Grundriss des Interpretierens
0711
2022
978-3-8385-5920-9
978-3-8252-5920-4
UTB
Stefan Neuhaus
10.36198/9783838559209
Fiktionale Literatur folgt den ihr eigenen Regeln - aber welchen? Wenn Literatur im Zentralabitur verpflichtende Lektüre ist oder mit Preisen ausgezeichnet wird, dann gilt sie als besonders wichtig und wertvoll - was sind die Gründe? Um Aussagen über literarische Texte treffen zu können, werden sie interpretiert. Von den Grundlagen des Interpretierens handelt dieses Buch.
<?page no="0"?> Stefan Neuhaus Grundriss des Interpretierens <?page no="1"?> utb 5920 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhaus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Uni‐ versität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. © Henriette Kriese <?page no="3"?> Stefan Neuhaus Grundriss des Interpretierens Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> DOI: https: / / www.doi.org/ 10.36198/ 9783838559209 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5920 ISBN 978-3-8252-5920-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5920-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5920-4 (ePub) Umschlagabbildung: Bemaltes Trafohäuschen in der Wilhelm-Tell-Straße in Wol‐ terdorf bei Berlin. Foto: Marcus Cyron, CC-BY-SA-3.0, https: / / commons.wikimed ia.org/ wiki/ File: Bemaltes_Trafoh%C3%A4uschen_Wilhelm-Tell-Stra%C3%9Fe_Wol terdorf_4.JPG Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 15 25 25 34 39 39 43 49 49 54 56 58 60 67 67 69 80 Inhalt Kein Buch ohne Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? . . . . . . . . . . Was sind Fiktionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen von Fiktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fiktionen als „Metapher“ und „Metonymie“ (Pierre Bourdieu) . . Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konstruktion von Wirklichkeit und der (gar nicht so radikale) Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie werden Fiktionen interpretiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Interpretation ohne Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik, Werkimmanenz und Close Reading . . . . . . . . . . . . Strukturen literarischer Texte und Übergänge zum Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionsästhetik und Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekonstruktion, Diskursanalyse und Gender Studies . . . . . . . . . . Literatur interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Literatur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 102 115 129 129 135 138 149 153 155 164 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filme interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten des Mediums Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Beispiel: Tim Burtons Kurzfilm Frankenweenie (1984) . . . . . Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> „Unanfechtbare Wahrheiten giebt es überhaupt nicht, und wenn es welche giebt, so sind sie langweilig.“ Theodor Fontane (1899), 7. „Den Sinn für das Absurde praktiziere ich wie eine Religion.“ Alfred Hitchcock, zit. nach: Truffaut (2003), 250. <?page no="9"?> Kein Buch ohne Vorwort Literatur kann man oder frau auf ganz unterschiedliche Weise lesen und es ist schon erklärungsbedürftig, was weshalb zur Literatur gezählt wird und welche Art von Literatur überhaupt gemeint ist. Die eine denkt bei dem Begriff vielleicht an Kriminalromane, der andere an Biographien und jemand Drittes an Sachbücher zu einem bestimmten Themenbereich. Mit der Literatur ist es wie mit dem Essen und dem Trinken - das Angebot ist riesig und es erfüllt ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Die Literatur, von der hier die Rede sein soll, gehört zur Kunst und sie als solche wahrzunehmen und zu lesen oder gar zu interpretieren - das aus dem Lateinischen stammende Verb bedeutet laut Duden „einen Text, ein literari‐ sches Werk, eine Aussage o. Ä. inhaltlich erklären, erläutern, deuten“ (zit. nach www.duden.de/ rechtschreibung/ interpretieren) - erfordert besondere Kenntnisse. So hat Wolfgang Iser, einer der international bekanntesten und einflussreichsten Literaturwissenschaftler der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, das Vorwort zu seinem Band Das Fiktive und das Imaginäre (von 1990) so begonnen: Literatur bedarf der Auslegung, da das, was sie verschriftlicht, nicht unabhängig von ihr besteht oder gar zugänglich wäre. Dieser Sachverhalt führte zur Ausbil‐ dung von Verfahren, die heute als Interpretationsmethoden oder Textmodelle den Grad einer Differenzierung erreicht haben, durch den sie selbst Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung geworden sind. (Iser 1993, 9) Und das ist ein Fortschritt gegenüber einem ‚naiven‘ Textverständnis, denn Literatur als Kunst beruht auf Voraussetzungen, die nach einer still‐ schweigenden Übereinkunft von Expert*innen gelten und deren Grundlagen nachgelesen werden können, allerdings muss man oder frau sich dafür besonders einlesen - in die Literaturtheorie, die Literaturgeschichte und nicht zuletzt in Fragen der literarischen Wertung und Kanonbildung, eine besondere Forschungsrichtung, die sich mit Kriterien der Bewertung und qualitativen Einordnung von Literatur beschäftigt. Natürlich kann frau oder man die sogenannte Höhenkammliteratur oder Literatur im engeren Sinn, die E-Literatur (also die ernsthafte oder ernstzunehmende), im Unterschied zur U(nterhaltungs)-Literatur, wie E- Musik hören und sich trotzdem wenig Gedanken darüber machen. Vivaldi <?page no="10"?> beim Frühstück sorgt vielleicht einfach nur für gute Stimmung. Wer aber die Kompositionen von Vivaldi ‚verstehen‘ will in dem Sinne, wie sie komponiert sind und wie sie sich auf frühere Kompositionen beziehen und von diesen absetzen, weshalb sie besondere Qualitäten haben und deshalb überhaupt so oft von berühmten Orchestern gespielt werden - die oder der muss sich Fachliteratur besorgen, wenn sie oder er nicht schon Musik studiert hat. Es ist einfach, wenn man in einem Museum vor einem monochromen Bild von Gerhard Richter steht, zu sagen: „Das kann ich auch.“ Wenn dem so wäre, dann wären alle, die das sagen, vielfache Millionäre. Es gibt Gründe, weshalb monochrome Bilder von Gerhard Richter in Museen hängen und weshalb jedes einzelne dieser Bilder bei einer Auktion einen Preis erzielen würde, der den Kosten für eine Eigentumswohnung in einer deutschen Großstadt entspricht, aber diese Gründe sind in der Regel Expert*innenwissen. Natür‐ lich gibt es auch andere Bilder, es gibt Bilder für viele Geschmäcker - und so ist es mit der Musik und eben mit der Literatur auch. In einem Expert*innendiskurs haben die Bilder von Otto Normalmaler aber leider keinen Wert, auch wenn sie dekorativ aussehen und Onkel Hans froh ist, eines über dem Sofa hängen zu haben; ein Original, wie er seinen Freunden beim wöchentlichen Kaffeetrinken in seinem Wohnzimmer gern sagt. Es würde ihn sicher schmerzen, wenn dann jemand auf die Idee käme zu sagen: Hör mal, Onkel Hans, auf einem Flohmarkt würdest Du vielleicht 20 Euro dafür bekommen, und auch nur für den schönen Rahmen. Onkel Hans ist im Recht. Geschmack ist zunächst einmal subjektiv und er darf es auch sein. Wenn Onkel Hans, weil seine Frau, Tante Frieda, gestorben ist, nun aber auf die Idee käme, sich ein Hobby zu suchen: er hat immer schon gerne gemalt, und wenn er dann beginnen würde, endlich das zu tun, was er schon als junger Mann tun wollte: Kunstwissenschaften zu studieren, dann würde er das Bild über dem Sofa mit anderen Augen ansehen. Er würde es vielleicht immer noch mögen, aus Nostalgie, aus Gewohnheit, wegen der frohen Farben oder wegen der Landschaft, die Otto gemalt hat und die er so gut kennt. Aber er würde wissen, dass und weshalb das Bild auf dem Flohmarkt nur 20 Euro erzielen würde, und auch das nur wegen des schönen Rahmens. Wenn er nun trotz seines Studiums noch der Auffassung wäre, dass es kaum gelungenere Bilder gibt, dann wäre er im Unrecht. Als Experte sollte er es besser wissen. Wir leben in einer spezialisierten Gesellschaft und nur, weil Kultur etwas ist, das auf der Seite der Produzierenden richtigerweise keine festgelegte 10 Kein Buch ohne Vorwort <?page no="11"?> Ausbildung benötigt (so wie andere Bereiche der Gesellschaft, die für alle offen stehen sollen, damit es eine offene, eine demokratische Gesellschaft bleibt), heißt das nicht, dass die Bereiche der Kultur nicht genauso speziali‐ siert wären wie andere Arbeitsbereiche auch. Welche Regeln gelten, wird nicht gesetzlich verordnet, sondern unter den Diskursteilnehmer*innen ausgehandelt. Es gibt also trotzdem Regeln, auch wenn ihre Nichtbeachtung keine anderen Konsequenzen hat als sich mehr oder weniger zu blamieren und ganz oder teilweise aus dem Diskurs ausgeschlossen zu werden. Wer also am Diskurs der Expert*innen über Literatur teilhaben und verstehen möchte, wie die in diesem Sinne ernstzunehmende Literatur funktioniert, welche besonderen Voraussetzungen für sie gelten und wie man sie dann auch im Sinne dieses Diskurses ‚lesen‘ und ‚verstehen‘ kann, die oder der hat mit der vorliegenden Einführung die Möglichkeit, Grundkenntnisse zu erwerben. Das Interpretieren von Texten entspricht dem kritisch-genussvollen Verspeisen von Gerichten durch Restaurantkri‐ tiker*innen oder dem kundigen Betrachten und Besprechen von Bildern durch Kunstkritiker*innen. Es ist das tägliche Brot der Literaturwissenschaft und auch der Literaturkritik, die viel gemeinsam haben, selbst wenn ihre Aufgaben und Zielgruppen andere sind. Wer gern liest und nicht gern interpretiert (die Unterscheidung wird später klarer werden), die oder der soll auch weiterhin die Liebe zu ihrer oder seiner Literatur pflegen, sollte aber doch wissen, dass es einen Expert*innendiskurs gibt, der von ihrer oder seiner Lektüreweise abweicht. Zunächst wird es auf den folgenden Seiten darum gehen, Kontext zu dem zu liefern, was hier als ‚Expert*innendiskurs Literatur‘ bezeichnet worden ist, denn die Leser*innen könnten natürlich auf die Idee kommen und sagen: Der kann uns viel erzählen, Papier ist geduldig… Was in dieser Einführung steht, ist nichts bahnbrechend Neues, es wird außerdem - wie in jeder guten wissenschaftlichen Arbeit - belegt. Es gehört natürlich auch zum wissenschaftlichen Diskurs dazu, dass die Expert*innen, die diese Einführung lesen, manches etwas anderes sehen und selbst einen anderen Text geschrieben hätten. Jede Sichtweise auf die Welt ist wahrnehmungs‐ abhängig und Wahrnehmung ist individuell verschieden, auch wenn es durchaus Übereinstimmungen gibt und geben muss - denn sonst könnten wir uns ja nicht verständigen. Aber ich greife vor und beende dieses Vorwort mit dem Wunsch, dass das Büchlein einigen interessierten Leser*innen helfen wird, Literatur im engeren Sinn leichter so lesen zu lernen, wie es in einem Expert*innendis‐ 11 Kein Buch ohne Vorwort <?page no="12"?> kurs üblich ist. Und mit einem ganz herzlichen Dank vor allem an Kathrin Heyng, die der Idee für dieses Büchlein sofort Sympathie und Begeisterung entgegengebracht hat und die hoffentlich von dem, was nun vorliegt, ebenso wenig enttäuscht sein wird wie alle, die Geld und Zeit investiert haben, es sich näher anzusehen. Ganz herzlichen Dank auch an Luisa Santo für ihre gründliche Durchsicht! *** Statt einer Fußnote: Literatur lässt sich ohne Kenntnis als wichtig angesehe‐ ner Literatur nicht interpretieren, zumindest nicht in einem Expert*innen‐ diskurs. Auf der Kenntnis von dem, was schon da war und noch ist, beruht der wichtigste Teil der Expertise; nur dann können Texte in Entwicklungen eingeordnet und es kann festgestellt werden, was sie von anderen Texten unterscheidet, auf welche früheren Texte sie anspielen (von denen sie sich oftmals zugleich absetzen wollen) und was letztlich so besonders an ihnen ist (oder auch nicht). Um dies zu verdeutlichen, habe ich bereits in der Überschrift zu diesem einführenden Kapitel ein (so nennt es die Intertextualitätstheorie) unmarkiertes Zitat versteckt. „Kein Buch ohne Vorwort“: So ist das Vorwort von Erich Kästners autobiographischem Roman (auch solche Zwischengattungen gibt es) Als ich ein kleiner Junge war von 1957 (Kästner 1998a, 9) überschrieben. Erich Kästner, einer der weltweit meistgelesenen Autoren deutscher Sprache, hat bekanntlich viele Bücher geschrieben und er hat über sich selbst einmal in der dritten Person eine Rede gehalten, in der es heißt: Unser Gast, meine Damen und Herren, ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schul‐ meister! Betrachtet man seine Arbeiten - vom Bilderbuch bis zum verfänglichsten Gedicht - unter diesem Gesichtspunkte, so geht die Rechnung ohne Bruch auf. Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten „Tiefe“, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz. Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand. Es steckt ja jeder in seiner eigenen Zwickmühle. Und auch unser Gast hätte nichts zu lachen, wenn er nicht das besäße, was Leute, die nichts davon verstehen, seinen „unverwüstlichen und sonnigen Humor“ zu nennen belieben. (Kästner 1999, 380 f.) 12 Kein Buch ohne Vorwort <?page no="13"?> Mit dem unmarkierten Zitat als Überschrift soll, um nun das eigene Vorwort zu interpretieren (oder zumindest, um seine Absicht zu erklären), bereits auch die Richtung vorgegeben werden. Denn das vorliegende Buch ist ein Lehrbuch und hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf humorvolle Weise zu unterrichten und zu belehren. Nicht im Medium der Literatur, sondern der Wissenschaft; nicht so brillant und erfolgreich wie Erich Kästner, der dennoch ein Vorbild sein kann und vielleicht auch sein sollte in seinem Bemühen, auf den gesunden Menschenverstand bauend, die aus seiner Sicht wichtigen Themen auf für ihn bestmögliche Weise durch Sprache zu vermitteln. Vorbild war und ist eine kurze Einführung von Jonathan Culler (Culler 2013), die etwas andere Ziele verfolgt und dennoch hier nachdrücklich empfohlen sein soll, sie wird - wie alle verwendeten Quellen - im Literaturverzeichnis am Ende des Bandes genannt. Anders als bei Culler, der aufbauend zu lesen wäre, bevor der systematische Griff zu den originalen Texten der Literaturtheorie folgt, soll es in dem vorliegenden Band nur, aber doch immerhin um erste Zugänge zu einer professionellen Textlektüre gehen. Wer mehr über literaturtheoretische Zugänge wissen möchte, wird eine Auswahl von weitergehenden Lektürehin‐ weisen finden und auch dies kann nur exemplarisch geschehen, um das eigene Denken und Recherchieren anzuregen. 13 Kein Buch ohne Vorwort <?page no="15"?> Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? Kunst ist, was als Kunst gilt - wie bereits im Vorwort angesprochen, entscheidet ein Expert*innendiskurs darüber. Dies gilt für alle Bereiche der bildenden Kunst, der Musik und eben auch des Films und der Literatur, die hier besonders in den Blick genommen werden sollen. Dass es nicht so viele Institute oder Fächer für Filmwissenschaft gibt wie für Literaturwis‐ senschaft, hat historische Gründe: Literatur existiert seit mehreren tausend Jahren, das Theater wird ihr üblicherweise zugerechnet, auch wenn es durchaus als Spezialisierung das Fach Theaterwissenschaft an Universitäten gibt. Der Film ist ein relativ junges Medium, ebenso wie Hörmedien, etwa die Schallplatte, und schließlich Hörfunk und Fernsehen, die eine dafür geeignete Infrastruktur voraussetzen (Sendeanstalten, Empfangsgeräte…). Auch das Computerspiel und die sogenannten Neuen Medien sind interes‐ sant für Studierende - es gibt bereits entsprechende Angebote an einigen Universitäten, sich mit ihnen intensiver zu beschäftigen, auch im Bereich der Kulturwissenschaften - und bieten Beiträge zum weiten Feld der Kunst. Beschränkung tut also auch hier Not. Spielfilme und Folgen von Serien können mit literarischen Texten relativ leicht verglichen werden, auch wenn sie anderen Gesetzen unterliegen. Ihre Handlung ist fiktiv (als Handlung er‐ funden) oder auch fiktional (von außen betrachtet und als Erzählung wahr‐ genommen), also Teil der Fiktionen, die für Literaturwissenschaftler*innen deshalb so spannend sind, weil sie gestalten, was möglich sein könnte. Dieses Potential gibt Literatur und Film eine diagnostische Qualität, zumindest wird ihnen eine solche immer wieder attestiert. Ein bekanntes Beispiel, wenn es um mögliche zukünftige Welten geht, wäre der Film Metropolis (1927), bei dem Fritz Lang Regie führte und der zahlreiche weitere Fiktionen - etwa den Film Blade Runner (1982; Regie Ridley Scott) - und durch diese Fiktio‐ nen auch die Vorstellung vieler Menschen etwa von Architektur, sozialen oder politischen Strukturen beeinflusst hat. Als Beispiel für vergleichbare Literatur kann etwa auf Aldous Huxleys Roman Brave New World (1932) verwiesen werden, der eine dystopische Welt zeichnet und dessen Konzept durch zahlreiche weitere, mehr oder weniger berühmte Romane adaptiert, variiert und weitergedacht worden ist, etwa von George Orwell in 1984 <?page no="16"?> (1949) oder von Walter Jens in Nein. Die Welt der Angeklagten (1950) bis hin zu Juli Zeh in Corpus Delicti (2009). Unter den populären Lesestoffen und -filmen, die sich diesen (und anderen) Vorbildern verdanken, wäre Suzanne Collins’ dreiteilige Romanreihe The Hunger Games (2008-10) zu nennen (dt. Die Tribute von Panem); die darauf basierende vierteilige Filmreihe (2012-15) zählt zu den sogenannten Blockbustern der 2010er Jahre. Wie diese wenigen Beispiele zeigen, stehen literarische Texte und Filme in einem kulturellen Zusammenhang, indem sie an frühere Texte und Filme anschließen und diese, in der einen oder anderen Weise und mehr oder weniger deutlich markiert, zitieren: In der Literaturwissenschaft heißt dieses Phänomen Intertextualität. Dabei werden Themen, Stoffe und Motive (vgl. Daemmrich 1995) tradiert und variiert - das sind die Fachausdrücke für größere oder kleinere Handlungssequenzen, die ähnlich sind (vgl. Neuhaus 2017a, 114-116). So ist etwa der gemeinsame Liebestod in Romeo und Julia (1597) von William Shakespeare oder in Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) von Gottfried Keller ein Motiv, während es sich bei Faust und dem Teufelspakt um einen Stoff handelt, der in einem Volksbuch aus dem Mittelalter und von Autoren wie Johann Wolfgang Goethe in den beiden Faust-Dramen (1808/ 32) oder von Thomas Mann in Doktor Faustus (1947) behandelt wurde. Faust ist dabei sowohl eine historische Person als auch (fiktionalisiert) eine Figur in literarischen Texten. Themen wären etwa die sich fatal auswirkenden familiären Konflikte im ersten Stoff-Beispiel, die Pars pro toto für gesellschaftliche Konflikte stehen, und der Drang nach Wissen um jeden Preis im zweiten - die Liste ließe sich je nach Blickrichtung und Interesse erweitern. Für solche Beziehungen zwischen Texten und Filmen auf verschiedenen Ebenen gibt es verschiedene Begriffe, etwa Paratextualität oder Palimpsest - eine Metapher, wird als Palimpsest doch eigentlich die im Mittelalter mangels Material übliche Praxis des Überschreibens von Manuskripten oder Manuskriptteilen bezeichnet (ein komplexes Inventar von Begriffen zur Intertextualität findet sich bei Genette 1993). Das Alter von medialen Angeboten und ihre Beziehungen untereinander sind auch deshalb so wichtig, weil sie dadurch länger auf das sogenannte kollektive Gedächtnis wirken konnten - ein Begriff, den Jan Assmann populär gemacht hat (Assmann 2002) und der mittlerweile eine eigene Forschungsrichtung innerhalb der Kulturwissenschaften bezeichnet. Erin‐ nerung (als aktives Hervorholen von Gedächtnisinhalten) und kommunika‐ tives Gedächtnis (als das, was gegenwärtig erinnert wird) sind verwandte 16 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="17"?> Begriffe, die sich auf die aktuellen Gedächtnisinhalte beziehen (vgl. Welzer 2005), während das kulturelle Gedächtnis als Speicher fungiert, auf den zurückgegriffen werden kann; vergleichbar einer Bibliothek, aus der Bücher erst geholt werden müssen, um sie zu lesen. Die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft ist groß: „Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Ver‐ gangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft“ (Assmann 2002, 42). Wie zuvor der von ihm rezipierte Maurice Halbwachs und andere ist auch Jan Assmann der Auffassung, dass „die Vergangenheit […] eine soziale Konstruktion“ darstellt, „deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart her ergibt“ (Assmann 2002, 48). Vergangenheit als „kulturelle Schöpfung“ (ebd.) zu betrachten wird einem späteren Kapitel vorbehalten sein. Festzuhalten bleibt, wiederum mit Assmann: „Erinnerung ist ein Akt der Semiotisierung“ (Assmann 2002, 77). Wir erinnern nicht einfach etwas, sondern wir passen es in Sinnzusammenhänge ein, in denen „Erinnerungen immer individuell und kollektiv zugleich“ sind (Welzer 2005, 170), so dass „der Übergang von wahren zu falschen autobiographischen Erinnerungen durchaus fließend ist“ (Welzer 2005, 34). Vielleicht sind deshalb Fiktionen auch so attraktiv und wirkmächtig, weil sie sich so gut mit dem verbinden lassen, was wir fühlen und denken, ganz unabhängig von dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt, der oft nur schwer zu ermitteln ist und bestimmt wird durch „Intersubjektivität“ (Welzer 2005, 83), also durch soziale Übereinkünfte. Jedenfalls gelten Produktionen, die als Bestandteil der Kunst angesehen werden, viel - sie bedeuten nicht immer ökonomischen Erfolg, aber zumindest immer Ansehen von der Gruppe der Expert*innen. Und oft genug folgt dem Ansehen auch der ökonomische Erfolg, etwa durch Stipendien und Preisverleihungen. Es gibt Konzepte, die solche Zusammenhänge erklären helfen und die sich unter dem Begriff der Literaturvermittlung zusammenfassen lassen (vgl. Neuhaus 2009). Wer sich darüber informieren will, welche Filme und welche Bücher als ‚besonders wertvoll‘ angesehen werden, die oder der kann sich sogenannte Bestenlisten (nicht: Bestsellerlisten, die den Verkaufserfolg abbilden wollen) ansehen, für die aktuelle Belletristik etwa die renommierte Bestenliste des SWR (www.swr.de/ swr2/ literatur/ bestenliste/ index.html) und für Filme die Seiten der Deutschen Film- und Medienbewertung FBW (www.fbw-f ilmbewertung.com). Wer wissen möchte, welche Bücher und Filme aus einer historischen Perspektive als besonders künstlerisch und somit auch 17 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="18"?> als besonders wichtig für das kollektive Gedächtnis angesehen werden, für die oder den gibt es verschiedenste Angebote. Für Filme etwa gilt die von einer internationalen Jury zusammengestellte Liste der Zeitschrift Cahiers du Cinéma als besonders wichtig; die von der Zeitschrift ermittel‐ ten wichtigsten 100 Filme aller Zeiten finden sich zusammengefasst auf der International Movie Database IMDb (www.imdb.com/ list/ ls050032005), wobei auffällig ist, dass die hier ebenfalls abgebildeten Bewertungen der Nutzer*innen der Webseite durchaus anders ausfallen (weil Expert*innen oft anders urteilen als Nichtexpert*innen). Bei Literatur reicht das Spektrum von Leselisten auf den Homepages von Germanistik-Instituten (etwa auch der Universität Koblenz; www.uni-koblenz-landau.de/ de/ koblenz/ fb2/ inst-g ermanistik/ studium/ leselisten) bis zu dem Kanonspiel der Internetzeitschrift für Literaturkritik namens literaturkritik.de (kultur-wissenschaft.de/ kanon/ index.php), an dem sich alle Nutzer*innen der Seite beteiligen können. Goethes erstes Faust-Drama von 1808 gilt Expert*innen als wichtigster Text der deutschsprachigen Literatur und es ist auch bei dem genannten, demokratisch funktionierenden Kanonspiel seit Gründung der Zeitschrift und Einrichtung des Spiels unangefochten auf Platz 1 der „ranghöchsten Erzähltexte und Dramen“ (ebd.). Dabei dürfte die Lektüre des Dramas bei vielen Leser*innen dieser Zeilen unangenehme Erinnerungen wachrufen. Die wenigsten werden es außerhalb der Schule aus eigener Initiative gelesen haben. Die meisten, die es in der Schule gelesen haben, werden große Ver‐ ständnisprobleme gehabt haben, angefangen mit dem fehlenden Verständnis dafür, dass es für sie sinnhaft sein soll, so einen alten Text über die Probleme eines Wissenschaftlers zu lesen - weshalb viele die Lektüre nur halbherzig betrieben haben dürften, bestenfalls mit dem Ziel, auch ohne „Leselust“ (Anz 1998, 11) im Unterrichtsgespräch und in der Klausur im Rahmen ihres eigenen Notenziels möglichst gut dazustehen. Zunächst einmal gilt für die Lektüre von Literatur wie für das Leben, dass „Lust und Glück nichts Dauerhaftes“ und „nur im Wechsel mit Unlust zu haben“ sind (Anz 1998, 7). Wer keine Unlust verspürt, die oder der weiß auch nicht, was Lust ist. Das hilft allerdings bei der Faust-Lektüre nicht weiter, etwa nach dem Motto: schön, dass es mir keine Lust bereitet, dass es keinen Spaß macht. Wer Faust oder vergleichbare Texte gern liest, die oder der will sich nicht primär unterhalten lassen, sondern hat den Wunsch, „ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken“ (Anz 1998, 10), also sich Gedanken über das Gelesene zu machen. In diesem Sinne ist Literatur vor 18 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="19"?> allem Anregung und nicht die Antwort auf eine Frage, sondern die Frage selbst - oder eine ganze Menge Fragen. Der bereits im Vorwort zitierte Erich Kästner hat dem Problem, dass Leser*innen von Literatur Antworten erwarten, ein Gedicht gewidmet mit dem Titel Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner? Seine lapidare Antwort: „Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt“ (Kästner 1998b, 170). Eine Anspielung (in der Literaturwissenschaft sprechen wir von einem unmarkierten Zitat) auf Goethes Faust enthält folgende Strophe: „Die Spezies Mensch geht aus dem Leime / und mit ihr Haus und Staat und Welt. / Ihr wünscht, daß ich’s hübsch zusammenreime, / und denkt, daß es dann zusammenhält? “ (ebd.). Im Faust heißt es: „Daß ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält [,]“ (Goethe 1996, 20). Gefordert sind aktive Leser*innen, die sich ihren eigenen Reim auf das machen, wozu Texte nur den Anstoß geben können. Dieses Gedicht von Kästner legt den Finger in die Wunde des Wunsches, sich gern etwas vormachen zu lassen und sich einzubilden, alles sei schon gut so, wie es ist. Literatur, Film und Kunst allgemein möchten kritisches Denken anstoßen und vor allem danach wird ausgewählt, was als kulturell bedeutsam gilt und was nicht. Ein bekannteres Beispiel für den Versuch von Literatur, einen solchen Reflexionsprozess anzustoßen, ist Bertolt Brechts Konzept des epischen Theaters. Sogenannte Verfremdungseffekte (von dissonanter Musik über Spruchbänder bis zur direkten Anrede des Publikums durch die Schauspie‐ ler*innen mit der Aufforderung, über das Gezeigte nachzudenken) wurden von ihm und anderen Dramatiker*innen wie Theatermacher*innen noch zur Zeit der Weimarer Republik entwickelt, um die Zuschauer*innen davon abzuhalten, sich mit den Figuren zu identifizieren und dadurch nicht über die vorgeführten Probleme der Figuren nachzudenken. Brecht hat viel darüber geschrieben, eine der kürzesten Definitionen seines Konzepts dürfte folgender Aphorismus sein: „Für das Publikum gilt einem Stück gegenüber: Jeder sein eigener Kolumbus“ (Brecht 1997, 89). Jede*r soll die Bedeutung des Gezeigten für sich selbst suchen und finden, die oder der aktive Zuschauer*in ist gefragt und gefordert. Ein kleiner Streifzug durch den Wertungsdiskurs und die Frage nach dem Kanon der Bücher, die man gelesen haben sollte, um in einem Expert*in‐ nendiskurs mitreden zu können, muss nun umfangreichere Darstellungen ersetzen, soll aber einige Lektüretipps für jene geben, die sich umfassender einlesen wollen. Den ‚Problemen der literarischen Wertung‘ hat erstmals Walter Müller-Seidel 1965 eine Studie gewidmet (Müller-Seidel 1965), in 19 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="20"?> einer Zeit also, in der (nicht zuletzt wegen der Instrumentalisierung der Lite‐ ratur in der NS-Zeit) im Literaturstudium immer stärker nachgefragt wurde, weshalb welche Texte denn überhaupt als kanonisch angesehen werden. 1980 gab es immerhin schon genügend Material, um in der renommierten Reihe „Wege der Forschung“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft das zu veröffentlichen, was man heute einen ‚Reader‘ nennen würde, angefangen mit Schriften von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1759 bis zu in den späten 1970er Jahren erschienenen Aufsätzen (vgl. Gebhardt 1980). Aus dem englischsprachigen Diskurs über literary criticism - dort kennt man die im Deutschsprachigen fundamentale Unterscheidung zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft nicht - kam 1988 ein wichtiger Input, als Barbara Herrnstein Smith die ‚Kontingenz des Wertens‘ in den Mittelpunkt einer Studie rückte (vgl. Herrnstein-Smith 1991). Grundlegende Schlussfolgerungen aus all dem haben Renate von Heydebrand und Simone Winko in ihrer Einführung in die Wertung von Literatur gezogen (Heyde‐ brand / Winko 1996), eine Systematik des Wertens, die bis heute einen hohen Standard setzt - zusammen mit dem von Gabriele Rippl und Simone Winko verantworteten Handbuch Kanon und Wertung, das 2013 erschienen ist (vgl. Rippl / Winko 2013). Dazu kommen viele andere Publikationen, von Antworten auf die - hier von Hans-Dieter Gelfert - selbstgestellte Frage Was ist gute Literatur? (Gelfert 2006) über die exemplarische Dar- und Vorstellung von ‚Kultbüchern‘ (Klein 2014) bis zur Heranführung an das, was im neuen Jahrtausend aus welchen Gründen zu lesen sein könnte (vgl. Neuhaus / Schaffers 2016). Nachdem das Thema lange vernachlässigt wurde, hat sich in der Forschung viel getan und die Liste der Arbeiten, aber auch die Variationsbreite der Zugänge ist beeindruckend. Will man oder frau nun wissen, was Kunst und Literatur wirklich sind, oder provokativ am Objekt gefragt: Ist das Kunst oder kann das weg? , dann lässt sich zunächst allgemein mit Christian Saehrendt und Steen T. Kittl antworten: In freien Gesellschaften ist die Kunst, ob sie will oder nicht, immer Teil eines Zirkus’, der mit Stars, Rollen, Symbolen und Bedeutungen handelt wie der Bäcker mit Brötchen. Selbst Kunstgueilleros wie Banksy oder Blu akzeptieren diese einfache Weisheit, ohne deshalb die Spraydose in den Müll zu werfen. Denn Kunst hat trotz allem reale Werte, die auch jenseits ambitionierter Avantgarde- Manifeste und Kuratorentheorien zu einem gelingenden Leben beitragen können (Saehrendt / Kittl 2016, 232). 20 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="21"?> Allerdings haben die beiden Autoren, und das spielen sie hier herunter, eine intellektuelle Vorstellung davon, was ‚ein gelingendes Leben‘ auszeichnet, wenn sie Begriffe wie „Ambiguitätstoleranz“ verwenden (ebd.), die man durch Kunst lernen kann. Der Soziologe Niklas Luhmann, dem wir eine der wenigen grundlegenden theoretischen Studien über das für unsere Gesellschaft weitestgehend verbindliche Konzept von Kunst verdanken, hat der Idee, Kunst sei marktabhängig wie die eben zitierten Brötchen, schon in den 1990er Jahren eine Absage erteilt: „Die Anlehnung an die Wirtschaft gibt der Kunst, das sollte man nicht unterschätzen, sehr viel mehr Freiheit als die Anlehnung an Mäzene“ (Luhmann 1997, 266), also an Adelige oder andere Höhergestellte, die bis ins 18. Jahrhundert Künstler*innen und Autor*innen gefördert (wir würden heute sagen: gesponsert) haben und ohne die es vor der Moderne kein Kunst- und Literatursystem gegeben hätte. Mit der Aufklärung wird ein seinerzeit neues, eben modernes Konzept von Kunst immer populärer, dem „Neuheit als Erfordernis von Kunstwerken“ (Luhmann 1997, 323) zugrunde liegt. Vorher galt es, möglichst kunstvoll anerkannte Regeln zu variieren; nun gilt es, etwas Neues zu schaffen, wenn auch durchaus auf der Basis des Bestehenden, damit es überhaupt als ‚neu‘ erkannt werden kann. Das Kunstwerk verweist seither immer zunächst auf sich selbst, in Luhmanns Worten: „Der Schwerpunkt hat sich mit dem Autonomwerden des Kunstsystems von Fremdreferenz auf Selbstreferenz verlagert“ (Luhmann 1997, 240). Selbstreferenz bedeutet, dass Sprache und Form in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, zumindest bei den Expert*innen, während Handlung und Inhalt, die eher zur Fremdreferenz zu zählen sind, weil sie etwa das Bedürfnis nach Unterhaltung und Ablenkung bedienen (Zwecke außerhalb des Kunstwerks selbst), weniger wichtig wer‐ den (vgl. hierzu auch Heydebrand / Winko 1996, 29-33). Durch das Reflexive, das Kunst somit notwendigerweise bekommt, macht sie „Wahrnehmung für Kommunikation verfügbar“ (Luhmann 1997, 82), und zwar eine Wahrneh‐ mung, die von der Realität grundsätzlich unterschieden ist. Wenn etwas real ist, ist es keine Kunst und umgekehrt, es sei denn, Kunst präsentiert etwas aus der Realität, um zu provozieren - auch das hat es oft genug gegeben. Selbst dann geht es aber um die Differenz von Realität und Kunst, auch wenn die Provokation darin besteht, mit einer weitgehenden Einebnung dieser Differenz das Kunstsystem selbst zu provozieren (so wie dies etwa Peter Handke getan hat, vgl. das Beispiel unten). Luhmann geht sogar so weit zu sagen, man oder frau könne „an Kunst‐ werken das Beobachten lernen“ (Luhmann 1997, 90). Diese Feststellung 21 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="22"?> greift noch weiter als praktische Aspekte, wie die oben genannte „Ambigui‐ tätstoleranz“, oder ist überhaupt erst die Voraussetzung dafür, Ambiguität (Mehrdeutigkeit) zu erkennen und eine Toleranz für sie zu entwickeln. Idealerweise sorgen ein Kunstwerk oder ein literarischer Text dafür, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und, wenn nötig, zu korrigieren: „Der Betrachter wird angeleitet, sein Beobachten zu beobachten und damit auch eigene Eigentümlichkeiten, Vorurteile, Beschränktheiten zu bemerken, die ihm vorher als eigene gar nicht aufgefallen waren“ (Luhmann 1997, 144). Die „Unterscheidung von Kunst und Kitsch“ (Luhmann 1997, 300) lässt sich für Luhmann vor allem bei der Betrachtung des Formwillens treffen: „Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke - nur eben mißglückte“ (Luhmann 1997, 316). Wenn also ein literarischer Text auf mutige Weise versucht, etwas Neues zu schaffen und dabei durch Sprache und Form die Wahrnehmung seiner Leser*innen zu irritieren, ist das zunächst einmal gut und ein Hinweis darauf, dass der Text Kunst sein will. Wenn er aber von vornherein auf solche Irritationsmomente verzichtet und es seinen Leser*innen möglichst einfach macht, indem er ihre Erwartungshaltung bestätigt - dann ist das ein Hinweis darauf, dass der Text im günstigsten Fall zur Unterhaltungsli‐ teratur zählt, wenn nicht zur Trivialliteratur (eine immer schon abwertende Bezeichnung). Wer Literatur interpretieren will, die oder der muss sich mit dem „Code als Moment der Selbstorganisation des Kunstsystems“ (Luhmann 1997, 317), also mit den besonderen Regeln auseinandersetzen, die für Kunst gelten - auch dies wird in weiteren Kapiteln noch Thema sein. Literarische Texte funktionieren fundamental anders als etwa Sachtexte - auch, wenn es sich scheinbar um Sachtexte handelt, wie beispielsweise Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 von Peter Handke, veröffentlicht in dem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt von 1969: Warra Leupold Popp Ludwig Müller Wenauer Blankenburg Starek Strehl Brungs Heinz Müller Volkert Spielbeginn: 15 Uhr (zit. nach Frank 2003, 50) 22 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="23"?> Hier geht es um die Provokation, einen Ausschnitt aus der Realität als Literatur auszugeben, um den seinerzeit elitären Literaturbegriff anzuprangern. Nun ist die Frage, wie und weshalb Literatur auf Realität referieren sollte, eine äußerst komplexe und hier sicher nicht zu beantwortende. Festzuhalten bleibt, dass eine Interpretation dieses Handke-Texts ohne Blick auf den Kontext nicht funktioniert, in den beispielsweise auch Leslie Fiedlers berühmte, von marxistischen Theorien inspirierte Rede aus dem Jahr 1968 gehört, mit der Forderung, den ‚Graben‘ zwischen „einer Kunst für die ‚Gebildeten‘ und einer Subkunst für die ‚Ungebildeten‘“ zu schließen (Fiedler 1994, 31). Insofern möchte der Text wohl, mit den eben zitierten Worten Luhmanns, auf die „Vorurteile“ und „Beschränktheiten“ der Leser*innen verweisen, die ‚nur‘ Texte lesen, denen sie einen hochliterarischen Wert unterstellen - ohne diese Texte auf ihren literarischen Wert zu befragen. Über die bloße Absicht hinaus, zum Nachdenken anzuregen, stellt Handkes Text ganz grundsätzlich die Frage danach, was einen Text überhaupt erst lesenswert macht. Möglichkeiten eines solchen intellektuellen Nutzens von Literatur, der über die Befriedigung ‚fremdreferentieller‘ Bedürfnisse wie nach bloßer Unterhaltung hinausgeht, werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt. 23 Wann und weshalb gehören Literatur und Film zur Kunst? <?page no="25"?> Was sind Fiktionen? Grundlagen von Fiktionalität Fiktiv ist das Fliegende Spaghettimonster, kurz FSM (de.wikipedia.org/ wi ki/ Fliegendes_Spaghettimonster). Dass es sich um eine Religionsparodie handelt, erschließt sich bei näherer Beschäftigung. Als fiktional könnte man die Erzählung vom FSM ansehen, wenn es sich um eine literarische Fiktion handeln würde. Versteht man „literarische Fiktion als ästhetische Funktion“ (Zipfel 2001, 20), dann ist mit Fiktion zwar etwas Erfundenes gemeint, das aber in einer künstlerisch anspruchsvollen Sprache und Form dargeboten wird und das in einem komplexen Verhältnis zur außerliterarischen Realität steht. Fragt man genauer nach diesem komplexen Verhältnis, dann werden sofort einige grundlegende Probleme der Fiktionalität in literarischen Tex‐ ten sichtbar. Leser*innen lassen sich auf Texte ein, indem sie für die Dauer der Lektüre annehmen, dass das, was sie lesen, ‚wahr‘ ist. Diese Erkenntnis ist sehr alt, sie geht im Grunde bereits auf die Antike zurück und sie ist 1817 von Samuel Taylor Coleridge griffig als „willing suspension of disbelief “ bezeichnet worden, als „unausgesprochene[r] Vertrag“, für den gilt: „Selbstverständlich ist jedem Rezipienten bei der Lektüre einer Fiktion bewusst, dass er eine solche in Händen hält“ (Mader 2017, 73). Mit Philippe Lejeune kann man auch von einem ‚Pakt mit dem Leser‘ sprechen, den ein Text mit seinen Leser*innen schließt, um zu ‚funktionieren‘. Lejeune hat den Begriff des Pakts zunächst auf die Autobiographie bezogen: Wer eine solche liest, geht davon aus, dass es sich um reale lebensgeschichtliche Ereignisse handelt. Die Übertragbarkeit auf andere Gattungen liegt nahe: „Und so wie es einen autobiographischen Pakt gibt, so gibt es auch einen Romanpakt“ (Wagner- Egelhaaf 2000, 67). Wer einen Roman oder einen anderen fiktionalen Text liest, die oder der nimmt an, dass sich die geschilderten Ereignisse eben nicht in der Realität zugetragen haben: „Man kann schließlich sehr wohl wissen, daß der eigenen Imagination keine wirkliche Welt entspricht, so wie man bei optischen Täuschungen die Täuschung sozusagen wegwissen kann, aber sie trotzdem sieht“ (Luhmann 1997, 93). <?page no="26"?> Doch auch wenn „die Opposition von Wirklichkeit und Fiktion […] zu den Elementarbeständen unseres ‚stummen Wissens‘“ zu gehören scheint, so lässt sich doch fragen, „ob die gewiß handliche Unterscheidung von fik‐ tionalen und nicht-fiktionalen Texten sich an dieser geläufigen Opposition festmachen läßt. Sind fiktionale Texte wirklich so fiktiv, und sind jene, die man nicht so bezeichnen kann, wirklich ohne Fiktionen? “ (Iser 1993, 18). Dass es sich um eine rhetorische Frage handelt, zeigt bereits die implizite Bewertung durch das Adjektiv ‚handlich‘, will sagen: Natürlich ist die Sache nicht so einfach, wie sie zu sein scheint. Die allgemeinen „Spielregeln“ ( Jannidis 2004, 11) der Lektüre stimmen oft nicht mit dem überein, was die Texte tatsächlich tun. Es fängt damit an, dass Autobiographien gar nicht ‚objektiv‘ Realität wiedergeben können: „Es liegt auf der Hand, dass niemand in der Lage ist, die subjektive Wahrnehmungs‐ perspektive hinter sich zu lassen“ (Wagner-Egelhaaf 2000, 2). Beobachtung hat immer, wenn sie reflexiv ist, die „Form der Kontingenz, des Auch-andersmöglich-Seins“ (Luhmann 1997, 112). Wenn jemand retrospektiv über ihr oder sein Leben erzählt, dann ist diese Erzählung, neben der schwierigen historischen Differenz zu dem früheren Selbst, vielen Erwartungen und Einflüssen unterworfen und entsprechend stilisiert, so dass in der Regel versucht wird, Erfahrungen von Kontingenz einzuebnen. Die zufälligen, von zahlreichen anderen Personen und Geschehnissen abhängigen Ereignisse, die den Lebensweg mitbestimmt haben, werden gleichsam naturalisiert und zu einem ganz persönlichen ‚Mythos des Alltags‘ geformt (vgl. Barthes 2016). So wird niemand ihre oder seine Lebensgeschichte als Verfallsgeschichte erzählen, das Muster wird sein: Wie ich so erfolgreich geworden bin. Unangenehmes und die Erfolgsgeschichte Störendes wird dabei in der Regel ausgeblendet. Umgekehrt können literarische Texte besonders realitätsbezogen sein, etwa Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929). Selbst wenn Romanfiguren Namen aus der Realität tragen wie etwa in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005), so hat es sie doch nie in dieser Gestalt (also in dem geschilderten Handeln und Denken) als lebende Personen gegeben (den Unterschied zwischen Figuren in einem literarischen Text und Personen in der realen Welt außerhalb von Texten hat Fotis Jannidis herausgearbeitet, vgl. Jannidis 2004). Sachtexte über reale Personen können dennoch Teil von Literatur werden und so angenommene Gattungsgrenzen überschreiten, auch weil Literatur, wie im letzten Kapitel gezeigt, von einer ständigen Suche nach Neuem gekennzeichnet ist. So hat Döblin für seinen 26 Was sind Fiktionen? <?page no="27"?> Roman Zeitungsartikel ausgewertet und ohne Kennzeichnen des Übergangs Zitate aus diesen Artikeln (und aus anderen Quellen) in seinen Roman einmontiert. Wer sich das Manuskript im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar ansieht, wird mit eigenen Augen sehen können, wo der von Döblin getippte Text in geklebte Ausschnitte übergeht (und umgekehrt). Dass fiktionale Literatur von Erfundenem handelt, ist also nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite lässt sich feststellen, dass sich Literatur zwar selten so direkt wie im Beispiel von Döblins Roman, aber dennoch immer auf die Realität bezieht und auch auf sie zurückwirkt, sofern ihre Leser*innen die Lektüreeindrücke aufnehmen und mit ihrer Erfahrungsrealität abgleichen - und daraus etwas für sich lernen. Das heißt nicht, dass Leser*innen zwangsläufig von literarischen Texten beeinflusst werden. Texte können zwar so etwas anstreben und tatsächlich kann es auch so sein, dass Leser*innen den „Beobachtungsdirektiven“ (Luhmann 1997, 129) in Texten ganz direkt folgen, aber dabei handelt es sich eher um Aus‐ nahmen. Negative Beispiele für solche Wirkungen wären nationalistische Dichtungen von den Befreiungskriegen 1813-15 bis zum Nationalsozialis‐ mus 1933-45 und positive Beispiele dann antinationalistische Dichtungen, die sich für internationale Verständigung, Toleranz und Menschlichkeit einsetzen (vgl. Neuhaus 2002a, bes. 131-156 u. 175-275). Sich für Gerechtigkeit und Toleranz einsetzende Literatur steht vor dem Problem, dass sie, wenn sie konkrete Handlungsanweisungen formu‐ liert, selbst totalitär werden kann. Auch die Literaturwissenschaft hat, etwa in der NS-Zeit, mit konkreten Deutungen und daraus resultierenden Empfehlungen negative Erfahrungen gemacht - abgesehen davon, dass Festlegungen auf bestimmte Deutungen einem literarischen Text nicht gerecht werden. Aufgabe einer literarische Texte als Literatur im engeren Sinn wahrnehmenden Lektüre ist es daher vielmehr, zu erkennen und zu beschreiben, wie die in den „Texten erkennbaren Mischungsverhältnisse von Realem und Fiktivem […] offensichtlich Gegebenes und Hinzugedachtes in eine Beziehung“ setzen (Iser 1993, 18). Wolfgang Iser schlägt vor, das Begriffspaar ‚das Reale‘ und ‚das Fiktive‘ durch ‚das Imaginäre‘ zu ergänzen, doch dies genauer zu erläutern würde hier sowohl zu weit führen als auch zu kurz greifen. Selbst eine „Triade“ (Iser 1993, 19), also die Verwendung von drei statt zwei Begriffen, dürfte nicht ausreichen, um die Komplexität der Interpretationsmöglichkeiten in den Griff zu bekommen. Wir haben es nicht nur mit dem Problem zu tun, dass die gängige Unterscheidung von Fakten und Fiktionen ergänzungsbedürftig wäre. Dazu kommt erschwerend, dass 27 Grundlagen von Fiktionalität <?page no="28"?> auch Fakten in gewisser Weise teilfiktiv sind, weil sie von der jeweiligen Perspektive abhängen. Dies gilt, wie am Beispiel der Autobiographie gezeigt, nicht nur für die subjektive Wahrnehmung, sondern auch für kollektive Wahrnehmungsangebote - etwa wenn Autobiographien auf historische Begebenheiten rekurrieren. Auch gilt es bereits für die Art und Weise, wie historische Begebenheiten gesehen werden. Der gelehrige Kant-Schüler Friedrich Schiller hat aus diesem Umstand, bereits für seine berühmt gewordene Antrittsvorlesung als Professor für Philosophie und Geschichte in Jena Ende Mai 1789 mit dem viel zitierten Titel Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? , wichtige Schlussfolgerungen gezogen: Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinander greifen. Ganz und vollzählig überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt. […] Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden. Dahin gehören alle, die dem Menschengeschlechte selbst und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen sind. Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren. (Schiller 1980, 761) Und weiter: „So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammen‐ hängenden Ganzen“ (Schiller 1980, 763). Mit anderen Worten: Was wir unter Geschichte verstehen, entspringt einer Konstruktionsleistung, die Voraussetzungen im (jeweiligen) Hier und Jetzt hat. Hans Robert Jauß wird in dem Titel seiner Antrittsvorlesung im Jahr 1967 auf Schiller anspielen; seine später unter einem anderen Titel publizierte Vorlesung lautete Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literatur‐ geschichte? , aber dazu mehr im nächsten Kapitel. Es ist sicher auch kein Zufall, dass Hayden White 1973, also in der Blütezeit des (auch als Folge der Erfahrungen mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts entstandenen) Konstruktivismus, seine Studie Metahistory nannte (vgl. White 1991). Wie 28 Was sind Fiktionen? <?page no="29"?> kontingent freilich auch diese Entwicklung einer Meta-Geschichtsschrei‐ bung ist, zeigt sich schon daran, dass White auf die deutschsprachige Philosophie und Literatur zurückgreift, aber gerade nicht auf Schiller. Der befand sich weniger auf der Seite der Geschichte als auf der Seite der Ima‐ ginationskraft und somit der Literatur, denn er hatte in seiner Bearbeitung historischer Stoffe überhaupt keine Skrupel, historische Daten und Fakten so zu verändern, wie er fand, dass es sein literarisches Konzept verlangte. Dass Schiller damit bis heute sein Publikum überfordert, belegt insbesondere die Rezeption seiner oft falsch interpretierten und instrumentalisierten ‚historischen‘ Dramen. Am Beispiel des Wilhelm Tell soll dies näher gezeigt werden. Wichtig ist also weniger die Frage, was wir als Wissen betrachten, sondern eher, wie dieses Wissen präsentiert wird. Die Darstellung der ‚Welt‘ in den Massenmedien ist dabei ein zentraler Filter unserer Wahrnehmung: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 2004, 9). Ihre Berichterstattung ist zwar auf Fakten bezogen, aber dennoch erzeugen die Massenmedien eine eigene, spezifische Sicht auf die Realität, die in ihrer Funktionsweise begründet ist (vgl. ausführlich Luhmann 2004). Wenn dies nicht so wäre, dann wäre ein plurales System der Massenmedien, wie es in demokratischen Gesellschaften üblich ist, ebenso überflüssig wie jeder Meinungsaustausch oder Kompromiss und es wäre einfach, ‚die Wahrheit‘ zu identifizieren und zu kommunizieren. Es gäbe, das wäre für einen solchen Zustand eine Voraussetzung, keine Unterschiede zwischen den Individuen, denn alle hätten die gleichen, identischen Auffassungen, die es lediglich zu finden und zu verbreiten gälte. Gesellschaften, die auf solchen Ideologien von absoluter Gleichheit beruhen, sind jedoch bisher stets totalitär gewesen. Gleiche Rechte zu haben bedeutet eben auch, verschiedene Anlagen zu haben und unterschiedliche Lebensstile pflegen zu dürfen. Dazu kommt: Was wir zu wissen glauben, ist gar nicht so sehr von dem abhängig, was wir als Fakten bezeichnen. Unsere Gefühle und Wünsche treiben uns an und wir versuchen gern, sie zu objektivieren, um uns die ‚Welt‘ gefügig zu machen. Dass wir dies als Autor*innen und Leser*innen bedenkenlos tun können und dürfen, hat bereits Sigmund Freud in seinem kleinen, aber gehaltvollen Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren von 1908 betont. Im „Spiele der Phantasie“ (Freud 1999a, 214) ist es uns möglich, in einer „Ersatz- und Surrogatbildung“ (Freud 1999a, 215) - man könnte auch sagen: in codierter Form - uns selbst das, was wir uns nicht eingestehen 29 Grundlagen von Fiktionalität <?page no="30"?> wollen, in der Imagination zu erfüllen. Freud nennt dies „eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“ (Freud 1999a, 216). Zusammenfassend stellt er fest: „Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtrau‐ mes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet“ (Freud 1999a, 223). So wird es Autor*innen wie Leser*innen möglich gemacht, die „eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen“ (ebd.). Wenn wir etwa an „ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische“ denken (Freud 1999a, 217), dann eröffnet sich vor allem in der weniger auf Reflexion und mehr auf Stereotype setzenden Trivialliteratur ein weites Feld der Anwendungsmöglichkeiten: Männer können mit Ian Flemings James Bond die Welt retten und gleich‐ zeitig erotische Abenteuer erleben. Frauen können mit den Roman- und Filmfiguren von Rosamunde Pilcher oder E. L. James vom Märchenprinzen träumen, der zeitgemäß etwa als Chefarzt oder Multimillionär daherkommt und mit dem sich sozialer Aufstieg und erotische Erfahrungen problemlos kombinieren lassen. Solche Vorstellungen zementieren allerdings eher die patriarchalische Gesellschaftsordnung, von der noch die Rede sein wird (vor allem die früheren Bond-Verfilmungen versuchen mit Ironie gegen‐ zusteuern, vgl. Neuhaus 2021, 270-279). Auf kritische Reflexion setzende Literatur betont hingegen den von Freud so bezeichneten „rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn“ und unterläuft die genannten Klischees oder führt sie als solche vor. Lektüreverbote sind dennoch fehl am Platz, die Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter (vgl. §5 des deutschen Grundgesetzes). Nur der möglichst freie Austausch der Individuen untereinander, mit ihren verschie‐ denen Sichtweisen, kann demokratische Strukturen und auch Fortschritt überhaupt erst ermöglichen. Und gerade an dieser (letztlich imaginären) Nahtstelle von Fakten und Fiktionen, in der Reflexion über mögliche Reali‐ täten, damit auch über die stete Verbesserung der beobachtbaren Realität (unter Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen), werden fiktionale Texte und Filme besonders produktiv. Weder ist also faktuales Erzählen ‚nur‘ faktual noch ist fiktionales Erzählen ‚nur‘ fiktional. Und dennoch ist der Begriff des Fiktionalen hier besonders wichtig, weil er stets ein Ende des Spektrums des Wahrnehmungsprozesses bezeichnet. Fiktional kann dabei auch teilfiktiv bedeuten. Um es mit einer paradox scheinenden Formulierung zu sagen: Alles, was Bestandteil der Fiktion ist, ganz gleich, wie real es 30 Was sind Fiktionen? <?page no="31"?> zu sein scheint, ist Bestandteil der Fiktion. Der Alexanderplatz in Berlin in Döblins Roman Berlin Alexanderplatz ist nicht der reale Alexanderplatz in Berlin, auch wenn er auf ihn referiert. Insofern ist immer zuerst nach den besonderen Voraussetzungen des Mediums, der Zugehörigkeit etwa zu einem bestimmten Genre zu fragen. Das Fiktionale schließt auf die Realität bezogene, konkrete Wirkungsab‐ sichten immer ein, denn es ermöglicht eine kritische Perspektive auf das, was als Realität wahrgenommen wird. Fiktionalität begründet Distanz und damit die Möglichkeit, aus der Distanz heraus Erkenntnisse zu gewinnen, die zur Veränderung der außerfiktionalen Realität (zu der sich die fiktionale Realität in irgendeiner Weise verhält) beitragen. Triviale Literatur verzichtet nicht einfach auf die Möglichkeit, Distanz zu markieren und durch Erkenntnisge‐ winn Änderungsoptionen zu prüfen; sie festigt durch ihre fehlende Distanz bestehende Denkmuster. Das sind leider oftmals keine guten (vgl. Neuhaus 2017a, 201-204). Literatur ist, unabhängig von ihrer Qualität, im weiteren Sinn politisch, weil ihre Rezeption Folgen für das Denken und Verhalten von Mitgliedern der Gesellschaft hat; manche Texte thematisieren politische Konzepte sogar deutlich. Autor*innen, die mit fiktionaler Literatur politisch progressiv wirken wollen, stehen zumeist in der Tradition ‚linker Intellektueller‘: So ist es paradoxerweise die Autonomie des intellektuellen Feldes, die den Stiftungsakt eines Schriftstellers ermöglicht, der unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingreift und sich auf diese Weise zum Intellektuellen konstituiert. Das „J’accuse“, „Ich klage an“ [gemeint ist der berühmte Offene Brief von Émile Zola aus dem Jahr 1898], ist Abschluß und Vollendung des kollektiven Emanzipationsprozesses, der sich nach und nach im Feld der Kulturproduktion vollzog: Als prophetischer Bruch mit der etablierten Ordnung bekräftigt er erneut wider alle Staatsräson den irreduziblen Charakter der Werte Wahrheit und Gerechtigkeit und im gleichen Zug die Unabhängigkeit der Hüter dieser Werte gegenüber den Normen der Politik (der des Patriotismus zum Beispiel) und den Zwängen des Wirtschaftslebens. (Bourdieu 2001, 210) Die Positionierung von Autor*innen und ihren Texten spielt immer eine Rolle, in der Produktion wie in der Rezeption, auch wenn dies nicht immer gleich zu erkennen ist. Die Beziehung von Fiktion und Realität ist dabei immer paradox, denn das, was literarische Texte entwerfen, existiert schließlich ‚nur‘ in einer vorgestellten Realität, es wirkt aber für die Dauer der Lektüre real. Diese paradoxe Voraussetzung für eine literaturadäquate 31 Grundlagen von Fiktionalität <?page no="32"?> Lektüre führt oft genug dazu, wenn die Übereinstimmungen von Fiktion und Realität relativ groß sind, dass literarische Fiktionen als Sachtexte gelesen und eins zu eins auf die Realität bezogen werden. Beispiele für eine solche Lektüre, die Fiktion mit Realität kurzschließt, gibt es viele. So hat sich Theodor Fontane in einem Brief an seine Frau vom 28. August 1882 über eine Gruppe von Leser*innen seiner Erzählung Schach von Wuthenow (1882 in der Vossischen Zeitung in Fortsetzungen vorveröffentlicht und 1883 in Buchform erschienen) gewundert: Der hiesige märkische Geschichtsverein […] hatte nämlich gestern eine Exkur‐ sion nach Ruppin hin gemacht, und in der Einladung zu dieser Exkursion war ausgesprochen worden: „Fahrt über den See bis Schloß Wuthenow, das neuerdings durch Th. F. eine so eingehende Schilderung erfahren hat.“ Durch diese Einladung hatte das Comité nun eine Art von Verpflichtung übernommen, den Teilnehmern „Schloß Wuthenow“ zu zeigen, ein Schloß, das nicht bloß nicht existiert, sondern überhaupt nie existiert hat. Denn Wuthenow war nie Rittergut, sondern immer Bauerndorf. Einige der Teilnehmer haben aber bis zuletzt nach dem Schloß gesucht, „wenigsten die Fundamente würden doch wohl noch zu sehen sein“. (Fontane 1977, Bd. 2, 303) Um ein neueres, populäres Beispiel zu wählen: Die Schilderungen von Paris in Dan Browns Roman Da Vinci Code (dt. Sakrileg) von 2003 wurden als reale Ortsbeschreibungen gelesen. Touristen streiften mit dem Roman als Reiseführer durch die Stadt und wunderten sich, dass die Straßen und Örtlichkeiten nicht genau an der Stelle waren, die der Roman beschrieben hat. Ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ging sogar so weit, die literarische Fiktion der Lüge zu bezichtigen: „Wer sich auf den Spuren des ‚Da Vinci Code’ durch Paris bewegt, wird dauernd darauf stoßen, dass Dan Brown sich die Wahrheit zurechtgebogen oder mutwillig verfälscht hat“ (FAZ 2008). Hier wird der fundamentale Irrtum noch deutlicher. Die*der Autor*in des Zeitungsartikels ist offenbar nicht dazu in der Lage, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Würde man diese Logik weiterden‐ ken, dann wäre es ein Skandal, dass Timur Vermes in dem Roman Er ist wieder da (2012) Adolf Hitler in der Gegenwart der Romanveröffentlichung wieder auferstehen lässt, schließlich wissen die Leser*innen des Romans doch, dass der ‚Führer‘ 1945 Selbstmord begangen hat. Die Differenz von Fiktion und Realität kann also nicht genug betont werden. Und nur, weil literarische Fiktionen die Möglichkeit haben, sich über die Grenzen der Realität, auch der Naturgesetze, hinwegzusetzen, bieten sie die Möglichkeit, 32 Was sind Fiktionen? <?page no="33"?> über den Abgleich mit der beobachtbaren Realität ein kritisches Bewusstsein dieser Realität zu entwickeln. Wenn Novalis, der eigentlich Friedrich von Hardenberg hieß, in Heinrich von Ofterdingen (1802), dem paradigmatischen Roman der Romantik (vgl. Uerlings 1998, 175), die Entwicklung des Protagonisten, der den Namen eines sagenumwobenen Dichters des 13. Jahrhunderts trägt, zum Schriftsteller schildert und ihn in mittelalterlicher Zeit eine Reise von Eisenach nach Augsburg unternehmen lässt, dann ist die scheinbar der Zeit und den gesell‐ schaftlichen Umständen um 1800 entrückte Handlung dennoch genau auf die Welt der Leser*innen um 1800 bezogen, eine Welt, die nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Französischen Revolution von 1789 von politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüchen gekennzeichnet war. Orte und Figuren des Mittelalters verweisen in ihrer Symbolik auf die Gegenwart: Bei Eisenach liegt die Wartburg und der Name Klingso(h)r im Roman ist der Überlieferung des legendären Sängerkriegs auf ebendieser Wartburg entnommen; Augsburg ist die Stadt der Fugger und Kaufleute. Deshalb ist es besonders bezeichnend, dass Heinrich eben nicht, wie der Protagonist von Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796), zu einem im praktischen Sinne nützlichen Mitglied der Gesellschaft wird, sondern sich zum Künstler ausbildet. Der in der Literatur oft verhandelte Antagonismus von Künstlertum und Bürgertum, der beispielsweise später das Leben und Werk Thomas Manns prägen wird, nimmt hier seinen Anfang. Novalis’ Roman lässt sich daher lesen als eine der „[…] Utopien im Sinne von Gegenbildern zu bestehenden Ordnungen, die auf die gesellschaftliche Praxis wirken wollen“ (Uerlings 1998, 27). Literatur kann der Realität sogar noch weiter entrückt scheinen und doch ganz direkt auf sie bezogen sein. Hugo Balls Lautgedicht Karawane von 1920 scheint zunächst gar keinen Sinn zu machen: jolifanto bambla ô falli bambla grossiga m’pfa habla horem égiga goramen higo bloiko russula huju hollaka hollala anlogo bung blago bung blago bung bosso fataka 33 Grundlagen von Fiktionalität <?page no="34"?> ü üü ü schampa wulla wussa ólobo hej tatta gôrem eschige zunbada wulubu ssubudu uluw ssubudu tumba baumf kusagauma ba - umf (Echtermeyer 2010, 616) (Nicht sichtbar wird hier das Schriftbild, das sich durch unterschiedliche Schriftarten, Schriftgrößen und Hervorhebungen auszeichnet.) Der mögliche Sinn dieses Lautgedichts erschließt sich erst, wenn man etwas über den Dadaismus weiß. Ball war Mitbegründer der Gruppe Dada in Zürich, die durch künstlerische Aktionen auf die Manipulation und den Missbrauch von Sprache und Wahrnehmung durch die kriegführenden Mächte Deutschland und Österreich hinweisen wollte. Die scheinbar so harmlose Nachahmung von Geräuschen einer morgenländisch-exotischen Reisegruppe ist also gerade, weil sie eine größtmögliche Distanz zur zeitge‐ nössischen Realität schafft, auf genau diese gemünzt. Festzuhalten bleibt: Fiktionale Literatur arbeitet gern und oft mit Kontrasten und Paradoxien. Fiktionen als „Metapher“ und „Metonymie“ (Pierre Bourdieu) Fiktionale Literatur ist eine besondere Art der Kommunikation: „Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann“ (Luhmann 1997, 39). Literatur sagt etwas anderes als Alltagssprache, sie zeichnet sich durch „einen zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmun‐ gen“ aus (Luhmann 1997, 41). Deshalb gilt: Die „Aussage“ eines Gedichts [oder eines anderen literarischen Texts] läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann. Der Sinn wird über Konnotationen, nicht über De‐ notationen vermittelt, über […] die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten, aber nicht über den Satzsinn […]. (Luhmann 1997, 45 f.) 34 Was sind Fiktionen? <?page no="35"?> Es geht also weniger um das, was dargestellt oder erzählt wird, sondern eher um das, wie und mit welchen literarischen Mitteln etwas dargestellt oder erzählt wird (vgl. auch Luhmann 1997, 147). Und was dargestellt oder erzählt wird, verweist stets auf das Außerhalb des Texts, es generiert dabei mögliche Bedeutungen. Literatur ist, mit Pierre Bourdieu gesprochen, „Metapher“ und „Metonymie“: Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die ganze Komplexi‐ tät einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und als Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten. (Bourdieu 2001, 53) Dafür muss Literatur aber auch als solche erkennbar sein, zum Beispiel durch Bewertungen und Einordnungen innerhalb des Literaturbetriebs. Dieser Betrieb steht zu den anderen Bereichen der Gesellschaft in einem ähnlich paradoxalen Verhältnis wie die Fiktion zur Realität. Literatur, die zur Kunst gezählt wird oder werden will, möchte zunächst nicht die Zustimmung der Vielen finden und im herkömmlichen Sinn erfolgreich sein - sie möchte den Expert*innen im Literaturbetrieb gefallen. Deshalb gehen kleine Auflagen und geringe Verkaufserlöse eher mit Anerkennung durch die Expert*innen einher als große Auflagen und Erlöse. Für die notwendige Anerkennung und Auszeichnung als Literatur im Sinne von Kunst gibt es den Literatur- und „Kunstbetrieb“ mit seinen „Einrichtungen“, „etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (Luhmann 1997, 249). So ist, beginnend im 18. Jahrhundert, „eine verkehrte ökonomische Welt“ geschaffen worden: „Die symbolische Revolution, mit der sich die Künstler von der bürgerlichen Nachfrage lösen, indem sie keinen anderen Herrn und Meister anerkennen wollen als ihre Kunst, bringt den Markt zum Verschwin‐ den“ (Bourdieu 2001, 134). Das ist aber nur der Anfang der Entwicklung von „Avantgarde und [bzw. zu] arrivierter Avantgarde“ (Bourdieu 2001, 198). Denn in dem Moment, in dem (sofern sich der skizzierte Erfolg auch einstellt) das Neue für Lob von Expert*innen gesorgt und die das Gewohnte suchende Mehrheit verschreckt hat, beginnt sich der Literatur- und Kunstbetrieb zu verändern und das, was das Neue war, wird zum neuen Standard, also zu 35 Fiktionen als „Metapher“ und „Metonymie“ (Pierre Bourdieu) <?page no="36"?> dem, was nun als Gewohntes gelten und auch zunehmend ein größeres Publikum interessieren kann. Beispiele in der Literaturgeschichte finden sich viele. Als der weitgehend unbekannte Günter Grass 1959 seinen ersten Roman Die Blechtrommel veröffentlichte, gab es viel Lob von Kritiker*innenseite, es sollte ihm im darauffolgenden Jahr für sein Romandebüt der Bremer Literaturpreis ver‐ liehen werden. Aber der Bremer Senat, dem der Roman zu tabuverletzend war, entschied anders als die Jury und blockierte die Verleihung; dafür erhielt Grass in ebendiesem Jahr den Deutschen Kritikerpreis. Grass wurde vom Autor einer radikal neuen Avantgarde immer mehr zum Vertreter der arrivierten Avantgarde. 1999 wurde ihm sogar, vor allem für die 40 Jahre zuvor erschienene Blechtrommel, der Nobelpreis für Literatur verlie‐ hen. Grass war zu dieser Zeit einer der bekanntesten, einflussreichsten und auch wohlhabendsten Schriftsteller der westlichen Welt. Auch Peter Handke, der als junger und unbekannter Autor mit seinem Auftritt während eines Aufenthalts der Gruppe 47 (die wohl berühmteste, zugleich lose Vereinigung von Autor*innen und Kritiker*innen der deutschsprachigen Literaturgeschichte) in Princeton durch eine Schmährede das Ende der Gruppe einläutete und sich dadurch selbst zur Avantgarde machte (womit er zugleich die etablierten Kolleg*innen, darunter Günter Grass, in die arrivierte Avantgarde zurückverwies), konnte dem letztendlichen ökono‐ mischen Erfolg durch eine Leser*innen-Fangemeinde und hochdotierte Preise nicht entgehen. 2019 wurde auch er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zu einer neuen Avantgarde gehören zu wollen ist ein Risiko, etwa wenn die Zeit für das Neue noch nicht reif ist. Für den Erfolg ist es zentral, dass „[…] der Kontext des Kunstwerks genügend Vertrautes enthält, um die Markierung von Neuheit zu tragen und auffallen zu lassen“ (Luhmann 1997, 56). Manche Autor*innen verfassten etwas zu radikal Neues, das erst später anschlussfähig für Vertrautes wurde, und erlebten den Erfolg sowohl bei den Expert*innen als auch, wie oben beschrieben zeitversetzt, beim Lesepu‐ blikum nicht mehr - wenn sich der Erfolg überhaupt einstellte (allerdings gibt es über erfolglose Autor*innen und Werke wenig Informationen). Um zwei berühmte Beispiele zu nennen: Heinrich von Kleist war zu Lebzeiten ein weitgehend erfolgloser Autor, dem etwa auch Goethe mit Unverständnis begegnete. Georg Büchner starb früh und das Potential seiner Werke, die heute zum Kernkanon der deutschsprachigen Literatur gehören, wurden erst Jahrzehnte später entdeckt. 36 Was sind Fiktionen? <?page no="37"?> Es gibt Autor*innen und Texte, die die skizzierten Muster thematisieren und auch kritisch hinterfragen. Der Erfolgsautor Walter Moers spielt mit den Mechanismen des Literaturbetriebs, wenn er die spannungsreiche Handlung eines umfangreichen, üblicherweise der Fantasy zugerechneten Romans von der ungeheuren literarischen Bedeutung eines Manuskripts ausgehen lässt, das kurz ist und von praktisch nichts handelt. Die Handlung dieses Texts im Text ist für seine herausragende Qualität überhaupt nicht von Belang, es geht nur um das Wie, um den Text als Metapher und Metonymie: „Hier sitzt wirklich jedes Wort an der richtigen Stelle“, dachte ich [Hildegunst von Mythenmetz, der Ich-Erzähler und Protagonist des Romans], nachdem ich die erste Seite gelesen hatte. Nein, nicht nur jedes einzelne Wort, jedes Satzzeichen, jedes Komma - selbst die Leerstellen zwischen den Worten schienen von unabän‐ derlicher Wichtigkeit zu sein. Und der Inhalt? Der Text, soviel kann ich verraten, handelte von den Gedanken eines Schriftstellers, der sich im Zustand des horror vacui, der Angst vor dem leeren Blatt befand. Den die absolute Schreibhemmung gelähmt hatte und der verzweifelt darüber grübelte, mit welchem Satz er seine Geschichte beginnen sollte. (Moers 2007, 25 f.) Wie es nun zu deuten sein mag, dass Moers, der angesichts seiner Produk‐ tivität wohl keine Schreibhemmungen haben dürfte, in einem Roman gerade einen solchen Text (der übrigens ausgespart bleibt, es wird nur über ihn erzählt) zu dem besten stilisiert, der je in Zamonien (also auf dem fiktiven Kontinent, auf dem die Handlung spielt) geschrieben wurde, sei dahinge‐ stellt. Moers’ Roman ist über weite Strecken eine Literaturbetriebssatire und die Annahme liegt nahe, dass auch dieses Detail dazu dient, sich über die üblichen Mechanismen des Betriebs lustig zu machen. Andererseits bleibt, innerhalb der Fiktion, die Bedeutung bestehen - als Autor der begnadeten kurzen Erzählung vom leeren Blatt wird der Schattenkönig identifiziert. Aber was es mit ihm auf sich hat, mögen die interessierten Leser*innen selbst nachlesen - soweit es möglich ist, denn der seit vielen Jahren immer wieder neu angekündigte dritte Band der Trilogie der ‚träumenden Bücher‘ ist noch nicht erschienen (Stand 2022). Vielleicht gibt es, was die Schreibhemmung betrifft, doch eine partielle Übereinstimmung zwischen Fiktion und Realität. Aber darüber könnte nur der publikumsscheue Autor selbst Auskunft geben. Und auch wenn er dies täte - wer könnte sagen, ob es stimmt, was er uns erzählt? Walter Moers betreibt ein Spiel mit den Leser*innen wie einst E.T.A. Hoffmann und andere. Schließlich ist er ein der Fiktion verpflichteter Schriftsteller und nicht ein den Fakten verpflichteter Journalist. 37 Fiktionen als „Metapher“ und „Metonymie“ (Pierre Bourdieu) <?page no="39"?> Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? Die Konstruktion von Wirklichkeit und der (gar nicht so radikale) Konstruktivismus Vor vielen Jahren habe ich einmal einen Vortrag eines Neurologen gehört, eines Hirnforschers, dessen Rede ungefähr mit diesen Worten begann: Ich kann nicht wissen, ob Sie wirklich da sind, aber für die Dauer des Vortrags gehe ich einmal davon aus. Das war einige Jahre, nachdem 1999 der Film The Matrix (dt. Matrix) der Wachowskis in die Kinos gekommen war, der die Frage nach der Realität von Wahrnehmung auf eine radikale Weise stellt, in einer dystopischen und (hoffentlich nur) fiktionalen Realität, und der solche Fragen von Wahrnehmung für eine gewisse Zeit in einer Art und Weise populär gemacht hat, wie es wissenschaftliche Forschung wohl nicht vermocht hätte. Konstruktivistischen Überlegungen zugrunde liegt die Erkenntnis, dass die menschliche Existenz paradox ist. Wir sind voneinander unterscheid‐ bare Individuen mit einer Sozialisation und Erfahrung, die kein anderes Individuum hat. Zugleich sind wir soziale Wesen, die in Gruppen existieren und Gemeinschaft suchen. Was wir zumeist als „[…] objektive Wirklichkeit betrachten, entsteht in der Regel dadurch, daß unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird. Dinge, die nicht nur von uns, sondern auch von anderen wahrgenommen werden, gelten ganz allgemein […] als real“ (Glasersfeld 1998, 33). Es ist neben der eigenen Wahrnehmung der Abgleich mit den Wahrnehmungen anderer, der es uns ermöglicht, ein von anderen unterscheidbares Selbst zu besitzen und dennoch Teil einer Gemeinschaft zu sein, eigentlich Teil unterschiedlicher Gemeinschaften, von der Paarbe‐ ziehung und der Familie über Freundeskreise und Vereine bis hin zu einer Staatengemeinschaft. Die von einem solchen komplexen Wechselspiel abhängige Wahrneh‐ mung von Wirklichkeit(en) bedeutet daher immer auch in gewissem Sinn eine „erfundene Wirklichkeit“ (Watzlawick 2006), wobei der Anteil des ‚Erfundenen‘ sehr unterschiedlich ausfallen kann, je nach Zugehörigkeit zu den Gemeinschaften, als deren am genauesten und verbindlichsten geregelte Organisationsform die des Staates gelten kann. Allgemein pflegen <?page no="40"?> wir, wenn wir generalisieren wollen, auch von ‚Gesellschaft‘ zu sprechen. Die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger / Luckmann 1999) ist erstmals programmatisch in einer 1966 in den USA erschiene‐ nen Studie benannt worden („The Social Construction of Reality“). Teil unserer Alltagsrealität ist „eine Objektivation menschlicher Subjektivität“ (Berger / Luckmann 1999, 37), die zeichenbasiert ist: Der Mensch bündelt gleichsam seine Zeichen zu ganzen Systemen. So gibt es gestische und mimische Zeichensysteme, Systeme von Körperbewegungen und Systeme von Artefakten „zum Zeichen“ und „im Zeichen“. Zeichen und Zeichensysteme sind objektiv eingängige Objektivationen, die über subjektive Intentionen im „Hier und Jetzt“ hinausreichen. (Berger / Luckmann 1999, 38) Ganz gleich, ob es um Verbote, Gebote, Gesetze oder Konventionen inner‐ halb einer (in Demokratien in vielen Bereichen sehr heterogenen) Gesell‐ schaft geht: Wir sind umgeben von Zeichen und lesen eigentlich auch alles als Zeichen, d. h. wir geben allem, was uns umgibt, eine Bedeutung, etwa über das Design, das Styling, über zugeschriebene Wert- und Qualitätsmerk‐ male und vieles andere mehr. Welche Kleidung jemand trägt, welches Auto jemand fährt, welche Musik jemand hört, all das (und noch viel mehr) sagt für uns oft mehr aus als der praktische Nutzen, der damit verbunden ist. Mit den Worten Umberto Ecos lässt sich festhalten, dass „die Gesellschaft […] nichts anderes ist als ein komplexes System von Zeichensystemen“ (Eco 1977, 14). Diese Zeichen können unterschiedlich interpretiert werden und diese Interpretationen sind kultur- und zeitabhängig. So kann eine bestimmte Farbe oder ein bestimmter Schnitt eines Kleidungsstücks abhän‐ gig von Moden sein (die v. a. von sogenannten Modeschöpfern bestimmt werden), wobei Mode gerade auch von dem Versuch lebt, ganz unterschied‐ liche Designs zu etablieren und sich damit zu profilieren (zur „Differenz vestimärer Zeichen“ vgl. Barthes 1985, 21). Bekleidung kann natürlich auch einfach Teil von modeunabhängigen subjektiven Vorlieben und Abneigun‐ gen sein, aber selbst der Verzicht auf Mode, ob bewusst oder nicht, ist für viele Beobachter*innen zeichenhaft. Zeichensysteme regeln unser Leben mehr oder weniger verbindlich, von Konventionen der Höflichkeit (Händeschütteln, Grußformeln…) bis hin zu Verkehrszeichen. Wer über eine rote Ampel fährt, muss sich nicht wundern, wenn die im Bußgeldkatalog festgelegten Strafen verhängt werden. Bei solchen Regeln, die Leben schützen sollen, gibt es auch keine Ermessens‐ spielräume mehr. Wenn mir jemand die Hand nicht schüttelt und stattdessen 40 Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? <?page no="41"?> freundlich lächelnd winkt, bin ich vermutlich bereit, das als äquivalenten Gruß zu akzeptieren. Wenn jemand mit der Polizei darüber verhandeln will, ob es denn rechtens ist, das Überfahren eines Stoppschildes als Verstoß zu ahnden, obwohl doch weit und breit kein anderes Auto zu sehen gewesen ist, dann wird sich die Polizei auf diese Diskussion nicht einlassen (können). Regeln, nach denen Zeichen Sinn zugeordnet werden kann, nennt man Codierungen oder, auf einer höheren Ebene, Codes: Das Stoppschild ist eine Codierung, die zum Code der Verkehrszeichen gehört. Die mündliche und die schriftliche Sprache haben als Zeichensysteme eine besondere Bedeutung: „Sprache, ein System aus vokalen Zeichen, ist das wichtigste Zeichensystem der menschlichen Gesellschaft“ (Berger / Luckmann 1999, 39). Kommunikation kann allerdings ganz unterschiedlich verlaufen: Bei der Alltagskommunikation erfolgt die Bezugnahme auf die Kodes fast automatisch, so daß man die Dekodierungsprozesse als bedingte Reflexe ver‐ stehen kann, entstanden aus kulturellen Lernvorgängen, die zum natürlichen Ergebnis die sofortige und häufig unbewußte Reaktion des Empfängers auf die bedeutungstragenden Formen haben. Bei in besonderer Weise formulierten, miß‐ verständlichen oder unklaren Botschaften und im Grenzfall der poetischen Bot‐ schaften erfordert die Dekodierungsarbeit vor allem eine Entscheidung darüber, auf welchen Kode oder welche Kodes man den Signifikanten [das sprachliche Zeichen] beziehen soll, und damit eine Reihe von Interpretationsentscheidungen […]. (Eco 1977, 188) Mit der literarischen Kommunikation wird das alles noch viel komplizierter. Die „poetischen Botschaften“ (ebd.) sind absichtsvoll unklar, denn es gehört zu ihrer Absicht, die „gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt“, die sich als ein mehr oder weniger „kohärentes und dynamisches Gebilde von Typisierungen“ gibt (Berger / Luckmann 1999, 36), zu stören, um auf den Konstruktionscharakter solcher Typisierungen aufmerksam und damit Änderungen möglich oder zumindest denkbar zu machen. Weil fiktionale Literatur und fiktionale Filme zur Reflexion anregen wollen, sind sie zutiefst konstruktivistisch. Dass sie dafür unterschiedliche Techniken verwenden und verschiedene Verfahren wählen, wird noch näher zu erläutern sein. Jedenfalls gilt: Wer diesen common sense der Literatur ignoriert, hat die wichtigste Grundlage ihres Codes nicht verstanden. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit führt zu der Einsicht, dass die Konstruktion bereits Voraussetzung des Menschseins ist: „Soziologisch wesentlich ist, daß jede symbolische Sinnwelt 41 Die Konstruktion von Wirklichkeit und der (gar nicht so radikale) Konstruktivismus <?page no="42"?> und jede Legitimation Produkt des Menschen ist. Die Grundlage ihres Da‐ seins ist das Leben lebendiger Menschen. Abgetrennt von dieser Grundlage besitzen sie keinen empirischen Status“ (Berger / Luckmann 1999, 138). Ausgehend von einer solchen Erkenntnis ist der Sprung nicht weit zu den seit den 1960er Jahren wichtigen Theoriebildungen, etwa der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Diskursanalyse Michel Foucaults, der Dekonstruktion Jacques Derridas, der Gender Studies Judith Butlers, der Hybriditätstheorie Homi K. Bhabhas und anderer, häufig für kulturwissenschaftliche Forschun‐ gen verwendeter Konzepte. Sie alle gehen davon aus, dass die Sozialisation des Menschen in bestimmten kulturellen Zeichensystemen und durch sie unhintergehbar ist, dass es nicht möglich ist, sich davon vollständig zu befreien; dass es aber ein wichtiger Schritt zu einem reflexiven Verhältnis zur - und damit zur möglichen Veränderung von - Wirklichkeit ist, dies zu erkennen und damit auch die entsprechenden Prägungen, gerade in ihrer historischen Entwicklung, zu identifizieren. Dies gilt genauso für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten und Filmen, die einerseits an der kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit in komplexer Weise mitarbeiten und die andererseits Teil dieser Konstruktion sind - wie wir noch sehen werden sogar so sehr, dass sie an die Stelle eigener Erlebnisse und Erinnerungen rücken können. Wie folgenreich kulturelle Konstruktionen von Wirklichkeit sein kön‐ nen, hat beispielsweise Benedict Anderson gezeigt, er ist „den kulturellen Wurzeln des Nationalismus“ nachgegangen (Anderson 1998, 16). Die vom Nationalismus „heraufbeschworenen Gemeinschaften“ haben sich stets „eine lange Tradition“ zugeschrieben (Anderson 1998, 97), um die kulturelle Konstruktionsleistung, die den Nationalismus aus politischen Gründen (von der Modernisierung, etwa durch Vereinheitlichung von Maßen, Gewichten, Währungen etc., bis zur Abgrenzung von anderen Nationen im Konkur‐ renzkampf um Territorien, politischen Einfluss und ökonomische Macht über die eigenen Grenzen hinaus) überhaupt erst hervorgebracht hat, zum Verschwinden zu bringen. Das hat viel mit Macht zu tun - dazu später mehr. So ist es auch heute noch ein weit verbreiteter Irrglaube, dass es eine spezifische ‚deutsche‘ Kultur gibt, die schon immer so war, ursprungslos und geheiligt durch gelebte Traditionen. Dass etwa das Brauen von Bier oder das Keltern von Wein im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vor allem eine Alternative zu dem durch Bakterien verseuchten (Trink-)Wasser darstellte und Bessergestellten zugutekam, wo‐ bei Bier und Wein als Trinkwasser-Ersatz nur einen geringen Alkoholgehalt 42 Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? <?page no="43"?> hatten, dürfte dabei ebenso ‚vergessen‘ worden sein wie der ursprünglich praktische Sinn von Lederhosen als dauerhafte, strapazierfähige Arbeits‐ kleidung der ärmeren Landbevölkerung. Was als ‚geheiligte‘ Tradition gilt, ist in der Regel ein Produkt der Moderne seit dem 18. Jahrhundert. Schon Google kann darüber Auskunft geben: „Unser heutiger Weihnachtsmann mit Rauschebart und dickem Bauch kommt eigentlich aus den USA. Die Vorstellung der Amerikaner von ihm prägte der Cartoonist Thomas Nast. In der amerikanischen Illustrierten ‚Harper’s Weekly‘ erschienen von 1863 an seine Zeichnungen.“ Die sich überhaupt erst in den letzten rund 250 Jahren zu einer Gemein‐ schaft von Individuen entwickelnde Gesellschaft hat sich, aus dem Fundus der Geschichte, ein eigenes, im Grunde romantisches Selbstbild entworfen. Die Entstehung der ‚deutschen‘ Nation beispielsweise hat die fiktionale Literatur mal affirmativ-fördernd, mal subversiv-kritisch begleitet und sie ist zugleich auf verschiedenste Weise für oder gegen diese Entwicklung in den Zeugenstand gerufen worden (vgl. Neuhaus 2002a). Die Bedeutung des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses Wie angedeutet zählen neben der Sachliteratur und allem, was Dokument- Status hat, die fiktionale Literatur und auch der fiktionale Film, der im Laufe des 20. Jahrhunderts dazu gekommen ist, zu den zentralen Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses. Gerade weil Literatur und Film mögliche alternative Realitäten modellieren, weil sie sich reflexiv zur Wirklichkeit verhalten und auch, weil sie wegen ihrer metonymischen Sprache der Zensur viel weniger ausgesetzt waren, sind sie, historisch gesehen, das wichtigste Reflexionsmedium der modernen Gesellschaft gewesen - auch wenn sie es heute, im Zeitalter der sogenannten sozialen Medien, wohl nicht mehr sind. Welcher Verlust damit möglicherweise einhergeht, hat David Fincher in seinem Film The Social Network (2010) gezeigt: Die Geburt des sozialen Netzwerks (der Film spielt auf die Gründung von Facebook durch Mark Zuckerberg an) entsteht aus einem asozialen Impuls heraus (junge Frauen werden, aus einer typisch männlichen Perspektive, nach Aussehen und Verhalten verglichen und bewertet). Damit ist Finchers hochmoderner Film selbst Teil eines kritischen Diskurses, der in das 18. Jahrhundert zurückreicht. 43 Die Bedeutung des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses <?page no="44"?> Seinerzeit war das Theater das Aushängeschild der Literatur, so hat Friedrich Schiller eine Vorlesung von 1784 betitelt mit: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (Schiller 1993, 1200). Für Schiller ist es „[…] die Bühne, die dem nach Tätigkeit dürstenden Geist einen unend‐ lichen Kreis eröffnet, jeder Seelenkraft Nahrung gibt, ohne eine einzige zu überspannen, und die Bildung des Verstands und des Herzens mit der edelsten Unterhaltung vereinigt“ (Schiller 1993, 821). Schiller wendet sich, notwendigerweise vorsichtig und indirekt, gegen die Zensur (Schiller 1993, 822), die in Deutschland nur 1848/ 49 für kurze Zeit, dann während der Weimarer Republik 1918-33 und schließlich seit der Gründung der Bundes‐ republik 1949 (so gut wie) nicht mehr galt bzw. gilt, aber im absolutistischen 18. Jahrhundert gängige Praxis war. Und er betont die gesellschaftsbildende Rolle der öffentlichen Dramenkunst: Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. (Schiller 1993, 823) Nun mag es sein, dass der aufstrebende Stern am Literaturhimmel - seine ‚klassische‘ Zeit stand Schiller noch bevor - hier eher eine Wunschvorstel‐ lung als einen Ist-Zustand formuliert hat. Dennoch wird am Beispiel des Theaters deutlich, welche Bedeutung die Dramatik neben der oft durch Vortragskunst unter die Menschen gebrachten Lyrik spielte (die Prosa steckte noch in den Kinderschuhen). Literatur war in einer Zeit, in der es noch keine audiovisuellen Massenmedien oder gar soziale Medien gab, das wichtigste Angebot, den Diskurs über Wunsch und Wirklichkeit in einer Gesellschaft zu führen. Das soll die Bedeutung von Musik und bildenden Künsten nicht schmälern, die - was hier nicht geschehen kann - eigentlich mit der Literatur im Zusammenhang gesehen werden müssten. Wenn der österreichische Musiker Falco 1985 in seinem Erfolgshit Rock Me Amadeus Mozart als „Superstar“, „Punker“ und „Rockidol“ bezeichnet (zitiert nach der Google-Suche), dann ist das vom Text absichtsvoll anachronistisch formu‐ liert, um die Bedeutung des früh gestorbenen musikalischen Wunderkinds zu betonen. Wie sehr Musik, Literatur und bildende Kunst auch früherer Jahrhunderte die nachfolgenden Gesellschaften geprägt haben und auch unsere Gegenwart immer noch prägen, kann hier nur angedeutet werden. 44 Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? <?page no="45"?> Jan Assmann hat festgestellt, dass das kulturelle Gedächtnis einer Ge‐ sellschaft oder Gemeinschaft „ununterscheidbar Mythos und Geschichte“ umfasst, also „Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist“ (Assmann 2002, 76). Die Erinnerung stiftet für die oder den Einzelnen einen Sinn, der mit einem Wertebewusstsein einhergeht (vgl. Assmann 2002, 140), und gibt ihr oder ihm Identität als Teil einer Gemeinschaft: „Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität“ (Assmann 2002, 132). Wenn sich dieser Sinnstiftungsprozess dynamisch gestaltet, dann handelt es sich um eine ‚heiße‘ Gesellschaft - im Unterschied zu einer ‚kalten‘, in der das Prinzip der „zyklischen Wiederholung“ gilt (Assmann 2002, 78). ‚Kalte‘ Gesellschaften neigen zu Ritualisierungen, die keiner Begründung mehr bedürfen, weil sie ‚Tradition‘ geworden - oder als solche innerhalb der in der Regel hierarchischen Machtstrukturen verankert worden sind. Doch auch zu große ‚Hitze‘ kann schädlich sein, weil dann die Gemeinschaft stiftenden Elemente der Erinnerung in Vergessenheit geraten. Nehmen wir als Beispiel den Kanon der Literatur. Ist er starr und darf er nicht hinterfragt werden, dann handelt es sich um den Kanon einer ‚kalten‘ Gesellschaft, die keine Veränderungen möchte - wodurch der Kanon die geltenden Machthierarchien stützt. Verändert er sich aber ständig, dann gehört dieser Kanon einer ‚heißen‘ Gesellschaft an. Durch diese Unbestän‐ digkeit hat der Kanon keine Verbindlichkeit mehr und erschwert einen gemeinsamen Austausch über literarische Texte. Das trägt dazu bei, dass das kulturelle Gedächtnis mit seiner Sinn und Identität stiftenden Funktion immer mehr verschwindet. So könnte „die reflexiv gewordene Teilhabe“ an einer Kultur (Assmann 2002, 134) auf doppelte Weise erschwert werden - wenn entweder die Reflexion durch (verordnete) Ritualisierung getilgt oder wenn durch gesteigerte Individualisierung die durch Reflexion und Kommunikation herbeigeführten Übereinkünfte aufgehoben werden. Zu unterscheiden sind das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis. Der Übergang wird dadurch markiert, dass „kein Erzähler mehr existiert, der das in Rede stehende historische Ereignis noch miterlebt hat“ (Welzer 2005, 235). Und weiter: „Das kulturelle Gedächtnis ist in gewisser Weise ein geronnener Aggregatzustand des kommunikativen Gedächtnisses“ (ebd.). So können Texte, die nicht mehr gelesen werden, zwar noch in Literaturge‐ schichten behandelt und ihre Themen und Inhalte können tradiert werden, 45 Die Bedeutung des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses <?page no="46"?> doch erst die Lektüre überführt sie wieder vom kulturellen Gedächtnis ins kommunikative. Der - kommunikative - Austausch über relevante interpretationswürdige Texte hat sich in den vergangenen Gesellschaften immer als ausgesprochen wichtig erwiesen ( Jan Assmann hat sich vor allem mit ‚früheren Hochkul‐ turen‘ beschäftigt, er ist von Haus aus Ägyptologe): Weil der Buchstabe fest ist und kein Jota geändert werden darf, weil aber andererseits die Welt des Menschen fortwährendem Wandel unterworfen ist, besteht eine Distanz zwischen festgestelltem Text und wandelbarer Wirklichkeit, die nur durch Deutung zu überbrücken ist. So wird die Deutung zum zentralen Prinzip kultureller Kohärenz und Identität. (Assmann 2002, 96) Für die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts gilt dies vor allem auch für den Film, der durch seine visuelle Kraft Erinnerung und Identität stark prägen kann. Harald Welzer hat gezeigt, wie bei Kriegsteilnehmer*innen und ihren Angehörigen für ‚wahr‘ gehaltene eigene Erinnerungen eigentlich aus filmischen Darstellungen „übernommen“ wurden (Welzer 2005, 185-206, Zitate 187). Erinnerungen werden in einer massenmedial geprägten Gesell‐ schaft zunehmend „durch mediale Vorlagen strukturiert“ (Welzer 2005, 188). Noch mehr: „Die Stimmigkeit und Plausibilität von Erzählungen wird dabei zunehmend daran gemessen, inwieweit sie mit dem Bildinventar in Übereinstimmung zu bringen sind, das die Medien bereitgestellt haben“ (Welzer 2005, 189). Halten wir fest: Erstens: „Erinnerungen sind immer individuell und kollektiv zugleich“ (Welzer 2005, 170). Menschen sind Individuen und sie sind Teil von Gemein‐ schaften, die ebenso ihre eigene Weltsicht prägen wie ihre eigene Weltsicht auf andere prägend wirkt. Literatur arbeitet immer schon an diesem Prozess mit, als über lange Zeit zentrales Reflexionsmedium der Gesellschaft hat sie daher auch eine große Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis. Zweitens: Das Gehirn kann nicht unterscheiden zwischen dem, was Menschen mit ‚eigenen Augen‘ sehen und dem, was sie sich bildhaft vorstellen. Der Grund ist, „daß die neuronalen Verarbeitungssysteme für visuelle Perzeptionen und für phantasierte Inhalte sich überlappen“ (Welzer 2005, 39). Daher können „rein imaginäre Geschehnisse“ (ebd.) als genauso ‚real‘ erscheinen wie Ereignisse in der Realität. Zwischen Fiktion und Realität oder fiktionalem und faktualem Erzählen unterscheiden zu können ist wichtig und richtig, aber auch nur im Bewusstsein der Relativität, die 46 Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? <?page no="47"?> eine solche Grenzziehung immer hat. So ist zum Beispiel, der Deutlichkeit halber überspitzt formuliert, die „Autobiographie als [vorgestellte] situa‐ tionsabhängige, asoziale, ‚wirklich‘ gelebte Lebensgeschichte […] nichts als eine Fiktion“, weil sie nur eine nach eigenen Vorlieben gestaltete und mit bestimmten Absichten verbundene, auf Zuhörer*innen zugeschnittene „Montage lebensgeschichtlicher Erinnerung“ darstellt (Welzer 2005, 213). Selbst wenn mehr angestrebt worden sein sollte - Individuen können „nur einen schmalen Ausschnitt von Signalen aus der Umwelt aufnehmen“, auch wenn sie versuchen, daraus „dann ein kohärentes Bild einer Wirklichkeit [zu] konstruieren“ (Welzer 2005, 232). Die Literatur weiß davon schon sehr lange. So hat E.T.A. Hoffmann in der (eigentlich unbetitelten) Erzählung Der Einsiedler Serapion, der titelge‐ benden Erzählung seines Novellenzyklus Die Serapions-Brüder, innerhalb eines fiktionalen Texts die Frage von imaginierter und (innerfiktional) realer Wahrnehmung verhandelt und zugleich die Bedeutung der Literatur für einen solchen Wahrnehmungsprozess von Wahrnehmung unterstrichen (vgl. Neuhaus 2017b, 146-153). Wie dialektisches Denken funktioniert, führt der als wahnsinnig, aber harmlos geltende Serapion im Gespräch mit Cyprian vor: Sie sind offenbar der ohnmächtigste von allen Widersachern die mir erschienen und ich werde Sie mit Ihren eignen Waffen schlagen, das heißt mit den Waffen der Vernunft. Es ist vom Wahnsinn die Rede, leidet einer von uns an dieser bösen Krankheit, so ist das offenbar bei Ihnen der Fall in viel höherem Grade als bei mir. Sie behaupten, es sei fixe Idee, daß ich mich für den Märtyrer Serapion halte, und ich weiß recht gut, daß viele Leute dasselbe glauben oder vielleicht nur so tun als ob sie es glaubten. Bin ich nun wirklich wahnsinnig, so kann nur ein Verrückter wähnen, daß er imstande sein werde mir die fixe Idee, die der Wahnsinn erzeugt hat, auszureden. Wäre dies möglich, so gäb’ es bald keinen Wahnsinnigen mehr auf der ganzen Erde, denn der Mensch könnte gebieten über die geistige Kraft die nicht sein Eigentum sondern nur anvertrautes Gut der höhern Macht ist, die darüber waltet. Bin ich aber nicht wahnsinnig und wirklich der Märtyrer Serapion, so ist es wieder ein törigtes Unternehmen mir das ausreden und mich erst zu der fixen Idee treiben zu wollen, daß ich der Graf P** aus M- und zu Großem berufen sei. (Hoffmann 2001, 30) Hoffmann macht aus dem Problem von Wahrnehmung ein literarisches Programm, auf das sich die Freunde, die sich in dem Novellenzyklus gegenseitig solche Geschichten erzählen, einigen können. Insofern ist aber 47 Die Bedeutung des kulturellen und des kommunikativen Gedächtnisses <?page no="48"?> auch dieses Programm wieder Teil der Literatur und nur in der Form Teil der außerliterarischen Realität - wir sehen, dass sich die Spirale der Wahrnehmung ins Unendliche drehen kann und auch drehen muss, will man sie möglichst umfassend ‚verstehen‘. Lesen wir dazu Lothars Vorschlag an seine Freunde: Laßt uns nun dabei des Einsiedlers Serapion eingedenk sein! - Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben [zu] tragen. (Hoffmann 2001, 69) Drittens: Objektivität gibt es nicht. Das Höchste, was erreicht werden kann, ist „Intersubjektivität“ als „die Fähigkeit, die Perspektive des anderen zu übernehmen und vor diesem Hintergrund gemeinsam zu handeln“ (Welzer 2005, 83), wobei allerdings eine echte Übernahme von Perspektiven genau genommen nicht möglich ist, da sich die oder der Einzelne nur vorstellen kann, welche Perspektive jemand anderes hat. Die Geschichte vom Einsied‐ ler Serapion lehrt auch dies: Der Perspektive einer oder eines anderen kann man sich nur durch Imagination annähern. Darüber, was intersubjektives Verständnis sein kann, ‚informiert‘ ein literarischer Text auf andere Weise mindestens genauso gut wie ein Sachtext, weil der literarische Text - eine entsprechende Qualität vorausgesetzt - immer schon ‚weiß‘, dass Wissen nur in einer Annäherung besteht und Reflexion letztlich nie an ein Ende kommen kann. Nun könnte noch die Frage verhandelt werden, was Wissen der Wis‐ senschaft nach ist und weshalb Wissensbestände elementarer Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses sind - und weshalb sogar von einer „Poeto‐ logie des Wissens“ gesprochen werden kann (vgl. Vogl 2018). Aber auch eine Reflexion über das Interpretieren muss, im Bewusstsein ihrer nicht vermeidbaren Vorläufigkeit und der einer Einführung gesteckten Grenzen, auf das Allermeiste verzichten, um das, was sie versucht zu vermitteln, umso deutlicher werden zu lassen. Inwieweit dies als gelungen angesehen wird, entscheiden die Leser*innen und naturgemäß werden auch hier die Perspektiven unterschiedliche sein. 48 Wie wird ‚Wirklichkeit‘ interpretiert? <?page no="49"?> Wie werden Fiktionen interpretiert? Keine Interpretation ohne Theorie In einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft gibt es Spezialist*innen für alles. Es würde wohl niemand gut finden, wenn es ohne besondere Ausbildung möglich wäre, im Tower eines Flughafens den Flugverkehr zu koordinieren. Dafür gibt es Fluglots*innen. Ebenso wie niemand einfach in einer Restaurantküche für das auszugebende Essen verantwortlich sein kann, dafür gibt es Köch*innen. Unsere Gesellschaft scheint sich allerdings, wie die Corona-Krise gezeigt hat, schwer damit zu tun, Expert*innentum zu akzeptieren. Virolog*innen haben oft schon monatelang vorher gewarnt und vorhergesagt, was geschehen wird, und es ist dann auch genau so eingetre‐ ten. Und obwohl es viele Virolog*innen gab, die ständig interviewt wurden, so hat es doch auch viele Politiker*innen und Bürger*innen gegeben, die ständig die Kompetenz dieser Expert*innen hinterfragt haben, obwohl es sich um Menschen handelt, die oft mehr als ein Jahrzehnt in ihre Ausbildung investiert haben. Die vorliegende Einführung geht davon aus, dass man oder frau den Spezialist*innen und ihrem besonderen Wissen, ihren besonderen Fähigkeiten grundsätzlich vertrauen sollte. Ansonsten hat weder der durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert gestartete Zivilisationsprozess noch eine arbeitsteilige Gesellschaft irgendeinen Sinn. Dass es auch unter Expert*innen unterschiedliche Meinungen gibt, die miteinander konkurrieren, ist ganz selbstverständlich für eine plural ver‐ fasste, demokratische Gesellschaft und kein Einwand gegen Spezialist*in‐ nen, sondern ganz im Gegenteil ein Argument für sie. Denn nur im gesellschaftlichen Diskurs können sich zukunftsweisende Konzepte durch‐ setzen, sofern sie ausgiebig von den Expert*innen geprüft worden sind. Die ehrlichen unter ihnen werden deshalb auch immer sagen, wo gerade ihre Expertise aufhört, etwa weil Daten oder Erkenntnisse fehlen und weil es in diesem und jenem Bereich erst noch mehr zu forschen gibt. Nicht anders ist es mit der Interpretation von Literatur. Es ist durchaus sinnvoll davon auszugehen, dass sich Literaturwissenschaftler*innen, nach ihrem Studium und einer darauf oft folgenden Promotion oder sogar Habi‐ litation - also einem langwierigen Lernprozess -, prinzipiell besser mit <?page no="50"?> Literatur auskennen als Menschen, die ein solches Studium nicht absolviert haben. Dass die Regeln, die für die Expertise von Literaturexpert*innen gelten, andere sind als etwa für Fluglots*innen oder Mediziner*innen, liegt an der grundgesetzlich verbrieften Meinungsfreiheit. Dazu kommt: Literatur falsch zu interpretieren wird üblicherweise kein Leben kosten, ein Flugzeug falsch zu leiten oder ein Gericht falsch zuzubereiten möglicherweise schon. Dennoch soll in den folgenden Kapiteln dargelegt werden, dass auch ein Texten nicht gerecht werdendes Interpretieren, etwa wenn es manipulativ erfolgt, negative Konsequenzen haben und Schaden anrichten kann. Wie jeder Expert*innendiskurs ist auch derjenige der Literaturwissen‐ schaft das Ergebnis einer langen Entwicklung, die im Rückblick wichtige Erkenntnisfortschritte zeigt, gerade durch die Möglichkeit, im Austausch der Expert*innen untereinander Theorien und Modelle prüfen oder neu entwi‐ ckeln zu können, also sich über Hypothesen austauschen und Konzepte immer weiter entwickeln zu können. Es gehört zum Wesen demokratischer Prozesse, dass von Theorien dabei keine „Heils-Konzepte“ (Hörisch 2010, 9) zu erwarten sind. Wie in allen anderen gesellschaftlich relevanten Diskursen ist auch derjenige der Literaturwissenschaft immer dann besonders unter Druck geraten und hat problematische Ergebnisse produziert, wenn die Gesellschaft zu totalitären Denkstrukturen geneigt hat, besonders in der Zeit des Nationalsozialismus. Totalitäre Systeme ordnen jedes Denken ihren ideologischen Vorstellungen und Zielen unter, deshalb arbeiten sie mit Heilsversprechen, die andere Deutungsmöglichkeiten von ‚Welt‘ prinzipiell ausschließen. Aus dieser Erfahrung heraus hat sich die Literaturwissen‐ schaft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter hin zu einer Wissenschaft entwickelt, die versucht, an literarischen Texten möglichst viele Denkansätze zu prüfen. Das können Theorien sein, die vor einer solchen Prüfung einmal mehr und einmal weniger direkt - und vielleicht zunächst auch gar nicht - auf literarische Texte bezogen worden sind. Denn Literatur handelt von allem und jedem und so weit die Möglichkeit des Denkens reicht, ist die Literatur grenzenlos, denn sie ist an keine Naturgesetze gebunden. Umso wichtiger ist es aber, nicht einfach drauflos zu interpretieren, sondern jede Auseinandersetzung mit einem literarischen Text zu ‚erden‘, und dies kann nur durch eine Expertise geschehen, deren Grundlage die Theorie bildet - oder die vielmehr viele Theorien bilden, die das Prüfverfahren durchlaufen und sich als hilfreich beim Interpretieren erwiesen haben. 50 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="51"?> Ob Fluglotse, Köchin oder Literaturwissenschaftler*in: Expertise greift zurück auf Theorie als das Wissen über die Grundlagen eines Gegenstands‐ bereichs (Zusammensetzungen, Funktionsweisen etc.) und die Fähigkeit zur Anwendung und gleichzeitigen ständigen Prüfung dieses Wissens. Jonathan Culler hat die kritische Reflexion (was eigentlich tautologisch ist) als zentral für Theorie ausgewiesen und es lohnt sich, seine „Wirkungen der Theorie“ etwas genauer zu studieren: Der Haupteffekt der Theorie liegt darin, daß sie den so genannten ‚gesunden Menschenverstand‘ in Frage stellt: also vermeintlich vernünftige Ansichten über Dinge wie Bedeutung, Schrift, Literatur oder Erfahrung. Theorie hinterfragt etwa die Vorstellung, dass die Bedeutung einer Äußerung bzw. eines Texts dem entspricht, was sich der Autor ‚dabei gedacht hat‘, den Gedanken, dass die Schrift nur der Ausdruck von etwas ist, dessen Wirklichkeit anderswo zu suchen ist, nämlich in einer von ihr lediglich wieder‐ gegebenen Erfahrung oder einem Sachverhalt, die Idee, dass Wirklichkeit das ist, was zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhan‐ den, also ‚präsent‘ ist. Theorie präsentiert sich oftmals als hartnäckige Kritik solcher Vorstellungen […]. (Culler 2013, 13 f.) Wer die vorherigen Kapitel aufmerksam gelesen hat, wird die Anschluss‐ punkte sehen: Was Culler hier als selbstverständlichen Bestandteil von theoretischem Denken ausweist, ist etwa unter den Stichworten Konstruk‐ tivismus und kommunikatives Gedächtnis bereits angerissen worden. By the way: Sich dem Begriff der Theorie zu nähern kann hier nur in einem sprachbasierten Umkreisen der Gegenstände geschehen. Culler hat griffig feststellt: „Theorie ist ein ganzes Bündel von (zumeist ausländischen) Namen“ (Culler 2013, 10), und er hat damit insofern natürlich vollkommen recht, als dass das Denken zunächst von Personen geleistet wird und in der Praxis große Theorien mit großen Namen in direkter Verbindung stehen, etwa: Systemtheorie - Niklas Luhmann; Diskursanalyse - Michel Foucault; Gender Studies - Judith Butler; kulturelle Hybridität - Homi K. Bhabha. Dennoch gibt es immer auch andere, die den jeweiligen Theorien wichtige Impulse gegeben haben und beim näheren Hinsehen lässt sich feststellen, dass es, vor allem historisch gesehen, unterschiedliche Auffassungen von Systemtheorie, Diskursanalyse, Gender Studies und kultureller Hybridität gegeben hat und gibt. 51 Keine Interpretation ohne Theorie <?page no="52"?> Halten wir fest: „Theorie hinterfragt“ Alltagswissen (ebd.), um Expert*in‐ nenwissen zu generieren, also um Gegenstände genauer, d. h. auch komple‐ xer beobachten und beschreiben zu können. Und um das leisten zu können, muss Theorie Thesen entwickeln, die plausibel sind, die am Gegenstand und in einem Expert*innendiskurs geprüft werden und die dann als Teil eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses auch Sinn produzieren. Je weiter fortgeschritten die Theorie ist, desto weniger muss dann noch geprüft werden, was bereits zu einer der Grundlagen des weiteren Denkens geworden ist. So hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Erde einen flüssigen Gesteinskern hat - und nicht, wie noch um 1800 als konkurrie‐ rende Theorie diskutiert wurde, dass die Erde im Inneren aus Höhlen und unterirdischen Meeren besteht. Zur Beschäftigung mit Theorie und damit zu den Voraussetzungen des Interpretierens gehört daher immer auch Bescheidenheit oder das „Eingeständnis, daß wir nie und nimmer auf der Höhe der theoretisch angezeigten Möglichkeiten leben“ (Hörisch 2010, 19). Ein Begriff wie ‚Wahrheit‘ wäre daher eher im Plural zu gebrauchen (vgl. Hörisch 2010, 12 u. 22-24) - und es ist ebenso bezeichnend wie bedenklich für die Geschichte unserer Gesellschaft, dass es diesen Plural nicht gibt. Aber Achtung: Es ist ein populäres Missverständnis zu glauben, dass letztlich alles als ‚Wahrheit‘ ausgegeben werden kann. Nur, weil es Mög‐ lichkeiten gibt, ist nicht alles möglich. Es gibt Grenzen des vernünftigen Interpretierens. So soll die Theorie vom FSM nicht einen Monotheismus durch einen anderen ersetzen, sondern durch Ironie die Grenze zwischen Glauben und Wissen markieren. Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir auch, was wir nicht wissen können und was falsches Wissen ist. Natürlich kann jemand die These aufstellen, dass Faust und Mephisto in Goethes Drama eigentlich schwul sind, das würde erklären, weshalb sie so oft gemeinsam auftreten. Aber es finden sich dafür im Text keine Belege, auch nicht außerhalb. Dagegen ist Hanno in den Buddenbrooks latent homosexuell, das lässt sich am Text belegen und durch den Kontext - Thomas Manns in seinen Tagebüchern selbst eingestandene Bisexualität - noch stützen. Natürlich ist die Frage, welchen Nutzen solche Erkenntnisse bringen. Im Fall des Faust wohl die Erkenntnis, dass es Autor und Text um etwas anderes geht als um Homosexualität und im Fall der Buddenbrooks, dass Homosexualität als antibürgerliches Verhalten positiv konnotiert wird und zur Kritik des Romans an den Normen und Werten der damaligen Gesellschaft beiträgt. 52 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="53"?> Die Theorie der Literatur ist nichts ohne den Text, um den sich alles dreht, oder anders gesagt: Es ist auch ein populärer Irrtum zu glauben, dass sich alles um die*den Autor*in dreht. Wenn nur eine biographistische Lesart möglich oder sinnvoll wäre, dann würde uns ein Text nichts weiter angehen. Dann wäre ein Text ein persönliches Statement und als solches bestenfalls von voyeuristischem Interesse. Interessant ist das, was wir auf uns beziehen können, und das kann mit der Autorin oder dem Autor zu tun haben, das muss es aber nicht. Was vorliegt und was von Interesse ist, ist eine Kombination aus sprachlichen Zeichen, die von den Leser*innen vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation und Erwartungen gelesen und von den Expert*innen als Literatur wahrgenommen werden. Und auch dazu gibt es Theorien, auf die noch einzugehen sein wird. Die Entwicklung literaturwissenschaftlicher Theoriebildung ist sogar so weit gekommen, dass bereits ihr Ende ausgerufen wurde: After Theory hat Terry Eagleton sein Buch vom Anfang des Jahrtausends genannt und kulturpessimistisch festgestellt, dass Studierende nun statt über die Werke Gustave Flauberts über die Serie Friends Arbeiten schreiben würden, allerdings genauso unkri‐ tische und ehrfürchtige Arbeiten, denn an der mangelnden Fähigkeit, das Gelesene oder Gesehene zu hinterfragen, hat sich aus Eagletons Perspektive nichts geändert (Eagleton 2004, 5). Wie Eagleton davor zu warnen, dass der Untergang des Abendlands bevorstehen könnte, hat zweifellos seine Verdienste, soll aber an dieser Stelle und angesichts eines ungebrochenen Theorie-Booms in den Literatur- und Kulturwissenschaften keine größere Rolle spielen. Zunächst sollen einige Theorien, man könnte auch sagen Theoriefelder, kurz durchschritten werden, und zwar auch in ihrer Entwicklung und in ihrer historischen Beziehung zueinander. Dieser Durchgang kann nur sehr ausschnitthaft und unvollständig erfolgen und er soll vor allem zeigen, dass es eine Entwicklung von literaturwissenschaftlicher Theoriebildung gibt und welche groben Linien sich darin ausmachen lassen. Wer mehr darüber wissen möchte, sei auf die zahlreichen Handbücher und vergleichbare andere Quellen des Fachwissens verwiesen, aber auch und ganz besonders auf die 1994 erschienene Geschichte der Germanistik von Jost Hermand, eine kritische Sicht auf rund zweihundert Jahre Fachgeschichte. Bei den Anfängen der Germanistik werden wir aber nicht anfangen, sondern in der Nachkriegszeit. 53 Keine Interpretation ohne Theorie <?page no="54"?> Hermeneutik, Werkimmanenz und Close Reading Die Korrumpierung des Faches Germanistik (das noch nicht in Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Mediävistik und Linguistik eingeteilt war) in der Zeit des Nationalsozialismus führte nach dessen Ende zu einer ver‐ stärkten Hinwendung zum Text. Es waren ja gerade kontextuelle Faktoren gewesen, etwa die Glorifizierung von ‚Führerpersönlichkeiten‘ unter den Autor*innen nach nationalsozialistischen Maßstäben, die zu den braunen Westen geführt hatten, die nun gegen weiße getauscht werden sollten. Und die junge Generation wollte verständlicherweise gar nichts mehr mit angebräunten Positionen zu tun haben. Der sogenannte russische Formalis‐ mus, der seinerseits eine ‚Verwissenschaftlichung‘ der Literaturbetrachtung als Antwort auf die sozialistisch-sowjetische Ideologie war, bot sich als Grundlage für einen Kurswechsel an, mit ihm „beginnt die moderne Lit.[era‐ tur]theorie“ (Burdorf u. a. 2007, 247). Auch die weniger Radikalen zeigten sich davon affiziert, sie konnten die eigentlich ideologiekritische Theorie benutzen, um „aus dem Politisch-Kollektiven ins Unpolitisch-Subjektive“ (Hermand 1994, 116) zu entkommen. Einen gemeinsamen Nenner (vgl. auch Hermand 1994, 119) bot Wolfgang Kaysers einflussreiche, 1948 zum ersten Mal erschienene Einführung, die in ihrem Titel Das sprachliche Kunstwerk programmatisch die Bedeutung der Ästhetik der sprachlichen Verfasstheit von Texten hervorhob und bereits im Vorwort feststellte: „Eine Dichtung lebt und entsteht nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge“ (Kayser 1983, 5). Was im deutschsprachigen Raum als ‚Werkimmanenz‘ reüssierte, nannte sich im Anglo-amerikanischen Raum Close Reading, übersetzt ‚genaues Le‐ sen‘. Dieser Begriff wird auch heute noch in germanistischen Arbeiten gern verwendet, wohl weil er zeitgemäßer klingt als Werkimmanenz und weil er sich nicht festlegt auf eine der seither entwickelten Theorien, sondern die Auseinandersetzung mit dem Text und dessen Sprache besonders betont. Dabei wird allerdings gern vergessen, dass es eine kontextungebundene Lektüre nicht geben kann (auch wenn der Begriff des Close Reading hier offener ist als der Begriff der Werkimmanenz). Die durch Sprache vermittelten Bedeutungen und Konzepte sind abhängig von zeitlichen und kulturellen Faktoren. So dürfte jemand, die oder der in einem Roman aus den 1920er Jahren das Wort ‚Auto‘ liest, damit zwar ein Fortbewegungsmittel mit vier Rädern verbinden, aber anderes Design, andere Technik und andere 54 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="55"?> Geschwindigkeiten. Und das ist nur ein recht gut fass- und beschreibbarer Gegenstand und kein Abstraktum wie ‚Nation‘ oder ‚Freiheit‘. Zwar blieb es in der Nachkriegszeit größtenteils immer noch bei der Beschäftigung mit den „klassisch-romantischen Meisterwerke[n]“ (Her‐ mand 1994, 146), doch verschob sich die Perspektive langsam von der angenommenen Überzeitlichkeit der Literatur hin zu ihrer Zeitlichkeit und zur Gegenwart, auch bei der Auswahl der in Schulen und an Universitäten behandelten Texte. Es bildete sich langsam „ein neues Theoriebewußt‐ sein“ und dies führte dazu, dass seit den 1960er Jahren mit der „älteren werkimmanenten Methode“, die einer aus sich selbst begründeten (und daher fragwürdigen) „ästhetische[n] Qualität“ anhing, kaum noch ein Blumentopf zu gewinnen war. Man und frau begann sich vor allem für das gesellschaftskritische Potential von literarischen Texten zu interessierten, „als Vorbild einer neuen Engagiertheit“ (Hermand 1994, 148). Insbesondere die Kritische Theorie mit ihrem frühen Hauptwerk, Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (1944 im US-amerikani‐ schen Exil zuerst erschienen), bot den früheren Geisteswissenschaften (die heute Kulturwissenschaften heißen) eine Grundlage mit der Hoffnung, „daß sich eine fortschreitende Demokratisierung und damit ‚Mündigkeit‘ des einzelnen am besten im Rahmen einer kritischen Öffentlichkeit ver‐ wirklichen lasse“ (Hermand 1994, 149). An diesem Vorbild kritischer Intellektueller, die operativ in die Gesell‐ schaft eingreifen, wird die Literatur und auch die Germanistik noch heute gern gemessen, obwohl sich der gesellschaftliche Diskurs stark verändert hat und es keine relativ homogene Öffentlichkeit mit einer überschaubaren Zahl von (Leit-)Medien mehr gibt. In der Gesellschaft, dabei eben auch in den Literaturwie in den Kulturwissenschaften, hat sich ein Wechsel vollzogen von dem Versuch, mit prägnanten Positionen aktiv in die Politik einzugreifen, hin zum Diskursiv-Politischen (vgl. Neuhaus / Nover 2019). Das Aushandeln und Abwägen von Positionen ist anstrengend, aber auch alternativlos in einer Gesellschaft, die sich als demokratisch versteht und die möglichst niemanden ausgrenzen oder unterdrücken möchte. 55 Hermeneutik, Werkimmanenz und Close Reading <?page no="56"?> Strukturen literarischer Texte und Übergänge zum Poststrukturalismus In den 1960er Jahren geschieht ganz viel fast gleichzeitig. So spricht man rückblickend von verschiedenen ‚Turns‘, vom die Sprache besonders in den Blick rückenden ‚Linguistic Turn‘ bis hin zum ‚Cultural Turn‘, die sich beide in dem Jahrzehnt zu etablieren beginnen. Die 1970er konnten dann schon ei‐ nen Wandel hin zu einem sprachbasierten, konstruktivistischen Verständnis von ‚Welt‘ und damit auch von Kunst und Literatur voraussetzen. „Die Kunst als Sprache“ betitelt Jurij Lotman das erste Kapitel in seiner einflussreichen, 1972 erschienenen Studie Die Struktur literarischer Texte (Lotman 1993, 19). Sprache wird zu einem umfassenden Begriff, also zu dem, was etwa Niklas Luhmann als Bestandteil eines der vielen, nun identifizierbaren ‚Codes‘ sieht (Luhmann 1997, 317). Unter der ‚Struktur des künstlerischen Textes‘ wird ‚jeder Text‘ verstanden, „der Kunstcharakter hat, also nicht eben nur ein verbaler oder gar nur ein schriftlich fixierter, sondern ebenso gut ein Gemälde, ein Film, ein Musikstück, eine architektonische Schöpfung, ein Ballett usw.“, so Rolf-Dietrich Keil in seiner „Vorbemerkung des Übersetzers“ von Lotmans Studie (Lotman 1993, 8). Alles wird zum zumindest potentiellen Zeichen und alles, was zur Kunst gehört, kann als „sekundäres Zeichen“ (Lotman 1993, 91) wahrgenommen werden, das also, wie wir schon von Pierre Bourdieu gehört haben, als „Metapher“ und „Metonymie“ (Bourdieu 2001, 53) fungiert. Kunst und Literatur sind ein „Spiel“ (Lotman 1993, 97) mit besonderen Spielregeln, aber auch mit einem klaren, außerhalb der fiktionalen Realität liegenden Ziel: „Das Spiel hat eine enorme Bedeutung bei der Einlernung von Verhaltensweisen, da es gestattet, Situationen zu modellieren“ (Lotman 1993, 98). Dass dieses sprachbasierte Spiel sich nicht in Regeln erschöpft, die erlernt werden können, und dass die angenommene Regelhaftigkeit sprachlicher Strukturen in gewissem Widerspruch zu der „unwiederholbare[n] Indivi‐ dualität des künstlerischen Textes“ (Lotman 1993, 121) steht, das hat der Poststrukturalismus gezeigt. Eine als einfach decodierbar begriffene Sprache wird selbst zum Mythos (vgl. Barthes 2016, 258), sie behauptet mit der größt‐ möglichen Selbstverständlichkeit und Sicherheit eine Bedeutung, während sie alle anderen möglichen Bedeutungen ausklammert. Eine einzige genaue Bedeutung gibt es beim näheren Hinsehen nicht, es sei denn, man oder frau beschließt, daran zu glauben, ohne es zu hinterfragen - und das betrifft auch folgenreiche Konzepte, die mit Begriffen wie Rasse oder Nation verbunden 56 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="57"?> werden. Im Anschluss an Jacques Derridas dekonstruktivistischen Zeichen‐ begriff der ‚différance‘ (die veränderte Schreibung des gleich gesprochenen französischen Wortes ‚différence‘ ist programmatisch gemeint als Zeichen für „die unabschließbare Kette der Differenzen“; Jahraus 2002, 248) und an Michel Foucaults machtkritischen Diskurs-Begriff, auf den noch einzugehen sein wird, hat Homi K. Bhabha festgestellt, dass auch das, was wir als ‚Kultur‘ bezeichnen, etwas Gewordenes ist, dessen Authentizität nur eine scheinbare ist (Bhabha 2007, 179). Menschen sind nicht ‚anders‘ (Bhabha 2007, 215), sie werden dazu gemacht, etwa indem bestimmten Merkmalen wie der Hautfarbe eine besondere Bedeutung gegeben wird. Für den Begriff der Nation, engl. ‚nation‘, hat Bhabha das Wortspiel „DissemiNation“ geprägt (Bhabha 2007, 199), um auf den Raum des ‚Dazwischen‘ aufmerksam zu machen, in dem die möglichen Bedeutungen der Konzepte von ‚Nation‘ über Jahrhunderte ausgehandelt werden. Die Erkenntnis, mit Sprache „über ein instabiles Erfassen des Realen“ nicht „hinauszukommen“ (Barthes 2016, 316), sollte keine Resignation aus‐ lösen, sondern im Gegenteil als Ansporn verstanden werden. Es wäre ein falsches Verständnis von Fortschritt, wenn frau oder man diese Erkenntnis zum Anlass nehmen würde, die Augen vor einer Bedeutungsvielfalt von Sprache zu verschließen und sich (wieder) mythologischen und potentiell totalitären Vorstellungen in die Arme zu werfen. Im Gegenteil wird ein Schuh draus: Eine „Versöhnung zwischen dem Wirklichen und den Men‐ schen, zwischen Beschreibung und Erklärung, zwischen Gegenstand und Wissen“ (ebd.) lässt sich nur leisten, wenn man die ‚différance‘ ernstnimmt. Derridas Neologismus bezeichnet den unendlichen Regress der Zeichen oder auch ihre unauflösbare Widersprüchlichkeit, die sich so „in eine positive Gewißheit verwandelt“ (Derrida 1992, 59). Wenn aus der Perspektive einer ‚positiven Gewissheit‘ der potentiellen Unendlichkeit von Bedeutungen der interpretierende Blick auf einen litera‐ rischen Text gerichtet wird, dann lässt sich feststellen: „Der literarische Text erzählt von seiner eigenen Interpretation, womit zugleich die eigene Uninterpretierbarkeit herausgestellt wird. Aber sie wird so im Text heraus‐ gestellt, dass der Text insgesamt Interpretierbarkeit vollzieht, also uninter‐ pretierbar wird“ ( Jahraus 2002, 260). Das Paradoxe der Zeichenhaftigkeit, zugleich etwas zu bezeichnen und zugleich auch etwas nicht zu bezeichnen (oder möglicherweise etwas anderes), wird produktiv gewendet und nicht zuletzt deshalb sind Kunst und Literatur auf vielfältige Weise paradox. Sie wollen nicht verunsichern, sondern den Umgang mit der Widersprüch‐ 57 Strukturen literarischer Texte und Übergänge zum Poststrukturalismus <?page no="58"?> lichkeit von Welt selbstverständlich werden lassen und dabei helfen, ein entsprechendes Sensorium dafür zu entwickeln. Wohin ein solches Spiel mit dem Spiel der Codierungen führt, lässt sich mit Wolfgang Welsch feststellen: „So genommen, stellt Kunsterfahrung eine exemplarische und mustergültige Einübung in Pluralität dar“ (Welsch 2010, 70). Rezeptionsästhetik und Sozialgeschichte Den pluralistischen Blick geweitet hat auch die Sozialgeschichte, die von der Rezeptionsästhetik kaum zu trennen ist - beide betonen die bis dahin unterschätzte Rolle der*des Leser*in im Rezeptionsprozess. Als Initiations‐ zündung gilt die Antrittsvorlesung des Romanisten Hans Robert Jauß an der Universität Konstanz im Jahr 1967, die wenig später unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft veröffentlicht wurde. Die sogenannte Konstanzer Schule entstand, der auch der Germanist Wolfgang Iser angehörte. Schon der erste Satz von Jauß’ Aufsatz impliziert eine Abrechnung mit den politischen Indienstnahmen: „Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf ge‐ kommen.“ Es folgt ein verbaler Denkmalsturz: „Die Patriarchen der Disziplin sahen ihr höchstes Ziel darin, an der Geschichte der Dichtwerke die Idee der nationalen Individualität auf ihrem Wege zu sich selbst darzustellen“ ( Jauß 1970, 144). (Dass Jauß selbst Offizier in der Waffen-SS und möglicherweise an Kriegsverbrechen beteiligt war, war seinerzeit nicht bekannt und sollte auch, wenn es um die hier diskutierte Wirkung von Literatur geht, keine Rolle spielen; es ist aber bezeichnend für die oben erwähnte Tendenz, braune Westen durch weiße zu tauschen.) Aus der Fülle der Anregungen des Aufsatzes, der zahlreiche neuere Erkenntnisse der Zeit bündelt und weiterdenkt, können nur einige hervor‐ gehoben werden. Jauß betont, dass die „oft erst später begriffene Neuheit des großen Werkes“ zeigt, wie sehr die Beurteilung von Literatur von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist ( Jauß 1970, 159). ‚Gute‘ Literatur ist zugleich - als Teil eines ökonomischen Produktionsprozesses und zeitlich-kultureller Rahmenbedingungen - zeitabhängig und universal: „Wer Kunst auf Widerspiegelung einengt, beschränkt auch ihre Wirkung“ ( Jauß 1970, 162). Die Wirkung zu untersuchen ist für ihn Teil einer „Re‐ zeptions- und Wirkungsästhetik“ ( Jauß 1970, 169). Die „Aktualisierung“ von Texten durch ihre Leser*innen ( Jauß 1970, 172) sowie deren „Erwar‐ 58 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="59"?> tungshorizont“ ( Jauß 1970, 173) müssten mit in Betracht gezogen werden, um die „Geschichte der Literatur in der ihr eigenen Geschichtlichkeit zu begreifen und darzustellen“ (ebd.). Literatur kann dabei „den Horizont literarischer Erwartungen so völlig durchbrechen“ ( Jauß 1970, 180), dass ihre besondere Qualität erst später - wenn überhaupt - erkannt wird. Für Jauß ist es der Idealfall, wenn „ein literarisches Werk die Erwartungen seiner Leser durch eine ungewohnte ästhetische Form durchbrechen und sie zugleich vor Fragen stellen [kann], deren Lösung ihnen die religiös oder staatlich sanktionierte Moral schuldig blieb“ ( Jauß 1970, 206). Die Aufgabe der Interpretation sieht Jauß in der „sukzessive[n] Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials“ ( Jauß 1970, 186). In der Folge hat sich die Literaturgeschichtsschreibung stark verändert. Sie hat sich wegbewegt von einer Bilanzierung vorgeblicher Höhenkamm- Werke, die auf die göttergleiche Inspiration von Genies zurückgeführt wur‐ den, zu einer Beschäftigung auch mit vorher vernachlässigten Texten und Gattungen, mit Literatur von Frauen oder von aus bürgerlich-ideologischen Gründen weniger beachteten Autor*innen, mit Essays und Reiseliteratur, mit Literatur, die Themen aus Politik und Gesellschaft verhandelt. So stellt eine Sozialgeschichte der Literatur von 1981 in ihrem Vorwort fest: „In Anlehnung an Walter Benjamin lautet die erkenntnisleitende Frage nicht ‚Wie steht Literatur zu der Geschichte? ‘, sondern `Wie steht Literatur in der Geschichte? ‘“ (Berg u. a. 1981, 1). Für den konkreten Umgang mit einem literarischen Text sind die Über‐ legungen des zweiten sehr prominenten Vertreters der Konstanzer Schule wichtig geworden. Wolfgang Iser hat sich darum bemüht, „das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen“ (Iser 1971, 8). Damit ein litera‐ rischer Text eine „Realisierung durch den Leser“ ermöglicht, gilt für Iser eine wesentliche Bedingung: „Nun ist zwar die in der Lektüre sich einstellende Bedeutung vom Text konditioniert, allerdings in einer Form, die es erlaubt, daß sie der Leser selbst erzeugt“ (Iser 1971, 33). Für die Identifizierung des notwendigen „Unbestimmtheitsbetrag[s]“ (ebd.) direkt im Text hat Iser den Begriff der ‚Leerstelle‘ geschaffen: „Die Leerstellen machen den Text adaptierfähig und ermöglichen es dem Leser, die Fremderfahrung der Texte im Lesen zu einer privaten zu machen“ (Iser 1971, 34). Die Fiktionalität der Literatur hat dabei entscheidende Vorteile: „Der Leser kann aus seiner Welt heraustreten, unter sie fallen, katastrophale Veränderungen erleben, ohne in Konsequenzen verstrickt zu sein“ (Iser 1971, 35). Allerdings sind damit, und 59 Rezeptionsästhetik und Sozialgeschichte <?page no="60"?> das wären dann doch Konsequenzen, Lerneffekte verbunden, denn die von Iser gemeinten (also unausgesprochen als qualitativ hochwertig gesehenen) literarischen Texte sind „unserer Lebenspraxis immer schon voraus“ (ebd.). Die Konsequenz für die Beschäftigung mit Literatur ist, dass „die Konsti‐ tution von Sinn und nicht ein bestimmter, durch Interpretation ermittelter Sinn von vorrangigem Interesse sein“ muss, also dass die Literaturwissen‐ schaft „die Bedingung der Sinnkonstitution selbst zu ihrem Gegenstand machen“ sollte: „Sie hört dann auf, ein Werk zu erklären, und legt statt dessen die Bedingung seiner möglichen Wirkung frei“ (Iser 1994, 36). Iser unterscheidet hier zwischen einer früheren Praxis der Interpretation, der es darum ging, einen Text auf einen bestimmten und bestimmbaren Sinn festzulegen, und einer Praxis, die nach allen möglichen Textbedeutungen fragt - freilich auf der Basis des sprachlichen Materials des Texts. So ähnlich hat es auch in den 1960er Jahren bereits Roland Barthes in Kritik und Wahrheit formuliert: Die „Regeln der Lektüre“ sind „nicht die der Buchstäblichkeit, sondern die der Anspielung“ (Barthes 1967, 64) und die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur ist die Suche nach „den in den Werken angelegten und gewissermaßen anlegbaren Bedeutungen“ (Barthes 1967, 68). Zu den Grenzen und Möglichkeiten, solchen Bedeutungen auf die Spur zu kommen, ist von anderen Theoretiker*innen auch noch Wichtiges gesagt worden, auf das es nun einzugehen gilt. Dekonstruktion, Diskursanalyse und Gender Studies Auch Niklas Luhmanns Systemtheorie, die zu einer der Grundlagen der Beschäftigung mit Literatur geworden ist, gehört zu den Theorieangeboten, die dem Konstruktivismus verpflichtet sind. Luhmann hat nicht vorgehabt, eine über allem stehende ‚Supertheorie‘, eine ‚große Erzählung‘ zu schaffen, die alles erklärt und neben der keine anderen Erklärungen Platz haben, sondern er wollte einfach eine in sich schlüssige Theorie entwickeln, die neben anderen bestehen kann. Jean-François Lyotard hat 1979 in seiner berühmten Studie, deren französischer Titel La condition postmoderne zu einem geflügelten Wort geworden ist, bilanzierend festgestellt: „Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren“ (Lyotard 2005, 112). Alles erklärende Weltentwürfe sind fragwürdig, schon weil es viele verschiedene davon gibt, die für ihre Anhänger*innen jeweils gleich plausibel sind. Dieses Bewusstsein hat - neben anderen - eben auch Luhmann, der bilanzierend 60 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="61"?> festhält, „die Welt“ müsse als „ein Horizont begriffen werden, der sich mit allen Operationen verschiebt, ohne je erreichbar zu sein“. Und weiter: „Zu den Konsequenzen dieser Weltwende gehört, daß die ‚Eigenwerte‘ sich än‐ dern, die im rekursiven Operieren, hier also im Beobachten des Beobachtens, Stabilität erreichen. Sie nehmen, was die Welt betrifft, die Modalform der Kontingenz an. Alles, was in der Welt ist oder gemacht wird, ist auch anders möglich“ (Luhmann 1997, 151). Zugleich betont Luhmann, dass damit nicht einem „subjektiven Individualismus“ das Wort geredet werden soll, „der die Chance gibt, alle vormals akzeptierten Entscheidungen zu unterlaufen. Man muß statt dessen Positionen konstruieren - und durchsetzen“ (Luhmann 1997, 416). Jacques Derridas Konzept der ‚différance‘ wendet sich gegen jegliche Form der Verabsolutierung, weil diese keine Erkenntnisfortschritte mehr ermöglicht und den Schein von Gewissheit produziert, die es aber immer nur vorläufig geben kann: „Wenn Naturalismus und Objektivismus kritische Perversionen der Vernunft sind, so liegt die Gefahr dabei in der Verbindung der Idealität des idealen Objekts mit der Exaktheit, also einer bestimmten Art von Berechenbarkeit“ (Derrida 2003, 179). Derrida greift an dieser Stelle, ebenso wie Luhmann bei der zitierten „Weltwende“, auf Schriften des Philosophen Edmund Husserl zurück. Auch andere Philosoph*innen und Theoretiker*innen - auf Horkheimer und Adorno wurde bereits hingewie‐ sen - haben einer solchen Relativitätstheorie des Wissens vorgearbeitet und es wäre möglich, bis zu Immanuel Kant zurückzugehen (oder sogar noch weiter) - aber das würde definitiv den Rahmen der vorliegenden Einführung sprengen. Judith Butler, ohne die es die Gender Studies so nicht gäbe, hat auf Adorno verwiesen und festgestellt: „Wenn das Menschliche irgend etwas ist, dann scheint es eine Doppelbewegung zu sein, in der wir moralische Normen geltend machen und zugleich die Autorität in Frage stellen, mit welcher wir diese Normen geltend machen“ (Butler 2003b, 104). Butler hat - geschult an der Diskursanalyse von Michel Foucault - in ihrer zum geflügelten Wort gewordenen Studie Gender Trouble von 1990 die von Luhmann, Lyotard, Derrida und anderen bereits als ‚stets vorläufig‘ markierten Wissensbestände und Gewissheiten auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft bezogen. Dabei hat sie festgestellt, dass selbst die mit staatlicher Gewalt durchgesetzten Gesetze in dem Sinne als kontingent anzusehen sind, als dass sie die Rechtsauffassung einer bestimmten Zeit repräsentieren und tradieren. Anders und mit ihren Worten gesagt: „Unweigerlich ‚produziert‘ 61 Dekonstruktion, Diskursanalyse und Gender Studies <?page no="62"?> die Rechtsgewalt, was sie (nur) zu repräsentieren vorgibt“ (Butler 2003a, 17). Die Auffassung von dem, was als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ angesehen wird, ist das Ergebnis einer historisch-kulturellen Konstruktionsleistung, auch einer juristischen. „Eine Frau zu ‚sein‘ ist sicherlich nicht alles, was man ist“, eben […] weil die Geschlechtsidentität in den verschiedenen geschichtlichen Kontex‐ ten nicht immer übereinstimmend und einheitlich gebildet worden ist und sich mit den rassistischen, ethnischen, sexuellen, regionalen und klassenspezifischen Modalitäten diskursiv konstruierter Identitäten überschneidet. Folglich läßt sich die „Geschlechtsidentität“ nicht aus den politischen und kulturellen Vernetzun‐ gen herauslösen, in denen sie ständig hervorgebracht und aufrechterhalten wird. (Butler 2003a, 18) Weil Butler vorgeworfen worden ist, sie würde damit physisch vorhandene Geschlechtsunterschiede nivellieren, hat sie in ihrer ebenso berühmt gewor‐ denen Folgestudie bereits im Titel programmatisch festgestellt: Bodies That Matter, auf Deutsch: Körper von Gewicht, eigentlich: Körper haben Gewicht. Es gehe ihr nicht darum, die „Materialität von Körpern“ (Butler 1997, 22) zu leugnen: „Die Materie der Körper wird neu gefaßt als die Wirkung einer Machtdynamik, so daß die Materie der Körper nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen, und von der Signifikation dieser materiellen Wirkungen“ (ebd.). Das biologische Geschlecht und die körperlichen Unterschiede sind bereits kulturell codiert und es ist nicht möglich, hinter diese durch Sozialisation erlernte Codierung zurückzugehen; es ist aber möglich, sie als Codierung zu begreifen und den Code zu verändern. Darin liegt die entscheidende Weiterentwicklung des Feminismus, der zwischen ‚sex‘, also der biologischen Geschlechtszugehörigkeit, und ‚gen‐ der‘, der kulturellen Geschlechtsidentität, unterschieden hat. Für Butler wird mit einer solchen Unterscheidung nur der Unterschied zwischen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ auf andere Weise festgeschrieben, was eine Fortschreibung der gesellschaftlichen Machthierarchie zwischen Männern und Frauen erlaubt, mit allen Konsequenzen für Rollenverhalten und ökonomische Ressourcenverteilung. Bei solchen Fragen geht es immer um Macht: Die Frage der Macht zwischen Individuen und Gruppen, zwischen konkurrierenden Modellen von Identität hat sich als zentrale Fragestellung der Geistes- und Kulturwis‐ senschaften erwiesen, um Kultur und Gesellschaft einer kritischen Revision 62 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="63"?> zu unterziehen. Hier kommt nun Michel Foucault ins Spiel, der in seiner als Essay gedruckten, 1970 gehaltenen Antrittsvorlesung am renommierten Collège de France mit dem Titel Die Ordnung des Diskurses einige zentrale Eckpunkte einer solchen kritischen Revision festgehalten hat. Zunächst stellt er fest, „daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen“ (Foucault 2000, 10 f.). Dazu sind „Prozeduren der Kontrolle und Einschrän‐ kungen des Diskurses“ geschaffen worden, auch „Ausschließungssysteme“ (Foucault 2000, 17). In diesem Sinne ist „Wahrheit“ (Foucault 2000, 23 u. a.) nicht etwas, das gegeben ist oder entdeckt werden muss, sondern das durch den Diskurs selbst hervorgebracht wird und dann universale Gültigkeit beansprucht, indem es diesen Konstruktionsprozess verschleiert: „Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß“ (Foucault 2000, 25). Die „Prozeduren“ des Diskurses unterliegen „Kräfte[n]“ und Aufgabe der Wissenschaft ist es, diese zu identifizieren und „die Bedingungen ihres Einsatzes zu bestimmen“ (Foucault 2000, 25 f.). Die Rolle des Individuums im Diskurs ist immer eine zweifache, denn „die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen“ bedingen sich gegenseitig (Foucault 2000, 29). Somit ist frau oder man immer zugleich mächtig und machtlos. Wer sich der eigenen Begrenztheiten bewusst wird, kann allerdings besser versuchen, sie zu verändern. Gerade im Bereich der Bildung ist die Förderung kritischer Reflexionsfähigkeit ausgesprochen wichtig, nur so kann ein Bewusstsein über die Verteilung von Machtpositionen in einer Gesellschaft hergestellt und nur so können Möglichkeiten gefunden werden, Macht gleicher und damit gerechter zu verteilen. Foucault warnt daher: „Jedes Erziehungssystem ist eine politische Methode, die Aneignung der Diskurse mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verankern“ (Foucault 2000, 30). Wenn Foucault fordert, „die Souveränität des Signifikanten auf[zu]heben“ (Fou‐ cault 2000, 33), dann zeigt er sich damit genauso zeichenkritisch wie Barthes, Luhmann, Derrida oder Butler. Die Bedeutung von Zeichen und ihr Einsatz, also die je nach Bereich mehr oder weniger formalisierte und geregelte Kommunikation und Interaktion, haben immer auch mit Macht zu tun, 63 Dekonstruktion, Diskursanalyse und Gender Studies <?page no="64"?> die inszeniert, akzeptiert und ritualisiert oder die kritisiert und sonstwie diskursiv verhandelt wird. Foucault hat in mehreren Längsschnitten gesellschaftlich relevante Dis‐ kurse untersucht, vor allem das Straf- und Justizsystem, den Wahnsinn, die Medizin und die Sexualität. Dabei hat er gezeigt, wie sich aus welchen Gründen bestimmte Praktiken und Auffassungen entwickelt haben, die oft als selbstverständlich angesehen werden, obwohl sie doch - und das ist der springende Punkt, weshalb Foucault dieses als „Archäologie“ bezeichnete Verfahren (Foucault 1981) betreibt - etwas Gewordenes sind, das aus bestimmten Machtverhältnissen resultiert. Die im weiteren Sinn politische Relevanz der Diskursanalyse hat Foucault immer wieder betont, so zum Beispiel mit der für eine transdisziplinäre Theoriebildung folgenreichen (vgl. etwa Folkers / Lemke 2014) Skizze einer „Bio-Politik“ und „Bio-Macht“: Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsni‐ veau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. (Foucault 1983, 166) Im Übergang von der mittelalterlichen zur modernen Gesellschaft versuchen insbesondere die politischen Institutionen der Macht, auf den Körper und das Leben zuzugreifen, um den Fortbestand der Gesellschaft und ihrer eigenen Machtposition abzusichern und zu optimieren: „[…] verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölke‐ rungen schießen aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ‚Bio-Macht‘“ (Foucault 1983, 167). Foucault hat diesen Gedanken nicht ausbuchstabiert und es bleibt einer weitergehenden theoriegeleiteten Diskussion überlassen, sich einen Reim darauf zu machen. Unter den Effekten von Biopolitik und Biomacht kön‐ nen etwa die Auswirkungen von Geschlechterkonstruktionen verstanden werden; so wie alle Machtverhältnisse, die auf den Körper zugreifen. Im vorliegenden Band wird beispielhaft darauf zurückzukommen sein. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Nichts ist gott- oder naturgewollt (sofern man oder frau nicht daran glaubt, das wäre aber außerhalb des Wissens zu betrachten) und alles könnte auch ganz anders sein. Was bedeu‐ tet dies nun für die Interpretation, weshalb diese langen Erklärungen über Wissensbestände, zumal es sich bei fiktionalen Texten doch nicht im engeren 64 Wie werden Fiktionen interpretiert? <?page no="65"?> Sinn um Wissenstexte handelt? Wie beschrieben verdoppeln fiktionale Texte die Wahrnehmung von Realität, sie erschaffen eine innerfiktionale Realität (oder mehrere solcher alternativen ‚Realitäten‘) und positionieren sich zur beobachtbaren ‚realen‘ Realität als mögliche Variante(n). Wer diese Potentialität der fiktionalen Realität wahrnimmt und zugleich begreift, dass auch die Wahrnehmung der scheinbar ‚realen‘ Realität diskursiv hervorge‐ bracht worden ist, die oder der ist frei, die mögliche Vielfalt von Realität(en) wahrzunehmen und Realität(en) neu zu denken. Dass dafür eine gewisse Erdung nötig ist, hat der Hinweis auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom Einsiedler Serapion gezeigt. Um einen Text ‚adäquat‘ interpretieren zu können, ist eine Vielzahl von Voraussetzungen nötig, die zugleich immer auch auf ihre Notwendigkeit und Relevanz hin überprüft werden müssen, denn nichts kann selbstbegründend sein. Literatur zu interpretieren entpuppt sich als ein komplexes Verfahren mit vielen Möglichkeiten, das sich aber lohnt, um aus dem Text, mit dem frau oder man sich beschäftigt, möglichst viel zu lernen - über die Welt und ihre Möglichkeiten und über sich selbst in der Welt. 65 Dekonstruktion, Diskursanalyse und Gender Studies <?page no="67"?> Literatur interpretieren Was ist Literatur? „Was ist Literatur? Man sollte meinen, dies sei eine zentrale Frage der Literaturtheorie, doch scheint sie in Wirklichkeit keine große Rolle zu spielen“ (Culler 2013, 31). Dabei gehört es zur Wissenschaft, Begriffe nicht einfach zu verwenden, sondern sich erst ihrer Bedeutung zu vergewissern. Dafür gibt es zahlreiche Nachschlagewerke des Faches, etwa das Realle‐ xikon der deutschen Literaturwissenschaft (Weimar / Fricke 2007), dessen ältere Ausgabe noch Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte hieß (Kanzog / Masser 2001) und angesichts der großen Unterschiede in der Artikelauswahl und -bearbeitung auch immer noch konsultierenswert ist. Beide sind in verschiedenen Bearbeitungsstufen immer wieder neu aufgelegt worden. Für Studierende empfiehlt sich zunächst ein Zugang etwa über das Metzler Lexikon Literatur, in dessen 3. Auflage unter dem Stichwort „Literatur“ drei Verwendungsweisen des Begriffs unterschieden werden: 1. „die Gesamtheit des Geschriebenen“, 2. Literatur als „der Gegenstand“ der Literaturwissenschaft und 3. Literatur „als die Gesamtheit aller Texte von bestimmtem Wert“ (Burdorf u. a. 2007, 445). Das ausführlichere Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft hat sechs Kategorien (vgl. Weimar / Fri‐ cke 2007, Bd. 2, 443) und es gibt weitere, anders gewichtende Definitionen, die zeigen, dass auch zentrale Fragen des Selbstverständnisses des Faches in einem beständigen Diskurs immer wieder neu verhandelt werden. Die Formulierung „von bestimmtem Wert“ verweist auf Fragen der literarischen Wertung, mit denen sich bereits ein früheres Kapitel dieser Einführung beschäftigt hat. Auch sonst ist mehrfach thematisiert worden, dass in der Regel vor allem die als besonders ‚wertvoll‘ angesehenen Texte interpretiert werden (je ‚wertvoller‘, desto öfter), denn sie erfüllen die Kriterien etwa von „Neuheit“ (Luhmann 1997, 323), Offenheit, Stimmigkeit und Selbstreferenz (vgl. Neuhaus 2002b, 16 f.; für einen komplexen Kriteri‐ enkatalog in historischer Perspektive vgl. Heydebrand/ Winko 1996). Und nur sie sind besonders anspielungsreiche „Palimpseste“ (Genette 2003). Die Bevorzugung entsprechender Texte geschieht nach wie vor aus der Überzeugung, dass gerade sie es sind, die Reflexion über die ‚Welt‘ und <?page no="68"?> eine (selbst-)kritische Wahrnehmung derselben in einem besonderen Maße stimulieren. Auch in der Auseinandersetzung mit Filmen finden es Kultur‐ wissenschaftler*innen in der Regel lohnender, sich mit fiktionalen Filmen zu beschäftigen, die vergleichbaren Qualitätskriterien genügen. Wenn Literatur (oder Film oder Kunst allgemein) immer das ist, „was eine bestimmte Gesellschaft jeweils für Literatur [oder Film oder Kunst] hält, also eine Reihe von Texten [oder Filmen oder Artefakten], die die maßgeblichen Kulturvertreter als zur Literatur [etc.] gehörig erkennen“ (Culler 2013, 36), dann ist in historischer Perspektive festzustellen, dass es ‚die Gesellschaft‘ so nicht gibt und dass es einen großen Unterschied zwischen dem gibt, was „die maßgeblichen Kulturvertreter“ anerkennen und dem, was allgemein rezipiert wird. So hat zum Beispiel der Literaturwissenschaftler und Volks‐ kundler Rudolf Schenda seine Habilitationsschrift darüber verfasst, was in dem Zeitraum von 1770-1910 denn tatsächlich gelesen wurde - und das waren nicht Texte von Goethe oder Schiller oder anderen Autor*innen, die uns in Literaturgeschichten prominent begegnen, eher im Gegenteil. Und es ist wohl auch nicht schlimm, dass die meisten der Vielgelesenen in Vergessenheit geraten sind, wenn es nicht gerade um sozialgeschichtliche Fragen geht. Schendas 1970 erstmals veröffentlichte Studie ist schnell „zu einem Standardwerk der Literatursoziologie und der Buch- und Lesergeschichte geworden“ (Schenda 1977, Klappentext), aber auch sie scheint, wie manch andere grundlegende Arbeit, später wieder in Vergessenheit geraten zu sein, denn eine kritische Auseinandersetzung mit jeder Lektürepraxis ist in der Literaturwissenschaft nach wie vor eher selten. Schenda hat mit einer Fülle an aufbereitetem Material nachgewiesen, dass „die populären Lesestoffe na‐ tionale Meinungen, Vorurteile oder Aversionen in bezug auf andere Objekte geschaffen oder gefestigt“ haben (Schenda 1977, 493). Was vor allem gelesen wurde, hat also - wegen seiner einfachen Zugänglichkeit - Rassismus und Judenhass, Nationalismus und eine patriarchalische Gesellschaftsstruktur gefestigt und dann wohl auch dazu beigetragen, dass ein gesellschaftliches Klima entstehen konnte, aus dem heraus der Nationalsozialismus so mächtig werden konnte. Die manipulativen Techniken wurden mit Hilfe von Litera‐ tur weiter perfektioniert, staatlich organisiert und positiv sanktioniert. Ein solcher Blick auf die Geschichte der Literatur lehrt: Die Leser der populären Lesestoffe sind […] auf vielfältige Weise manipulierbar. Da die Reproduktion des Bestehenden und des Vergangenen zu den Exigenzen 68 Literatur interpretieren <?page no="69"?> gehört, die sie an das Kommunikationsmittel richten, fällt ihnen nicht auf, daß sie Opfer längst überholter Denkstrukturen, veralteter Ideologien, zopfiger Meinungen werden. Sie akzeptieren Herrschaftsverhältnisse, die ihrer realen Gegenwart nicht mehr angemessen sind, sie halten Darstellungen für neu, die den verstaubten Requisitenkammern vergangener Generationen entnommen sind. (ebd.) Literatur zu interpretieren heißt immer auch, Literatur gleich in mehrfacher Hinsicht kritisch zu lesen, sie in gesellschaftliche Kontexte der Entstehungs‐ zeit und der Zeit der Erstrezeption ebenso wie der jeweils näher beleuchteten Zeit der Rezeption einzuordnen; ggf. auch in die Kontexte der Zeiten, in denen die Handlung spielt, sofern sie von den bereits genannten Zeiten abweichen. Es gilt, die Handlung daraufhin zu befragen, welches Potential sie für eine kritische Auseinandersetzung mit der außerliterarischen Realität (soweit diese beobachtbar ist) bereitstellen kann. Für eine Interpretation ist weiterhin auszuwählen, welche Theorie(n) das eigene Erkenntnisinteresse in der Auseinandersetzung mit dem Text leiten soll(en). Was ist die Frage‐ stellung und mit welchem theoretischen Referenzrahmen lässt sich diese Fragestellung am besten und in der direkten Auseinandersetzung mit dem Text verfolgen? An Beispielen lyrischer und dramatischer Texte sowie von Erzähltexten soll nun exemplarisch vorgeführt werden, wie Literatur interpretiert werden kann, jedoch ohne Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit. Zwar kann es Vollständigkeit ohnehin nie geben, eine in vorher festgelegten Gren‐ zen erreichte Interpretation würde sie aber zumindest anstreben, soweit es das dafür festgelegte Erkenntnisinteresse betrifft. Ziel der nachfolgenden Interpretationsskizzen kann es nur sein, vor dem Hintergrund bisheriger Forschung auf die Deutungspotentiale der Texte aufmerksam zu machen, um in den Prozess des Interpretierens einzuführen. Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) Für eine Interpretation ist es zunächst wichtig, eine möglichst gute Werkaus‐ gabe zu verwenden. Sofern vorhanden, sollte es eine Historisch-kritische oder Kritische Ausgabe sein, das heißt, dass die Ausgabe in einem dem Text ange‐ gliederten Kommentarteil Rechenschaft darüber ablegt, aus welcher Ausgabe 69 Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) <?page no="70"?> (in der Regel wird es die Erstausgabe sein, manchmal auch die sog. Ausgabe letzter Hand) der abgedruckte Text stammt, welche ‚Normalisierungen‘ vorgenommen wurden (die Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern wie die Anpassung an neuere Schreibweisen betreffend), welche anderen handschriftlichen und Druck-Fassungen es von diesem Text möglicherweise gibt, wie sich seine Druck- und Überlieferungsgeschichte gestaltet hat und was über die Rezeption bekannt ist. Bei Kritischen Ausgaben wird, meist im Unterschied zu einfachen Lese‐ ausgaben, genauestens geprüft, ob der übernommene Text bis auf jedes Wort und ob auch seine Schreibung korrekt ist. Anpassungen an zeitgenössische Schreib- und Lesegewohnheiten werden nachgewiesen. Alle Angaben zum Text sind für die Interpretation ausgesprochen wichtig, denn schon kleine Veränderungen können große Bedeutung haben. So sorgt es regelmäßig für Verwirrung, dass Goethe im Titel seines ersten und vielleicht berühmtesten Romans Die Leiden des jungen Werther den Namen des Protagonisten zunächst „Werthers“ schrieb, aber für die zweite Auflage die nunmehr als korrekt angesehene Form „Werther“ verwendete. Dass die Normierung und Standardisierung der deutschen Sprache, wie wir sie heute kennen, ein Produkt vor allem des 18.-20. Jahrhunderts ist, gehört zum Fachwissen über Literatur. Die zweite, überarbeitete Auflage gilt als die maßgebliche und auf sie wird meistens zurückgegriffen; dennoch ist es nicht unwichtig zu wissen, dass es eine erste frühere Fassung gegeben hat und wenn man sich näher mit dem Roman beschäftigt, kann es nützlich sein, beide zu vergleichen. Deshalb gibt es auch eine für Studierende gut zu verwendende synoptische Ausgabe im Reclam-Verlag - doch das sei hier nur am Rande vermerkt, weil alle Ausgaben dieses Verlags die Mindestkriterien der sog. ‚Zitierfähigkeit‘ erfüllen und auch für das Studium zu gebrauchen sind. Für Hausarbeiten und noch mehr für Abschlussarbeiten (Bachelor, Master, Magister) wird erwartet, dass evtl. vorhandene Kritische Ausgaben zitiert oder zumindest zum Vergleich herangezogen werden. In der vorliegenden Einführung werden gängige Kritische Ausgaben der Werke Heines, Fonta‐ nes und Schillers zitiert und die maßgeblichen Kritischen Ausgaben (die Düsseldorfer Heine-Ausgabe, die online verfügbar ist, vgl. www.hhp.unitrier.de/ Projekte/ HHP/ werke, die Große Brandenburger Fontane-Ausgabe und die Schiller-Nationalausgabe) zum Vergleich herangezogen. Im Falle Erich Kästners ist die Wahl nicht schwer: Es gibt nur eine annähernd Kritische Ausgabe. Zum Hintergrund: Kästner ist 1974 gestorben und da das Copyright erst 70 Jahre nach dem Tod erlischt, liegt das Recht an 70 Literatur interpretieren <?page no="71"?> seinen Werken bei seinen bzw. seinem Erben und bei den Verlagen, mit denen Verträge abgeschlossen wurden. Das Gedicht, um das es hier geht, darf nur deshalb ganz abgedruckt werden, weil es Bestandteil einer wissen‐ schaftlichen Publikation und Gegenstand einer längeren Interpretation ist (es handelt sich um das sog. Zitatrecht). Die einzige und nur teilweise Kritische Ausgabe der Werke Kästners, die eine breite Auswahl seines Werks präsentiert und deren Bände nicht durchgängig mit Kommentaren versehen sind, ist 1998 erschienen und aus dieser Ausgabe wird nun auch das ausgewählte Gedicht zitiert, das, wie dem Kommentar zu entnehmen ist (Kästner 1998b, Komm. 437 u. 439), zuerst am 17. Mai 1932 in der berühmten Zeitschrift Die Weltbühne erschienen ist und dann Eingang in Kästners vierten, im selben Jahr veröffentlichten Gedichtband Gesang zwischen den Stühlen gefunden hat: Der Handstand auf der Loreley (Nach einer wahren Begebenheit) Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen, ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen, wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen, von blonden Haaren schwärmend, untergingen. Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen. Der Rhein ist reguliert und eingedämmt. Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt. Nichtsdestotrotz geschieht auch heutzutage noch manches, was der Steinzeit ähnlich sieht. So alt ist keine deutsche Heldensage, daß sie nicht doch noch Helden nach sich zieht. Erst neulich machte auf der Loreley hoch überm Rhein ein Turner einen Handstand! Von allen Dampfern tönte Angstgeschrei, als er kopfüber oben auf der Wand stand. Er stand, als ob er auf dem Barren stünde. Mit hohlem Kreuz. Und lustbetonten Zügen. Man fragte nicht: Was hatte er für Gründe? Er war ein Held. Das dürfte wohl genügen. 71 Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) <?page no="72"?> Er stand, verkehrt, im Abendsonnenscheine. Da trübte Wehmut seinen Turnerblick. Er dachte an die Loreley von Heine. Und stürzte ab. Und brach sich das Genick. Er starb als Held. Man muß ihn nicht beweinen. Sein Handstand war vom Schicksal überstrahlt. Ein Augenblick mit zwei gehobnen Beinen ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt! P.S. Eins wäre allerdings noch nachzutragen: Der Turner hinterließ uns Frau und Kind. Hinwiederum, man soll sie nicht beklagen. Weil im Bezirk der Helden und der Sagen die Überlebenden nicht wichtig sind. (Kästner 1998b, 183) Warum sind der Publikationsort und die Publikationsdaten wichtig, welche Bedeutung haben sie für die Interpretation? Die Zeitschrift Die Weltbühne war für die demokratisch gesinnten Intellektuellen eines der wichtigsten kritischen Medien der Zeit der Weimarer Republik, in dem monarchische wie später auch nationalsozialistische Tendenzen in Politik und Gesellschaft aufgezeigt und kritisiert wurden, und zwar in unterschiedlichsten und nicht zuletzt literarischen Textsorten und Gattungen (vgl. Gallus 2012). Kurt Tucholsky, einer der bekanntesten Intellektuellen der Weimarer Republik und als Schriftsteller wie als Journalist tätig, war einer der Stammautoren der Zeitschrift und sogar kurze Zeit, nach dem Tod des Gründers Siegfried Jacobsohn und bevor Carl von Ossietzky die Leitung übernahm, ihr Heraus‐ geber. Ossietzky wurde für seine kritische Haltung und die seines Blatts von den Nationalsozialisten interniert, ins Konzentrationslager gesteckt und gefoltert. 1936 wurde ihm, auch stellvertretend für den frühen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der Friedensnobelpreis verliehen. Er starb 1938 an den Folgen der KZ-Haft. Seit 1991 trägt die Universität Oldenburg seinen Namen. Während Tucholsky nicht zuletzt wegen des politischen Rechtsrucks in der Gesellschaft seit 1929 in Schweden lebte und dort 1935 starb, blieb Erich Kästner in Deutschland, obwohl er die Möglichkeit zur Emigration gehabt hätte (zu Kästners Leben und Werk vgl. einführend Hanuschek 2018). Kästners Bücher wurden mit anderen 1933 auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. Weil er zunächst Publikations- und dann sogar Schreibverbot 72 Literatur interpretieren <?page no="73"?> bekam, konnte er sich nur mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, und auch das meist verbotenerweise (vgl. Neuhaus 2000). Über seine Gründe, in Deutschland zu bleiben, ist viel spekuliert worden. Wichtig ist hier festzuhalten, dass er überzeugter Anhänger einer demokratischen Weimarer Republik war und den Nationalsozialismus verabscheute, weshalb er auch in zahlreichen Texten vor der Machtergreifung versuchte, gegen die ‚rechte‘ Politik mit den Mitteln von Literatur und Journalismus vorzugehen. Als Der Handstand auf der Loreley erschien, war der Autor u. a. des ersten modernen Kinderromans Emil und die Detektive (1929) und des Generationenromans Fabian (1931) auf dem Höhepunkt seines Erfolgs (vgl. Hanuschek 2018, 52). Das Gedicht ist eigentlich eine Ballade, also ein Handlungsgedicht und damit eines der „Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen“ (Sege‐ brecht 2012). Als „Ur-Ei“ der Dichtung, wie Goethe die Gattung Ballade genannt hat (vgl. Neuhaus 2017a, 25), verbindet sie „Lyrik, Prosa und Drama auf unterhaltsame und spannende Weise miteinander“ (Segebrecht 2012, 5). Während bei anderen Gedichttypen ein lyrisches Ich Gefühle und Gedanken wiedergibt, findet sich in dem Erzählgedicht Ballade, so wie in der Prosa, ein Erzähler, in der Regel ein auktorialer (allwissender) Er-Erzähler, wobei es durchaus auch Ich-Erzähler gibt - etwa in Frank Wedekinds Ballade Der Tantenmörder von 1897 (vgl. Neuhaus 2017a, 27-32). Die für diese Beispielinterpretation ausgewählte Ballade spiegelt Kästners kritische Haltung und nimmt satirisch nicht nur zur Zeitgeschichte Stellung, sondern verarbeitet auch wesentliche Gründe, die zur Entwicklung eines ‚falschen‘ Heldentums geführt haben. Dass der Lyriker Kästner generell nicht, wie etwa Gottfried Benn oder andere avantgardistische Dichter (vgl. Lamping 2011, 11), auf Reime und gängige Metren verzichtet (so dass nur noch die graphisch entsprechend unterteilte „Rede in Versen“ als Unterscheidungskriterium zu Prosa und Drama übrig bleibt; vgl. Burdorf 1995, 20), sondern auf als ‚unmodern‘ geltende Formen zurückgreift, ist seiner Absicht geschuldet, Gebrauchslyrik zu verfassen, also Gedichte, die ein möglichst breites Publikum erreichen (vgl. Neuhaus 2001). Auch andere Autor*innen der Zeit versuchen dies, neben dem bereits genannten Kurt Tucholsky etwa Bertolt Brecht oder Mascha Kaléko. Die Ballade als „dramatische Geschichten“ (Segebrecht 2012) erzählende Zwischenform zeigt sich dafür als besonders geeignet, bei allen genannten Lyriker*innen ließen sich genügend Beispiele finden. Der Titel der Ballade spielt auf eines der bekanntesten Gedichte deutscher Sprache an, auf Heinrich Heines üblicherweise mit Loreley betiteltes Ge‐ 73 Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) <?page no="74"?> dicht, das eigentlich keinen eigenen Titel hat und das sich im Buch der Lieder (1827) am (von einer lyrischen Widmung abgesehen) Anfang des Zyklus Die Heimkehr findet. Es lautet wie folgt: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Mährchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar, Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldnes Haar. Sie kämmt es mit goldnem Kamme, Und singt ein Lied dabey; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodey. Den Schiffer, im kleinen Schiffe, Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh'. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lore-Ley gethan. (Heine 1975, 206 f.) Heines Buch der Lieder war und ist historisch gesehen eines der erfolgreichs‐ ten Bücher in deutscher Sprache überhaupt: „Übersetzungen erfolgten in alle Kultursprachen“ (Heine 1994, 508). Bei dem Loreley-Gedicht handelt es sich um den berühmtesten Text des Bandes, der sich bereits auf eine Vorlage bezieht: Auf Clemens Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine, die sich zunächst in seinem Roman Godwi (1801) findet. Abgesehen von solchen intertextuellen Zusammenhängen ist festzuhalten, dass Heine den Mythos 74 Literatur interpretieren <?page no="75"?> um den Loreley-Felsen zwar nicht schuf, aber so weit popularisierte, dass sein Gedicht zu einem der populärsten Texte und - dank der Vertonungen - Lieder deutscher Sprache wurde und relativ bald schon als ureigener Teil ‚deutschen‘ Kulturgutes galt. Wolfgang Minaty, der ein „Lesebuch“ zu den Bearbeitungen des literarischen Stoffes der Loreley herausgegeben hat, hat launig festgestellt: „Es gibt keine Frau, von der die Deutschen mehr hingerissen waren als von der Loreley. Es gibt aber auch kein Motiv, das mehr zum Klischee verkommen ist als eben diese Loreley. Sie war einmal Galionsfigur der deutschen Romantik. Sie wurde zum Erotikon deutscher Philister. Sie war die Verkörperung libidinöser Zwangs-, Traum- und Wahnvorstellungen“ (Minaty 1988, 9). Dass die Loreley auch zum ‚nationalen‘ Mythos werden konnte, ist auf bittere Weise ironisch: „Der Jude Heinrich Heine brannte zwar auf dem Scheiterhaufen [d. h. seine Bücher wurden verbrannt], aber die Nazis wagten es nicht, dieses Gedicht zu eliminieren“ (Minaty 1988, 16). Selbst diese Tradierung gehört vermutlich wieder zu den Mythenbildungen, denn einen konkreten Beleg für die populäre Behauptung, das Gedicht sei anonymisiert in NS-Lesebücher eingegangen, gibt es bisher nicht. Es stimmt allerdings, dass Heine wegen seiner jüdischen Herkunft und republikanischen Verse in der NS-Zeit ein verfemter Dichter war und andere seiner Texte ohne Namensnennung in populären Gedicht- und Liedersammlungen auftauch‐ ten (vgl. Pielenz / Liedtke 2013). Es lassen sich dafür andere Belege für die ungebrochene Popularität des Gedichts finden. Die Wehrmacht konnte nur deshalb das Loreley-Lied singen (vgl. ebd.), weil es schon vor der Machtergreifung zu den festen kulturellen Bestandteilen des deutschen Nationalismus gehörte - allerdings als Folge einer gleich dreifachen Fehl‐ interpretation. Erstens war der Mythos nicht ‚echt‘ im Sinne historischer Fakten und zweitens gehörte sein Schöpfer aus den genannten Gründen (geborener Jude und Verfechter einer Republik) zu den besonders verab‐ scheuten Autoren aller Nationalisten. Drittens ist der Text nicht romantisch, weder in der trivialen Bedeutung des Begriffs noch mit Blick auf die Epoche der Romantik. Heines scheinbar so einfaches Gedicht ist ausgesprochen ironisch, aber nicht im Sinne einer romantischen Ironie, die auf Transzen‐ denzerfahrungen zielt (d. h. auf ein besseres Jenseits). Das Gedicht macht sich, so könnte man es zugespitzt formulieren, über alle lustig, die es in einem klischeehaft-romantischen Sinn ernstnehmen - also über fast alle, die es seit seiner ersten Veröffentlichung gelesen und gesungen haben. Schon zur Zeit der Veröffentlichung des Buchs der Lieder eilte Heine im Ausland 75 Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) <?page no="76"?> der Ruf voraus, „the German Satirist and Poet“ zu sein - so der Londoner Morning Herald vom 22. Mai 1827 (zit. nach Liedtke 2006, 85). Wie konnte Heine zum ‚romantischen Dichter‘ werden, wie konnte es zu einem solchen Missverhältnis von populärer Rezeption und Textbedeutung kommen? Zunächst einmal sind die vielen eingängigen rhetorischen Mittel (Reim, Metrik, Alliterationen, Vokalgebrauch, Metaphern und Symbolik), auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, einerseits zwar konventionell und daher leicht rezipierbar, andererseits aber absichtsvoll konventionell, was man daran merkt, dass der Text sie geradezu lustvoll übertreibt. Was bitte schön bedeutet, um nur ein besonders betontes Adjektiv herauszugreifen, „wunderbar“? Superlative und Attribute von Weiblichkeit und Reichtum, die als Projektionsflächen für eigene Wünsche dienen, werden aneinandergereiht, so dass den Leser*innen wie dem Schiffer im wahrsten Sinne des Wortes Hören und Sehen vergeht. Dafür arbeitet der Text auch mit deutlich ausge‐ stellten Gegensätzen von oben und unten, groß und klein, unsterblich und vergänglich etc. Die entscheidende Ironisierung, die das Gedicht metafiktional werden lässt (es weist selbst darauf hin, dass es Literatur ist), geschieht im Rahmen: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, so relativiert schon am Anfang ein nicht näher benannter Erzähler seine Schilderung, um am Ende zu gestehen, dass er gar nicht weiß, wie die kleine, aber dramatische Episode eigentlich ausgegangen ist: „Ich glaube“. Wenn er es aber nur glaubt, dann ist das, was „Die Lore-Ley gethan“ hat, möglicherweise gar nicht so schlimm, hat sie vielleicht doch nur dem Schiffer - und den Leser*innen, die auf gar nichts anderes mehr geachtet haben - den Kopf verdreht, ohne dass wirklich jemand zu Schaden gekommen ist. Der namenlose Erzähler, der nicht Teil der Handlung ist, entpuppt sich als unzuverlässiger Erzähler. Das Gedicht führt auf der Ebene des discours (Nünning 2004, 259; Genette 1998, 122) vor, wie literarische Texte mit starken Emotionen, die hier Liebe und Tod betreffen, spielen können. Die Ebene der histoire (Nünning 2004, 259) oder der „Wirklichkeitseffekte“ (Genette 1998, 118), die ‚nur‘ die Handlung betrifft, ist weniger wichtig - wenn man das Gedicht als literarischen Text ernstnimmt. Doch genau diese Ebene hat die Breitenwirkung des Texts und seine missverstandene Rezeption ausgemacht. Wie innovativ Heines Text ist, kann hier nicht genauer begründet werden, es soll ja vor allem um Kästners Adaption des Stoffes gehen. Kästners Ballade begnügt sich nicht damit, auf Heines berühmtes Gedicht nur anzuspielen, es heißt darin ganz direkt: „Er dachte an die Loreley von Heine.“ Ironischerweise - und somit die Ironie von Heines Gedicht 76 Literatur interpretieren <?page no="77"?> potenzierend - folgt unmittelbar auf diesen Gedanken der tödliche Sturz - der hier ‚wirklich‘ tödlich ist, daran lässt der Erzähler keinen Zweifel. Es ist somit der Gedanke an einen literarischen Text, der den Turner - als Figur in einem literarischen Text - zu Fall bringt. Das Turnen hat eine lange Tradition, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Wichtig ist zu wissen, dass die Leibesertüchtigung zum Be‐ standteil ‚völkischer‘ Ideologie wurde, weshalb die Nationalsozialisten einen regelrechten Körperkult betrieben. Dass die meisten ihrer prominenten Vertreter dem gut trainierten, ‚nordischen‘ Schönheitsideal nicht entspra‐ chen, gehört zur Ironie der Geschichte und zeigt einmal mehr, wie sich die Bevölkerung manipulieren ließ. Solche Widersprüche fallen aber nur auf, wenn man oder frau über sie nachdenkt. Eine entsprechende Reflexion wird verhindert, wenn solche Ideologien bereits als ‚Wahrheit‘ gelten. Wie zentral die Fähigkeit und der Wille zur Reflexion für die Frage sind, ob jemand einer Ideologie verfällt oder nicht, hat die Philosophin Hannah Arendt gezeigt. Sie hat nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust über den NS-Verbrecher und Massenmörder Adolf Eichmann geschrieben: „Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit - etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist -, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden“ (Arendt 2015, 57). Dazu passt, dass der Turner in Kästners Ballade keinen eigenen Gedanken fasst, er denkt nur an einen Text, der für ihn etwas bezeichnet, das es doppelt nicht gibt: Die Loreley ist eine literarische Schöpfung und die bekannteste Version von Heine ist durchweg ironisch. Der Turner wird also satirisch gezeichnet. Die Annahme liegt nahe, dass es der subversive Gehalt des Texts von Heine ist, der den Turner zu Fall bringt. Der Höhepunkt der Satire ist, dass der Turner durch den Gedanken an eine Figur in einem literarischen Text stirbt, dessen kritisches Potential er nicht erkennt, den er vielmehr - wie durch die nationalistische Tradition vorgegeben - falsch interpretiert. Man könnte auch sagen, dass die Figur des Turners (und in der Folge seine Familie) ebenso ein Opfer nationalistischer Mythenbildung ist wie einer falschen Interpretationspraxis. Noch weiter zugespitzt: Kästners Ballade führt auf satirische Weise vor, wie gefährlich es sein kann, Literatur falsch zu interpretieren. Kästners Ballade ist von Anfang an als satirischer Text zu erkennen, der auch immer wieder witzig wird (im doppelten Wortsinn von lustig und schlau), etwa wenn es heißt: „Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, / bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt“. Offenbar stirbt man (! ) aber aus 77 Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) <?page no="78"?> anderen Gründen, und das hängt eben mit der „deutsche[n] Heldensage“ zusammen. Der Turner stirbt, so heißt es lakonisch, „als Held“, aber weshalb? Er kann nur als Held sterben, weil er an einer Stelle stirbt, die zum Mythos des deutschen Nationalismus gehört. Diesen Mythos bevölkern zahlreiche ‚Helden‘. Eine aufschlussreiche Aus‐ stellung in Essen hat vor nicht allzu langer Zeit eine illustrierte Geschichte dieses Heldenmythos vorgelegt (vgl. Osses 2010), zu dem etwa Siegfried aus dem Nibelungenlied gehört, ebenso Arminius alias Hermann der Cherusker, über den im 18. und 19. Jahrhundert unzählige, meist nationalistische Dra‐ men geschrieben wurden und dem man im Teutoburger Wald ein drohendes Denkmal errichtet hat. Dass Kästners Ballade betont, dass nach den Gründen des Turners gar nicht erst gefragt werden muss, deutet auf die 1932 gegen‐ wärtige Selbstverständlichkeit solcher Heldenmythen und soll zugleich die Frage provozieren, ob es nicht sinnvoll wäre, nach deren Berechtigung zu fragen. Auch die abschließende Behauptung in einem für Gedichte oder Balladen vollkommen unüblichen Postscriptum, dass der Mythos ausreicht und deshalb die überlebenden Familienmitglieder des Turners „nicht wichtig sind“, kann als - finale - Provokation gelesen werden, das geschilderte Verhalten und den ihm zugrunde liegenden nationalistischen Mythos zu hinterfragen. Dies unterstreichen die zahlreichen, ironisch wirkenden Gegensätze, die auch auf der formalen Ebene komisiert werden, etwa in dem gespaltenen Reim „Handstand / Wand stand“. An die Wand werden Delinquenten ge‐ stellt, keine Helden, und sie stehen dort aufrecht, nicht auf Händen. Der Turner, der offenbar als Held auftreten und dieses Heldentum im Wortsinn ausstellen will (schließlich handelt es sich um einen prominenten Ort und er ist dort weithin sichtbar) und von dem der Erzähler behauptet, dass er ein ‚echter‘ Held sei; dieser Turner also, der sich auf einem gefährlichen Felsen wie in einer Turnhalle benimmt („als ob er auf dem Barren stünde“), ist nichts weniger als eine lächerliche Figur (auch das wird sprachlich markiert, z. B. „mit hohlem Kreuz“). Der Erzähler ist übrigens gar nicht so überzeugt von des Turners Helden‐ tum, wie er vorgibt. Er bekennt früh Farbe, wenn er in der dritten Strophe bereits ankündigt, dass es um ein Geschehen geht, „was der Steinzeit ähnlich sieht“. Das der Steinzeit zugeschriebene Verhalten sorgt wiederum für einen ironischen Kontrast zu den Hinweisen auf zivilisatorischen Fortschritt („Der Rhein ist reguliert und eingedämmt“). Dem technischen Fortschritt entspricht offenbar kein Fortschritt in den Köpfen. 78 Literatur interpretieren <?page no="79"?> Hier ließen sich Vergleiche zu anderen berühmten Gedichten Kästners ziehen, etwa zu der Ballade Die Entwicklung der Menschheit (Kästner 1998b, 175-177; wenige Gedichte vor dem Handstand im Band Gesang zwischen den Stühlen zu finden) oder zu dem aphoristischen Gedicht Die Grenzen der Auf‐ klärung aus dem Gedichtband Kurz und bündig (1950): „Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel: / Im Tunnel bleibt es immer dunkel“ (Kästner 1998b, 293). Kästner, der sich selbst als „Urenkel der deutschen Aufklärung“ bezeichnet hat (Kästner 1999, 380), möchte bei seinen Leser*innen einen Reflexionspro‐ zess auslösen, zu dem die Figur des Turners ganz offensichtlich nicht in der Lage ist. Wohl auch wegen der beabsichtigten Wirkung setzt Kästners Text, anders als Heines Ballade, keine größere Expertise voraus als das referierte Kontextwissen (über Heines Gedicht, das Turnen und die Heldenmythen), das zu der Zeit bei vielen Leser*innen vorhanden gewesen sein dürfte. Angesichts der Fehlinterpretationen und der Instrumentalisierungen von Heines Text ist die deutliche(re) Wirkungsintention in Kästners Ballade eine Lehre aus der Geschichte. Notabene: Dass Kästners Texte mit ihren Warnungen - so wie andere literarische Texte der Zeit - keinen Erfolg hatten, sollte nicht den Texten vorgeworfen werden, sondern denen, die nicht dazu in der Lage waren, sie trotz ihrer Direktheit halbwegs angemessen zu interpretieren. Auffällig ist in Kästners Ballade eigentlich alles, was als selbstverständlich dargestellt wird - gerade weil es nicht selbstverständlich ist oder sein sollte. So ist es offenbar der männlichen Figur vorbehalten, den Helden spielen zu dürfen, während „Frau und Kind“ sogar explizit (und somit satirisch) als unwichtig bezeichnet werden. Frauenfiguren haben bei den politisch rechten Bewegungen der Zeit keinen Heldenstatus und sie sind nur im Zusammenhang mit ihrer Gebärfreudigkeit interessant. So entspricht dieses Konzept auch dem im Dritten Reich propagierten und mit perfidesten Mitteln (etwa in den Lebensborn-Einrichtungen) umgesetzten Frauenbild. Kästners Ballade entlarvt solche Vorstellungen noch vor der Machtergrei‐ fung als gefährliche Klischees und solange es solche Klischees auch heute noch gibt, wird seine Ballade nichts von ihrer Aktualität verlieren. Dieser allgemeine Befund lässt sich weiter kontextualisieren und ver‐ tiefen. Die Konstruktion der Figuren in den beiden Balladen von Heine und Kästner ruft Geschlechterklischees auf und bricht sie zugleich. Die stereotype Vorstellung der blonden Schönen als Femme fatale, die allein durch äußere Attribute männlichen Figuren den Kopf verdreht, wird bei Heine stark übertrieben und bei Kästner, diese Tendenz fortsetzend, ins 79 Zum Beispiel lyrische Texte: Erich Kästners Der Handstand auf der Loreley (1932) <?page no="80"?> Lächerliche gezogen und satirisch zugespitzt. Die Tradition der Heldenfigur als besonders ‚männlich‘ (aktiv, stark, sportlich, mutig) wird aufgerufen und gebrochen - der Turner wird zwar als Held bezeichnet, erscheint aber durch seine stark ironische Zeichnung als das genaue Gegenteil. Heldenhaft wäre es wohl gewesen, sein Leben nicht unnötig aufs Spiel zu setzen und dabei die eigene Familie nicht zu vergessen. Das vorgeblich Heldenhafte ist hier lediglich etwas außergewöhnlich Gedankenloses und Dummes. Hätte der Turner an die Konsequenzen seiner Handlung gedacht, so wie Hannah Arendt dies von der Menschheit fordert, dann hätte er sich ganz anders verhalten. Das Verhalten des Turners sagt viel über die Verteilung von Macht in einer Gesellschaft aus, in der er als Held angesehen wird. Kritik an solchem sinnlosen Heldentum scheint sich in dieser Gesellschaft zu verbieten, der Heldenstatus ist selbstbegründend, die (sinnlose) Tat ist das für die Gesell‐ schaft stehende (sinnfreie) Zeichen. Der Mythos ist an die Stelle jeder Realitätswahrnehmung getreten und die historische Erfahrung lehrt, dass solche Helden von Herrschenden besonders gut zu gebrauchen, d. h. zu missbrauchen sind. Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) Dramentexte lassen sich genauso interpretieren wie alle anderen literari‐ schen Texte, auch wenn es die Auffassung gibt, dass sich ein Drama vor allem in der Aufführung realisiert - die wiederum eine eigene Inter‐ pretation darstellt. Dem ist zu entgegnen, dass es der Text ist, der für alle Aufführungen immer die Grundlage bietet - der Text ist die einzige Konstante und er enthält in der Regel mit Regieanweisungen und anderen sogenannten Nebentexten (die Dia- und Monologe werden als Haupttext bezeichnet) auch Direktiven für die Aufführung, mit denen, je nach Zeit und vorherrschender Theaterkultur, unterschiedlich verfahren wird. Das Regietheater beispielsweise, das neben dem Postdramatischen Theater im deutschsprachigen Raum die Aufführungspraxis der großen Bühnen prägt, nimmt Dramentexte als Ausgangspunkt für eigene Konzepte, die in der Regel von Regie und / oder Dramaturgie entwickelt werden und die auf politische, ökonomische und soziale Entwicklungen der Gesellschaft reagieren. Ein solcher Dialog mit der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die 80 Literatur interpretieren <?page no="81"?> wohl wichtigste Konstante in der Entwicklung des Theaters, seit überhaupt von einer bürgerlichen Öffentlichkeit gesprochen werden kann, also seit dem 18. Jahrhundert. Solche Zusammenhänge können an dieser Stelle allerdings nicht erläutert werden, dafür gibt es fundierte Handbücher, Theatergeschichten und Einführungen (vgl. etwa Marx 2012, Simhandl 2019 u. Asmuth 2016). Um das Stück zu interpretieren, wird bei einer voranschreitenden Lektüre erläutert, welche Bedeutungen durch „Metapher“ und „Metonymie“ (Bour‐ dieu), durch „histoire“ und „discours“ (Genette) erzeugt werden und wie sie im Textganzen ineinandergreifen. Dafür ist zunächst eine gründliche Erstlektüre und dann eine wiederholte Lektüre des Texts nach eingehender Beschäftigung mit kontextuellen Faktoren erforderlich. Hierzu gehört etwa auch die Lektüre von Erläuterungen zum Text und von Stellenkommentaren in Kritischen Ausgaben, um Kontextwissen in die Interpretation mit einflie‐ ßen lassen zu können. Ohne Kontextwissen gibt es keine Interpretation. Natürlich kann eine solche Recherche noch viel weiter gehen als hier gezeigt. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, ein basales Verständnis der Funktionsweise dieses Dramas zu vermitteln, wobei es um die Funktion der Teile des Dramas (von der basalen Bedeutung der Wörter bis zum Einsatz rhetorischer Mittel) ebenso geht wie um die Funktion des Dramas im kul‐ turellen und im politischen Diskurs seit seiner Erstveröffentlichung - auch, wenn die diskursiven Zusammenhänge nur angedeutet werden können und sich die entsprechenden Bemerkungen an den im vorhergehenden Kapitel skizzierten Literaturtheorien orientieren. „Kein Drama der klassischen Periode erfährt eine so eindrucksvolle Nachwirkung wie der Tell“ (Alt 2009, 2. Bd., 565). Das letzte zu Lebzei‐ ten vollendete und uraufgeführte Drama Friedrich Schillers ist wohl das meistgespielte auf deutschsprachigen Bühnen im 19. Jahrhundert. Wilhelm Tell reagiert auf die politischen Umwälzungen der Zeit in der Folge der Französischen Revolution 1789 und des Siegeszugs von Napoleon: Obwohl die Sage vom Apfelschützen Tell eher im Grenzbereich zwischen My‐ thos und Geschichte zu Hause ist, besitzt der Freiheitskampf dreier Schweizer Kantone seinen festen historischen Grund in Ereignissen aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Für die Zeitgenossen der Französischen Revolution hatte der mittelalterliche Aufstand außerdem zugleich unmittelbare Aktualität, denn Wilhelm Tell gehörte zu den Kirchenvätern der Revolution. Im Jakobinerklub war neben den anderen Heroen der Freiheit auch seine Büste aufgestellt. In der 81 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="82"?> Nationalversammlung gab es eine Sektion „Guillaume Tell“, Saint-Just bezog sich gern auf ihn in seinen Reden, David zeichnete ihn, und Grétry komponierte 1791 eine revolutionäre Tell-Oper. (Schulz 2000, 522) Wie noch zu zeigen sein wird, versucht Schiller den Tell-Mythos in einer Weise literarisch zu verarbeiten, die weder der zu Gewaltexzessen führen‐ den und deshalb von ihm zur Entstehungszeit des Dramas längst kritisch gesehenen Französischen Revolution nachträglich das Wort redet noch der absolutistischen Kritik an der Revolution zuarbeitet, die auch als Kritik an politisch-gesellschaftlichen Veränderungen überhaupt zu verstehen war. Mit anderen Worten: Das Drama votiert für Veränderungen, aber für andere, als sie von den Befürwortern und Gegnern der Revolution vertreten wur‐ den. Außerdem versucht das Drama die politisch-gesellschaftlichen Fragen philosophisch-literarisch zu lösen. Doch gerade durch die Mischung aus Aktualität, Abstraktheit und konstitutiver Deutungsoffenheit konnte es zu einem Modellfall für die Instrumentalisierbarkeit von Literatur werden - und auch deshalb kann es hier als Modellfall für die Notwendigkeit genauen Lesens als Grundlage von Interpretation dienen. Für den Wunsch des aufstrebenden Bürgertums, als Nachfolge des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation eine den deutschen Sprachraum umfassende, geeinte Nation mit Verfassung zu schaf‐ fen, bot das Drama eine ideale Vorlage, auch und gerade weil mit dem Wiener Kongress von 1815 und dem neugeschaffenen Deutschen Bund der Absolutismus und die Aufteilung des deutschen Sprachraums in eine Vielzahl meist kleiner Staaten fortgeschrieben wurde. Die schließlich 1871 realisierte Gründung des Zweiten deutschen Kaiserreichs unter Ausschluss des mittlerweile andere Wege gehenden Österreich (das passenderweise im Tell schon nicht besonders gut beleumundet war, aus historischen Gründen, aber sicher auch wegen seines bereits restaurativen Charakters zu Schillers Lebzeiten), konnte zwar den Wunsch nach nationaler Einheit befriedigen, aber kaum den Wunsch nach politischer Partizipation (zu diesen Hinter‐ gründen in Verbindung mit Wilhelm Tell vgl. Neuhaus 2002b, bes. S. 102-114). Eine komplizierte Gemengelage, die hier nur so weit interessieren soll, wie sie dazu beigetragen hat, die Rezeption des Stücks in bestimmte Richtungen zu lenken. Schiller, der nie in der Schweiz war, hat umfangreiche Studien betrieben, um sich den historischen Stoff anzueignen (vgl. z. B. den Kommentar von Schiller 1981, 1281-1286; Schmidt 1979, 40-62; Alt 2009, 2. Bd., 567 f.; Luserke- 82 Literatur interpretieren <?page no="83"?> Jaqui 2011, 214-218). Ein Vergleich des Dramas mit dem historischen Stoff wäre ein eigenes Thema und nicht zielführend, wenn es um eine Interpre‐ tation geht. Die Quellen waren, auch wegen ihres Alters, mit Vorsicht zu genießen, aber das spielte für Schiller keine Rolle, ging es ihm doch vor allem um Anregungen für die Wirkung, die er mit seinem Stück in der Gegenwart und potentiell in der Zukunft erzielen wollte. Schiller hat sich historischer Stoffe bedient und sie so verändert, dass sie zu der beabsichtigten Intention passten. Wenn Einzelheiten der symbolischen Bedeutung des Dramas ent‐ sprachen, wurden sie an der geeigneten Stelle eingebaut - oder sie wurden verändert oder auch einfach dazu erfunden. Schillers Drama hat durch seine Rezeption vermutlich die Geschichte genauso sehr beeinflusst wie die Geschichte das Drama beeinflusst hat: „Schillers ‚Tell‘ ging in der Schweiz so vollständig in die Volksüberliefe‐ rung ein, daß man bald aufhörte, zwischen Dichtung und Wirklichkeit zu unterscheiden (Schmidt 1979, 63; vgl. z. B. auch Ueding 1992, 422). Im Nationalsozialismus war Wilhelm Tell „bis 1938/ 39 das meistgespielte Stück Schillers an den deutschen Theatern“ (Kaufmann 1993, 107) und zunächst Schullektüre, wurde aber 1941 als solche verboten (vgl. Schmidt 1979, 105 f.). Zunächst sollte, nach dem Willen der NS-Propagandaleute, Hitler als ‚Befreier Deutschlands‘ mit der Titelfigur assoziiert werden, doch spätestens seit Kriegsbeginn wurde es immer deutlicher, dass er am ehesten Geßler entsprach - so dass, vor der Folie des Dramas, jeder Anschlag auf den ‚Führer‘ als Befreiung vom Tyrannenjoch gewertet werden konnte (Kaufmann 1993, 135; Neuhaus 2002b, 104). Die nachfolgende Interpretation wird versuchen zu skizzieren, welche Bedeutungen im Text selbst angelegt sind, wobei die Zeichenhaftigkeit des Texts nicht ohne seine möglichen Kontexte zu verstehen ist, auf die diese Zeichen verweisen. Vor diesem Hintergrund die angesprochenen populären Instrumentalisierungen im Detail als Fehldeutungen zu entlarven, würde zu weit führen und bleibt interessierten Leser*innen überlassen, die sich tiefergehend mit dem Drama und seiner Rezeption beschäftigen wollen. Zunächst ist festzuhalten, dass Schiller sein Drama im Paratext als „Schauspiel“ bezeichnet hat. Wer es kennt, weiß natürlich, dass Bezeich‐ nungen wie bürgerliches Trauerspiel, Tragödie oder Komödie unzutreffend gewesen wären; das Stück ist weder tragisch noch komisch. Die Vielzahl der Schauplätze und Figuren, aber auch die Zeitsprünge entfernen es von der klassischen aristotelischen Dramenform, die in der deutschsprachigen Literatur seit dem Sturm und Drang ohnehin nur noch als eine Schablone 83 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="84"?> wahrgenommen wurde, die je nach den Bedürfnissen der Stoffbearbeitung zu verändern war. Trotzdem bewahrt das Stück durch die Fünfaktigkeit seine äußere geschlossene Form und auch der Blankvers, als wichtigster Vers der Weimarer Klassik, trägt dazu bei, die komplexe Handlung zu bändigen und für einen relativ geschlossenen Eindruck zu sorgen. Schauspielcha‐ rakter haben insbesondere die Szenen mit den in den Regieanweisungen skizzierten landschaftlich beeindruckenden Schauplätzen, auch wenn sie auf der Bühne nur angedeutet werden können, und einer großen Anzahl von Figuren, gipfelnd in dem Tableau (dem gemeinsamen Auftreten der Figuren) am Schluss, als sich alle vor Tells Hütte versammeln, der somit zum symbolischen Ort einer neuen Zeit wird, in der der Absolutismus im Wortsinn abgedankt hat. Zumindest in der Fiktion wird hier realisiert, wozu die Politik bis zur Gründung der Weimarer Republik im Jahr 1919 nicht und auch dann zunächst nur unvollkommen in der Lage war - ein politisches System, das humane Werte zentral setzt und für einen Ausgleich der Interessen sorgt. Nicht nur der erste Akt, bereits die erste Szene fungiert in Schillers Drama als Exposition. Die Szene deutet auf das weitere Geschehen voraus, ihre Handlung und ihre Symbolik führen im Kleinen das vor, was später im Großen der Schweizer Kantone geschehen wird. Zunächst wird eine Bergidylle inszeniert, ein locus amoenus (der Topos einer Idylle, in der Mensch und Natur harmonisch zusammenleben), symbolisch arrangiert für die Sinne etwa durch das, so die Regieanweisung, „harmonische Geläut der Herdenglocken“ (Schiller 1981, 917). Der Fischerknabe beschwört, dazu passend, in seinem Gesang das „Paradies“ (ebd.), doch hält der Hirte auf dem Berg dagegen: „Der Sommer ist hin“ (ebd.). Das Ende des Sommers weist, wie die weitere Natursymbolik, in eine bedrohliche Richtung. Es zieht sogar ein „Sturm“ auf (Schiller 1981, 918), der symbolisch für die sich zuspitzende politische Situation steht. Passend dazu gibt es eine den Sturm begleitende Krise: Baumgarten hat des Kaisers Burgvogt vom Roßberg, den „Wolfenschießen“, getötet, weil der seine Frau zu vergewaltigen versuchte (Schiller 1981, 920). Die Tat wird nicht nur als „Hausrecht“ gerechtfertigt, sondern auch durch die nicht näher bezeichneten vorherigen Gräueltaten des „Wüterich[s]“. Die ganze Situation ist stellvertretend für jede und jeden zu sehen, wie Kuoni sagt: „Es kann uns allen Gleiches ja begegnen“ (ebd.). Doch traut sich der Fischer Ruodi wegen des heranziehenden Sturmes nicht, Baumgarten über den See zu bringen und ihn so vor seinen Verfolgern zu retten. 84 Literatur interpretieren <?page no="85"?> Nun tritt erstmals Tell auf und gleich als Retter. Wie er später durch seine Tat zum Helden der drei für die Schweiz stehenden Kantone werden wird, so wird er hier zum Lebensretter der auch für die weitere Handlung und somit das gemeinsame Projekt der Freiheit wichtigen Figur Baumgarten. Tell stellt, im Sinne des kategorischen Imperativs Immanuel Kants, die Repräsentativität seines Verhaltens fest: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ (Schiller 1981, 922). Die anderen ergänzen, dass Tell besondere Fähigkeiten besitzt, die nur ihn dazu befähigen, in besonderen Situationen heldenhaft zu handeln: „Es gibt nicht zwei, wie der ist, im Gebirge“ (ebd.). Tell ist kein ‚Held‘ wie der Turner bei Kästner, der verantwortungslos sein Leben aufs Spiel setzt, sondern jemand, der seine eigenen Fähigkeiten kennt und ein kalkuliertes Risiko eingeht, wenn er die Möglichkeit sieht, Menschenleben zu retten. Die Baumgarten verfolgenden „Wütriche“ machen die zurückbleibenden Figuren, den Fischer und den Hirten, für die Flucht mit verantwortlich und befehlen ein Werk der Zerstörung, weshalb die erste Szene in einer rhetorischen Frage gipfelt: „Gerechtigkeit des Himmels, / Wann wird der Retter kommen diesem Lande? “ (Schiller 1981, 923). Dieser Retter wird, die Zuschauer*innen ahnen es bereits, natürlich Tell sein. Die sinnlose Zerstörung von Hab und Gut Unschuldiger unterstreicht einmal mehr die Willkürherrschaft, die es zu beseitigen gilt. In der Folge wird die politische Situation weiter konturiert. Schiller greift, um es der Wichtigkeit halber noch einmal zu betonen, auf historische Quellen zurück, deren Wahrheitsgehalt bereits durch ihr Alter stark zu relativieren ist (wie der Historiker Schiller sehr wohl wusste), und verändert sie so, dass sie, ausgehend von den historischen Bedingtheiten, auf die Zeit der Entstehung und Erstrezeption des Stücks verweisen. Bereits am Anfang der zweiten Szene, Pfeiffer von Luzern ist hier im Gespräch mit Werner Stauffacher, heißt es: „Schwört nicht zu Östreich, wenn Ihrs könnt vermeiden. / Haltet fest am Reich und wacker wie bisher, / Gott schirme Euch bei Eurer alten Freiheit! “ (ebd.). Es stellt sich heraus, dass der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation dieses Amt dazu missbraucht, seine Macht als österreichischer Herrscher zu vergrößern, statt sich um das Wohl aller Mitgliedsstaaten zu kümmern, wie es eigentlich seine Auf‐ gabe wäre. Dieser Kaiser will, das wird durch die wichtigste und in allen sprachlichen Variationen durchgespielte Vokabel des Stücks - „Freiheit“ - schon hier signalisiert, die bisher weitgehend unabhängigen Bewohner der Schweiz zu ‚unfreien‘, seiner Willkür und der Befriedigung der niederen 85 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="86"?> Interessen seiner Statthalter ausgelieferten Vasallen machen. So jedenfalls verhalten sich seine Stellvertreter, allen voran der Landvogt Geßler, der zum wichtigsten Gegenspieler nicht nur Wilhelm Tells werden wird. Noch rät Pfeiffer zu „Geduld“: „Ein andrer Kaiser kann ans Reich gelan‐ gen“ (Schiller 1981, 924). Doch schon die erste Szene hat den Rezipient*innen gezeigt, dass der politische Sturm heraufzieht und geduldiges Warten auf den nächsten Kaiser nichts nützen wird. Stauffacher hat, wie er berichtet, negative Erfahrungen mit Geßler gemacht, die diese Vermutung stützen (Schiller 1981, 925). Der auch im weiteren Verlauf oft wiederholte Rat zum Abwarten und die ständige Erinnerung an die überlieferten Freiheitsrechte, die das „treu[e] und fest[e]“ (ebd.) Verhältnis zum Kaiserhaus begründen, erfüllen einen wichtigen Zweck. Das Drama tut alles, um die sich schließlich doch als notwendig erweisenden Taten nicht als revolutionären Umsturz, sondern vor allem als Wiederherstellung eines früheren Status quo heraus‐ zupräparieren, um den Zeitgenossen am Anfang des 19. Jahrhunderts, zu denen natürlich auch Adelige und Fürsten gehörten, keine Angriffsfläche zu bieten, die etwa die Zensur auf den Plan gerufen hätte. Und doch wird es nicht bei einer Wiederherstellung der „alten Freiheit“ (Schiller 1981, 961) bleiben, sondern es wird eine neue Freiheit entstehen - und es wird eine Freiheit sein, die von allen Ständen gleichermaßen ausgeht, die aber letztlich nur zustande kommen kann, weil der Adel zugunsten seiner Untergebenen auf Rechte verzichtet. Dafür wird der für die ‚alte‘ Freiheit stehende Freiherr von Attinghausen sterben und Ulrich von Rudenz sein Erbe antreten, eine symbolische Nachfolge, die den erhofften gesellschaftlichen Wandel reprä‐ sentiert. Ulrich muss dafür lernen, dass er sich durch seine Anbiederung an den österreichischen Hof wie ein „Fürstenknecht“ verhält (Schiller 1981, 945). Auf der adeligen Ebene der Schweizer Gesellschaft wird daher ebenso ein Lernprozess nötig sein wie in den anderen Ständen. Alle müssen lernen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Schillers Drama hat, angesichts der politischen Situation um 1804, eine heikle Mission: Es soll (wie die früheren Dramen des Autors in anderer Weise) absolutistische Macht nicht nur als ungerecht gegenüber denen darstellen, die den Herrschenden untergeben sind, sondern auch als eine sogar für die Herrschenden gefährliche, potentiell tödliche Gefahr. Macht ohne Kontrolle führt, so die implizite Diagnose, zu Hybris - zu einer fatalen Selbstüberschätzung, die allen schadet, also auch jenen, die sich selbst überschätzen. Die Legitimation für Ansätze einer Gewaltenteilung liefert zunächst der am Beispiel der Landvögte vorgeführte Machtmissbrauch, der 86 Literatur interpretieren <?page no="87"?> „Unheil und Gewalt“ (Schiller 1981, 926) über die Bevölkerung gebracht hat, so dass alles, was dagegen unternommen werden kann, einer „gerechten Sache“ (ebd.) dienen wird - wie Stauffachers Frau Gertrud feststellt. Es ist wichtig für das Drama, dass nicht nur alle Stände, sondern auch beide Geschlechter in die Einigungsbestrebungen gegen den Machtmiss‐ brauch einbezogen werden, weshalb in der Darstellung von Frauenfiguren, die aktiv handeln oder zu aktivem Handeln aufrufen, Geschlechterstereo‐ type der Zeit durchkreuzt werden. Denn: „Unbilliges erträgt kein edles Herz“ (Schiller 1981, 927), und das kann genauso gut das Herz einer Frau sein wie das eines Mannes. Es ist Gertruds Idee, dass ihr Mann, der den Ruf hat, „ein Vater der Bedrängten“ zu sein (Schiller 1981, 928), sich aufmacht und jenen politischen Prozess anstößt, der zu dem Rütlischwur und schließlich zur Befreiung der Schweiz führen wird. Die dritte Szene steigert die politische Handlung weiter, denn nun wird die Festung Zwing Uri vorgestellt, die am Schluss des Dramas von denen, die sie hier bauen müssen, zerstört werden wird. Was zum „Kerker“ und zum „Joch“ (Schiller 1981, 929) dienen soll, wird so zum Symbol der Freiheit umcodiert, ebenso wie der für die Tyrannenmacht stehende Hut, von dem noch die Rede sein wird (vgl. Schiller 1981, 1016). Vorausdeutend heißt es, und Tell darf es sagen, ohne dass die Figur selbst das Prophetische der Worte begreift: „Was Hände bauten, können Hände stürzen“ (Schiller 1981, 930). Mit einer großen Geste weist er auf die Berge und etabliert so einen für das Stück wichtigen Gegensatz von Kultur und Natur, in dem die Natur zwar auch ihre negativen Seiten hat, aber nicht intentional ‚böse‘ sein kann: „Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet“ (ebd.). Von Gott ist immer wieder die Rede, Tell wird sich ständig auf ihn berufen, ebenso werden es die übrigen Verschworenen tun, um sich zu rechtfertigen. Dabei geht es dem Stück aber nicht um den Glauben selbst, sondern um die Legitimation, zu der er der absolutistischen Gesellschaftsordnung dient. Denn hier im Stück ist es nicht der absolutistische Herrscher, der sich auf Gott berufen kann, ganz im Gegenteil: Weil sein Verhalten gegen alle Gebote und Tugenden verstößt, sind es diejenigen, die ihn stürzen werden, denen Gott wohlgesonnen ist. Walter Fürst spricht es aus - und wie immer wieder in diesem Drama wird die Bedeutung des Gesagten noch durch Hervorhebungen im Text unterstrichen: „Doch der uns unterdrückt, ist unser Kaiser / Und höchster Richter - so muß Gott uns helfen / Durch unsern Arm“ (Schiller 1981, 940), der dann Pars pro toto Tells Arm mit seiner Armbrust werden wird. Die Brisanz einer solchen Konstruktion ist kaum 87 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="88"?> zu überschätzen, denn der im Mittelalter als selbstverständlich geltende Pakt von Gott und Herrscher wird hier einer Prüfung unterzogen, in der es möglich ist, dass sie gegen den Herrscher ausfällt und er das fürchten muss, was früher nur seine Untergebenen zu fürchten hatten: Konsequenzen für Leib und Leben. Ebenfalls eingeführt wird der symbolische Hut, den Geßler hat aufstellen lassen und der als pervertiertes Zeichen der Herrschaft von Tell später igno‐ riert werden wird, ein weiterer Beleg dafür, dass das ‚natürliche‘ Empfinden, das gottgewollt ist, sich nicht mehr auf der Seite der Herrschenden findet. „Der Hut von Österreich! Gebt acht, es ist / Ein Fallstrick, uns an Östreich zu verraten! “ (Schiller 1981, 931), weiß Meister Steinmetz. Als oberstes Ziel der von Geßler vertretenen Politik stellt sich nach und nach heraus, dass die Schweiz nicht mehr dem Reich zugehören, sondern zum Vasallenstaat Österreichs werden soll, das wäre dann ein doppelter und dauerhafter Verlust der ‚alten‘ Freiheit. Das Zeichen des Hutes weiß zwar der Steinmetz richtig zu deuten, Tell jedoch noch nicht, denn er vertraut auf die alten Rechte: „Ein jeder lebe still bei sich daheim / Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden“ (ebd.). Tell zunächst als ‚naiv‘ zu charakterisieren ist dem Stück auch deshalb wichtig, weil die Tat, die er begehen wird, das Alleräußerste sein muss, also etwas, wozu er eigentlich niemals fähig wäre. Am Ende kann die Tötung Geßlers als umso gerechtfertigter erscheinen - wenn sogar die friedlichste Figur sich durch die Umstände dazu gezwungen sieht. Hier wäre ein Exkurs über die von Schiller in seinen theoretischen Schrif‐ ten entfalteten Begriffe des ‚Naiven‘ und des ‚Sentimentalischen‘ notwendig, auch wäre auf seine wichtigste theoretische Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) einzugehen, doch muss aus Platzgründen darauf verzichtet werden (vgl. einführend Neuhaus 2017b, 94-99). Nur so viel: Tell muss lernen, über sein Verhalten und das der anderen zu reflektieren, um sich persönlich zu entwickeln und damit auch eine Entwicklung fortsetzen zu können, die ‚seine‘ Gesellschaft vorwärts bringt, weil sie ihr letztlich ein Zusammenleben ermöglicht, in der alle ihre Mitglieder auf ihre Weise so frei leben können, wie es die Freiheit der anderen zulässt. Um diesen Konflikt innerhalb und außerhalb der Figur zuzuspitzen, verwendet das Drama Rede und Gegenrede in Versen, auch Stichomythie genannt: 88 Literatur interpretieren <?page no="89"?> Stauffacher. Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden. Tell. Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter. Stauffacher. So kalt verlaßt Ihr die gemeine Sache? Tell. Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst. Stauffacher. Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. Tell. Der Starke ist am mächtigsten allein. Stauffacher. So kann das Vaterland auf Euch nicht zählen, Wenn es verzweiflungsvoll zur Notwehr greift? (Schiller 1981, 932) Mit der letzten Zeile wird die Gegenrede beendet. Stauffacher hat in diesem Disput das letzte Wort - und die besseren Argumente, gilt es doch, sich zu Recht zu wehren. Daraufhin gibt Tell seinem Gesprächspartner das Versprechen und die Hand darauf, dass er zur Stelle sein wird, wenn er gebraucht wird. Nicht der gemeinsame „Rat“, sondern die „bestimmte[r] Tat“ (ebd.) ist das, worin er seine Stärke sieht. Und damit wird schließlich auch er Recht behalten. Die folgenden Szenen zeigen Beispiele der Willkürherrschaft, die sich ins‐ besondere gegen jene richtet, die sich für „Recht und Freiheit“ eingesetzt haben (vgl. Schiller 1981, 934). Immer mehr formiert sich Widerstand gegen das „Tyrannenjoche“ (Schiller 1981, 938), immer wieder ist von Notwehr die Rede (vgl. Schiller 1981, 939). Die Bedrohung ist allumfassend, über allen „hängt das Tyrannenschwert“ (Schiller 1981, 940). Die Szene am Edelhof des sterbenden Freiherrn von Attinghausen macht deutlich, dass das Gegenteil von Tyrannei in gegenseitiger Anerkennung besteht. Attinghausen definiert Herrschaft als: „Das Haupt zu heißen eines freien Volks, / Das dir aus Liebe nur sich herzlich weiht“ (Schiller 1981, 947). Liebe wird hier allerdings doppeldeutig, denn auch die Liebe des Ulrich von Rudenz zu Berta von Bruneck spielt eine Rolle. Rudenz will dem Hause Österreich vor allem die Treue schwören, weil er glaubt, dadurch Berta als Ehefrau gewinnen zu können. Dennoch wird Attinghausen mit seiner pessimistischen Sicht auf die verführbare Jugend (Rudenz als durch Macht und Liebe korrumpierter Verräter) nicht Recht behalten, denn Rudenz wird, mit Bertas Unterstützung, in den Freiheitskampf eingreifen und erheblich zu dessen Gelingen beitragen. Die Versammlung der Verschworenen auf der Rütli-Wiese wird von einem „Mondregenbogen“ beschienen (Schiller 1981, 949), der von den Versammel‐ ten als „wunderbares Zeichen“ gedeutet wird (Schiller 1981, 950). Selbst die Natur ist auf der Seite der Aufständischen, die nichts tun wollen, was sie nicht tun müssen: „Stauffacher. Sprecht nicht von Rache. Nicht Geschehnes 89 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="90"?> rächen, / Gedrohtem Übel wollen wir begegnen“ (ebd.). Auch Melchtal hat die Blendung und Verstoßung seines Vaters nicht gerächt, obwohl er die Gelegenheit dazu hatte (Schiller 1981, 952), um das Ziel der Befreiung aller nicht zu gefährden. Versprochen wird stellvertretend für alle von Reding, in der Mitte stehend: „Daß ich mich nimmer will vom Recht entfernen“ (Schiller 1981, 955). Stauffacher hält fest (auch die weiteren Zitate stammen von dieser als zentral gesetzten Figur): „Wir stiften keinen neuen Bund, es ist / Ein uralt Bündnis von der Väter Zeit, / Das wir erneuern! “ (Schiller 1981, 955 f.). Nicht die Abschaffung von Herrschaft ist das Ziel, wie Stauffacher betont: „Denn herrenlos ist auch der Freiste nicht. / Ein Oberhaupt muß sein, ein höchster Richter, / Wo man das Recht mag schöpfen in dem Streit“ (Schiller 1981, 957). Es handelt sich um eine wechselseitige Verpflichtung, die deutliche Grenzen hat und vor allem „Gewaltherrschaft“ ausschließt (Schiller 1981, 958). Der Kaiser selbst hat gegen den Pakt verstoßen, weil er den „Brief […] unsrer alten Freiheit“ nicht „bestätigt“ hat, so wie „jeder neue König sonst“. Dadurch hat er außerdem die Schweizer gegenüber den anderen Ländern benachteiligt, deren Rechte bestätigt wurden (Schiller 1981, 961). Mit dem Stichwort „Urstand der Natur“ (Schiller 1981, 959) wird für die kundigen zeitgenössischen Leser*innen die Debatte über den Naturzustand aufgerufen, an der sich berühmte philosophische Schriften von Thomas Hobbes, John Locke, Johann Heinrich Pestalozzi, Jean-Jacques Rousseau und andere beteiligten. Der herrschende Machtmissbrauch dreht die Uhr zurück in eine Zeit vor der Zivilisation, in der es nun nötig wird, sich zu „verteidgen / Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land, / Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! “ (ebd.). In der Rütli-Versammlung wird eine Nebenhandlung angesprochen, die als komplementär und zugleich als Kontrast angelegt ist. Konrad Hunn stellt fest: „Gerechtigkeit erwartet nicht vom Kaiser. / Beraubt er nicht des eignen Bruders Kind, / Und hinterhält ihm sein gerechtes Erbe? “ (Schiller 1981, 961). Gemeint ist Johannes Parricida, Herzog von Schwaben, der, mit einigen Helfern, seinen Onkel töten wird - eine, wie sich herausstellen wird, ungerechtfertigte Tat, da sie nur eigenen egoistischen Interessen dient und stattfindet, bevor alle anderen, gewaltlosen Möglichkeiten sich Recht zu verschaffen, ausgeschöpft wurden. Die Rütli-Versammlung votiert für Gehorsam („Wer einen Herrn hat, dien ihm pflichtgemäß“; Schiller 1981, 962), gegen unnötige Gewalt („Doch, wenn es sein mag, ohne Blut“; ebd.) und gegen eine überstürzte Aktion („Ists aller Wille, daß verschoben werde? “; Schiller 1981, 963). Über allem steht der 90 Literatur interpretieren <?page no="91"?> Schutz der gemeinsamen Interessen: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr“ (Schiller 1981, 964). Und die Schlussverse der Szene sind bereits vorausdeutend gemünzt auf den Kontrast der Taten der Verschworenen und der Tat Tells zum Kaisermord: „Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, / Wer sich selbst hilft in seiner eignen Sache“ (Schiller 1981, 965). Nicht zufällig endet mit diesem Höhepunkt der zweite Akt und der dritte beginnt, ebenso konzeptionell durchdacht, mit einer Szene vor Tells Haus im Gebirge. Tell und seine Familie werden als Mikrokosmos einer Gesellschaft porträtiert, in der noch ein freies, ungebundenes Leben möglich ist - was sich außerhalb dieses Mikrokosmos gerade ändert. Es fallen so berühmt gewordene Sentenzen wie: „Früh übt sich, was ein Meister werden will“ (Schiller 1981, 966), oder: „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ (Schiller 1981, 967). Tell muss sich vor seiner Frau rechtfertigen, weil er das Wagnis eingegangen ist, Baumgarten bei Sturm über den See gebracht zu haben. Auf den Vorwurf, die Tat sei egoistisch gegenüber seiner eigenen Familie gewesen, erwidert er: „Lieb Weib, ich dacht an euch, / Drum rettet ich den Vater seinen Kindern“ (ebd.). Tell hat, trotz seines Einzelgängertums, ein soziales Gewissen und sieht die Verantwortung des Einzelnen gegenüber einer Gemeinschaft, auch wenn er naiverweise die Warnung seiner Frau in den Wind schlägt, nicht nach Altorf zu gehen, um den Schwiegervater zu besuchen, und nicht den einen der beiden Söhne mitzunehmen, weil der mitgehen möchte, und auch nicht die Armbrust zuhause zu lassen: „Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt“ (Schiller 1981, 968). Später wird er sie nicht mehr benutzen, weil er seine Naivität verloren und einen Menschen damit getötet hat. Noch aber glaubt Tell, dass Geßler eine Begegnung im Gebirge, in der Tell den verhassten Landvogt nicht vom Berg gestoßen, sondern ihm den Weg frei gemacht hat, zu seinen Gunsten auslegen wird. Seine Frau ist da anderer Meinung: Tell. Mir soll sein böser Wille nicht viel schaden, Ich tue recht und scheue keinen Feind. Hedwig. Die recht tun, eben die haßt er am meisten. Tell. Weil er nicht an sie kommen kann - Mich wird Der Ritter wohl in Frieden lassen, mein ich. (Schiller 1981, 968) Doch bevor Tell die entscheidende Erfahrung seines Lebens machen wird, wechseln Schauplatz und Personal für ein klärendes Gespräch zwischen 91 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="92"?> Berta und Rudenz. Berta erklärt ihrem Brautwerber, dass sie nicht nur nicht möchte, dass er wegen ihr Österreich die Treue schwört, sondern dass er damit sogar sie und seine Landsleute verraten würde: „Dieselben Ländergeier, die Eure Freiheit / Verschlingen will, sie drohen auch der meinen! “ (Schiller 1981, 972). Er solle, so Berta, „ein Verteidiger der Unschuld sein, / Das Recht der Unterdrückten zu beschirmen“ (Schiller 1981, 970). Er solle seinem „Volk“ vertrauen, denn: „Kein Schein verführt sein sicheres Gefühl“, und den Platz einnehmen: „Wozu die herrliche Natur Euch machte! “ (Schiller 1981, 971). Um besonders wichtige Stellen zu betonen, finden sich in Schillers Dramen, die im Blankvers geschrieben sind, an manchen Stellen auch Reime, so wie hier in Bertas Erklärung: - O Freund, zum Opfer bin ich ausersehn, Vielleicht um einen Günstling zu belohnen - Dort wo die Falschheit und die Ränke wohnen, Hin an den Kaiserhof will man mich ziehn, Dort harren mein verhaßter Ehe Ketten, Die Liebe nur - die Eure kann mich retten! (Schiller 1981, 972) Schillers Drama ist so konzipiert, dass letztlich alle Teile der Handlung wie Zahnräder ineinandergreifen, um die gesellschaftlichen Veränderungen möglich zu machen. Dafür müssen Tell als exemplarischer Vertreter des Bürgertums und Rudenz als exemplarischer Vertreter des Adels erkennen, dass es keine „selge Insel“ außerhalb der eigenen Grenzen gibt, auf die man sich zurückziehen könnte (vgl. Schiller 1981, 973). Ganz im Gegenteil, es sind alle aufeinander angewiesen: „Und eine Freiheit macht uns alle frei! “ (Schiller 1981, 974). Wieder ist es mit Berta eine Frau, die einem politisch naiven Mann die entscheidenden Ratschläge erteilen muss. In der nächsten Szene - nicht zufällig ist es die dritte Szene des dritten Aktes (abgesehen von der Bedeutung der Symbolzahl drei handelt es sich um die Mitte des Stücks bzw. den End- und Höhepunkt des dritten Akts) - grüßt Tell den Hut nicht und soll deswegen verhaftet werden. Er hat nicht auf den Hut geachtet, weil diese symbolische Aktion Geßlers gegen seine geradlinige Natur ist, doch entschuldigt er sich beim Landvogt für sein Fehlverhalten, im Vertrauen auf die gebotene Milde angesichts des geringen Vergehens: „Wär ich besonnen, hieß ich nicht der Tell, / Ich bitt um Gnad, es soll nicht mehr begegnen“ (Schiller 1981, 979). 92 Literatur interpretieren <?page no="93"?> Doch bevor es zu dem Disput über die Bedeutung des Hutes kommt, findet sich noch ein wichtiger Dialog zwischen Tell und seinem Sohn Walter, mit dem das Drama, über die symbolische Ebene hinaus, den direkten Bezug zu Deutschland herstellt, auch wenn es nicht namentlich genannt wird: Walter (nach einigem Besinnen). Gibts Länder, Vater, wo nicht Berge sind? Tell. Wenn man hinuntersteigt von unsern Höhen, Und immer tiefer steigt, den Strömen nach, Gelangt man in ein großes, ebnes Land, Wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, Die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn, Da sieht man frei nach allen Himmelsräumen, Das Korn wächst dort in langen, schönen Auen, Und wie ein Garten ist das Land zu schauen. Walter. Ei, Vater, warum steigen wir denn nicht Geschwind hinab in dieses schöne Land, Statt daß wir uns hier ängstigen und plagen? Tell. Das Land ist schön und gütig wie der Himmel, Doch die’s bebauen, sie genießen nicht Den Segen, den sie pflanzen. Walter. Wohnen sie Nicht frei wie du auf ihrem eignen Erbe? Tell. Das Feld gehört dem Bischof und dem König. Walter. So dürfen sie doch frei in Wäldern jagen? Tell. Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder. Walter. Sie dürfen doch frei fischen in dem Strom? Tell. Der Strom, das Meer, das Salz gehört dem König. Walter. Wer ist der König denn, den alle fürchten? Tell. Es ist der eine, der sie schützt und nährt. Walter. Sie können sich nicht mutig selbst beschützen? Tell. Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen. Walter. Vater, es wird mir eng im weiten Land, Da wohn ich lieber unter den Lawinen. Tell. Ja, wohl ists besser, Kind, die Gletscherberge Im Rücken haben, als die bösen Menschen. (Schiller 1981, 976 f.) 93 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="94"?> Zugleich stehen die drei Kantone der Schweiz im Drama Pars pro toto für den ganzen deutschen Sprachraum bzw. potentiell für jeden geographischen Raum der Rezipient*innen. Der Paarreim zu Beginn des Zitats betont die idyllische Natur und erhöht den Kontrast zu den „bösen Menschen“, die in ihr wohnen. Der Übergang in die Stichomythie dient der Hervorhebung des Gegensatzes eines geographischen ‚Oben‘ und ‚Unten‘ als synonym für ‚gut‘ und ‚böse‘. Allerdings wird das ‚Böse‘ allein politisch definiert - es ist der Absolutismus, der die Menschen unfrei macht und der zu dem Urteil von Vater und Sohn führt, lieber in der unwirtlichen Natur der Berge zu bleiben. Gleich nach dem Dialog wird der Gegensatz außerdem stark relativiert. Passenderweise stoßen die beiden genau jetzt auf den Hut und müssen die Erfahrung machen, dass die gefürchtete Unfreiheit nun auch in den Bergen eingezogen ist: „Gewalt geschieht dem Vater“ (Schiller 1981, 977). In der Tat - Geßler befiehlt Tell, einen Apfel vom Kopf des Jungen zu schießen, andernfalls werde er ihn und seinen Sohn töten lassen: „Geßler. Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben. / Tell. Ich soll der Mörder werden meines Kinds! “ (Schiller 1981, 980). Die Bezeichnung Mörder ist hier nicht zufällig gewählt, denn sie wird immer wieder auftauchen und zu einem Homonym werden. Die Rezipient*innen sollen unterscheiden lernen zwi‐ schen einem ‚echten‘ Mord und dem, was Menschen mit Skrupeln auch als Mord bezeichnen, obwohl es sich um Notwehr handelt. Das Drama wäre in der Rezeption zweifellos weniger Missverständnissen ausgesetzt gewesen, wenn es einfach nur in Mord und Notwehr unterschieden hätte; doch wird durch das Homonym, so wie durch die komplementären Kontrastfiguren Tell und Parricida, noch einmal unterstrichen, dass Gewalt stets nur das allerletzte Mittel sein kann und darf. Geßler ist sophistisch (spitzfindig und hinterhältig) genug, Tells Konzept von Freiheit auf perverse Weise gegen ihn zu wenden: „Der kann nicht klagen über harten Spruch, / Den man zum Meister seines Schicksals macht“ (Schiller 1981, 981). Auch hier sollte man oder frau mit Bedacht lesen, denn das, was Tell unter einem Meister und unter dem Meistern seines Schicksals versteht, ist etwas ganz anderes als das, was Geßler daraus macht. Tells unverbildeter Sohn Walter durchschaut den „falschen Mann“ (ebd.) sofort. Die folgende Regieanweisung markiert die Veränderung der Titelfigur von einem naiven und gutgläubigen zu einem sentimentalischen und reflektierten Charakter: 94 Literatur interpretieren <?page no="95"?> (Tell steht in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet. - Plötzlich greift er in seinen Köcher, nimmt einen zweiten Pfeil heraus und steckt ihn in seinen Goller. Der Landvogt bemerkt alle diese Bewegungen). (Schiller 1981, 983) Der zweite Pfeil ist, wie Tell später erklärt, für die Rache an Geßler gedacht, falls er seinen eigenen Jungen beim Apfelschuss aus Versehen tötet. Zugleich symbolisiert der zweite Pfeil die zweite Stufe der Entwicklung, also das Reflektierte, vergleichbar dem Sündenfall, der in der christlichen Mythologie zugleich die Wahlfreiheit des Menschen begründet - nur, dass Tell hier nicht schuldig an der Entwicklung ist. In Walters Feststellung „ich fürchte mich nicht“ (ebd.) kann ebenso ein Bibelzitat gesehen werden wie in vielen anderen Textstellen des Dramas, schließlich gehörte und gehört die Bibel zu den Wissensbeständen, auf die noch relativ verbindlich zurückgegriffen werden kann, in Schillers Zeit freilich mehr als heute. Mit dem abgewandelten Zitat: „Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr“ (Lukas 2: 10-11), wird eine Parallele zwischen Jesus und Tell gezogen, wobei die Unterschiede ebenfalls deutlich werden. Im Drama findet sich ein Junge, der selbstbewusst feststellt, dass er sich nicht fürchtet, und der im Vertrauen auf seine Rettung aktiv wird. Er nimmt den Apfel, stellt sich in Position, verweigert die Binde vor den Augen und lässt sich, als die anderen noch miteinander diskutieren, von seinem Vater - der ebenfalls zur unvermeidbaren Tat schreitet, ohne dem Landvogt die Genugtuung weiterer Machtdemonstrationen zu gönnen - den Apfel vom Kopf schießen. Leuthold stellt fest, hier wird das Drama metafiktional: „Das war ein Schuß! Davon / Wird man noch reden in den spätsten Zeiten“ (Schiller 1981, 985). Zugleich kommt wieder Gott ins Spiel. Mit dieser Legitimationsinstanz hat es sich Geßler nun endgültig verscherzt, wie Rösselmann feststellt: „Der Schuß war gut, doch wehe dem, der ihn / dazu getrieben, daß er Gott versuche“ (ebd.). Einmal mehr wird Geßler zum Sophisten. Er verspricht Tell sein Leben, wenn er erklärt, wofür der zweite Pfeil gedacht gewesen ist. Doch als Tell Geßlers Vermutung bestätigt, dass er bei einem Fehlschuss auf seinen Sohn auch auf den Landvogt geschossen hätte, verurteilt der ihn kurzerhand zu Kerkerhaft, gegen den kollektiven und legitimen Protest: „Landleute. Das dürft Ihr nicht, das darf der Kaiser nicht, / Das widerstreitet unsern 95 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="96"?> Freiheitsbriefen! “ (Schiller 1981, 986). Dass Tell leichtsinnig gehandelt und seine Lage selbst verschuldet haben könnte, wird abschließend auch the‐ matisiert und negiert: „Stauffacher (zum Tell). O warum mußtet Ihr den Wütrich reizen! Tell. Bezwinge sich, wer meinen Schmerz gefühlt! “ (Schiller 1981, 987). Stauffacher meint, dass Tell mit seinem unbesonnenen Handeln das gemeinsame Projekt des Widerstands entscheidend gefährdet hat - der Spannungsaufbau des Dramas erreicht damit einen neuen Höhepunkt. Allerdings wird sich in den beiden weiteren Akten herausstellen, dass auch dies zu dem Erfolg des gemeinsamen Projekts sogar beiträgt. Am Anfang des vierten Aktes gibt es wieder einen Sturm, wieder ist Tell auf dem Vierwaldstättersee unterwegs, und wieder wird er durch eigene Tat und mit Gottes Hilfe - die hier einmal mehr symbolisch für die gerechte Sache steht - gerettet (vgl. Schiller 1981, 991). Die „zweite Sündflut“ (Schiller 1981, 989), die ein Fischer kommen sieht, wird, anders als in der Bibel, nur die Schuldigen treffen - dafür ist es ja auch eine zweite Sintflut, man könnte sagen: eine Sintflut auf einer höheren Entwicklungsstufe. Dass ausgerechnet das „Herrenschiff “, wie es ein Knabe beobachtet, „am roten Dach“ zu erkennen ist (Schiller 1981, 990), gehört zur raffinierten Symbolik, die hier die Farbe der Revolution den Herrschenden zuordnet, schließlich haben sie die alte Ordnung umgestürzt. Sie und nicht diejenigen sind die Revolutionäre, die sich lediglich gegen einen solchen Umsturz zur Wehr setzen wollen. Tell hat gelernt, denn wieder einmal hat Geßler ihm die Freiheit verspro‐ chen, doch diesmal hat Tell ihm nicht getraut und nur sich selbst in Sicherheit gebracht (vgl. Schiller 1981, 992 f.). Der gerettete Tell geht noch weiter - er deutet an, dass er keine andere Wahl mehr sieht, als Geßler zu töten, um zu verhindern, dass der Landvogt weiterhin Unschuldige ins Verderben bringt (vgl. Schiller 1981, 994). Während die anderen noch glauben, dass Tell, dessen „Atem […] die Freiheit“ ist (Schiller 1981, 996), im Kerker schmachten muss, versprechen Stauffacher und Walter Fürst dem sterbenden Attinghausen, dass sie „die Tyrannen zu verjagen“ gedenken (Schiller 1981, 998). Attinghausen wird auf dem Sterbebett zum Seher, zum Propheten der kommenden Freiheit und symbolisch ist seine Geste, die Hand auf den Kopf von Tells Sohn Walter zu legen: „Aus diesem Haupte, wo der Apfel lag, / Wird euch die neue beßre Freiheit grünen, / Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen“ (ebd.). Die Ablösung des alten Attinghausen durch den jungen Rudenz, der mit Berta eine Familie gründen wird, korrespondiert mit der doppelten Veränderung - einer Rückkehr zur verbrieften Freiheit einer‐ 96 Literatur interpretieren <?page no="97"?> seits und einer Ankunft in einem neuen, auf gleichen Rechten gegründeten Miteinander. Attinghausens letzte Worte sind ein entsprechendes Vermächt‐ nis: „Seid einig - einig - einig -“ (Schiller 1981, 999). Der nun erst auftretende Rudenz macht gleich einen passenden Vorschlag: „Ihr / Sollt meine Brust, ich will die eure schützen, / So sind wir einer durch den andern stark“ (Schiller 1981, 1001). Tells Tat hat sie in Zugzwang gebracht und die Abweichung ist ebenfalls symbolisch: „Das Christfest abzuwarten schwuren wir“ (ebd.). Es muss kein Jesus auferstehen, sondern weltliche Retter sollen auftreten, von denen alle ihren Platz haben. Rudenz betont: „Ich war nicht dort, ich hab nicht mitgeschworen“ (ebd.). Und nicht nur Tell ist, wie sich nun herausstellt, von Geßler in Haft genommen worden, auch Berta wurde „heimlich weggeraubt“, wohl um sie zu einer dem Kaiser Vorteile verschaffenden Zweckheirat zu zwingen (Schiller 1981, 1002). Während die Verschworenen beschließen, zur Tat zu schreiten, ist Tell bereits unterwegs, um den Landvogt zu töten. Sein Monolog am Beginn der dritten Szene des vierten Akts ist die Schlüsselstelle des Dramas, weil der nun nicht mehr instinktiv, sondern reflektierend handelnde Tell seine Veränderung zu erklären und sich und seinen Rezipient*innen genau über die geplante Tat Rechenschaft abzugeben weiß: Ich lebte still und harmlos - Das Geschoß War auf des Waldes Tiere nur gerichtet, Meine Gedanken waren rein von Mord - Du hast aus meinem Frieden mich heraus Geschreckt, in gärend Drachengift hast du Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt, Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt - Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte, Der kann auch treffen in das Herz des Feinds. Die armen Kindlein, die unschuldigen, Das treue Weib muß ich vor deiner Wut Beschützen, Landvogt - Da, als ich den Bogenstrang Anzog - als mir die Hand erzitterte - Als du mit grausam teufelischer Lust Mich zwangst, aufs Haupt des Kindes anzulegen - Als ich ohnmächtig flehend rang vor dir, Damals gelobt ich mir in meinem Innern Mit furchtbarm Eidschwur, den nur Gott gehört, 97 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="98"?> Daß meines nächsten Schusses erstes Ziel Dein Herz sein sollte - Was ich mir gelobt In jenes Augenblickes Höllenqualen, Ist eine heilge Schuld, ich will sie zahlen. Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt, Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt, Was du - Er sandte dich in diese Lande, Um Recht zu sprechen - strenges, denn er zürnet - Doch nicht, um mit der mörderischen Lust Dich jedes Greuels straflos zu erfrechen, Es lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen. (Schiller 1981, 1003 f.) Hier wird ein vorläufiges Fazit der Handlung gezogen, vom Einsatz rheto‐ rischer Mittel (Reim, Satzbau - die Ellipse betont das nicht Gesagte, aber aus dem Gesagten Abzuleitende, Metaphorik…) über die Schilderung bisheriger Entwicklungen bis zur klaren Aussage, dass der Landvogt für das Unrecht steht und jede althergebrachte, allgemein akzeptierte Legitimation verwirkt hat. Es gilt nun, die Ordnung selbst zu beschützen, weil ihre Vertreter sie mit Füßen treten. Dass Tell immer noch von „Mord“ spricht, sogar mit Ausrufezeichen (vgl. Schiller 1981, 1005), ehrt ihn und stellt einmal mehr das Außergewöhnliche der Tat heraus, zu der sich Tell gegen seinen Willen gezwungen sieht: Am wilden Weg sitzt er mit Mordgedanken, Des Feindes Leben ists, worauf er lauert. - Und doch an euch nur denkt er, liebe Kinder, Auch jetzt - euch zu verteidgen, eure holde Unschuld Zu schützen vor der Rache des Tyrannen, Will er zum Morde jetzt den Bogen spannen! (Ebd.) Tell hat nun also gelernt, dass der Einzelne eben nicht am mächtigsten allein ist, sondern dass es Abhängigkeiten gibt: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ (Schiller 1981, 1007). Geßlers Auftritt bestätigt Tells Einschätzung in einer bis zu diesem Zeitpunkt noch ungeahnten Weise, denn der Landvogt stellt sich nicht als ‚Wüterich‘ heraus, sondern als jemand, der aus Kalkül, also aus eigener Entscheidung ‚Böses‘ tut (vgl. Schiller 1981, 1008 f.) - und somit für das Gegenteil von dem steht, was Immanuel Kant als moralisch und zugleich 98 Literatur interpretieren <?page no="99"?> vernünftig bezeichnet hat (vgl. Kant 1996; dazu auch Neuhaus 2017b, 6-8). Wie Walter Müller-Seidel gezeigt hat, greift Schiller in seiner Gestaltung des ‚Widerstandsrechts‘ bis hin zum „Tyrannenmord“ auf Überlegungen Kants zurück: „Der Schlüssel, der eine solche Umdeutung erlaubt [dass aus der Sicht Kants selbst ‚väterliche‘ Regenten als „Tyrannen“ gesehen werden können], liegt im Prinzip der Autonomie des Menschen und der ihm zukommenden Mündigkeit und Selbstbestimmung“ (Müller-Seidel 2009, 23). Um die Rechtfertigung der Tat durch eine weitere Perspektivierung noch einmal zu unterstreichen, tritt eine Frauenfigur mit dem sprechenden Namen Armgard auf. Die Schützerin der Armen und der Kinder, deren Familie selbst Opfer der Tyrannenherrschaft geworden ist, bietet dem Landvogt die Stirn und fordert: „Tu deine Pflicht! So du Gerechtigkeit / Vom Himmel erhoffst, so erzeig sie uns“ (Schiller 1981, 1009 f.). Geßler sieht sich allerdings nur in seiner Überzeugung bestätigt, noch mehr tun zu müssen, um „diesen starren Sinn“ zu „brechen“ (Schiller 1981, 1010): „Den kecken Geist der Freiheit will ich beugen. / Ein neu Gesetz will ich in diesen Landen / Verkündigen - Ich will -“ (Schiller 1981, 1011). Dass der Satz elliptisch bleibt, ist nicht nur dem Pfeil geschuldet, der den Landvogt durchbohrt, sondern auch der Absicht des Stücks, seinen falschen Willen noch einmal zu betonen, dessen er sich nicht bedient, wie es Kant vom Menschen verlangt, um Gutes zu tun, sondern um absichtsvoll Böses zu tun. So kann Tell, der sich sofort zu der Tat bekennt, zurecht feststellen: „Frei sind die Hütten, sicher ist die Unschuld / Vor dir, du wirst dem Lande nicht mehr schaden“ (ebd.). Dass er dies „von der Höhe“ sagt (ebd.), unterstreicht einmal mehr die Vertauschung der Positionen - wäre doch der Landvogt unter ‚normalen‘ Bedingungen der Höhergestellte und der Richter. Nun dürfen „Alle (tumultuarisch)“ verkünden: „Das Land ist frei“ (Schiller 1981, 1012), und die vorbeikommenden barmherzigen Brüder, die auch nicht zufällig so heißen, dürfen feststellen: „Bereitet oder nicht, zu gehen, / Er muß vor seinen Richter stehen! “ (Schiller 1981, 1013). Der finale fünfte Akt wird mit „Signalfeuer“ eröffnet und mit weiteren guten Nachrichten. Rudenz hat Berta befreit, die Zwingburgen sind erobert und zerstört (vgl. Schiller 1981, 1015 ff.). Auch dass es ausgerechnet die „Kinder“ sind, die angesichts der geschliffenen Festung noch einmal „Frei‐ heit! Freiheit! “ rufen dürfen (Schiller 1981, 1016), ist kein Zufall, ruhen auf den Schultern von Kindern doch die Hoffnungen für die Zukunft. Das Drama ist hier noch nicht zu Ende, auch nicht konzeptionell. Gerade als das „ewig Band“ beschworen wird, das nun alle vereint und gegen 99 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="100"?> die kaiserliche Willkür schützt, kommt die Nachricht: „Der Kaiser ist ermordet“ (Schiller 1981, 1017). Schon die seit der Antike für das Konzept von Freiheit notwendige Selbstbeherrschung (vgl. Pfister 2014, 16 f.), die von den Verschworenen immer wieder unter Beweis gestellt wurde, fehlt dem Attentäter (vgl. Schiller 1981, 1018). Auch wenn ihm zu verdanken ist, dass „der Freiheit größter Feind“ nun tot ist (Schiller 1981, 1019), so wird sich doch an ihm bewahrheiten, dass „Rache […] keine Frucht“ trägt (ebd.). Der Egoismus der Tat unterscheidet den Herzog von Schwaben von Tell (vgl. Schiller 1981, 1021). Ausrechnet bei ihm sucht nun der Täter, als Mönch verkleidet, Zuflucht (Schiller 1981, 1022). Tell macht den Unterschied zwischen ihnen beiden deutlich - er hat aus Notwehr gehandelt und seine Armbrust an den sprichwörtlichen Nagel gehängt; der Herzog hingegen hat nur an sich selbst gedacht: Darfst du der Ehrsucht blutge Schuld vermengen Mit der gerechten Notwehr eines Vaters? Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt? Des Herdes Heiligtum beschützt? das Schrecklichste, Das Letzte von den Deinen abgewehrt? - Zum Himmel heb ich meine reinen Hände, Verfluche dich und deine Tat - Gerächt Hab ich die heilige Natur, die du Geschändet - Nichts teil ich mit dir - Gemordet Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt. (Schiller 1981, 1025) Tell schickt den Herzog zur Buße nach Rom, schon der gefährliche Weg dorthin über die Alpen soll ein erster Teil dieser Buße sein - und der Herzog nimmt das Urteil an, weil er es selbst als gerecht ansieht (Schiller 1981, 1027 f.). Konsequent ist, dass die Regieanweisung vermerkt: „Wenn beide zu unterschiedlichen Seiten abgegangen“ (Schiller 1981, 1028), stehen sie doch beide für gegensätzliche Positionen. Tell darf sich nun endlich, rehabilitiert und legitimiert, in der letzten Szene als „der Erretter“ feiern lassen, doch Berta ist es, die mit den anderen den „Bund“ in „der Freiheit Land“ schließen möchte, und Rudenz gehören die letzten Worte: „Und frei erklär ich alle meine Knechte“ (Schiller 1981, 1029). Diese Massenszene zeigt zum Schluss die Möglichkeit einer freien, allen gegenüber gleich gerechten, aber keineswegs alle gleich machenden Gesellschaft auf, in der die eigene 100 Literatur interpretieren <?page no="101"?> Individualität nicht nur erwünscht, sondern notwendiger Teil der neuen Ordnung ist. Dem Drama geht es, wie der Literatur überhaupt, um Ordnungsstruktu‐ ren. Gerade weil Literatur sich seit der Genieästhetik im 18. Jahrhundert ihre Regeln selbst gibt, kann sie alternative Ordnungen entwerfen, die sich in der einen oder anderen Weise kritisch zu den Ordnungen der beobachtbaren Wirklichkeit verhalten. Dabei werden Ordnungen auch ganz generell zur Disposition gestellt, solange es totalitäre Ordnungen gibt (die nicht den Idealen einer Aufklärung verpflichtet sind, der es um die möglichst freie Entwicklung der Individuen geht). Individuelle Freiheit und kollektive Frei‐ heit bedingen sich dabei gegenseitig. Die entsprechenden Idealvorstellungen sind der Tradition der Theoriebildung eingeschrieben, ganz gleich, ob sie von Immanuel Kant, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Hannah Arendt, Michel Foucault, Judith Butler oder anderen weitergedacht wurden. Schillers Wilhelm Tell verhandelt das Thema Freiheit auf denkbar vielfäl‐ tige Weise. Die beobachtbare „Bio-Macht“ (Foucault 1983, 166) reicht von der Ausübung physischer Gewalt bis zur psychischen Einschüchterung, mit der Absicht, ein vertikales Herrschaftssystem auf- und auszubauen. Die Aus‐ übung von Gewalt erfolgt differenziert nach Objekt und Ziel, sie reicht von der Demutsgeste über die (versuchte) Vergewaltigung bis zur Einkerkerung und schließlich zu Totschlag und Mord. Bei der Ausübung von Herrschaft in Form von Gewalt fragt das Drama nach der Legitimation, und zwar auf so radikale Weise, dass „sein Konfliktpotential [als] gegen jede Form von Herrschaft“ (Kaufmann 1993, 135) gerichtet gelesen werden kann. Die Sicherung des menschlichen Lebens der Angehörigen einer Gemeinschaft wird als Basis gesehen für eine möglichst freie Entfaltung von Individualität, die allerdings, wie der Wandel Tells zeigt, einen Übergang von einem ‚naiven‘ Verständnis von Individualität zu einem reflektierten voraussetzt. Die „Banalität des Bösen“, wie Hannah Arendt das unreflektierte Ausführen menschenverachtender Befehle genannt hat (Arendt 2015), lässt sich nur durch Wachsamkeit und Bereitschaft zur Verteidigung der gemeinsamen Werte verhindern, durch die freie Entfaltung der Individualität möglichst aller Mitglieder einer Gruppe. Dies ist ohne Reflexion über macht- und biopolitische Prozesse nicht zu haben. Insofern ist Wilhelm Tell ein Drama, das politischer nicht sein könnte: Es liefert eine Diagnose ‚falscher‘ Politik und zeigt Strategien auf, wie sie in ‚richtige‘ zu verändern wären. Das heißt aber nicht, dass es immer zu einem ‚Mord‘ kommen muss, ganz im Gegenteil: Gewalt wird als allerletztes und möglichst zu vermeidendes Mittel 101 Zum Beispiel dramatische Texte: Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) <?page no="102"?> markiert. Das Drama möchte gerade durch seine ebenso differenzierte wie anschauliche Darstellung eskalierender macht- und biopolitischer Prozesse dazu beitragen, dass Gewalt durch Einsicht in die Notwendigkeit der grund‐ legenden Werte, für die sich unterschiedliche Begriffe verwenden ließen (vor allem wohl Humanität bzw. Mitmenschlichkeit), vermieden wird und es erst gar nicht zu einer solchen Zuspitzung kommt. Macht gilt es, denkt man das dem Drama unterliegende Konzept weiter, möglichst zu verteilen, so dass jede und jeder ihre oder seine Fähigkeiten am besten zugleich zum eigenen Wohl und zum Wohle aller einsetzen kann. Die spätere Kritik an Schillers Dramen und auch an seinen Balladen hat sich nicht zuletzt daran entzündet, dass hier Konzepte durch Literatur vermittelt werden - mit klar erkennbaren Motivierungen und Strukturen, die eher wenige Interpretationsspielräume eröffnen. Die Entwicklung der Literatur hin zur Gegenwart bedeutet ein fortschreitendes Abschiednehmen von solchen klaren Konzepten und daher auch von tradierten Regeln, die Schillers Dramen zwar auch nicht mehr ganz befolgen, aber variierend verwenden - wie hier etwa die fünfaktige Struktur und den Blankvers. Wirklichkeit wird in der Zeit nach Schiller zunehmend als zu komplex angesehen, um sie noch mit den Mitteln der Literatur erfassen und auf eine eingängige Weise kritisch spiegeln zu können. Als ein Text des Übergangs zu einer solchen Literaturauffassung, die sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert innerhalb der literarischen Avantgarden etabliert, kann Theodor Fontanes Roman Effi Briest von 1895 gesehen werden. Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) Um 1900 sehen die intellektuellen Kreise die bisherige Umsetzung der Ideen der Aufklärung als weitgehend gescheitert an, der Fortschrittsoptimismus erlahmt angesichts offenkundiger sozialer und politischer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die durch die unter vollem Dampf stehende Indus‐ trialisierung offenbar nur verschärft werden. Bereits in der Literatur des Naturalismus werden - etwa durch Charles Darwin aufgeworfene - Fragen der sozialen und anthropologischen Bedingtheiten menschlicher Existenz thematisiert, die auch Konsequenzen für die Wahl der Themen und für die Ästhetik der Literatur haben. Ein Beispiel ist die von Sigmund Freud entwi‐ 102 Literatur interpretieren <?page no="103"?> ckelte Psychoanalyse. Freud arbeitet mit vielen Beispielen aus der Literatur‐ geschichte und geht auch immer wieder auf die Funktion und Bedeutung von Literatur und Kunst ein. Die entscheidende Veränderung im Denken zeigt etwa seine Abhandlung Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse von 1917, in der Freud die neuartige Einsicht in die Grenzen menschlichen Wollens und Könnens, positiv gewendet als „Zerstörung dieser narzißtischen Illusion“ des Menschen, auf drei ‚Kränkungen der Menschheit’ zurückführt: Mit der ‚Kopernikanischen Wende‘ (der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt des Universums), Darwins Anthropologie (der Mensch „ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen“) sowie der Psychoanalyse ist laut Freud das vormals so mächtige Subjekt dezentriert worden. Die Psychoanalyse selbst habe gezeigt, „daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud 1999b, 7). Für Freud ist damit der Weg frei für eine bewusstere und fortschrittlichere Lebensweise - denn nur wer seine oder ihre Grenzen kennt, kann auch selbstbestimmt handeln. In seinem Konzept der Vermittlung zwischen Über- Ich und Es im Ich, in der eigentlichen Persönlichkeit des Menschen, schließt Freud an die Aufklärung an - anders als die antimodernen Denker der Zeit. Die ‚Ästhetik des Schönen‘, mit ihr auch das im bürgerlichen Realismus vorbildhaft weiterwirkende Erbe von Weimarer Klassik und Romantik, wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als Schönfärberei angesehen, die bestehende Problemlagen ausblendet und tradierte Machtverhältnisse stützt. Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) erkannte offenbar ein auch für ihn gefährliches Potential der Literatur, als er 1894, aus Protest gegen die Aufführung von Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber, seine königliche Loge im Deutschen Theater kündigte (Neuhaus 2017b, 184). Allerdings konnte er zum Auftakt des Ersten Weltkriegs die meisten Intellektuellen noch einmal für sich gewinnen, denn der Krieg schien ein Ausbruch aus den verkrusteten Strukturen und ein Aufbruch in eine reformierte, sich um alle ihre Mitglieder bemühende Gesellschaft zu sein. Umso größer war die Desillusionierung, als sich der Große Krieg als das genaue Gegenteil entpuppte. Viele der nach dem Krieg populären und auch aus heutiger Sicht wichtigen Autor*innen der Zeit der Weimarer Republik - darunter Thomas Mann, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Erich Kästner oder Irmgard Keun - waren überzeugte Antimonarchist*innen und kritisierten die antidemokratischen Tendenzen der Weimarer Republik, auch wenn das Spektrum der politischen Überzeugungen von die demokratische Grundordnung bejahenden (z. B. Thomas Mann, der sich in wenigen Jahren vom Monarchisten zum überzeugten Demokraten wandelte) bis zu, nach 103 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) <?page no="104"?> dem Vorbild der Sowjetunion, eine sozialistische Ordnung wünschenden (z. B. zeitweise Bertolt Brecht) Autor*innen reichte. Wieder einmal zeigt sich: Literatur ist Bestandteil einer kulturellen Ent‐ wicklung, die wiederum Bestandteil einer gesellschaftlichen Entwicklung ist, deren Rahmenbedingungen die Politik setzt, allerdings auch beeinflusst durch die Entwicklung des die Kultur bestimmenden Denkens - in den Wissenschaften wie auch in den Künsten selbst. Die Bedeutung der Verän‐ derungen für die oder den Einzelnen in der Gesellschaft seit dem 18. Jahr‐ hundert hat Andreas Reckwitz knapp beschrieben: Die Moderne produziert keine eindeutige, homogene Subjektstruktur, sie liefert vielmehr ein Feld der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen bezüglich dessen, was das Subjekt ist und wie es sich formen kann. Kennzeichnend für die Moderne ist gerade, dass sie dem Subjekt keine definitive Form gibt, sondern diese sich als ein Kontingenzproblem, eine offene Frage auftut, auf die unterschiedliche, immer wieder neue und andere kulturelle Antworten geliefert und in die Tat umgesetzt werden. […] Gleichzeitig sind die Subjektstrukturen nicht eindeutig und homogen gebaut, sie sind vielmehr durch eine spezifische Hybridität gekennzeichnet: Subjektkulturen erweisen sich als kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnesmuster, und Spuren historisch vergangener Subjektformen finden sich in den später entstehenden, subkulturelle Elemente in den dominanten Subjektkulturen, so dass sich eigentümliche Mischungsverhält‐ nisse ergeben. […] die Postmoderne von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart entwickelt das Modell einer kreativ-konsumtorischen Subjektivität. Die Transfor‐ mation der Subjektordnungen verläuft schlagwortartig vom ‚Charakter‘ über die ‚Persönlichkeit‘ zum ‚Selbst‘. (Reckwitz 2006, 14 f.) Es ist bereits beispielhaft gezeigt worden, wie fiktionale Literatur dazu bei‐ trägt, die Normen, Werte und Strukturen der Gesellschaft auf den Prüfstand zu stellen, um zu einer positiven Entwicklung der Gesellschaft und zu einer möglichst freien Entwicklung individueller Fähigkeiten beizutragen. Ent‐ sprechend gibt es Konstanten bei Problemen, die weiterhin ungelöst bleiben, und Unterschiede im jeweiligen Diskussionsstand dieser Probleme wie in den sie betreffenden Rahmenbedingungen. Nehmen wir zwei Beispiele: (1) Die Konstruktion der Geschlechter: Bereits am Anfang der Entwick‐ lung einer Literatur der Moderne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass die stereotypen Zuschreibungen von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ in der Konstruktion von Figuren und Handlungen durch‐ kreuzt werden, freilich im Rahmen der Möglichkeiten der Ausgestaltung von 104 Literatur interpretieren <?page no="105"?> Geschlechterverhältnissen zu dieser Zeit und im Rahmen der kultur- und zeitabhängigen Möglichkeiten des Denkens über stereotype Vorstellungen hinaus. Auch wenn die „männliche Herrschaft“ (Bourdieu 2013) heute noch nicht beendet ist, so wird doch niemand bezweifeln, dass die Gesellschaft heute viel weiter ist als vor 250 Jahren und dass auch die Konzepte, wie sie in Theorie, Literatur, Kunst, Wissenschaft etc. verhandelt werden, sich ausdifferenziert und entwickelt haben - freilich nicht ohne Hemmungen (zunächst im Deutschen Bund und im Kaiserreich), Unterbrechungen und Rückschritte (vor allem im und durch den Nationalsozialismus). (2) Die Demokratisierung der Gesellschaft: Auch für dieses zentrale Projekt, das vom ersten nicht zu trennen ist (keine Demokratie ohne Gleich‐ berechtigung), lässt sich die Rolle der Literatur in gleicher Weise bestimmen. Die Gesellschaft und auch ihre Literatur haben sich entwickelt und sind - mit den gemachten Einschränkungen - weiter als vorher. Allerdings gibt es nach wie vor Probleme der demokratischen Teilhabe der und des Einzelnen, die weiterhin in fiktionalen literarischen Texten modelliert und kritisch reflektiert werden. Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895), der in Deutschland heute in vielen Bundesländern zum Zentralabitur gehört, liefert zu beiden Punkten einen wichtigen Diskursbeitrag und eine Interpretation kann zeigen, wie der Roman im Prozess der Entwicklung von demokratischer wie geschlechtli‐ cher Gleichberechtigung steht, aber auch, inwieweit der Roman noch dem älteren Konzept einer ‚Ästhetik des Schönen‘ verpflichtet ist oder schon einer anderen, offeneren Ästhetik vorarbeitet, für die später etwa Franz Kafka als paradigmatischer Autor stehen wird (vgl. Jahraus/ Neuhaus 2002). Es wird an dieser Stelle aus Gründen des Umfangs nicht möglich sein, ähnlich ausführlich auf Effi Briest wie oben auf Wilhelm Tell einzugehen. Als weitergehende Lektüre sei daher das 2019 erschienene Effi Briest-Handbuch empfohlen (Neuhaus 2019). Der Roman spiegelt in der fiktiven Geschichte zweier Familien die Gesell‐ schaftsgeschichte von den Anfängen des Aufstiegs Preußens zur Großmacht bis zu seiner Vormachtstellung im Kaiserreich auf äußerst kritische Weise. Effi wird im Alter von 17 Jahren mit Geert von Innstetten einen Mann heiraten, der 38 und somit mehr als doppelt so alt ist wie sie (vgl. Fontane 1969, 12), der bereits erfolglos - er war seinerzeit noch nicht weit genug auf der Karriereleiter emporgestiegen - um die Hand ihrer Mutter angehalten hat und mit dem sie ‚nur‘ eine Tochter haben wird, auch, weil ihr Mann sich von ihr trennen wird, als er einen mehr als sechs Jahre zurückliegenden Ehebruch entdeckt. 105 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) <?page no="106"?> Als Effi eine Tochter und keinen Sohn bekommt, stellt ihr Arzt bedauernd fest, die Geburt eines (früher so genannten) ‚Stammhalters‘ könne „ja noch nachkommen, und die Preußen haben viele Siegestage“ (Fontane 1969, 191). Dieser Bezug zur preußisch-deutschen Geschichte kann einmal mehr als ironische Kritik an ihr gelesen werden. Weitere Erben wird es durch die Trennung und Scheidung des Ehepaars nicht geben. Andere Mitglieder, die den Familiennamen weitertragen könnten, haben die beiden Familien von Innstetten und von Briest nicht (da keine erwähnt werden, gibt es sie innerhalb der Romanrealität auch nicht). Keiner der beiden Namen wird also legitimerweise einen Erben haben, denn Effis Tochter würde im Fall einer Mutterschaft verheiratet sein und den Namen ihres Mannes annehmen. Die Verankerung der Familie Briest in der preußisch-deutschen Ge‐ schichte wird bereits im ersten Satz des Romans betont: „In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses […]“ (Fontane 1969, 7). Die neidische Pastorin von nebenan wird zwar recht mit ihrer Feststellung behalten: „Alte Familien halten immer zusammen“ (Fontane 1969, 20), aber der Roman führt zugleich vor, dass die Zeit, in der eine solche Haltung den Fortbestand der gesellschaftlichen Ordnung garantierte, vorbei ist. Effis Ehebruch ist dabei nicht der Auslöser, sondern das letzte Glied in einer Kette von Entwicklungen. Dass Effi keinen Bruder und keinen Sohn hat, kann auf der symbolischen Ebene bereits als Verweis auf das Dysfunktionale der gezeigten Paarbeziehungen gelesen werden. Innstetten und Effis Mutter hätten zueinander gepasst, so wie Effi und ihr Cousin Dagobert (vgl. Neuhaus 2017b, 190), der - wie seinerzeit Innstetten - noch nicht als Versorger einer Familie in Frage kommt. Im Roman wird durch die Interaktion der Figuren sehr deutlich, dass Effis Mutter ihren Vater aus solchen Versorgungsgründen geheiratet hat und auch Effis Ehe keine Liebesheirat ist, selbst wenn sie sich, nachdem die Affäre mit dem charmanten 44jährigen (Fontane 1969, 107) Major von Crampas (der Roman durchkreuzt hier das Klischee des Altersunterschiedes, schließlich geht es um die Frage Liebesheirat oder Versorgungsehe) nicht zu einer Trennung des Majors von seiner Frau und einer möglichen gemeinsamen Zukunft geführt hat, dafür entscheidet, an der Seite ihres Mannes und ihres Kindes nun ein normkonformes Leben zu führen. Bereits der anzitierte Romananfang muss also auf einer symbolischen Ebene gelesen werden, wenn er einen über die Beschreibung von Haus und Garten hinausgehenden Sinn machen soll. Ansonsten wäre der erste Lektü‐ 106 Literatur interpretieren <?page no="107"?> reeindruck, dass es sich um einen ausgesprochen langweiligen Text handelt. Es ist die ausgefeilte Symbolik, die den Roman einerseits an die Tradition der Verwendung rhetorischer Mittel bindet und andererseits auch davon löst (vgl. Neuhaus 2017a, 110-114). So hat Fontane die wohl meistdiskutierte, zur Zeit der Romanhandlung bereits längst verstorbene Figur des Chinesen in einem Brief als „Drehpunkt für die ganze Geschichte“ bezeichnet (Fontane 1997, 2, 454), eine Figur, die zwar (wie andere Figuren) die Liebeshandlung kritisch spiegelt und perspektiviert, über deren Herkunft und Verhalten im Roman selbst aber nur, teilweise widersprüchliche, Spekulationen angestellt werden (vgl. Müller-Salget 2019). Der Chinese ist daher kein Symbol mehr, sondern eine Chiffre. Seine Bedeutung wechselt je nach Interpretation durch die Figuren und in der Rezeption selbst von Interpretation zu Interpretation, wenn versucht wird, die mit ihrer Figurenzeichnung erzeugte Offenheit zu reduzieren und sie auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen. Solche Chiffrierungen gibt es in der Literatur eigentlich erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine vergleichbar changierende Figur findet sich etwa bei Franz Kafka in der Erzählung Das Urteil (1913) mit dem Freund aus St. Petersburg, an den sich zunächst Georg Bendemann als seinen Freund erinnert und der, wie ihm später sein Vater erklärt, gar nicht Georgs Freund, sondern sein - also des Vaters - Vertrauter gewesen sei, und noch mehr: „Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen“ (zit. nach Jahraus/ Neuhaus 2002, 16). Die Bedeutung der Chiffre des Chinesen wäre im Rahmen einer Interpre‐ tation am Text selbst näher zu zeigen und zu entwickeln. An dieser Stelle soll aber ein anderes, nicht weniger wichtiges Beispiel gewählt werden, um exemplarisch den einerseits souveränen Umgang des Romans mit Symbolen, Motiven und relevanten Themen deutlich werden zu lassen und andererseits die nun größere Deutungsoffenheit - und damit die neue Modernität des Texts im Übergang zur Literatur des 20. Jahrhunderts - zu skizzieren. Dafür sollen zwei längere Textpassagen zitiert und interpretiert werden. Es handelt sich um die Gespräche Innstettens mit dem ebenfalls adeligen Wüllersdorf, seinem Freund und Kollegen im Ministerium. Hier das erste Gespräch aus dem 27. Kapitel, unmittelbar nachdem Innstetten die inkriminierenden Liebesbriefe seiner Frau an den Major gefunden hat. Beachtenswert ist bereits das Dialogische - kein allwissender Erzähler schaltet sich ein, die Rede und Gegenrede der Figuren steht für sich und beide rätseln darüber, was ‚das Richtige‘ ist; und wie sich herausstellt, kommen sie dabei zu einem falschen Ergebnis: 107 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) <?page no="108"?> Wüllersdorf setzte sich. Innstetten ging wieder auf und ab und wäre bei der ihn verzehrenden Unruhe gern in Bewegung geblieben, sah aber, daß das nicht gehe. So nahm er denn auch seinerseits eine Zigarre, setzte sich Wüllersdorf gegenüber und versuchte ruhig zu sein. „Es ist“, begann er, „um zweier Dinge willen, daß ich Sie habe bitten lassen: erst, um eine Forderung zu überbringen, und zweitens, um hinterher, in der Sache selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das andere noch weniger. Und nun Ihre Antwort.“ „Sie wissen, Innstetten, Sie haben über mich zu verfügen. Aber eh ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage: muß es sein? Wir sind doch über die Jahre weg, Sie, um die Pistole in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei mitzumachen. Indessen mißverstehen Sie mich nicht, alles dies soll kein Nein sein. Wie könnte ich Ihnen etwas abschlagen. Aber nun sagen Sie, was ist es? “ „Es handelt sich um einen Galan meiner Frau, der zugleich mein Freund war oder doch beinah.“ Wüllersdorf sah Innstetten an. „Innstetten, das ist nicht möglich.“ „Es ist mehr als möglich, es ist gewiß. Lesen Sie.“ Wüllersdorf flog drüber hin. „Die sind an Ihre Frau gerichtet? “ „Ja. Ich fand sie heut in ihrem Nähtisch.“ „Und wer hat sie geschrieben? “ „Major Crampas.“ „Also Dinge, die sich abgespielt, als Sie noch in Kessin waren? “ Innstetten nickte. „Liegt also sechs Jahre zurück oder noch ein halb Jahr länger.“ „Ja.“ Wüllersdorf schwieg. Nach einer Weile sagte Innstetten: „Es sieht fast so aus, Wüllersdorf, als ob die sechs oder sieben Jahre einen Eindruck auf Sie machten. Es gibt eine Verjährungstheorie, natürlich, aber ich weiß doch nicht, ob wir hier einen Fall haben, diese Theorie gelten zu lassen.“ „Ich weiß es auch nicht“, sagte Wüllersdorf. „Und ich bekenne Ihnen offen, um diese Frage scheint sich hier alles zu drehen.“ Innstetten sah ihn groß an. „Sie sagen das in vollem Ernst? “ „In vollem Ernst. Es ist keine Sache, sich in jeu d’esprit oder in dialektischen Spitzfindigkeiten zu versuchen.“ „Ich bin neugierig, wie Sie das meinen. Sagen Sie mir offen, wie stehen Sie dazu? “ „Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz über empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über getanes 108 Literatur interpretieren <?page no="109"?> Leid. Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie’s durchaus tun? Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß einer weg muß, er oder Sie? Steht es so? “ „Ich weiß es nicht.“ „Sie müssen es wissen.“ Innstetten war aufgesprungen, trat ans Fenster und tippte voll nervöser Erregung an die Scheiben. Dann wandte er sich rasch wieder, ging auf Wüllersdorf zu und sagte: „Nein, so steht es nicht.“ „Wie steht es dann? “ „Es steht so, daß ich unendlich unglücklich bin; ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar vor Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich zunächst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne. Und dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr eignen heiteren Scharmes, daß ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle.“ Wüllersdorf nickte. „Kann ganz folgen, Innstetten, würde mir vielleicht ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen und mir sagen: ‚Ich liebe diese Frau so sehr, daß ich ihr alles verzeihen kann‘, und wenn wir dann das andere hinzunehmen, daß alles weit, weit zurückliegt, wie ein Geschehnis auf einem andern Stern, ja, wenn es so liegt, Innstetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte? “ „Weil es trotzdem sein muß. Ich habe mirs hin und her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. Ging es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen lassen; ich trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es müssen so viele leben ohne dies ‚rechte Glück‘, und ich würde es auch müssen und - auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einem das Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt weiterexistieren will, auch laufenlassen. Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und 109 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) <?page no="110"?> jagen uns die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen solche Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann was Neues sagen! Also noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen, und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Scharm und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß.“ „Ich weiß doch nicht, Innstetten…“ Innstetten lächelte. „Sie sollen selbst entscheiden, Wüllersdorf. Es ist jetzt zehn Uhr. Vor sechs Stunden, diese Konzession will ich Ihnen vorweg machen, hatt ich das Spiel noch in der Hand, konnt ich noch das eine und noch das andere, da war noch ein Ausweg. Jetzt nicht mehr, jetzt stecke ich in einer Sackgasse. Wenn Sie wollen, so bin ich selber schuld daran; ich hätte mich besser beherrschen und bewachen, alles in mir verbergen, alles im eignen Herzen auskämpfen sollen. Aber es kam zu plötzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum einen Vorwurf machen, meine Nerven nicht geschickter in Ordnung gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus meiner Hand. Von dem Augenblicke an hatte mein Unglück und, was schwerer wiegt, der Fleck auf meiner Ehre einen halben Mitwisser, und nach den ersten Worten, die wir hier gewechselt, hat es einen ganzen. Und weil dieser Mitwisser da ist, kann ich nicht mehr zurück.“ „Ich weiß doch nicht“, wiederholte Wüllersdorf. „Ich mag nicht gerne zu der alten abgestandenen Phrase greifen, aber doch läßt sichs nicht besser sagen: Innstetten, es ruht alles in mir wie in einem Grabe.“ „Ja, Wüllersdorf, so heißt es immer. Aber es gibt keine Verschwiegenheit. Und wenn Sie’s wahr machen und gegen andere die Verschwiegenheit selber sind, so wissen Sie es, und es rettet mich nicht vor Ihnen, daß Sie mir eben Ihre Zustim‐ mung ausgedrückt und mir sogar gesagt haben: Ich kann Ihnen in allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblicke an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes), und jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hören, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen oder nicht, und wenn meine Frau von Treue spricht oder, wie Frauen tun, über eine andere zu Gericht sitzt, so weiß ich nicht, wo ich mit meinen Blicken hin soll. Und ereignet sichs gar, daß ich in irgendeiner ganz alltäglichen Beleidigungssache zum Guten rede, ‚weil ja der Dolus fehle‘ oder so was Ähnliches, so geht ein Lächeln über Ihr Gesicht oder es zuckt wenigstens darin, und in Ihrer Seele klingt es: ‚Der gute Innstetten, er hat doch eine wahre Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemisch zu untersuchen, und das richtige Quantum 110 Literatur interpretieren <?page no="111"?> Stickstoff findet er nie. Er ist noch nie an einer Sache erstickt‘… Habe ich recht, Wüllersdorf, oder nicht? “ Wüllersdorf war aufgestanden. „Ich finde es furchtbar, daß Sie recht haben, aber Sie haben recht. Ich quäle Sie nicht länger mit meinem ‚Muß es sein? ‘ Die Welt ist einmal wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem ‚Gottesgericht‘, wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt.“ Innstetten nickte. (Fontane 1969, 238-242) Zunächst dürfte es als Ironie zu bewerten sein, dass die ‚Verfehlung‘ Effis rund sechseinhalb Jahre zurückliegt. Sechs ist zweimal drei und keine positive Symbolzahl, ist doch zwei die Zahl der Spaltung und die dreifach genommene sechs die Zahl des Teufels. Sieben wäre wieder eine positive Symbolzahl gewesen, doch wird sie hier - auf der Basis der Symbolik lässt sich sagen: absichtsvoll - verfehlt (zur Zahlensymbolik vgl. Lurker 1991, einführend 845-847). Nach sieben Jahren hätte es diesen Fund nicht geben dürften oder das Gespräch hätte anders ausgehen müssen. Eine solche ironische Verwendung gängiger Symbolik weist bereits auf Thomas Mann voraus, der ein Bewunderer Fontanes war und dessen Bud‐ denbrooks (1901) vermutlich ihren Namen von dem zweiten Sekundanten des Duells haben, das nach dem zitierten Gespräch stattfinden und in dem Effis ehemaliger Liebhaber von ihrem Mann getötet werden wird. Ein Duell, das zwar einerseits zu der Zeit bereits verboten war, das aber andererseits immer noch - wie sich auch den im Roman geschilderten Reaktionen darauf entnehmen lässt - als positiv zu wertende Verteidigung der ‚männlichen Ehre‘ gesehen wurde (Fontane 1969, 290; vgl. auch Schultz 1996). Die Romanhandlung beruht auf einem wahren Fall, der Fontane von einer Bekannten erzählt wurde. Auch wenn Fontane den Stoff frei behandelt und viel geändert hat (das Vorbild für Effi hatte ein langes Leben), ist die Brisanz der Duell-Frage historisch verbürgt. Sie steht hier ganz offensichtlich für eine Praxis, in der Frauen keine (Mitsprache-)Rechte hatten und ein Menschenleben weniger wichtig war als das äußere Ansehen in der Gesellschaft. Eine strukturelle Offenheit lässt sich bereits in der häufigen Verwendung des Dialogs und des ansonsten weitgehend neutralen Erzählverhaltens feststellen. Der Erzähler weiß oft nicht mehr als die Figuren und er versucht in der Regel nicht, den Leser*innen eine bestimmte Deutung nahezulegen. 111 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) <?page no="112"?> Ähnliches wird sich für die allwissenden, zugleich ihr Wissen zurückhal‐ tenden Erzähler in den Werken Thomas Manns oder Franz Kafkas sagen lassen. Die Offenheit des Gesprächs, das zwischen zwei Möglichkeiten der Deutung des Ehebruchs und des weiteren Verhaltens pendelt, wird so un‐ terstrichen. Besonders deutlich wird diese Offenheit, wenn sich herausstellt, dass das Gespräch um eine Leerstelle kreist. Das „uns tyrannisierende Ge‐ sellschafts-Etwas“ wird als eine Macht benannt, von der Innstetten vorgibt, „abhängig“ zu sein. Die Abhängigkeit geht so weit, dass diese Macht ihm regelrecht befiehlt, einen einst nahen „Freund“, wie es Wüllersdorf nennt, „tot[zu]schießen“ und so „dem Schmerz über empfangenes Leid“ noch den „Schmerz über getanes Leid“ hinzuzufügen. Zunächst bildet Wüllersdorf den Widerpart im Gespräch. Den Argu‐ menten Innstettens begegnet der Freund mehrfach mit einem „Ich weiß doch nicht“ und immer wieder findet er mögliche, vernünftige und aus Leser*innensicht daher plausible Gründe, die gegen ein Duell sprechen. Dass ausgerechnet sein Mitwissen der Grund ist, dass er Innstetten dann doch zustimmt, wirkt nahezu absurd. Alle vernünftigen Argumente gegen das Duell werden durch diesen einen Einwand zunichte gemacht. Dass Wüllersdorfs Wissen über den Ehebruch so schwer wiegt, liegt daran, dass er und Innstetten das Subjekt als Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung verstehen. Die beiden sehen sich nicht als Individuum, sondern als Bestandteil eines Kollektivs, dessen Regeln sich das Individuum zu beugen hat. Doch mit diesem Kollektiv werden die Leser*innen wieder zurückverwiesen auf das, was Innstetten ‚tyrannisch‘ genannt hat und was Wüllersdorf als „Götze“ bezeichnet. Dabei hebt er den „Götzendienst“ positiv von dem „‚Gottesgericht‘“ ab, das schon durch die einfachen Anführungs‐ zeichen in seiner Bedeutung relativiert wird. An dieser Stelle erreicht die Provokation des Dialogs, die sich an die Leser*innen richtet, ihren Höhe‐ punkt. Schließlich hat zwischen heidnischem Götzendienst und Handlung auch die Aufklärung stattgefunden, die an die Stelle des mittelalterlichen christlichen Weltbildes ein neuzeitlich naturwissenschaftliches gestellt hat. Wenn nun immer noch oder wieder Götzen verehrt werden, dann ist das sogar ein Rückfall in Zeiten vor dem Christentum. Das spätere, zweite Gespräch von Innstetten und Wüllersdorf im 35. Kapitel setzt die skizzierte Linie der Argumentation fort und steigert sie noch einmal. Innstetten ist gerade zum Ministerialdirektor (Fontane 1969, 292) befördert worden und hadert dennoch mit seinem Schicksal, das be‐ rufliche „Höherhinaufklimmen auf der Leiter“ ist für ihn seit dem Duell 112 Literatur interpretieren <?page no="113"?> weniger wichtig geworden (Fontane 1969, 290). Er denkt kritisch über den „glänzenden Schein der Dinge“ nach und über das „Glück“, das er „gehabt“ habe und nun „nicht mehr haben könne“ (Fontane 1969, 291). Innstetten schildert Wüllersdorf seine selbstkritischen Gedanken und seinen Plan, nach Afrika auszuwandern, der allerdings bereits so, wie er ihn formuliert, nicht ernsthaft gemeint sein kann. Wüllersdorf bestärkt Innstetten wieder in seiner bisherigen Haltung: „Einfach hierbleiben und Resignation üben“ (Fontane 1969, 293). Er habe schließlich auch sein „Päckchen zu tragen“ - ohne dass er dies weiter ausführt, eine weitere Leerstelle also. Und er fügt hinzu: „Drei Seidel beruhigen jedesmal. Es gibt immer noch viele, sehr viele, die zu der ganzen Sache nicht anders stehen wie wir, und einer, dem auch viel verquer gegangen war, sagte mir mal: ‚Glauben Sie mir, Wüllersdorf, es geht überhaupt nicht ohne ‚Hilfskonstruktionen‘.‘ Der das sagte, war ein Baumeister und mußte es also wissen. Und er hatte recht mit seinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich nicht an die ‚Hilfskonstruktionen‘ gemahnte.“ (Fontane 1969, 294) Es geht offenbar allen ähnlich: Niemand ist in einer solchen Gesellschaft glücklich und nur die kleinen Fluchten, etwa in den Alkohol, machen das Leben erträglich. Fontanes Roman führt in einer Versuchsanordnung vor, welche „Aus‐ schließungssysteme“ in der gezeigten Gesellschaft gelten, welche „insti‐ tutionelle Basis“ sie haben, wie eine bestimmte „Wahrheit“ von einem „Geflecht von Praktiken“ erzeugt wird, wie welches „Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird“ (Foucault 2000, 15). Insofern könnte man sagen, dass der Roman diskurskritisch ist und zu jenem Raum eines „wilden Außen“ des gezeigten Diskurses gehört, in dem eine andere „Wahrheit“ (Foucault 2000, 25) artikuliert werden kann als die vom skizzierten System vorgegebene. Insofern wäre Literatur ein Medium der Diskurskritik, weil sie einen Möglichkeitsraum jenseits des Bestehenden eröffnet, für den weder die Naturgesetze noch die Regeln der außerliterarischen Realität gelten - zumindest bis zur Bewertung der Texte in der Rezeption, denn durch den „Akt des Lesens“ (Iser, vgl. das vorhergehende Kapitel) treten sie wieder in den Diskurs ein. In Effi Briest findet ein deutlich markiertes Spiel mit geltenden Diskursregeln statt und mit dem Möglichkeitsverhältnis, in dem Literatur zu diesen Regeln steht. Fontane hat Schiller ausgiebig gelesen und oft zitiert, etwa im Untertitel seines satirischen Romans Frau Jenny Treibel (1892) mit einem Vers aus dem Lied von der Glocke: „oder ‚Wo sich Herz zum Herzen find’t‘“. Ähnlich 113 Zum Beispiel Erzähltexte: Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) <?page no="114"?> ironisch verhält es sich mit dem Verweis auf das Tyrannische in Effi Briest. Innstettens Ausführungen können als Verweis auf das Schillers Werk durchziehende Tyrannische gelesen werden, von der ungeklärten Herkunft der Widmung „in tyrannos“ auf einer frühen Ausgabe des ersten Dramas Die Räuber bis zum so bezeichneten Tyrannenmord im Wilhelm Tell. Anders als in den Texten Schillers findet sich in Effi Briest aber kein Tyrannenmord, sondern die Resignation angesichts einer Tyrannenmacht, die nebulös als „Gesellschafts-Etwas“ beschrieben wird und die - so könnte man das Duell auch lesen - einen Mord in Auftrag gibt. Michel Foucault hat diese Wirkmechanismen in Überwachen und Strafen geschildert. Die Kontrolle der Anpassung an die herrschenden Machtver‐ hältnisse wird in das Individuum selbst verlagert. Es internalisiert die Nor‐ men der Gesellschaft und „wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 1994, 260). Es herrscht „die Macht der Norm“ (Foucault 1994, 237). Foucault spricht von „der Formierung der ‚Disziplinargesellschaft’“ (Foucault 1994, 269) im 18. und 19. Jahrhundert: Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt. Die Macht der Normen hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und präzises Meßergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann. (Foucault 1994, 238) Das zitierte Gespräch Innstettens mit Wüllersdorf lässt sich als satirische Darstellung eines neuzeitlichen Götzen- und somit Aberglaubens lesen. Es zeigt exemplarisch die ideologische Verblendung führender Vertreter (beide sind Ministerialbeamte und Vertraute Bismarcks) der Gesellschaft in einer nur scheinbar aufgeklärten Zeit. Der Optimismus des Tell scheint sich in Effi Briest in sein Gegenteil verkehrt zu haben. Heldenfiguren sind diese männlichen Figuren nicht mehr, auch wenn - oder gerade weil - sie bereit sind, ihr Leben für ihre Ehre zu riskieren. Allerdings ist Otto von Bismarck 1890 durch Betreiben des neuen Kaisers zurückgetreten und es muss an dieser Stelle offen bleiben, wieweit der Roman einem von Preußen geprägten Deutschland nur bis zu diesem Zeitpunkt ein schlechtes Zeugnis ausstellen wollte. Die Kritik an absolutistischen Machtverhältnissen wirkt auf jeden Fall weit über Bismarcks Herrschaftszeit hinaus. 114 Literatur interpretieren <?page no="115"?> Eine solche Kritik ist dennoch nicht als ‚pessimistisch‘ zu lesen, im Gegenteil. Die Modellierung fiktionaler Realität mit ihren Referenzen auf die außerliterarische Realität soll stets eine kritische Reflexion möglicher Veränderungen in der Alltagsrealität der Leser*innen anregen. Bei dem utopischen Schluss von Wilhelm Tell und dem tragischen Schluss von Effi Briest - Effi stirbt und zwei Familien sterben aus - handelt es sich also um zwei Seiten einer Medaille, auch wenn die negative Zeichnung der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft um 1900 und die kritische Sicht des Fontane-Romans, was angesichts von fast einem Jahrhundert Differenz zwischen den Niederschriften nicht verwunderlich ist (von dem historischen Setting des Tell ganz abgesehen), heute als zeitgemäßer erscheinen. Mit sei‐ ner großen Geschlossenheit der Konzeption ist Wilhelm Tell einer früheren Ästhetik verpflichtet; die dialogische Offenheit von Effi Briest weist auf die Literatur des 20. Jahrhunderts voraus. Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe Selbst wenn das auktoriale Erzählen, nachdem es im beginnenden 20. Jahr‐ hundert wegen seiner als unangemessen angesehenen Machtposition in Verruf gekommen war, in den letzten Jahrzehnten in von der Literaturkri‐ tik besonders beachteten Erzähltexten eine erfolgreiche Rückkehr feiern konnte, so ist es in der von Expert*innen höher geschätzten Literatur doch in der Regel mit unzuverlässigem Erzählen und mit Irritationen verbunden, die eine Identifikation mit den Figuren und ihren Aktionen partiell oder weitgehend verhindern. In der Trivialliteratur ist das auktoriale Erzählen dagegen nie aus der Mode gekommen, im Gegenteil - um im Erwartungs‐ horizont von Unterhaltung und Handlungsspannung bestehen zu können, macht es solche Literatur ihren Leser*innen möglichst leicht, gerade nicht über das Gelesene kritisch nachdenken zu müssen. Besonders herausfordernd sind Texte, die auf immer wieder neue, oft ex‐ perimentell anmutende Weise Strategien entwickeln, Erwartungen gerade nicht zu erfüllen und die Leser*innen mit ungewohnten Sichtweisen auf scheinbar Bekanntes zu konfrontieren. Dazu dient oft ein personales oder neutrales Erzählen, um den Leser*innen keine vorgefertigten Meinungen zu präsentieren - oder aber, wie in den nachfolgend genannten Romanen Elfriede Jelineks, eine auktoriale Erzählerin (die weibliche Form ist nicht 115 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="116"?> üblich, aber hier auf jeden Fall angebracht), die das Experimentelle der Texte noch steigert, indem sie tabulos das benennt, was die Figuren sich selbst nicht eingestehen wollen oder können. Elfriede Jelinek hat mit Lust (1989) einen Roman geschrieben, dessen Titel eine erotisch, vielleicht sogar pornographisch erzählte Liebesgeschichte - oder gar mehrere davon - vermuten lässt. Die Taschenbuchausgabe pflegt sich deshalb auch im Bahnhofsbuchhandel in Drehständern zu befinden, in denen triviale Liebesromane angeboten werden, die eine solche Erwartungs‐ haltung bedienen wollen. Wer immer in Unkenntnis der anderen Werke der Autorin und in Erwartung einer das eigene erotische Empfinden anre‐ genden Lektüre diesen Roman kauft und als Reiselektüre zu konsumieren beginnt, dürfte sehr schnell merken, dass es sich um etwas ganz anderes handelt: Erzählt wird von dem „patriarchalischen Missbrauch an der Frau als ‚ewigem Lustobjekt‘“ des Mannes (Lücke 2008, 82). In einer radikal tabulosen, zugleich höchst artifiziellen Sprache werden meist in Gewalt gegen die weiblichen Figuren mündende sexuelle Handlungen geschildert, bis die Protagonistin am Schluss so verzweifelt ist, dass sie ihren eigenen Sohn tötet, der beginnt, sich wie sein sadistischer Vater zu verhalten. Der Roman übt aber nicht nur Kritik an dem Verhalten von Männern, sondern vor allem an einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung, in der - wie die schlussendliche Tötung des Sohnes zugespitzt zeigt - letztlich alle Verlierer sind. Das emanzipatorische Potential des Romans erschließt sich durch das Gegenteil des Gezeigten. Der Objektstatus der Figuren - auch der männlichen, die mit dem Ausleben ihrer zügellosen Begierde den von der patriarchalischen Gesellschaft in sie gesetzten Erwartungen gerecht werden wollen - verlangt nach fundamental anderen Denk- und Verhaltensmustern. Die zahlreichen Anspielungen auf Texte der Weltliteratur und der Literatur‐ theorie (vgl. Lücke 2008, 82 f.) können dabei helfen, weiter über eine solche utopische Kehrseite der gezeigten Verhältnisse nachzudenken. Jelinek gehört zu den bekanntesten Gegenwartsautor*innen der deutsch‐ sprachigen Literatur. Sie hat für ihre Romane und Theaterstücke zahlreiche Preise erhalten, 2004 auch den Nobelpreis für Literatur. Bereits seit den 1980er Jahren ist sie zudem ein „Medienereignis“ (Haß u. a. 2014). Die Auto‐ rin hat dabei früh begonnen, ihre mediale Wahrnehmung zu einer „zweiten Ebene der Äußerung“ werden zu lassen, „die von Jelinek hochbewusst gehandhabt wird“ (ebd.). Der 1983 erschiene Roman Die Klavierspielerin, „mit dem Elfriede Jelinek zur ‚Erfolgsautorin‘ und zum umstrittenen Star 116 Literatur interpretieren <?page no="117"?> der Literatur-Feuilletons wurde“ (ebd.), soll hier etwas genauer betrachtet werden, um Möglichkeiten der Interpretation zu diskutieren. Diese Möglichkeiten würden eine Auseinandersetzung mit der Verfil‐ mung von 2001 durch Michael Haneke miteinschließen, die zwar den gleichen Titel wie der Roman trägt, aber ebenso die Handschrift des Aus‐ nahmeregisseurs, der wie Jelinek aus Österreich stammt. Der Autorenfilmer (er schrieb auch das Drehbuch) erhielt für sein Werk zahlreiche Preise, darunter 2013 den Oscar für Liebe als bester fremdsprachiger Film. Hanekes filmische Interpretation von Jelineks Roman setzt die besonderen Mittel seines Mediums auf eine so beeindruckende Weise ein, dass er ein eigenes Kapitel verdienen würde, aber angesichts des einführenden Charakters des vorliegenden Bandes muss darauf verzichtet werden. Im nachfolgen‐ den Kapitel sollen am Beispiel eines Films von Alfred Hitchcock, der ein Massenpublikum und ein Expert*innenpublikum gleichermaßen anspricht, die Möglichkeiten von Filminterpretationen einführend diskutiert und die Unterschiede zur Interpretation von literarischen Texten knapp erläutert werden. Hier nun soll es um interpretatorische Zugänge zum Roman von Elfriede Jelinek gehen, ebenfalls in gebotener Kürze. Zunächst kann festgehalten werden, dass Die Klavierspielerin autobiogra‐ phische Züge trägt, dass aber eine genauere Untersuchung der Gemeinsam‐ keiten und Unterschiede von Leben (der Autorin) und Roman an dieser Stelle keinen Sinn macht (anders als es, beispielsweise, bei der Arbeit an einem Kommentar für eine kritische Ausgabe des Romans der Fall wäre). Es handelt sich bei Autorenbiographien stets um kontextuelle Informationen, die bei einer genaueren Aufarbeitung oder Aufbereitung des gesamten sozi‐ algeschichtlichen Kontextes eine Rolle spielen dürfen und wohl auch müssen, die aber bei der Suche nach einem ersten Zugang eher hinderlich sind, weil sie voyeuristische Bedürfnisse bedienen und den Blick auf die Konzeption des Romans verstellen oder sogar, im schlimmsten Fall, den literarischen Text auf eine persönliche Fallgeschichte reduzieren (vgl. auch Tacke 2013, 95 f.). Damit wäre dann nichts über die allgemeinen Bedeutungen gesagt, um die es in einer Interpretation vorrangig geht. Abgesehen davon, dass es in der Regel nicht das Anliegen von Autor*innen ist, in einem fiktionalen Text über ihr eigenes Leben Auskunft zu geben. Als üblicher Schreibanlass ernst‐ zunehmender Literatur kann vorausgesetzt werden, dass zu einer kritischen Perspektive auf Prozesse der außerliterarischen Realität angeregt werden soll. Und selbst, wenn es anders wäre: Relevanz erhält der Text erst dadurch, dass ihn Leser*innen auf ihre eigene Erfahrungswelt beziehen. 117 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="118"?> Die Protagonistin des Romans, Erika Kohut, ist „mindestens fünfunddrei‐ ßig“ ( Jelinek 2009, 270) und wohnt noch bei ihrer Mutter. Sie arbeitet - wie im Romantitel herausgestellt - als Klavierlehrerin, und zwar am Kon‐ servatorium in Wien. Die Ambitionen der Mutter, aus Erika eine berühmte Konzertpianistin zu machen, sind gescheitert; der Vater wurde, wegen einer geistigen Erkrankung, in ein Sanatorium eingeliefert. Erika versucht, alle familiären und beruflichen Kränkungen sowie ihr fehlendes Privatleben durch Selbstverletzungen, zwangsneurotische Handlungen, Konsum und Voyeurismus einerseits, durch Ausleben ihrer Machtposition gegenüber ihren Schüler*innen andererseits zu kompensieren, etwa indem sie einer aussichtsreichen Schülerin und Konkurrentin um die Gunst eines Verehrers Glasscherben in die Manteltasche tut ( Jelinek 2009, 169 ff.), so dass deren Karriere verletzungsbedingt endet, bevor sie richtig begonnen hat. Erikas begabter Schüler Walter Klemmer wirbt um sie, allerdings nicht zuletzt, um das Machtverhältnis zu seiner deutlich älteren Lehrerin umzu‐ kehren, um sie zu „unterwerfen“ ( Jelinek 2009, 69). Das Verallgemeinerbare der Situation verdeutlicht beispielsweise eine rhetorische Frage der Erzäh‐ lerin im Anschluss an Überlegungen Klemmers, wie er sich Erika und andere Frauen sexuell gefügig machen kann: „Könnte dies mit Zivilisation zu tun haben? “ ( Jelinek 2009, 68). Als Erika ihn in einem Brief, der als Hilferuf gelesen werden kann, darum bittet, sie zu missbrauchen (und als Ausdruck von Hoffnung, dass er als Liebesbeweis gerade darauf verzichtet, was sie verlangt: „Bitte tu mir nicht weh, steht unleserlich zwischen den Zeilen“; Jelinek 2009, 230), dringt er in ihre Wohnung ein und „vergewaltigt“ sie „brutal“ (Tacke 2013, 95). Erika sucht am folgenden Tag nach ihm, mit einem Messer in ihrer Tasche, doch als sie ihn sieht, greift sie nicht ihn an, sondern sticht sich das Messer in die Schulter ( Jelinek 2009, 285). Auf die Verletzung von außen kann sie nur mit einer weiteren Selbstverletzung reagieren. Der Roman handelt von Machtverhältnissen verschiedenster Art, vor allem zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, manchmal sentenzhaft auf den Punkt gebracht wie hier: „Das Kind lernt die Sprache der Gewalt“ ( Jelinek 2009, 50). Eine solche Zurichtung betrifft nicht nur die männlichen Figuren, auch die weiblichen, die im pubertären Alter „noch mit dem Schrecken der Welt kätzchenartig herumspielen, bevor sie selbst ein Teil des Schreckens werden“ ( Jelinek 2009, 140). Der Mikrokosmos steht für den Makrokosmos, für die Gesellschaft als Ganzes, wie die Zeichnungen anderer Figuren immer wieder deutlich machen, die sich auf ihre Weise ähnlich verhalten. 118 Literatur interpretieren <?page no="119"?> Der Roman ist hochgradig intertextuell aufgeladen, so finden sich An‐ spielungen auf „Flauberts Emma Bovary“ oder auf die „Psychoanalyse von Freud bis Lacan“ (ebd.). „Es gibt Zitate von Heine, Wittgenstein, Goethe, Schiller, Hölderlin[,] J.P. Hebel und anderen. Märchen spielen eine Rolle, aber auch Sprichwörter und Musikzitate […]“ (Lücke 2008, 74). Der finale Messerstich wird als Anspielung auf den Schluss von Franz Kafkas Roman Der Prozeß gelesen (ebd.). Die Sprache von Jelineks Roman ist nicht nur zitathaft, sondern verfrem‐ dend bis hin zu die bürgerliche Verlogenheit auf einen Begriff bringenden Neologismen wie „Heimatnotdurft“ ( Jelinek 2009, 34). Triviales Alltags‐ wissen und gängige Redewendungen werden durch eine ungewöhnliche Verwendung gebrochen und verweisen so auf die Brüche in der gezeigten Gesellschaft, die dem Österreich der Gegenwart (des Erscheinens der Erst‐ ausgabe) nachempfunden ist: Die Intertextualität, die in allen Werken Jelineks eine Rolle spielt, hängt mit ihrer Auffassung von Literatur als „Zitat“ im dekonstruktivistischen Sinn zusammen, d. h. Literatur ist nicht einheitliche Schöpfung eines quasi-göttlichen Autors, sondern ein Gewebe aus Sprache, das sich der Iterabilität der Schrift (im Sinne Derridas, also der différance) verdankt, der grundsätzlichen Wiederholbarkeit jedes Zeichens, das man in immer andere Zeichenketten einschreibt, so dass es eine immer andere Bedeutung annehmen kann, denn ‚iter‘ bedeutet ‚anders‘. (Lücke 2008, 73) Anders als der vergleichsweise realistisch erzählte Film setzt der Roman auf eine böse, teilweise zynisch anmutende Ironie. Dies wird schon am Anfang deutlich, wenn „eine Keimzelle des Patriarchats, die Urszene und Urzelle Familie, gleich am Anfang dadurch persifliert“ wird, „dass die Vater-Mutter-Kind-Szene defekt ist […] und dennoch im patriarchalischen Sinn […] funktioniert“ (Lücke 2008, 75). Allerdings quält nicht nur die Mutter als stellvertretende Patriarchin (mit ‚männlichen‘ Zügen, deshalb auch nicht Matriarchin) ihre Tochter, sondern auch die Tochter ihre Mutter - bis hin zur beiderseitigen Ausübung von Gewalt. „Für die Mutter ist die Tochter Ehemann-Ersatz“ (ebd.) und die Mutter ersetzt zugleich den Vater, wobei die ‚väterliche‘ Gewalt auf eine karikaturhafte Weise ironisch übertrieben wird. Das Stilmittel der Ironie dient zur Erzeugung von Distanz gegenüber den Figuren und der Handlung; mit der variationsreichen und extremen Verwendung des Stilmittels soll das Dysfunktionale der gezeigten Gesellschaft noch deutlicher werden. 119 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="120"?> Schon im Verhältnis von Mutter und Tochter wird erkennbar, dass die gezeigte Ordnung die Figuren zu wechselseitigen Objekten degradiert. Ironisch ist „Erikas Lebenstraum“, der „aus ihrem eigenen kleinen Zimmer“ besteht, „wo sie machen kann, was sie will“. Daran hindert sie aber ihre Mutter, die sie als ihr „Besitztum“ betrachtet ( Jelinek 2009, 9). Erika schafft es nicht, ihre Mutter zu verlassen oder auch nur, ihre eigenen Interessen ausrei‐ chend zu vertreten. Die sadomasochistische Beziehung der beiden mündet in alltägliche Szenen beiderseitiger Gewalt, physischer ( Jelinek 2009, 11) wie psychischer: „Die Mutter fügt Erika lieber persönlich ihre Verletzungen zu [als ihr zu erlauben, sich „mit fremden Männern“ abzugeben] und überwacht sodann den Heilungsvorgang“ ( Jelinek 2009, 13). Immer wieder werden die gezeigten Verhältnisse des Mikrokosmos an den Makrokosmos rückgebunden und es werden dabei, in hochironischer Sprache, gängige Klischees durchkreuzt: „Wien, Stadt der Musik! Nur was sich bisher bewährt hat, wird sich in dieser Stadt auch hinkünftig bewähren. Die Knöpfe platzen ihr vom weißen fetten Bauch der Kultur, die, wie jede Wasserleiche, die man nicht herausfischt, jedes Jahr noch aufgeblähter wird“ ( Jelinek 2009, 15 f.). Oder, aus der Figurenperspektive Erikas: „Diese sattgegessenen Barbaren in einem Land, in dem kulturell überhaupt Barbarei herrscht“ ( Jelinek 2009, 72). Zugleich spielt der Text durch das Changieren der Perspektiven mit den Möglichkeiten, die Figuren oder gleich die ganze Gesellschaft als überheblich und verlogen zu entlarven. Die Gesellschaft produziert Individuen ohne Individualität wie Erika: „Im Unterricht bricht sie einen freien Willen nach dem anderen. Doch in sich fühlt sie den heftigen Wunsch zu gehorchen“ ( Jelinek 2009, 105), und die zugerichteten Individuen produzieren eine ‚heimatnotdürftig‘ funktionie‐ rende Gesellschaft. Die Namen stützen die ironische Zeichnung fehlender Individualität, so tragen Mutter und Tochter den Nachnamen von Heinz Kohut, Psychoanalytiker und jüdischer Wiener Emigrant, der eine Theorie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung entwickelte. Mit dem Nachnamen des Schülers und Verehrers wird im Text selbst gespielt: „Klemmer soll sich von ihr abklemmen und abziehen“ ( Jelinek 2009, 120). Immer wieder finden sich die kritisch-reflexive Perspektive stützende, intertextuelle Anspielungen, etwa auf Franz Kafkas berühmte Erzählung Die Verwandlung (1915), wenn es heißt: „Erika ist ein Insekt aus Bernstein, zeit‐ los, alterslos. […] Die Fähigkeit zum Krabbeln und Kriechen hat dieses Insekt längst verloren“ ( Jelinek 2009, 17 f.). Mit diesem unmarkierten Zitat wird die Interpretation der Erzählung fortgeschrieben, die in der Verwandlung von 120 Literatur interpretieren <?page no="121"?> Kafkas Figur Gregor Samsa in ein Ungeziefer eine allegorische Darstellung von Unfreiheit in der damaligen Gesellschaft sieht - eine Unfreiheit, an der sich offenbar auch rund sieben Jahrzehnte später nicht viel geändert hat. Das Insektenhafte wird allen Figuren zur zweiten Natur, wenn auch, pa‐ triarchatskonform, den weiblichen mehr als den männlichen. Heldenfiguren gibt es in einem Text wie Die Klavierspielerin nicht mehr, ganz im Gegenteil: Figuren wie Klemmer reproduzieren ein patriarchalisches Muster, das in höchster Potenz und auf höchst ironische Weise dem früheren Verständnis von ‚Held‘ entspricht. Seine Eigenschaften machen den ‚männlichen‘ Held eben nicht zum Retter der Frau, sondern zu ihrem Verderber. Der noch bei seinen Eltern wohnende ( Jelinek 2009, 127) „tragische Held“ ( Jelinek 2009, 162) Klemmer ist eigentlich die böse Karikatur eines Helden auf einer banalalltäglichen Ebene und damit der Repräsentant einer gesellschaftlichen Normativität, die die Gesellschaft aus dem Privaten, also von innen heraus zerstört. Auch Erikas Mutter reproduziert diese ‚männlichen‘ Muster, doch als Frau kann sie der rücksichtslosen Gewalt des jüngeren und stärkeren Mannes nichts entgegensetzen. Die vorgeführte Verteilung von Macht hat aber auch noch mit etwas anderem zu tun; mit dem ökonomischen System, das mit dem patriarchalischen symbiotisch verwachsen ist, wie etwa originelle Metaphern verdeutlichen: Männer wie Klemmer haben an Frauen wie Erika nicht mehr Interesse, als sie „in Betrieb [zu] nehmen“ ( Jelinek 2009, 126). Deshalb kann Erika „an der Börse des Lebens“ ( Jelinek 2009, 89) außer Illusionen auch nicht viel gewinnen. Felicitas Hoppe dekonstruiert ebenfalls den Heldenmythos, wenn auch, wie zu zeigen sein wird, auf eine andere Weise - und mit dem Nibelungen‐ lied an einem Gegenstand, den prototypisch zu nennen fast schon eine Untertreibung wäre. Auch Hoppe hat zahlreiche Preise erhalten, darunter 2012 den renommiertesten deutschsprachigen Literaturpreis, den Georg- Büchner-Preis. Ihre Romane und Erzählungen haben im Feuilleton ein brei‐ tes und überwiegend begeistertes Echo gefunden, wobei ihr besonderer Stil immer wieder Anlass zu Zuneigungs- und Abneigungserklärungen gegeben hat. Zu dem Werk weniger Autor*innen der Gegenwartsliteratur ist in so kurzer Zeit eine solche Vielzahl an Sammelbänden erschienen (beginnend mit Hellström / Neuhaus 2008): „Es ist vielleicht gerade das Uneindeutige, ja gerade die paradoxale Anlage von Hoppes Werk, seine quer zu allen Literaturströmungen stehende Singularität, seine postmoderne Rhetorik des Anti-Postmodernen, die es für die Literaturwissenschaft so anziehend macht“ (Holdenried 2015, 8). Auch Felicitas Hoppe ist dafür bekannt, dass 121 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="122"?> sie ihre „Autorinnenidentität“ als „Teil einer Gesamtperformance“ (ebd.) betrachtet, sogar bis in die Konzeption ihres Romans Hoppe hinein (2012): „Hoppe spielt mit ihrer eigenen Biografie, indem sie vorgibt, dass das, was über sie bekannt ist, nicht der Wahrheit entspricht und ihr Leben eigentlich ganz anders verlaufen ist“ (Neuhaus 2017c). Hoppes Erzähltexte sind, wie die Jelineks, hochgradig intertextuell aufgeladen und das Spektrum ist ähnlich breit, es reicht etwa von den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bis zu den Romanen Vladimir Nabokovs (vgl. ebd.). Mit ihrer „Poetik des Absurden“ behandelt Hoppes Werk „die zentralen Themen der Weltliteratur, Abenteuer, Ehre, Wahrheit, Schatz- und Sinnsu‐ che, die Fragen nach Identitätsverlust und Selbstentdeckung“ (Holdenried 2021, 9), allerdings immer in lyrisch durchgearbeiteter Sprache mit einem heiteren, optimistischen Unterton, selbst bei gefährlichen oder gar tödlichen Handlungsverläufen. Ähnlich wie bei Jelinek hat also die Behandlung exis‐ tenzieller Themen etwas Distanziertes, Komisches, allerdings ist es deutlich weniger satirisch. Jelineks Texte sind in einem vergleichsweise direkten Sinn politisch (zu solchen Unterscheidungen und Bedeutungsveränderungen vgl. Neuhaus / Nover 2019), während Hoppes Texte eher metafiktional sind und den Umgang mit Sprache, Literatur und Medien selbst zur Disposition stel‐ len. Im Grunde ist es aber eher eine Frage der Akzentverschiebung als eine von Gegensätzen. (Dieser für einige Expert*innen vielleicht überraschende Befund soll in den folgenden Ausführungen näher begründet werden.) Hoppes Roman Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm von 2021 bezieht sich erkennbar zum einen auf den bekanntesten deutschsprachigen Text des Mittelalters, Das Nibelungenlied (ca. 1200), und zielt schon allein dadurch ins Herz des deutschen Nationalismus. „Das Nibelungenlied galt im 19. und 20. Jahrhundert als Nationalepos der Deutschen, wobei Siegfried der Drachentöter als deutscher Nationalheld angesehen wurde“, weiß Wikipedia (de.wikipedia.org/ wiki/ Nibelungenlied, Stand: 01.02.2022). Zum anderen wird mit dem Untertitel auf Fritz Langs legendären Stummfilm Die Nibelungen (1924) bezuggenommen, bestehend aus zwei Teilen („Sieg‐ fried“ und „Kriemhilds Rache“). Das Drehbuch stammt, wie bei anderen Produktionen (etwa Metropolis von 1927), aus der Feder seiner Ehefrau Thea von Harbou. Langs und Harbous Filmversion überschreibt den nationalis‐ tisch überhöhten Text ebenso wie Hoppes Roman, der wiederum beides überschreibt - und noch die Wormser Nibelungenfestspiele mit ins Boot nimmt, denn die Festspiele bilden den Rahmen der erzählten Handlung. Gegliedert ist der Roman in drei Abschnitte („Der Rhein“, „Die Donau“ und 122 Literatur interpretieren <?page no="123"?> „Die Klage“), die durch ‚Pausen‘ unterbrochen werden, am Ende gefolgt von einem „Abspann/ Credits“. Schreibanlass war außerdem eine von einem der berühmtesten Autoren der Nachkriegszeit, Uwe Johnson (1934-84), mitverantwortete Übersetzung des Nibelungenlieds aus dem Mittelhochdeutschen, weshalb Hoppes Roman auch Johnson gewidmet ist. Dazu kommen zahlreiche weitere intertextuelle und intermediale Anspielungen mit Bezug zum Stoff und über ihn hinaus, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. So könnte man in dem gleich auf S. 3 abgedruckten und nicht in das Inhaltsverzeichnis aufgenommenen, wie eine Kapitelüberschrift gestalteten Titel „Die Nordsee“ eine Anspielung auf Heinrich Heines gleichnamigen Teil der Reisebilder von 1826/ 27 vermuten und in der „Goldene[n] Dreizehn“ (Hoppe 2021, 100), in die sich der eigentliche Protagonist des Romans, ein Schatz, verwandeln kann, einen Verweis auf zentrale Motive aus Michael Endes Jim-Knopf- Romanen (1960/ 62), auf den Goldenen Drachen der Weisheit und die Wilde 13. Auch diese beiden Romane Endes handeln von Reisen und zeichnen ein ganz anderes, anti-nationalistisches Heldenbild (vgl. Neuhaus 2020). So verbleiben viele Symbole, Metaphern und Motive von Hoppes Roman im Möglichkeitsraum von Anspielungen und es können dazu nur mehr oder weniger plausible Thesen aufgestellt werden. Die im Vergleich zu früheren Romankonzepten weitergehende Öffnung für Assoziationen ist Teil eines Programms zumindest eines in Kritik und Wissenschaft sehr geschätzten Teils der Gegenwartsliteratur, dem auf andere Weise auch Elfriede Jelinek verpflichtet ist: Beide Autorinnen wollen ihre Leser*innen aktivieren und ihnen Deutungsoptionen zum Weiterdenken anbieten, ohne sie ihnen aufzudrängen. Der als Motto dem Roman vorangestellte Satz legt bereits eine Spur, die es weiter zu verfolgen gilt: „Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher.“ Angesichts der folgenden Dekonstruktion aller Nibelungenfiguren handelt es sich um eine ironische Formulierung: Heldenhafte und intellektuelle Tätigkeiten scheinen sich gegenseitig aus‐ zuschließen. Schon am Motto zeigt sich, dass der Roman eigentlich eine wiederholte Lektüre fordert: Die „Poetik des Absurden“ (Holdenried) wirkt gegen den hermeneutischen Zirkel, der erst beim zweiten Lesen eine sinn‐ stiftende Funktion entfalten kann - in den angesprochenen Grenzen von Sinnstiftung, die somit als individualisierter Konstruktionsprozess kenntlich gemacht wird. Der verfremdende Gebrauch bekannter Motive erhält erst im Laufe der Erzählung Konturen, allerdings keine, die der Erwartung 123 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="124"?> einer ‚realistischen‘ Handlung gerecht würden - ebenso wenig wie anderen Erwartungshaltungen etwa an historische oder fantastische Romane. Bereits die ersten Zeilen der Nibelungen scheinen daher keinen Sinn zu machen, wenn Alltagswissen und Alltagslogik in Anschlag gebracht werden: Sicher ist nur: Es gab eine Zeit, da gehörten alle Schätze der Welt einer Frau. Bis sie sich, ihrer überdrüssig, eines Tages auf und davon machten, sich an verschiedenen Orten versteckten und die Zauberer aller Länder bezahlten, um verzaubert und nicht gefunden zu werden. Wird der Zauber aber eines Tages gelöst, verwandelt sich der Schatz in natürliches Gold und kann nach Hause getragen werden. Dort allerdings muss er gefüttert werden, sonst zerfällt er zu Asche oder wird jedenfalls krank oder entwischt und stellt sich am Wegrand auf, um sich seine Nahrung selbst zu erbetteln. Oder wird Söldner, zieht in den Krieg, verliert ein Bein und erscheint hässlich hinkend auf der nächstbesten Hochzeit, versetzt Braut und Gäste in Angst und Schrecken, trinkt, bis er ziemlich redselig wird und verrät, er sei in Wahrheit ein Schatz und seine Knochen aus purem Gold. Der Bräutigam, in der Regel ein Offizier zweiter Klasse, schlägt ihm entschlossen den Kopf ab: Zwischen Kopf und Hals stecken drei goldene Münzen, heute kleinster Teil einer größeren Sammlung, die sich inzwischen im Museum für Gegenwartskunst in Basel befindet und für Besucher nicht zugänglich ist. (Hoppe 2021, 13) Der Text behauptet im auktorialen Erzählgestus - später wird sich eine Ich- Erzählerin als Beobachterin der Wormser Inszenierung zu Wort melden -, dass es Schätze gibt, die sich in Lebewesen verwandeln können, dass es Zauberer gibt und dass es Museen gibt, die nicht für ein Publikum geöffnet werden. Größere und kleinere Verstöße gegen Naturgesetze und Unwahr‐ scheinlichkeiten finden sich in einem neuen Zusammenhang, ebenso größt‐ mögliche Zeitsprünge - in der zitierten Textstelle von einer dem Märchen ähnelnden Ursprungszeit bis zur Gegenwart. Nehmen wir den Stoff der Nibelungen hinzu, dann lässt sich beim Schatz an den Nibelungenhort denken, der auch in der weiteren Erzählung eine Rolle spielen wird, und an die Hochzeiten von Siegfried und Kriemhild, Gunther und Brünhild. Offiziere gab es zur mythischen Zeit der Nibelungen nicht, aber es gibt sie in der Zeit der Rezeption des Liedes als nationales Epos. Dass der Offizier „zweiter Klasse“ dem Schatz den Kopf abschlägt wie Siegfried dem Drachen, kann - mit aller Vorsicht - als ironischer Kontrast gelesen werden und der spätere Hinweis, es wäre besser gewesen, den Söldner-Schatz zu mästen 124 Literatur interpretieren <?page no="125"?> und dann erst zu töten: „Dann wäre er Rheingold gewesen“, als ironischer Verweis auf Richard Wagners Oper Das Rheingold (1869). Die mythische Urzeit wird als „Welt einer Frau“ benannt - die späteren gewalttätigen Handlungen entstehen offenbar nicht zuletzt aus Langeweile und hier sind vor allem Männer die Protagonisten. Gewalt ist ‚männlich‘, die Frauenfiguren sind aber keineswegs passiv, allen voran Kriemhild, die sich an den Männern rächt, die ihr übel mitgespielt haben. Kurz gesagt: Das ‚männlich‘ konnotierte Motivarsenal von Nationalismus und Gewalt wird vom Romananfang an, immer wieder auch auf ironische Weise, zugleich aufgerufen, verfremdet und gebrochen; es wird durch die selbstreflexivliterarische Inszenierung einer die ganze Tradition des Stoffes integrieren‐ den, ironisierenden, parodierenden Festspielinszenierung als Konstruktion vorgeführt. Dabei wird der Roman in dem ersten Kapitel, das auf den Handlungsrahmen der Wormser Nibelungenfestspiele zuläuft, hoppetypisch metafiktional, wenn auf die „Zuschauer“ (Hoppe 2021, 14) verwiesen wird und auf die „Wörter“ (Hoppe 2021, 15), die von den Schätzen kommen und in die sie sich verwandeln, „bis sie am Ende niemand mehr sieht und niemand versteht, nicht einmal sie selbst“ (ebd.). So wird das Verfremdende des Texts selbst zu seinem Thema. Das „Geheimnis“, auf das „die Menge“ aus ist (Hoppe 2021, 16), lässt sich nicht ergründen, denn der auf dem Wormser Domplatz ausgestellte Käfig, in dem der Schatz sich befunden hat, ist leer, zugleich ist er „Teil eines Stückes“ (ebd.), um das es eigentlich geht. Der Text gibt sein Geheimnis nur preis, wenn er selbst als sein Geheimnis gesehen und nicht mehr versucht wird, seine möglichen Bedeutungen auf eine maßgebliche Deutung zu fixieren. Jonathan Culler hat in seiner Einführung in die Literaturtheorie ein Gedicht von Robert Frost gewählt, um die besondere Qualität von Literatur zu ver‐ deutlichen: „We dance round in a ring and suppose, / But the secrets sits in the middle and knows“ (Culler 2013, 81). Das Gedicht The Secret Sits stellt das Geheimnis in die Mitte und Jonathan Culler stellt in seiner Einführung in die Literaturtheorie das Gedicht von Robert Frost in die Mitte, um zu zeigen, dass Literatur sowohl „ein besonderer Typ von Sprache“ als auch „eine besondere Art des Sprachgebrauchs“ ist (ebd.). Das ‚Geheimnis‘ verweist metafiktional auf den Text selbst zurück und das Gedicht handelt davon, wovon Literatur handelt, es führt also literarisch-praktisch vor, wozu Literatur (als Fiktion) in der Lage ist. Metonymisch gesprochen ist Literatur immer schon Geheimnis, weil ihre mögliche Bedeutung immer wieder neu ausgehandelt werden muss - und immer nur vorläufig ausgehandelt werden kann. 125 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="126"?> Passend dazu heißt es dann auch in den Nibelungen über den erneut transformierten, in besagtem Museum für Gegenwartskunst ausgestellten Schatz: „Denn die goldene Rute hat ihren eigenen Kopf und verweigert ihr Geheimnis bis heute: das letzte Halslöserätsel der deutschen Geschichte“ (Hoppe 2021, 112). Hierbei handelt es sich um ein Rätsel, das zum Tode Verurteilte ihren Richtern stellen durften. Wenn die Richter es nicht lösen konnten, waren die Verurteilten frei und konnten ihren Hals aus der Schlinge ziehen - an der sie andernfalls aufgeknüpft worden wären. Über die „kleine goldene Rute“ heißt es, sie sei das „Kostbarste“ überhaupt: „Wer sie jemals erproben könnte, wäre Frau oder Herr über jeden Menschen der Welt“ (Hoppe 2021, 111). Die kleine goldene Rute kann als ebenso allegorisches wie ironisches Schreibwerkzeug gelesen werden; ihre Form ähnelt einem Stift oder einer Schreibfeder, zugleich dienten Ruten der Züchtigung, also der Ausübung von Gewalt. Nicht zuletzt sind sie als Wünschelruten die Wegweiser zu den mythischen Schätzen der imaginären Welt, so wie es die Literatur ist, mit deren Hilfe man oder frau an jeden Ort der Welt gelangen und alles erreichen kann. Hoppes Roman führt literarisch-praktisch vor: Die Möglichkeiten der Literatur sind grenzenlos. „Jäger und Helden“ (Hoppe 2021, 103) haben ausgedient. „Ich sage nur: Denksport statt Kampfsport“ (Hoppe 2021, 102). Die Relativierung des Heldenstatus gilt auch für die unzuverlässige Erzählerin, die immer wieder ihre eigene Inkompetenz behauptet: „Denn Geographie und Geschichte waren noch nie meine Stärke; bereits in der Schule bin ich im Beiboot sitzen geblieben“ (Hoppe 2021, 156). Das Rätsel der Nibelungen löst sich nicht durch eine allwissende Erzählperspektive und durch das Arretieren eines einzigen möglichen Sinns, durch die Festlegung etwa auf eine nationale (in der Regel nationalistische) oder eine sonstige Lesart, die nicht berücksich‐ tigt, dass das Geheimnis der Literatur immer nur die Literatur selbst sein kann - wenn sie mehr sein möchte als ‚nur‘ unterhaltend und entspannend, wenn sie mehr sein möchte als stereotyp und intellektuell unterfordernd. In Hoppes Roman lösen sich alle Grenzen auf. Geschlechter, Nationen und andere menschengemachte Konstruktionen werden hinterfragt, weil genau dies die Aufgabe von Fiktionen ist, die Aufgabe der Literatur und auch des Films, den Hoppes Roman, mit der nicht zuletzt ironisch zu lesenden Bezeichnung „Stummfilm“ (denn der Roman ist nicht stumm), mit in seinem Titel trägt - um auch diese Grenze zwischen den Medien mit in Frage zu stellen. Nebenbei bemerkt, hat Hoppes Roman recht: Harald Welzer hat gezeigt, „daß die neuronalen Verarbeitungssysteme für visuelle 126 Literatur interpretieren <?page no="127"?> Perzeptionen und für phantasierte Inhalte sich überlappen“ (Welzer 2005, 39), mit anderen Worten: Was wir uns vorstellen, ist für das Gehirn zunächst so real wie das, was wir mit den Augen sehen. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen Literatur und Film, vor allem in ihren jeweiligen Techniken, die Konsequenzen für die Interpretation haben. Darauf wird das nächste und letzte Kapitel eingehen. 127 Merkmale der Literatur der Gegenwart: Textbeispiele von Elfriede Jelinek und Felicitas Hoppe <?page no="129"?> Filme interpretieren Besonderheiten des Mediums Film Literatur besteht aus schriftsprachlichen Zeichen, manchmal ergänzt durch typographische Besonderheiten, Zeichnungen oder andere Abbildungen. Literatur kann auch Teil anderer Medien oder medialer Darstellungsformen werden: als Netzliteratur, als Hörbuch, als Hörspiel oder durch Dramati‐ sierungen etwa von Romanen für die Bühne. Das Spektrum reicht von einfachen Übertragungen in einen anderen Kanal, etwa beim Hörbuch, bis zu Übersetzungen in die Codierungen des anderen Mediums, etwa bei der Dramatisierung oder der Literaturverfilmung (vgl. Neuhaus 2008), bis hin zu einer Adaption ‚nach Motiven von‘. Schon die möglichst direkte Über‐ tragung in ein anderes Medium kann die Wirkung entscheidend verändern, wie bei dem Hörbuch von Timur Vermes’ Bestseller-Roman Er ist wieder da (2012) über die Rückkehr von Adolf Hitler in das Jahr 2011, das von dem Schauspieler Christoph Maria Herbst eingelesen wurde, der - als glänzender Stimmenimitator - Modulation und Akzent des Diktators auf karikierende Weise nachmacht. Diese Möglichkeit, die Sprache einer Person zu imitieren und zu komisieren, hat die gedruckte Literatur nur in sehr begrenzter Weise durch phonetische Anpassungen von Rechtschreibung und Syntax. Die Verfilmung des Romans von 2015 unter der Regie von David Wnendt geht wieder andere, vergleichsweise ernstere Wege der „Übersetzung“ (zu dem Begriff in diesem Kontext vgl. etwa Bohnenkamp 2005, 22 ff.) der literarischen Vorlage in das Medium (Spiel-)Film. Hitler wird von Oliver Masucci gespielt und Herbst ist in einer kleineren Rolle zu sehen. Auch die Bühnenfassung von Uwe Hoppe für die Uraufführung am 12. Februar 2016 im Theater der Altstadt in Stuttgart hat wieder andere Akzente gesetzt und die Vorlage transformiert, um erstens die besonderen Codes des anderen Mediums möglichst optimal zu nutzen und zweitens den literarischen Text mit Hilfe der Transformation auf eine eigene Weise zu interpretieren. Jede Übersetzung in ein anderes Medium ist also immer eine Interpretation, die sich zwischen zwei Polen bewegt: Sie kann versuchen, die im Text angelegten Bedeutungen möglichst ‚originalgetreu‘ mit den Codierungen des eigenen Mediums - soweit möglich - zu reinszenieren, oder sie kann <?page no="130"?> den Text zum Ausgangspunkt der Realisierung eines eigenen künstlerischen Konzepts nehmen. Populäre Rufe nach einer möglichst werkgetreuen Adaption literarischer Texte vergessen häufig, dass die Interpretationen dieser Texte immer durch Zeit und Kultur geprägt sind, auch wenn es durchaus Gründe geben kann, Ver‐ änderungen gerade nicht zu wollen. So hat es beispielsweise 2013 den Versuch einer - schließlich nicht eingereichten - Petition mit dem Titel „Erhalt der klas‐ sischen Inszenierungen von Hänsel und Gretel und La Boheme am Theater Wies‐ baden“ gegeben, in der Argumente unter Pro und Contra ausgetauscht wur‐ den (URL: www.openpetition.de/ petition/ argumente/ erhalt-der-klassischeninszenierungen-von-haensel-und-gretel-und-la-boheme-am-theater-wiesb adenb, abgerufen am 06.02.2022). Gemeint sind die Oper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck, das Libretto stammt von seiner Schwester Adelheid Wette, nach dem gleichnamigen Märchen aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sowie La Bohème von Giacomo Puccini. In einem Kommentar für die Beibehaltung der bisherigen Aufführungspraxis heißt es: Meine Geschwister und ich, dann unsere Kinder und inzwischen unsere Enkel freuen sich das ganze Jahr auf dieses traditionelle Theater zu Weihnachten. Die Inszenierung mag zwar 30 J. alt sein, ist aber keineswegs antiquiert. Man muss nicht alles und jedes auf Teufel komm raus modernisieren ! [sic] Die Vorstellungen sind lange im Voraus ausverkauft, was für diese Inszenierung spricht., [sic] es könnten noch viel mehr Aufführungen gespielt werden, die in der Weihnachtszeit das Theater für Kinder und ihre Familien zum Erlebnis werden lässt. Tradition hat auch ihren Platz. Dagegen wird u. a. festgestellt: Es ist meines Erachtens ziemlich erbärmlich, durch eine Petition Zensur auf das Kulturleben ausüben zu wollen. Abgesehen davon, dass ich es auch pädagogisch für sinnvoller erachte, mehr Aktualität und Modernität in die Spielpläne zu brin‐ gen, auch um für heutige Kinder und Jugendliche Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen und nicht dem ewig gestrigen hinterherzuschmachten. Wenn diese Werke seit bisher fast 30 Jahren im Spielplan stehen, ist es höchste Zeit, diese Werke rauszunehmen, um Platz für Neues zu schaffen. Eine Inszenierung ohne unabhängige Regie ist langweilig und auch überflüssig. Die Petition wurde vielleicht auch deshalb nicht eingereicht, weil sie un‐ vereinbare Intentionen der Inszenierung verhandelt, die letztlich nur von 130 Filme interpretieren <?page no="131"?> den Verantwortlichen für das Theaterprogramm zu lösen sind. Für beides kann es gute Gründe geben, für unterhaltsame Aufführungen ohne einen besonderen künstlerischen Anspruch (der über die möglichst genaue Rekon‐ struktion einer früheren Aufführungspraxis hinausgeht), etwa um Kindern und Jugendlichen einen ersten Zugang zur kanonisierten Hochkultur zu ermöglichen; ebenso für ein künstlerisches Projekt, das höhere Ansprüche an das Publikum stellt und dessen Verständnis für künstlerische Prozesse fordert, dabei im besten Fall auch schult. Letztlich ist mit dem in der Petition verhandelten Gegensatz genau jene Crux der Kultur bezeichnet, für die bisher keine Lösung gefunden worden ist und mit der alle Kulturschaffenden und Kulturvermittelnden umgehen müssen: Wie lassen sich Unterhaltung und künstlerischer Anspruch verbinden? Eine künstlerische Leistung wird seit der Spätaufklärung mit dem An‐ spruch verbunden, für eine (immer auch gesellschaftspolitisch gedachte) Bildung zu sorgen, im Sinne einer bestmöglichen Ausbildung der eigenen individuellen Fähigkeiten im Austausch mit anderen. Dies gilt seither als Grundlage zivilisatorischen Fortschritts. Wilhelm von Humboldt hat ein entsprechendes Bildungsprogramm zur Basis universitärer Bildung gemacht - bis es durch ‚Kompetenz‘ als neuer Leitbegriff abgelöst wurde, ein Begriff, der mehr auf Ausbildung als auf Bildung zielt. Die Erziehung junger Menschen zu mündigen Bürger*innen eines demokratischen Gemeinwesens ist ohne Bildung aber nicht zu haben und das hat auch Konsequenzen für die Konzepte von Kunst. Um es mit Hans Robert Jauß zu sagen: „Aus alledem ist zu folgern, daß die spezifische Leistung der Literatur [und der Kunst] im gesellschaftlichen Dasein gerade dort zu suchen ist, wo Literatur nicht in der Funktion einer darstellenden Kunst aufgeht“ ( Jauß 1970, 207). Den Unterschied zwischen Unterhaltung und [Literatur als] Kunst hat Jurij Lotman illusionslos beschrieben: Der Leser ist daran interessiert, die notwendige Information mit dem geringsten Aufwand an Mühe zu erlangen (der Genuß der Verlängerung der Mühe ist der typische Autor-Standpunkt). Wenn daher der Autor bestrebt ist, die Anzahl der Kodesysteme und die Kompliziertheit ihrer Struktur zu erhöhen, so ist der Leser geneigt, sie auf das, wie es ihm scheint, ausreichende Minimum zu reduzieren. (Lotman 1993, 418 f.) Jede Avantgarde und jedes neue Medium, zuletzt das Web 2.0, wird mit der Hoffnung begrüßt, den „Graben“ zwischen der Unterhaltungs- und ‚elitären‘ Kunst zu ‚schließen‘ (vgl. Fiedler 1994) und zugleich im skizzierten Sinn 131 Besonderheiten des Mediums Film <?page no="132"?> gesellschaftlich bildend zu wirken. Am ehesten vermag dies auch heute vielleicht immer noch der Film, der grenzüberschreitende Breitenwirkung und hohe Ansprüche an künstlerische Qualität in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert. Alfred Hitchcock sah diese Möglichkeit - und hatte damit Erfolg; sein Rezept lautete: „Sie müssen Ihre Filme entwerfen, wie Shakespeare seine Stücke baute, fürs Publikum“ (Truffaut 2003, 276). Und er kannte die potentiell grenzüberschreitende Wirkung: „Ein Film geht durch die ganze Welt“ (Truffaut 2003, 312). Deutungsoffenheit ist nicht nur ein konstitutives Merkmal von Literatur und Film, wenn sie zur Kunst gehören wollen; sie ist auch eine Notwendig‐ keit, wollen Texte und Filme überhaupt von Personen unterschiedlicher historischer, sozialer und ökonomischer Hintergründe rezipierbar sein. Dass dabei literarische Texte und Filme wieder selbst zum Anlass eigenständiger künstlerischer Projekte werden, ist ebenfalls keine Besonderheit. So ist im historischen Rückblick immer wieder zu beobachten, dass Stoff-Tradi‐ tionen entstehen. Faust oder Aschenputtel sind nicht nur Werktitel und Figurennamen, die dahinterstehenden Konzepte haben in der Literatur- und Filmgeschichte der Welt figuren- und handlungsprägend gewirkt. Mediale Realisierungen als besonders bedeutsam angesehener, zugleich auch über längere Zeit populärer Vorlagen kann es viele geben, abhängig von künstlerischen Ambitionen, den bisherigen Transformationen etwas Neues hinzuzufügen, und je nach Aneignung durch eine neue Generation oder einen anderen kulturellen Kontext. Ein Beispiel wären die zahlreichen Verfilmungen von William Shakespeares Dramen, vor allem Romeo und Julia (1597), in unterschiedlichen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten, die dann auch wieder auf frühere Realisierungen des Stoffes reagieren - der bereits bei Shakespeare die Bezugnahme auf eine ältere Stofftradition war (vgl. etwa Gotto 2005). Das Medium Film mit seiner eigenen „Filmsprache“ (Bienk 2008) bietet zahlreiche Möglichkeiten des Zitats und die sogenannte Literaturverfilmung ist nur eine von vielen, wenn auch eine sehr variantenreiche (vgl. Neuhaus 2008). Allerdings ist es beim näheren Hinsehen überraschend, wie viele der sogenannten Spielfilme auf eine literarische Vorlage, meist einen Roman, zurückgehen, wobei oftmals die Vorlagen weniger bekannt sind als die Filme. Das Medium Film hat im Laufe des 20. Jahrhunderts dem Medium Literatur den Rang abgelaufen, es werden mehr Spielfilme und Serien konsumiert als Romane und Erzählungen gelesen - von lyrischen und Dramen-Texten ganz zu schweigen, die kaum noch gekauft und gelesen 132 Filme interpretieren <?page no="133"?> werden, es sei denn in den Bildungseinrichtungen. Die Popularität des Films hängt auch damit zusammen, dass Menschen vor allem visuelle Wesen sind und dass das Sehen keine besondere Kulturtechnik ist wie das Lesen, die bewusst erlernt werden muss. Sehen und Hören sind Fähigkeiten, die sich so früh in der Entwicklung ausbilden, dass sie wie selbstverständlich wirken. Das macht es andererseits auch schwieriger, die eigenen Sehgewohnheiten zu hinterfragen und zu erkennen, wenn Filme diese Sehgewohnheiten herausfordern, etwa wenn sie mit ihnen spielen. Deshalb hat sich das Medium Film immer auch besonders dafür geeignet, Zuschauer*innen zu manipulieren. In der NS-Zeit beispielsweise sollten die ‚Dokumentarfilme‘ Leni Riefenstahls die Überlegenheit des nationalso‐ zialistischen Deutschlands visuell in Szene setzen, Komödien sollten für gute Stimmung in finsterer Zeit sorgen und Propagandafilme wie Kolberg (1945) unter der Regie von Veit Harlan sollten den Durchhaltewillen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg stärken. Ebenfalls Regie führte Harlan bei dem antisemitischen Spielfilm Jud Süß (1940), der mit zur Rechtfertigung des Holocaust beitragen sollte. Auf der anderen Seite finden sich in ‚geschlos‐ senen Gesellschaften‘ immer wieder auch Filme des (zensurbedingt eher gemäßigten) Widerstands, etwa der in der DDR gedrehte und verbotene Spielfilm Spur der Steine (1966). Regisseur Frank Beyer schrieb mit Karl Georg Egel das Drehbuch, nach einer Romanvorlage von Erik Neutsch. Kurz nach der Uraufführung wurde der Film wegen ‚antisozialistischer Tendenzen‘ aus dem Programm genommen und erst im Oktober 1989 wieder öffentlich gezeigt. Die ideologische Indienstnahme des Films, insbesondere des Spielfilms, hat schon Siegfried Kracauers berühmte, zunächst auf Eng‐ lisch erschienene Studie Von Caligari zu Hitler aus dem Jahr 1947 gezeigt (Kracauer 1984). Zwar können die so eingängig wirkenden Filme eine viel größere Reich‐ weite haben, jedoch ist der Aufwand der Herstellung um ein Vielfaches höher. Ein eindrucksvoller Hinweis auf die Komplexität der Codierung des Mediums Film ist immer der Abspann, in dem nachgewiesen wird, wie viele Menschen - größtenteils Spezialist*innen - daran beteiligt waren. Dies bedeutet auch, dass die Herstellung (abgesehen von den hinzukommenden technischen Voraussetzungen der Verbreitung) von Filmen vergleichsweise kostspielig ist (vgl. Monaco 2005, 30). Ein Roman lässt sich neben einer beruflichen Tätigkeit und in wenigen Monaten schreiben und er kann dennoch ein weltweiter Bestseller werden. Filme, die größeren Erfolg haben wollen, setzen das Wissen und die Beteiligung Vieler voraus, die in der Regel davon leben (müssen) 133 Besonderheiten des Mediums Film <?page no="134"?> und nicht als Filmemacher*innen an Feierabenden oder am Wochenende einem Hobby nachgehen. Deshalb sind Filme, wenn sie nicht durch die Filmförderung (die es z. B. in Deutschland und Österreich gibt) subventioniert werden, zum Erfolg verdammt (vgl. etwa Monaco 2005, 35). Dennoch gibt es Filmemacher*innen, die so bekannt sind wie berühmte Autor*innen, wobei es sich leider fast ausschließlich um Filmemacher handelt. Die Filmbranche ist noch immer viel stärker männlich dominiert als der Literaturbetrieb. Herausragende Filmemacherinnen gibt es wenige und sie sind bis heute eher die Ausnahme, die die Regel bestätigen, dass an der Spitze des Filmgeschäfts Frauen so gut wie keine Chance haben. Zu diesen Ausnahmen zählt etwa, mit Blick auf den deutschsprachigen Film, Doris Dörrie, die auch als Prosaautorin einen gewissen Bekanntheits- und Akzep‐ tanzgrad erreichen konnte. Eine bemerkenswerte Ausnahme im weiterhin global dominanten US-amerikanischen Film war es, dass die Verfilmung von Bret Easton Ellis’ Erfolgs- und Skandalroman American Psycho von 1991 einer Regisseurin, Mary Harron, anvertraut wurde. Die Verfilmung kam 2000 in die Kinos und ihre Kritiken sind ausgesprochen wertschätzend. Die Romanvorlage galt als unverfilmbar, weil immer wieder seitenlang männli‐ che, oft sexuelle Gewalt bis hin zu Mord und Zerstückelung geschildert wird. Der Film deutet dies alles nur an und arbeitet dennoch die für den Roman zentrale Kritik an der medien- und markenfixierten Oberflächlichkeit einer jungen Wohlstandsgeneration heraus; zugleich arbeitet er, einerseits wie der Roman und andererseits natürlich auf filmische Weise, mit Ironie, weil er typische Klischees von ‚Männlichkeit‘ visuell zuspitzt. Man (! ) kann aber insgesamt davon ausgehen, dass durch die „männliche Herrschaft“ (Pierre Bourdieu) auch im Filmgeschäft zahlreiche Talente ungenutzt bleiben - eine katastrophale Situation für den künstlerischen Film und die Kunst im Allgemeinen. Die „faszinierend komplexe Technik“ (Monaco 2005, 74) des Mediums Film schließt Musik und Geräusche, gesprochene Sprache, Kameraperspek‐ tive, Schnitt und vieles andere mehr mit ein - Codierungen, die oft gleichzei‐ tig ablaufen müssen, um den gewünschten optischen und akustischen Effekt zu erzeugen. Von der Auswahl des Filmmaterials bis hin zu Spezialeffekten gilt es viele Entscheidungen zu treffen, die den Film zu einem Gesamtkunst‐ werk werden lassen. Der Begriff des Kunstwerks wird hier offen verwendet, denn auch Dokumentarfilme können künstlerischen Charakter haben; al‐ lerdings soll es bei den beiden gewählten Beispielen um einen Kurzfilm und einen Spielfilm gehen, die wie ein Erzähltext fiktional sind, also eine 134 Filme interpretieren <?page no="135"?> fiktive Geschichte erzählen. Beide Filmemacher gelten als Autorenfilmer, das heißt, dass sie neben der Regie den gesamten Entstehungsprozess des Films maßgeblich bestimmen, vom Drehbuch bis zum Schnitt sind sie in jede Entscheidung involviert. Jeder ihrer Filme trägt ihre unverwechselbare „Handschrift“ (Merschmann 2000, 7). Zum Beispiel: Tim Burtons Kurzfilm Frankenweenie (1984) Tim Burton zählt zu den angesehensten Regisseuren Hollywoods, obwohl oder gerade weil seine Filme nicht den gängigen Erwartungen entspre‐ chen und er „nicht zu den Marionetten irgendwelcher Studiogewaltigen“ (Merschmann 2000, 8) gehört. Das mag allerdings auch einer Stilisierung des Regisseurs zu einer der „Ausnahmen“ (Merschmann 2000, 7) Hollywoods geschuldet sein, obwohl er in eine Reihe von Autorenfilmer*innen gehört, die aus heutiger Sicht den Filmkanon ausmachen - also zu jenen, die die Regeln des Films neu definiert haben und die somit zum heutigen Mainstream beigetragen haben. Aus einer solchen Perspektive gehören auch Orson Welles und Alfred Hitchcock zu den Ausnahmetalenten, weshalb Produktionen der beiden - Citizen Kane (1941) und Vertigo (1958) - in der renommiertesten Kritiker*innenliste der besten Filme aller Zeiten, veröffentlicht von der französischen Kinozeitschrift Cahiers du cinéma, die obersten Plätze belegen (vgl. etwa Reichart 2013). Ihr Weg von der Avant‐ garde zur arrivierten Avantgarde war nicht leicht und wird durch ihren heutigen Klassiker-Status verdeckt. Die Kritiker*innenliste der besten Filme aller Zeiten von Theyshootpictures listet Citizen Kane auf Platz 1 und Vertigo auf Platz 2, North by Northwest kommt immerhin auf Platz 58 von 20.430 der bei der Auswahl berücksichtigten Produktionen (Theyshootpictures 2021). Filmemacher wie Burton, Welles und Hitchcock vermochten oder vermögen es, sowohl ein breites Publikum als auch Expert*innen anzusprechen. Sie setzen auf Handlungsspannung und ästhetische Spannung gleichermaßen, ihre Produktionen sind unterhaltsam und innovativ zugleich. Die rund 30 Minuten dauernde, als Vorfilm vom Disney-Konzern produ‐ zierte und dann doch nicht als solcher im Kino gezeigte Burton-Produktion Frankenweenie (1984) gilt als sein „Gesellenstück“, das „seinen Ruhm begrün‐ den sollte“ (Merschmann 2000, 19). Es war die angesprochene Kombination aus Spannung, Unterhaltung, intellektuellem Anspruch und Innovation, die einerseits zur Bewertung „einige Szenen könnten für Kinder ungeeignet 135 Zum Beispiel: Tim Burtons Kurzfilm Frankenweenie (1984) <?page no="136"?> sein“ und damit zu einem faktischen „Ausschluß von Publikum“, anderer‐ seits aber auch dazu führte, dass der Kurzfilm „von unzähligen Festivals ausgezeichnet“ (ebd.) wurde. Erzählt wird die Geschichte des US-amerikani‐ schen, zehnjährigen Jungen Victor Frankenstein und seines Hundes Sparky (dt. ‚Funken sprühend‘), der am Anfang beim Spielen von einem Auto überfahren und dann von Victor mittels Elektrizität wiederbelebt wird. Die Nachbarn steigern sich so in ihre Angst vor dem angeblichen Monster hinein, dass sie ihn in eine Miniatur-Windmühle auf einem verlassenen Minigolfplatz jagen und einer von ihnen aus Versehen die Windmühle an‐ zündet, in die Victor seinem Hund nachgelaufen ist. Sparky rettet Victor aus den Flammen, wird aber selbst von herabfallenden Trümmern erschlagen (Burton 2012a, 0: 32: 26ff.) - nur, um von den besänftigten Nachbarn, die das friedliche und lebensrettende Naturell des Hundes erkannt haben, durch das Verbinden ihrer Autobatterien mit dem Hundeleichnam erneut reanimiert zu werden. Der zum zweiten Mal von den Toten wiederauferstandene Sparky verliebt sich sogleich in einen Pudel - und sprüht dabei, im Wortsinn und seinem Namen alle Ehre machend, Funken (Burton 2012a, 0: 34: 44). Der Film bricht eine Lanze dafür, niemanden und nichts zu verurteilen, nur weil etwas ‚anders‘ ist als das, was man oder frau gewohnt ist. Ironischerweise ist der Film aber gerade deshalb als ‚weniger geeignet‘ für Kinder eingestuft worden. Insofern legt der Film den Finger in die Wunde einer sich offen und tolerant gebenden US-amerikanischen Gesellschaft, die hinter den Kulissen dem ‚Fremden‘ gegenüber feindlich eingestellt ist und intolerant auf jede Abweichung von Durchschnittsnormen reagiert. Die Ironie könnte kaum böser sein: Der ‚Held‘ ist (auf der Ebene der Repräsentation) kein Mensch, sondern ein Hund, der gehetzt wird, nur weil er ‚anders‘ ist als andere Hunde. Menschliche Figuren hingegen sind es, die falsches Heldentum zeigen, indem sie das, was sie nicht kennen, ausgrenzen und sogar töten. Hollywood- und kindgerecht wird am Schluss zwar alles gut, aber die Kritik bleibt bestehen, denn wer garantiert dafür, dass es immer so sein wird? Burton, zu dessen Werk auch ungewöhnliche Animations- oder Pup‐ penfilme zählen, dreht hier mit Menschen und in Schwarzweiß und er verwendet stark stilisierte Settings, die an Bühnenbilder erinnern und auf die Zeit des Stummfilms und des frühen Tonfilms anspielen. Sein Film ist voller Verweise auf die Monster-Filme genau dieser Zeit, allen voran natürlich auf James Whales Frankenstein-Verfilmung aus dem Jahr 1931 mit Boris Karloff in der Rolle des Monsters, die Verfilmung eines der berühmtesten Romane der Weltliteratur und zugleich das Werk einer Autorin: Mary Shelleys 136 Filme interpretieren <?page no="137"?> Frankenstein; Or, The Modern Prometheus (1818). Dazu kommen zahlreiche weitere Anspielungen auf die Gruselfilmtradition, etwa im metafiktionalen Anfang - Victor zeigt seinen Eltern und Freund*innen einen selbstgedrehten Kurzfilm, in dem ein unbekümmert-liebenswerter Sparky, verkleidet als Dinosaurier (Burton 2012a, 0: 06: 36ff.), seine Umwelt in Angst und Schrecken versetzt. Victors Vater kommentiert den Film mit den Worten: „My son is another Hitchcock“ (Burton 2012a, 0: 06: 46ff.). Der (Vor-)Film im (Vor-)Film ist ein Verweis auf den Konstruktionscharakter des Films (und seine ur‐ sprüngliche Bestimmung) ebenso wie eine Vorausdeutung auf das weitere Geschehen und, durch Übernahme zentraler Motive, eine Anspielung auf Monster-Filme wie Jack Arnolds Creature from the Black Lagoon von 1954 (vgl. Merschmann 2000, 20). Im Film selbst kommen alle möglichen Zitate vor, auch auf den Produzenten Disney mit einer Müsli-Packung, auf der Donald Duck als Name zu lesen und sein Entenkopf zu sehen ist (Burton 2012a, 0: 18: 58). Burton spielt mit den Genre-Konventionen, etwa wenn er nach Sparkys tödlichem Unfall mit dem Auto Victor aus dem Fenster schauen lässt und es so aussieht, als würde von außen der Regen die Scheibe hinunter strömen (Burton 2012a, 0: 09: 51ff.) - eine beliebte filmische Visualisierung von Tränen und Trauer. Nach einem Schnitt sehen die Zuschauer*innen, dass draußen die Sonne scheint und Victors Mutter, in Gedanken verloren, einen Gartenschlauch so hält, dass er die Scheibe nass macht. Zu den spielerischen Übertreibungen gehört die stark stilisierte Gestaltung des Tierfriedhofs mit dem Grabhügel von Sparky, den ein Kreuz aus steinernen Knochen krönt und über dem Blitz und Donner zu sehen und zu hören sind (Burton 2012a, 0: 15: 07), als Victor nachts dort auftaucht, um den toten Tierkörper für sein Experiment auszubuddeln. Wie Boris Karloff als Monster hat der wiederbelebte Sparky Schrauben links und rechts am Hals. Zu den komisierenden Effekten gehört, dass aus den Nähten des zusammengeflickten Hundes Wasser spritzt, wenn er trinkt (Burton 2012a, 0: 20: 19). Die Miniaturwindmühle vom Schluss ist ebenfalls ein verfremdetes Zitat (neben vielen anderen) aus Whales Verfilmung - an deren Schluss das Monster in einer brennenden Mühle vermutlich umkommt. Anders als seine zitierten Grusel-Vorläufer stellt Burtons Film seinen Kon‐ struktionscharakter aus und nutzt die zahlreichen Zitate für die Erzeugung von Komik, so dass auch das Happy End nicht aufgesetzt wirkt, sondern sich zwanglos aus der lustig-makabren Zitat-Revue ergibt. Die kindlichen Zuschauer*innen werden das Spiel mit den Genrekonventionen und mit dem 137 Zum Beispiel: Tim Burtons Kurzfilm Frankenweenie (1984) <?page no="138"?> Medium selbst vermutlich kaum erkennen oder wenig beachten, auch vielen Erwachsenen dürfte es so gehen. Es ist aber auf jeden Fall Aufgabe von Ex‐ pert*innen, solche Anspielungen wahrzunehmen, weil sie einer Produktion den künstlerischen Anspruch verleihen. Die Zitate und Verfremdungen von bekannten Mustern sind es, die Fragen nach den Funktionen und Wirkungen nicht nur von Filmen, sondern des Visuellen insgesamt aufwerfen. Filme wie Frankenweenie stimulieren nicht nur durch visuelle Reize Emotionen und lenken diese in bestimmte Richtungen. Die Funktion der stilistischen Mittel ist gleichzeitig auch selbst Thema. Burton arbeitet somit in seinem Kurzfilm mit ähnlichen Mitteln wie Hoppe in ihrem Roman Die Nibelungen. Burton hat Frankenweenie 2012 als Animations- und Puppenfilm reanimiert - so, wie Victor dies mit Sparky getan hat. Burton wird der Gedanke gefallen haben, aus einem totgeglaubten Stoff einen höchst lebendigen Blockbuster zu machen. Der technisch hochgerüstete IMAX-3D Stop-Motion-Film ist wieder in Schwarzweiß gehalten, passend zum künstlerischen Konzept, aber unüblich für zeitgenössische Sehgewohnheiten. Der Vorspann kann als später Triumph gelesen werden: Wie üblich bei Produktionen des Konzerns wird eine Kamerabewegung aus dem Himmel herab in Richtung des Disney-Schlosses animiert, wie üblich gibt es ein Feuerwerk über dem ikonographischen Schloss (dessen Vorbild Neuschwanstein ist) mit fröhlicher Musikbegleitung - aller‐ dings verändert sich plötzlich die Atmosphäre, die anfangs noch vorhandenen Farben verschwinden und weichen einer schwarzweißen Nacht mit Blitz und Donner, die das Schloss in ein unheimliches fahles Licht taucht, begleitet von düsteren (für Gruselfilme charakteristischen Orgel-)Klängen (Burton 2012b, 0: 00: 22ff.). Burton hat es nach fast drei Jahrzehnten erreicht, dass sich seine Geschichte aus einem verhinderten Vorfilm in einen Hauptfilm des Disney- Konzerns verwandelt hat. Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) Über keinen anderen Regisseur dürfte es so viel Literatur geben wie über Alfred Hitchcock, und das, obwohl Hitch, wie er von Familie und Freunden liebevoll genannt wurde (Chandler 2005, 29), nur einmal beinahe für eine Produktion, für Rebecca von 1940 (vgl. auch Neuhaus 2021, 233-241), einen Oscar erhielt; die Statuette für den ‚besten Film‘ ging an den Produzenten statt an den Regisseur (Truffaut 2003, 121). Neben Orson Welles dürfte es 138 Filme interpretieren <?page no="139"?> aber keinen anderen Regisseur geben, dessen Filmsprache prägender für die Entwicklung des Spielfilms geworden ist. Hitchcock „schuf hochrangige Filmkunstwerke […], die aufgrund ihrer ästhetischen Perfektion zu ‚Klas‐ sikern‘ des Kinos wurden“ ( Jendricke 1993, 95). Auf seine künstlerischen Maßstäbe ist Hitchcock in einem buchlangen Interview mit dem französi‐ schen (späteren Star-)Regisseur François Truffaut eingegangen, dabei hat er etwa bemerkt: „Es entsprach meiner Neigung, mit Gegensätzen zu arbeiten, gegen die Tradition zu kämpfen und die Klischees“ (Truffaut 2003, 223). Er hat auch immer wieder den Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm betont und für seine Arbeit festgehalten: „Die Anordnung der Bilder auf der Leinwand, die etwas ausdrücken soll, darf nie von den tatsächlichen Gegebenheiten abhängig gemacht werden. Unter keinen Umständen“ (Truffaut 2003, 258). Zu Hitchcocks „Kunst der Inszenierung“ (Truffaut 2003, 10) hat Filmaus‐ statter und Mitarbeiter Robert Boyle festgestellt: „‚Er sucht immer nur den visuellen Ausdruck, und so etwas wie eine zufällige Einstellung gab es bei ihm nicht‘“ (Spoto 1983, 487). Bernhard Jendricke hat ein Kapitel seiner Biographie überschrieben mit „Meisterwerke in Serie“ ( Jendricke 1993, 95). Eigentlich könnte man diese Einschätzung über alle von Hitchcock nach eigenen Vorstellungen gestalteten Filme setzen, denn selbst jene, die in der ersten Zeit nach ihrer Erstaufführung als Misserfolge galten, werden heute oft als Beispiele für besonders innovative Themen und Techniken diskutiert. Die Liste der Filme Hitchcocks ist lang und viele davon sind unter Cineasten bis heute elementarer Bestandteil des Filmkanons, wohl auch deshalb fällt eine Auswahl schwer. Merkwürdigerweise verzichtet Thilo Wydra (2010), der vor allem nach Filmen gliedert, auf ein Kapitel zu North by Northwest (1959), obwohl gerade dieser Film, neben Psycho (1960) und wenigen anderen, zu den erfolgreichsten Produktionen des Regisseurs gehört (vgl. Patalas 1999, 125 f.). Außerdem besticht er mit der - neben der berüchtigten Duschszene von Psycho und der Vögel-Versammlungs-Szene aus The Birds (1963) - mit der wohl bekanntesten Filmsequenz aus allen seinen Filmen, eine der längsten Sequenzen der Filmgeschichte überhaupt: Roger Thornhill (Cary Grant) wartet auf einer einsamen Straße, die durch Felder führt, auf den Bus und wird von einem Flugzeug angegriffen, er muss um sein Leben laufen (vgl. Truffaut 2003, 248 f.). Als die Produzenten der später so erfolgreichen James-Bond-Filme einen Darsteller für die Figur des britischen Spions aus Ian Flemings Romanen suchten, kamen sie zuerst auf Cary Grant zu, der jedoch abwinkte - er fand, er sei für die 139 Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) <?page no="140"?> Rolle zu alt (Macintyre 2008, 202). North by Northwest gilt als Vorbild für die Bond-Filmreihe (vgl. Truffaut 2003, 18; Chapman 2007, 46 f.). Deren Produzenten haben auf vielfache Weise von Hitchcock gelernt, etwa auch in der Auswahl der Gegenspieler der Hauptfigur, über die Hitchcock gesagt hat: „Je gelungener der Schurke ist, umso gelungener ist der Film. Das ist die große Kardinalregel“ (Truffaut 2003, 187). Roger Thornhills Antago‐ nist Phillip Vandamm wird von James Mason gespielt, einem der großen Charakterdarsteller des US-amerikanischen Kinos und wie Hitchcock und Grant in Großbritannien geboren. Die internationale Erfahrung dürfte zur besonderen Qualität ihrer Arbeit beigetragen haben. Als „Spezialist für Suspense und Thriller“ ( Jendricke 1993, 57) bedient der Regisseur stets die Bedürfnisse einer breiten Rezipient*innenschicht nach Handlungsspannung und Unterhaltung. Zugleich vermag er es aber auch, durch innovative Mittel Kritiker*innen zu begeistern. Berühmt geworden ist der Begriff des „MacGuffin“, mit dem Hitchcock eine „Leere“ bezeichnet hat (vgl. Truffaut 2003, 126), die einer falschen Fährte entspricht, einem Gegenstand, einem Gespräch oder einer Handlung, um den erwähnten ‚Suspense‘ zu erzeugen - auch ein Begriff, der durch Hitchcock neu definiert und mit Bezug auf sein filmisches Werk in besonderer Weise gebraucht wurde und wird. Ihn mit ‚Spannung‘ zu übersetzen reicht nicht aus und ‚Nervenkitzel‘ würde zu klischeehaft klingen, daher bleibt der Begriff in Hitchcocks Verwendung bisher auch unübersetzt. Den Zusammenhang hat der Regisseur selbst im Gespräch erklärt und auf North by Northwest bezogen, freilich in seiner typisch selbstironischen Art, die in ihrem „Under‐ statement“ (vgl. Truffaut 2003, 224) immer auch auf seine britische Herkunft verweist, durch die sich zumindest teilweise der besondere, reflexive Humor seiner Filme erklären lässt: Mein bester MacGuffin - darunter verstehe ich: der leerste, nichtigste, lächer‐ lichste - ist der von North by Northwest. Das ist ein Spionagefilm, und in der Geschichte geht es nur um eine einzige Frage: Was suchen die Spione? In der Szene auf dem Flugfeld von Chicago erklärt der CIA-Mann Cary Grant alles. Der fragt dann im Hinblick auf James Mason: „Und was macht der? “ Darauf antwortet der andere: „Sagen wir Import-Export.“ „Ja, aber was verkauft er denn? “ „Na, eben Regierungsgeheimnisse.“ Sehen Sie, da haben wir den MacGuffin, reduziert auf seinen reinsten Ausdruck: nichts. (Truffaut 2003, 127) Freilich hat Hitchcock selbst bei Filmemachern gelernt, die ihn geprägt haben und die für die Filmgeschichte genauso prägend waren - etwa Fritz 140 Filme interpretieren <?page no="141"?> Lang, Friedrich Wilhelm Murnau oder Ernst Lubitsch (vgl. Patalas 1999, 22 f.). Charakteristisch für Hitchcock war eine Offenheit für alles, was ihn künstlerisch weiterbrachte: „Hitchcock widersetzte sich technischen Neuerungen nie“ (Patalas 1999, 38), soweit er sie für seine Arbeit als geeignet ansah, wobei er mit fast allen wichtigen neuen Möglichkeiten zumindest experimentierte. Jean-Luc Godard, ein berühmter französischschweizerischer Regisseur, hat dazu bemerkt, Hitchcock stelle immer wieder unter Beweis, „daß eine technische Neuerung nichts wert ist, wenn ihr nicht auch eine formale entspricht, in deren Schmelztiegel sich das prägt, was man Stil nennt“ (zit. nach Patalas 1999, 114). Das heißt aber nicht, dass er nicht auch ältere Techniken aus Darstellungsgründen wieder einsetzte. Man stelle sich vor, Hitchcock hätte Psycho - wie kurz zuvor North by Northwest - in Farbe gedreht, der Film hätte viel von seiner Wirkung verloren. Umgekehrt hätte zu dem komödiantischen Spionagethriller North by Northwest das Schwarzweiß nicht gepasst. Stilbildend ist beispielsweise auch geworden, dass Hitchcock in den meisten seiner Filme kurz als Statist zu sehen ist: „Seine Auftritte halten das Publikum zur Distanz an gegenüber dem Filmgeschehen; er macht sie vor und bedeutet dem Zuschauer: ‚It’s only a picture‘ - aber auch: ‚a one-man picture‘“ (Patalas 1999, 44). North by Northwest (der deutschsprachige Titel Der unsichtbare Dritte ist ein Beispiel für das ebenso übliche wie anzweifelbare Verfahren in der deutschen Filmwirtschaft, bei der Übersetzung von Titeln vollkommen frei von der Vorlage vorzugehen) „ist die Richtung, in die sich die Protagonisten bewegen: hinaus aus der Ostküstenmetropole in die flache und dürre Landschaft des mittleren Westens“ (Fließ 2005, 461 f.). Der Spielfilm (das Drehbuch schrieb Ernest Lehman, in enger Abstimmung mit dem Regisseur) ist ein „Thriller mit Witz über falsche Identität, politische Verkommenheit, sexuelle Erpressung und über permanente Rollenspiele“, „ein wunderbar ausbalancierter Film, der Hitchcock und dann das Publikum quer durch die USA führte. Drehbeginn war am 27. August 1958 in New York vor den Vereinten Nationen“ (Spoto 1983, 484). Die Szene des finalen Kampfs auf dem Mount Rushmore - der Berg ist ein nationales Monument, weil aus dem Felsen überlebensgroß Köpfe früherer Präsidenten der USA herausprä‐ pariert wurden - bereitete unvorhergesehene Schwierigkeiten, weil eine Drehgenehmigung widerrufen wurde. So mussten die Köpfe im Studio nachgebildet werden (vgl. Spoto 1983, 486). Das im Film neben dem Mount Rushmore gelegene Haus des Schurken ist Fallingwater nachgebildet, ein 141 Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) <?page no="142"?> von dem US-amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright von 1935-39 erstelltes Haus, das zu den bekanntesten Gebäuden der USA gehört. Dass solche Monumente und Gebäude Hauptrollen in dem „Road Movie“ ( Jendricke 1993, 105) spielen, ist kein Zufall, denn der Film ist auch „eine sarkastische Kritik an der amerikanischen Politik und ihren Institutionen: Ein harmloser Bürger wird von den Geheimdiensten skrupellos der Staats‐ räson geopfert“ (ebd.), und das gilt nicht nur für die männliche Hauptfigur - die weibliche muss sich für ‚ihr Land‘ prostituieren, zunächst als Geliebte des Schurken und dann als Verführerin des angeblichen Spions. Als sie sich in ihn verliebt hat, liefert sie ihn dennoch zunächst auf Befehl „dem Verderben“ (ebd.) aus. Es ist das mit Humor und List gegen die Systeme kämpfende Individuum, das allen ein Schnippchen schlägt, sich und die Spionin wider Willen rettet und die dramatische in eine romantische Handlung überführt. Für den psychoanalytisch geschulten Blick des Regisseurs waren „der Liebesakt und der Tod“ (Truffaut 2003, 337) stets nah beieinander. Der zentrale Gegensatz zwischen dem Individuum, das sein Leben frei gestalten will, und den willkürlich auf sein Leben zugreifenden Systemen hätte nicht bildgewaltiger in Szene gesetzt werden können: „Ein Album amerikanischer Monumente, doch nirgendwo findet der Held Unterschlupf. Kein Heim, nirgends“ (Patalas 1999, 126). Die Architektur - die Türme der UNO, die Grand Central Station in New York, der Mount Rushmore, Fallingwater etc. - und ihre Inszenierung sind es, die diesen Gegensatz visuell erlebbar machen. Die kleine, flüchtende Figur muss sich gegen die steingewordene, überlebensgroße Macht einer angeblich freiheitlichen westlichen Welt behaupten. Die „United States Intelligence Agency“ (Hitch‐ cock 2000, 0: 36: 58) - wie das seriös wirkende, polierte silberne Türschild verkündet, ein ironischer Kontrast zur notwendigen Geheimhaltung, zu den menschenverachtenden Umtrieben und ein kaum verfremdeter Verweis auf die Central Intelligence Agency (CIA) - hat kein Problem damit, ihre Hände in Unschuld zu waschen und Thornhill zu opfern, wenn dadurch die eigenen Aktivitäten befördert werden; allen voran der offenbar die Organisation autoritär leitende, nach Bedarf manipulative „Professor“ (Hitchcock 2000, 0: 38: 20ff.). Dabei wird die Hauptfigur keineswegs ohne Ironie gezeichnet, auch sie wird gebrochen, um nicht zu viel Identifikation aufzubauen; dies beginnt bereits beim Namen Roger O. Thornhill: „Thornhill hat eine Null im Namen; ROT, sein Monogramm, bedeutet Unsinn und Fäulnis“ (Patalas 1999, 128; vom engl. ‚to rot‘ = verfaulen). Die Figur spielt selbst damit; als Eve Kendall, 142 Filme interpretieren <?page no="143"?> gespielt von Eva Marie Saint, sie nach der Bedeutung des mittleren Buch‐ stabens des groß auf die Visitenkarte geprägten R - O - T fragt, antwortet sie, es stehe für nichts (Hitchcock 2000, 0: 48: 10). Die Gegensätze, auf die Hitchcock seine Filme baut, werden immer wieder ironisch umgedreht. Moralisch verfault ist nicht die Figur, sondern ihr Umfeld, gegen das sie sich vollkommen unbeirrt und mit Witz behauptet, etwa wenn sie sich schon am Anfang über die Entführer lustig macht (Hitchcock 2000, 0: 06: 29) - eine Eigenschaft, die Cary Grant als Darsteller perfektionierte, die Hitchcock sich zunutze machte und die sich die Macher der James-Bond-Filme abgeschaut haben dürften. Der Film hat unzählige Pointen. Als beispielsweise die Polizisten den knapp dem Tod entronnenen (die Schurken wollten es wie einen Unfall aussehen lassen), gegen seinen Willen unter Alkohol gesetzten Thornhill wegen Trunkenheit am Steuer aufs Polizeirevier bringen, aber ihm seine Geschichte nicht glauben, meint er hilfesuchend: „Somebody call the police“ (Hitchcock 2000, 0: 17: 29). Die Komik wird dabei immer wieder an die Konzeption rückgebunden. Einer der Geheimagenten bringt sie auf den Punkt, als er die dem unwissenden und unfreiwilligen Mitspieler Thornhill zugedachte Rolle kommentiert mit den Worten: „It’s so horribly sad. Why is it I feel like laughing? “ (Hitchcock 2000, 0: 38: 03). Symbolisch lesbar ist das Alias, das sich der Oberschurke gibt - Townsend. Als Thornhill mitten aus Manhattan entführt und in ein außerhalb liegendes Herrenhaus gebracht wird, wird der Name groß links im Bild auf einem Schild gezeigt (Hitchcock 2000, 0: 07: 01). Thornhill hat tatsächlich (das Haus befindet sich in Glen Clove auf Long Island, Hitchcock 2000, 0: 08: 46) das Ende der Stadt erreicht, bevor er weiter aufs Land flüchtet, und er wird, um es mit einer Metapher zu sagen, den Dornenhügel, der ihm den Nachnamen eingetragen hat, erst noch erklimmen müssen. Aber am Ende ist dann alles Roger - auch sein Vorname wird kein Zufall sein, er komplettiert die ins Individuum selbst verlagerten Widersprüche der modernen Gesellschaft. Die Reise durch die verschiedenen Räume und Landschaften der USA, mit der langen Eisenbahnfahrt und den von Horizont zu Horizont reichenden Straßen, verweist auf das Transitorische der gegenwärtigen Existenz, die jederzeit überraschend gefährdet sein kann - ein Zustand, den es auszuhalten und im Idealfall zu meistern gilt. Diese Symbolik hat in der Moderne Tradition: „Wir sitzen alle im gleichen Zug / Und reisen quer durch die Zeit“ (Kästner 1998b, 209), heißt es am 143 Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) <?page no="144"?> Anfang von Erich Kästners allegorischem Gedicht Das Eisenbahngleichnis (1931). Ebenfalls kein Zufall ist es, dass Thornhill Werbefachmann ist. Er ver‐ tritt den schönen Schein der US-amerikanischen Gesellschaft, macht sich zugleich darüber lustig und wird dann auch noch - vorübergehend - sein Opfer. Die Dialoge am Anfang sind reine Komödie, auch um die Fallhöhe zu vergrößern, wenn Thornhill fälschlicherweise - weil er einen Pagen in einer Bar ruft, der gerade den Namen George Kaplan ausgerufen hat - für einen Spion gehalten und von der Gegenseite entführt wird (Hitchcock 2000, 0: 05: 20ff.). Die Filmhandlung beginnt also wie eine Verwechslungskomödie (auf die auch der durchgängige Dialogwitz des Films verweist), vorbereitet und unterstrichen durch das Gespräch mit Thornhills Geschäftspartnern, die er in der Bar trifft. Thornhill meint, er habe seiner Sekretärin vergessen zu sagen, dass sie seine Mutter nicht, wie von ihm aufgetragen, anrufen kann, denn sie spiele Bridge in einer neuen Wohnung ohne Telefon. Einer der Gesprächspartner fragt zurück, wer Bridge spiele: „Your secretary? “ Thornhill antwortet: „No. My mother“ (Hitchcock 2000, 0: 05: 10ff.). Als Thornhill dem Pagen winkt, um ein Telegramm für seine Mutter aufzugeben, kommt es zur Verwechslung. Den Spion George Kaplan gibt es, wie sich herausstellt, aber gar nicht, weil er vom US-amerikanischen Geheimdienst nur erfunden wurde (Hitchcock 2000, 0: 37: 46ff.). Wie alle Filme Hitchcocks ist auch dieser ausgesprochen metafiktional, indem er immer wieder auf seinen eigenen Konstruktionscharakter und damit auf den der Welt verweist, auf die er referiert. Dass alles Erfindung ist, thematisiert bereits Thornhill am Anfang, als er zu seiner Sekretärin sagt, dass es in der Welt der Werbung so etwas wie eine Lüge nicht gebe (Hitchcock 2000, 0: 03: 20). Zuvor hat er ihr einen Brief an eine Geliebte diktiert, der er seine tiefe Zuneigung nur vorspielt, und er hat einem anderen Mann ein Taxi weggeschnappt mit der Begründung, seine Sekretärin sei eine kranke Frau. Die Lüge erweitert sich zur komischen Selbstlüge, wenn Thornhill seiner Sekretärin, weil er sich dick fühlt, aufgibt: „Put a note on my desk in the morning: ‚Think thin‘“ (Hitchcock 2000, 0: 03: 30). Ange‐ sichts des äußerst schlanken Cary Grant lässt sich darin auch Selbstironie des ausgesprochen schwergewichtigen Regisseurs vermuten. Das Schau- Spielen wird im Film immer wieder thematisiert, schließlich spielen sich die Figuren gegenseitig etwas vor. Vandamm lobt sarkastisch Thornhills - den er für Kaplan hält - hervorragende Schauspielkunst, mit der er den Raum wie ein Theater aussehen lasse (obwohl Thornhill ihm gerade hier nichts 144 Filme interpretieren <?page no="145"?> vorspielt), und Thornhill verlangt, freigelassen zu werden, weil er für den Abend Theaterkarten habe (Hitchcock 2000, 0: 10: 03ff.). Wenn wir noch einmal an den Anfang zurückgehen: Bereits der Vorspann hat die Richtung vorgegeben, wenn die hektische Betriebsamkeit der Groß‐ stadt in den Scheiben eines Gebäudes reflektiert wird, ein Gebäude, das zunächst aus Strichen entsteht, die dann mit dem ‚realen‘ Bild eines Gebäu‐ des überblendet werden. Sogar die Titel werden an die schräg verlaufenden Linien des Hochhauses angepasst (Hitchcock 2000, 0: 00: 15ff.). Am Ende des Vorspanns ist der Regisseur in seiner Statistenrolle zu sehen, als er in der hektischen Betriebsamkeit der Großstadt vergeblich versucht, noch in einen Bus einzusteigen - die Tür schließt sich buchstäblich vor seiner Nase (Hitchcock 2000, 0: 02: 02). Metafiktion, Komik und Dramatik gehen von Beginn des Films an Hand in Hand, begleitet durch die ungewöhnliche, dramatisch-peitschende, von Wiederholung gekennzeichnete Musik von Bernard Herrmann (der etwa auch für die Musik zu Psycho verantwortlich zeichnete; ohne seine ausgesprochen moderne Musik hätte die mörderische Duschszene dieses Films nicht ihre Wirkung). Hitchcock kam es folglich weniger auf Realismus als auf die Symbolik an, in dieser Hinsicht wurde North by Northwest als besonders gelungen gefeiert: „Speziell die französische Kritik reagierte enthusiastisch: Gerade weil sich der Film jeder soziologischen oder philosophischen Attitüde enthalte, sei er reinste Metaphysik. Jede Einstellung sei durch unbezwingbare formale Logik und nicht durch persönlichen Geschmack bestimmt“ (Fließ 2005, 462). Das stimmt allerdings nur halb, denn die Symbolik ist immer ‚philosophisch‘, sie ist etwa an soziale oder politische Kontexte rückgekoppelt. So hat Hitchcock über den Schluss des Films, in dem Roger Thornhill seine neue große Liebe Eve zunächst am Mount Rushmore über dem Abgrund festhält, nach oben zieht und dann - Schnitt - plötzlich als seine frischgebackene Ehefrau im Schlafwagen auf sein Bett hochzieht, woraufhin der Zug durch einen Tunnel fährt (Hitchcock 2000, 2: 10: 16ff.), bemerkt, es handele sich um „die impertinenteste Schlußeinstellung, die ich je gemacht habe“ (Truf‐ faut 2003, 137). In den prüden USA durften keine sexuellen Handlungen gezeigt werden, also wählte Hitchcock ein symbolisches Bild: Angesichts der Abfolge der Darstellung des Paares, wie es sich gemeinsam ins Bett legt, und der Tunneleinfahrt steht letztere symbolisch für Geschlechtsverkehr. Die Größe von Zug und Tunnel bilden einen ironischen Kontrast zu dem, was sie symbolisieren, die untermalenden Paukenschläge sorgen für weitere 145 Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) <?page no="146"?> Übertreibung. So wird das Tabu, auf der symbolischen Ebene, zugleich maximal gebrochen und verspottet. An dieser Stelle konnten nur einige, aber hoffentlich zentrale Aspekte der Interpretation des Films herausgearbeitet werden, unter Rückgriff auf die bisherige Forschung und unter Einbeziehung verschiedener Kontexte - von Autorenfilm und Werk, von zeitgeschichtlichen Diskursen und ästheti‐ schen Kategorien. Einer weitergehenden Interpretation, die den Filmverlauf genauer unter die Lupe nehmen und vor allem auch die technischen Merkmale (etwa die Kameraeinstellungen) dabei berücksichtigen würde, wäre es aufgetragen, einzelne dieser oder anderer Aspekte zu vertiefen, auch die Frage nach der in diesem Band immer wieder angesprochenen Zeichnung einer (modernen) Heldenfigur. Thornhill und sein Darsteller Cary Grant stehen für einen Typus des männlichen Alltagshelden, der in einer modernen, komplexen und teils ihm feindlichen Umgebung versucht, das Beste aus allem zu machen. Die Figur ist einerseits gebrochen und wird komisiert, sie ist andererseits aber selbstironisch und Herr der Lage, so aussichtslos diese Lage auch scheinen mag. Andere Filme Hitchcocks führen das Scheitern des Bemühens vor, in der modernen Gesellschaft den Kopf über Wasser zu behalten, nur ein Jahr nach North by Northwest etwa der nicht weniger berühmte und mehrfach erwähnte Film Psycho, wenn Marion Crane ( Janet Leigh) zunächst zur Hauptfigur aufgebaut und dann überraschend erstochen wird. Der patriar‐ chalische Kern von Hitchcocks Werk ist, dass die Frauenfiguren in der Regel die Opfer sind und sich die männlichen Figuren um sie herum gruppieren - als Begehrende oder als Trauernde, als Verlierer oder als Eroberer, als Feinde oder als Liebhaber. In Hitchcocks Filmen werden die Frauenfiguren dennoch, gemessen an der Zeit und bei allen notwendigen Einschränkungen, als aktiv und selbstbestimmt gezeichnet, so ist es in Psycho die Schwester der Ermordeten, die nach dem Täter zu suchen beginnt, und ein männlicher Detektiv wird das zweite Opfer. Auch North by Northwest schlägt einige genderkritische Töne an, etwa wenn Eve (sie trägt ironischerweise die biblische Verführerin im Namen) Roger erzählt, wie sie vom Geheimdienst angeworben wurde und dass es das erste Mal gewesen sei, dass sie jemand um etwas Sinnvolles gebeten habe. Auf die Frage, was ihr Leben so sinnlos gemacht habe, antwortet sie: „Men like you“, die Frauen nur zum Zeitvertreib und nicht zum Heiraten haben wollten. Rogers Erwiderung, er sei schon zweimal verheiratet gewesen, wertet sie als Bestätigung (Hitchcock 2000, 1: 44: 34ff.). Das Konservative der 146 Filme interpretieren <?page no="147"?> Kritik an den Geschlechterrollen - die Frau wird vom Mann ausgesucht, er definiert die Beziehung - ist ebenso evident wie die Veränderung des Rollen‐ verhaltens zu einer nicht mehr auf den Märchenprinzen wartenden, aktiv ihr Leben gestalteten Frau und zu einem Mann, der eine selbstbewusste, sexuell erfahrene und nicht prüde Frau zu schätzen weiß und der sie gerade deshalb begehrt. Es gibt sogar eine Gender-Crossing-Szene, wenn Thornhill auf der Herrentoilette des Bahnhofs von Chigaco einen kleinen Damenrasierer benutzt, den er aus dem Zug mitgenommen hat, und sich dann bei Eve für die lange Wartezeit damit entschuldigt, dass er ein großes Gesicht, aber nur einen kleinen Rasierer habe (Hitchcock 2000, 1: 00: 00ff.). Die Handlung und die Komik brechen das Klischee, so wie es das Verhalten von Eve immer wieder tut, wenn sie sexuell initiativ wird und ihre zweideutigeindeutigen Aufforderungen mit Witz und Humor vorträgt (z. B. Hitchcock 2000, 0: 52: 34ff.). Weiterhin wäre zu fragen, ob die ‚männliche‘ Dominanz seither weiter aufgebrochen werden konnte oder ob der „bestimmende männliche Blick“ (Mulvey 2001, 397) immer noch dominiert, wie etwa in dem von der Kritik gefeierten Werk so unterschiedlicher Regisseure wie Lars von Trier oder Quentin Tarantino. Das Spiel mit Geschlechterklischees wie in den Filmen von Doris Dörrie, das Unterlaufen von ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Co‐ dierungen in Filmen von Stephen Frears oder die Kritik an patriarchalischen Machtverhältnissen in Filmen von David Fincher dürften eher Ausnahmen bilden. Doch spätestens diese Frage sprengt den Rahmen der vorliegenden Einführung. 147 Zum Beispiel: Alfred Hitchcocks Spielfilm North by Northwest (1959) <?page no="149"?> Schlussbemerkung Es gibt viele Gründe, auch heute noch Literatur als Kunst wahrzunehmen und wertzuschätzen. Literatur ist ein zentraler Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses und ein einzigartiger Speicher von diskursivem Wissen, im Gegensatz zu statischem Wissen - schon der Begriff ‚statisches Wissen‘ ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Es gibt Gründe, dass sich in jüngerer Zeit das Konzept ‚lebenslangen Lernens‘ gegen eine Verfestigung und Naturalisierung von Wissensbeständen wendet, hier hat unsere westliche Gesellschaft dazugelernt. Literatur indes hat schon immer dafür gesorgt, dass Wissen nicht als statisch angesehen werden kann, und der Film hat seit mehr als 100 Jahren ebenfalls dazu beigetragen. In der Literatur wird ausgehandelt, weshalb und wie unsere Gesellschaft so geworden ist, wie sie ist. Literatur hat seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert teil am Prozess der Aufklärung und der Zivilisation, den sie stets ausgesprochen kritisch begleitet hat und begleitet. Die Konflikte der Gegenwart - jeder Gegenwart - zeigen, dass dieser Prozess noch lange nicht so weit fortgeschritten ist, wie Literatur und Film es imaginieren. Literatur war und ist Teil des kritischen Gewissens der Gesellschaft; neben Angeboten kritischer Auseinandersetzung in bildender Kunst und Musik, in Hörfunk, Film und Fernsehen, in den letzten Jahrzehnten auch im Internet. Als ein solches ‚Gewissen‘ ist sie eine Zeit lang, insbesondere in den 1960er und frühen 1970er Jahren mit der Kritik insbesondere der Jugend an der Kriegsgeneration, nicht zu Unrecht in Verruf geraten, hatte sie sich doch im Nationalsozialismus zum „Fürstenknecht“ (Schiller 1981, 945) degradieren lassen. Susan Sontag hat daher 1966 zum Boykott einer gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten stützenden Literaturwissenschaft aufgerufen: Against Interpretation (vgl. Sontag 1990). Das war eine gezielte Provokation, die sich gegen jene richtete, die sich selbst die Macht der Deu‐ tungshoheit zuschrieben. Auch Roland Barthes hat sich, ebenfalls 1966, in seiner Streitschrift Kritik und Wahrheit gegen die selbsternannten Experten (Männer) gewandt, die ihre Deutungsmacht missbraucht haben, indem sie ihre eigene Deutung als die einzig richtige propagiert und andere Deutungen ausgeschlossen haben. Deshalb hat Barthes die „Offenheit des Werkes für eine nie endende Interpretation“ proklamiert (Barthes 1967, 11). <?page no="150"?> Wenn sich in ‚geschlossenen Gesellschaften‘ die Literatur und auch die sie vermittelnde Literaturwissenschaft dienstbar gemacht haben, um Werte zu verletzen, die gottseidank heute in unserem Grundgesetz festgeschrieben sind, dann lässt sich dabei feststellen, dass Stereotype und Klischees fest- und fortgeschrieben wurden, die den Mächtigen dienten. Umgekehrt lässt sich ebenso feststellen, dass Literatur, die herrschende Machtverhältnisse kritisch hinterfragt hat, zur Entwicklung einer plural verfassten, demokratischen Gesellschaft beigetragen hat, ohne dass eine solche Wirkung empirisch gemessen werden könnte. Aufgabe der Literatur ist es, Kritik zu äußern und nicht, Kritik umzusetzen - dafür sind die von der Literatur zur eigenen kritischen Reflexion aufgeforderten Leser*innen zuständig. Literatur, die konkrete Vorgaben macht, wird totalitär - und da Literatur als Kunst das Gegenteil von totalitär sein möchte, kann sie nur zu (be-)denken geben. Die Liste der in einem solchen Sinn immer auch politischen Autor*innen - angesichts fehlender Gleichberechtigung lange Zeit zumeist Männer - reicht von Friedrich Schiller, Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, Thomas Mann, Günter Grass, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann bis zu Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz, Felicitas Hoppe und anderen. Literatur im engeren Sinn ist also, das zeigt die Literaturgeschichte, in der Regel und im besten Sinne Machtkritik. Sie hinterfragt kulturelle Deutungsmuster und befragt sie auf ihre Funktion innerhalb von Machtverhältnissen, etwa wenn solche Deutungsmuster dazu dienen, soziale Ungleichheiten oder pro‐ blematische Konstruktionen von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ zu verfestigen. Solche Literatur stellt alte Muster in Frage, etwa die tradierten ‚männlichen‘ Heldenerzählungen. Um zu verstehen, wie Literatur funktioniert, und um die Deutungsspiel‐ räume immer wieder neu auszuloten, abhängig von Zeit und Kultur, muss, kann und will Literatur interpretiert werden. Für eine solche Interpretation ist ein kulturelles Vorverständnis des Interpretierens notwendig; zugleich reflektiert die Literatur selbst dieses Vorverständnis immer wieder kritisch. Das Wissen über Literatur ist in vielfacher Weise dynamisch. Welche Rolle Literatur in einer Gesellschaft spielt, ist weniger abhängig von der Literatur als von der Gesellschaft und es ist verständlich, dass sich alle, die Literatur lieben, eine möglichst große Rolle wünschen - ohne dafür andere (massen-)mediale Angebote benachteiligen oder schlechtreden zu wollen. Des‐ halb hat der vorliegende Band auch exemplarisch den Film ausgewählt, um die Möglichkeiten anderer Angebote wenigstens anzudiskutieren. 150 Schlussbemerkung <?page no="151"?> Um es nun, einen Bogen zurück zum Vorwort schlagend, mit Erich Kästner zu sagen: „Das Buch ist fertig. Schluß, Punkt, Streusand! “ (Kästner 1998a, 152). *** Statt einer Fußnote: Auch das letzte Zitat ist für einige Leser*innen erklä‐ rungsbedürftig, denn Streusand wurde früher, als noch mit Feder und Tinte geschrieben wurde, auf die Tinte gestreut, um sie schneller zum Trocknen zu bringen. Kästner schrieb schon mit Schreibmaschine oder ließ mit ihr schreiben - Streusand ist also bereits bei ihm eine Metapher für das Ende, ein ästhetischer Ausdruck dafür. Literatur ist „Metapher“ und „Metonymie“ (Bourdieu 2001, 53), das macht sie so besonders und deshalb ist sie ohne Vermittlung, das heißt auch: ohne Interpretation, nicht zu denken. 151 Schlussbemerkung <?page no="153"?> Quellen Burton, Tim (2012a): Vincent & Frankenweenie. Upload by chscott9525. URL: www. youtube.com/ watch? v=2rcPe9sojpc (abgerufen am 06.02.2022). Burton, Tim (2012b): Frankenweenie. DVD. München: Walt Disney Studios Home Entertainment. Fontane, Theodor (1899): Der Stechlin. Roman. 4. Aufl. Berlin: F. Fontane & Co. Fontane, Theodor (1969): Effi Briest. Roman. Die Poggenpuhls. Roman. München: Nymphenburger (Nymphenburger Taschenausgabe in 15 Bänden, Bd. 12). Fontane, Theodor (1977): Der Dichter über sein Werk. Hg. v. Richard Brinkmann in Zusammenarb. mit Waltraud Wiethölter. München: dtv. 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FC Nürnberg vom 27.1.1968 22 Haneke, Michael 117 Harbou, Thea von 122 Harlan, Veit 133 Jud Süß 133 Kolberg 133 Harron, Mary 134 American Psycho 134 Hauptmann, Gerhart 103 Die Weber 103 Hebel, Johann Peter 119 Heine, Heinrich 73, 79, 119, 150 Buch der Lieder 74 Die Heimkehr 74 Loreley 73 Reisebilder 123 Herbst, Christoph Maria 129 Hermand, Jost 53 Geschichte der Germanistik 53 Herrmann, Bernard 145 Herrnstein Smith, Barbara 20 Heydebrand, Renate von 20 Einführung in die Wertung von Lite‐ ratur 20 Hitchcock, Alfred 117, 132, 135, 137f. North by Northwest 135, 138f. Psycho 139, 141, 146 Rebecca 138 The Birds 139 Vertigo 135 Hitler, Adolf 32, 129 Hobbes, Thomas 90 Hoffmann, E.T.A. 47, 65 Der Einsiedler Serapion 47 Die Serapions-Brüder 47 Hölderlin, Friedrich 119 Hoppe, Felicitas 115, 121, 150 Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm 122 Hoppe 122 Hoppe, Uwe 129 Horkheimer, Max 55, 61, 101 Dialektik der Aufklärung 55 Humboldt, Wilhelm von 131 165 Register <?page no="166"?> Humperdinck, Engelbert 130 Hänsel und Gretel 130 Husserl, Edmund 61 Huxley, Aldous 15 Brave New World 15 Iser, Wolfgang 9, 27, 58f. Das Fiktive und das Imaginäre 9 Jacobsohn, Siegfried 72 James, E. L. 30 Jauß, Hans Robert 28, 58, 131 Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft 58 Was heißt und zu welchem Ende stu‐ diert man Literaturgeschichte? 28 Jelinek, Elfriede 115f., 122f., 150 Die Klavierspielerin 116 Lust 116 Jendricke, Bernhard 139 Jens, Walter 16 Nein. Die Welt der Angeklagten 16 Johnson, Uwe 123 Kafka, Franz 105, 107, 112, 119f. Das Urteil 107 Der Prozeß 119 Die Verwandlung 120 Kaléko, Mascha 73 Kant, Immanuel 28, 61, 85, 98f., 101 Karloff, Boris 136f. Kästner, Erich 12, 19, 69, 85, 103, 151 Als ich ein kleiner Junge war 12 Das Eisenbahngleichnis 144 Der Handstand auf der Loreley 69, 71 Die Entwicklung der Menschheit 79 Die Grenzen der Aufklärung 79 Emil und die Detektive 73 Fabian 73 Gesang zwischen den Stühlen 71 Kurz und bündig 79 Und wo bleibt das Positive, Herr Käst‐ ner? 19 Kayser, Wolfgang 54 Das sprachliche Kunstwerk 54 Kehlmann, Daniel 26 Die Vermessung der Welt 26 Keil, Rolf-Dietrich 56 Keller, Gottfried 16 Romeo und Julia auf dem Dorfe 16 Keun, Irmgard 103 Kittl, Steen T. 20 Ist das Kunst oder kann das weg? 20 Kleist, Heinrich von 36 Kracauer, Siegfried 133 Von Caligari zu Hitler 133 Lacan, Jacques 119 Lang, Fritz 15, 122, 141 Die Nibelungen 122 Metropolis 15 Lasker-Schüler, Else 150 Lejeune, Philippe 25 Lessing, Gotthold Ephraim 20 Locke, John 90 Lotman, Jurij 56, 131 Die Struktur literarischer Texte 56 Lubitsch, Ernst 141 Luhmann, Niklas 21, 42, 51, 56, 60f., 63 Lyotard, Jean-François 60 La condition postmoderne 60 Mann, Thomas 16, 33, 52, 103, 111, 150 Buddenbrooks 52, 111 Doktor Faustus 16 Mason, James 140 166 Register <?page no="167"?> Masucci, Oliver 129 Minaty, Wolfgang 75 Moers, Walter 37 Müller-Seidel, Walter 19, 99 Murnau, Friedrich Wilhelm 141 Nabokov, Vladimir 122 Napoleon 81 Neutsch, Erik 133 Spur der Steine 133 Nibelungenlied 121ff. Novalis 33 Heinrich von Ofterdingen 33 Orwell, George 15 1984 15 Ossietzky, Carl von 72 Pestalozzi, Johann Heinrich 90 Pilcher, Rosamunde 30 Puccini, Giacomo 130 La Bohème 130 Reckwitz, Andreas 104 Richter, Gerhard 10 Riefenstahl, Leni 133 Rippl, Gabriele 20 Handbuch Kanon und Wertung 20 Rousseau, Jean-Jacques 90 Saehrendt, Christian 20 Ist das Kunst oder kann das weg? 20 Saint, Eva Marie 143 Schenda, Rudolf 68 Schiller, Friedrich 28f., 44, 68, 80, 113, 119, 150 Die Räuber 114 Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet 44 Lied von der Glocke 113 Was heißt und zu welchem Ende stu‐ diert man Universalgeschichte? 28 Wilhelm Tell 29, 80, 105, 114 Scott, Ridley 15 Blade Runner 15 Shakespeare, William 16, 132 Romeo und Julia 16, 132 Shelley, Mary 136 Frankenstein; Or, The Modern Prome‐ theus 137 Sontag, Susan 149 Against Interpretation 149 Streeruwitz, Marlene 150 Tarantino, Quentin 147 Toller, Ernst 103, 150 Trier, Lars von 147 Truffaut, François 139 Tucholsky, Kurt 72f., 103 Vermes, Timur 32, 129 Er ist wieder da 32, 129 Vivaldi 9 Wachowskis 39 Matrix 39 Wagner, Richard 125 Das Rheingold 125 Wedekind, Frank 73 Der Tantenmörder 73 Welles, Orson 135, 138 Citizen Kane 135 Welsch, Wolfgang 58 Weltbühne 71 Welzer, Harald 46, 126 167 Register <?page no="168"?> Wette, Adelheid 130 La Boheme 130 Whale, James 136 Frankenstein 136 White, Hayden 28 Wilhelm II. 103 Winko, Simone 20 Einführung in die Wertung von Lite‐ ratur 20 Handbuch Kanon und Wertung 20 Wittgenstein, Ludwig 119 Wnendt, David 129 Wright, Frank Lloyd 142 Wydra, Thilo 139 Zeh, Juli 16 Corpus Delicti 16 Zola, Émile 31 168 Register <?page no="169"?> ISBN 978-3-8252-5920-4 Fiktionale Literatur folgt den ihr eigenen Regeln - aber welchen? Wenn Literatur im Zentralabitur verpflichtende Lektüre ist oder mit Preisen ausgezeichnet wird, dann gilt sie als besonders wichtig und wertvoll - was sind die Gründe? Wie wird ‚wertvolle‘ Literatur von Expert: innen erkannt? Das Ergebnis einer Lektüre von Literatur, die versucht, auf Basis der rekonstruierbaren Textintention zu einem besseren Verständnis zu gelangen, wird als Interpretation bezeichnet. Dabei ist bereits das Wahrnehmen von allem, was uns umgibt, ein uns oft unbewusster Prozess des Interpretierens. Die Besonderheiten von Literatur wahrzunehmen kann uns viel von dem, was wir tun und was uns ausmacht, bewusster werden lassen. Wie Literatur interpretiert werden kann, davon handelt dieses Buch. Literaturwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel Wie Literatur interpretiert werden kann, davon handelt dieses Buch.