien politischer Bilder. Damit können Bildverteilungsprozesse konkret verfolgt werden, die in politischen Kontexten rele‐ vant sind. Weiterhin lässt sich so beobachten, wie diese Vernetzungslogik wiederum bestimmte Formen politischer Darstellungsstrategien nahelegen und deren Produktion wahrscheinlicher machen. Anders gewendet: Es soll um Infrastrukturen digitaler Bildzirkulation gehen, die algorithmisch präformiert, aber keinesfalls determiniert sind. III. Technisch-prozessuale Infrastruktur: Zirkulation der Bilder Ein Bild zu analysieren, bedeutet immer mehr als nur ein Bild genauer zu betrachten. Dies wurde bereits sehr deutlich bei der Diskussion über Medienikonen oder bei der Darlegung des Konzeptes der Bildfahrzeuge nach Warburg [↑ Kap. 3, Medienikonen, Bildfahrzeuge; ↑ Anstatt einer Bilddefinition]. Immer geht es auch um Traditionen, Referenzen oder zumindest Vergleiche. So lassen sich die Funktionen, Variationen oder Wirkungsbedingungen überhaupt erst im historischen Abgleich näher bestimmen. Im Zeitalter digitaler Bildzirkulation scheint sich diese Betrachtungsform nicht einfach nur fortzusetzen, sondern virulenter zu werden. Denn Bilder sind nicht nur durch die digitale Vernetzung schneller nahezu überall hin zu distribuieren, auch die Reaktionen darauf - unter anderem wiederum mit Bildern -, sind in einer Weise potenziert, die historisch einzigartig sein dürfte. Besonders anschaulich wird diese Form der Bildzir‐ kulation bei Memes [↓ Meme]. Populäre Memes verbreiten sich nicht nur schnell viral, sondern bilden ganze Serien von Imitationen, Variationen, Gegenbildern, vermischen sich mit anderen Memes und Meme-Serien [↓ Meme-Serien]. Hier ein einzelnes Meme herauszunehmen und zu fragen, welcher Darstellungstradition dieses folgt, scheint an der Funktionslogik dieses Bildtypus und der damit verbundenen Praktiken des Bilderteilens, noch frappanter vorbeizugehen als bei traditionellen Medienikonen im 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 315 <?page no="316"?> 406 Vgl. dazu bspw.: Oliver Zybok, Memes - Ursprünge und Gegenwart, in: Kunstforum international, 279 (2022), S. 47-85, hier: S. 58ff. Zybok schreibt diesbezüglich instruktiv unter Rückgriff auf den Begriff der Relation: „Für Memes […] gilt es, diese nicht als isolierte und in sich abgeschlossene Praktiken zu reduzieren, sondern sie vielmehr im Zusammenhang mit anderen Praktiken und Versionen zu betrachten und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Die medialen Spielarten in diversen Bildfindungsprozessen müssen als Konstellationen fokussiert werden, das heißt als relationale, per‐ formative, dezentrierte und konstituierende Beziehungen unterschiedlicher Teilnehmer verstanden werden, die mit weiteren Konstellationen verwoben sind.“ (Ebd., S. 61) Vgl. auch Limor Shifmans Meme-Definition, die darin besteht, ein Meme als etwas zu bestimmen, das es nur im Plural gibt, vgl.: Limor Shifman, Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, Frankfurt am Main 2014, S.-14 [↓ Meme]. 407 Gerling u.-a., Bilder verteilen, S.-45. vordigitalen Zeitalter. 406 Hinzu kommt die weiter vorne skizzierte algorithmische Logik der Suchmaschinen und Plattformen, die Bilder in sehr spezifischer Weise sichtbar machen, den User: innen vorschlagen, User: innen und Bilder vernetzen. Zwar gilt schon beim Konzept der Medienikonen [↑ Kap. 3, Medienikonen], dass Bilder nicht nur auf ihre Traditionen und Darstellungsformen hin zu befragen sind, sondern die Praxis ihrer Zirkulation, ihrer Modifikationen und Variationen zentral sind, um ihre Funktion und Wirkungen zu verstehen. Als entscheidende Neuerung scheint mir jedoch neben der technisch bedingten Vervielfältigung potenzieller Bildverbrei‐ tung, Bildherstellung und -umgestaltung, die Tatsache, dass Vernetzungslogiken auf technologischer Ebene von Plattformen wie Instagram, Facebook oder Suchmaschinen wie Bing oder Google existieren, die aufgrund ihrer Infrastrukturen automatisiert und in weiten Teilen intransparent, Nutzer: innen miteinander vernetzen und ihnen Vorschläge für weitere Bilder machen können. Gerade hier scheint der Blick nur auf Bilder oder Bilderreihen kaum auszureichen, ist es doch immens wichtig, was hinter und jenseits der Bilder passiert. Wenn diese Sphäre in den Blick genommen worden ist, kann in einem zweiten Schritt gefragt werden, welche Art von Bildern, Bildarten und Zirkulationsweisen durch solch eine Infrastruktur präformiert sind oder zumindest auf Grundlage der jeweiligen Infrastruktur etabliert wurden. - Von der Partizipationskultur zur Konnektivitätskultur Lange war mit der digitalen Netzwerk-Infrastruktur die Vorstellung, ja, die Utopie verbunden, dass sich Menschen je nach Interessen und Bedürfnissen jenseits klassi‐ scher Massenmedien aktiv über große Distanz hinweg verbinden können. Mit dem sogenannten Web 2.0 veränderte sich jedoch die Situation. Aus einer „‚networked com‐ munication‘“ wurde eine „‚platformed‘ sociality, das heißt eine […] Form der Sozialität, die von (kommerziellen) Plattformen, also Online-Diensten, ausgeht“. 407 Bedingungen und zentrale Akteure der Web-Infrastruktur wurden so massiv transformiert. Relevant in diesem Zusammenhang ist, dass damit die Social Media-Dienste sowohl Zugriff auf die Daten der Nutzer erhalten als auch - noch wichtiger - regulierend auf die Art und Weise der Nutzervernetzung sowie die jeweiligen Bildervorschläge einwirken. Zu denken ist hier an Popularitätsmetriken, die die Suchanfrage regulieren, weitere 316 4 Politische Medienikonografie <?page no="317"?> 408 Unternährer, Ordnung der Empfehlung. 409 Vgl. dazu: Jose von Dijck, The Culture of Connectivity. A Critical History of Social Media, Oxford 2013, S.-12. 410 Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf [1998], München 2007, S.-13. Angebote von Videos auf YouTube, der Newsfeed auf TikTok oder Twitter, automatische Vernetzung zwischen Plattformen wie etwa Facebook und Instagram (letztere wurde von ersterer 2012 gekauft). Gerade Popularitätsmetriken zu (Einzel-)Empfehlungen zeigen sehr deutlich, dass es hier um algorithmische Vernetzung ‚hinter dem Rücken‘ der Nutzer: innen und von diesen zumeist unerkannt oder doch häufig unhinterfragt geht. Genauer noch handelt es sich dabei um Relationierung von Nutzer: innen nach Präferenzen, Wohnorten, Gender etc. - und nicht etwa um Ausdifferenzierung oder gar Singularisierungen einzelner Nutzer: innen. Dementsprechend schreibt der Soziologe Markus Unternäher: „Die verschiedenen Varianten der Empfehlung zeigen […], dass auf der Hinterbühne nicht die Nutzerin in ihrer Einzigartigkeit betrachtet wird, sondern in Relation zu anderen Nutzerinnen und Dingen. ‚Collaborative Filtering‘ als paradigmatisches Beispiel für personalisierte Empfehlungen macht deutlich, dass im Kern der Personalisierung nicht das Individuum oder die Nutzerin ‚in splendid isolation‘ […] steht, sondern Nutzerinnen in paarweisen Relationen zu Dingen und in ‚Nachbarschaften‘ als einer Form algorithmischer Sozialität“ 408 oder eben Konnektivi‐ tät. Damit werden Prozesse sozialer Vernetzung und deren technische Optionen in einer eigentümlichen Weise miteinander verschaltet und durch Algorithmen gesteuert. Oder knapper formuliert: Digitale Algorithmen codieren - ineinander verschränkt - Sozia‐ lität und Subjekte. Digitale Plattformen und Suchmaschinen formalisieren, steuern, manipulieren, geben Anreize für Tätigkeiten, Kollektivierungen und Selbstwahrneh‐ mung - und zwar auf Ebene alltäglicher Such- und Kommunikations-Routinen. 409 - Ökonomie der Aufmerksamkeit Diese mediale Lage lässt sich vor dem Hintergrund der sogenannten Ökonomie der Aufmerksamkeit noch einmal anders perspektivieren. Dies ist in vorliegendem Kontext relevant, weil so nicht nur die Produktionsseite und das Operieren von Algorithmen in den Blick genommen werden können, sondern darüber hinaus die Appelle an die User selbst in gewisser Wese aktiv zu werden, was dort unter anderem bedeutet: mit Bildern auf Bilder zu reagieren. Diese Ebene wird hier die entscheidende sein für einen exemplarischen Zugriff einer politischen Medienikonografie. Ausgangspunkt der Ökonomie der Aufmerksamkeit ist eine einfache Feststellung: Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, um die es einen harten Wettbewerb gibt, ähnlich wie um materiellen Besitz oder Macht. Aufmerksamkeit, so formuliert es Georg Franck, wird in der „hochtechnisierten Zivilisation“ zum entscheidenden „Produktionsfaktor“ 410 . Aufmerksamkeit wird hergestellt, so Franck, erstens durch 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 317 <?page no="318"?> 411 Ebd. 412 Ebd., S.-72. 413 Vgl.: ebd., S.-72ff. „geistige Arbeit“ 411 - und diese geistige Arbeit hat in nahezu allen Volkswirtschaften inzwischen den Anteil am Sozialprodukt den der körperlichen Arbeit weit überstiegen. Aufmerksamkeit ist so die „neue Währung“ 412 . Zur Währung wird Aufmerksamkeit aber nicht allein dadurch, dass es ein knappes Gut ist. Weiterhin muss sie zweitens zu einem universellen Tauschwert und damit quantifiziert werden. Drittens geht es darum, eine bestimmte Form von Reichtum zu akkumulieren, also Aufmerksamkeit anzusammeln und zu vermehren. 413 Gerade diese Zusatzkriterien, die Franck nennt, passen bestens zur digital-algorithmischen Infrastruktur der Plattformen und Suchma‐ schinen, wie später ausführlicher zu zeigen sein wird. Entscheidend sind hierfür insbesondere zwei Aspekte: (1) die Verschärfung der Konkurrenzsituation durch technische, also in diesem Fall digital und algorithmisch ermöglichte sozialer Vernetzung, (2) die Quantifizierung der Ressource Aufmerksamkeit durch digitale Werkezuge und Praktiken mittels numerischer Besser/ Schlechter-Re‐ lationen zur Beurteilung und Bewertung kommunikativer Offerten und möglicher Anschlusskommunikationen. - (1) Verschärfung der Konkurrenzsituation Seit die Kosten für den Zugang zum Word Wide Web vergleichsweise niedrig geworden sind, die Kompetenz aktiv im Web zu agieren, gleichzeitig immer niederschwelliger wird, die technische Infrastruktur nahezu global ausgeweitet ist, wird die Aufmerk‐ samkeit anderer einerseits durch technische Vernetzung potentiell wahrscheinlicher, anderseits umso umkämpfter, weil immer mehr Akteur: innen um die Aufmerksamkeit anderer konkurrieren. Aufmerksamkeit anderer, also Popularität, wird so immer knapper und wertvoller, dementsprechend attraktiver. Weiterhin wird durch die Implementierung der digitalen Vernetzung in alltägliche, private Kontexte - zu denken ist hier nur an die permanente Begleitung und den nahezu ubiquitären Zugriff auf Online-Dienste per Handy - die Aufmerksamkeitsspanne komprimiert. Dementspre‐ chend sind kurze, affizierende Angebote die wahrscheinlichere Wahl kommunikativer Vernetzungsangebote. - (2) Quantifizierung der Ressource Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit als ökonomisches Gut, das wurde mit Franck festgehalten, muss quantifiziert werden, um messbar und damit nummerisch kontrolliert akkumlierbar zu sein. Gerade digitale Plattformen bieten dafür eine nahezu ideale Infrastruktur - und zwar auf Seiten der Nutzer: innen wie seitens der Anbieter: innen. Nutzer: innen werden dazu animiert, quantitative bzw. quantifizierbare Operationen vorzunehmen: Liken, Follower-Werden, Follower sammeln, Hashtag-Setzen. Das alles sind abzählbare 318 4 Politische Medienikonografie <?page no="319"?> 414 Vgl. z. B. für das Ergebnis einer Fallstudie von 2018, bei der auf Grundlage von über 60.000 Keywords Rating-Faktoren eruiert wurden: Jason Campell, SEO Ranking Faktors Analyzed, Online zugänglich: https: / / www.redcarpetweb.com/ blog/ seo-ranking-factors-analyzed [27.11.21]. Vgl. anhand vieler Beispiele: David Beer, Metric Power, London 2016. Handlungen. Durch die weiter oben bereits angesprochenen Popularitätsmetriken, die u. a. bestimmt werden durch Klickrate, Verlinkung, Verweildauer, regelmäßige Aufrufe, Anzahl der Follower, Verlauf der Netzaufenthalte, Anzahl der Beiträge, Länge der Hauptüberschrift, Integration von Bildern, Videos und viel mehr (vgl. z. B.. Abb. 4.88b), werden nummerische Relationen zwischen den Beiträgen und den Nutzer: innen erstellbar, die etwa für Werbekund: innen attraktiv sein können oder aber auch für die Vorschläge, die dem Nutzer, der Nutzerin unterbreitet werden, was er oder sie als nächstes anschauen könnte oder sollte. Gerade hier wird die technologische Algorithmisierung des Sozialen offenkundig. Mythos unsichtbare Algorithmen und das Imaginäre der Algorithmen Hier sollte indes nicht der Eindruck entstehen, dass die Algorithmen von Suchma‐ schinen und Plattformen vollkommen unbekannt sind. ‚Intransparent‘ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass überhaupt alles abgeschattet ist, keine Kriterien oder zumindest Anhaltspunkte ausfindig zu machen sind, wie Google, Instagram oder TikTok ihre Algorithmen codieren. Die Firmen selbst geben manche ihrer Kriterien öffentlich bekannt, publizieren selbst Manuels, in denen formuliert wird, auf was man achten sollte, um in den Suchlisten weit oben gerankt zu werden oder um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, sein auf TikTok hochgeladenes Video bei möglichst vielen Usern auf deren Startseite erscheinen zu lassen. Unzählige Webpages geben Tipps, wie man ‚sein Unternehmen aufstellen soll‘, um eine gute ‚Performanz‘ für Rankings im Netz ‚hinzulegen‘, häufig garniert mit beeindruckend ausdifferenzierten Diagrammen mit nicht weniger beeindruckenden Akronymen, die prozentual verdeutlichen sollen, welche Faktoren in die Bewertung miteinflie‐ ßen (vgl. bspw. Abb. 4.88a). Ebenso gibt es viel Forschung zu Popularitätsmetriken und algorithmische Vernetzungslogiken digitaler Plattformen, die auf umfangrei‐ chen Datenauswertungen basieren und dementsprechend von User-Seite ausge‐ hend auf bestimmte Faktoren und Kriterien schließen lassen. 414 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 319 <?page no="320"?> 415 O.A., Welche Ranking Kriterien gibt es? [2021], in: SEO-Küche Online Marketing Agentur (Hg.), CRO Lexikon, Online zugänglich unter: https: / / www.seo-kueche.de/ lexikon/ ranking-kriterien/ [27.11.21]. Abb. 4.88a-b: Rankingfaktoren, unterschiedlich ausdifferenziert Nichtsdestotrotz gilt bis dato: „Laut Aussage von Google fließen etwa 200 Faktoren in den Algorithmus ein. Viele davon sind natürlich geheim […]. Außerdem werden die Kriterien ständig angepasst, um dem Nutzer ein besseres Ergebnis liefern zu können.“ 415 Mit anderen Worten: Die Kriterien bleiben letztlich weitestgehend intransparent. Zudem ist auffällig, dass viele der im Netz zu finden Diagramme sehr unterschiedliche Rankings bei den Rankingfaktoren behaupten (vgl. bspw. die Gegenüberstellung in 4.88a-b). Abb. 4.89a-b: Rankingeinschätzungen und Empfehlungen zu TikTok 320 4 Politische Medienikonografie <?page no="321"?> Was man dennoch immer wieder in den Diagrammen der Rankingkriterien finden kann und was auch bei Beschreibungen digitaler Plattformen wie TikTok auffällt, ist, dass deren Algorithmen vor allem nach Links, Likes, Shares suchen und die dementsprechenden Angebote mehr Usern zugänglich machen (vgl. Abb. 4.89a-b). Ähnliches lässt sich für Instagram behaupten (vgl. Abb. 4.90). Neben Faktoren, die danach fragen, wie häufig der User tätig ist im Netzwerk, ob sein Beitrag neu ist oder nicht, sind auch hier zentrale Faktoren: Verlinkung, Taggen, Besuchsanzahl, Verweildauer. Im Fall von Suchmaschinen-Ranking gilt Analoges: Vor allem der Websitebesuchszahl bzw. der Verweildauer auf der Website werden algorithmische Relevanz zugewiesen. Andes formuliert: Dies Algorithmen folgen, neben vielem anderen, transparentem und intransparentem Faktoren, eben auch und vor allem Links, Likes, Shares, Aufruf, Verweildauer. Abb. 4.90: Algorithmisches Denken von Instagram, grafisch für Nichtinformatiker aufbereitet Selbst wenn im ‚echten‘ digitalen Plattform- und Suchmaschinenleben algorith‐ mische Operationen sehr viel komplizierter sein mögen oder es dort gar ganz anders zugehen mag, könnte immer noch argumentiert werden, dass für die Reaktionen und Handlungen der User: innen - ganz ähnlich wie bei der Börse - ein entscheidender, wenn nicht der Faktor schlechthin ist, wie die Funktions‐ 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 321 <?page no="322"?> 416 Vgl. dazu instruktiv: Tarleton Gillespie, #trendingistrending. Wenn Algorithmen zu Kultur werden. In: Robert Seyfert/ Jonathan Roberge (Hg.): Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruk‐ tion der Wirklichkeit, Bielefeld 2017, S.-75-106, v.a.: S.-92ff. weise der Plattformen und Suchmaschinen eingeschätzt und beworben wird. Pointiert formuliert: Vielleicht ist die mächtigste Wirkung von Algorithmen die Überzeugung, dass sie mächtig sind. Solch einem diskursiv und affektiv besetzten Mythos des Algorithmus folgen denn auch viele Angebote von User: innen, um die Aufmerksamkeit und hohe Anschlussfähigkeit ihrer Angebote wahrscheinlicher zu machen. Und selbst wenn der einzelne User diesem Axiom nicht folgt, so ist doch das, was sichtbar wird und dementsprechend als relevant, als populär erachtet wird bzw. die Annahme, was ‚die Öffentlichkeit‘ gerade umtreibt, durch Algorithmen gesteuert oder doch auf Algorithmen zurückgeführt. Demensprechend gilt nicht nur, dass kulturelle Prozesse durch Algorithmen gesteuert werden, sondern ebenso umge‐ kehrt: Algorithmen sind kulturelle Phänomene, denen Signifikanz zugewiesen wird. 416 Beide Aspekte, gerade in ihrer Verschränkung, haben jedenfalls Einfluss auf Handlungen und Anschlusskommunikation insbesondere im Kontext politischer Bildstrategien. - Strategien der Aufmerksamkeit Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint es mir legitim und auch fruchtbar, nicht nur oder sogar nicht mal vor allem die tatsächliche Funktionsweise einzelner Algorithmen zu untersuchen, sondern zu beobachten, wie deren Präformationen bzw. die ihnen zugeschriebenen Vorgaben, Einfluss darauf haben, was wie gepostet wird oder doch zumindest, welche Beiträge dadurch präferiert werden, eben auch im Zusammenhang mit politischen Bildern. Was und zu welchem Zweck untersucht man digitale Plattformen - und was nicht? Die Maxime der Aufmerksamkeit gilt im politischen Kontext indes nur, wenn man davon ausgeht, dass politische Appelle und Strategien auf maximale Öffentlichkeit angelegt sind. Zwar wurde hier formuliert, dass Politik die strategische Gestaltung eines Kollektivs meint [↑ Kap. 2, Politik]. Das bedeutet aber mitnichten, dass diese strategische Gestaltung, auch wenn sie kommuniziert werden muss, an möglichst viele eines Kollektivs kommuniziert, ja, in den allermeisten Fällen, dies auch gar nicht beabsichtigt ist. Viele politische Ränke, viele politische 322 4 Politische Medienikonografie <?page no="323"?> Machtspiele, revolutionäre Umtriebe sind eines ja ganz sicher nicht: auf eine große Öffentlichkeit angelegt, eher auf so wenige Mitwissende wie nur möglich. Dementsprechend gilt, dass auf digitalen Plattformen wie 4inch oder Telegram nicht alle, wahrscheinlich nicht einmal die meisten Kommunikationsofferten auf möglichst viele Rezipient: innen ausgelegt sind, sondern eher kleinere ‚verschwo‐ rene‘ Gruppen ausmachen. Die Kommunikationsstrategien zielen dort wohl kaum auf die prinzipielle Logik der Aufmerksamkeitsökonomie, sind nur für ein kleines Klientel bestimmt und in ihrer Machart außerhalb solcher Gruppen zumindest schwierig zu verstehen. Auch aus dieser Perspektive lässt sich noch einmal formulieren: Es gibt nicht die Strukturlogik der digitalen Plattform, sondern nur diverse infrastrukturelle Kontexte und Logiken [↑ Die digitale Infrastruktur]. Wenn ich trotz dieses Um‐ stands daran festhalten will, dass im Zusammenhang mit digitalen Plattformen die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie zentral ist, bleiben mir mindestens noch zwei Möglichkeiten: Ich könnte behaupten, dass auch in kleineren Gruppen auf digitalen Plattformen, die Ökonomie der Aufmerksamkeit virulent ist, was freilich nur empirisch zu entscheiden wäre und wahrscheinlich nicht besonders große Erfolgschancen hätte. Oder aber ich justiere meinen Gegenstand so, dass es um politische Bilder gehen muss, die prinzipiell öffentlich zugänglich sind und populär wurden oder zumindest darauf angelegt sind. Damit ist ein Großteil der politisch relevanten Funktionslogik diverser Plattformen ausgeblendet und zudem das Problem der Zirkularität virulent. Denn so befinde ich mich schnell in der Lage nur Beispiele zu wählen, die auf die Ausgangsthese passen - populäre politische Bilder sind halt die, die auf Popularität angelegt sind. Diese zweite Möglichkeit erscheint mir dennoch zielführend oder zumindest nicht abwegig. Erstens können damit politische Bilder, Bildtypen und Praktiken unter‐ sucht werden, die im Zusammenhang mit einigen Merkmalen digitaler Plattformen und Suchmaschinen stehen. Über deren Zusammenhang und der Relevanz dieses Zusammenhangs für die Analyse politischer Bilder kann nachgedacht werden. Zweitens lässt sich so nachvollziehen, warum bestimmte Bildtypen und Bildformen populär geworden sind (und eben nicht andere). Damit wäre immerhin nicht das Problem gegeben, dass ich nur Beispiele wähle, die auf die Ausgangsthese passen, sondern könnte darlegen, warum die vorgestellten politischen Bilder aussehen, wie sie aussehen und was das mit der algorithmischen Funktionslogik bzw. der Ökonomie der Aufmerksamkeit zu tun hat. Sollten obige Beschreibungen - trotz aller gerade vorgebrachten Relativierungen und Probleme - zumindest einigermaßen plausibel sein, dann folgt daraus eine Art Handbuchanweisung zur Erhöhung der Aufmerksamkeit für die eigenen Inhalte und der Platzierung auf vorderen Rankinglisten und/ oder einer hohen Verbreitungs- und 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 323 <?page no="324"?> 417 Gehlen, Meme, Kap. 7: Die politische Dimension von Memen. 418 Vgl.: ebd. Vernetzungsoptionen für die User: innen. Anknüpfend an Beschreibungen solcher Strategiekonsequenzen, die Dirk von Gehlen nach dem Prinzip der Alliteration zusam‐ mengestellt hat, 417 lassen sich dementsprechend mindestens fünf Appelle formulieren (vgl. Abb. 4.91): (1) Popularisiere! (2) Polarisiere! (3) Potenziere! (4) Prozessualisiere! (5) Personalisiere! P OPULARISIERE ! P OLARISIERE ! P OTENZIERE ! P ERSONALISIERE ! P ROZESSUALISIERE ! ! Abb. 4.91: Fünf Appelle für die erfolgreiche Kommunikation im Netz Selbstverständlich nehmen sich diese fünf ‚P’s‘ arg plakativ und wenig differenziert aus. Auch ist es durchaus zweifelhaft, ob man von Gehlen folgen sollte, damit gleich die paradigmatischen, wie es im Untertitel seines Buches Meme heißt, „Muster digitaler Kommunikation“ 418 gefunden haben zu wollen [↑ Was und zu welchem Zweck…]. Den‐ noch sind diese Charakterisierungen für einen ersten Zugriff auf Internet-Phänomene, insbesondere auf Memes, aufschlussreich und hilfreich. Im Folgenden sollen einige Implikationen dieser durch die Spezifik algorithmischer Infrastruktur nahegelegten Kommunikationsappelle vorgestellt werden. - (1) Popularisiere! Dieser Appell heißt erst mal nichts anderes, als dass ein Beitrag möglichst das Interesse vieler wecken soll, die den Beitrag dann weiterleiten, (dis-)liken, kommentieren, lange dabei verweilen. Die quantitativen Popularitätsmetriken legen diese Kommunikations‐ form genau deshalb nahe, weil der User in Zahlen sofort den ‚Aufmerksamkeits-Erfolg‘ seines Beitrages zurückgespiegelt bekommt. Zudem gilt: Nicht nur der einzelne User bekommt diese Ergebnisse zurückgespiegelt, sondern auf diversen digitalen Plattfor‐ 324 4 Politische Medienikonografie <?page no="325"?> 419 Gillespie, #trendingistrending, S.-87. 420 Vgl.: Stäheli, Die Wiederholbarkeit des Populären. men viele andere User. Der Internet-Forscher Tarleton Gillespie schreibt diesbezüglich: „Es gibt Hinweise dafür, dass Metriken Popularität nicht lediglich abbilden, sondern diese auch verstärken […]. Einige Social-Media-Plattformen sind so strukturiert, dass sie Popularität mit Sichtbarkeit belohnen, indem sie die höchst rangierenden Suchergebnisse oder den am besten von einer Community bewerteten Inhalt ganz oben auf ihrer Seite aufführen. Wenn Sichtbarkeit für Publizität von Bedeutung ist, dann sind Metriken der Popularität, welche diese Sichtbarkeit bestimmen ebenso bedeutsam.“ 419 Schaut man sich an, was über Strategien zur Popularisierung geschrieben wird, sind immer wieder Formulierungen ausfindig zu machen, wie folgende: ‚Einfache Antworten auf komplexe Fragen‘, ‚einprägsame Slogans‘, ‚Operation mit Stereotypen und Vorurteilen‘, ‚Anschluss an bereits Populäres‘, ‚Emotionalisierung‘, ‚Tabubruch‘ bzw. ‚Provokation‘. Auch wenn das alles nicht falsch sein muss, ist damit zumindest kein systematischer Zugriff auf das Phänomen der Popularisierung gefunden und schon gar keiner, der für die konkrete analytische Arbeit hilfreich wäre, sondern eher eine mehr oder weniger beliebige additive Liste benannt. Deshalb möchte ich auf Ausführungen von Urs Stäheli zur Popularität zurückgreifen, die mir in diesem Zusammenhang hilfreich erscheinen [↑ VIII. Hyper- und Heterokonnektivität]. 420 Populäres zeichnet sich nach Stäheli durch zwei zentrale Merkmale aus: Erstens geht es darum, möglichst unmittelbar, möglichst intensiv Gemütsregungen wie Vergnügen, Lust, aber auch Wut auszulösen. Mit anderen Worten: Kommunikative Offerten, die Aufmerksamkeit erregen wollen, müssen auf Affizierung angelegt sein. Das zweite Merkmal bezeichnet der Soziologe mit dem Begriff Hyperkonnektivität. Damit ist ein hoher Grad an Anschlussfähigkeit an das Vorwissen möglichst vieler Nutzer: innen aus möglichst unterschiedlichen Kontexten und Milieus bezeichnet. Dies wiederum impliziert, dass die Angebote leicht zugänglich sein sollen, im besten Fall allgemein verständlich, an das Vorwissen möglichst vieler Nutzer: innen anschließen und damit an bereits Populäres anknüpfen. Technisch bedingte Ausrichtung auf und Herstel‐ lung von Konnektivität wird damit bestens mit der kommunikativen und sozialen Konnektivität verbunden [↑ Von der Partizipationskultur…]. Zugespitzter formuliert: Technische Hyperkonnektivität legt kommunikative Akte sozialer Hyperkonnektivität nahe. Kommen beide Merkmale, Affizierung und Hyperkonnektivität, zusammen, ist die Wahrscheinlichkeit im Kontext algorithmisch fundierter Plattformen und Rankings Aufmerksamkeit zu erzeugen, wahrscheinlicher gemacht. Um hier nur ein Beispiel anzuführen, auf das weiter vorne schon ausführlicher eingegangen wurde [↑ Trump, Thanos…]: Es handelt sich um ein kurzes Video, das im Zuge von Trumps zweitem Präsidentschaftswahlkampf gepostet wurde. Darin mutiert Trump zum Superschurken Thanos aus dem Marvel-Universum (vgl. Abb. 4.92a). Thanos ist so mächtig, dass er mit einem einzigen Fingerschnippen die Hälfte der Menschheit auslöschen kann. Ein einfacher Analogieschluss wird hier nahegelegt: 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 325 <?page no="326"?> Trump ist mächtig wie Thanos. Popularisierend ist dieses Video zum einen, weil eine Figur aus der fiktionalen Sphäre der Populärkultur aufgegriffen wird. Gerade Thanos’ Schnippen wurde schnell zu einer Art universeller Bildformel, die sich zu einer hyperkonnektiven Vernetzung besonders eignet. Abb. 4.92a-b: Trump als Thanos auf Twitter Dass der damals amtierende US-amerikanische Präsident als massenmordender Super‐ schurke charakterisiert wird, dürfte wiederum für Affizierung sorgen, sei es Wut oder Freude am Konventionsbruch. Dabei ist gerade die Uneindeutigkeit, was genau eigentlich ausgesagt werden soll - Trump ist ein Massenmörder? Trump ist sehr mächtig und kann durchgreifen? Trump folgt einer narzisstischen Allmachtsfantasie? - entschieden von Vorteil. Lässt diese sich doch als ironisches Spiel deuten, das das Potenzial der Hyperkonnektivität erhöht. Im Blick auf die Reaktionen in der Berichterstattung über dieses Video fällt auf, dass diese in großer Mehrheit von kritischer Art sind. Viele der Beiträge, die auch heute noch auf Suchmaschinen wie Google oder Bing hoch gerankt sind, berichten über diese kritische Rezeption, mit vielen Beispielen, aus vielen unterschiedlichen Bereichen und von unterschiedlichen Akteur: innen (vgl. bspw. Abb. 4.93). Sie zeugen somit nicht nur davon, dass das Trump/ Thanos-Video viele Reaktionen auslöste, über die wiederum berichtet wurde, sondern zudem, dass gerade in der kritischen Berichterstattung das Video von Trump als Thanos tatsächlich hochgradig hyperkonnektiv wirkte. 326 4 Politische Medienikonografie <?page no="327"?> 421 Vgl. bspw.: Paula Diel, Was ist Populismus? [23.02.18], in: bpb. Bundeszentrale für politische Bildung, Online zugänglich unter: https: / / www.bpb.de/ dialog/ netzdebatte/ 260878/ was-ist-populism us [27.11.21]. 422 Vgl. dazu instruktiv: Karin Priester, Wesensmerkmale des Populismus [26.01.12], in: bpb. Bundeszen‐ trale für politische Bildung, Online zugänglich: https: / / www.bpb.de/ apuz/ 75848/ wesensmerkmale-d Abb. 4.93: Die Berichterstattung über die Berichterstattung des Trump/ Thanos-Video - (2) Polarisiere! Diese Art der Popularisierung lässt sich im Kontext politischer Kommunikation auch als eine bestimme Form von Populismus bezeichnen und damit auf einen Kommuni‐ kationsstil bestimmter Akteure zurückführen. Auffallend ist, dass bei der Charakteri‐ sierung von Populismus immer wieder Merkmale genannt werden, die genau auf die zwei oben benannten Charakteristika, nämlich Affizierung und Hyperkonnektivität, zutreffen. 421 Als Mittel populistischer Affekt-Kommunikation wird auf eine möglichst polarisie‐ rende Gegenüberstellung hingewiesen, wie etwa ‚Wir gegen die Anderen‘, ‚Ich gegen die Anderen‘, ‚natives vs. Einwanderer‘, ‚Legale vs. Illegale‘, ‚Volksgemeinschaft vs. Fremde‘, ‚massenmediale (bürgerliche) Öffentlichkeit vs. Gegenöffentlichkeit digita‐ ler Plattformen‘. 422 Diese Gegenüberstellungen sind meist auf wertende Inklusion 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 327 <?page no="328"?> es-populismus? p=all [27.11.21]. Die Politikwissenschaftlerin schreibt treffend: „Populismus ist keine Substanz, sondern ein Relationsbegriff. […] Als zyklisches Phänomen, das oft mit einem Chamäleon verglichen wird, passt er sich permanent neuen Bezugssystemen an und setzt sich zu ihnen in eine Anti-Beziehung.“ (Ebd.) Speziell zu Trump: Richard S. Conley, Donald Trump and American Populism, Edinburgh 2020; oder auch: Georg Seeßlen, TRUMP! Populismus als Politik, Berlin 2017. 423 Vgl. dazu: Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzählthe‐ orie. Frankfurt am Main 2012, S.-99ff. 424 Ebd., S.-99. 425 Ebd. angelegt, bei gleichzeitiger strikt abwertender Exklusion. 423 Diese Polarisierungen sind - trotz einfachster Einteilung der Welt - „beweglicher und vielstimmiger“ 424 als reine Begrifflichkeiten. Was genau das ‚Volk‘ ist, was das ‚Fremde‘, bleibt häufig recht unbestimmt. Dementsprechend sehr flexibel sind so geartete Polarsierungen, wobei sie „oft widersprüchliche, instabile Mischungsverhältnisse“ 425 beinhalten, wie der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke schreibt. Das aber wiederum - so könnte man mit Blick auf Stähelis Hyperkonnektivitäts-Konzept formulieren - ist nicht ein Problem, sondern deren Einsatz erhöht vielmehr die kommunikative Anschlussfä‐ higkeit. Das angeführte Thanos/ Trump-Video scheint mir auch dafür ein geeignetes Beispiel. Es wird dort eine klare Differenz gesetzt zwischen denen, die Thanos/ Trump und seine Macht unterstützen, und denjenigen, die es nicht tun und gegen ihn/ sie kämp‐ fen. Konkret in Szene gesetzt werden dafür einige Abgeordnete der Republikaner, die federführend das Impeachment, also eine Art Misstrauensvotum gegen Trump, vorantrieben kurz vor der Wahl. Diese werden hinfort geweht (vgl. Abb. 4.92b). Wer aber nun genau mit dieser klaren Differenz wo zugeordnet werden soll, ob es nur einige Abgebordnete der Demokratischen Partei sind, alle ihrer Anhängerinnen oder alle, die nicht für Trump sind, bleibt diffus. Zudem spricht Trump im Videoclip den Satz, den auch Thanos im Spielfilm von sich gibt, nämlich: „I am invetibale“, also: „Ich bin unvermeidlich“. Damit ist eine aus der Bibel stammende Phrase, die sich auf den Tod bezieht, zitiert. Wenn Trump/ Thanos/ der Tod unvermeidlich sind, heißt das dann, sie bringen einigen, vielen, allen den Tod? Es scheint eine klare Polarität zwischen Trump-Befürwortern und Feinden behauptet zu werden, wobei eben nicht klar ist, wer denn genau zu diesen beiden Gruppen gehört, ja, ob denn nicht letztlich alle dem Tod/ Trump/ Thanos anheimfallen müssen. Die Polarisierung ist also in der Tat ‚beweglich‘ und ‚widersprüchlich‘. Um noch ein anderes Beispiel aus dem Umfeld dieses Impeachment-Verfahrens zu nennen: Es handelt sich dabei um ein Meme, auf dem Trump die Rezipient: innen mittels einer Zeigegeste direkt adressiert mit dem Slogan „IN REALITY THEY’RE NOT AFTER ME THEY’RE AFTER YOU / I’M JUST IN THE WAY“, zu Deutsch: „In Wirklichkeit/ Eigentlich sind sie nicht hinter mir her, sondern hinter Dir/ Euch / Ich bin nur im Weg“ (vgl. Abb. 4.94a). 328 4 Politische Medienikonografie <?page no="329"?> Abb. 4.94a: Trump adressiert ‚Dich‘ und die ‚Anderen‘ Hier wird zum einen nicht formuliert, wer genau diejenigen sind, die eigentlich (‚in reality‘) hinter ‚uns‘ her sind. Zum anderen ist dennoch eine Differenz gesetzt zwischen ‚denen‘ und ‚Euch‘ bzw. ‚Dir‘. Die ‚anderen‘ sind sicherlich Politiker: innen der Democrats und wahrscheinlich Menschen, die Ideen dieser Partei nahestehen. Hinter wem sie eigentlich, anstelle von Trump ‚her sind‘, bleibt diffus, aber es werden wohl die Leute sein, die Anhänger Trumps sind oder republikanische Einstellungen haben. Zusätzlich gibt es eine dritte Position in diesem Sprech- und Bildakt [↑ Bildakt], nämlich Trump selbst, der sich als Schutzschirm vor den ‚anderen‘ in Stellung bringt (vgl. Abb. 4.94b). 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 329 <?page no="330"?> YOU THEY ME Abb. 4.94b: ‚Du‘/ ‚Ihr‘, ‚ich‘ und ‚sie‘: Trump als Schutzschild Entscheidend ist erstens: Es wird eine Konfrontation zweier Parteien behauptet, die sich martialisch gegenüberzustehen scheinen. Dass nicht besonders deutlich wird, wer genau die Parteien eigentlich sind, ist eher von Vorteil für die Wirkung. Zweitens beinhaltet die Botschaft eine gewisse Ambivalenz, die ihr Affizierungspotenzial durch einen affektiven Widerstreit eher steigert als verringert. Beinhaltet das Meme doch ei‐ nerseits ein klares, auf Beruhigung abzielendes Versprechen: Trump wird ‚Dich‘/ ‚Euch‘ schützen und alle Angriffe von ‚denen‘ auf sich ziehen und absorbieren. Anderseits ist das Meme auf Beunruhigung angelegt, weil es sich dabei gleichzeitig um eine Drohung handelt: Gäbe es Trump nicht, wärst ‚Du‘/ wärt ‚Ihr‘ ‚denen‘ ausgeliefert. - (3) Potenziere! Die Maxime ‚Potenziere! ‘ meint vor allem die Ausrichtung auf Überbietung. Man nehme ein x-beliebiges viral zirkulierendes Meme [↓ Meme; ↓ Meme-Serie]. Daran lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit beobachten, wie in Windeseile vor allem polarisierende, Tabus überschreitende Darstellungen nicht nur aufgegriffen werden, sondern diese immer extreme Zuspitzungen erfahren. Es scheint eine Art Wettbewerb zu geben, wer noch witziger, schlagfertiger, zynischer, politisch inkorrekter sein kann mit seinem Meme. Diese Überbietungslogik lässt sich mit der weiter vorne beschriebenen algorithmisch fundierten Aufmerksamkeitsökonomie digitaler Plattfor‐ men und deren Popularitätsmetriken erklären, also vor dem Hintergrund der medialen Infrastruktur, in die Memes eingebunden sind [↑ Ökonomie der Aufmerksamkeit]. Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, scheint hier wahrscheinlicher, wenn überboten wird. Dies impliziert, dass es sich nicht einfach um politische Aussagen und darauf‐ folgend um Zustimmung, Kritik oder Neuausrichtung solcher Aussagen geht, wenn politische Memes auf digitalen Plattformen gepostet werden, sondern diese werden im Lauf ihrer Aneignung aufgrund der Strukturlogik ihrer medialen Infrastruktur 330 4 Politische Medienikonografie <?page no="331"?> kaskadenartig überboten, sprich: noch stärker polarisieret, immer noch mehr Tabus, gebrochen, noch unwahrscheinlicher und/ oder gewitzter semantisiert. Abb. 4.95a-c: Überbietungsdreischritt: Von „Hope“ zu „Nope“ zu „Done“ Ein einfaches Beispiel bietet wieder Obmas Hope Poster (vgl. 4.95a-c). Auf das Aus‐ gangsposter folgte schnell ein invertierendes Wortspiel, aus „Hope“ wurde „Nope“ und kurz darauf „Done“. Die dem ursprünglichen Poster folgenden Memes sind als Kritik an Obamas Politik und/ oder als ironisches Spiel mit dem Ausgangsmaterial zu verstehen. Jedoch gilt - egal, wie die jeweiligen Intentionen ausgerichtet sein mögen, die den einzelnen Memes zu Grunde liegen, ob politische Kritik oder ironisches Spiel oder beides - die Logik der Aneignung folgt einer medienintrinsischen Überbietungs‐ dynamik. Solch eine durch die mediale Infrastruktur präformierende Verlaufsform ist wichtig für die Analyse politischer Medienikonografie, da es hier nicht nur um direkte Absichten einzelner Kommunikationsofferten geht, sondern um die Eigendynamik medialer Konstellationen und Formen [↑ Was und zu welchem Zweck …]. Diese entscheiden mit darüber und konventionalisieren, in welcher Art und Weise über Politik kommuniziert wird bzw. wie Politisches visuell in Erscheinung tritt, was im hier diskutierten Kontext konkret heißt: Poltische Prozesse und Darstellungsformen werden im Modus der Überbietung sichtbar. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 331 <?page no="332"?> 426 Vgl. dazu und zum Folgenden: Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Zum Begriff der Massenmedien: ebd., S. 11f. Zu einer knappen Zusammenfassung der Thesen Luhmanns vgl.: Grampp, Medienwissenschaft, S.-206ff. 427 Vgl.: Luhmann, Realität der Massenmedien, v.a.: S.-35ff. 428 Dass die Überbietung eine Kommunikations- und Handlungsmaxime ist, die die gesamte moderne Welt spätestens seit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts bestimmt, diese These findet sich in: Andreas Sudmann, Serielle Überbietung. Zur televisuellen Ästhetik und Philosophie exponierter Steigerungen, Stuttgart 2017, v.a.: S.-14ff. Die Überbietungslogik der Massenmedien Die Überbietungslogik ist jedoch sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal von Memes oder von digitalen Plattformen. Auch klassische Massenmedien, seien es Zeitungen, Magazine oder Fernsehsendungen, kennen diese Logik. Mit Rückgriff auf Beobachtungen des Systemtheoretikers Niklas Luhmann lässt sich behaupten, dass das ‚System Massenmedien‘, zu denen Luhmann etwa Radio, Fernsehen, Zeitungen rechnet, durch Überbietung charakterisieren lässt. 426 Bei Luhmann selbst ist nachzulesen, dass sich das System Massenmedium vor allem durch die Suche nach Neuigkeit auszeichnet. 427 Der Fokus auf Neues beinhaltet unter anderem auch eine Überbietungslogik, etwa in der Form, dass die Informationen von heute, morgen schon wieder veraltet sind, also keinen hohen Informationswert mehr haben und dementsprechend durch neue Informationen überboten werden müssen. Überbietung lässt sich auch auf Ebene der Konkurrenz unterschiedlicher Zeitungen oder Fernsehsehsender verstehen, die sich in ihrer Berichterstattung über ein und dasselbe Thema überbieten, in dem sie andere, neue, noch spektakulärere Informa‐ tionen darüber publizieren oder zumindest versprechen, andere, spektakulärere, neuere Informationen bereitstellen zu können als das Konkurrenzblätter oder der rivalisierende Sender. 428 Um nur ein Bespiel für die Überbietungslogik massenmedialer Berichterstattung über lange Zeiträume zu geben, sei auf einige Spiegel-Titelbilder zu den Anschlägen von 9/ 11 verwiesen (vgl. Abb. 4.96a-f). Die Bilder auf den Titelseiten ändern sich zwischen 2001 und 2009 kaum. 332 4 Politische Medienikonografie <?page no="333"?> Überbietung 38/ 2001 36/ 2002 27/ 2003 31/ 2004 36/ 2006 50/ 2009 Abb. 4.96a-f: Magazininterne Überbietung: Spiegel-Titelbilder zu 9/ 11 Immer wieder sind insbesondere zu Jahrestagen des Anschlags Variationen der beiden Türme des World Trade Center abgebildet. Was sich hingegen entschieden verändert - und zwar nach dem Muster der Überbietung -, sind die jeweiligen Bildüberschriften. Die Bilder werden also durch Beschriftung nicht nur immer wieder neu semantisiert, sondern das Ereignis wird in seiner Relevanz immer größer. Ist 2001 noch von einem „Terrorangriff “ die Rede, der eine neue Art der Kriegsführung des 21. Jahrhunderts exemplifizieren soll, so ist ein Jahr später 9/ 11 ein Ereignis, das nicht mehr nur die Kriegsführung verändert hat, sondern die ganze „Welt“. Im Jahr darauf wird über die Möglichkeit berichtet, dass der Anschlag womöglich von der US-amerikanischen Regierung selbst initiiert wurde und dementsprechend darüber spekuliert, ob nicht die vermeintlichen Opfer die eigentlichen Täter gewesen sein könnten. 2004 sind die USA die „Wehrlose Weltmacht“. Zwei Jahre später veränderte der Anschlag nicht mehr nur die Welt, wie noch 2002, sondern die Welt wurde nunmehr „erschüttert“. Und Ende 2009 wird mit dem Bild der in Flammen stehenden Twin Towers sogar die gesamte erste Dekade des 21.-Jahrhundert als das „verlorene Jahrzehnt“ deklariert. Hieran lässt sich meines Erachtens deutlich ablesen, dass das Ereignis immer ‚größer‘ wird, retrospektiv immer mehr Einfluss auf die (politische) Welt bekommt. Mit anderen Worten: In dieser Art der Berichterstattung über ein und dasselbe Ereignis ist über Jahre hinweg eine Überbietungsstrategie zu konstatieren, die aus Perspektive Luhmanns, systemrelevant für die massenmediale Berichterstattung ist: Vermeidung von Redundanz, Suche nach Neuem, Irritierendem - und wenn es um Themen geht, über die bereits in der Vergangenheit berichtet wurde, müssen neue, wenn mögliche spektakulärere Zugriffe gewählt werden im Modus der Überbietung. Über das Verhältnis dieser massenmedialen Überbietungsstrategie und der von Memes auf digitalen Plattformen ließe sich wohl lange diskutieren, an dieser Stelle soll indes nur vermerkt werden: Erstens gibt es Überbietungsstrategien lange vor 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 333 <?page no="334"?> 429 Vgl. dazu: José van Dijck u. a., The Platform Society: Public Values in a Connective World, Oxford 2018, v.a.: S.-40ff. algorithmisch basierten medialen Infrastrukturen und gelten also ganz sicher nicht nur für Memes. Zweitens liegt dennoch ein fundamentaler Unterschied darin, wer als Produzent: in solcher Überbietungen in Erscheinung treten kann. Wer der oder die eigentliche Produzent: in sein kann, scheint in Zeiten sozialer Medien eine große Ausweitung weit über institutionalisierte Presseorgane, Bildagenturen oder öffentlich-rechtliche Fernsehsender hinaus bis hin zu einzelnen Usern erfahren zu haben. Drittens sind Anreize zur Überbietungslogik nunmehr eben durch algorithmische Vernetzung und Popularitätsmetriken gestützt und als Handlungs- und Kommunikationsappell an viele User: innen vermittelt [↑ Ökonomie der Auf‐ merksamkeit]. - (4) Personalisiere! Hierbei geht es um all die Phänomene, die mit einer Ausrichtung auf einzelne Personen oder spezielle Personengruppen einhergehen. Zwei Aspekte, die man aus‐ einanderhalten sollte, sind mit diesem Appell verbunden. Zum einen geht es um eine Strategie, Angebote auf bestimmte Personen und deren vermeintlicher Bedürfnisse abzustimmen und genau diesen zukommen zu lassen. Dies möchte ich die Strategie personalisierender Zurechnung nennen. Zum anderen handelt es sich um die Darstellung von Personen, die als maßgebliche Akteure politischer Prozesse figurieren und die als personifizierende Verdichtung politischer Phänomene in Szene gesetzt werden. Diese Form der Personalisierung soll als Strategie personalisierender Darstellung bezeichnet sein. - Strategie personalisierender Zurechnung Zunächst zum ersten Aspekt: Wenn beispielsweise in der Zeit eines Wahlkampfes eine algorithmische Analyse gemacht wird, um zu eruieren, welche Wähler: innen noch unentschieden sind und genau diesen dann Werbung einer Partei zugesandt wird, ist das eine Form der Personalisierung. Oder man denke, an personalisierte Angebote weiterer Videos auf YouTube für einen einzelnen User unter anderem auf Grundlage der Analyse vorhergehenden Nutzerverhaltens [↑ Politik mit/ der Algorith‐ men; ↑ Von der Partizipationskultur…]. 429 Einher geht damit im politischen Kontext häufig die Annahme einer Verkapselung. Insbesondere die Debatten um Filterblasen und Echokammern fokussieren dabei eine ideologische Immunisierung des eigenen 334 4 Politische Medienikonografie <?page no="335"?> 430 Vgl. dazu knapp und im Kontext diverser Immunisierungsstrategien: Olga Moskatova/ Sven Grampp, Medien der Immunität. Konturen eines medienwissenschaftlichen Forschungsfeldes, in: MEDI‐ ENwissenschaft. Rezensionen I Reviews, 3/ 4 (2021), S. 247-268, v.a.: S. 262ff. Zur Diskussion der Begriffe ‚Echokammer‘ und ‚Filterblasen‘ vgl.: Romy Jaster/ David Lanius, Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart 6 2021, v.a.: S. 64ff. Dort wird im Übrigen plausibel argumentiert, dass Filterblasen kein Effekt der Infrastruktur digitaler Plattformen sind, da diese vielmehr eher auf großtmögliche Vernetzung ‚programmiert‘ werden. Filterblasen sind so gesehen eher ein diskursiver Mythos als ein tatsächlicher Effekt von Plattform-Algorithmen. 431 Vgl. dazu im Kontext der Diskussion politischer Memes: Michael Johann/ Lars Bülow, Politische Internet-Memes. Zur Erschließung eines interdisziplinären Forschungsfeldes, in: dies. (Hg.), Poli‐ tische Internet-Memes - Theoretische Herausforderungen und empirische Befunde, Berlin 2019, S. 13-40, hier: S. 16f. Die Autoren beschreiben diese Ausdifferenzierung von Personengruppen als „domänenspezfisch[e]“ (ebd., S.-16), also nach Spezialgebieten diversifizierte Meme-Praktiken. Weltbildes durch Herausfiltern anderslautender Perspektiven und Meinungen vor dem Hintergrund algorithmisch erzeugter Personalisierung. 430 Bezogen auf einen Handlungs- und Kommunikationsappell bedeutet diese technolo‐ gische Grundlage, dass darauf geachtet werden soll, auf welche Personen eigentlich das Angebot primär abzielt. 431 Auch wenn es zutreffen sollte, dass aufgrund der Ökonomie der Aufmerksamkeit digitaler Infrastruktur auf Hyperkonnektivität abgezielt wird [↑ VIII. Hyper- und Heterokonnektivität], also auf Anschlussmöglichkeit an möglichst viele Personen oder Personengruppen, bedeutet das nicht, dass das jeweilige Kommu‐ nikationsangebot auf alle Personen mit Internetzugriff zugeschnitten ist. So ist das Thanos/ Trump-Video ja nicht für alle Menschen dieser Welt konzipiert, sondern primär für die Anhänger des ehemaligen Präsidenten zum Zwecke der ideologischen Immu‐ nisierung des eigenen Weltbildes, daneben wohl auch zur provokativen Affizierung der Kritiker Trumps. Auch wenn damit die impliziten Rezipent: innen des Videos noch weit gestreut und unscharf sein mögen, sind die anvisierten Personen nicht beliebig, insofern personalisiert (vgl. noch einmal Abb. 4.92a-b). Ähnliches ließe sich für das Meme mit der Aufschrift „IN REALITY THEY’RE NOT AFTER ME …“ (vgl. noch einmal Abb. 4.94). In diesem Fall könnte man sogar weitergehend behaupten, dass der einzelne Rezipient durch Sprechtakt sowie Zeigegestus direkt angerufen wird. So sind bildintern einzelne Personen adressiert [↑ VI. Interpellation; ↓ Rechtspopulistische Memes mit Althusser]. - Strategie personalisierender Darstellung Beim zweiten Aspekt meint Personalisierung eine Rückführung politischer Prozesse auf bestimmte Personen, die als zentrale Akteure visualisiert werden. Obwohl es durchaus eine beeindruckende Anzahl memetischer Darstellungen gibt, die keine Personen zeigen, sondern etwa Kuchendiagramme, Tiere oder Pflanzen, so scheint mir die Behauptung doch nicht allzu kühn zu sein, dass viele, ja, die allermeisten Memes Personen zeigen, deren Handlungen kommentiert werden und die häufig direkt an uns einen Appell richten. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 335 <?page no="336"?> Wieder anhand des Memes „IN REALITY THEY’RE NOT AFTER ME…“ exempli‐ fiziert (vgl. noch einmal Abb. 4.94): Trump appelliert dort direkt an die Rezipient: innen, in dem er eine klare Gruppenzuteilung vornimmt. Wir haben hier eine Person vor uns, der eine hohe Handlungsmacht zugewiesen wird, noch potenziert beim Meme, das Trump als Thanos zeigt (vgl. noch einmal Abb. 4.92a). Darstellungsästhetisch ist daran interessant, dass die handelnden Personen häufig einen expressiven Gestus oder eine expressive Mimik zeigen. Zur Analyse dieses Umstandes lässt sich ein klassisches Ikonografie-Werkzeug produktiv machen, nämlich Warburgs Pathosformel [↑ Kap. 3, Pathosformel]. Zur Erinnerung: Damit sind for‐ melhafte Darstellungen von Mimik und Gebärden des Affektausdrucks bezeichnet. Im Idealfall soll eine Pathosformel durch die Darstellung von Affekten die Rezpient: innen ebenfalls affizieren. Trumps Zeigegeste sowie sein Gesichtsausdruck zeugen von so ei‐ nem Affekt, genauer von einer gespannten Intensität. Pose und Gesichtsausruck folgen den Vorgaben einer lang tradierten Pathosformel. Diese Beobachtung passt wiederum wunderbar zu den beiden Kriterien der Popularisierung nach Stäheli, nämlich zur Affizierung wie auch zur Hyperkonnektivität [↑ VIII. Hyper- und Heterokonnektivität]. Dass es beim Trump-Meme um Affizierung geht, dürfte durch die Beschreibung von Trumps Pose und Mimik als Pathosformel evident sein. Hyperkonnektiv ist das Meme zudem nicht nur durch die Referenz auf das Uncle Sam-Plakat des Illustrators Flagg [↑ VI. Interpellation], sondern darüber hinaus gilt: Als lang tradierte, zum Stereotyp geronnene Pathosformel ist das Bild auch leicht von vielen in unterschiedlichen Kontexten zu verstehen. - (5) Prozessualisiere! Bei diesem Appell handelt es sich um eine spezifische Ausweitung kommunikativer Anschlussoperationen durch Rückgriff auf Vergangenes und Antizipation von Zukünf‐ tigem. Hier ist einmal mehr das Trump-Meme „IN REALITY THEY’RE NOT AFTER ME…“ instruktiv. Dieses Meme, zum ersten Mal gepostet am 19.12.2020, nutzt ein Poster des indischen Präsidenten Narendra Modi, das seit dem 11.02.2019 unter anderem auf Twitter zu finden ist (vgl. Abb. 4.97, zweites Bild, links). Es war eine Reaktion auf Proteste gegen Modi und die von ihm verantworteten neuen gesetzlichen Bestim‐ mungen, die muslimischen Menschen rechtliche Beschränkungen auferlegten. Der Schriftzug wird im Trump-Meme übernommen und dort verknüpft mit der berühmten Darstellung von Uncle Sam, der an Passanten appelliert, sich als Soldaten rekrutieren zu lassen [↑ VI. Interpellation; vgl. Abb. 4.97, erstes Bild, links]. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nahm wiederum nur drei Tage nach dem Post des Trump-Memes dessen Text und Geste auf. Hier ging es um Anschuldigungen und einer Anklage des Ministerpräsidenten wegen Korruption (vgl. Abb. 4.97, viertes Bild, links). 336 4 Politische Medienikonografie <?page no="337"?> t Abb. 4.97: Eine Meme-Reihe mit Staatsführern Solche Übernahmen sind als eine Strategie zu verstehen, die in der klassischen Iko‐ nografie, auch und gerade in ihrer politischen Variante, ein gängiger Untersuchungs‐ genstand ist, geht es dabei doch gerade darum, Bildmuster oder auch Pathosformeln ausfindig zu machen und zu zeigen, wie diese über die Zeit hinweg für diverse Dar‐ stellungen verwendet werden [↑ Kap. 2, Ikonografie]. Gleichzeitig gilt aber ebenso: Die klassische Ikonografie interessiert sich eher für jahrzehnte- und jahrhundertelange Entwicklungen. Bei den Übernahmen im Falle des Trump-Memes ist dagegen ein vergleichsweise kurzer Zeitraum von einigen Monaten zu konstatieren, in dem die Bezugnahmen erfolgen. Vor dem Hintergrund, dass es sich in allen angeführten Fällen um Staatsführer handelt, die sich in ihren Posts gegen Anschuldigungen wehren, ist eine strategisch bewusste Übernahme wahrscheinlich. Hier sind also in einem kurzen Zeitraum Übernahmen zu finden, die einen Prozess strategischer Nachahmung initiieren. Trumps sowie Netanjahus Tweets folgen aus dieser Perspektive der Maxime ‚Prozessualisiere! ‘ - und zwar in dem sie sich in Form, textuell und/ oder mittels Pose auf Vorgänger beziehen und dabei Nachahmungsprozesse in Gang setzen, die weitere Nachahmungen wahrscheinlicher machen. Vielleicht wird die Spezifik dessen, was hier mit der Maxime ‚Prozessualisiere! ‘ gemeint sein soll, an einem anderen Beispiel noch deutlicher, nämlich am sogenannten Tank Man [↑ Tank Man und Panzer als Enten]. Aus dem Tank Man wurde ein Meme, das nicht nur häufig aufgegriffen, in unterschiedliche mediale Formen transformiert, resemantisiert und reenacted wurde, sondern diese Meme-Kaskade funktioniert über bewusste Situierung innerhalb einer Meme-Reihe, als Reaktion auf vorhergehende Memes und einer dementsprechenden Rezeption (vgl. für viele Beispiele Abb. 4.98). Damit ist einerseits ein Prozess initiiert, der immer weiter Nachahmungen nach sich 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 337 <?page no="338"?> 432 Vgl. zur Charakterisierung von Memes als einem transformative Relationsprozess: Zybek, Memes, S.-61f. 433 Kerstin Schankweiler, Die Memeification des Tank Man, in: Felix Hoffmann/ Kathrin Schönegg (Hg.), Send me an Image. From Postcards to Social Media, Berlin 2021, S. 275-286, hier: S. 278. Die Unterscheidung, die Schankweiler aufgreift, findet sich in: David Perlmutter, Hypericons. Famous News Images in the Internet-Digital-Satellite-Age, in: Paul Messaris/ Lee Humphreys (Hg.), Digital Media. Transformation in Human Communication, New York u.-a. 2006, S.-51-64, hier: S.-54. zieht. Anderseits sind die einzelnen Memes im Bewusstsein, Teil eines Prozesses zu sein, kreiert und auf weitere Anschlüsse angelegt. Abb. 4.98: Transformative Tank-Man-Meme-Serie Diese Meme-Prozessualität scheint mir nicht mehr mit dem Konzept der Medienikonen fassbar zu sein, das zwar auf Dynamik angelegt ist, bei dem aber immer noch ent‐ schieden am Ursprungsbild festgehalten wird, sei es, dass dieses neu kontextualisiert wird, sei es, dass es abstrahiert wird [↑ Kap. 3, Von Bratislava und Kuba]. Das ist im beschriebenen Meme-Prozess anders. Innerhalb dessen lösen sich die einzelnen Memes allmählich von der Fixierung auf die Ursprungsdarstellung und konzentrieren sich eher darauf, Teil einer Reaktions- und Relations-Reihe zu sein, die dynamisch-transformativ operiert. 432 Es handelt sich bei dieser Meme-Prozessualität aber ebenso wenig um leere, voll‐ kommen beliebig mit Inhalt zu füllende, konventionalisierte Bildformeln. Die Beiträge beziehen sich in vergleichsweise kurzen Zeitabständen aufgrund ihrer Form und/ oder ihres Inhalts auf konkrete vorhergehende Beiträge. Kerstin Schankweiler macht den Vorschlag solch einen Meme-Prozess - unter Rückgriff auf Ausführungen von David Perlmutter - als „Verschiebung von ‚discrete icon‘ zum ‚generic icon‘“ 433 zu verstehen, 338 4 Politische Medienikonografie <?page no="339"?> 434 Vgl. dazu bspw.: Gehlen, Memes, v. a. S. 16ff. Zur Geschichte der Internet-Mems und ihrer ‚Aus‐ gangsplattform‘ 4inch: Olga Goriunova, Die Kraft der digitalen Ästhetik. Über Meme, Hacking und Individuation, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 8 (2013), S.-70-87, hier: S.-81. 435 Gehlen, Memes, S.-18 also als Übergang von der Konzentration auf einzelne Bilder, die aufgegriffen werden, zu Bildern, die bestimmte Form- oder Motiv-Traditionen verwenden, ohne dabei auf ein spezifisches Bild zu referieren. Mir scheint, dass diese Differenz das Phänomen nicht wirklich trifft. Es geht nämlich nicht um einen Wechsel der Fixierung auf ein einzelnes Bild zur Ausrichtung auf eine Bildformel, sondern genauer betrachtet um etwas dazwischen. Nicht das einzelne Bild ist entscheidend; es geht aber ebenso wenig einfach darum, einzig Motive oder Inhalte aufzugreifen. Vielmehr handelt es sich bei dieser Bildpraxis um die strategische Situierung einer Reihe von Darstellungen. In Anlehnung an die Bezeichnung ‚generic icon‘ könnte das vielleicht als ‚procedural icon‘ beschrieben werden oder auch als serielles Bild (vgl. Abb. 4.99). Darauf möchte ich unter dem Stichwort serielle Nachahmung später näher eingehen. icon I Bildzeichen discrete I einzeln procedural I voranschreitend generic I unspezifisch Bildtypen: Medienikone Meme-Serie Pathosformel Abb. 4.99: Drei Bildtypen - Memes als zentrale Form digitaler Infrastruktur Zuvor soll noch näher bestimmt werden, warum ich mich im Folgenden auf Memes konzentrieren werde, um den Zusammenhang von politischer Bildlichkeit und digitale Infrastruktur aufzuzeigen. Memes werden hier als prototypische Beispiele oder viel‐ leicht etwas vorsichtiger formuliert, als eine zentrale, äußerst populäre Darstellungs‐ form digitaler Infrastruktur perspektiviert, die sich nahezu auf allen algorithmisch fundierten Plattformen findet und bei Bildersuchen häufig ganz weit vorne gerankt wird. 434 Nach von Gehlen zeichnen drei zentrale Grundbedingungen die Kommunikations‐ beiträge des Netzes aus, nämlich Reproduktion, Rekombination und Referenz. Von Gehlen beschreibt diese Elemente als „Grundbedingungen des digitalen Ökosystems“ 435 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 339 <?page no="340"?> 436 Ebd., S.-19. und das Web als globale „Kopiermaschine“ 436 , die genau durch diese Elemente charak‐ terisiert ist. Auch wenn es arg simplifizierend ist, die Infrastruktur(en) des Internet auf einige wenige Begrifflichkeiten bzw. Strukturelemente zu reduzieren [↑ Die digitale Infrastruktur…], so scheint es mir doch hilfreich, von dieser Charakterisierung ausge‐ hend einen genaueren Blick auf die Funktionsformen politischer Memes zu werfen (vgl. Abb. 4.100). REKOMBINATION REPRODUKTION REFLEX REFERENZ Abb. 4.100: Drei Strukturelemente politischer Memes nach von Gehlen - plus ein weiteres Memes als Formen, in denen das Medium digitale Infrastruktur in Er‐ scheinung tritt Dieser Zusammenhang ließe sich auch etwas anders beschreiben, nämlich unter Rückgriff auf die weiter vorn angeführte Medium/ Form-Unterscheidung [↑ Kap. 2, Medium/ Form]. In vorliegendem Fall wäre das Medium die digitale Infrastruktur des Internet und die Formen wären die Memes. Das Medium ist dasjenige, was den Formen die Möglichkeiten des Erscheinens gibt. Die Formen wiederum - und das ist hier das Entscheidende - sind diejenigen Phänomene, durch die das 340 4 Politische Medienikonografie <?page no="341"?> 437 Vgl. zu diesem Zugriff knapp: Lorenz Engell, Medientheorien der Medien selbst, in: Schröter (Hg.), Handbuch Medienwissenschaft, S.-207-213. 438 Daniela Wentz, Krieg der Trolle. Digitale Reproduzierbarkeit und ‚Memetic Warfare‘, in: Navigatio‐ nen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften. 2 (2019), S.-135-148, hier: S.-139. 439 Goriunova, Kraft digitaler Ästhetik, S.-82 440 Vgl. dazu auch: Wentz, Krieg der Trolle, S.-139. Medium zuallererst in Erscheinung treten kann. Ohne Formen bliebe das Medium schlicht unsichtbar und unerkennbar. Das wiederum heißt, was ein Medium ist und ausmacht, wird überhaupt erst erkennbar, in seinen Formen. Wählt man also eine zentrale oder zumindest weit verbreitete Form eines Mediums zum Analyse‐ gegenstand, scheint die Hoffnung durchaus berechtigt, dass dadurch zentrale oder zumindest einige Merkmale und Strukturen des Mediums in Erscheinung treten. In den Formen reflektiert sich so das Medium selbst. 437 Wieder auf vorliegenden Fall gewendet: In Memes reflektiert sich die digitale Infrastruktur des Internet in spezifischer Weise. Das lässt sich noch etwas konkreter formulieren: Memes sind nicht nur Phäno‐ mene, anhand derer digitale Infrastrukturen und die damit verbundenen Netz‐ werkprozesse beobachtbar werden. Sie sind zudem mediale Praktiken, die auf Netzwerkverbindungen heterogener Elemente angelegt sind - und gerade deshalb erscheinen sie besonders geeignet, basale Strukturen der digitalen Infrastruktur zugänglich zu machen. Sie „schaffen“ nämlich, wie die Medienwissenschaftlerin Daniela Wentz schreibt, „Kollektivität durch das individuelle liken, sharen, kopie‐ ren, remixen, posten und reposten von medialen Objekten.“ 438 Technische und soziale Konnektivität sind hier besonders anschaulich und gleichsam komplex verbunden. „Ein Mem entsteht aus einer Vielzahl von Websites, Agenten und Ökologien, die dynamisch ineinandergreifen, um Netzwerke zu bilden, die seine Entstehung vorantreiben.“ 439 - Reproduktion, Rekombination Referenz und Reflex Zurück zu den drei Grundoperation von Memes nach Gehlen: (1) ‚Reproduktion‘ be‐ deutet hier einen Kopiervorgang im engeren Sinn. Inhalte werden ins Netz eingespeist, empfangen und weitergeleitet. So kann ein bestimmtes Angebot ‚viral gehen‘, also große Popularität erreichen durch exponentielle Verbreitung im Netz. (2) ‚Rekombi‐ nation‘ ist demgegenüber gekennzeichnet durch Variation eines Kommunikationsan‐ gebots, indem es mit anderen Elementen verbunden wird. Typische Beispiele dafür sind Mash-ups, Reenactments, Parodien - prinzipiell jegliche Art von Verknüpfung unterschiedlicher Elemente aus mindestens zwei distinkten Quellen. 440 Für Memes trifft diese Charakterisierung allein schon aufgrund ihrer technisch-ma‐ teriellen Merkmale zu. Memes sind, im Sinne von Hito Steyerl, ‚arme Bilder‘ [↑ Das 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 341 <?page no="342"?> 441 Steyerl, In Defense of the Poor Image. 442 Vgl. dazu die Ausführungen von Claus Pias zum Zusammenhang von Bildern und digitaler Informa‐ tionslogik. Pias schreibt diesbezüglich: „[…] Daten sind völlig anders als analoge Bilder, operabel. Mit dem Akt der gewalttägigen Repräsentation, mit der Beschneidung der analogen Unendlichkeit erkauft sich das Digitale gewissermaßen die Freiheit seiner Speicherbarkeit, seiner Übertragbarkeit und seiner Prozessierbarkeit.“ (Pias, Digitales Bild, S.-57) 443 Gehlen, Memes, S.-34. politische Bild…]. 441 Eine gute Bildauflösung im technischen Sinne ist für Memes nicht besonders relevant. Vielleicht lässt sich sogar formulieren, dass Memes nicht nur durch ihre permanente Reproduktion in ihrer Auflösung schlechter werden (etwa durch Kopie als Screencshot), sondern sie laden als digitale Bilder besonders zur Rekombination ein, was wiederum die bildliche Auflösung verringert. Das macht Memes in einem strikt technischen Sinne zu einem ‚armen‘ Bildtypus, ja zu einem, der immer ‚ärmer‘ wird. Memes sind jedenfalls Bilder, die auf Grundlage digitaler Rechenoperationen entstanden sind. Als solche sind sie auf Flexibilität angelegt, also auf Bearbeitung und Weiterverarbeitung digitaler Informationen. Insofern sind Memes flexible oder eben auf Rekombinierbarkeit angelegte Bilder. 442 (3) ‚Referenz‘ meint in diesem Zusammenhang schlicht Bezugnahme [↑ VII. Zeichen‐ typen]. Eine Kommunikationsofferte verweist auf einen Inhalt in einer bestimmten Form, und mit einer bestimmten Haltung. So referiert ein Meme mit dem Text „socialism“ auf das Hope Poster sowie auf den Joker aus dem Film The Dark Knight, dessen Lippenbemalung mit Obamas Konterfeit rekombiniert wird (vgl. noch einmal Abb. 4.100). Memes finden, so von Gehlen, in diesem Milieu „optimale Überlebensbedingun‐ gen“, 443 weil Memes die drei Aspekte der Reproduktion, Rekombination und Referenz idealtypisch verbinden. Insofern könnte man aus von Gehlens Perspektive anders‐ herum formulieren: in Memes verdichtenn sich das Netz und seine Muster idealtypisch. Man muss aber gar nicht so weit gehen, dass sich in Memes das gesamte Netz symbolisch verdichtet, zu heterogen, zu vielfältig scheinen doch die Angebote, Anwen‐ dungen und Strukturen [↑ Memes als Formen; ↑ Die digitale Infrastruktur gibt…]. Dass aber Memes populäre Bildformen im Netz sind und dabei bestimmte Strukturen des Internets nutzen und dergestalt sichtbar machen, diese etwas moderatere Behauptung scheint mir durchaus plausibel. An die drei Grundelemente, die von Gehlen vorschlägt, möchte ich noch ein viertes Element anschließen. Um dem augenscheinlichen Willen des Autors zur Alliteration Genüge zu tun, soll dieses Element als (4) Reflex bezeichnet werden (vgl. noch einmal Abb. Abb. 4.100). Ein Reflex ist eine unwillkürliche, rasche Reaktion auf einen äußeren Reiz, etwa auf eine bestimmte visuelle Darstellung. Genauer noch geht es mir in diesem Zusammenhang um eine spezielle Reizreaktion, nämlich um Affekte, also um Gemütsregungen oder besser noch: um Gefühlswallungen. Auf solch eine Affektreaktion scheinen mir nicht nur einzelne Meme angelegt zu sein, vielmehr noch gilt: Memes sind mediale Formen, die ganz prinzipiell auf diese Art affektiver 342 4 Politische Medienikonografie <?page no="343"?> 444 Vgl. dazu: Kevin Pauliks, Über kleine Hände und große Affen. Die serielle Narrativität politischer Internet-Memes am Beispiel von Donald Trump, in: Bülow/ Johann (Hg.), Politische Internet-Memes, S.-61-88. Reaktion angelegt sind - und zwar aufgrund ihrer Wahrnehmungsbedingungen, ihrer dispositiven Rahmung sowie ihrer technisch-prozessualen Infrastruktur. Memes sind auch in diesem Sinne ‚arme Bilder‘ [↑ Das politische Bild…]. Angelegt werden Memes gemeinhin selten auf eine reiche Vielzahl an Elementen oder auf eine komplexe Relation dieser Elemente, die ein langes Verweilen nahelegen. Sie sind vielmehr auf möglichst rasche Rezipierbarkeit, Verständlichkeit und unmittelbare affektive Wirkung ausgerichtet. Viele Memes lassen sich durch einfache Phrasen oder Schlagworte, bereits populäre Vorbilder, die häufig deutlich und kontrastiv collagiert werden und Pathosformeln verwenden, charakterisieren [↑ Kap. 3, Pathosformel]. Meme als Schlagbild Auch wenn es zutreffen sollte, dass Bilder besonders bedeutungsoffen sind [↑ Was Bilder sind…], so existieren doch nicht nur schriftliche, sondern ebenso bildinterne Strategien der Limitierung von Bedeutung bei gleichzeitiger affektiver Aufladung, etwa durch die Etablierung von Darstellungsmustern, Stereotypen oder und vor allem durch bestimmte schematisierte Gesten und Gesichtsausdrücke, die Warburg Pathosformeln nennt [↑ Kap. 3, Pathosformel]. Gerade letztere Form kommt auffällig häufig bei der Darstellung von Personen in Memes vor. Deren Lesbarkeit wird also einerseits nicht nur durch das textuelle Beiwerk garantiert [↑ II. Bild-Text-Verhältnisse], sondern eben auch durch solche visuelle Körper- und Gesichtsformeln. Anderseits ist damit eine spezifische affektive Aufladung verbunden, die die Rezipient: innen analog zu einem klassischen Schlagbild unmit‐ telbar affizieren sollen [↑ Kap. 3, Schlagbild]. Um ein einfaches Beispiel aufzugreifen, das viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nämlich Trumps Hände. 444 Mir geht es hier nicht um die Diskussion, ob Trumps Hände klein sind oder nicht und was daraus resultiert oder nicht. Auch das wurde Gegenstand vieler Memes und ein Muster für Meme-Generatoren. Zumindest ist daran zu erkennen, dass Trumps Hände wahrgenommen wurden und immense Aufmerksamkeit auf sich zogen. Mir geht es hier vielmehr darum, dass die Gesten, die Trump vollführt, starke, affektbesetzte und gleichzeitig formelhafte Handbewegungen sind. Man beachte nur einige wenige Meme-Beispiele, in denen solche Handgesten abgebildet werden. Sei es, dass Trump die Schnipp-Geste von Thanos aus The Avengers: Endgame zugewiesen bekommt, sei es, dass Trump uns mit einer Zeigegeste wie Uncle Sam beim Rekrutierungsposter direkt adressiert, sei es, dass er seinen Zeigfinger mit verzerrtem Gesicht nach oben reckt - immer 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 343 <?page no="344"?> 445 Vgl. dazu auch: Schankweiler, Protestbilder, v.a.: S. 26ff. Schankweiler geht in diesem Zusammenhang näher auf den Tank Man ein und konstatiert im Hinblick auf den Kontrast zwischen einer einzelnen Person, die sich einer Panzerkolonne entgegenstellt, und eben dieser Panzerkolonne eine David vs. Goliath-Konstellation, die sich über Jahrhunderte hinweg als Pathosformel etabliert hat. sind es Gesten, deren Deutung des jeweils vermittelten Affekts kaum Probleme machen dürften: Wut, Lässigkeit oder Drohung (vgl. Abb. 4.101a-d). Abb. 4.101a-d: Trumps Hände als Affekt-Energiekonserven Diese Beispiele lassen sich direkt auf Warburgs Konzept der Pathosformeln bezie‐ hen, 445 geht es doch dabei um formelhafte Darstellungen von Mimik und Gebärde, die einen Affekt ausdrücken und hervorrufen sollen. Es sind Gebären, die über lange Zeit hinweg stabile Bedeutung haben sowie als Ausdruck bestimmter Affekte fungieren [↑ Kap. 3, Pathosformel]. Sie können so vergleichsweise einfach verstanden werden und gleichzeitig affektive Wirkung erzielen, jenseits und vor jeder semantischen Aufladung der Memes oder Videos durch die beteiligten Texte. Aufgrund des Einsatzes solcher Pathosformeln werden Bilder häufig zu Schlagbildern. Oder anders formuliert: Das Meme scheint ein Bildtypus zu sein, der nicht nur eine Affinität zu Pathosformeln aufweist, sondern ganz ähnlich wie klassische Schlagbilder funktioniert. Aus dieser Perspektive ließe sich pointiert formulieren: Memes sind die Schlagbilder des digitalen Zeitalters. Hinzu kommen aber noch mindestens drei andere wichtige Aspekt, die Memes von tra‐ ditionellen Schlagbildern unterscheiden. Erstens sind es Reaktionen auf vorhergehende Memes bzw. auf ein Ursprungsbild, die deren Ausgangspunkt - in welcher Intensität auch immer - modifizieren [↓ Meme-Serien]. Zweitens folgen diese Reaktionen einer besonderen Form der Überbietungslogik, sind sie doch häufig angelegt auf Ironie, Witz, überraschende Neukontextualisierung. Die Memes von Trumps Händen - um noch mal auf das angeführte Beispiel einzugehen -, aber auch die Variationen des Hope-Memes sind ja nicht einfach nur irgendwie mit Pathosformeln verbunden, erfahren nicht nur Kontextverschiebungen, sondern sind mit Ironie verbunden oder zumindest auf Über‐ raschung angelegt, mitunter sind sie zynisch, herabsetzend oder schlicht blödelnde 344 4 Politische Medienikonografie <?page no="345"?> 446 Vgl. dazu erfrischend klar: Goriunova, Kraft digitaler Ästhetik, S.-82. 447 Ebd. 448 Baumgärtel, GIFS, S.-62 Kommunikationsofferten [↓ Memetische Affektpolitik]. 446 Meme-Dynamiken scheinen einer Art spielerischen Schlagabtausch-Logik zu folgen, bei der es darum geht, eine immer noch schlagfertigere Antwort zu liefern. Insofern funktionieren Memes nicht einfach wie traditionelle Schlagbilder in neuem medientechnologischen Gewand, sondern sind immer schon Teil einer auf spielerische Überbietung angelegten Serie [↑ (3) Potenziere! ]. Memes folgen deshalb einer sehr speziellen Aufmerksamkeitslogik, nämlich schlagfertige Schlagbilder zu produzieren im Zuge eines Schlagabtausches. Memes sind ideal für „komprimierte Aufmerksamkeitsspannen“ 447 , was wiederum bestens zu Rezeptionsgewohnheiten passt, die dominiert sind durch eine bestimmte dispositive, tief im Alltag verankerte Wahrnehmungsanordnung, nämlich den „schnelle[n] Blick auf das Smartphone“ 448 [↑ (1) Materiell-räumliche Infrastruktur…]. Vor dem Hintergrund der Aufmerksamkeitsökonomie digitaler Plattformen und Such‐ maschinen [↑ Ökonomie der Aufmerksamkeit] scheint das Meme ein besonders geeigneter Bildtypus für die damit verbundene Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Denn Memes beanspruchen eben kein langes Verweilen bei ihnen, kein kontemplatives Versenken oder reflexives Räsonieren über mannigfaltige Bedeutungsebenen. Es sind aber ebenso wenig Bilder, die langanhaltend schockieren, traumatisieren oder Ekel hervorrufen sollen, beispielsweise durch die Darstellung extrem physischer Gewalt, Aufnahmen von Kriegstoten, Folterszenen, Attentatsopfer, Krankheiten oder verstö‐ render Sexualpraktiken [↑ Punctum; ↑ Film als Schock- und Distanzmedium…; ↑ Die digitale Infrastruktur…]. Stattdessen ist die dispositive Rezeptionseinstellung eher angelegt auf das Hervorbringen einer schnellen Impression, eines Zustands moderaten Erstaunens und die Auslösung eines kurzen Affekts (vgl. Abb. 4.102). 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 345 <?page no="346"?> 449 Richard Dawkins, Das egoistische Gen [1976], Berlin/ Heidelberg 2 2007, S.-321. 450 Ebd. Aufmerksamkeitspanne komprimiert impressiv intensiv affektiv erstaunen gedehnt immersiv kontemplativ reflexiv schockieren Abb. 4.102: Schematische Gegenüberstellung unterschiedlicher Aufmerksamkeitsspannen Dieser knappen Charakterisierung soll im Folgenden näher nachgegangen werden, weil damit verdeutlicht werden kann, was es heißt, dass Form, Ästhetik und strategi‐ scher Einsatz politischer Bilder durch infrastrukturelle Aspekte präformiert sind. Zuvor soll aber erst noch genauer bestimmt werden, was ein Meme eigentlich ist. - Ein Meme kommt selten allein: Bestimmungsversuche Meme Der Begriff Meme wurde geprägt durch den Evolutionstheoretiker Richard Daw‐ kins. In Das egoistische Gen formuliert er eine Strukturanalogie zwischen geneti‐ scher Vererbung und kultureller Weitergabe. Als Beispiele nennt er: „Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen.“ 449 Melodien, Ideen, Phrasen oder Kleidungsmoden sind nach Dawkins insofern Memes, als sie von Mensch zu Mensch übertragen werden - und zwar maßgeblich in Form der „Imitation“. 450 Limor Shifman greift diesen Begriff auf, differenziert ihn weiter und überträgt ihn auf Phänomene digitaler Infrastruktur. Shifmans Meme-Bestimmung ist bis dato eine der maßgeblichsten in der Forschung. Deshalb soll diese auch ausführlicher 346 4 Politische Medienikonografie <?page no="347"?> 451 Shifman, Meme, S.-14. dargestellt werden. Die Internetforscherin bestimmt ein Meme wie folgt: Statt das Meme als eine einzelne kulturelle Einheit zu beschreiben, die sich erfolgreich fortpflanzt, plädiert sie dafür, ein Internet-Mem „als (a) eine Gruppe digitaler Einheiten die gemeinsame Eigenschaften im Inhalt, in der Form und/ oder der Haltung aufweisen; (b) die in bewusster Auseinandersetzung mit anderen Memen erzeugt und (c) von vielen Nutzern über das Internet verbreitet, imitiert und/ oder transformiert wurden.“ 451 Ist man gewillt Shifman zu folgen, dann beutet das erstens, dass es ein Meme nicht im Singular geben kann (vgl. Abb. 4.103). Ein Meme ist ein solches nur genau dann, wenn es mehrere distinkte Elemente gibt, die sich einer Meme-Einheit zuweisen lassen. Die Zuweisung zu solch einer Meme-Einheit erfolgt zweitens über inhalt‐ liche, formale und/ oder Einstellungs-Ähnlichkeiten, die drittens mit Referenz auf vorhergehende Elemente einer Meme-Einheit hergestellt werden. So wird das Hope Poster zu einem Meme, wenn zielgerichtet in weiteren Kommunikationsofferten auf die Form (die grafische bzw. farbliche Bezugnahmen), den Inhalt (‚Hope‘-Signa‐ tur, Motiv der Kopfhaltung) oder die Einstellung (etwa begeisterte Zustimmung zur Hoffnungsvision Obamas) referiert wird. Diese Kommunikationsofferten werden Teil einer Meme-Einheit, wenn sie viertens durch viele Nutzer: innen im Netz verbreitet, imitiert und/ oder transformiert werden. Gegenstand mehrere distinkte Elemente Einheit durch (1) Inhalt I (2) Form I (3) Haltung Referenz Referenz auf vorhergehende Elemente der Meme-Einheit Infrastruktur Internet (verbreitet/ rezipiert von vielen User) Aktivität Verbreitung, Imitation, Transformation Zirkulation mimetisch (verändernd) vs. reproduktiv (identisch) Zeichencode Audio, Schrift, Bild Format Bild-Text-Kombination: Macro Image, Gif, Fotografie, Screenshot, Selfie, Video Relation (1) Konkurrenz einzelner Elemente einer Meme-Einheit untereinander und zwischen Meme-Einheiten I (2) Hybridisierung von Meme-Einheiten Abb. 4.103: Ebenen von Shifmans Meme-Charakterisierung Shifman unterscheidet fünftens zwischen viraler und memetischer Zirkulation. Viral zirkuliert eine Kommunikationsofferte, wenn sie nur reproduziert wird; zu 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 347 <?page no="348"?> 452 Vgl. dazu: Goriunova, Kraft digitaler Ästhetik, S.-72. 453 Shifman, Meme, S.-27. einem Meme wird sie erst, wenn sie - wie minimal auch immer - verändert wird, sei es durch Nachahmung oder Rekombination, und dabei auf andere Kommuni‐ kationsofferten Bezug nimmt. Sechstens können Memes in sehr unterschiedlichen medialen Formen in Erscheinung treten, seien es Fotografien, Zeichnungen, Dia‐ gramme, GIFs, textuelle Elemente, Tonspuren. Am bekanntesten dürften aber wohl Text-Bild-Kombinationen sein, genauer: digital generierte Bilder mit einem diese überlagernden Text, sogenannte Image Macros. Gerade diese Form ist ein Meme-Typ, der im Kontext politischer Medienikonografie besonders relevant erscheint. 452 Siebtens zeichnet sich das Leben der Memes im Netz - analog zur biologischen Evolution - durch „selektive Konkurrenz“ 453 aus. Sie sind also Teil einer Ökonomie der Aufmerksamkeit [↑ Ökonomie der Aufmerksamkeit], die sich zentral durch eine verschärfte Konkurrenzsituation bestimmen lässt. Achtens sind Meme-Einheiten insbesondere durch Rekombination häufig auf Verknüpfung mit anderen Meme-Einheiten angelegt, so dass es schnell zu Kaskaden von Meme-Hyb‐ ridisierungen kommt, etwa dann, wenn Obamas Hope-Meme mit einem Porträt von Trump rekombiniert wird, das bereits zuvor unabhängig von ersterem als Meme zirkulierte (vgl. noch einmal Abb. 4.101d). Auch wenn Shifmans Meme-Bestimmung weit verbreitet und durchaus nützlich ist, gibt es damit doch einige Probleme. Um nur drei kurz zu benennen: Es ist recht unklar, was es genau heißt, dass viele Nutzer: innen memetische Elemente (weiter-)verbreiten. Wie viele Nutzer: innen müssen es denn sein, um eine Darstellung ein Meme nennen zu dürfen? 100 Bearbeitungen: kein Meme, 1000 schon? Es scheint mir zwar völlig plausibel, dass Memes vor allem dann interessant sind, wenn es mehrere gibt bzw. Memes ‚viral‘ zirkulieren. Dennoch ist die Bestimmung, dass ein Meme das ist, was irgendwie zu anderen Memes gehört zumindest, klassifikatorisch wenig befriedigend. Zweitens sollen sich Meme-Einheiten unter anderem bestimmen lassen durch dieselbe ‚Einstellung‘. Dieses Kriterium scheint mir viel zu weit und vage. Es kann doch für die Zuweisung von Memes nicht ausreichen eine ‚linke‘ oder ‚rechte‘ Haltung zu haben und mit dieser ‚Haltung‘ etwa ein Bildartefakt zu posten, auch dann nicht, wenn sich unterschiedliche Bildartefakte auf dasselbe Ereignis oder dieselbe Person beziehen. Drittens ist nicht recht nachvollziehbar, ein Meme als ein solches nur genau dann zu bestimmen, wenn es mehrere distinkte Elemente gibt, die zu einer Einheit verbunden werden. Ab wie vielen Elementen gibt es dann ein Meme? Zwei, drei oder mehr? Was spricht dagegen klarer zu bestimmen, was ein Meme ist, das dann unter Umständen populär wird, wenn es sich mit anderen Meme-Elementen verbindet und so eine Meme-Serie etabliert wird. Bestimmt man die Existenz von Memes nur im Plural, bleibt schleierhaft, aus was genau sich eigentlich das Meme zusammensetzt. Aus den 348 4 Politische Medienikonografie <?page no="349"?> 454 Vgl. dazu und zum Folgenden: Kevin Pauliks, Die Serialität von Internet-Memes, Glückstadt 2017, v.a.: S.-110ff. 455 Goriunova, Kraft digitaler Ästhetik, S.-72. kurz angeführten Gründen scheint mir eine andere Bestimmung des Meme brauchbar, die Kevin Pauliks in seiner Monografie Die Serialtiät von Internet-Memes vorschlägt. Viralität I Meme I Serie Pauliks unterscheidet wie Shifman virale von memetischen Phänomenen (vgl. Abb. 4.104). 454 Viral sind Phänomene, etwa Bilder, die identisch-reproduziert und weitläufig distribuiert werden. Strukturell geht es dabei um die Wiederholung desselben. In die Semantik, also den Bedeutungsinhalt des Bildes, wird dabei nicht eingegriffen, das Bild nicht verändert und so keine neue Bedeutungsausrichtung an das Bild herangetragen. Im Gegensatz dazu ist ein Meme dadurch bestimmt, dass es sich auf ein vorgängiges Phänomen, etwa ein Bild, bezieht, und zwar in der Weise, dass eine semantische Differenz dabei auffällig wird, also eine Bedeutungsverän‐ derung vorgenommen wurde. Damit wird das Ausgangsbild rekontextualisiert. Demensprechend setzt ein Meme etwas voraus, auf das es - mindestens minimal verändernd - reagiert. Daran scheint mir interessant, dass ein Meme nicht nur eine bestimmte Gestalt hat, sondern ein ‚Verhalten zu x‘ ausdrückt. Ein Meme ist insofern „nicht nur ‚Content‘, sondern ein Verhalten.“ 455 Davon unterscheiden lässt sich die Serie. Pauliks bestimmt eine Serie als etwas, das mindestens zwei oder mehr distinkte Elemente ins Verhältnis setzt. Dies geschieht so, dass die Phänomene im Hinblick auf ihre semantische Einheit, also auf das, was den Elementen trotz ihrer Differenz gemeinsam ist, zugeordnet werden. Damit stabilisiert sich deren Einheit; ein Schema wird ausgebildet, an dem sich weitere Elemente orientieren und anknüpfen können. Form Viral Meme Serie Struktur Wiederholung (des Selben) Veränderung (des Anderen) Stabilisierung (des Gleichen) Bedeutungskonstitution semantische Einheit semantische Differenz semantische Einheiten Funktion Verbreitung Rekontextualisierung Schematisierung Zusammenhang Voraussetzung für... Meme-Serie Abb. 4.104: Klassifikation von Memes, viralen Phänomenen und Serien nach Paulinks Die drei Aspekte Viralität, Meme und Serie können in einem weiteren Schritt ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. So ist es möglich, dass ein einzelnes Meme entsteht, indem beispielsweise auf eine Fotografie von Obama zurückgegriffen wird, um durch bestimmte semantische Differenzen das Hope Poster herzustellen. Dieses Hope Poster-Meme kann in der Folge ‚viral gehen‘, also viele Nutzer: innen erreichen, die es wiederum weiterleiten etc. Daran anschließend finden sich 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 349 <?page no="350"?> 456 Vgl.: Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung [1890], Frankfurt am Main 2003. 457 Ebd., S.-12f., Herv. von mir; SG. Rekontextualisierungen des Memes durch andere Memes, wodurch eine Meme-Se‐ rie stabilisiert werden kann, die einerseits durch semantische Differenzen der einzelnen Elemente und anderseits durch eine schematisierte Einheit über die einzelnen Memes hinweg bestimmt ist. Obwohl bei dieser Definition Memes und Serien unterschieden werden, so lässt sich doch beides, was alltagssprachlich und auch bei Shifman ein Meme genannt wird, zusammendenken, eben als Meme-Serie. - Memes mit Tarde Auch wenn die Bestimmungen von Pauliks und Shifman brauchbar sind, so scheinen sie mir noch zu wenig ausdifferenziert, um die konkreten Meme-Phänomene spezifisch genug analytisch zu fassen. Besser gelingt dies mit Rekurs auf die ‚Gesetze‘ der Nachahmung, die der Soziologe Gabriel Tarde bereits Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hat. 456 Dabei handelt es sich um eine spezielle Sicht auf soziale Vergemein‐ schaftungsprozesse generell, die furchtbar gemacht werden kann für einen Zugriff auf technologische Konnektivität - und noch spezieller für die Funktionsweise von Internet-Memes. Die Gesetze der Nachahmung nach Tarde Besonders interessant ist Tardes Konzept der Nachahmung in diesem Zusammen‐ hang erstens, weil es um ein Verhalten geht, das als Reaktion auf Vorhergehendes zu bestimmen ist. Das trifft ziemlich genau auf Memes zu, sind diese doch notwendigerweise Ausdruck von Reaktionen auf Vorhergehendes; sie verhalten sich immer schon zu einem vorhergehenden x. Zweitens sind Tardes ‚Gesetze‘ relevant, weil sie - im Gegensatz zu anderen Nachahmungstheorien - neben der einfachen Imitation drei relevante Operationen explizit mitumfassen, nämlich Gegen-Imitation, Variation und Transformation. Zunächst zur Abgrenzung: Laut Tarde gibt es zwei Arten von Nachahmung: „Genau das gleiche tun wie das Vorbild oder das genaue Gegenteil“ 457 . Egal ob Imitation oder Opposition, in beiden Fällen soll gleichermaßen gelten, dass sich die Menschen angleichen, weil sie auf das Vorbild reagieren oder genauer: weil sie ein vorgängiges Phänomen, eine Geste, eine Aussage, eine Meinung, eine Art zu grüßen etc. zur Grundlage ihres weiteren Handelns bzw. Beobachtens machen. Solche Anschlüsse können in einer direkten Imitation bestehen oder 350 4 Politische Medienikonografie <?page no="351"?> 458 Ebd., S.-13. 459 Ebd., S.-10. 460 Ebd., S.-43. aber eben in der Inversion des Vorbilds. Abgrenzung wird so verstanden, neben und in Verbindung mit der Nachahmung, zum zentralen Bestandteil eines immer umfassenderen gesellschaftlichen Vergemeinschaftungsprozesses. Oder wie Tarde selbst pointiert formuliert: „Durch diese Gegen-Nachahmung, das heißt durch das Tun oder Sagen des Gegenteils dessen, was sie sehen, wie durch das Tun und Sagen genau dessen, was um sie herum gesagt oder getan wird, gleichen sich die Menschen einander immer stärker an.“ 458 Dies soll hier als Kontra-Imitation bezeichnet werden. Ein Beispiel findet sich wieder mit dem Hope Poster: Wenn etwa das Poster nicht mehr als Ausdruck von Hoffnung in Szene gesetzt wird, sondern durch Farbwechsel und Neubetitelung Obama als Kommunist verunglimpft wird, ist das eine Kontra-Imitation (vgl. Abb. 4.105b). Imitation Variation Transformation Kontra-Imitation Meme-Serie Abb. 105a-d: Memetische Bezugnahmen nach Tarde Dieser immer weiter ausgreifende Nachahmungsprozess wird permanent konter‐ kariert oder vielmehr dynamisiert durch Erneuerungen und Erfindungen, die aber nichtsdestotrotz selbst Produkte der Nachahmungen sein sollen. Tarde formuliert: „[Es] ist noch der größte Nachahmer unter den Menschen auf irgendeine Weise ein Erneuerer“. 459 Dem Soziologen zufolge hat das zwei Gründe, einen identitätskriti‐ schen und einen relationalen. Zunächst zum identitätskritischen Grund: Soziale Nachahmungen können per se keine identischen Wiederholungen sein; sie treten immer als „Varianten“ 460 ihres Vorbildes in Erscheinung. Jeder Wiederholung liegt immer schon eine Abweichung, eine Differenz, eine Erneuerung zugrunde. Jede Nachahmung produziert also zwangsläufig eine Variation. Somit ist eine Imitation eben keine identische Reproduktion. Man denke an Obamas Hope Poster. Es kann 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 351 <?page no="352"?> 461 Ebd., S.-66. 462 Ebd., S.-67. einerseits identisch technisch reproduziert zirkulieren (und ‚viral gehen‘), aber auch als Imitation, etwa durch Wechsel der Figur. Nur im zweiten Fall handelt es sich um eine Imitation im engeren Sinne. Im Zusammenhang mit dem Hope Poster wird das augenfällig gemacht durch die Bewerbung einer Software, die es ermöglicht, sich selbst ein Hope Poster mit seinem eigene Konterfeit zu erstellen (vgl. Abb. 4.105a). Davon unterscheiden lässt sich die aktiv forcierte Abweichung vom Vorbild, das wäre dann die Variation, etwa durch die Variation des Textes von „Hope“ zu „Dope“ und der Abbildung von Obama mit Haschischzigarette (vgl. Abb. 4.105c). Eine weitere Variante findet sich durch eine bestimmte Form der Relationierung: Rela‐ tional gesehen gibt es immer schon unterschiedliche und in Konkurrenz stehende Nachahmungen. Zur Attraktivitätssteigerung können diese sich nicht nur durch explizites Kontrastieren aufeinander beziehen oder durch Nachahmung anderer Nachahmungen letztere zu ersetzen versuchen. Häufig operieren sie stattdessen im Modus partieller Imitation und der Kopplung mit anderen Elementen, die in vielen Fällen selbst schon zu Nachahmungsketten stabilisiert wurden. Tarde selbst spricht von „Kreuzung eines Nachahmungsflusses“. 461 Das heißt zunächst einmal: Bestimmte Nachahmungen übernehmen einige Merkmale eines anderen „Nachahmungsstrahls“ 462 und halten andere Merkmale, die sie von diesem Storm unterscheiden (und anderen Nachahmungsströmen entstammen), über die Zeit hinweg stabil. Mit anderen Worten: Die nachahmende Bezugnahme funktioniert in diesem Fall als Rekombination der Transformation. Ein Beispiel hierfür ist die Kopplung des Hope Poster mit der Darstellung Trumps, die selbst bereits memefiziert wurde (vgl. Abb. 4.105d). Eine Transformation findet hier durch Rekombination statt. Bei Tarde selbst führen diese Nachahmungsströme zu immer weiteren, letztlich globalen Vernetzungen. Zwar spielt bei dem Soziologen auch die Konkurrenz der Nachahmungen eine Rolle, immer geht es aber um das Phänomen der vervielfältigenden Vernetzung. Was dabei unterschlagen oder zumindest nicht besonders relevant wird, ist das Phänomen der Überbietung, das als wesentliches Element der Netz-Dynamik und deren quantifizierenden Logik gelten kann [↑ (3) Potenziere! ]. Die dementsprechende Maxime, nämlich ‚Potenziere! ‘, muss deshalb als ein zentraler Agens für die vier Formen der Nachahmung gelten: ‚Gestalte noch bessere Imitationen! Steigere die Kontra-Imitation! Variiere noch mehr! Transformiere radikaler! ‘ - das wären die daraus resultierenden Binnen-Maxime (vgl. zusammenfassend Abb. 4.106). 352 4 Politische Medienikonografie <?page no="353"?> Nachahmung vervielfältigend/ kopierend/ nachstellend viral weit und/ oder schnell verbreitend reproduktiv präseriell memetisch-seriell schematisierend/ differenzierend imitierend intraseriell kontraimitierend intraseriell variierend intraseriell transformierend intra-/ interseriell Abb. 4.106: Ausdifferenzierung viraler und memetischer Operationen nach Tarde - Serielle Nachahmung Weiterhin gilt, dass Tardes memetisches Konzept zuvorderst als serielles Phänomen verstanden werden sollte. Ob Imitation, Kontra-Imitation, Variation oder Transforma‐ tion - für all diese Fällen gilt: Es gibt distinkte Elemente, die zeitlich und/ oder räumlich in einem Verhältnis der Ähnlichkeit und Differenz zueinander stehen, womit die einzelnen Elemente ein stabilisierendes Schema erhalten und gleichzeitig auf Variation und Wandel angelegt sind. Kurzum: Es handelt sich um Serien. Diese Serien haben intraserielle Dynamiken, etwa die nachahmende Wiederholung der Elemente bei der imitativen Serie, ein Verhältnis permanenter Variation des Grundschemas bei der variierenden Serie, ein Verhältnis der Opposition im Fall der kontra-imitativen Serie oder aber eines der Transformation, wodurch das Grundschema über die Zeit hinweg verändert wird (vgl. noch einmal Abb. 106). Zudem bedeutet diese Ausdifferenzierung in memetische Serientypen nicht, dass es in den einzelnen Serien keine Vermischung geben könnte oder parallellaufende Fort‐ setzungen diverser Typen stattfinden. Ja, solche Vermischungen, Ausdifferenzierungen und Ko-Existenzen sind wohl eher der Normalfall und geschehen simultan. Obamas Hope Poster etwa wurde schnell imitiert, kontra-imitiert, variiert und mit anderen Meme-Serien gekoppelt und so interseriell transformiert (vgl. noch einmal Abb. 4.105 a-d). Um hierfür zur Veranschaulichung noch ein paar andere Beispiele anzuführen: Das Meme mit dem Text „IMMIGRANTS THREATING YOUR WAY OF LIFE? / I KNOW HOW THAT FEEL BRO“, das, wie bereits weiter vorne angeführt [↑ Hetero‐ konnektivismus], eine provozierende Gleichsetzung der Situation der Ureinwohner 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 353 <?page no="354"?> Amerikas und derjenigen ‚Weißer‘ in den USA des 21. Jahrhunderts vornimmt (vgl. Abb. 4.107, Zentrum). Antwort-Memes ließen nicht lange auf sich warten. So wurde in vielen Fällen das Ausgangsbild einfach reproduziert. Der jeweilige Text richtet die Semantik und Appelle der Bilder indes sehr unterschiedlich aus [↑ II. Bild-Text-Verhält‐ nisse]. Es findet sich etwa eine kontra-imitierende Antwort auf das Ausgangs-Meme (vgl. Abb. 4.107, links). Die Hauptzielrichtung, nämlich die feindliche Einstellungen gegen Einwanderung, wird aufgegriffen und gegen die Absicht des Ausgangs-Meme gewendet, ausgehend von der Annahme, dass die Meme-Produzent: innen selbst von Einwanderern abstammen: „Ihr seid/ Du bist also gegen Einwanderung? Großartig. Wann geht Ihr/ gehst Du? “ variierend transformierend kontraimitierend Abb. 4.107: Dasselbe Bild - kontra-imitierende, variierende, transformierende Textpassagen Daneben existieren auch variierende Fortsetzungs-Memes (vgl. Abb. 107, oben). In diesem konkreten Fall wird das Thema verlagert, nämlich hin zur Kritik an der staatlichen Kontrolle von Waffen und einem zynischen Verweis darauf, dass man der Regierung nicht vertrauen darf. Auch hier wird das Analogieprinzip aufgegriffen: So wie die Native Americans früher nicht der US-amerikanischen Regierung hätten trauen sollen, darf man auch heute nicht der Regierung glauben. Ein transformierendes Meme liegt im Gegensatz dazu bei einem Bild-Text-Verhältnis vor, das weder gegen das Ausgangs-Meme gerichtet ist, noch einfach eine Variation desselben darstellt, sondern einen anderen Aspekt anspricht (vgl. Abb. 4.107, rechts). In diesem Fall handelt es sich 354 4 Politische Medienikonografie <?page no="355"?> um ein Wortspiel, das dem Häuptling in den Mund gelegt wird. Mit den Worten „Ich hasse Schnee/ Er ist weiß und auf meinem Land“ wird nunmehr dem Ureinwohner Amerikas‘ Hass auf ‚Weiße‘ zugeschrieben. Andere Serienverkettungen ließen sich mit Variationen der Bilder verbinden. So kann vom Ausgangs-Meme eine kontra-imi‐ tierende Antwort beobachtet werden, die nicht nur ein anderes Häuptling-Konterfei verwendet, sondern den Text insofern variiert, als damit eine Umkehrung impliziert ist, wird doch aus einer empathisch mitfühlenden Aussage, nämlich „Ich weiß, wie Du dich fühlst“, eine zynische Formulierung, nämlich „Das muss hart sein“ (vgl. Abb. 4.108, Mitte). Diese Kontra-Imitation wird wiederum mit Referenz auf ein anderes Thema variiert. In diesem Fall geht es um den Vergleich der Anschläge von 9/ 11 mit der Dezimierung der Ureinwohner durch die Einwanderer aus Europa (vgl. Abb. 4.108, Mitte). Gerade die offenkundige Differenz der Anzahl der Todesopfer, auf die hier angespielt wird, „Ihr habt/ Du hast keine Ahnung! “, macht die Kritik einer möglichen Analogie deutlich. variierend kontraimitierend transformierend Abb. 4.108: Bildervariation und Textvariationen, Kontra-Imitationen, Transformationen Auf diese Art von Memes wird wiederum mit einem Meme transformatorisch reagiert, nämlich mit der ‚Rückeroberung‘ der Analogie der ‚Weißen‘ des 21. Jahrhunderts und der American Natives im 19. Jahrhundert (vgl. Abb. 4.108, rechts). Der entschei‐ dende Unterschied besteht darin, dass das Gegen-Argument der vielen zuvor im Netz zirkulierten Kontra-Imitations-Memes (vgl. Abb. 4.108, Mitte) zur Ausgangsdarstellung aufgegriffen und wieder umgekehrt wird (vgl. Abb. 4.108, rechts). Die besonderen Leiden sowie die Ungerechtigkeit, die die Ureinwohner Amerikas erleiden mussten, 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 355 <?page no="356"?> werden anerkannt; nunmehr geht es vielmehr darum, dass deren Leiden und Unge‐ rechtigkeit nicht noch einmal wiederholt werden sollen. Diese Beispiele unterschiedlicher Bezugnahmen ließen sich anhand der Tard’schen Meme-Klassifikation noch lange fortsetzen. Interessanter an diesen Serien - vor allem solchen, die im weitesten Sinne politische Inhalte verhandeln - scheint mir aber, dass zwar Variationen und Transformationen durchaus ausfindig zu machen sind, aber vor allem kontra-imitative Memes die Serien kennzeichnen und vorantreiben. Auch dafür ein Beispiel: Auf das Ausgangs-Meme wird mit einer Inversion gekontert, die weiter vorne bereits angeführt wurde (vgl. Abb. 4.109). kontraimitierend kontraimitierend Abb. 4.109: Überbietende Kontra-Imitation als zentrale Meme-Operation Darauf wird mit einem auf Überbietung angelegten Gegen-Konter geantwortet. Nun‐ mehr sollen die amerikanischen Ureinwohner selbst Einwanderer (aus Asien) sein, die die eigentlichen Ureinwohner Amerikas, nämlich Stämme aus prähistorischen Zeiten, getötet hätten. Hier zeigen sich die Memes ganz konkret als Schlagbilder, die immer noch schlagfertiger, auf die jeweiligen vorhergehenden Darstellungen mitsamt ihren argumentativen Positionierungen gewitzt ‚einschlagen‘ wollen. Diese ‚schlagende‘ Überbietungsketten ließen sich an vielen weiteren Beispielen zeigen [↑ Memes als Schlagbilder]. Um nur noch ein Beispiel dafür anzuführen, sei auf eine kontra-imitative Serienver‐ kettung hingewiesen, der nicht nur eine Überbietungslogik zugrunde liegt, sondern 356 4 Politische Medienikonografie <?page no="357"?> die darüber hinaus in ihren visuellen Darstellungen und Themen, die explizit in den begleitenden Texten aufgegriffen werden, stark variieren bzw. das jeweilige Thema variieren. Ob nun diese Memes Variationen anbieten oder aber Themen, Formen, Bilder transformieren: die Strukturlogik der kontra-imitativen Überbietung in Form eines eskalierenden Schlagabtausches ist zentral. Genau das macht sie - so unterschiedlich die Themen und Bilder auch sein mögen - zu Serien (vgl. Abb. 4.110). Überbietung Abb. 4.110: Kontra-imitative Meme-Eskalation - Memetische Aufmerksamkeitsökonomie digitaler Plattformen Mit diesen Formen serieller Nachahmung lassen sich die oben angeführten Appelle zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Kommunikationserfolges auf Internetplatt‐ formen unter dem Signum digitaler Aufmerksamkeitsökonomie koppeln. Für alle ge‐ nannten Serientypen können die Appelle - ‚Popularisiere! ‘, ‚Polarisiere! ‘, ‚Potenziere! ‘, ‚Personalisiere! ‘, ‚Prozessualisiere! ‘ - durchdekliniert werden. So lässt sich mit Rekurs auf infrastrukturelle Aspekte erklären, warum viele der Memes so aussehen, wie sie aussehen, warum sie extrem populär wurden und hohe Anschlusskommunikation erzeugen. Der Vorteil einer solcher Herangehensweise liegt darin, nicht einfach Ideologien, politische Präferenzen oder Affekthausalte von Klassen, Kollektiven oder einzelnen Personen zur Analyse von politischen Bildern vorauszusetzen und immer schon von diesen her erklären zu wollen. Vielmehr ist so die infrastrukturelle Logik für die Analyse politischer Bilder, deren Voraussetzungen sowie die prinzipielle Organisationsweise ihrer Sichtbarmachung einsichtig zu machen und ins Verhältnis zu den jeweils spezifischen medialen Praktiken und Formen zu setzen. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 357 <?page no="358"?> 463 Vgl. nur für den Bereich politischer Memes die Beispiele und Unterteilungen in: Flora Hartmann, Meme: Die Kunst des Remix. Bildsprache politischer Netzkultur, Berlin 2017. Politik politischer Memes Nunmehr soll der Blick wieder etwas anders justiert werden. Nicht mehr die Frage nach der infrastrukturellen Situierung der Memes und deren daraus resultierenden prinzipiellen Funktionslogik ist von Interesse, sondern die konkreten Inhalte und Formen. Das heißt vor allem, dass im Folgenden einige mediale Praktiken und Formen der strategischen Nutzung für politische Botschaften genauer vorgestellt werden. Auf Grundlage der Ausdifferenzierung in Meme-Serien ließen sich sicherlich popu‐ läre Mem-Genres unterscheiden, genauer beschreiben und weitere Binnendifferenzen einziehen. Doch diesen Weg möchte ich hier nicht gehen, erstens deshalb, weil es dazu bereits etliche Studien gibt, 463 zweitens weil sich die Formen und Genres recht rasch zu wandeln scheinen und jede Typologie schnell obsolet wird. Drittens lässt allein aufgrund der schieren Menge an Memes kaum auch nur ein einigermaßen vollständiger Überblick über die relevantesten Formen, geschweige denn ihrer Vielfältigkeit gewin‐ nen. Viertens scheint mir bei einer noch weiteren Ausdifferenzierung die Gefahr groß, die entscheidenden Merkmale und Funktionsweisen von Memes aus den Augen zu verlieren. Deshalb werde ich mich im Folgenden besonders auf die affektive Dimension von Memes konzentrieren. Genau diese Dimension scheint es nämlich zu sein, die die Memes in einer besonderen Weise als Träger politischer Botschaften interessant machen, die eben nicht nur diskursiv-argumentativ funktionieren, ja, nicht einmal klare politische Botschaften beinhalten müssen oder sogar umso besser funktionieren, wenn diese diffus und unterbestimmt bleiben. Was genau das affektive Potenzial politischer Memes ausmacht, das soll nunmehr näher betrachtet werden ausgehend von einigen Memes aus dem rechtspopulistischen Kontext. - Memetische Affektpolitik Es wurde formuliert, dass die digitale Infrastruktur eine bestimmte Art politischer Kommunikation präferiert, wenn nicht sogar präformiert. Polarisierung und Potenzie‐ rung [↑ Aufmerksamkeitsstrategien] - zentrale Merkmal von Meme-Serien - lassen sich vor allem als Mittel der Affekterzeugung verstehen. Affekte werden dabei als vorübergehende intensive Emotionen verstanden, die durch situative Reize hervor‐ gebracht werden können. Vielleicht könnte man sogar formulieren, dass mediale Formen wie Memes oder GIFs weniger eine direkte politische Agenda oder bestimmte Ideologien transportieren, sondern vor allem eins machen, nämlich Affekte erzeugen und genau damit Aufmerksamkeit generieren. Affekte, wie Enttäuschung, Wut, Zorn, Scham oder Stolz, sind selbst indes noch nicht per se politisch und auch nicht notwendigerweise Mittel, politische Einstellung oder Ideologien zu transportieren. Affekte müssen zuallererst hervorgebracht, stabilisiert und bewirtschaftet werden 358 4 Politische Medienikonografie <?page no="359"?> 464 Der Philosoph Peter Sloterdjik zeigt an vielen historischen Beispielen in seiner Monografie Zeit und Zorn anhand der Metapher der Bank, wie man individuellen Zorn bei Parteien oder politischen Bewegungen ‚einzahlen‘ kann und diese anschließend den Zorn verwalten und bewirtschaften. Den Zornigen wird dabei eine Rendite versprochen von diesen „Zornagenturen“ (Peter Sloterdjik, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch [2006], Frankfurt am Main 5 2019, S.-100). 465 Vgl.: Strick, Rechte Gefühle. 466 Ebd., S.-80. 467 Ebd., S.-61. 468 Ebd., S.-37. 469 Vgl. dazu ausführlich: Andreas Speit (Hg.), Netzwerk der Identitären. Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten, Bonn 2 2019. von bestimmten Akteur: innen, Agenturen, Parteien, Kollektiven, um diese dann erst in einem weiteren Schritt vielleicht irgendwann in eine politische Agenda oder übergreifende Ideologie münden lassen zu können. 464 Simon Strick argumentiert in seinem klugen und engagierten Buch Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus  465 , man müsse sich, um die Strategien rechtsgerichteter Gruppierung wie etwa der Alt Right-Bewegung im Internet zu verste‐ hen, nicht dem politischen, sondern vielmehr dem „vorpolitischen Raum“ 466 zuwenden. Das bedeutet, dass die Kommunikationsofferten solcher Bewegungen, insbesondere in Form von Memes, nicht unmittelbar auf eine politische Agenda abzielen. Sie sind eben keine Wahlkampfplakate, verdichten keine politische Agenda, rufen nicht direkt zum politischen Handeln auf. Stattdessen setzen sie bei privaten Befindlichkeiten an, greifen Alltagserfahrungen auf und betreiben dabei, wie Strick treffend formuliert, eine Politik „[k]leine[r] Affekte“ 467 . Es geht hier um mikrologische Agitationen, die alltägliche Wahrnehmungen und Stimmungen aufgreifen, in Affekten verdichten und zu Weltbildern ausbauen können. Diesem Vorgang möchte ich an einigen Memes exemplarisch und kleinteilig nachgehen. Zuvor soll aber dieser vorpolitische Raum der Affekte verknüpft werden mit dem, was Strick „Metapolitik“ 468 nennt. Metapolitik Der Ausdruck ‚Metapolitik‘ meint erstens: Es geht nicht um politische Auseinan‐ dersetzung im Kampf um Mehrheiten im Parlament. Das heißt unter anderem auch, dass Metapolitik nicht parteienbasiert ist. Zweitens handelt es sich um kulturelle Interventionen, die über - ‚meta‘ im buchstäblichen Sinne - politische Auseinandersetzungen um Gesetze und Rechts‐ fragen hinausgehen und letztlich auf Ideologien und Weltbilder abzielen, die in Zusammenhang stehen mit Identitätsfragen: Wer sind wir, wer die anderen, wer wird inkludiert, wer exkludiert, aufgrund welcher Merkmale? Dementsprechend werden rechte Bewegungen häufig als identitäre Bewegung bezeichnet. 469 Gemeint sind damit diverse völkische Gruppierungen, deren herausragende Gemeinsamkeit 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 359 <?page no="360"?> 470 Strick, Rechte Gefühle, S.-80; Herv. von mir; SG. in der Überzeugung besteht, kulturelle Homogenität müsste gegen ethnische Vermischung bewahrt werden. Drittens findet sich die primäre politische Kommunikationsstrategie dieser Meta‐ politik darin, den vorpolitischen Raum der Alltagswahrnehmungen und Gefühle von Subjekten aufzugreifen und durch mikrologische Agitationen mit Affekten aufzuladen, die dann in Weltbilder verfestigt und strukturiert werden. Diese können in der Folge zu einer expliziten politischen Positionierung, Doktrin oder Ideologie führen und ausbuchstabiert werden, müssen aber nicht dorthin führen. Entscheidend ist: Ausgangpunkt ist nicht die explizite politische Positionierung. Ge‐ rade die mikrologischen Meme-Agitationen halten sich vor solch einer Weiterführung zurück. Diese Zurückhaltung und Konzentration auf mehr oder minder diffuse Affekte sind die eigentliche Stärke dieser Metapolitik auf Ebene digitaler Netzkommunikation. Wichtig an der politischen Strategie dieser Metapolitik ist eben nicht, wie Strick selbst pointiert schreibt, eine „politische Doktrin“, sondern „das Formen von Empfindungen, Befindlichkeiten, Medienverhalten, Wahrnehmungsmustern und kulturellen Diskur‐ sen.“ 470 Diese Form der Metapolitik lässt sich einerseits von der politischen Sphäre im en‐ geren Sinne abgrenzen, operiert sie doch oberhalb konkreter politischer Institutionen, Praktiken und Verfahrensformen [↑ Kap. 2, Politik]. Sie zielt dabei auf Alltagsbeobach‐ tungen und Empfindungen und dementsprechend auf das, was man die prä-politische Sphäre nennen könnte (vgl. Abb. 4.111). 360 4 Politische Medienikonografie <?page no="361"?> politische Sphäre präpolitische Sphäre politics: politische Strategie -> bezogen auf übergreifende kulturelle Weltbilder anhand der Zentralunterscheidung: Exklusion/ Inklusion polity: politische Institutionen -> formalisierter Kampf um Mehrheiten im Parlament -> politisches Grundsatzprogramm policy: Inhalte -> Kopplung an Alltagserfahrungen und beobachtungen, Wahrnehmungsmuster -> Unwohlsein erzeugen als Ausgangspunkt für kulturelle Orientierung und Selbstermächtigung metapolitische Sphäre Affekte erzeugen/ formen Abb. 4.111: Meta- und präpolitische Sphären - angelehnt an Strick Diese drei Sphären lassen sich bezüglich ihrer Operationslogik durch leichte Neu‐ justierungen mit den drei Sphären des Poltischen [↑ Kap. 2, Trias des Politischen] in Zusammenhang bringen. Damit soll verdeutlicht werden, welche spezifischen politischen Akte auf den Ebenen des Politischen, des Prä- und Metapolitischen jeweils dominant sind (vgl. dazu noch einmal Abb. 4.111). Populistische Maxime für eine metapolitische Bildpraxis Die entscheidenden Handlungsmaximen für die Herstellung solcher Kommunika‐ tionsangebote lassen sich wie folgt formulieren: (1) ‚Erzeuge Unwohlsein auf Ebene der Alltagswahrnehmungen! ‘ (2) ‚Nimm dieses Unwohlsein als Ausgangpunkt für ein kulturelles Orientierungs‐ angebot! ‘ (3) ‚Gestalte dieses kulturelle Orientierungsangebot als Tabubruch oder zumindest als politisch inkorrekte Grenzüberschreitung.‘ (4) ‚Vermittle dies in Form von mehrdeutigem Humor.‘ (5) ‚Achte aber darauf, dass das erzeugte Unwohlsein eine Subjektposition für den Nutzer, die Nutzerin attraktiv macht, da sie eine identitätsstiftenden Selbster‐ mächtigung gegen eine ungerechtfertigte Unterdrückung verspricht! ‘ 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 361 <?page no="362"?> 471 Vgl. als knappen Überblick dazu: Kothoff, Humor in der Pragmatik, S.-302f. Resultat aus (1) bis (5): ‚Im Idealfall erzeugst Du durch die Beachtung dieser Maxime einerseits ein positives inkludierendes Selbstwertgefühl auf Grundlage einer behaupteten Unterdrückung. Die Unterdrückenden und alle die, die sie schützen, werden damit andererseits klar exkludiert und gleichzeitig provoziert! ‘ - White American Natives: Ironie & Souveränität Was sich so formuliert wahrscheinlich eher unanschaulich oder vielleicht sogar, wie ein schlechter Witz anhören mag, wird hoffentlich an konkreten Beispielen schnell anschaulich werden. Dafür sei noch einmal auf das bereits häufiger angeführte Beispiel des Häupling-Porträts mit dem Text „IMMIGRANTS THREATING YOUR WAY OF LIFE? …“ [↑ Heterokonnektivität] zurückgegriffen (vgl. noch mal Abb. 4.46). Ein Gefühl des Unwohlseins wird hier aufgegriffen und konturiert, nämlich die Furcht vor Einwanderung Fremder - und zwar durch die Parallelisierung mit der Situation der amerikanischen Ureinwohner während der massiven Immigration von Menschen aus Europa im 19. Jahrhundert, die für die Ureinwohner Amerikas ver‐ ehrende Folgen hatte. Der Tabubruch besteht hier offensichtlich darin, Situation und Empfindungen dieser Ureinwohner mit der von ‚weißen‘ Einwohnern der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleichzusetzen. Denn die sehr viel naheliegendere Einschätzung ist doch, dass genau diesen ‚Weißen‘ eine privilegierte Gruppe bilden gegenüber vermeintlich unterdrückten Gruppen wie ‚black people‘ oder eben ‚immi‐ grants‘. Zudem scheint hier eine zynische Pointe bewusst gesetzt zu sein: Die ‚weißen‘ Menschen waren ja letztlich genau die, die damals im 19. Jahrhundert die Immigranten waren, die die American Natives an den Rand des Ausstrebens brachten. Sowohl die Gleichsetzung, ja, die durch den Text suggerierte Verbrüderung, ausgehend von der Position des ‚Ureinwohners‘, der seine ‚weißen Brüder‘ solidarisch anspricht, als auch das apokalyptische Bedrohungsszenario durch die Immigranten sind hochgradig tabuverletzend und irritierend. Mehrdeutiger Humor ist hier insofern am Werk, weil unterbestimmt bleibt, was genau damit gemeint ist. Ein Witz funktioniert - zumindest einer gängigen wissenschaftlichen Einschätzung zufolge - mittels einer Inkongruenz zweier oder mehrere Elemente. 471 ‚Weiße‘ und ‚American Nativs‘ in dieser Art zusammenzubringen ist erst mal inkongruent; scheinen sie doch nicht zusammenzupassen, ja, die zwei Elemente stehen in kontrastreicher Spannung zueinander, die hier überraschend ineinander geblendet werden. Wie ernst der Vergleich nun wirklich ist, ist unklar - soll unklar bleiben, weil hier ein Tabubruch formuliert werden kann, der übertreibt und als Übertreibung lustig sein soll. Der kulturelle Vergleich und die Gleichsetzung - ausgehend von einer klaren, als solcher 362 4 Politische Medienikonografie <?page no="363"?> 472 Zu einer ähnlichen Interpretation anhand von YouTube-Videos vgl.: Fabian Schäfer/ Peter Mühleder, Konnektiver Zynismus und Neue Rechte. Das Beispiel des YouTubers Adlersson, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 22 (2020), S. 130-149; vgl. ausführlicher und anhand diverser Beispiele: Fabian Schäfer, Konnektiver Zynismus. Politik und Kultur im digitalen Zeitalter, Bielefeld 2023; vgl. auch zur ironisierenden Strategie politischer Memes (von ‚rechts‘ und ‚links‘): Nowotny/ Reidy, Memes, S.-111ff. anerkannten Opferposition des Ureinwohners - funktionieren jedenfalls, wie unbe‐ stimmt auch immer, nach dem oben formulierten Skript, tabuverletzend. Den Rezipient: innen wird dabei - im Sinne Althussersʼ Interpellations-Konzept - angerufen [↑ Interpellation] und dabei an diese appelliert, eine bestimmte Subjektposition einzunehmen. Direkt angesprochen werden die Rezipient: innen durch den ‚Häuptling‘ auf dem Bild, der eigentliche Adressat ist aber der Betrachtende, dem souffliert wird: „Es ist okay, dieses Gefühl der Furcht vor Einwanderern zu haben, es ist berechtigt und sollte nicht nur für Ureinwohner gelten dürfen und anerkannt werden.“ Weiterhin wird suggeriert: „Du bist hier (wie ich damals) das Opfer, nicht der Täter.“ Genauso wichtig erscheint mir, dass dies alles eben in Form von mehrdeutigem Humor artikuliert wird. Es geht dabei nicht so sehr darum, dass die eigentliche Botschaft vernebelt wird oder unterschiedliche Deutungen möglich werden. Mit Bezug auf die Subjektposition ist wichtiger: Diese Art des Humors scheint ein attraktives Identitätsangebot zur Selbstermächtigung. Was wäre souveräner als die Position einer mit distanzierendem ambigen Humor ausgestatteten Person einzunehmen? Es zeugt von Distanz, auch von den eigenen Affekten, sowie von einem umfassenden Verständ‐ nis der Lage. Es geht also nicht schlicht um Affekterzeugung, sondern ebenso und gleichzeitig um ein humoristisches Distanzierungsangebot von Affekten als attraktiver Attitüde oder gar als Suggestion souveräner Macht. Dies macht die Übernahme dieser Subjektposition an und für sich attraktiver, weitet zudem die Klientel möglicher Anhängerschaft aus oder vergrößert zumindest die Wahrscheinlichkeit von Anschlusskommunikation. Denn gerade diese so erzeugte Unbestimmtheitszone erzeugt eine Möglichkeit, ein weites Spektrum von Wahrneh‐ mungen und Einstellungen anzusprechen, die nicht nur von prinzipiell rechtsradikalen Personen stammen müssen, sondern auch auf Personen zielen kann, die diffuse Ängste haben oder schlicht politisch inkorrekten Humor goutieren. Personalisierung [↑ Perso‐ nalisiere! ] ist hier also zwar nicht obsolet - es gibt eine deutliche Adressierung, nämlich rechtspopulistische ‚Weiße‘, die von Immigranten ‚bedroht‘ werden und sich dement‐ sprechend politisch vernetzen. Dennoch wird durch den tabubrechenden Humor nicht nur die Identität dieses ‚Kollektivs‘ verstärkt und mit Witz versorgt, sondern auf eine potenziell andere Klientel hin ausgeweitet, das nicht rechtspopulistisch eingestellt sein muss, aber mittels der aufgrund von Witz und Ironie hergestellte Unschärfe diese politisch inkorrekte Position ‚spielerisch‘ einnehmen kann. 472 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 363 <?page no="364"?> Rechtspopulistische Memes mit Althusser Dieses Meme lässt sich meines Erachtens deshalb besonders gut unter Rückgriff auf Alt‐ hussers Interpellations-Konzept verstehen (vgl. Abb. 4.111) [↑ Interpellation]. Erstens werden die Rezipient: innen angerufen, eine bestimmte Subjektposition einzunehmen. Durch die Ansprache des Häuptlings wird nämlich nicht nur den Rezipient: innen eine Strukturanalogie zwischen der Situation der Ureinwohner Amerikas im 19. Jahrhun‐ dert und der ‚weißer‘ Amerikaner im 21. Jahrhundert vorgeschlagen. Darüber hinaus wird an den Betrachter durch die direkte, intime Ansprache (‚Bro‘) appelliert, sich selbst als ein solcher ‚weißer‘ Amerikaner zu verstehen. Im Sinne Althussers ist daran der Clou, dass sich der Rezipient im Idealfall retrospektiv als jemand versteht, der sich eigentlich immer schon in dieser Position befand. ‚Eigentlich‘ war er immer schon jemand, der von Einwanderern bedroht wurde; dem Rezipienten war es vielleicht nur nicht recht klar. anrufen (‚Bro‘) hinwenden 2. 1. anrufen/ Abgewandt-sein abwenden durch Ironie anrufen/ Abgewandt-sein hinwenden/ Rat suchen Subjektbestimmung Subjektdistanz 3. Subjektunschärfe Abb. 4.112: Der rechtspopulistische Bro-Code mit Althusser Zweitens wird durch die als solche ausgestellte politisch inkorrekte Provokation der Analogie ironisch gespielt, womit immer schon eine Distanz miteingezogen ist. Es gibt also eine direkte Ansprache des Rezipienten, einen direkten Appell, eine Subjektposition einzunehmen - und gleichzeitig bleibt unklar oder doch unsicher, wie ernst dieses Angebot eigentlich ist. Die Subjektposition wird so mit einer Distanz ausgestattet. Drittens ist damit eine Unschärfe verbunden: Was genau soll denn gefühlt werden? Wer genau soll das fühlen? Welche ‚Weiße‘? Welche ‚Ureinwohner‘? Und besonders wichtig: Was soll denn eigentlich daraus resultieren? 364 4 Politische Medienikonografie <?page no="365"?> Zuweisung einer Subjektposition, Distanz von einer Subjektposition sowie Un‐ schärfe dieser Subjektposition sind im Sinne Althussers keine Widersprüche, die für eine erfolgreiche Anrufung zu vermeiden gilt, sondern genau im Gegenteil: So wird die Attraktivität, diese Subjektposition einzunehmen, gesteigert - und zwar zum einen dadurch, dass sehr viele unterschiedliche Betrachter so angerufen werden können, die Subjektposition je spezifisch einzunehmen. Zum anderen ist immer schon eine Distanznahme zu dieser Subjektposition miteingeschrieben. Oder genauer formuliert: Die vorgeschlagene Subjektposition ist eine attraktive Position, weil hier eine Identifikation mit den Ureinwohners Amerikas vorgeschlagen wird und damit eine Selbstbestimmung als Opfer. Gleichzeitig ist eine bestimmte Form der Ermächtigung verbunden, nämlich ein spielerischer Umgang mit dieser Analogie; soll sie doch nicht ganz ernst genommen werden. Damit wird eine souveräne Distanznahme zur Identifizierung als Opfer offeriert [↓ Right Wing Cultural Studies]. - Opfer-/ Täter-Inversionen Noch expliziter wird der Opferstatus gemacht und zur Selbstermächtigung umgemünzt in einigen anderen rechtpopulistisch motivierten Memes. Dies drehen ein gängiges Argument um. Dieses lautet: ‚Weiße‘, die auf ihren homogenen ethnischen Status beharren, sind Rassisten. Die Umkehrung, die in vielen Memes visualisiert wird durch populärkulturelle Figuren wie etwa Kapitän Jean-Luc Picard aus der Fernsehserie Star Trek oder Morpheus aus dem Spielfilm Matrix, besagt, dass genau genommen die ‚Anderen‘, die ‚weiße Menschen‘ kritisieren, für ihre vermeintlich rassistische Position, selbst Rassisten voller Vorurteile und Hass gegen ‚Weiße‘ sind (vgl. Abb. 4.112a-b). Abb. 4.113a-c: Die-Täter-waren-immer-schon-die-Opfer-Memes Hier wird ein Inklusionsangebot gemacht, nämlich: ‚Sei Teil von uns! ‘ und gleich‐ zeitig eine Exklusion vorgenommen, werden doch die implizit ausgeschlossen, die ‚uns‘ als Rassisten kritisieren, obwohl sie, vermeintlich genau besehen, selbst die eigentlichen Rassisten sind. Rassismus herrscht also, dieser Logik zufolge, dort, wo dieser den anderen vorgeworfen wird. Dieses Argument wird in vielen Varianten vorgebracht, etwa mit einem Bild des Jokers aus The Dark Knight. Dort ist es die Beschwerde darüber, dass alle möglichen Ethnien ihrer Ethnie feiern dürften, aber wenn ‚Weiße‘ auf ihr ‚Weiß-sein‘ stolz sind, spielen alle verrückt und kritisieren das als 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 365 <?page no="366"?> Rassismus (vgl. Abb. 4.113c). Das ist - gerade vor dem historischen Hintergrund solcher Zuschreibungsweisen - eine einigermaßen überraschende Verschiebung kultureller Wahrnehmungsmuster und politischer Aktionen. - Diagrammatisches Meme Diese Umkehrungen scheinen mir eine besonders kluge und subtile Strategie zu sein: Vermeintlich werden die Argumente der ‚Anderen‘ aufgenommen und gegen diese selbst gewendet. Dies ist ein Akt der Selbstermächtigung vermeintlicher Opfer: Die ‚Weißen‘ dürfen auf ihre Identität nicht beharren, es ist ein Sprech- und Denkverbot, das hier aufgebrochen werden soll, ja muss. Genau das macht diese Argumentationsfigur attraktiv, wenn sie sich mit Unwohlsein und Furcht vor Einwanderung verbinden lässt. Besonders anschaulich wird die Markierung dieses Opferstatus in einem Fluss‐ diagramm, das ebenfalls als Meme populär wurde (vgl. Abb. 4.114): Abb. 4.114: Rechtspopulistische No-Exit-Strategie Dieser Logik zufolge kann ein ‚Weißer‘ in keiner möglichen Welt, egal, was er denkt, sieht, sagt oder wie er handelt, kein Rassist sein. Hier soll deutlich veranschaulicht und evident gemacht werden: Mit dem gängigen Rassismus-Diskurs und seiner in‐ härenten Logik kann etwas nicht stimmen; genau genommen ist er sogar in eine zirkuläre Verschwörungstheorie verstrickt. Es wird vorausgesetzt (‚Weiße‘ sind immer Rassisten), was zu beweisen wäre. Egal, was ein ‚Weißer‘ macht, es lässt sich in den Verschwörungszirkel integrieren. Egal, ob er nun Farbdifferenzen erkennt oder auch nicht, so oder so, er wird als Rassist bezeichnet werden. Folgt man dieser Diagrammlogik, dann gilt: Ungerechter und fataler geht es kaum. 366 4 Politische Medienikonografie <?page no="367"?> 473 Vgl. dazu knapp einführend: Grampp, Medienwissenschaft, S.-125ff. 474 Für einige Beispiele aus der Populärkultur vgl.: Sturken/ Cartwright, Practices of Looking, S. 36, S. 108ff., zur strategischen Verwendung der Inszenierung von empowerment in Werbungen: ebd., S.-280ff. 475 Vgl.: John Fiske, Reading the Popular, London/ New York 1991, v.a.: S.-103ff. Von ‚Left Wing‘ zu ‚Right Wing‘ Cultural Studies Daran dürfte gerade für Forscher: innen aus dem Bereich der Cultural Studies etwas besonders verstörend sein [↑ Trump, Thanos…], wird hier doch eine Argumentations‐ logik traditionell ‚linker‘ Identitätspolitik aufgegriffen. 473 Kultur wird dabei als ein Feld von Kommunikations- und Machtbeziehungen verstanden, auf dem soziale Identitäten wie Klasse, Rasse, Geschlecht oder sexuelle Orientierung bewertet, ja zuallererst konstruiert und immer wieder neu ausgehandelt werden. Hierbei besteht immer die Gefahr der Unterdrückung und Abwertung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Identitäten durch Rassismus, Homophobie oder essentialistische Geschlechterbilder. Dementsprechend setzen sich die Cultural Studies das Ziel, die emanzipatorischen Möglichkeiten gerade für solche Gruppen auszuloten und diesen eine Stimme zu verleihen bzw. diese zu ermächtigen, ihre Bedürfnisse in der Öffentlichkeit sichtbar und wahrnehmbar zu machen. Die zumeist marxistisch inspirierten Vertreter: innen der Cultural Studies hatten dabei das Arbeitermilieu, die Unterdrückung der Frau, deren Reduktion auf sexuelle Reize, die Betrachtung menschlicher Beziehungen auf Grundlage binärer Genderstereotype ebenso im kritischen Blick wie die Ausgrenzung von Afroamerikaner: innen bzw. die Unterdrückung oder Marginalisierung diverser anderer ethnischer Gruppierungen. Es ging dabei immer auch um Emanzipation und Inklusion dieser Personengruppen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der Ermächtigung (‚empowerment‘). Diese Personen und Gruppen sollen ermächtigt werden, die eigenen Bedürfnisse und Interessen artikulieren zu können und im besten Fall sich selbst dazu ermächtigen. 474 Immer wieder wurde dabei auf Ermächtigungsstrategien aus der Populärkultur hingewiesen. So analysierte John Fiske den Popsong Like a Virgin von Madonna dahingehend, dass das Wort ‚Virgin‘ für Jungfrau aufgegriffen und vielfältig neu semantisiert wird. 475 Laut Fiske war dieses Wort eine abschätzige Bezeichnung für Frauen und Mädchen, die noch keinen Sex hatten. Assoziiert damit sind Ausdrücke wie ‚frigide‘, ‚Backfisch‘, unattraktiv‘ und Ähnliche. Frauen werden so zu Opfern gemacht. Madonnas Lied ist nun insofern ein Akt der Selbstermächtigung, als eine Frau diese Bezeichnung aufgreift und umsemantisiert, sowohl im Text als auch auf Bildebene des dazugehörigen Videos und Plattencovers (vgl. Abb. 4.115a). Hier zeigt sich eine selbstbewusste, attraktive Frau, die die semantischen Assoziationen mit dem Wort ‚Virigin‘ aufgreift und als positive Beschreibung umsemantisiert, genauer noch, laut Fiske, das binäre Schema stereotyper Frauenzuschreibungen - entweder ‚Jungfrau‘ oder ‚Hure‘ - unterwandert. Damit wird aus einem passiven Opfer eine 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 367 <?page no="368"?> aktive, selbstbewusste Akteurin, die lustvoll mit den (Fremd-)Zuschreibungen an Frauen spielt und sich kreativ aneignet. Abb. 4.115a-b: Girl Power im 20. und 21.-Jahrhundert Um dafür noch ein Beispiel aus der Meme-Sphäre anzuführen (vgl. Abb. 4.115b): Hier sind diverse Protagonistinnen aus populären Filmen und Fernsehserien zu sehen, etwa Ripley aus der Alien-Filmreihe oder Katniss aus den Verfilmungen der Hunger Games. Gemeinsam haben diese Figuren, wie die Standbilder eindrücklich zeigen, dass sie kompetente Kämpferinnen sind. Die ursprünglich abfällige Phrase „Du kämpfst wie ein Mädchen“ wird durch die Bilder starker Kämpferinnen zu einem Kompliment umsemantisiert. Auch hier liegt ein Akt der Selbstermächtigung vor. Gerade letztge‐ nannter Fall kann durchaus analog zu den zuvor verhandelten Memes gesetzt werden. Zwar sind die politischen Einstellungen, die diesen Memes zugrunde liegen, diametral entgegengesetzt, aber die Darstellungslogik ist dieselbe. In beiden Fällen wird eine Inversion zur Ermächtigung vorgenommen. Im einen Fall sind es die ‚Weißen‘ die sich als Denunzierte ermächtigen müssen, wobei sie das Thema des Rassismus aufgreifen, und gegen ihrer imaginierten Kritiker wenden; im anderen Fall handelt es sich um Frauen, die sich gegen Verunglimpfungen wehren, und zwar ebenfalls mittels Inversion einer repressiven Zuschreibung. Ein Beispiel aus den 1970er-Jahren soll dieses Prinzip wieder näher an die gesell‐ schaftspolitische Sphäre im engeren Sinn heranführen. Der gesellschaftskritische Gestus der Studentenbewegung und ihrer provokanten Protestaktionen brachte ihnen von konservativer Seite häufig abfällige Kennzeichnungen ein. So lässt sich immer wieder in Kommentaren vom ‚Sumpf ‘ lesen, dem die Protestler entstammen sollen, in dem sie vegetieren und die Stabilität des Staates und/ oder der Demokratie unter‐ wandern. Dieser ‚Sumpf ‘, so ist immer wieder zu lesen, muss trockengelegt werden, wobei diese Metapher je nach Kontext und historischer Datierung Unterschiedliches 368 4 Politische Medienikonografie <?page no="369"?> 476 Vgl. dazu und zum Folgenden: Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021, S.-66ff. 477 O.A., Sumpf, in: Pflasterstein, 19 (1977), S.-16-17, hier: S.-16. 478 Vgl.: Gilles Deleuze/ Fèlix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II [1980], Berlin 1993; das Vorwort wurde bereits zuvor eigenständig veröffentlicht; darauf bezieht sich auch der hier zitierte Text, vgl.: dies., Rhizom, Berlin 1977. meinen kann - von der Auflösung linksradikaler Milieus bis zur Unterwanderung der Demokratie durch staatliche Organisationen [↑ Kap. 3, Diachrone Bezugnahmen]. Solch eine Perspektivierung linksgerichteter Gruppierungen mitsamt dem Appell zum ‚Trocken-legen dieses Sumpfes‘ findet sich auch heute noch, etwa auf Wahlplakaten der AfD (vgl. Abb. 4.116a). Entscheidend daran ist, dass diese Charakterisierung von einigen linksradikalen Gruppierungen aufgegriffen und als Selbstbeschreibung in einer bestimmten Weise angeeignet wurde. 476 Um dafür nur ein Beispiel aus der Zeitschrift mit dem sprechenden Namen Pflasterstein anzuführen. Unter dem Titel „Sumpf “ findet sich dort ein anonym veröffentlichter Artikel, der unter anderem folgende Passagen beinhaltet: „Das Rhizom ist botanisch […] eine Sumpfpflanze, das seine verschiedenen Stränge und Gewebe durch den Morast schiebt. Wenn der Staat also von Sumpf redet, meint er alle diejenigen alternativen Ansätze, die sich durch ein Gemäuer schieben - ob das nun Frauen, Kinder, Alte, Schwule, Männergruppen, verstreute Linke, Filmer oder Regionalisten sind.“ 477 ‚Sumpf ‘ wird - wie im Falle von Madonna das Wort ‚Jungfrau‘ - semantisch umkodiert oder genauer eigentlich: positiv gewendet und in einer sehr spezifischen Weise konkretisiert, eben mit dem Verweis auf das Rhizom. Die unterminierende Kraft des ‚Sumpfes‘ wird als positive Stärke hervorgehoben und mit Verweis auf das Rhizom, eine bestimmte Pflanzenart, die meist unterirdisch wächst und die keine festen oder stabilen Wurzel ausbildet, sondern sich durch ein komplexes, buschig und dynamisches Wurzelsystem ausbreitet. Das Rhizom wurde von Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus aufgegriffen als Metapher für ein nicht-binäres, nomadisch-dynamisches Denken, das das klassische, auf binärer Logik basierende Denken revolutionieren soll (vgl. Abb. 4.116b). 478 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 369 <?page no="370"?> SUMPF SUMPF* [RHIZOM] Abb. 4.116a-b: Von der Abwertung zur Aufwertung des Sumpfes Genau auf dieses Konzept bezieht sich der Artikel. Von der Affirmation der Sumpf-Me‐ tapher über die Konkretisierung einer Sumpfpflanze bis zu einem avancierten philo‐ sophischen Konzept geht hier der - man verzeihe mir die Metapher an dieser Stelle - unterirdische Weg zur Selbstermächtigung. Metaphern als Gegenstandsbereich politischer Medienikonografie? Das letztgenannte Beispiel ist genau genommen eines, das sich nicht auf materielle Bildinhalte bezieht, sondern auf Metaphern, also auf sprachliche Bilder, die nur in‐ sofern visuell sind, als sie bestimmte Vorstellungsbilder auslösen sollen. Ausgelöst werden diese durch die Versschiebung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes in ein anderes semantisches Feld, wobei ein eigentlich für einen Sachverhalt oder ein Objekt verwendetes Wort ersetzt wird, ohne dass diese Ersetzung explizit gemacht wird. Ein einfaches Beispiel für solch eine Metapher ist das Wort ‚Wüstenschiff ‘, das den Ausdruck ‚Kamel‘ ersetzt. Metaphern werden häufig - gerade auch im politischen Kontext eingesetzt - einerseits um Sachverhalte anschaulich werden zu lassen, anderseits um vielerlei Konnotationen auszulösen oder gar strategisch auszurichten, man denke nur an das Beispiel des ‚Volksschädlings‘ für Juden im Nationalsozialismus, ‚Bullen‘ für Polizist: innen oder eben einen Appell, wie ‚den linken Sumpf trockenlegen‘. 370 4 Politische Medienikonografie <?page no="371"?> 479 Vgl. bspw.: W. J. T. Mitchell, Was ist ein Bild? , in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1990, S.-17-68. 480 Vgl. dazu im Anschluss an Hans Blumenberg einführend, insbesondere mit Bezug auf politische Phänomene: Heidenreich, Politische Metaphorologie, v.a.: S. 77ff. Dort wird im Übrigen dafür argumentiert, dass es unplausibel ist, die Metaphorologie allein auf sprachliche Phänomene zu begrenzen, wie es bis dato immer noch gängig ist. Stattdessen sollten auch u. a. materielle Bilder in die Analysen aufgenommen werden (vgl. ebd., S. 93f.). Dieses Plädoyer steht freilich zu meinen Abgrenzungsbestrebungen in fundamentalem Widerspruch. Folgt man einer Ausdifferenzierung des Bildtheoretikers W. J. T. Mitchell (vgl. Abb. 4.117), dann sind Metaphern ebenfalls ein Gegenstand der Bildwissenschaft. 479 Dementsprechend wäre es naheliegend, Metapher-Analysen als Gegenstandsbe‐ reich in die politische Medienikonografie mitaufzunehmen. Abb. 4.117: Facetten des Bildes nach Mitchell Das ist möglich und aus Perspektive Mitchells auch folgerichtig. Nichtsdestotrotz wird hier die Metapher als Gegenstand der politischen Medienikonografie aussor‐ tiert. Für diese Entscheidung gibt es mindestens drei Gründe: Erstens sollen hier nur materiell entäußerte Bilder von Belang sein, weder Vorstellungsbilder noch sprachliche Metaphern [↑ I. Bildbestimmungen]. Das hat erst einmal schlicht damit zu tun, dass der Gegenstandsbereich einer politischen Medienikonografie nicht noch ausufernder werden sollte, als er ohnehin schon durch den Zusatz ‚Medien‘ ist. Zweitens werden für Metaphern-Analysen ganz andere theoretische und me‐ thodische Anforderungen gestellt als bei der klassischen Ikonografie, die sich auf materialisierte Bildinhalte konzentriert [↑ Kap. 2, Ikonografie; ↑ Bildinstanzen]. Drittens gibt es bereits einen seit Längerem etablierten kulturwissenschaftlichen Forschungsbereich, der als Metaphorologie bezeichnet wird, was so viel meint wie Wissenschaft von der Metapher. 480 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 371 <?page no="372"?> 481 Vgl.: Newsweek, 28.04.2017. 482 Ebd. Um wieder zu den rechtspopulären Memes zurückzukehren: In diesen wird die Stra‐ tegie der Selbstermächtigung aufgegriffen, die historisch und wissenschaftlich-kon‐ zeptionell mit einem linksgerichteten, mehr oder minder marxistisch orientierten Ideologie- und Politikverständnis verbunden ist - und damit in gewisser Weise gegen ihre ‚Erfinder‘ gewendet. Genau das ist es, was nach Strick Teil der Metapolitik ist. Es geht um kulturelle Fragen, deren strategische Form reflektiert und aus dem Arsenal der Cultural Studies übernommen werden und zu anderen Zielen ge- oder - je nach politischer Einstellung - missbraucht werden. Die Agenda heißt jedenfalls: Empowerment for White People. - Aneignung sozialistischer Propaganda-Poster Diese Übernahmen finden nicht nur strukturell statt, sondern werden auch in man‐ chen Fällen deutlich als solche ästhetisch markiert, indem auf populäre Vorläufer ‚linker‘ Propaganda referiert wird. Besonders angetan haben es anscheinend vielen Verfechter: innen rechtspopulistischer Ideologie sozialistische Propagandaplakate aus der Frühzeit der Sowjetunion. Diese Übernahme ästhetischer Formen und Motive bei gleichzeitiger Umkehrung der (meta-)politischen Agenda wurde so populär, dass es der Zeitschrift Newsweek eine Titelgeschichte Wert war (vgl. Abb. 4.118). Auf dem dazugehörigen Titelbild ist die bekannte Uncle Sam-Allegorie von James Mont‐ gomery Flagg reproduziert [↑ IX. Interpellation]. Uncle Sam appelliert in diesem Fall eindringlich an die Rezipient: innen, Rassist zu werden. 481 Der Untertitel lautet: „Provozierende Posterkunst ist nicht mehr nur etwas für Hippies“ 482 - sondern eben für rechtspopulistische Aktivisten (beispielsweise der Alt Right-Bewegung). 372 4 Politische Medienikonografie <?page no="373"?> 483 Übersetzung von mir; SG. 484 Übersetzung von mir; SG. Abb. 4.118: Aufruf, Rassist zu werden Um hierfür nur ein Beispiel zu nennen, das schnell als Meme zirkulierte: Ein Plakat, das im Zuge sowjetischer Propaganda 1918 in Umlauf gebracht wurde, zeigt eine Arbeiterin mit einem Gewehr in der Hand, die uns direkt anzuschauen scheint (vgl. Abb. 4.119a). Der begleitende Text ist auch in diesem Fall ein Appell: „Arbeiterinnen! Nehmt Eure Waffen! “ 483 Knapp 100 Jahre später liest sich der Text hingegen wie folgt: „Weiße Schuld ist eine Waffe“ 484 , was in diesem Kontext bedeutet, dass man sich nicht schuldig fühlen soll, wenn man stolz darauf ist, ‚weiß‘ zu sein, auch dann nicht, wenn einem das ständig vorgehalten wird (vgl. Abb. 4.119b). Weiter ist dort zu lesen: „Entwaffne Deine/ Entwaffnet Eure Gegner und befreie Dich/ befreit Euch.“ 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 373 <?page no="374"?> Abb. 4.119a-b: Einmal soll die Waffe ergriffen werden, einmal dem Gegner abgenommen werden Daran sind zwei Dinge interessant. Erstens geht es darum, dass der semantische Kontext durch die Wiederaufnahme des Posters verändert wird. Von einem Aufruf an Arbeiterinnen gegen die schlechten Arbeitsbedingungen zu rebellieren im Kontext sozialistischer Bestrebungen führt der Weg zu einem kulturrassistischen Aufruf, stolz zu sein. Linksorientierte Propaganda wird invertiert zu rechtsgerichteter Propaganda. Zweitens - und noch wichtiger: Die Rolle der Waffe verändert sich signifikant bei der Neusemantisierung: Im Ausgangsplakat sollen die Frauen sich bewaffnen, im anderen Fall sollen die Gegner entwaffnet werden. Das impliziert: ‚Weiße‘ sollen nicht nur stolz sein auf ihr Weiß-sein, sondern sie werden von ihren ‚Gegner‘ drangsaliert, genau das nicht sein zu dürfen. ‚Weißen‘ wird hier die Rolle von Opfern zugewiesen, aus der sie sich zu befreien haben. Das ist wiederrum das zentrale Narratem der Cultural Studies: Schwache, marginalisiert, unterrückte gesellschaftlichen Gruppen sollen ermächtigt werden bzw. sich selbst ermächtigen. Dass hierfür sozialistische Propagandaposter verwendet werden, ist bereits auf performativer Ebene ein Akt der Ermächtigung. Außerdem zeigt sich hieran eine spielerisch-ironische Komponente, die viele Meme-Initiativen, auch politisch ausgerichtete, charakterisiert [↑ ‚White American Natives‘]. 374 4 Politische Medienikonografie <?page no="375"?> 485 Übersetzung von mir; SG. 486 Vgl. dazu das Board zum Thema: https: / / 4archive.org/ board/ pol/ thread/ 125088585/ capture-the-fag-f lag [12.12.21]. 487 Für ein weiteres Symbol wird hier u. a. auf die Comic-Figur Pepe, der Frosch, die bei ihrer Einführung unpolitisch war und im Zuge ihrer Memifizierung insbesondere auf der 4inch-Plattform ziemlich erfolgreich zu einem rechtspopulären Symbol umsemantisiert wurde. Vgl. dazu knapp, aber informativ: Wentz, Krieg der Trolle, S. 142ff. oder auch: Nick Nestler, Memes als digitale politische Ikonologie. Die digitalen Bilderkämpfe der extremen Rechten, in: Probst, Politische Ikonologie, S.-303-318. 488 Übersetzung von mir; SG. Flaggen-stehlen als rechtspopulistische Meme-Strategiespiel Dieses spielerische Moment wird noch deutlicher bei Memes, die sich der ‚feindlichen Übernahme‘ linksliberaler Symbole widmen. So findet sich Anfang 2017 mit Bezug auf das Flaggensymbol der sogenannten LGBTQ-Bewegung, die für Gender-Diversität plädiert und kämpft, unter dem Titel „Stehlt die Schwulenflagge“ 485 ein anonymer Eintrag auf dem 4inch-Board (vgl. Abb. 4.120a). 486 Dort wird dazu aufgerufen, ein (wei‐ teres 487 ) Symbol linksliberaler Kollektive und Organisationen zu stehlen. Offensichtlich voller martialischem Spielwitz ist zu lesen: „Lasst Sie uns jetzt treffen, wo es wehtut.“ 488 Danach folge eine kleine Anleitung, wie dafür vorzugehen ist. Abb. 4.120a-c: Flaggen- und Symbole-Stehlen als politisches Spiel Etliche Ergebnisse dieses ‚Fahnen-stehlens‘ lassen sich auf dem angeführten Board einsehen. Hier sei nur auf zwei verwiesen (vgl. Abb. 4.120b-c): In beiden Fällen geht es darum, die bunte Flagge der LGBTQ-Bewegung neu zu semantisieren. Der Clou dabei ist, dass diese Flagge zwar bunt, aber mit klaren Abgrenzungen der einzelnen Farben gestaltet ist. Dies wird zum Ausgangspunkt für ein Plädoyer einerseits die Grenzen von Ethnien einzuhalten. Anderseits wird gerade in der strikten Abgrenzung der ‚Vorteil‘ ‚weißer‘ Menschengruppen verankert, die vielfältiger sein sollen als eine Vermischung der Ethnien, die zu einem braunen oder grauen Einerleiführen würde. Unabhängig von den argumentativen Schwierigkeiten einer solchen Neusemantisierung - wird doch für strikte Abgrenzung plädiert, die wiederum die Vielfältigkeit innerhalb einer Ethnien-Einheit garantieren soll, was eine durchaus prekäre Argumentationsfigur ist -, zeigt sich hier ein nahezu idealtypisches Beispiel für das, was man in Anlehnung an 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 375 <?page no="376"?> 489 Goriunova, Kraft digitaler Ästhetik, S.-82. 490 Vgl. dazu: Daniel Hornuff, Hassbilder, Berlin 2020. 491 Soweit ich das beurteilen kann, ist ihr Erfolg auf dieser Ebene, trotz ambitionierten Initiativen und Websites, eher bescheiden, vgl. dazu etwa das No Hate Speech Movement, Online zugänglich unter: https: / / no-hate-speech.de/ de/ kontern/ fuer-gegen-alle-hate-speech/ [12.12.21]. 492 Vgl. dazu: Hornuff, Hassbilder, S.-59ff. einen der zentralen Theoretiker der Cultural Studies, eine subversive, kreative Lesart nennen kann [↑ Lesarten]. An diesen Beispielen lässt sich noch ein weiteres Merkmal so gearteter Memes explizieren. Es geht nicht um eine ernstzunehmende politische argumentative Aus‐ einandersetzung, sondern um - wie weiter vorne formuliert - Schlagfertigkeit oder schlicht ums Blödeln [↑ Meme als Schlagbild]. Ermächtigung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht so sehr, das bessere Argument zu haben, die Opponentin zu überzeugen; es geht vielmehr, wie Olga Goriunova schreibt, um „kleine kreative Akte, die als Machtausübung fungieren“ 489 . Dabei handelt es sich um eine Macht, die sich im spielerischen, schlagfertigen Umgang mit vorhergehenden Posts und Netzwerkprozessen zeigt und - nicht nur metapolitische Botschaften auf inhaltlicher Ebene vermittelt [↑ Metapolitik], sondern eben auch auf performativer Ebene der Form. Counter-Memes: Strategien gegen eine überbietende Affektkaskade? Es gibt nicht nur kritische Memes, die auf rechtspopulistische Memes reagieren und sich dabei - wie gezeigt - in einer Überbietungskaskade befinden [↑ (3) Potenziere! ]. Daneben existieren auch sogenannte Counter-Memes. Das sind solche Memes, die weder kritisch-argumentativ noch aggressiv-verleumderisch auf provozierende Memes reagieren, sondern gerade der Strukturlogik der Über‐ bietung, des Aufschaukelns der Affekte entkommen wollen, um damit der Eska‐ lation von Hatespeech bzw. Hassbildern- und damit der Überbietungslogik der Aufmerksamkeitsökonomie entgehen wollen [↑ Ökonomie der Aufmerksamkeit; ↑ Strategien der Aufmerksamkeit]. Diese Memes werden auf einigen Plattformen gesammelt, die als Archiv für die jeweils geeignete Antwort auf Hass-Memes fungieren sollen. 490 Mich interessiert hier nicht, ob diese Counter-Memes populär sind oder eine große Verbreitung haben. 491 Vielmehr möchte ich zeigen, dass zumindest einige diese Counter-Memes letztlich doch der Strukturlogik der Aufmerksamkeitsökonomie und Überbietung folgen, auch wenn sie sich dezidiert dieser Logik verweigern wollen. Folgt man Einschätzungen von Daniel Hornuff, die dieser in seinem Büchlein Hassbilder ausbuchstabiert, lassen sich mindestens fünf Arten von Counter-Bilder unterscheiden. 492 Die erste Kategorie umfasst einfache Text-Bildmitteilungen an die jeweilige Redaktion bzw. Content Moderation, um die Gesetzeskonformität 376 4 Politische Medienikonografie <?page no="377"?> 493 Ebd., S.-61. eines Posts überprüfen zu lassen. Die Memes der zweiten Kategorie drohen einen Sperrungsantrag an oder das Einleiten rechtlicher Schritte. Die dritte Meme-Kate‐ gorie markiert, dass nunmehr ein Kommunikationsabbruch erfolgt. Memes der vierten Kategorie, so Hornuff, „rufen Tier- oder Kindermotive auf, mit denen sich Gewaltsuggestionen kommentierend ins Niedliche kippen lassen“ 493 , mitsamt einer ironischen Note (vgl. Abb. 4.121a). Die fünfte Form der Memes setzt sich aus Bildern der Populärkultur zusammen, die die vorhergehenden Hass- oder Diffamierungs-Memes ebenfalls kommentieren - und zwar indem sie sich über diejenigen lustig machen, die solche Memes posten (vgl. Abb. 4.121b). Abb. 4.121a-b: Counter-Strike mit Counter-Memes? Zwar mag mit solchen Memes die Hass-Kaskade von Schlag- und Gegenschlag‐ bilder unterbrochen sein, aber das heißt meines Erachtens nicht, dass sie der Überbietungslogik entgehen. Für Kategorie 1 bis 3 ließe sich anführen, dass es sich hierbei entweder um Androhung von rechtlichen Eingriffen handelt oder um Kommunikationsabbruch. Was kann, bezogen auf einen kommunikativen Austausch, radikaler sein als die Androhung strafrechtlicher Verfolgung, Löschung oder die Drohung, die Kommunikation abzubrechen? Am interessantesten sind wohl die letzten beiden Kategorien, weil sie komplexer operieren. Sie versuchen die Kommunikations- und Affektstruktur zu ändern, einerseits durch einen Wechsel auf die metakommunikative Ebene, direkte Ansprache, Unterstellung bestimmter Absichten oder Befindlichkeiten hinter den Hassposts. Anderseits soll der Affekt nicht noch weiter eskalieren, indem Formenund/ oder Motivregister gewechselt 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 377 <?page no="378"?> 494 Ebd.; Herv. von mir. werden: kindlich-verniedlichende Motive, lächelnde (Stellvertreter-)Figuren, die sich vermeintlich nicht (mehr) negativ affizieren lassen. Entscheidend ist hier, was Hornuff dazu schreibt: Viele Counter-Memes arbeiten „mit der Idee der unerwarteten Entgegnung, versuchen also in zeitlich wie stilistisch pointierter Weise, durch Kontextverlagerung das Hassvorbringen zu entkräften.“ 494 ‚Unerwartet‘ und ‚Kontextverlagerung‘ sind indes Charakterisierungen, die bes‐ tens in die Struktur digitaler Aufmerksamkeitslogik passen [↑ Strategien der Aufmerksamkeit]. Geht es doch - sowohl bei politischen Memes, die weiter vorne dargestellt wurden, wie auch bei den angeführten Counter-Memes - um schlag‐ fertige Schlagbilder, die die Wahrscheinlichkeit tatsächlich schlagfertig zu sein, insbesondere durch Produktion von Unerwartetem und/ oder Kontextverlagerung erhöhen [↑ Meme als Schlagbild]. Die Strukturanalogie zu den rechtspopulistischen Memes ließe sich noch weiter‐ führen: Zumindest die hier angeführten Counter-Memes stellen vielleicht nicht eine nationalistische oder homophobe Tabuverletzung dar; sie operieren aber dennoch mit metapolitischen Diffamierungen. - Digitale Plattformen als Infrastrukturen metapolitischer Affizierung Es dürfte wenig überraschen, dass sich bei dieser Art rechtpopulistischer Memes, die Maxime des Polarisierens, Popularisierens, Potenzierens, Personalisierens und Prozess‐ ualisierens, die, wie weiter vorne gezeigt, für Meme-Serien im Speziellen und digitale Plattformen im Allgemeinen gelten, deutlich ausfindig zu machen sind [↑ Strategien der Aufmerksamkeit]. Die potenzierende Steigerungslogik kann anschaulich anhand diverser Meme-Posts, die das ‚Häuptling‘-Meme nach sich zog, nachvollzogen werden. Kritik dieser Meme-Einstellung, wie auch die Affirmation desselben, finden fast aus‐ schließlich in polarisierenden Formen statt, die auf Affizierung, Hyperkonnektivität, mehrdeutigen Humor, Verschiebung und/ oder Ausweitung des Kontextes setzen, indem die einzelnen Memes bereits bekannte (Bild-)Elemente aus der Populärkultur aufgreifen und dabei häufig direkte Ansprachen der Nutzerinnen wählen und/ oder einzelne Personen sprechen und denken lassen. Es geht mir hier aber nicht darum, wie einflussreich eigentlich solche Memes sind, ob man sie nicht überschätzt, wenn man sie zur Gestaltung der politischen Willensbildung ernst nimmt, ob es nicht nur um Pop, Witz und Albernheit oder bloße Lust am Tabubruch geht, um Individuation und Kollektivität von Jugendlichen. Um all das geht es sicher auch. Entscheidender ist aber in vorliegendem Kontext erstens das Passungsverhältnis von digitaler Infrastruktur und vorgestellten Meme-Praktiken. 378 4 Politische Medienikonografie <?page no="379"?> 495 Strick, Rechte Gefühle, S.-80. Zweitens scheint mir besonders relevant, dass politischer Memes als schlagfertige, gewitzte Mittel zur Machtdemonstration auf performativer Ebene dienen - und zwar als Teil serieller Überbietungsverkettungen, im Register metapolitischer Anrufung der User. Wiederum findet Strick dafür kernige Worte: „Das Internet und die sozialen Medien ereignen sich fast ausschließlich als metapolitischer Raum, denn jede Information oder Meinung wird mit Likes/ Dislikes, Upvotes/ Downvotes, Kommentaren, Emojis und Shares in eine Gefühlslandschaft eingebettet: Wie viele mögen das, wie viele nicht, wie ist die Stimmung zu diesem Video, Beitrag, Post? Es bilden sich atmosphärische Hüllen um Dinge, Bilder, Ereignisse und Begriffe.“ 495 Oder etwas weniger verallgemei‐ nernd formuliert: Die Infrastruktur digitaler Plattformen mit ihren quantifizierbaren Popularitätsmetriken präformieren nicht nur eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, sondern ebenso eine Ökonomie des Affektes und damit eine Orientierung an Affekten, die ausgelöst werden sollen durch gewitzte Grenzüberschreitung und schlagfertiger Überbietung. • ideologische Weltbilder METAPOLITISCH • politische Institutionen POLITISCH • alltägliche Lebenswelt PRÄPOLITISCH • digitale Infrastruktur TRANSZENDENTALPOLITISCH komprimierte Aufmerksamkeitsspannen Affekte auslösen I formen präformierend Erwartung I Handlungsausrichtung Abb. 4.122: Politische Sphärologie Die unterschiedlichen Ebenen des Politischen lassen sich aus dieser Perspektive - wenn auch zugegebenermaßen arg schematisch - ins Verhältnis setzen (vgl. Abb. 4.122). So sind politische, metapolitische, präpolitische und transzendentalpolitische Aspekte auszudifferenzieren und gleichzeitig zusammendenken. Die Ironie an den vorgestellten Dynamiken ist, dass gerade durch das Umgehen der im engeren Sinne politisch-institutionellen Sphäre hochgradig politische Effekte erzeugt werden. Dies 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 379 <?page no="380"?> 496 Schäfer, Konnektiver Zynismus, S.-111. wiederum wird meines Erachtens erst verständlich, wenn der Blick weg von den Bildern hin auf die Infrastruktur sowie die etablierten Praktiken im Umgang mit Bildern wandert - und von dort aus dann zurück zu den Bildern und ihrem Zusammenspiel mit Infrastruktur und Praktiken. - Konnektives Deplatforming als populistische Bildpraxis ‚von Links‘ Interessant in diesem Zusammenhang scheint mir, (noch) einmal die ‚Gegenrechnung‘ aufzumachen, das heißt konkret zu untersuchen, welche Strategien existieren, die gegen diese Art ‚identitärer Metapolitik‘ vorgehen und alternative Partizipationsan‐ gebote zu deren rechtsextremistischen Tendenzen anbieten. Eine solche Strategien wurde weiter oben bereits im Kontext der Diskussion um sogenannte ‚Counter-Memes‘ vorgestellt [↑ Counter-Memes]. Eine anders gelagerte Strategie ist das sogenannte Deplatforming. Es handelt sich dabei um eine Strategie, die gegen Hatespeech auf Plattformen vorgehen will - und zwar dadurch, dass fragwürdige Post oder gleich ganze Accounts gesperrt werden sollen aufgrund vermeintlicher Missachtung kommu‐ nikativ-moralischer Community-Standards auf sozialen Plattformen. Es geht hier also nicht wie im Fall der ‚Counter-Memes‘ um kommunikative Deeskalation im konkreten Fall, sondern um eine Strategie, die Kommunikation bestimmter Posts oder Accounts einzelner User: innen zu unterbinden, die andere denunzieren, kalkuliert Falschmel‐ dungen in Umlauf bringen, Hass artikulieren oder zur Gewalt gegen eine Person oder Gruppe aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung aufrufen. An Deplatforming-Strategien ist in diesem Zusammenhang vor allem erstens das so‐ genannte konnektives Deplatforming wichtig: Nutzer und Nutzerinnen schließen sich vernetzend, eben konnektiv, auf Plattformen oder plattformübergreifend zusammen, um temporär „strategisch und orchestriert massenhaft Sperrungen und Löschungen in den sozialen Medien zu erwirken“ 496 . Zweitens scheint mir bemerkenswert, dass diese Vernetzung häufig - und gerade bei vergleichsweise erfolgreichen Aktionen - selbst metabzw. präpolitisch operiert (vgl. noch mal Abb. 4.111), also nicht unter der Ägide einer klaren politischen Agenda firmiert, sondern den vorpolitischen Raum der Alltagswahrnehmungen und Gefühle von Subjekten aufgreift, polarisiert, mit Evidenz und Affekten ausstaffiert. Drittens wird bei diesen Aktionen nicht nur keine ideologische Agenda explizit formuliert, der man folgen soll, sondern zudem mit Ironie gearbeitet - und damit ganz ähnlich wie die vorgestellten identitären Meme-Strategien. Ein sehr anschauliches dafür bildet die Aktion Ban Matusuri, die in Japan in den Jahren 2018 und 2020 veranstaltet wurde. Die Aktion setzte sich um Ziel, Kommentare und Accounts auf YouTube von den Plattformbetreibenden löschen oder sperren zu lassen. Der Japanologe Fabian Schäfer, der diese Aktion näher untersucht hat, beschreibt diese folgendermaßen: „Das gamifizierte Spielmoment des Ban Matsuri findet sich im Wettstreit um die meisten Löschungen unter den Teilnehmenden. 380 4 Politische Medienikonografie <?page no="381"?> 497 Ebd., S.-113. 498 Vgl. dazu: ebd., S.-112ff. 499 Zu letzterem vgl. bspw.: https: / / www.youtube.com/ watch? v=pxBTJTddW5A [09.03.23] Zum einen wurden diese durch wiederkehrende Aufforderungen, innerhalb einer gewissen Zeit eine bestimmte Zahl von Sperrungen und Löschungen zu erreichen, zum Mitmachen animiert. Zum anderen aktualisierten viele Teilnehmende auf ihren Social-Media-Accounts laufend die Zahl der durch sie bereits erwirkten Sperrungen und Löschungen. Sowohl das humorvolle Design der Aktion als auch der gamifizierte Wettkampf unter den Teilnehmenden durften entscheidend zur erfolgreichen Mobili‐ sierung durch diese konnektive Aktion beigetragen haben.“ 497 Viertens - und damit wird die Aktion im Kontext politscher Medienikonografie relevant - kamen genau dafür ironisierende Bildstrategien zum Einsatz - unter ande‐ rem Memes. Der Name der Aktion Ban Matsuri verweist auf eine Marketingkampagne der japanischen Bäckereikette Yamazak, die unter dem Titel Haru no pan matsuri (dt.: Brot-Frühlingsfestival) seit über zehn Jahren im Frühling platziert wird (vgl. Abb. 4.123a-b). Durch die Verschiebung des Wortes pan (dt.: Brot) zu ban (dt.: verbannen) wird die Werbekampanien parodiert. 498 Korrespondierend fand eine Imitation der grafischen Elemente dieser Bäckerei-Kampagne statt - unter anderem verarbeitet zu Memes (vgl. Abb. 4.123c-d): Aus dem Aufruf einer freundlich uns anlächelnden Frau genug Punkte zu sammeln beim Gebäckeinkauf, um einen Teller oder eine Tasche als Preis zu erhalten, wird der Aufruf so viele ‚Punkte‘ wie möglich zu sammeln, was konkret heißt: so viele Löschungen oder Sperrungen wir nur möglich zu erwirken. Gratifikation ergibt sich dabei durch den Vergleich mit anderen Teilnehmenden, durch die Veröffentlichung von Statistiken oder ‚Erfolgsmeldungen‘ in Form von YouTube-Videos. 499 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 381 <?page no="382"?> 500 Vgl. dazu: Schäfer, Konnektiver Zynismus, S. 112f. Abb. 4.123a-d: Werbebilder für Haru no pan matsuri (links) werden zu Memes für Ban Matsuri (rechts)] 500 In einem Meme, die diese Aktion begleitete, wird der Bezug zur Bäckereikette visuell durch die Darstellung von Brötchen verdeutlicht (vgl. Abb. 4.123c). Angelehnt an Roland Barthes könnte man diese Strategie als visuelle (Zusatz-)Verankerung der Bedeutungsherkunft für die Namensgebung der Aktion bezeichnen, um so die Ironie zusätzlich visuell zu verdeutlichen [↑ V. Bild-Texte-Verhältnisse]. Relevanter ist in diesem Kontext aber ein anderes Meme (vgl. Abb. 4.123d), bei dem nicht nur die Grafik der Bäckereiaktion imitiert wird, sondern die Grafik vor dem Hintergrund einer abstrahierten aufgehenden Sonne erstrahlt. Diese aufgehende Sonne ist eine Flagge, die insbesondere im ostasiatischen Kontext sehr unterschiedliche Konnotationen birgt. Jan Knüsel schreibt zu dieser Flagge in einem Blog asienspiegel instruktiv: „Die Flagge der aufgehenden Sonne mit den sechzehn roten Sonnenstrahlen, die Kyokujitsu-ki, wurde in der Meiji-Zeit [1868 bis 1912; SG] zum offiziellen Symbol des japanischen Militärs. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie für die eroberten Länder Asiens zum unrühmlichen Zeichen des aggressiven, imperialistischen Japans. Nach der Kriegsniederlage fand die Militärflagge ihr vorläufiges Ende. Erst mit dem Aufbau der Selbstverteidigungstruppen kam es zu Reaktivierung der Kyokujistu-ki durch die japanische Marine. […] Heute wird sie in Japan an nationalen Feiertagen oder an Sportveranstaltungen gebraucht. Gleichzeitig vereinnahmen rechte Gruppierungen in Japan die Kyokujitsu-ki ganz bewusst als Symbol vergangener Tage. In China und 382 4 Politische Medienikonografie <?page no="383"?> 501 Jan Knüsel, Die kontroverse Flagge [28.09.13], in: asienspiegel. News. Reisen. Japan, Online zugäng‐ lich unter: https: / / asienspiegel.ch/ 2013/ 09/ die-kontroverse-flagge [07.03.23]. Korea, die beide bis zum Zweiten Weltkrieg von Japan besetzt waren, besitzt die Militärflagge der aufgehenden Sonne einen entsprechend belasteten Hintergrund. Sie stellen die Militärflagge mit der Nazi-Symbolik gleich.“ 501 Mit der Flagge sind also sehr unterschiedliche semantische Felder mit demen‐ sprechenden heterogenen Konnotationen verbunden [↑ Denotation/ Konnotation]: Militär, Imperialismus, Vereinnahmung durch ‚rechte‘ Gruppierungen sowie Symbol für Feiertage und Sportveranstaltungen. Es bleibt dabei unscharf, was eigentlich genau die aufgehende Sonne im Hintergrund bedeuteten soll: Geht es gegen politisch rechtsgerichtete Gruppierungen und ihre Hatespeech, um paramilitärische Selbstbe‐ stimmungen (‚Aufräumen im Netz‘), gegen imperialistische Übergriffe Japans oder gegen Hatespeech aus Korea bzw. China, die japanische Symbole verunglimpfen? Ist es einfach ein Hinweis auf eine sportive (Festival-)Veranstaltung oder alles zusammen gleichzeitig? Jedenfalls scheint mit dieser Unschärfe ironisch gespielt zu werden. Zumindest auf dieses Beispiel lassen sich - wenngleich in etwa modifizierter Form - die populistischen Maxime für eine metapolitische Bildpraxis veranschlagen, die weiter vorne für die identitäre Meme-Strategien formuliert wurden [↑ Populistische Maxime]: Erste Maxime: ‚Erzeuge Unwohlsein auf Ebene der Alltagswahrnehmungen! ‘ In diesem Fall geht es darum, Unwohlsein hinsichtlich der nahezu überall zirkulierenden Hatespeech zu erzeugen oder genauer: an das Gefühl, dass diese omnipräsent ist, anzuknüpfen. Zweite Maxime: ‚Nimm dieses Unwohlsein als Ausgangpunkt für ein kulturelles Orientierungsangebot! ‘ Hier wäre das Orientierungsangebot der spielerische-kompe‐ titive Charakter zur Steigerung der Anzahl an Löschungen von Kommentaren und/ oder Sperrung von Accounts, zu nennen, weil die Hatespeech so dominant zu sein scheint, dass ein Unwohlsein vorausgesetzt werden kann, gegen das ‚irgendwas‘ getan werden muss. Die dritte Maxime lautet: ‚Gestalte dieses kulturelle Orientierungsangebot als Tabu‐ bruch oder zumindest als politisch inkorrekte Grenzüberschreitung.‘ Dieser Punkt trifft - so viel sie zugestanden - nicht genau das, was mit der Bann-Aktion vollzogen wurde, geht es doch dabei eher darum, Hatespeech ausfindig zu machen und deren Grenzüberschreitungen zu unterbinden. Dass diese Art der Unterbindung selbst problematische denunziatorische Züge tragen könnte, und zwar deshalb, weil gar nicht die Frage gestellt wird, auf welcher (politischen, ideologischen, moralischen) Grundlage etwas überhaupt als Hatespeech angesehen wird und was nicht, wird nicht thematisiert. Es scheint einfach vorausgesetzt zu sein, dass es dafür Evidenzen gibt und die letztendliche Entscheidung der Löschungen und Sperrung ohnehin von den jeweiligen Plattformen getroffen werden, also an diese delegiert ist. Dies ist somit weniger eine Strategie politischer Inkorrektheit als vielmehr wahlweise 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 383 <?page no="384"?> 502 Ergebnisse zu dieser Umfrage finden sich in: Ayaka Löschke, User Engagement against Online Far-Right Actions in Japan: Driven by High Perceptions of Personal Abilities and Benefits, in: Asiascape: Digital Asia, 9 (3), 2022, S. 242-272. Vgl. dazu zusammenfassend: Schäfer, Konnektiver Zynismus, S.-113. 503 Zu vielen Beispielen anderen ‚links‘-orientierter Meme-Strategien, die mit Ironie und Unschärfe arbeiten vgl. Nowotony/ Reidy, Memes, S.-121ff. praktiziert auf Grundlage einer diffusen Vorstellung von politischer Korrektheit oder schlicht eine apolitische Praxis. Dazu passt auch, dass laut einer Umfrage, die meisten Teilnehmenden ihre Aktionen dezidiert nicht als politisches Handeln verstanden wissen wollen, sondern als spielerische Teilnahme an einem Event. 502 Tabubruch oder Grenzüberschreitung wären hier also eher darin zu finden, dass ein politisch wie ideologisch stark umkämpftes Feld, verschoben wird auf ein (temporäres) kompetitives Spielvergnügen. Darin besteht das kulturelle Orientierungsangebot und genau darin ließe sich die Grenzüberschreitung verorten. Dass die Aktion in einem so hochbrisan‐ ten Feld sich selbst - und sei es in parodistischer Weise - in die Tradition einer Marketingstrategie einer Bäckerei stellt, scheint doch zumindest bewusst verharmlo‐ send, woraus ja zuallererst der humoristische Effekt erzielt wird, oder sogar politisch inkorrekt. Vierte Maxime: ‚Vermittle dies in Form von mehrdeutigem Humor.‘ Dass wiederum diese Marketingstrategie aufgegriffen wird und - zumindest im Fall des Memes mit dem Hintergrund der aufgehenden Sonne - mit hochgradig politisch und ideologisch aufgeladenen Symbolen verknüpft wird, steigert nicht nur den par‐ odistischen Effekt bzw. die politische Inkorrektheit, sondern zeugt mehr noch von der Mehrdeutigkeit dessen, was die Aktion eigentlich genau sein soll. 503 Gamefication wäre somit nicht nur der spielerisch-kompetitive Charakter der Aktion, sondern ebenso das humoristische, auf Mehrdeutigkeit und Unschärfe angelegte Spiel mit dem Status des Spiels selbst. ‚Achte aber darauf, dass das erzeugte Unwohlsein eine Subjektposition für den Nut‐ zer, die Nutzerin attraktiv macht, da sie eine identitätsstiftenden Selbstermächtigung gegen eine ungerechtfertigte Unterdrückung verspricht! ‘, so lautete die fünfte Maxime. Die identitätsstiftende Selbstermächtigung besteht in dieser Aktion primär im spielerischen Umgang mit Hatespeech und der ausgewiesenen Handlungskompetenz gegenüber derselben. Aus den populistischen Maxime wurde weiter vorne die Folgerung gezogen: ‚Im Idealfall erzeugst Du durch die Beachtung dieser Maxime einerseits ein positives inkludierendes Selbstwertgefühl auf Grundlage einer behaupteten Unterdrückung. Die Unterdrückenden und alle die, die sie schützen, werden damit andererseits klar exkludiert und gleichzeitig provoziert! ‘ Ganz sicher geht es auch bei der Ban Matusuri-Aktion um ein inkludierendes Selbst‐ wertgefühl. Die Unterdrückung wäre zu finden in der Persistenz und Omnipräsenz der Hatespeech, die alle anderen Stimmen in der Netz-Öffentlichkeit kaum noch Gehör 384 4 Politische Medienikonografie <?page no="385"?> zu geben scheint. Exklusion meint hier konkret, dass bestimmte Kommentare gelöscht und Accounts bestimmter Akteure gelöscht werden. So verstanden, wäre die eigentliche Ironie diese Aktion die, dass diejenigen, die mitmachen, Politik betreiben, ohne es zu wissen oder zumindest davon nichts wis‐ sen wollen - und zwar gemäß der Strukturlogik von Plattformen (Wettbewerb um Klickzahlen, Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit) basierend auf der Löschung von Inhalten, Klickzahlen, Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit anderer. Ob das nun eine zielführende oder gar (meta-)politisch angemessene Gegenmaßnahme zur geschilderte identitäre Metapolitik unter der Ägide digitaler Plattformen ist oder letztlich doch nur die die strukturelle Wiederholung derselben populistischen Strategie ironisch-spielerischer Selbstermächtigung wie Exklusion mit umgekehrten Vorzeichen und also eine Strate‐ gie darstellt, die das, was vermeintlich vermindert werden soll, nämlich Hass und Polarisierung, selbst potenziert, lässt sich schwer beurteilen und hätte sicherlich eine ausführlichere Diskussion verdient, die hier von mir nicht geleistet werden kann. Festzuhalten bleibt jedenfalls zweierlei: Zum einen handelt es sich hierbei nicht um Hatespeech im engeren Sinne, sondern Aktion und ihr Bildmaterial zielen ja gerade auf das Gegenteil, nämlich auf die Negation von Kommunikationsfortsetzung und Wahrnehmbarkeit anderer, die als verbale Gewalttäter - je nach Perspektive - entlarvt oder denunziert werden. Die erfolgreiche ‚Löschungsarbeit‘, inklusive ihrer ‚Opfer‘, wird wiederum öffentlich sichtbar gemacht und als Erfolg gegen Ha‐ tespeech gefeiert. Pointiert formuliert: Die direkte Hatespeech wird zur indirekten ‚Hate-Aktion‘ gegen Hatespeech, die Gewaltandrohung zur Ausübung und visueller Darstellung symbolischer Gewalt durch Negationserfolge. Zum anderen - und trotz aller feiner Unterschied - hat die Aktion gegen Hatespeech gerade auf visueller Ebene frappierend viele strukturelle Parallelen zu metapolitischen Strategien und Darstellungsweisen identitären Bewegungen. Wahlweise kann man das als gekonnte Nutzung der Bedingungen und Möglichkeiten digitaler Infrastrukturen interpretieren oder aber als affirmative Orientierung an der Strukturlogik dieser Infrastrukturen, die - unabhängig von Ideologien, Befindlichkeiten, moralischen Vorstellungen oder humanitärem Ethos - (meta-)politische Strategien, Handlungs- und Wahrnehmungen präformieren. Träfe letzteres zu, so könnte formuliert werden, dass es letztlich gar nicht so wichtig ist, ob man links-liberal ausgerichtete politische Aktionen betrachtet oder rechtsextremistische, man sollte sich vielmehr den Bedingungen der Politisierung zuzuwenden, also der digitalen Infrastruktur und deren Konsequenzen für die Art und Weise, wie Politik überhaupt erst sicht- und sagbar werden kann. Bildspezifik von Memes? Weiter vorne wurde bereits die These diskutiert, ob mit Bildern prinzipiell die Operation einer Negation analog zu sprachlichen Artikulationen vorgenommen 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 385 <?page no="386"?> 504 Zur Erinnerung: Das Ergebnis der Erkundung bildlicher Negationsfähigkeit war - wahrscheinlich wenig überraschend: es kommt darauf an und lässt sich nur je nach Bildtypus und -praxis entscheiden [↑ Gegenstrebige Bildbewegungen]. 505 Hornuff, Hassbilder, S.-62. 506 Vgl. dazu und zum Folgenden: Barthes, Rhetorik des Bildes, S.-34ff. werden kann [↑ Bilder 504 als negationsresistente Codesysteme; ↑ IV. Bilder als Sprache]. Mit dieser Frage möchte ich mich in einer bestimmten Variante im Hinblick auf Memes beschäftigen, um davon ausgehend die spezifische Leistung des Visuellen der Memes zu diskutieren. Negationsfähigkeit impliziert unter anderem, dass die Behauptung, ein Sachverhalt liege vor, die Zuschreibung von Eigenschaften an eine Person, die Artikulation eines Verbots klar und deutlich als falsch artikuliert werden kann. Diese Möglich‐ keit ist wiederum nur dann gegeben, wenn es ein endliches Zeichenrepertoire gibt, das klar voneinander zu unterscheidende Elemente beinhaltet. Negations‐ möglichkeit eines Zeichenrepertoirs impliziert zudem, dass einzelne Aussagen als widerspruchsfrei identifiziert werden können oder eben als widersprüchlich. Kann etwas nicht negiert werden, kann eine Artikulation weder in sich widersprüchlich sein noch widerspruchsfrei. Interessant ist das für Memes, weil Daniel Hornuff, der sich unter anderem mit Hass-Memes beschäftigt, dazu schreibt: „Memes […] können aus sich selbst heraus weder widersprüchlich noch widerspruchfrei sein.“ 505 Freilich kommt es darauf an, welche Meme-Bestimmung man zu Grunde legt, um zu beurteilen, ob diese Aussage stimmt [↑ Meme]. Mit Blick auf Memes, die Texte beinhalten, insbesondere bei Macro-Images, stimmt es jedenfalls ganz sicher nicht. Ein Beispiel liefert eine Meme-Form, die Diagramme zeigt. Hierfür sei noch einmal auf das weiter oben angeführte Meme verwiesen, in dem anhand eines Flussdiagramms logisch-stringent ‚bewiesen‘ werden soll, dass ein ‚Weißer‘ - egal wie er sich verhält - auf jeden Fall als Rassist tituliert werden wird (vgl. noch einmal Abb. 4.114d). Es geht hier gar nicht darum, ob diese Logik zwingend ist, sondern darum, dass damit ein Argument formuliert werden kann. Diese bildliche Darstellung kann somit prinzipiell widerspruchfrei oder widersprüchlich sein. Mag man diese Argumentation nun für wahr oder falsch halten. Und selbst wenn der sicherlich sehr spezielle Fall von Meme-Diagrammen verlas‐ sen wird, so ist doch ein Großteil zirkulierender Memes eine Kombination aus Text und Bild. In vielen Fällen haben die textuellen Elemente genau die Funktion, die Roland Barthes dem Einsatz von Schrift für Werbefotografien zugewiesen hat [↑ II. Bild-Text-Verhältnisse]. Barthes weist Textelementen auf Bildern zum einen eine Verankerungsfunktion zu, dabei geht es um die Fixierung einer konkreten Bedeu‐ tung. 506 Aus den vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten, die ein Bild haben kann, 386 4 Politische Medienikonografie <?page no="387"?> wird eine durch den Text ‚fixiert‘. Zum anderen macht Barthes eine sogenannte Relaisfunktion aus. Damit ist gemeint, dass das Bild durch den Text eine dem Bild selbst nicht inhärente Bedeutungsverschiebung erfährt. Beide Verfahren finden sich in Memes, wobei die zweite Funktion sehr viel häufiger anzutreffen ist. Dies dürfte kaum verwunderlich sein, geht es doch - wie weiter vorne dargelegt - um Überbietungsstrategien [↑ Strategien der Aufmerksamkeit]. Und solche tendieren strukturlogisch dahin, die Bilder immer noch anders, überraschender, gewitzter zu semantisieren. Auffällig ist, dass häufig das Bildelement eines Memes, dasjenige ist, das gleich‐ bleibt, also die Stabilität der Meme-Serie garantiert [↑ Meme-Serie]. Aus Goodmans Position liegt die Besonderheit von Bildern gerade darin, dass jede auch noch so kleine Veränderung der Relation von Bildkomponenten die Bedeutung des Bildes verändern kann [↑ Was Bilder sind…]. Hier, bei den diskutierten Memes, haben wir es indes mit dem gegenteiligen Prozess zu tun. Das Bild bleibt gleich und die Bedeutung wird permanent durch den Text verschoben. Selbst dann, wenn die Bilder durch andere Bilder ersetzt werden, verändert sich die Bedeutung der Bilder nicht oder doch nur minimal. Auch in diesem Fall sind es die Texte, die die Bedeutung verändern. Das soll nicht besagen, dass die Visualität bei dieser Art Memes irrelevant ist. Sie sind aber in einer bestimmten Art gestaltet, so dass sie als visuelle Projektionsfläche dienen können, mit denen sehr vielfältige textuelle Bedeutungsfixierungen vorge‐ nommen werden können. Wieder am Beispiel der angeführten ‚Häupling‘-Memes erläutert (vgl. Abb. 4.124). Abb. 4.124: Das eine Bild - die vielen Textpassagen 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 387 <?page no="388"?> Sie sind so gewählt, dass sie erstens genug monochrome Flächen besitzen, um die Textelemente gut sichtbar aufnehmen zu können. Zweitens sind die Personen, die dargestellt werden - obwohl es sich um Fotografien handelt - als Typen dargestellt (‚der Häuptling‘, ‚der American Native‘‘). Dass es sich um einen ‚Häuptlings“-Typus handelt, ist klar markiert durch Schmuck und Bekleidung. Drittens schauen diese Personen so ausdruckslos in die Kamera, dass sie als nahezu ideale Projektionsflächen für alle möglichen Bedeutungszuweisungen, die sich im konnotativen Zusammenhang mit American Natives finden lassen, fungieren können. Viertens sind diese ‚Häuptling‘-Memes fast ausnahmslos Reproduktio‐ nen von Schwarz-Weiß-Abbildungen mit materiellen Abnutzungsspuren. Diese sollen suggerieren: Es geht um ‚alte‘ Bilder und damit um Personen aus der Vergangenheit. Fünftens trifft auf diese Memes gerade das nicht zu, was als eine zentrale Eigenschaft von Bildern mit Bezug auf Goodman angeführt wurde [↑ Was Bilder sind…], nämlich dass bei Bildern jede noch so minimale Veränderung eines Bildelementes eine relevante Bedeutungsverschiebung hervorrufen kann. Bei Memes dieses Typus scheint es sogar keinen signifikanten Unterschied, welche Fotografie eines amerikanischen Ureinwohners zum Einsatz kommt, zu geben (vgl. Abb. 4.125a-d). Es sind sehr ähnliche Bildinhalte und -räume für vielfältige Bedeutungsverschiebungen per Text, unabhängig vom jeweiligen Format [↑ Bildinstanzen]. Abb. 4.125a-d: Unterschiedliche Bildinhalte - derselbe Text Auch wenn es kühn sein mag, von dort ausgehend nach der generellen visuellen Spezifik von Memes zu fragen, so möchte ich doch die Behauptung aufstellen: Meme-Serien funktionieren kaum über Bedeutungsverschiebungen durch Varia‐ tion der Bildeinheiten, sondern diese Verschiebung leistet vor allem der jeweilige Text, der auf andere Texte reagiert und einer Überbietungslogik mit möglichst schlagfertiger Verschiebung folgt. Es werden vorrangig Bildelemente als stabilisie‐ 388 4 Politische Medienikonografie <?page no="389"?> 507 Zu einer ganz anderen Deutung der visuellen Spezifik von Memes vgl. knapp: Idil Galip, Ironie und Hässlichkeit in Memes, in: Kunstforum international, 279 (2021), S. 112-117. Gegen die Betonung der textuellen Elemente im Verhältnis zum Visuellen argumentiert: Zybok, Memes, S.-75ff. 508 Vgl. dazu und zum Folgenden: Richard Grusin, Premediation. Affect and Mediality After 9/ 11, New York 2010. rendes Muster gewählt, die sich besonders gut zur textuellen Bedeutungs- und Kontextverschiebung eignen. 507 Das wiederum bringt die Bildgebung von Memes in eine auffällige Nähe zu denjenigen Bildern, die von global operierenden Bild- und Nachrichtenagenturen angeboten werden [↑ Typische Bilder von Bildagenturen…]. Wie letztere sind erstere prinzipiell polysemisch. Diese Polysemie ist aber nicht beliebig, sondern nimmt Bezug auf sehr konkrete, identifizierbare Ereignisse, Situationen und/ oder Personen mit einer symbolischen Potenz, die über das einzelne Ereignis, die kon‐ krete Situation, die Identifizierbarkeit einer Person hinausführen. So wird etwa ein konkreter, historisch identifizierbarer Häuptling fotografisch dargestellt, der aber als Typus des ‚Häuptlings‘ fungiert und als solcher weitreichende Konnotationen mit sich führt (präzivilisatorische Existenz, Opfer‚ Einwanderer etc.). Der Unterschied liegt hingegen in der jeweiligen Funktionalisierung der Bild‐ lichkeit. Geht es bei der Stock Photography um mögliche Bedeutungen, die in einer konkreten Anwendung eine Bedeutungsfixierung durch textuelle Elemente erfahren, die möglichst alle anderen Bedeutungsmöglichkeiten abschatten, so gibt es bei Memes eher die Tendenz, dass die Bilder durch Texte in ihrer Bedeutung überraschend und gewitzt auf vorher unbedachte Bedeutungen hin verschoben werden und sich innerhalb einer Meme-Serie auf vorhergehende Bedeutungszu‐ weisungen beziehen, die schlagfertig überboten werden sollen. Im ersten Fall geht es um Vergessen-machen anderer Bedeutungsoptionen, im zweiten Fall um deren Aufbewahrung und überbietende Neuausrichtung. Anders formuliert: Die Bildspezifik von Memes besteht gerade nicht in der visuel‐ len Spezifik, die sie von anderen Bildtypen unterscheidet. Memes erhalten vielmehr ihre Spezifik durch den seriell-überbietenden Einsatz ihrer Textelemente. - Prämediation Ein gänzlich anderer Blick auf die Zirkulation von Bildern lässt sich ausgehend vom Konzept der Prämediation werfen. 508 Hierbei geht es um Bilder, die auf Szenarien möglicher Zukunft zielen. Dieser Blick in die Zukunft wird, folgt man Richard Grusin, erst innerhalb einer spezifischen medialen Infrastruktur etabliert und normalisiert, nämlich im Kontext des US-amerikanischen massenmedialen Systems, allen voran des Fernsehens, in Kopplung mit dem Aufkommen sogenannter sozialer Medien 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 389 <?page no="390"?> 509 Richard Grusin, Donald Trumps ‚evil mediation‘, in: Maeder u. a. (Hg.), Trump und das Fernsehen, S.-30-49, hier: S.-35. 510 Grusin, Premediation, S.-2, Übersetzung von mir; SG. an der Millenniumsschwelle. Deren infrastrukturelle Bedingungen bewirken, dem Medienwissenschaftler zufolge, nicht weniger als ein generell verändertes Verhältnis zur Zukunft, das affektiv und kognitiv in und durch die mediale Vermittlung regelrecht antrainiert wird. Es geht dabei, so Grusin, um das „Wirken der medialen Infrastruktur selbst, die mit […] Vermittlungsprozessen verbunden ist.“ 509 Die entscheidende Zäsur hin zur Logik der Prämediation situiert Grusin zeitlich ziemlich präzise mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Die mediale Berichterstattung wie die politischen Entscheidungsträger: innen sind, folgt man dem Medienwissenschaftler, davon überrascht, ja, erschüttert worden. Die mediale Öffentlichkeit war - dieser Argumentation zufolge - darauf in keiner Weise vorbereitet gewesen. Deshalb wurde in der Berichterstattung von der Darstellung vergangener oder gerade sich vollziehender Ereignisse hin auf mögliche zukünftige Ereignisse umgestellt. Durch dieses antizipierende Ausgreifen in die Zukunft werden wir, so Grusin, affektiv und kognitiv gerüstet sein: Sollten die Ereignisse tatsächlich eintreffen, sind wir gewappnet. Wir werden hierbei durch die (massen-)mediale Berichterstattung mit einem „nahezu konstantem, niedrigem Niveau von Angst oder Furcht“ 510 versorgt, um somit für die möglichen Zumutungen der Zukunft mental und emotional bereit zu sein. Auf weitere Anschläge sollen wir affektiv vorbereitet werden und/ oder militärische Maßnahmen der Regierung sollen denkbar und somit deren tatsächli‐ cher Vollzug letztlich wahrscheinlicher gemacht werden. Genauer eigentlich noch: Mediale Berichterstattung hat aus dieser Perspektive eine Schutzfunktion gegenüber zukünftigen Ereignissen in der Welt, die durch die medialen Szenarien zu gegenwär‐ tigen Phänomenen, ja letztlich als bereits vollzogene Ereignisse dargestellt werden. Durch die Prämediation werden diese Ereignisse als tatsächlich eintretende Ereignisse überhaupt erst denkbar und affektiv virulent. Die Logik der Prämediation schützt also genau genommen gegen das, was sie selbst erst denkbar und wahrscheinlich macht. Prämediation ist eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, wenngleich eine sehr spezielle. Der Clou an diesem Konzept ist: Ob die Berichterstattung sich für oder gegen eine mögliche Zukunft, etwa einen militärischen Eingriff, positioniert, um weitere Terroran‐ schläge zu unterbinden, ist letztlich irrelevant. Bereits die permanente Diskussion, die Bebilderung dieser möglichen Ereignisse, gekoppelt mit der Erinnerung an frühere er‐ schütternde Vorkommnisse, machen diese möglichen Ereignisse wahrscheinlicher. Der Effekt besteht darin, dass die Rezipient: innen bei dieser Art der Berichterstattung wie selbstverständlich die Existenz eines militärischen Einsatzes akzeptieren oder doch zu‐ mindest darüber nicht verwundert sind, weil der vorher denkwahrscheinlich gemacht und affektiv besetzt wurde. Selbst wenn die Anschläge auf das World Trade Center, wie in etliche YouTube-Videos zu bewundern, als Verschwörung der US-amerikanischen Regierung anhand der Fernsehbilder vermeintlich ‚enttarnt‘ werden können, trotz die‐ 390 4 Politische Medienikonografie <?page no="391"?> 511 Wird doch so zum einen letztlich jede nur erdenkliche kritische Berichterstattung a priori zum Agenten desjenigen, was kritisiert wird, was wiederum schnell in einen argumentativen Zirkel führen dürfte. Zum anderen ist die historische Zäsur, die Grusin für die Berichterstattung auf das Datum 11.09.2001 setzt, zu bezweifeln. Denn es gab auch schon sehr viel früher solche Zukunftsszenarien, verbunden mit ganz ähnlichen politischen Ausrichtungen [↓ ‚Wir waren immer schon auf dem Mond… ‘]. ser Art der Kritik an vermeintlichen US-amerikanischen Regierungsmachenschaften wird das Thema Terrorismus aufgegriffen und somit auf weitere militärische oder auch ökonomische Maßnahmen der US-Regierung vorbereitet. Diese werden so denkbar und wahrscheinlich gemacht. Obwohl die Verschwörungstheoretiker: innen mit solchen Videos massiv Kritik am deep state üben und so jegliche militärische Maßnahme als Ablenkungsmanöver geißeln, bleibt der Effekt doch derselbe wie bei einer affirma‐ tiven Berichterstattung, also einer Unterstützung vorgesehener US-amerikanischer Maßnahmen. Für beide Fälle gilt: Affektiv und kognitiv werden wir vorbereitet für eine militärische Intervention. Auch wenn dieses Konzept durchaus kritisiert werden kann, 511 so ist es doch unter anderem deshalb im Zusammenhang mit politischer Medienikonografie interessant, weil es erstens konkrete politische Strategien, mediale Logiken und Infrastruktur zusammendenkt. Zweitens: Unabhängig von der jeweiligen politischen Einstellung zu einer möglichen politischen Entscheidung wird letztere durch die affektiv besetzten Entwürfe bestimmte Zukunftsszenarien in der Berichterstattung wahrscheinlicher. Drittens sind hierbei Bilder ein wichtiger Bestandteil der affektiven Besetzung, etwa durch die Wiederholung einstürzender Türme oder der Evidenzerzeugung durch Karten, Diagramme, die die mögliche Zukunft veranschaulichen. Das soll an einigen Beispielen illustriert werden. - ‚Spreading the Disease‘: Mögliche Anthrax-Flugzeug-Zerstäuber-Zukunft Im Kontext der Diskussion um Interikonizität wurde darauf verwiesen, dass US-ame‐ rikanische Zeitungstitelseiten bei der Darstellung der Terroranschläge auf das World Trade Center 2001 immer wieder eine Analogie zu einem Ereignis suchten, die mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg zu tun hat, nämlich mit dem Angriff des japanischen Militärs auf Pearl Harbor, wo US-amerikanischen Truppen stationiert waren. Diese visuelle wie textuelle Analogisierung wurde unter Rückgriff auf Ausführungen von Clément Chéroux als Interikonizität zur Einstimmung und Legitimation eines kommenden Kriegseinsatzes beschrieben [↑ Kap. 3, Interikonizi‐ tät]. Diese rückwärtsgewandte Strategie zur Legitimation eines Kriegseinsatzes wurde seitens US-amerikanischen Regierung flankiert von einer in die Zukunft gerichtete Legitimation eines Krieges speziell gegen den Irak. Ein bis dato sehr populäres Ereignis ist in diesem Kontext der Auftritt des damaligen Außenministers Colin Powells vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003. Dort wollte Powell die Mitgliederstaaten 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 391 <?page no="392"?> 512 Vgl. dazu ausführlicher: David Zarefsky, Making the Case for War: Colin Powell at the United Nations, in: Rhetoric & Public Affairs, 10/ 2 (2007), S.-275-302. 513 Colin Powell, Address to the United Nations Security, deliverd 5.2.2002, in: American Rhetoric. Online Speech Bank, Online zugänglich unter: https: / / www.americanrhetoric.com/ speeches/ wariniraq/ coli npowellunsecuritycouncil.htm [16.12.21], Übersetzung von mir; SG. davon überzeugen, am Kriegsprojekt der USA mitzuwirken. 512 Powell hob in seiner Ansprache immer wieder ein kleines Fläschchen mit einem weißen Pülverchen in die Höhe, um zu verdeutlichen, was für eine verehrende Wirkung eine minimale Dosis des Milzbrand/ Anthrax-Erregers auslösen kann (vgl. Abb. 4.126a). Die Produktion eines solchen Erregers als biologische Waffe warf Powell dem Irak vor. Damit sollte der Einmarsch in den Irak legitimiert werden, um so den Einsatz und die weitere Produktion dieser biologischen Waffe verhindern zu können. Es ging dabei letztlich um den Nachweis, dass der Irak Massenvernichtungswaffen produziert und besitzt. Abb. 4.126a-b: Fläschchen- und Zerstäuber-Evidenz-Bilder Der damalige Außenminister führte auch viel Bildmaterial vor, insbesondere Satelliten‐ bilder, die zeigen sollten, dass im Irak tatsächlich Milzbranderreger produziert werden und wie diese eingesetzt werden könnten - eben als Massenvernichtungswaffe. Unter diesen Bildern findet sich beispielsweise eine reichlich unscharfe Videoaufnahme eines Flugzeuges, das etwas zu versprühen scheint (vgl. Abb. 2.126b). Powell kommentierte: „So hatte der Irak beispielsweise ein Programm zur Modifizierung von Flugzeugtanks für Mirage-Jets. Dieses Video eines irakischen Testflugs, das die UNSCOM vor einigen Jahren erhielt, zeigt einen irakischen F-1 Mirage-Jet. Beachten Sie den Sprühnebel, der unter der Mirage hervorkommt; das sind 2.000 Liter simulierten Milzbrands, die ein Jet versprüht.“ 513 392 4 Politische Medienikonografie <?page no="393"?> 514 Vgl.: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Sturm_auf_das_Kapitol_in_Washington_2021 [17.12.22]. Zu die‐ sem (Medien-)Ereignis und den damit einhergehenden Bildstrategien ‚vor Ort‘ vgl.: Charlotte Klonk, Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder, Köln 2022. Relevant ist in diesem Zusammenhang nicht so sehr, dass Powell hier eine recht spekulative Deutung einer undeutlichen Videoaufnahme offeriert. Interessanter ist, dass Powell Evidenz für eine mögliche Zukunft herstellen will: Aus dem vermeintlich ‚simulierten‘ Anthrax wird während der Präsentation ‚echtes‘ Anthrax, das gegen die ‚westliche‘ Welt zum Einsatz kommen wird. Hier wird also visuelles Dokumenta‐ tionsmaterial so gewendet, dass darauf nicht nur simuliertes Anthrax zu sehen sein soll, das von einem ‚Jet‘ versprüht wird, sondern weit mehr noch wird durch den Kommentar das präsentierte Video zu einer Simulation des zukünftiges Versprühens von echtem Anthrax. Pointierter formuliert: Von einer vermeintlichen Simulation aus einer recht unbestimmten Vergangenheit ‚vor ein paar Jahren‘ geht es über die visuelle Video-Präsenz (‚Beachten Sie! ‘) dieser Simulation zur möglichen, ja, wahrscheinlichen Zukunft. Auch wenn Powell für dieses Auftritt erhebliche Kritik erhielt und viele der UN-Staa‐ ten nicht mit in den Krieg zogen, unter anderem aufgrund schwacher Evidenzen, gilt dennoch im Sinne von Grusins: Powells Auftritt und die weitreichende mediale Berichterstattung hatten einen prämediatisierenden Effekt. Dass der Irak-Krieg bevor‐ steht, stattfinden wird, ja, wie in Powells Ansprache vorgeführt, eigentlich schon stattfindet, wird somit kognitiv und affektiv als Grundlage weiterer Wahrnehmung in der Präsentation Powells und vor allem mittels der permanenten Berichterstattung über Sinn und Unsinn einer solchen Invasion selbstverständlich(er). Es handelt sich um die affektive und kognitive Einübung in eine Zukunft, die in Powells Präsentation im Speziellen und der medialen Berichterstattung über einen möglichen Irakkrieg immer schon die Einschätzungen und Handlugen der Gegenwart als bereits geschehen zur Grundlage haben. Hier greifen sehr konkrete politische Interessen und die Infrastruk‐ tur medialer Berichterstattung, die sich immer wieder um die möglichen Auswirkungen eines Irakkrieges beschäftigten, wunderbar ineinander. - CNN prämediiert die Zukunft via Twitter Ein anderes Beispiel für Prämediation findet sich im Zusammenhang mit televisueller Katastrophenberichterstattung. Am 6. Januar 2021 wurde das Kapitol von Anhängern des gerade abgewählten Präsidenten Trump, ‚gestürmt‘. Bereits während sich diese Aktion ereignete, wurde sie als Sturm auf das Kapitol durch die massenmediale Berichterstattung tituliert und hat längst einen eigenen Wikipedia-Eintrag. 514 Wie viele andere Sender berichtet auch CNN live von den Ereignissen um und im Kapitol. Dabei waren aber nicht nur Bilder vor Ort zu sehen. Währenddessen wurde immer wieder auf Twitter-Nachrichten verwiesen, die vor weiteren Übergriffen warnten bzw. über mögliche weitere Szenarien in naher Zukunft spekulierten (vgl. Abb. 4.127). 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 393 <?page no="394"?> 515 Grusin, Premediation, S.-150. 516 Ebd., S.-153. Abb. 4.127: Mögliche Zukünfte auf Twitter in der CNN-Liveberichterstattung Grusin nennt so eine Art Berichterstattung treffend „Liveness der Zukunft“ 515 . Damit ist gemeint, dass während über ein Ereignis live berichtet wird, gleichzeitig und parallel dazu über mögliche Zukünfte spekuliert wird. Diese möglichen Zukünfte - und das ist wichtig - sind aus Sicht von Grusin nicht einfach nur apokalyptisch gefärbte Horrorszenarien zur Irritation, über die dann immer weiter spekuliert werden kann [↑ Die Überbietungslogik der Massenmedien; ↓ Das System Massenmedien…], sondern gleichzeitig Maßnahmen zur Einübung in zukünftige Zustände. Diese doppelte Dar‐ stellungslogik - CNN berichtet live vor Ort über den Sturm auf das Kapitol und simultan ‚live‘ über mögliche zukünftige Attacken - „beinhaltet“, so die Formulierung von Grusin, „nicht nur die Produktion zukünftiger Ungewissheit, sondern auch Gewissheit, nämlich die Gewissheit, dass die Zukunft bereits Vergangenheit geworden ist, dass die Zukunft in gewisser Weise bereits (oder bald) hinter uns liegt.“ 516 Solch eine Art der Berichterstattung ist nicht selbst per se politisch im engeren Sinn, aber kann dennoch politisch instrumentalisiert werden. Sollte es zutreffen, dass Politik soziale Handlungskoordination für die Zukunft ist [↑ Kap. 2, Politik], dann ist diese Art der Berichterstattung über die Zukunft besonders relevant. Denn so so wird Zukunft nicht mehr als etwas verstanden, in der unterschiedlichste Optionen wahrscheinlich sind oder ausgehandelt werden müssen. Stattdessen werden politische Handlungen und Entscheidungen auf Grundlage einer vermeintlich gewissen Zukunft vollzogen. Damit lassen sich Kriegseinsätze, Gesetzgebungen, Terrorbekämpfung oder, je nach Perspektive, auch weiterer Terror bestens legitimieren. - Corona-Prognosen Dies lässt sich auch auf die Corona-Krise beziehen (Stand: Ende 2021). So sind in der Berichterstattung dazu Unmengen an Diagrammen zu finden, die Prognosen für die Zukunft erstellen (vgl. bspw. Abb. 4.128) [↑ Diagramm als besonderer Bildtypus]. Hier‐ bei haben wir es mit zwei Prognose-Szenarien für Weihnachten 2020 zu tun. Die eine Kurve zeigt den angenommenen Verlauf, falls ‚wir‘ Kontaktbeschränkungen einhalten, 394 4 Politische Medienikonografie <?page no="395"?> die andere, rot eingefärbt, denjenigen Verlauf, falls ‚wir‘ die Kontaktbeschränkungen nicht einhalten. Abb. 4.128: Verlaufsprognosen und Handlungsimperative im Diagrammformat Bei dieser Grafik geht es nicht nur darum, dass der Appell darin besteht, möglichst die Kontaktbeschränkung einzuhalten. Eingezeichnet ist das recht deutlich durch den sehr fiel ‚natürlicheren‘ Verlauf der Kurve in die Zukunft bei Kontaktbeschränkung, fällt diese doch allmählich und stetig nach unten ab. Die andere Variante ist als Abweichung visualisiert: Eine rote Linie, die nach oben schnellt und beunruhigende Zacken schlägt. Darüber hinaus wird hier die Zukunft auf zwei Szenarien beschränkt, entweder der ‚Normalverlauf ‘ oder die ‚Abweichung‘, eine dritte Option ist nicht eingezeichnet. Solch eine diagrammatische Bildgebung hat somit eben nicht nur abbildenden Charakter, sondern produziert Gewissheit über die Zukunft. Es wird genau eine Normalität für die Zukunft produziert und genau eine Abweichung. Halten wir uns an die Kontaktbeschränkungen, dann sind wir auf der sicheren Seite. Das ist Einübung in Gewissheit über die Zukunft in Diagrammform. Überhaupt bieten die Prognose-Darstellungen im Zeitalter von Corona allerorten wunderbares Exemplifikationsmaterial für Grusins These. Um hier nur noch ein 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 395 <?page no="396"?> Beispiel dafür anzuführen: Auf der GMX-Eingangsseite fand sich am 15.12.2021 ein Videobeitrag über die neusten Verfahren der Prognoseerstellung (vgl. Abb. 4.129a-b). Mit bunten Animationsbildern wird uns zu Beginn gezeigt, wie der in Rot gehaltene Virus eindringt und sich verbreitet. In diesem Szenario ist der mit blauen Stäbchen gezeichnete prognostizierte Verlauf noch unstet (vgl. Abb. 4.129a). Schnell wird aber das Szenario verändert, als der begleitende Text versichert, dass die „Prognose-Modelle“ im Laufe der Zeit „immer raffinierter geworden“ sind. Hier sind die blauen Stäbchen in Reih und Glied geordnet. Abb. 4.129a-b: Neue Prognosemethoden werden grafisch dargestellt Weitere Bildsequenzen des Videos zeigen im Anschluss daran mathematische Formeln, die uns auf schwarzem Hintergrund entgegenfliegen und beispielsweise auch - in diesem Kontext durchaus verwirrend - die Formel von Einsteins Relativitätstheorie zeigen (vgl. Abb. 4.129b). Versichert wird uns währenddessen schriftlich: „Hinter dem Ganzen [den neuen Prognose-Modellen; SG] steckt ein umfangreiches Formelwerk […] mit vielen Variablen und Rückkopplungen.“ Animation und Text sind auf Versicherung angelegt, einerseits dass die Programmierer: innen für angemessene Zukunftsaussagen sorgen und zwar durch die Nutzung vieler ‚Variablen und Rückkopplungen‘ als Rechengrundlage; anderseits ist mit den Formeln und dem Ausdruck ‚Rückkopplung‘ darauf verwiesen, dass Algorithmen nunmehr auf dieser Grundalge geeignete Akteure sind, selbstständig (‚Rückkopplung‘) und das heißt mit Hilfe von KI belastbare Zu‐ kunftsdaten zu generieren, an denen wir uns orientieren können sollen. Hier wird also ebenfalls Sicherheit für die Zukunft suggeriert und die Verantwortung für die Zukunft an Programmierer und letztlich algorithmische Programme delegiert [↑ (3) Politik der Algorithmen]. Das muss nicht unbedingt einer politischen Agenda folgen. Doch könnte es zum einen politisch instrumentalisiert werden, aus Prognosen werden dann normative Konsequenzen gezogen. Zum anderen könnte man im Hinblick auf solch einen Videobeitrag durchaus argumentieren, dass dabei suggeriert wird: die Algorithmen 396 4 Politische Medienikonografie <?page no="397"?> 517 Vgl. dazu: James L. Kauffman, Selling Outer Space. Kennedy, the Media, and the Funding for Project Apollo, 1961-1963, Tuscaloosa/ London 1994. 518 Vgl. mit vielen visuellen Beispielen: David Meerman Scott/ Richard Jurek, Marketing the Moon. The Selling of the Apollo Lunar Program, Cambridge u. a. 2014; vgl. auch: Piers Bizony, The Art of NASA: The Illustrations That Sold the Missions, Beverly 2020. übernehmen letztlich das Kommando und stellen eine Zukunftssicherheit her, die wir sonst von keinem anderen Akteur erhalten können. Pointiert formuliert: An die Algorithmen wird die politische Entscheidungsbefugnis delegiert - zumindest wird ihnen eine zentrale Rolle bei der Einschätzung der virologischen Lage zugesprochen, auf deren Grundlage politische Entscheidungen gefällt werden. - ‚Wir waren schon immer auf dem Mond! ‘ Historische Prämediation Nach Grusin findet in der medialen Infrastruktur insbesondere im Kontext des US-ame‐ rikanischer Mediensystems eine radikale Zäsur mit und seit der Berichterstattung zu 9/ 11 statt [↑ Prämediation]. Dieses Ereignis soll so unwahrscheinlich, so irritierend gewesen sein, dass das Medienberichterstattungssystem von der Suche nach Außerge‐ wöhnlichem, Neuem, Irritierenden umgestellt haben soll auf Einübung und Herstellung von Gewissheiten für die Zukunft durch deren wiederholte Thematisierung und Insze‐ nierung [↑ Die Überbietungslogik der Massenmedien]. Wie auch immer man zu dieser Zäsur-These stehen mag, es lässt sich zumindest zeigen, dass sich sehr viel frühere Beispiele von Prämediation in der massenmedialen Berichterstattung finden lassen. Eines der eindrücklichsten Beispiele dafür bieten die erste bemannte Mondlandung im Jahr 1969. Nahezu global konnten die ersten Schritte des US-amerikanischen Astronauten Neil Armstrong am Fernsehen verfolgt werden. Anfang der 1960er-Jahre rief der damalige Präsident John F. Kennedy die Losung aus, dass die USA noch ‚in dieser Dekade‘ einen Menschen zum Mond bringen werde. 517 Im Kontext des Kalten Krieges war dies unter anderem ein Projekt, dem ‚Systemgegner‘ Sowjetunion, der Anfang der 1960er-Jahre als die führende Weltraumnation galt - 1961 wurde mit dem russischen Kosmonaut Juri Gagarin der erste Mensch ins All geschickt -, der eigenen Bevölkerung und der ganzen Welt zu zeigen, welche Nation ‚eigentlich‘ die technologische Vorherrschaft besitzt. Die bemannte Mondlandung war zuvorderst ein politisches Prestigeprojekt, auf das die Öffentlichkeit überzeugt und ‚eingestimmt‘ werden musste, allein schon aufgrund der immensen Kosten, die dieses Unternehmen verschlang. Dementsprechend initiierte die eigens für diesen Zweck gegründete zivile Raumfahrtbehörde NASA einen großen Werbefeldzug, den man, wie in einem Buchtitel nachzulesen, mit den Worten „Marketing the Moon. The Selling of the Apollo Lunar Program“ recht genau beschreiben kann. 518 Diese Öffentlichkeitsarbeit hatte zentral mit Visualisierungen zukünftiger Ereignisse, insbesondere eben der ersten bemannten Mondlandung zu tun. In Animationen, Grafiken, Diagrammen wurden in immer neuen Varianten die erste bemannten Mondlandung in Szene gesetzt - und somit im Sinne Grusins wieder und wieder vorweggenommen (vgl. bspw. Abb. 4.130a). 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 397 <?page no="398"?> 519 Vgl. dazu ausführlicher und zum Folgenden: Sven Grampp, Picture Space Race. Zukunftsvisionen in Ost und West am Beispiel von Disneys Tomorrowland (USA 1955-1956) und Der Weg zu den Sternen (UdSSR 1957), Berlin 2014. Abb. 4.130a-e: Inszenierungen der Zukunft auf dem Mond Indes waren weder die US-amerikanische Regierung noch die NASA die einzigen wich‐ tigen Agenten des Mondlande-Projektes. Zu denken ist etwa ebenso an Walt Disney. 519 Dieser stand Mitte der 1950er-Jahre kurz davor, den ersten Disneyland-Park in Ana‐ heim, Kalifornien zu eröffnen. Um Geld für dieses ambitionierte Projekt zu sammeln, produzierte Disney die Serie Disneyland für die Fernsehanstalt ABC. Das Programm der Serie war strukturiert um die vier zentralen Themen des Parks: Adventureland, Frontierland, Fantasyland und Tomorrowland. Letztere wurde wichtig für Episoden, die nahe Zukünfte in Szene setzten, insbesondere solche, die im Weltraum spielten und im Zuge dessen Menschen zum Mond geschickt wurden. Unter Mitarbeit von Wissenschaftler: innen und Ingenieur: innen, etwa Wernher von Braun, der späterhin verantwortlich sein sollte für die Konstruktion der Saturn V-Rakete, mit der die ersten Menschen zum Mond flogen, wurde die sogenannten Man in Space Series produziert und zwischen 1955 bis 1957 auf ABC mit hohen Einschaltquoten ausgestrahlt. Im Themenpark Tomorrowland war ohnehin alles auf Weltraumszenarien ausgelegt. Größte Attraktion in diesem Teil des Disneyland-Parks war für die Besucher: innen bis 1975 eine simulierte Reise zum Mond. In der Episode Man and the Moon erläutert Walt Disney den Fernsehzuschauer: innen anhand von Fotografien und Modellen Aufbau und Funktionsweise dieser Reise zum Mond mit dem sogenannten Moonliner (vgl. Abb. 4.130b), den man ein paar Monate später tatsächlich im Disneyland-Park besichtigen und vor allem erleben konnte. Wichtig ist daran in vorliegendem Kontext: 398 4 Politische Medienikonografie <?page no="399"?> 520 Lorenz Engell, Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung, in: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 5 (1996), S.-129-153, hier: S.-144. 521 Vgl.: Grusin, Premediation, S.-153. Unabhängig und vor den Bestrebungen der NASA und Kennedys gibt es einen zentralen Akteur, der wie kaum jemand anderes die populärkulturelle Imagination möglicher Weltraummissionen in den 1950er-Jahren mit solchen Serien und seinem Themenpark befeuerte. In letzterem konnten die Besucher: innen sogar bereits selbst die Zukunft probeweise besuchen; konnten diese doch mit der Moonliner-Simulation bequem zum Mond reisen. Ein weiterer Strang der Einübung in Weltraumflüge findet sich im Kontext von Science-Fiction-Filmen. Der bis dato populärste dürfte 2001: A Space Odysee von Stanley Kubrick sein, der einige Monate vor der ersten bemannten Mondladung in die Kinos kam. Im Film selbst ist der Flug zum Mond bereits eine gängige Reiseroute, die durch die Fluggesellschaft PanAm professionell organisiert wird. Jedenfalls ist bereits auf einem der damaligen Kinoplakaten der Mond von Astronauten bevölkert, die den Mond untersuchen und vermessen (vgl. Abb. 4.130c). Und auch kurz vor der tatsächlichen Mondlandung lässt sich die Logik der Prä‐ mediation beobachten, ja, dort wurde sie forciert. Viele Fernsehsender dieser Welt starteten den Countdown zur Liveübertragung der ersten Schritte auf dem Mond Tage, ja Wochen vor der eigentlichen Übertragung. So sah man etwa in der ARD wieder und wieder Nachstellungen der Landung in Form von Modellen, Diagrammen oder Animationsfilmen. Die ARD leistet sich sogar einen Nachbau des Apollo-Landemoduls und zeigte daran, wie der Ausstieg von statten gehen würde (vgl. Abb. 4.130d-e). Diese Inszenierungen sind besonders anschauliche Formen der Prämediationen. Die Fernsehzuschauer: innen wurden wieder und wieder anhand unterschiedlicher Bildty‐ pen auf die anstehende Mondlandung vorbereitet. Ja, im Sinne Grusins könnte man sogar formulieren: Die Mondlandung wurde vorweggenommen, während man in der Liveberichterstattung auf die tatsächliche Mondlandung wartete. Oder wie der Medienphilosoph Lorenz Engell schreibt: Das Publikum war auf deren „nicht nur wahrscheinlichen, sondern so gut wie sicheren Verlauf eingestellt worden.“ 520 Auch hier zeigt sich in einem sehr konkreten Sinne die Doppelbewegung, die Grusin generell der Infrastruktur massenmedialer Berichterstattung seit 9/ 11 zuschreibt, nämlich die ‚Produktion zukünftiger Ungewissheit‘ - etwas Unvorhergesehenes könnt ja immer noch geschehen, womit eine gewisse (Rest-)Spannung und Faszination trotz aller Vorwegnahme aufrecht gehalten wird - sowie und vor allem die ‚Produktion zukünftiger Gewissheit‘, dass die ‚Zukunft bereits zur Vergangenheit geworden ist‘ 521 - nur, dass diese Doppelbewegung in diesem Fall knapp 30 Jahre vor dem 11. September 2001 vollzogen wurde. Am Beispiel der Berichterstattung über die erste bemannte Mondlandung zeigt sich aber nicht nur, dass Grusins historische Zäsur des Berichterstattungsmodus vor und nach 9/ 11 kritisch begegnet werden kann. Darüber hinaus lässt sich an der 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 399 <?page no="400"?> 522 Vgl. dazu: Luhmann, Realität der Massenmedien; als knappe Einführung dazu: Grampp, Medienwis‐ senschaft, S.-206ff. 523 Vgl. dazu: Grusin, Premediation, S.-50ff. 524 Vgl.: ebd., S.-153. Rekonstruktion der Prämediation der ersten bemannten Mondlandung ablesen, dass es beim Konzept der Prämediation nicht darum geht, einem Akteur, einer politischen Institution monokausal die Macht zuzuschreiben, Entwicklungen zu bestimmen. Viel‐ mehr handelt es sich um vielerlei Akteure, mit sehr unterschiedlichen Interessen und aus sehr unterschiedlichen Sphären. Die mediale Berichterstattung war eben nicht direkt beeinflusst von der US-amerikanischen Regierung, hatte keine direkt Absprache mit Stanley Kubrick, ein paar Monate vor der ersten bemannten Mondlandung einen vielbeachteten Science-Fiction-Film in die Kinos zu bringen. Ebenso wenig gab es mit Walt Disney eine Vereinbarung, er solle eine Fernsehserie zu Weltraummissionen produzieren und im Disneyland-Park 15 Jahre vor der ersten bemannten Mondlan‐ dung tagtäglich Mondreisen für seine Gäste zu arrangieren. Viel plausibler ist es, dass sich unterschiedliche Akteure mit ihren unterschiedlichen Interessen, ihren unterschiedlichen Infrastrukturen mehr oder minder zufällig ineinanderfügen und zu einem Netzwerk verbinden, das die Mondlandung wieder und wieder prämediiert und auf dieses Ereignis vorbereitet. Dass solch eine Konstellation strategisch genutzt werden kann, um eine bestimmte politische Agenda durchzusetzen, ist durch diese Perspektivierung nicht ausgeschlossen; solche eine politische Agenda ist aber eben nicht der einzige, in vielen Fällen nicht einmal der entscheidende Grund dafür, dass die Öffentlichkeit kognitiv und affektiv erfolgreich auf ein bestimmtes Ereignis vorbereitet wird. Das System Massenmedien: Luhmann mit Grusin Es wäre interessant, Grusins Prämediation-Konzept mit Niklas Luhmanns Ausfüh‐ rungen zum System Massenmedien abzugleichen. 522 Luhmann geht davon aus, dass die zentrale Funktion dieses Systems in der Herstellung von Irritation und Unsicherheit für die Zukunft besteht [↑ Die Überbietungslogik der Massenmedien]. Grusin scheint erst einmal vom Gegenteil auszugehen. Seit 9/ 11 besteht so gesehen das System Massenmedien in der Herstellung von Beruhigung und Gewissheit hinsichtlich der Zukunft. Beides kann gleichzeitig ja nicht stimmen. Grusin selbst aber äußert sich hier genau besehen zurückhaltender, gerade in den Passagen, in denen er selbst kurz auf Luhmann eingeht. 523 Dementsprechend schreibt er, es gibt nicht nur Produktion von Gewissheit, sondern immer auch noch die Produktion von Ungewissheit. 524 Grusin verfolgt diese von ihm selbst konstatierten widerstrebenden Tendenzen nicht näher. Vielleicht ließe sich diese Beobachtung zu einem komplexen oder gar widersprüchlichen Funktionsgefüge des Systems Massenmedien entwickeln, 400 4 Politische Medienikonografie <?page no="401"?> 525 Vgl. bspw.: Grusin, Donald Trumps; ders., ‚Once more with feeling‘. Trump, premediation, and 21st-century terrorism, in: Vanesa Ossa u. a. (Hg.), Threat Communication and the US Order after 9/ 11, London 2020, S.-176-189. 526 Grusin, Donald Trumps, S.-32f. die einerseits Luhmanns Funktionszuweisung bereichert, anderseits Grusins his‐ torische Zäsur relativieren könnte. Da es hier aber um konkrete Analysezugriffe im Kontext politischer Medienikonografie geht, würde solch eine Reflexionsarbeit jedoch zu weit weg vom eigentlichen Thema führen. - Trumps Präsidentschaft vor der Präsidentschaft Grusin veranschaulicht sein Konzept der Prämediation nicht nur anhand der Zäsur der Berichterstattung über 9/ 11. In diversen Texten thematisiert er ebenfalls den Aufstieg von Donald Trump zum Präsidenten der USA. 525 Sein Ausgangspunkt sind dabei nicht sozio-ökonomische Faktoren, etwa die Angst der ‚Weißen‘ vor sozialem und ökomischem Abstieg, Ängste vor Einwanderung, auch nicht zuvorderst die radikale Rhetorik Trumps gegen die politische Klasse oder die perfide Wahlkampfmanipulation durch Bots oder Fake News. Entscheidender ist Grusin zufolge eben die Logik der Prämediation, die in diesem Fall besonders virulent geworden sein soll. Grusin formu‐ liert das selbst sehr klar und anschaulich, darum sei eine längere Passage aus einem seiner Texte zu Trump zitiert. Maßgebliche Gründe für Trumps Aufstieg sind, „die Art und Weise, wie in der Walkampagne Printerzeugnisse, Fernsehen und soziale Medien zu einer Waffe wurden, um die kollektive nationale Stimmung oder das Gefühl zu erzeugen, dass die Präsidentschaft Trumps eine legitime, mögliche und für viele auch wünschenswerte und unvermeidliche Zukunft darstellen könnte. Diese Medien sorgen nicht nur dafür, dass wir mit nicht enden wollenden Berichten über Trumps Politik und seinen Positionen versorgt wurden - viel entscheidender ist, dass sie die Präsi‐ dentschaft Trumps ‚prämediatisiert‘, also medial vorweggenommen haben. Gerade die materielle und körperliche affektive Wirkung, die die Berichterstattung durch ihrer wiederholten Spekulationen darüber auslöste, wie eine Präsidentschaft Trumps denn aussehen könnte, war so mächtig, dass sogar die Mehrheit der Wähler: innen, die Trump nicht wählten, eine Ahnung von dem möglichen Eintritt dieses Ereignisses beschlich - und das, obwohl sich die politische Berichterstattung in Zeitungen, Fernsehen und sozialen Netzwerken meist ausdrücklich gegen die Präsidentschaft Trumps aussprach. Durch ihre kontinuierliche Prämediatiserung der Nominierung und Wahl Trumps trugen die offiziellen und inoffiziellen Kanäle der sozialen Medien dazu bei, die Existenz eines Präsidenten Trumps zu erzeugen, nicht zuletzt deswegen, weil sie so taten, als sei er im Fernsehen bereits Präsident.“ 526 Trump, so lässt sich das Argument zusammenfassen, ist nicht Präsident geworden durch eine verändertere politische Stimmung in den USA oder primär durch heraus‐ 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 401 <?page no="402"?> 527 Vgl. für die biografischen und medienhistorischen Hintergründe, Trumps Prägung durch das Fernsehen sowie Trump als Ausdruck US-amerikanischer Mediengeschichte: James Poniewozik, Audience of One. Donald Trump, Television and the Fracturing of America, New York 2019. 528 Vgl. dazu ausführlicher: Dominik Maeder, Die Regierung der Kontingenz. Zur Prämediation präsi‐ daler (Entscheidungs-)Macht in The Apprentice, in: (Hg.), Trump und das Fernsehen, S.-51-82. ragend engagierte, besonders auf Tabuverletzung zielende Unterstützer: innen, die in den sozialen Medien aktiv sind. Trump ist vielmehr Präsident geworden aufgrund der Berichterstattung, die permanent über sein mögliches Präsident-Sein spekulierte, Szenarien einer solchen Präsidentschaft ausmalte und bebilderte - unabhängig davon, ob es als wünschenswert kommuniziert oder kritisiert wurde, ob man es feierte oder sich darüber lustig machte, ob die mediale Berichterstattung die Fehler und Lügen Trumps akribisch auflistete oder darüber geschrieben wurde, dass die viele mediale Berichterstattung über Trump, einen Präsidenten Trump zuallererst möglich machen könnte. - Präsidentschaftswahlkampf und ‚böse Mediation‘ Grusin analysiert in dem Text Donald Trumps ‚evil mediation‘ exemplarisch die ersten 100 Tage des Präsidentschaftswahlkampf Trumps und skizziert dabei Trumps Übergang vom Status eines Immobilienmaklers, der als solcher in der Fernsehserie The Apprentice als Gastgeber auftritt, um in Wettbewerbsspielen potenzielle Auszubildende zu rekurrieren und vor allem Teilnehmer: innen zu feuern, zum Präsidenten, der dieses Amt wie ein Immobilienmakler aus der eigenen Show handhaben wird. 527 Diese Charakterisierungen - ‚Showmaster‘ einer ‚Realtiy Show‘, ‚Immobilienhai‘ - wurden in der Berichterstattung auch aufgenommen, kaum überraschend in sehr vielen Fällen in kritischer Weise. Dort wurde immer wieder - eben auch schon lange vor der Präsidentschaft Trumps - darauf verwiesen - wie es wohl aussehen würde, wenn Trump Präsident wäre. Die Auftritte Trumps in The Apprentice, seine Gesten und Sprüche wurden hierfür ins Weiße Haus transferiert, zumeist mit satirischer oder zumindest ironisierender Absicht. 528 So findet sich ein Meme noch vor der Präsidentschaft, das Trump im Weißen Haus zeigt, grafisch übernommen von einem The Apprentice-Werbebanner (vgl. Abb. 4.131a- b). Auch eine der bekanntesten Sprüche und Gesten von Trump aus der Fernsehserie, der erhobene Zeigefinger und die Aussage „You’re fired“ wird im Präsidentschaftswahl‐ kampf aufgegriffen [↑ Konventionalisierung visueller Merkmale] und zu einem Meme geformt, das die Performanz Trumps auf seine damalige Konkurrentin um das Amt des Präsidenten, nämlich Hillary Clinton, wendet (vgl. Abb. 4.131c-d). 402 4 Politische Medienikonografie <?page no="403"?> 529 524 Vgl. Jermey Gordon, Is Everthing Wrestling? , in: New York Times, 27.05.2016, Online zugänglich unter: https: / / www.nytimes.com/ 2016/ 05/ 27/ magazine/ is-everything-wrestling.html [15.12.22]. 530 Vgl. zum Zusammenhang von Trump und Wrestling knapp: ebd., S.-72ff. Abb. 4.131a-d: Trump als Präsident vor seiner Präsidentschaft Auch in der sogenannten Qualitätspresse fanden sich immer wieder Spekulationen über Trumps mögliche Präsidentschaft. Einige Tage vor der Wahl erschien beispiels‐ weise in der New York Times ein Artikel über Trump, der diesen nicht nur unter den inszenatorischen Prämissen des Wrestling, die damit in Zusammenhang stehenden po‐ lemische Sprüche der Kombattanten, deren martialische Performanz, die Fake-Realität der Kämpfe, kritisch beschreibt und mit einem Bild von Trump im Wrestling-Ring einrahmt (vgl. Abb. 4.132a). 529 Weiterhin wird darin darüber spekuliert, wie Trump - ein bekennender Fan des und Teilzeitteilnehmer beim Wrestling  530 - die Grundlagen und Ideologeme des Wrestling ins Weiße Haus tragen könnte und wie sich dann die US-amerikanische Politik verändern würde. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 403 <?page no="404"?> 531 526 Vgl. Martin Hoffmann, Der Wrestling-Präsident, in: Zeit Online, 08.12.2016, Online zugänglich: https: / / www.zeit.de/ sport/ 2016-12/ donald-trump-wrestling-linda-mc-mahon [15.12.22]. Abb. 4.132a-b: Trump als Wrestling-Präsident - einmal vor und einmal nach seiner faktischen Wahl zum Präsidenten Einige Tage nach der Wahl Trumps wird das Thema mit demselben Erklärungsmuster erneut aufgegriffen, und zwar diesmal in Die Zeit. Der Artikel trägt den nunmehr nicht mehr prämediierenden Titel „Der Wrestling-Präsident“ und ist ebenfalls von einem Bild Trumps im Wrestling-Ring gerahmt. 531 Im Großen und Ganzen sind diese Artikel sehr ähnlich, haben dieselbe kritische Stoßrichtung, erklären Trump und seinen Erfolg ähnlich, haben dasselbe Bildmotiv. Nur ist der eine Artikel vor der Wahl veröffentlicht worden und der andere nach der Wahl Trumps zum Präsidenten. Es scheint also in diesem Fall gar keinen (entscheidenden) Unterschied zu machen, ob Trump nun Präsident ist oder nicht, möglicherweise Präsident sein könnte oder faktisch ins Weiße Haus einzieht. Der New York Times-Artikel, so könnte man das retrospektiv lesen, hat Trump bereits als Präsident vor seiner tatsächlichen Präsidentschaft porträtiert. Der Artikel hätte auch (mit minimalen Änderungen) nach der Präsidentschaft geschrieben und veröffentlicht werden können, was wiederum der ganz ähnliche Artikel der Zeit deutlich macht, der tatsächlich erst nach der Wahl Trumps geschrieben und veröffentlicht wurde. Ganz im Sinne Grusins könnte man hier formulieren: Die New York Times trug dazu bei, die Existenz eines Präsidenten Trumps zu erzeugen, weil sie so tat, als sei Trump bereits Präsident. 404 4 Politische Medienikonografie <?page no="405"?> 532 Vgl. bspw.: Abby Ohlheiser, „We actually elected a meme as president“: How 4chan celebrated Trump’s victory, in: The Washington Post, 09.11.2016, o.S. 533 Vgl. dazu bspw.: Wentz, Krieg der Trolle, S.-142ff. 534 Übersetzung von mir; SG. „We actually elected a meme as president“ Die Präsidentschaft Trumps wird immer wieder in Zusammenhang gebracht mit Aktionen, die von der digitalen Plattform 4inch ausgehen, so etwa viele Meme-Kam‐ panien. Retrospektiv ist in Analysen dazu häufig ein Zitat zu lesen, dass ein User anonym auf 4inch kurz nach der Wahl von Trump gepostet hatte, nämlich: „Wir haben tatsächlich ein Meme zum Präsidenten gewählt“. 532 Interessanter als die Frage, ob das eine angemessene Selbstbeschreibung darstellt oder doch nur eine maßloses Selbst‐ überschätzung, ob Trump tatsächlich Merkmale eines Memes aufweist oder nicht, ist im Zusammenhang mit der Prämediation weniger wichtig, als die Beobachtung, dass in den Foren von 4inch und ihren Memes Trump häufig schon vor der Wahl als Präsident dargestellt und gefeiert wurde. So postete ein anonymer User mit einem Profilbild der Cartoon-Figur Pepe, der Frosch - eine Figur, die von Usern der 4inch-Plattform für rechtspopulistische Posts und Memes angeeignet wurde und immer wieder im Kontext von Memes mit Trump vorkommt 533 - einige Tage vor der Präsidentschafts‐ wahl (vgl. Abb. 4.133a): „Wir haben es verdammt noch mal geschafft / Wir haben es tatsächlich verdammt noch mal geschafft / Wir haben einen Präsidenten ins Weißes Haus befördert.“ 534 Hier wird also gepostet, dass Trump im Weißen Haus ist noch vor der eigentlichen Wahl, wohl nicht zuletzt zur Selbstaffizierung und Antrieb für weitere Aktionen. Jedenfalls wird hier eine mögliche Zukunft als schon eingetreten beschrieben. Abb. 4.133a-b: Pepe, der Frosch als Wahrsager auf 4inch und Trumps Twitter-Account 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 405 <?page no="406"?> 535 Grusin, Premedation, S.-34. 536 Ebd., S.-35. 537 Vgl.: Grusin, Donald Trumps. 538 Grusin, Premedation, S.-35. Trump selbst übernahm auf seinem Twitter-Account während des Walkampfes ein Meme, das Trump als Pepe, den Frosch zeigt und ursprünglich von einem 4inch-Account stammt (vgl. Abb. 4.133b). Trump ist hier nicht nur schon vor der eigentlichen Präsidentschaft zum Präsidenten gemacht; Trump selbst kürt sich dazu auf seinem Twitter-Account. Und selbstverständlich wurde über diesen vorgezogenen Inaugurati‐ ons-Akt viel berichtet - zumeist in satirisch-kritischer Art. - ‚Böse Medien‘ Laut Grusin trifft bei den populistischen Kampagnen für Trump das Ziel der Zerset‐ zung des traditionellen politischen Diskurses und Demokratieverständnisses auf eine mediale Infrastruktur, die sich bestens für solch eine Kampagne durch ihre Ausrichtung auf die Prämediaton eignet. Wichtig ist, dass es Grusin nicht um einzelne Inhalte und Berichte der Medien geht, sondern eben um die „Funktionsweise“ 535 und „Handlungskraft“ 536 dieser medialen Infrastruktur, die Grusin - der generell pointenreich formuliert - ein Ensemble ‚böser Medien‘ bzw. den darin sich vollziehenden Prozess ‚böse Mediatisierung‘ nennt. 537 ‚Böse‘ soll indes nicht bedeuteten, dass die Akteur: innen dieser Infrastruktur dezidiert intentional politische Ziele, etwa rassistischer oder anti-feministischer Natur, verfol‐ gen. Unabhängig davon ist, so Grusin, „eine zerstörerische Handlungskraft […] in den Medien selbst verankert“. 538 ‚Eine zerstörerischer Handlungskraft‘ bedeutet hier: Me‐ dien folgen der weiter oben beschriebenen Aufmerksamkeitsökonomie und den damit verbundenen kurzen Aufmerksamkeitsspannen [↑ Strategien der Aufmerksamkeit], die sie anfällig machen nicht nur für Verkürzungen, Polemik, Tabubruch, sondern ebenso für endlose Spekulation über Skandale, Gerüchte oder eben zukünftige Szenarien. Nach Grusin ist dafür bereits das Fernsehen ein geeignetes Medium; die Infrastruktur der sozialen Medien potenziert diese Ausrichtung noch einmal immens. - Prämediation: Vom theoretischen Höhenflug zur konkreten Analysehinsicht Ob tatsächlich eine zerstörerische Handlungskraft im Herz der Medien selbst schlägt, genauer: ob eine solche einer spezifischen medialen Infrastruktur inhärent ist, scheint mir fraglich. Das ist allein schon deshalb unplausibel, weil es wohl die Infrastruktur der Massenmedien nicht gibt - und schon gar nicht die sozialen Medien, sondern nur ein heterogenes Gemengelage medialer Operationen und eine hochgradige dynamische Infrastruktur oder sich überlagernde Infrastrukturen und deren unterschiedliche Nut‐ zung und Operationen [↑ Das Dispositiv gibt es nicht! ; ↑ Die digitale Infrastruktur gibt es nicht! ]. Ich würde sogar so weit gehen wollen und behaupten, dass Grusins 406 4 Politische Medienikonografie <?page no="407"?> Prämediation-Konzept sich sehr viel besser zur Analyse von konkreten Situationen und Ereignissen eignet, in denen politische Akteure strategisch aktiv werden, um massenmediale Berichterstattung und/ oder soziale Medien zu affizieren, als zur Aus‐ formulierung universeller Spekulationen über Mediensysteme und ihren prinzipiellen Wandelungen. Grusin zeigt das meines Erachtens selbst sehr schön, wenn er die Berichterstattung nach 9/ 11 untersucht, die im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf den Irak-Krieg steht oder auch seine Untersuchungen zu Trumps Präsidentschafts‐ wahlkampf. Hier verdichten sich jeweils politische Interessen, bestimmte infrastruk‐ turelle Gegebenheiten und Darstellungskonventionen und -logiken sehr konkret, auch und gerade in ihrer Heterogenität. - Prämediation und/ als politische Medienikonografie Diverse Aspekte an Grusins Überlegungen sind fruchtbar zu machen für eine politische Medienikonografie (vgl. Abb. 4.134): Prämediation Ziel Gewissheit der Zukunft I Zukunft als Vergangenheit Strategie affizierend auf einem konstant niedrigen Angstlevel Akteure heterogenes Ensemble mit unterschiedlichen Interessen in einem dynamischen Netzwerk Bedingungsverhältnisse mediale Infrastrukturen ermöglichen bestimmte politische Strategien I politische Strategien stabilisieren spezifische mediale Infrastrukturen Abb. 4.134: Facetten der Prämediation nach Grusin (1) Bei Grusin ist immer eine Kopplung von dezidiert politischen Absichten und Strategien mit der medialen Infrastruktur zu finden, sei es die Strategie der US-ame‐ rikanischen Regierung einen Militäreinsatz nach 9/ 11 zu legitimieren, sei es, die Präsidentschaft von Donald Trump denkbar zu machen. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 407 <?page no="408"?> 539 Julia Stephan, Zukunft: Die Simpsons sagten die Präsidentschaft von Trump voraus, in: Tagblatt, 28.12.17, Online zugänglich unter: https: / / www.tagblatt.ch/ panorama/ zukunft-die-simpsons-sagten -die-praesidentschaft-von-trump-voraus-ld.931301 [15.01.22]; Tina Nguyen, This Television Show Predicted Donald Trump … in 1958, in: Vanity Fair, 09.02.17, Online zugänglich unter: https: / / www .vanityfair.com/ news/ 2017/ 02/ tv-show-predicts-donald-trump [15.01.22]. (2) Dabei geht es nicht um eine ‚Memefizierung‘ der Welt oder um eine mediale Überbietungslogik, die den Blick auf politische Phänomene lenkt [↑ (3) Potenziere! ; ↑ Meme als Schlagbild]. Vielmehr fokussiert die Prämediation auf medial generierte Zukunftsszenarien, die dadurch als möglich und letztlich akzeptabel erscheinen. (3) Diese Szenarien sind hochgradig affektiv aufgeladen, indem sie, egal ob kri‐ tisch-warnend oder euphorisch-begrüßend, permanent ein niedriges Niveau an Angst oder zumindest Aufregung verbreiten. Dafür noch einmal zurück zur Berichterstattung über Trump: Dort wurde er vor allem kritisch, abfällig, satirisch beschrieben, als durch und durch lächerliche Figur, als Politik-Clown. Dennoch oder genauer - im Sinne Grusins - deswegen wurde die Präsidentschaft Trumps immer denkbarer, da das Thema permanent affektiv wie diskursiv virulent gehalten wurde. (4) Grusins Argumentation greift auf die Ebene hinter und zwischen die medialen Darstellungen zurück. Denn Grusin untersucht einerseits die Funktionslogik medialer Infrastrukturen, anderseits die diskursiven Regeln von Bild und Textproduktionen, die eben nur im Verhältnis vieler medialer Darstellungen und ihrer Zirkulationslogik zu finden ist. (5) Mit diesem Ansatz können nichtsdestotrotz konkrete Bildanalysen und über‐ greifende Strukturen wie Funktionen medialer Berichterstattungen ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, da die einzelnen Darstellungen selbst mehr oder minder deutlich Spuren der Prämediation aufweisen. Hierfür scheint mir indes die Annahme einer universell um sich greifenden Infrastruktur der Medien zu weit gefasst, empirisch unplausibel und letztlich eigentlich auch gar nicht nötig für die Untersuchung der Funktionsweise politischer Bilder in diversen Infrastrukturen. (6) Die Rolle der medialen Infrastruktur wird dabei nicht so verstanden, dass sie selbst einfach irgendwie einer politischen Agenda folgt - sie muss es zumindest nicht -, aber doch für bestimmte politische Strategien empfänglich oder affin ist, wie Grusin selbst am Beispiel von Trump und dem Irak-Krieg zeigt. (7) Wie insbesondere am Beispiel der Berichterstattung über die erste bemannte Mondlandung ausgeführt wurde, sind sehr unterschiedliche Akteure und Institutionen beteiligt, die ganz unterschiedliche Ziele verfolgen können, denen mitunter kaum miteinander kompatibel zu machende Ideologien zugrunde liegen - und die trotzdem gemeinsam eine bestimmtes Zukunftsszenarien konturieren und stabilisieren. (8) Mir scheint ganz generell das Konzept der Prämediation einen Vorteil gegen‐ über ähnlichen Zugriffen zu haben, die in diesem Zusammenhang möglich sind und/ oder virulent wurden. So ließe sich retrospektiv zeigen - und wurde wieder und wieder gezeigt -, dass in diversen medialen Angeboten etwas vorhergesagt wurde, beispielsweise in The Simpsons die Präsidentschaft Trumps. 539 Damit lässt sich dann die 408 4 Politische Medienikonografie <?page no="409"?> 540 Vgl. bspw. populärwissenschaftlich: Poniewozik, Audience of One; Seeßlen, TRUMP! . 541 Vgl. zur Simulationstheorie grundlegend: Jean Baudrillard, Die Präzession der Simulakra, in: ders.: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 7-69. Simulationstheorien mit Bezug auf Trump finden sich wie Sand am Meer, sei es im wissenschaftlichen Diskurs, im Feuilleton oder in Blogs. Um für jeden dieser Bereiche ein Beispiel anzuführen: James Morris, Simulacra in the Age of Social Media: Baudrillard as the Prophet of Fake News, in: Journal of Communication Inquiry, 45 (2021), S. 319-336; Adrian Lobe, Alles ein Fehler in der Matrix? , in: Zeit Online, 30.03.2017, Online zugänglich unter: https: / / www.zei t.de/ kultur/ 2017-03/ donald-trump-matrix-simulation-fiktion-fernsehen-baudrillard/ komplettansich t [15.01.22]; Britney Gil, Donald Trump Is Proof That We Are Living In A Computer Simulation, in: Cyborgology, 20.07.2016, Online zugänglich unter: https: / / thesocietypages.org/ cyborgology/ 2016/ 0 7/ 20/ donald-trump-is-proof-that-we-are-living-in-a-computer-simulation/ [15.01.22]. 542 Zu vielen Facetten operativen Bilder vgl. den Sammelband: Jens Eder/ Charlotte Klonk (Hg.), Image Operations: Visual Media and Political Conflict, Manchester 2017. Reflexivität medialer Angebote selbst ausweisen und feiern. Andere Zugriffe zeigen in akribischen Analysen, wie beispielsweise Trump selbst durch die televisuelle Logik geprägt wurde und dementsprechend Aspekte der Popkultur verkörpert und in die politische Sphäre importiert. 540 Eine dritte Ausrichtung argumentiert im Zuge von Jean Baudrillards Simulationstheorie, dass mediale Darstellungsformen uns längst in eine Hyperrealität geführt haben, in der alles, was geschieht, nur noch den Vorgaben und Muster medialer Vorläufer folgt. 541 In all diesen Fällen werden letztlich die politischen Implikationen medialer Bildzirkulationen reduziert auf die Vorhersagekraft bestimmter, ‚kluger‘ Medienangebote oder aber auf die Wirkkraft der Medien, die uns oder wahlweise zumindest Figuren wie Trump ihre Handlungs- und Denkmuster aufzwingen. In diesem Zusammenhang scheint mir das Konzept der Prämediation weniger mono-kausal, deterministisch, weniger fatalistisch oder affirmativ gegenüber konkreten Medienangeboten und im Hinblick auf konkrete politische Strategien und deren Verbindung mit medialen Infrastrukturen angemessener anwendbar. - Die Bildspezifik der Prämediation Grusin interessiert sich wenig für die Besonderheit visueller Prämediation. Das ist insofern schade, als die Frage, ob Bilder im Zusammenhang mit der Prämediation eine spezifische Rolle spielen, für die politische Medienikonografie von Interesse ist. Da es dezidiert um Zukunftsbilder geht oder doch um Bilder, die auf die Zukunft hin gelesen werden sollen, scheint es mir erst mal naheliegend, davon auszugehen, dass insbesondere Bildtypen und -formen hier virulent werden, die nicht dokumentarisch ausgerichtet sind, nicht Vergangenes oder Gegenwärtiges repräsentieren, sondern Zukünftiges simulieren oder fiktional evozieren und dabei die Zukunft und die Erwartungen an diese Zukunft ausrichten. Zu denken ist hier etwa an Computersi‐ mulationen, prognostische Diagramme, 3d-Minaturmodelle, Animationen oder auch fiktive Spielfilmsequenzen möglicher Zukünfte. Folgt man dieser Einschätzung, dann sind prämediierende Zukunftsbilder operative Bilder. Das bedeutet erst einmal, dass es um Bilder geht, die Prozesse und Akteure steuern, anleiten und verändern. 542 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 409 <?page no="410"?> 543 Für eine wohltuend kritische Bestandsaufnahme unterschiedlicher Auffassungen darüber, was eigentlich operative Bilder sind: Aud Sissel Hoel, Operative Images. Inroads to a New Paradigm of Media Theory, in: Luisa Feiersinger u. a. (Hg.), Image - Action - Space: Situating the Screen in Visual Practice, Berlin 2018, S.-11-27. 544 Vgl. etwa: Jens Eder/ Charlotte Klonk, Introduction, in: dies. (Hg.), Image Operations, S.-1-22. Operative Bilder ‚Operation‘ bedeutet etymologisch ‚Verrichtung‘ (vom Lateinischen operatio) und wird bis dato zur Bezeichnung für diverse Verrichtungen verwendet, die mit unter‐ schiedlichen gesellschaftlichen und technologischen Praktiken in Zusammenhang stehen. Im medizinischen Kontext ist die Operation ein chirurgischer Eingriff; militärisch ist eine Operation der Einsatz von Streitkräften, in der Informatik wird damit ein Programmschritt bezeichnet. Eine Operation hat drei zentrale Merkmale: Mit ihr geht (1) eine Veränderung eines Zustandes einher. Diese Veränderung wird (2) gesteuert vollzogen und beinhaltet (3) eine Anleitung für weitere Operationen. Operative Bilder sind in diesem Zusammenhang Bilder, die nicht primär auf Re‐ präsentation präexisiterender Sachverhalte oder zentral auf ästhetische Rezeption abzielen, sondern es sind Bilder, die auf Veränderung, Steuerung und Anleitung von Handlungen und/ oder Prozessen ausgerichtet sind oder zumindest damit signifikant in Zusammenhang stehen. Operative Bilder sind kausal gerichtet auf Einflussnahme. Insofern sind operative Bilder performative Bilder, weil ausgelegt auf und eingesetzt zur Wirklichkeitsveränderung [↑ X. Bildakt]. Schon ein kurzer Blick in die Forschungsliteratur zu operativen Bildern zeigt, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was operative Bilder genau sein sollen. 543 Mindestens drei Zugriffe, die ihren Gegenstandsbereich sehr unterschiedlich bestimmen, lassen sich unterscheiden (vgl. Abb. 4.135): Erstens ist ein Zugriff zu finden, der alle Bilder als operative Bilder versteht, die in irgendeiner Weise auf Veränderung von Handlungen und Einstellungen von Menschen angelegt sind. 544 Aus dieser Perspektive sind letztlich alle hier vorgestellten Bilder operative Bilder, da sie als politische Bilder auf Einfluss, Veränderung und Ausrichtung von Akteuren zielen. Demgegenüber gibt es zweitens einen Zugriff, der sich auf die technologischen Aspekte operativer Bilder konzentriert und nach deren Operationslogik jenseits menschlicher Wahrnehmung fragt. Der Medienwissenschaftler Volker Patenberg formuliert diese Position sehr anschaulich. Er schreibt: „‚Operative Bilder‘ sind Bilder, die keine ästhe‐ tische oder didaktische Funktion haben, sondern Bestandteil technischer Operationen sind. Die Algorithmen der Bilderkennungssoftware, die den Weg des Konsumenten im Supermarkt verfolgen […], die den Gefangenen per Fußfessel überwachen […] und die Raketensprengköpfe ins Ziel lenken […] sind darin verwandt, dass sie das sichtbare 410 4 Politische Medienikonografie <?page no="411"?> 545 Volker Patenberg, Harun Farocki, Bildforscher und Filmvermittler [15.01.2010], in: bpb. Bundeszen‐ trale für politische Bildung, Online zugänglich unter: https: / / www.bpb.de/ lernen/ projekte/ filmbildu ng/ 43415/ filmemacher-als-filmvermittler-i? p=all [19.12.21]. Vgl. dazu ausführlicher: ders., Working images: Harun Farocki and the operational image, in: Eder/ Klonk (Hg.), Image Operations S.-49-62 546 Diese dritte Position wird meist im Zusammenhang mit Simulationstheorien diskutiert, vgl. als Überblick dazu: Jens Schröter, Computer/ Simulation. Kopie ohne Original oder das Original kontrol‐ lierende Kopie, in Gisela Fehrmann u. a. (Hg.), OriginalKopie - Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S.-139-155, v.a.: S.-146ff. Leben lenken, kontrollieren, im Falle der Raketen auch zerstören, aber ihrerseits unsichtbar sind.“ 545 operative Bilder sozio-performativ Alle Bilder, die primär auf Veränderung menschlicher Handlungen angelegt sind techno-performativ Bilder, die primär auf Überwachung und Steuerung von Phänomenen angelegt sind, die sich menschlicher Wahrnehmung entziehen und/ oder selbstständig Veränderungen vornehmen techno/ sozio-simulativ Bilder, die zukünftiges Handeln durch Einübung verändern, stabilisieren und steuern oder Zukunft zumindest sichtbar machen Abb. 4.135: Drei Arten operativer Bilder Operative Bilder sind so verstanden Bilder, die anstelle und jenseits menschlicher Wahrnehmung situiert sind und dennoch Prozesse, Phänomene und Objekte nicht nur beobachtbar machen, sondern zudem entscheidend verändern oder steuern können. Der dritte Ansatz konzentriert sich darauf, wie Menschen durch Bilder für zukünfti‐ ges Verhalten trainiert werden, wie ein bestimmtes Verhalten zielgerichtet eingeübt wird oder auch wie Bilder Menschen zukünftige Szenarien vor Augen führen, um diese planen zu können bzw. Handlungsempfehlungen zu geben. Für Ersteres wäre ein Flugsimulator ein passendes Beispiel, für Letzteres Simulationen zum Zwecke der Städteplanung oder prognostische Verlaufsmodelle der Covid-19-Erkrankung [↑ Corona-Prognosen]. 546 Obwohl alle die vorgestellten Zugriffe auf Zukünftiges abzielen, scheint mir der zuletzt genannte am besten geeignet zur Konturierung visueller Prämediation. Einmal abgesehen von den Bildern zu Trumps-Prämediation lassen sich die weiter vorne angeführten Beispiele nicht nur als operative Bilder in diesem Sinne beschreiben, sondern noch genauer als diagrammatische Visualisierungsstrategien [↑ Diagramm als besonderer Bildtypus]. 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 411 <?page no="412"?> 547 Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis, S.-18. 548 Ebd., S.-76. 549 Ebd., S.-37. 550 Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S.-78. Diagramme der Prämediation Die Philosophin Sybille Krämer schreibt in ihrer Auseinandersetzung mit Diagram‐ men: „Zu dieser Gattung ‚operativer Bildlichkeit‘ rechnen wir - ungeachtet der Ver‐ schiedenheit dieser Darstellungssysteme - Schriften, Notationen, Tabellen, Graphen, Diagramme und Karten; wir wollen diese Klasse visueller Artefakte […] das Diagram‐ matische‘ nennen.“ 547 Diesen visuellen Bildtypus zeichnen schematische Darstellungen aus. Unter anderem heißt das, dass es gerade nicht darum geht, sinnlich unmittelbar evidente Ähnlichkeit zu Sachverhalten in der Welt herzustellen bzw. diese möglichst detailliert wiederzugeben (im Gegensatz etwa zu fotografischen Darstellungen). Viel‐ mehr sollen umgekehrt „wesentliche Züge eines Sachverhaltes unter Weglassung ‚unwesentlicher‘ Details“ 548 dargestellt werden. Dabei werden so als relevant selek‐ tierte Elemente in Relation zueinander gebracht, wobei häufig Bildelemente, Zahlen und Schrift ins Verhältnis gesetzt werden. Solche schematische, aufs Wesentliche konzentrierte und Elemente in strikte Relationen setzende Darstellungen haben einen besonderen Erkenntniswert, zumindest wird ihnen ein besonders schlagende „Beweis‐ kraft“ 549 zugesprochen [↑ Diagramm als besonderer Bildtypus]. Solche Diagramme werden häufig zur Darstellung von zukünftigen Ereignissen bzw. wahrscheinlichen Zukunftsentwicklungen eingesetzt. So lassen sich die ange‐ führten Modelle, Grafiken und Animationen, die während der Live-Berichterstattung über die erste bemannte Mondlandung im Fernsehen zu sehen waren und die die erwartete tatsächliche Mondlandung vorwegnahmen, gerade dadurch, dass sie vieles weglassen, einsichtig machen und erklären, was dort passieren wird [↑ ‚Wir waren immer schon…‘]. Solche diagrammatischen Modelle, so lässt in Anlehnung an den Medienwissenschaftler Friedrich Kittler formulieren, „sind begreiflicher als ihre so‐ genannte Wirklichkeit“ 550 . Funktionsweisen und Relationierung einzelner Elemente während eines Raketenflugs zum Mond beispielsweise sind mittels solcher visueller Darstellungsformen sehr viel besser zu verstehen und in ihrem Ablauf nachvollziehbar zu machen, als wenn möglichst detailgetreue Fotografien oder Filmaufnahmen einer Mondrakete gezeigt werden. Aus einer großen Menge an Daten, Informationen und Zahlenkolonnen wird ein kleiner Ausschnitt als eine räumlich-visuelle Anordnung präsentiert. Genau durch diese Form der Komplexitätsreduktion und Visualisierung von Daten sind solche Diagramme auch geeignet zur Evidenzerzeugung - und im Fall der Prämediaton eben auch zur Evidenzerzeugung bezüglich dessen, was in (naher) Zukunft geschehen wird. Dieser visuelle Ausweis von Prognosefähigkeit lässt sich aber im Sinne der Prämediation nicht nur als Mittel verstehen, Zukunft möglichst präzise zu beschreiben, sondern eben auch als Mittel, die Erwartung auf diese vorzubereiten, 412 4 Politische Medienikonografie <?page no="413"?> 551 Vgl.: Ernst, Kurve abflachen. ja, das gegenwärtige Verhalten im Lichte der dargestellten Zukunft zu steuern, um so letztlich eine bestimmte Zukunft denkbar und erwartbar zu machen. Noch eindringlicher wird diese Prämediations-Funktion von Diagrammen im Fall der Berichterstattung über die Corona-Krise. Die dabei zum Einsatz kommenden Ver‐ laufsdiagramme veranschaulichen erstens Prognosen für die Zukunft, die wiederum auf Daten basieren, die jenseits einer quantifizierenden Versammlung und algorith‐ mischen Berechnung unzugänglich und vor allem unsichtbar bleiben müssten [↑ Corona-Prognosen; ↑ Die Covid-19-Medienikone]. 551 Zweitens üben diese Diagramme in mögliche, wahrscheinliche Zukünfte ein und sie arbeiten drittens mit ihrer Farbge‐ bung und Kurvenverläufen an der Aufrechterhaltung eines ‚konstanten, niedrigem Niveau von Angst oder Furcht‘, womit ein normativer Handlungsappell verbunden ist (‚Beschränke zu Weihnachten die Kontakte‘ vgl. noch einmal Abb. 4.128). Dass die Grundlage solcher prognostischer Verlaufsdiagramme auf komplexen, Algorithmen gestützten Berechnungen basieren, wird im Beitrag über neue Rechen‐ methoden visuell veranschaulicht. Die unsichtbaren Rechenoperationen werden hier in Formeln visualisiert, um so zu zeigen, was die Grundlage solcher Prognosen sind, nämlich Rechnungen ‚mit vielen Variablen und Rückkopplungen‘, um wiederum die Glaubwürdigkeit daraus resultierender Verlaufsdiagramme und Prognosen zu erhöhen. Das heißt wiederum nichts anderes, als dass diagrammatisch in eine Zukunft eingeübt wird, ja, diese vorweggenommen wird - um auf dieser Grundlage normative Handlungsappelle formulieren zu können. Diagramme sind beileibe nicht der einzige Bildtypus, der im Zusammenhang mit einer Politik der Prämediation in Erscheinung tritt, er kommt aber doch häufig im Zusammenhang mit algorithmischen Berechnungen häufiger vor. Aus genannten Gründen scheint er auch ein besonders erfolgsversprechender zu sein. Zukunft wird so verstanden, nicht durch eine möglichst detailgetreue Simulation am besten präme‐ diiert, sondern durch die Kunst diagrammatischer Weglassung (und unter Verweis auf ‚komplexe‘ algorithmische Operationen) [↑ Algorithmus]. Diese diagrammatische Politik der Prämediation passt aufs Beste zur Politik der Algorithmen, die weiter vorne diskutiert wurde [↑ (3) Politik der Algorithmen], soll doch nach Müller-Mall, die Politik der Algorithmen darin bestehen, Zukunfts‐ prognosen durch eigenständige, auf KI-basierenden Rechenoperationen, anhand von Daten aus der Vergangenheit zu erstellen. Diese Prognosen tendieren dazu, nicht nur mögliche, wahrscheinliche Zukünfte zu beschreiben, sondern damit geht ein Kategorienwechsel einher, von einer deskriptiven auf eine normative Ebene. Statistisch wahrscheinliche Zukünfte werden zur Grundlage für Normen, wie man sich verhalten soll, ja muss. Genau diese Implikation wird in algorithmisch basierten Diagrammen der massenmedialen Berichterstattung sowie in den sozialen Medien zum Zwecke der Prämediation strategisch aufgegriffen und politisch fruchtbar gemacht. Diese Diagramme machen unsichtbare Vorgänge sichtbar, ohne dass zumeist sichtbar wird, 4.4 Politische Medienikonografie 2 : Kanal 413 <?page no="414"?> wie genau das geschieht; es werden Erwartungen ausgerichtet, auf Zukunft vorbereitet und Handlungsmaximen damit verknüpft. Dass diagrammatische Darstellungen im Zuge der Corona-Krise so exzessiv genutzt werden, um uns auf die Zukunft vorzube‐ reiten, hat so gesehen, nicht nur eine generelle Orientierungs- und Handlungsfunktion, sondern dieser Bildtypus ist einer der zentralen Medien der Prämediation. Rückblick Vorliegendes Kapitel ist nicht nur aufgrund seiner Länge das Herzstück vorliegen‐ der Einführung. Hier geht es zentral um ‚Medien‘. Zunächst wurde der Frage nachgegangen, was denn die Spezifik des Mediums Bild sein könnte. Die Antwort fällt - wohl wenig überraschend - vielfältig und je nach Bildtypus, -kontext und -praxis sehr unterschiedlich aus. In einem zweiten Schritt wurde nach der Spezifik des Bildes als medialem Code gefragt. Hier sind diverse, in der Kultur- und Medien‐ wissenschaft längst etablierte Zugriffe versammelt und auf ihre Brauchbarkeit für die Analyse politischer Bilder durchforstet worden. Im vorletzten Schritt wurde der Blick noch mal verlagert, und zwar hin auf die Materialität der Bilder. Von Interesse war hier, ob und wenn ja, wie diese relevant sind für Produktion, Gestaltung und Rezeption politischer Bilder. Der letzte Schritt fügte die Bilder dann in die mediale Infrastruktur ein. Aus drei Perspektiven wurde zu zeigen versucht, wie technologische Faktoren, etwa der Einsatz von Algorithmen, institutionelle Aspekte, etwa Bild- und Nachrichten‐ agenturen, sowie Zirkulationslogiken auf Produktion, Gestaltung, Rezeption und Weitergabe von Bildern Einfluss haben. Besonders an dieser Stelle sollte deutlich gemacht werden, dass zur Analyse von politischen Bildern bzw. dem politischen Einsatz von Bildern die Untersuchung medialer Infrastrukturen wichtig, ja ent‐ scheidend ist. Dementsprechend war es mir einerseits ein wichtiges Anliegen, deutlich zu machen, dass, um ein Bild zu verstehen, es unabdingbar ist, das, was jenseits, vor und zwischen den Bildern ist, zu untersuchen. Anderseits war es bei den in diesem Zusammenhang vorgestellten Beispielen relevant, zu erörtern, wie traditionelle Ansätze der politischen Ikonografie und der Medienwissenschaft dabei fruchtbar zu machen sind. Um es zu pointieren: Der Argumentations- und Darstellungsgang ging in vorlie‐ gendem Kapitel vom Zentrum des Bildes zur Peripherie bzw. vom Bildinhalt zum Bildkontext. Eingangs wurde die Frage gestellt, was die Spezifik des Bildes sein könnte. Von dort führte der Weg sukzessive immer weiter weg vom Bild zu dem, was zwischen und hinter den Bildern liegt, was jenseits der unmittelbaren Sichtbarkeit die Sichtbarkeitsbedingungen der Bilder präformiert. Dort angelangt ging es wieder zurück zu konkreten Bildern, um so das Verhältnis von Bildformen und Infrastrukturen in den Blick nehmen zu können. 414 4 Politische Medienikonografie <?page no="415"?> Weiterführende Forschungsliteratur Marita Sturken/ Lisa Cartwright: Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture (New York 3 2018) Diese Einführung zeigt in der Tradition der Culture Studies, wie Bilder Medien der Macht‐ ausübung und Machtsubversion sein können, wie Sichtbarkeit reguliert und gesteuert wird. Der Fokus liegt dabei auf der Untersuchung von Gegenwartsphänomenen, was einerseits diese Einführung attraktiv macht, geht es doch um Dinge, die uns unmittelbar betreffen. Anderseits wird damit die historische Tiefendimension - eine Stärke des ikonografischen Ansatzes - kaum relevant. Überhaupt spielen ikonografische Ansätze, insbesondere die von Panofsky und Warburg, von denen vorliegende Einführung ihren Ausgangspunkt nimmt [↑ Kap. 2, Ikonografie und Ikonologie; ↑ Kap. 3, Pathosformel, Schlagbild], so gut wie keine Rolle. Heike Kanter u.-a. (Hg.): Bilder, soziale Medien und das Politische. Transdisziplinäre Perspektiven auf visuelle Diskursprozesse (Bielefeld 2021) Hier werden insbesondere von Nachwuchswissenschaftler: innen facettenreich und theorie‐ gesättigt diverse Aspekte von Bildern, die auf digitalen Plattformen zirkulieren, hinsichtlich ihrer politischen Implikationen diskutiert und analysiert. Interessant daran ist, dass immer wieder der Frage nachgegangen wird, was denn die Spezifik der Umgangsweise und Formen von Bildern sein könnten, die auf Facebook, 4inch oder Instagram zu finden sind und politisch virulent werden. Schwierig an diesem Zugriff ist meines Erachtens indes nicht, dass der Sammelband auf Analysen politischer Bilder im Kontext sozialer Medien konzentriert ist. Das ist sogar eher eine Stärke. Problematisch ist hingegen der zu Grunde gelegte Begriff des Politischen, wird dieser doch in der Einleitung des Bandes so weit ausgedehnt, dass letztlich alle Bilder politische Bilder sind [↑ Kap. 2, Politik]. Damit wird aus meiner Sicht der Begriff des Politischen analytisch schlicht unbrauchbar. Jens Eder/ Charlotte Klonk (Hg.): Image Operations: Visual Media and Political Conflict (Manchester 2017) Ausgehend vom Begriff operativer Bilder wird in diesem Sammelband der Frage nachgegan‐ gen [↑ Operative Bilder], wie Bilder handlungsanleitend sind. Die Themen reichen von Drohnenbildern über kritische Videoinstallationen mit und zu operativen Bildern bis zur Affizierung durch Folterbilder. Gewinnbringend ist die Lektüre der einzelnen Beiträge, dre‐ hen sich diese doch zumeist um sehr aktuelle Bildphänomene und deren dezidiert politischen Einsatz. Es finden sich darin etwa auch Reflexionen zu Bildern und Bildzirkulationen jenseits der menschlichen Wahrnehmung. Damit geht es um Phänomene, bei denen Maschinen für Maschinen Bilder produzieren, nicht für und ohne Menschen. Politisch ist das hochrelevant und zudem handelt es sich dabei um Phänomene und Entwicklungen, die in vorliegender Einführung sträflich vernachlässigt wurden. Zumindest die inhaltliche Rahmung der einzel‐ nen Aufsätze durch den Begriff der operativen Bilder bleibt aber unbefriedigend, werden doch im Vorwort des Sammelbandes operative Bilder als solche Bilder bestimmt, die Einwirkung auf ihrer Rezipient: innen haben. Auch hier scheint mir - ähnlich wie beim Sammelband Bilder, soziale Medien und das Politische der Begriff des Politischen - der Sammelbegriff operative Weiterführende Forschungsliteratur 415 <?page no="416"?> Bilder zu unscharf und nahezu beliebig. Welche Bilder wollen schließlich keine Einwirkung auf ihrer Rezpient: innen haben? Clément Chéroux: Diplopie. Bildpolitik des 11. September (Konstanz 2011) Der Fotohistoriker führt in diesem Buch nicht nur in die Interikonizität ein [↑ Kap. 3, Interi‐ konizität], sondern veranschaulicht ebenfalls beeindruckend die Macht von Bildagenturen bei der Herstellung von Wahrnehmungsschemata. Dabei wird vorgeführt, wie und insbesondere warum eine politische Ikonografie über die Bildanalysen hinaus auf die institutionellen Rahmenbedingungen ausgeweitet werden muss, um zu verstehen, warum bestimmte Bilder sinnbildlich für politische Ereignisse werden (und andere nicht). Solch ein Zugriff lässt sich als komplementäre Unternehmung zu der von Gerhard Paul initiierten Forschung zu Medienikonen verstehen [↑ Kap. 3, Medienikonen]. Werden Medienikonen von Paul doch vor allem auf formalästhetische und damit bildimmanente Aspekte untersucht, so fragt Chéroux stattdessen nach den institutionellen und damit bildexternen Faktoren, die Medienikonen zu solchen machen. Linda Hentschel: Schauen und Strafen. Nach 9/ 11. Bd.-1 (Berlin 2020) Wer politische Bilder von philosophischen Positionen her verstehen will, findet viel Material in diesem Buch. So werden Kriegs- und Terrorbilder ‚nach 9/ 11‘ unter Rückgriff auf philo‐ sophische Positionen von Jacques Derrida, Judith Butler, Michel Foucault und Emmanuel Levinas diskutiert. So interessant und hintergründig die Analysen auch sind und dabei Aspekte reflektiert werden an politischen Bildern, die neue oder doch sehr überraschende Perspektiven bereitstellen, so geht die Autorin in ihren einzelnen Analysen zu wenig konkret auf die medialen Infrastrukturen ein, so dass die Darstellungen letztlich doch auf einer sehr universellen Ebene verbleiben. Damit ist die Publikation zumindest wenig geeignet, wenn man Methoden für konkrete Analysen politischer Bilder sucht. Für philosophische Inspirationen und Zugriffe auf politische Bilder sei der Band indes empfohlen. Simon Strick: Rechte Gefühle. Affekte und Strategien des digitalen Faschismus (Biele‐ feld 2021) In dieser Monografie wird engagiert plausibel gemacht, wie rechtspopulistische Positionen auf digitalen Plattformen strategisch operieren. Besonders interessant ist die grundlegende These, dass dabei weniger ideologische Propaganda betrieben wird, sondern Affekte erzeugt werden sollen. Der ‚digitale Faschismus‘, so Strick, bearbeitet insbesondere die vorpolitische Gefühlslandschaft, um hier durch Memes, Tweets oder Blogeinträge ein Unwohlsein zu kultivieren, das in der Folge zur politischen Aktivierung führen kann, aber in erster Linie darauf nicht abzielt. Strick nennt dies Strategien der Affekterzeugung Metapolitik, die mit Struktureigenschaften digitaler Plattformen aufs Beste harmonieren sollen. Strick liefert so interessante Einblicke in den Zusammenhang von Affekterzeugung, politischen Aktionen und digitalen Plattformen. In sogenannten ‚Screenshots‘ werden sehr konkrete Beispiele aufgegriffen, um so die Vielfältigkeit der Strategien und ihrer Heterogenität aufzuzeigen. Wenn es an dieser wunderbar zu lesenden Arbeit etwas auszusetzten gibt, dann sind das vor allem fehlende Explikationen - zum einen hinsichtlich der konkreten Struktur und technischer Logik digitaler Plattformen, operieren diese doch mitunter sehr unterschiedlich. (Diese Kritik lässt sich im Übrigen auch auf vorliegende Einführung wenden [↑ Die digitale 416 4 Politische Medienikonografie <?page no="417"?> Infrastruktur…]). Zum anderen verwendet Strick häufig die Metapher des Klimas, um das zu beschreiben, was durch die Strategien des digitalen Faschismus erzeugt wird. Es scheint vollkommen einsichtig, dass durch solche Strategien, nicht nur kurzfristige Affekte erzeugt werden, sondern Stimmungen. Aber was genau dieses ‚Klima‘ bedeutet, an was das abzulesen ist und welche Folgen es hat, wird eher in Metaphern gefasst als konkret ausbuchstabiert. Flora Hartmann: Meme: Die Kunst des Remix. Bildsprache politischer Netzkultur (Berlin 2017) Hier finden sich keine tiefschürfenden Reflexionen über das Wesen der Bildlichkeit oder des Politischen. Was diese Publikation dafür aber liefert, ist eine anschauliche Einführung in die vielfältigen Formen politischer Memes und ihre Einsatzformen. Mutig wird am Ende zudem diskutiert, wie politische Memes ‚angemessen‘ - und das heißt jenseits von Hassbildern oder zynischer Ausgrenzung - gestaltet werden könnten. Weiterführende Forschungsliteratur 417 <?page no="419"?> 552 Vgl. dazu die berühmte Bestimmung von Immanuel Kant, der die Rezeptionseinstellung zum Schönen und damit eben auch zu Kunstwerken in seiner Kritik der Urteilskraft wie folgt kennzeichnet: „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne Interesse.“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1794], Stuttgart 1991, S.-69) 5 Ausblenden Der Kunstwissenschaftler Felix Thürlemann hat in seinen Einführungsveranstaltungen zur Kunstgeschichte in Konstanz gern eine Anekdote zum Besten gegeben, wenn er über Erwin Panofskys Ikonografie referierte [↑ Kap. 2, Ikonografie und Ikonologie]. Immer dann, wenn Thürlemann auf die dritte Ebene von Panofskys Modell zu sprechen kam, die ikonologische, wurde er - ja, man kann es kaum anders beschreiben - gehässig. Das grand finale dieser Wendung fand sich dann mit der erwähnten Anekdote: Ein Kollege habe immer wieder gern verlauten lassen, so Thürlemann, wenn er blind geworden sei, könne er immer noch auf Panofskys Ansatz zurückkommen. Daraufhin grinste Thürlemann und fuhr nach einer kleinen Pause mit anderem fort. Der Clou an dieser Anekdote ist, dass Panofskys Ikonografie das Bild in seiner Bildlichkeit, also seiner spezifischen Wahrnehmungsmodalität nicht ernst nimmt, wird doch letztlich die Bildanalyse als symbolischer Ausdruck von bildexternen Aspekten gedeutet, so dass von der Spezifik des Bildes nichts übrigbleibt [↑ Kap. 2, III. Ikonolo‐ gische Interpretation]. Dieser Kritikpunkt scheint mir nicht von der Hand zu weisen und wurde in der Kunstwissenschaft häufig aufgegriffen [↑ Kap. 2, Kritik der Ikonologie; ↑ Kap. 3, Wider der reinen Bedeutung]. Auch in der hier vorliegenden Einführung wurde diese Kritik relevant - und zwar vor allem beim Versuch einer produktiven Wendung hin zur Diskussion der Frage, was denn die mediale Spezifik von Bildern sein könnte, einzuschlagen [↑ Kap. 4, Was Bilder sind…; ↑ Kap. 4, Ikonik]. Indes wird damit ein Aspekt häufig gleich mit weggewischt, der insbesondere für eine Ikonografie politischer Bilder wichtig ist - und damit für Bilder, die nicht nur oder nicht einmal zuvorderst hinsichtlich ihrer ästhetischen Eigenschaften hergestellt und in Umlauf gebracht werden und per se - im Gegensatz zu Kunstwerken - kein in‐ teressenloses Wohlgefallen auslösen sollen. 552 Relevant sind bei diesen Bildern nämlich Konventionalisierungen, formelhafte Darstellungen, Klassifikationen, Durchsetzung von bestimmten Interessen, Handlungsappelle [↑ Kap 2, Politische Ikonografie]. Damit geht es immer schon um mehr und anderes als die phänomenale Wahrnehmung eines konkreten Bildes und um mehr als die spezifische Bildlichkeit von Bildern. Zumindest so verstanden ist die Ikonografie, auch und gerade eine solche in der Tradition Panofskys, ein durchaus geeignetes Instrumentarium zur Analyse politischer Bilder. Vielleicht könnte der Clou dieser Anekdote auch umkehrt werden. Vorliegende Einführung in die politische Medienikonografie ist genau besehen in weiten Passagen <?page no="420"?> einer solchen Umkehrung verpflichtet, könnte doch auch in diesem Zusammenhang mit einigem Recht formuliert werden: Schon bevor man blind wird, sollte man angesichts von Bildern für diese Bilder blind sein. Oder moderater artikuliert: Bei der Bildanalyse sollte man nicht nur die Bilder selbst im Blick behalten, sondern diese - und sei es nur zeitweilig - abschatten zugunsten der Phänomene, Prozesse und Strukturen, die das Bild gerade nicht sind, aber dieses präformieren. Beispiele dafür sind: die Wahrnehmungsanordnung, die die Bilder in bestimmten Kontexten zur Erscheinung bringen, die institutionellen Bedingungen und Voraussetzungen, die die Sichtbarkeit von Bildern regulieren, die Infrastruktur, die die Bedingung für die Zirkulationsmöglichkeiten von Bildern präformieren, algorithmische Rechenoperatio‐ nen digitaler Plattformen, die Bilder bewerten und ranken. Genau diese Aspekte sollten primär durch den Zusatz ‚Medien‘ für die traditionelle politische Ikonografie in vorliegender Einführung bezeichnet und in den einzelnen Analysen stark gemacht werden. Inhalt FormCode Materialität Dispositiv Zirkulation Agentur Infrastruktur Motiv Bild Abb. 5.1: Vom Bild über das Bild hinaus und zurück zum Bild Dies ist wiederum kein Plädoyer dafür, die Frage nach der Bildlichkeit politischer Bilder zu vergessen. Es bedeutet aber durchaus, den Blick von den Bildern abzuwenden. Die Überzeugung, die damit einhergeht, ist, dass gerade die Strategie des zeitweiligen Ausblendens verständlicher machen kann, wie politische Bilder überhaupt zu solchen werden und wie sie wirken können. 420 5 Ausblenden <?page no="421"?> Eine politische Medienikonografie soll so verstanden zeitweilig blind machen für Bildinhalte und -formen, um damit einen anderen Blick auf diese zu ermöglichen. Oder genauer formuliert: Der Übergang von einer politischen Ikonografie zu einer politischen Medienikonografie besteht in einer Doppelbewegung. Zum einen soll das Bild ‚ernster‘ genommen werden als in der politischen Ikonografie, also genauer betrachtet werden hinsichtlich seiner Bildlichkeit. Zum anderen muss der Blick vom Bild abgewendet werden auf dasjenige, was dem Bild vorausgeht und jenseits des Bildes dieses mitprägt. Daran soll dann idealerweise der Blick wieder hin zum Bild gerichtet werden, um bildexterne und bildinterne Faktoren ins Verhältnis zu setzen (vgl. Abb. 5.1). Als Appell formuliert: ‚Sieh dir das Bild genauer an und sei gleichzeitig blind für das Bild! ‘ Bildlich lässt sich der Widerspruch dieses Anspruches indes entschieden prägnanter auf den Punkt bringen (vgl. Abb. 5.2): << << Abb. 5.2: Ikonische Darstellung politischer Medienikonografie 5 Ausblenden 421 <?page no="423"?> Literaturverzeichnis Allen, Michael, Live from the Moon. Film, Television and the Space Race, London, 2009. Althusser, Louis, Ideologie und ideologische Staatapparate [1970], in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 108-153. Anders, Günter, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 5 1980. Assmann, Aleida/ Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten u.-a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunika‐ tionswissenschaft, Opladen 1994, S.-114-140. 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