Deutschdidaktik
Konzeptionen für die Praxis
1212
2022
978-3-8385-5941-4
978-3-8252-5941-9
UTB
Christiane Hochstadt
Andreas Krafft
Ralph Olsen
10.36198/9783838559414
Dieser Band liefert eine Übersicht über wesentliche deutschdidaktische Konzeptionen und präsentiert sprach-, literatur- und mediendidaktische Ansätze.Dabei orientiert er sich an den Kompetenzbereichen der KMK-Bildungsstandards. Jede Konzeption wird überblickshaft dargestellt, problematisiert sowie durch Aufgaben und kommentierte Literaturhinweise ergänzt. Das Buch bietet eine unersetzliche Grundlage, um Deutschunterricht fundiert zu planen und zu reflektieren.
Für die . Auflage wurden einige Kapitel neu erstellt; daneben wurden alle bedeutsamen deutschdidaktischen Erkenntnisse der letzten Jahre eingearbeitet und das Thema Inklusion stärker in den Vordergrund gerückt.
"Wer eine gut verständliche und fachlich fundierte Einführung in Konzeptionen der Deutschdidaktik sucht, lese den Band von Hochstadt, Krafft und Olsen."
Prof.em.Dr.Dr.h.c.Kaspar H.Spinner, Universität Augsburg
<?page no="0"?> Hochstadt | Krafft | Olsen Deutschdidaktik Konzeptionen für die Praxis 3. Auflage <?page no="1"?> utb 4023 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main <?page no="2"?> Prof. Dr. Christiane Hochstadt lehrt Sprachwissen‐ schaft und Sprachdidaktik an der Pädagogischen Hoch‐ schule Weingarten. Prof. Dr. Andreas Krafft lehrt Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Frei‐ burg. Prof. Dr. Ralph Olsen lehrt Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Lud‐ wigsburg. Christian Müller ist Akademischer Rat für die Didak‐ tik der deutschen Sprache und Literatur an der Ludwig- Maximilians-Universität München. <?page no="3"?> Christiane Hochstadt / Andreas Krafft / Ralph Olsen unter Mitarbeit von Christian Müller Deutschdidaktik Konzeptionen für die Praxis 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen <?page no="4"?> 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2022 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 1. Auflage 2013 DOI: https: / / www.doi.org/ 10.36198/ 9783838559414 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver‐ vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: in‐ nen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 4023 ISBN 978-3-8252-5941-9 (Print) ISBN 978-3-8385-5941-4 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5941-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 11 13 1 15 2 23 2.1 38 2.2 41 2.3 45 2.4 47 2.5 50 2.6 52 3 57 3.1 65 3.2 72 3.3 79 3.4 82 3.5 87 3.6 92 3.7 99 3.8 108 3.9 114 3.10 121 3.11 135 Inhalt Vorwort zur 3. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen und Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu anderen sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor anderen sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit anderen sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehend zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Szenisch spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über Lernen sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht . . . . . Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analytisch-synthetische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherfahrungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . Strategieorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . Silbenorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . Produktorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . Leser: innenorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . Prozessorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiber: innenorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4 143 4.1 156 4.2 159 4.3 160 4.4 170 4.5 172 4.6 174 4.7 176 5 185 5.1 201 5.2 217 5.3 230 5.4 239 5.5 256 5.6 266 5.7 273 6 297 6.1 312 6.2 316 6.3 321 6.4 328 6.5 332 6.6 336 6.7 343 6.8 348 6.9 355 6.10 363 6.11 368 7 377 Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lautlese-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viellese-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesestrategien einüben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachtextlektüre unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leseanimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarisches Lesen unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen . . . . . . . . . . . . . . Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textnahes Lesen (und Schreiben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarisches Unterrichtsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Szenische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungsspezifische Hinweise zu literaturdidaktischen Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien und Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren . . . . Traditionelle Wortschatzarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexikonorientierte Wortschatzarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textorientierte Wortschatzarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robustes Wortschatztraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traditioneller Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operationaler Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situationsorientierter Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . Integrierter Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionaler Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatik-Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrastiver Sprachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 379 379 381 453 457 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachdidaktische Grundlagenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> Auf die provokative Frage, was denn an der Fachdidaktik nachfragenswert wäre, wenn sie sich außerhalb der geschützten Mauern des Hochschulbetriebes, innerhalb derer die Rhetorik der Didaktik sich in immer kürzeren Abständen selbst verdoppelt, zur Disposition stellen müßte, kann die Antwort eigentlich nur sein, daß diese in der Explikation des Sinns von Entscheidungen im (sprachlichen) Bildungssektor liegen müßte. Zwar hat Max Scheler einer berühmten Anekdote zufolge davon gesprochen, daß der Wegweiser den Weg, den er weise, selbst nicht gehe. Das ist für den Wegweiser richtig, aber nicht für den, der den Wegweiser aufstellte. In diesem Sinne ist die Didaktik in einem zweifachen Sinne praktisch: indem sie sich des Sinnes von Praxis versichert und ihn rekonstruiert, aber ebenso diesen Sinn in den eigenen Handlungen produziert. Wenn sich letzteres außerhalb der Rhetorik des Faches abspielt, so ist es „das Unaussprechliche“, das sich, wie Wittgenstein im Traktat (6.522) sagt, „zeigt“. (Ossner 1998: 16) <?page no="9"?> Vorwort zur 3. Auflage Allmählich wurde es Zeit: Wir freuen uns sehr darüber, nach nunmehr sieben Jahren endlich eine dritte, korrigierte, abermals vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage unserer Deutschdidaktik veröffentlichen zu können. Über 5000 Überarbeitungsspuren am Manuskript der letzten Auflage haben uns selbst nun noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie stark die Deutschdidaktik in den letzten Jahren wieder in Bewegung war. Während in anderen Einführungsbüchern in unsere Disziplin mitunter zu lesen ist, dass sie sich explizit nicht als Nachschlagewerke verstehen, möchten wir zunehmend (auch) genau das: als erste wissenschaftliche ‚An‐ laufstelle‘ zu deutschdidaktischen Konzeptionen dienen. Aufgrund vieler Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen sowie Studentinnen und Studen‐ ten seit dem Erscheinen der vorherigen Auflagen muss an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich darauf hingewiesen wer‐ den, dass wir mit unserem Buch lediglich die Vielfalt der nicht selten höchst unterschiedlichen didaktischen Ansätze für den Deutschunterricht knapp darstellen oder mithilfe geeigneter Quellen zumindest auf sie verweisen möchten: Wir zeigen auf, stellen zusammen und auch gegenüber, aber wir entwickeln daraus keine ‚eigenen‘, übergeordneten, wie auch immer gearte‐ ten deutschdidaktischen Ansätze - auch wenn man mitunter ‚zwischen den Zeilen‘ vielleicht durchaus erahnen kann, welchen fachdidaktischen Überle‐ gungen wir doch etwas näher stehen … Das bedeutet aber im Umkehrschluss eben auch, dass unsere Deutschdidaktik kein Lehrbuch im herkömmlichen Sinne ist, sondern eine erste Zugriffsmöglichkeit, um sich zu orientieren und vor allem auch, um sich im Nachgang mit ausgewählten Literaturhinweisen studierend auseinanderzusetzen. Es ist uns bewusst, dass der Fließtext durch die nicht selten vielen Quellenangaben streckenweise etwas schwerer zu lesen ist, aber aufgrund des Verzichts auf gesonderte Anmerkungen müssen wir das in Kauf nehmen. Der aufmerksamen Leserin beziehungsweise dem aufmerksamen Leser ist es vielleicht nicht entgangen: Wir haben uns nach langen Diskussionen nun doch dazu entschlossen - trotz damit untrennbar verbundener Proble‐ matiken beispielsweise im Bereich der Lesbarkeit von Texten (s. hierzu Hochstadt/ Olsen 2019) -, in dieser dritten Auflage eine gendersensible beziehungsweise geschlechtergerechte Sprache zu verwenden. Und auch <?page no="10"?> wenn bereits in den beiden älteren Auflagen eine gewisse Inklusionsorien‐ tierung immer wieder zum Vorschein kam, wird diese bedeutsame Thematik nunmehr stärker in den Vordergrund gerückt (s. grundsätzlich hierzu die Beiträge zu allen Lernbereichen des Deutschunterrichts in Hochstadt/ Ol‐ sen - ebd. - sowie beispielsweise die praxisorientierten Vorschläge zur Sekundarstufe I und II in von Brand/ Brandl 2017), sodass damit auch die entsprechenden deutschdidaktischen Bemühungen ein Stück weit abge‐ bildet werden können (Malle 2019 bietet eine diesbezüglich umfassende bibliographische Übersicht). Auch in diesem Vorwort ist zu erwähnen, dass wir uns weiterhin darüber freuen, wenn wir Kritik, Hinweise (insbesondere auch auf bestimmte, von uns übersehene Quellen) etc. von unseren Leserinnen und Lesern erhalten. Trotz intensiver Recherchen wird es uns auch dieses Mal sicherlich nicht gelungen sein, alle für unser Buch relevanten Veröffentlichungen aufzuspüren. Eine wichtige Neuerung wird wohl sogleich aufgefallen sein. Wir haben den Kreis der Verantwortlichen erweitert: Christian Müller von der Ludwig- Maximilians-Universität München hat in vielfacher Hinsicht maßgeblich zum Erscheinen dieser Auflage beigetragen. Schließlich bedanken wir uns bei Anna-Carina Dellwing von der Pädago‐ gischen Hochschule Ludwigsburg, Jelena Breithaupt, Leonie Funk und Lina Gueter von der Pädagogischen Hochschule Freiburg sowie Anna Bauer und Melissa Heinrich von der Pädagogischen Hochschule Weingarten, die ebenfalls (ganz unterschiedlich) dazu beigetragen haben, dass das jahrelang ständig be- und überarbeitete Werk endlich erscheinen konnte. Weingarten, Freiburg im Breisgau, Ludwigsburg und München, im September 2022 Christiane Hochstadt, Andreas Krafft, Christian Müller und Ralph Olsen 10 Vorwort zur 3. Auflage <?page no="11"?> Vorwort zur 2. Auflage Mit dieser korrigierten, vollständig überarbeiteten und erweiterten zweiten Auflage möchten wir Lehrerinnen und Lehrern, Studierenden sowie Leh‐ renden an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen weiterhin einen aktuellen und annähernd vollständigen Überblick über die sich in ständiger Weiterentwicklung befindlichen Konzeptionen der Sprach-, Literatur- und Mediendidaktik anbieten. Herzlich danken wir Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Öster‐ reich und der Schweiz, die uns durch positive und auch kritische Rück‐ meldungen bei der Überarbeitung des Textes unterstützt haben. Viele Anregungen und Ergänzungen konnten wir aufnehmen - einige nicht, da die Ausrichtung des Buches auf fachdidaktische Konzeptionen erhalten bleiben und nicht verwässert werden sollte. Wer beispielsweise tiefgreifende Ausführungen zu den fachwissenschaftlichen Grundlagen der Lerngegen‐ stände oder zu Erwerbs- und Entwicklungsfragen vermisst, sei daher erneut auf die in den entsprechenden Kapiteln erwähnte Basisliteratur verwiesen. Ein besonderer Dank gilt denjenigen Studierenden, die in den vergange‐ nen Semestern in unseren Lehrveranstaltungen mit und an dem vorliegen‐ den Buch arbeiten konnten und die uns durch ihre Beobachtungen und Rückmeldungen eine Hilfe waren. Insbesondere danken wir Annika Heitz (Pädagogische Hochschule Karlsruhe), die tatkräftig an der Erstellung der Neuauflage mitgewirkt hat. Heidelberg, Karlsruhe und Ludwigsburg, im September 2015 Christiane Hochstadt, Andreas Krafft und Ralph Olsen <?page no="13"?> Vorwort zur 1. Auflage Dieses Buch richtet sich an alle, die an Schulen und Hochschulen das Fach Deutsch unterrichten (wollen oder müssen): Studierende, Praktikanten, Referendare, Lehrer sowie Lehrende an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Wir haben im Rahmen unserer vielfältigen Aufgaben in der Ausbildung von Deutschlehrern durchweg die Erfahrung gemacht, dass die Planung von Deutschunterricht häufig eines tragfähigen Fundaments ent‐ behrt. Die für das Gelingen von Unterricht(splanung) notwendige Reflexion des (Nicht-)Zusammenhangs von fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und methodischen Aspekten wird nur selten in ausreichendem Maße ge‐ leistet, sodass der tatsächliche Unterricht häufig große Mängel aufweist. Im Laufe der Zeit wurde uns immer deutlicher, dass es denjenigen, die Deutschunterricht planen, sehr schwer fällt, sich relativ schnell - zum Beispiel im Rahmen eines Fachpraktikums - einen adäquaten Überblick zu sprach-, literatur- und mediendidaktischen Konzeptionen zu verschaffen: Die Fülle an Informationen in der Fachliteratur ist zu weit verstreut und häufig werden bestimmte theoretische Grundlagen eines methodischen Ansatzes beim Leser einfach vorausgesetzt. Mit diesem Büchlein hoffen wir, (angehenden) Lehrern für das Fach Deutsch die von vielen Seiten erhoffte Gesamtübersicht zu wesentlichen deutschdidaktischen Konzeptionen in einer systematischen, leicht verständ‐ lichen Form bieten zu können. Erst wer die Vielfalt der didaktisch-metho‐ dischen Zugänge kennengelernt hat und ihnen kritisch gegenüberstehen kann, wird das Rüstzeug dafür besitzen, guten Deutschunterricht planen und durchführen zu können. Darüber hinaus erhebt das Buch den Anspruch, ein umfassendes Bild der heutigen Praxis des Deutschunterrichts - auch vor dem Hintergrund des Mehrsprachigkeitsaspekts - denjenigen vorzustellen, die noch keine Vorstellung vom Lehrerberuf haben. Das Buch ist in enger Auseinandersetzung mit ‚unseren‘ Studierenden entstanden. Wir danken den Unzähligen, die uns ehrlich ihre fachlichen und praktischen Bedürfnisse in Bezug auf zu erteilenden Deutschunterricht mitgeteilt haben. Darüber hinaus möchten wir namentlich denjenigen Studierenden unseren Dank aussprechen, die sich besonders kritisch mit einzelnen Kapiteln unseres Buches auseinandergesetzt haben: Marlene Hal‐ der und Meike Schupp von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, <?page no="14"?> Anne Kirschner und Christiane Saknus von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg sowie Anna Lüll von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Schließlich danken wir Simon Tannebaum für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Marbach am Neckar, im August 2013 Christiane Hochstadt, Andreas Krafft und Ralph Olsen 14 Vorwort zur 1. Auflage <?page no="15"?> Beispiel 1 Einleitung […] selbstredend ist der Riss zwischen Theorie und Praxis nicht zu beklagen, sondern muss als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit auf Seiten des Un‐ terrichtenden angenommen, ja begrüßt werden. Nur weil Theorie und Praxis gespalten sind, können sie von einzelnen, handelnden Subjekten immer neu aufeinander bezogen werden […]. (Baum 2010: 121) Einführungsbücher sind für jede zu studierende Disziplin ein wichtiges Hilfsmittel, um sich in der Fülle wissenschaftlicher Publikationen ein wenig orientieren zu können. Unser Buch Deutschdidaktik. Konzeptionen für die Praxis versteht sich als Einführungsbuch - und zwar mit einem besonderen Fokus. Um diesen zu verdeutlichen, beginnen wir mit einem Beispiel aus der schulischen Praxis (Hochstadt/ Olsen 2013): Didaktische Analyse aus einem (nicht korrigierten) Unterrichts‐ entwurf einer Studentin zum Thema verdoppelte Konsonanten‐ buchstaben (Sommersemester 2008) Grundlage meiner didaktischen Überlegungen war Wolfgang Klafkis Auf‐ satz „Didaktische Analyse“. Dieser besteht aus fünf Grundfragen, die sich jeder Lehrer bei der Vorbereitung einer Unterrichtsstunde stellen sollte: ■ Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bereits im geistigen Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er - vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen - darin haben? ■ Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder? ■ Welches ist die Struktur des (durch die Fragen 1 und 2 in die spezifisch pädagogisch Sicht gerückten) Inhaltes? → Struktur des Inhaltes ■ Welchen allgemeinen Sachverhalt, welches allgemeine Problem erschließt der betreffende Inhalt? ■ Welches sind die besondere Fälle, Phänomene, Situationen, Versu‐ che, in oder an denen die Struktur des jeweiligen Inhaltes den Kindern dieser Bildungsstufe, dieser Klasse interessant, fragwürdig, zugänglich, begreiflich und „anschaulich“ werden kann? (vgl. Jank, Werner/ Meyer, Hilbert 1997: Didaktische Modelle, S.-205) <?page no="16"?> Beispiel Inwiefern die durch die Fragen dargestellten Forderungen erfüllt sind, wird im Folgenden erläutert. Bei Diktaten und Aufsätzen oder beim Ver‐ fassen von Briefe, Geburtstagskarten und Ähnlichem ist die Rechtschrei‐ bung von grundlegender Bedeutung. Sie wird in der Schule geübt, damit die Schüler sie in ihrer gegenwärtigen Lebenswelt anwenden können (Gegenwartsbezug). In der Zukunft der Lernenden kommen noch weitere Bedeutungen der Rechtschreibung hinzu: Die Schüler sollten in der Lage sein, einen Leserbrief und eine e-Mail in korrekter deutscher Sprache verfassen zu können. Dies ist elementar für das spätere berufliche und soziale Leben (Zukunftsbezug). Hier müssen deutlich Akzente gegen die sich immer weiter verbreitende Kurz- und Stenographieform, wie sie von Jugendlichen in Mitteilungen per SMS oder per E-Mail praktiziert, gesetzt werden. Da der Unterrichtsgegenstand mithilfe von Wörtern aus der realen, täglichen Lebenswelt behandelt wird, hat er exemplarischen Charakter. Die Zugänglichkeit zum Thema Doppelkonsonanten ist im Allgemeinen etwas kompliziert und komplex, weil keineimmer anwend‐ bare Regelung vorliegt. Durch die Präsentation von Beispielwörtern mittels eines Textes und einem anschaulichen, differenziertem Arbeits‐ blatt wird den Schüler die Zugänglichkeit erleichtert. Dies ist ein typisches Beispiel einer didaktischen Analyse - uns liegen unzählige ähnliche aus verschiedenen Bundesländern vor. Die Studentin bezieht sich auf die berühmten ‚5 Fragen‘ von Klafki, versäumt es jedoch, Erkenntnisse der Fachdidaktik heranzuziehen. Auch in der methodischen Analyse lassen sich keine spezifischen Bezugnahmen erkennen: Auszug aus der methodischen Analyse desselben Unterrichtsent‐ wurfs Zu Beginn des Unterrichts schlage ich die Tafel (siehe Anhang 2) auf, in deren Mitte die Schüler einzelne Wörter mit Doppelgraphemen auf Karten gepinnt sehen. Ich frage sie, […]. […] Der Lehrer möchte seine Unterrichtsstunde spielerisch abschließen, da Rechtschreibübungen doch eher trocken sind. Dazu möchte er das Spiel Galgenmännchen verwenden. 16 1 Einleitung <?page no="17"?> Wir können die Gründe dafür, dass den meisten Studierenden der ‚Sprung zur Fachdidaktik‘ nicht gelingt, nur erahnen. Unter anderem liegt unseres Erachtens eine problematische Dominanz der Allgemeinen Didaktik/ Schul‐ pädagogik in Bezug auf schulische Lernprozesse beziehungsweise das Planen von Unterricht vor. Selbst im Rahmen der Lehrer: innenbildung an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen spielt die Fachdidaktik häufig nur eine untergeordnete Rolle. Es wäre für die Schüler: innen, die den oben skizzierten Unterricht er‐ hielten, förderlich gewesen, wenn die Studentin - neben einer intensiven fachwissenschaftlichen Vorbereitung - sich mit fachdidaktischen Konzep‐ tionen auseinandergesetzt hätte. Sinnvoll wäre es zum Beispiel gewesen, grundlegende fachdidaktische Überlegungen zu einer strategiebasierten (→ 3.6) oder silbenorientierten (→ 3.7) Vorgehensweise heranzuziehen. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte die Studentin sich möglicherweise nicht nur auf strukturloses Üben konzentriert. Vielleicht sollte man den ‚Schwarzen Peter‘ aber auch der Deutschdidak‐ tik selbst zuschieben: Zumeist scharf getrennt in Literaturdidaktik und Sprachdidaktik (zu dieser grundsätzlichen Problematik, die auch wir mit unserem Buch nicht überwinden können, siehe - auch aus inklusiver Perspektive - Lösener 2019) bietet sie den Leserinnen und Lesern in Ein‐ führungsbüchern zwar einen differenzierten Einblick in die mannigfaltigen Gebiete der Fachdidaktik und mitunter auch in einzelne Konzeptionen, aber einen Gesamtüberblick über wesentliche aktuelle deutschdidaktische Konzeptionen suchen Studierende vergeblich. Sie stehen - wenn sie sich fernab der Allgemeinen Didaktik denn überhaupt auf die Suche begeben - vor einer Vielzahl fachdidaktisch-methodischer Zugangsweisen, die zumeist weit verstreut sind. Oder (und das ist noch häufiger der Fall): Es werden den Leserinnen und Lesern eine Menge methodischer Verfahren genannt, für die weder theoretische Grundlagen noch damit verbundene kritische Aspekte bereitgestellt werden. Hieraus ergibt sich eine weitreichende Pro‐ blematik: Studentinnen und Studenten übernehmen diese ‚methodischen Tipps‘ unkritisch, sodass im konkreten Unterricht häufig schwerwiegende Probleme auftreten, die in aller Regel darauf zurückzuführen sind, dass keine umfangreiche Auseinandersetzung mit fachdidaktischen Konzeptio‐ nen stattgefunden hat. Was sind nun aber fachdidaktische Konzeptionen? Dieser Terminus (mitunter wird auch von Konzepten gesprochen) wird in verschiedenen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen un‐ 1 Einleitung 17 <?page no="18"?> terschiedlich verwendet, doch letztlich lässt sich ein gemeinsamer Kern ausmachen: Es geht um eine theoretisch fundierte Zusammenstellung sowie den zielgerichteten Aufbau bestimmter Informationen und Begründungsas‐ pekte für ein erfolgversprechendes Planen und Handeln. In der Allgemeinen Didaktik wird eine didaktische Konzeption zumeist als ein System didakti‐ scher Prinzipien verstanden. Seibert formuliert: Unterrichtsprinzipien oder didaktische Prinzipien sind gleichsam das Endstück eines abstrakten und komplexen didaktischen Argumentationsstranges; sie ent‐ halten fast immer konkrete Handlungsanweisungen. […] Die Auswahl und der Einsatz der Unterrichtsprinzipien dürfen jedoch nicht unreflektiert erfolgen, da sie an eine bestimmte Konzeption von Unterricht gebunden sind. Unterrichtskon‐ zeptionen rücken der übergeordneten didaktischen Theorie ein Stück näher und entfernen sich dadurch unweigerlich von der Unterrichtspraxis. Unterrichtskon‐ zeptionen sind wie Unterrichtsprinzipien grundsätzlich normativ und benötigen zu ihrer Realisierung handlungsleitende Entscheidungen: Unterrichtskonzeptio‐ nen präferieren je nach didaktischen Theorieelementen bestimmte Unterrichts‐ prinzipien, schließen aber auch allgemeinere, wie die didaktischen Grundsätze der Motivierung und Aktivierung natürlich nicht aus. Unterrichtskonzeptionen speisen wiederum ihre Vorstellung von Unterricht aus didaktischen Modellen. […] Unterrichtsprinzipien sind didaktische Grundsätze für erfolgversprechenden Unterricht, die in der Fachliteratur zahlreiche Umschreibungen erfahren. Die Reichweite der Begriffe und Umschreibungen zeigt, dass Unterrichtsprinzipien sowohl als Grundsätze, also als fester Bestandteil und somit als Definitionskri‐ terium von Unterricht, als auch als unverbindliche Orientierung angesehen werden können. Die Unverbindlichkeit, die ja bereits im Wort ‚prinzipiell‘ begründet liegt, beschreibt Glöckel, wenn er Prinzipien flexibler als Regeln und weniger zwingend als Gesetze charakterisiert. H. Meyer bezeichnet Prinzipien als zusammenfassende Chiffren für die besondere Akzentsetzung eines bestimmten Unterrichtskonzeptes. (2009: 189 f.) Wenn wir Seibert weiter folgen, dass ‚das Exemplarische‘ nach Klafki also ein didaktisches Prinzip sei (ebd.: 191), wir den Terminus Konzept in die unmittelbare Nähe zu Konzeption setzen und von Prinzip abgrenzen (was häufig unterlassen wird), lässt sich für unseren Zusammenhang festhalten, dass man eine fachdidaktische Konzeption als ein umfassendes, strukturiertes Modell definieren kann, das ein ganz bestimmtes Vorhaben unter bestimmten Zielsetzungen und unter bestimmtem theoretischem Bezug verfolgt und dafür geeignete Methoden beziehungsweise Verfahren aufzeigt. 18 1 Einleitung <?page no="19"?> Aus allgemeindidaktischer Sicht würde also ein handlungsorientierter Unterricht als Konzeption aufgefasst. Aus fachdidaktischer Sicht jedoch nicht: Für die Fachdidaktik wäre die Handlungsorientierung ein Prinzip, das (unter anderem) der Konzeption HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E R L IT E R ATU R UNT E R R ICHT (→-5.2) zugrunde liegt. Abzugrenzen von fachdidaktischen Konzeptionen sind ferner Bereiche der Wissenschaft, die Grundlagenforschung betreiben (Garbe 2014: 82), wie zum Beispiel derjenige der Literarischen Sozialisation. Diese scheinbar klare Terminologie wird in der Deutschdidaktik jedoch nicht durchgängig so verwendet. Häufig werden Phänomene als Konzeptionen etikettiert, die unserem Verständnis nach als Prinzipien beziehungsweise Grundsätze (wie zum Beispiel Genderorientierung, Interkulturalität oder Inklusion) auszu‐ weisen sind; mitunter wird auch der Begriff Methode in Zusammenhängen verwendet, in denen wir von Konzeption sprächen (vgl. Jonas 2002). Definition Deutschdidaktische Konzeptionen-… ■ sind gegenstandsabhängig, ■ haben ein gegenstandstheoretisches Fundament, ■ definieren Unterrichtsziele, die mit dem Gegenstand verbunden sind, ■ entwickeln Methoden, die aus den Inhalten und Zielen ableitbar sind, ■ sind übergreifend (fokussieren nicht nur auf eine Unterrichts‐ stunde). Unser Buch widmet sich - dies sollte deutlich geworden sein - lediglich deutschdidaktischen Konzeptionen und blendet damit bewusst andere Berei‐ che der Deutschdidaktik aus. Wir sind der Auffassung, dass diese Beschrän‐ kung einen erheblichen Mehrwert in sich birgt, da dadurch (zukünftige) Lehrende erstmals einen Überblick über die Konzeptionen des Deutsch‐ unterrichts erhalten, die eines der wesentlichen Fundamente didaktischmethodischer Überlegungen im Rahmen des Planens von Deutschunterricht darstellen. Die hier dargestellten Konzeptionen wurden ursprünglich über‐ wiegend für den Deutschunterricht in einsprachigen Lerngruppen entwi‐ ckelt; erst in neuerer Zeit rücken auch die Lernbedarfe von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache ins Zentrum konzeptioneller 1 Einleitung 19 <?page no="20"?> Überlegungen. Außer Betracht bleiben in diesem Buch hingegen Fragen aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache. Dass der oben unternommene Versuch einer Definition des Begriffs Konzeption dessen Unschärfe nicht verdecken kann, wird spätestens dann deutlich, wenn man ihm die auch von uns immer wieder verwendeten Termini Ansatz und Verfahren gegenüberstellt. Die Grenzen hierbei sind nur in wenigen Fällen klar zu ziehen und letztlich liegt es an der Perspektive der Betrachter: innen, wie eine fachdidaktische Position - womit ein weiterer Terminus ins Spiel gebracht ist - klassifiziert wird. Ob etwas als (überzeu‐ gend ausgearbeitete) Konzeption oder lediglich als Ansatz bezeichnet werden kann, soll eine ‚streitbare‘ Frage bleiben. Aufgrund der unüberschaubaren Anzahl didaktisch-methodischer Ver‐ fahren können wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Das Buch kann darüber hinaus durch seinen praxisorientierten Fokus die Lektüre an‐ derer Einführungsbücher zur Deutsch-, Sprach- und Literaturdidaktik nicht ersetzen. Und es erspart auch nicht das Studium der fachwissenschaftlichen Grundlagen - eine diesbezügliche intensive Auseinandersetzung ist die erste und wichtigste Voraussetzung für guten Unterricht. Förster merkt - in Bezug auf Literaturunterricht - an: Ob ich etwa meinen Literaturkurs auf der Basis der Werkimmanenz, dem Para‐ digma der Sozialgeschichte, von rezeptionsästhetischen oder -pragmatischen Positionen oder gar der des Konstruktivismus her modelliere, ist entscheidend dafür, wie Literatur im Unterricht zur Sprache kommt und welche besonderen Problemzusammenhänge zum Thema geraten, was entsprechend überhaupt gelernt werden kann. Von daher besteht eine unmittelbare Affinität didaktischer Konzeptualisierungen mit gegenstandstheoretischen Überlegungen. (2002: 233) Die Systematik des Buches orientiert sich vornehmlich an den Lern- und Kompetenzbereichen, die in den Bildungsstandards ausgewiesen werden. Es hätte viele alternative Gliederungsmöglichkeiten gegeben, die genauso berechtigt gewesen wären. Die vorliegende aber erscheint uns als eine pragmatische, um Unterrichtsplanenden ihre konkrete Arbeit zu erleichtern. Die einzelnen Kapitel unterscheiden sich in ihrem Umfang teils erheblich, was unter anderem mit dem sehr unterschiedlichen Stand der Konzeptuali‐ sierung und der diesbezüglichen Diskussion zusammenhängt. Sie sind in der Regel so gegliedert, dass auf eine Darstellung eine Problematisierung folgt und am Ende jedes Kapitels Aufgaben und Lektüreempfehlungen zu 20 1 Einleitung <?page no="21"?> finden sind. Mitunter wird aus inhaltlichen Gründen von dieser Aufteilung abgewichen. Ein wichtiger Hinweis zum Schluss: Die Einteilung in und die Abtrennung einzelner Konzeptionen voneinander ist ein problematisches Konstrukt mit möglicherweise problematischen Folgeerscheinungen: Die Fachdidak‐ tik Deutsch ist keine ‚Methoden-Kommode‘, deren Schubladen man nach Belieben öffnen und wieder schließen kann. Kaum eine Konzeption kann alleine ein Patentrezept für guten Unterricht bieten. Unterrichtsplanung ist gekennzeichnet durch immer neu und im Einzelfall zu lösende Schwierig‐ keiten. Die Beschäftigung mit den vorliegenden Konzeptionen kann aber Reflexionsprozesse anstoßen, die hoffentlich die Orientierung in diesem weiten Feld erleichtern können. Unterrichtsplanung heißt, sich Fragen zu stellen. Eine Beschäftigung mit den verschiedenen Konzeptionen kann Antworten auf diese Fragen geben - oder kann die Fragenden noch fragender hinterlassen. Auch das ist Teil eines Auseinandersetzungsprozesses mit Unterricht. 1 Einleitung 21 <?page no="23"?> Gespro‐ chene Sprache als Lern‐ medium und Lern‐ gegen‐ stand 2 Sprechen und Zuhören Bildungsstandards Gespräche führen - zu/ vor/ mit anderen sprechen - verstehend zuhö‐ ren - szenisch spielen - über Lernen sprechen Sprechen und Zuhören spielt in allen Lernbereichen des Deutschunterrichts eine wichtige Rolle - sei es in kooperativen Schreibprozessen (→ 3.10), bei der Klärung orthographischer Zweifelsfälle (→ 3.5) oder im literari‐ schen Unterrichtsgespräch (→ 5.4); dasselbe gilt für den Mathematik-, den Religions- oder auch den Sportunterricht (Baurmann 2017a: 15). Der gleichnamige Kompetenzbereich hat insofern einen besonderen Stellenwert, als gesprochene Sprache hier nicht nur als Lernmedium, sondern auch als Lerngegenstand eine Rolle spielt. Aufgrund der Besonderheiten des Gegen‐ standsbereichs weichen wir im Folgenden von der Struktur der übrigen Kapitel ab: Nach einer ausführlicheren Einleitung, die auch konzeptionelle Überlegungen mit einschließt, fokussieren wir unter 2.1 bis 2.6 verschiedene Lerngegenstände beziehungsweise Lernbereiche mit ihren je eigenen fach‐ lichen, fachdidaktischen und methodischen Aspekten. Gesprochene Sprache unterscheidet sich typischerweise durch ihre kom‐ munikative Einbettung in einer ganzen Reihe von Merkmalen von der geschriebenen Sprache (Flüchtigkeit, Möglichkeit des Sprecher: innenwech‐ sels, Einsatz para- und nonverbaler Mittel, Verwendung temporal- und lokaldeiktischer Ausdrücke etc.). Aus diesen Gegebenheiten resultieren weitere Eigenschaften der konzeptionellen Mündlichkeit, wie die strukturelle Einfachheit, die Akzeptanz formaler Abweichungen oder die ausgeprägtere Spontaneität und Emotionalität. Mündlichkeit und Schriftlichkeit - medial und konzeptionell Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheiden sich nach Koch/ Oester‐ reicher (1986; 1994) zunächst in medialer Hinsicht: Während schriftli‐ che Kommunikation graphisch realisiert ist (und damit auch fixiert: auf Papier, am Bildschirm oder in anderer Form), ist mündliche Kom‐ <?page no="24"?> munikation phonisch realisiert und damit in der Regel flüchtig, also nicht fixiert. Die Unterscheidung zwischen medialer Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist dichotom, was bedeutet, dass eine sprachliche Äußerung nur entweder in der einen oder in der anderen Form vorliegen kann. Gleichzeitig lassen sich auch in konzeptioneller Hinsicht Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit beschreiben. So sind mündliche Äußerungen typischerweise durch Vertrautheit, formale Einfachheit sowie einen höheren Grad an Spontaneität und Variabilität gekennzeichnet. Schriftliche Äußerungen sind demgegenüber häufig klarer strukturiert, sprachlich komplexer und weniger emotional geprägt. Zusammenfassend lassen sich die beiden Sprachgebrauchsformen auch als Sprache der Nähe (Mündlichkeit) und Sprache der Distanz (Schriftlichkeit) bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit ist nicht dichotom, sondern graduell; es gibt also Abstufungen. Zudem sind sprachliche Äußerungen möglich, die medial mündlich, konzeptionell aber schriftlich sind (etwa eine Laudatio bei einer Preis‐ verleihung), oder solche, die medial schriftlich, konzeptionell aber eher mündlich geprägt sind (etwa eine Chatnachricht an eine vertraute Per‐ son). graphisch phonisch Konzep�onelle Mündlichkeit (idealtypisch) Sprache der Nähe Dialogizität Vertrautheit Emo�onalität Formale Variabilität Spontaneität Freie Themenen�altung Konzep�onelle Schri�lichkeit (idealtypisch) Sprache der Distanz Monologizität Öffentlichkeit Sachlichkeit Formale Korrektheit Strukturiertheit Themenfixierung Abb. 1: Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit (n. Koch/ Oesterreicher 1994: 588) Eine zusammenfassende, didaktisch orientierte Darstellung findet sich bei Droll/ Betzel (2014a); eine ausführliche Diskussion über die Wir‐ kungsgeschichte und (Weiter-)Entwicklung des Modells bieten Feilke/ Hennig (2016). 24 2 Sprechen und Zuhören <?page no="25"?> Diese Merkmale treten jedoch, wie Koch/ Oesterreicher (1986; 1994) betonen, nicht in allen medial mündlichen Kontexten auf; es gibt auch Sprechsitua‐ tionen, in denen die Verwendung konzeptioneller Schriftlichkeit angemes‐ sen ist. Demzufolge gehört es zu den Aufgaben des Deutschunterrichts, die Schüler: innen zu einer konzeptionell schriftlichen Verwendung medial mündlicher Sprache hinzuführen. Was Lehrpersonen vielleicht nicht immer bewusst ist: Die Unterrichts‐ kommunikation ist neben der Kommunikation in Familie und Peer-Group ein wesentlicher Inputfaktor für die Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies muss bei der Planung des Unterrichts stets berücksichtigt werden. Eine Lehrkraft fungiert unweigerlich als (positives oder negatives) sprachliches Vorbild, nicht zuletzt für Schüler: innen mit Deutsch als Zweit‐ sprache (DaZ): Die Lehrkraft ist ein wichtiges Sprachvorbild für mehrsprachige Kinder und Jugendliche. Deshalb ist es besonders wichtig, dass sie die Sprache bewusst und kontrolliert einsetzt. Hierzu gehört z. B. langsam, deutlich und grammatikalisch korrekt zu sprechen […]. ( Jeuk 2017: 119) Erläuterung Eine Zweitsprache (L2) wird in zeitlichem Abstand zur Erstsprache (L1) und - im Gegensatz zur Fremdsprache - überwiegend ungesteuert und nicht institutionell erworben. Besonderen Stellenwert hat diese Funktion der Lehrperson hinsichtlich des Konstrukts Bildungssprache (Feilke 2012). Ein sicheres Verfügen über die Bildungssprache ist für den Schulerfolg von zentraler Bedeutung. Bildungssprache Bildungssprache (→ S. 305 f.) ist die Sprache des Lernens - die Sprachge‐ brauchsform, die wir vor allem dann verwenden, wenn wir uns Wissen aneignen oder dieses weitergeben möchten. Sie ist unter anderem gekennzeichnet durch syntaktische (z. B. Hypotaxen, Nominalisierun‐ gen, umfangreiche Nominalgruppen) und lexikalisch-semantische (z. B. differenzierende Ausdrücke, Komposita, Fachtermini) Merkmale. 2 Sprechen und Zuhören 25 <?page no="26"?> Besonder‐ heiten der Unter‐ richtskom‐ munika‐ tion Kompetente Sprachverwender: innen greifen in entsprechenden Situa‐ tionen intuitiv (oder auch gezielt) auf dieses Register zurück, weil es wichtige Funktionen erfüllt: Verdichten, Explizieren, Verallgemeinern und Diskutieren (Feilke 2012). Schwierigkeiten bei der Rezeption von Bildungssprache (beispielsweise beim Verfolgen eines Vortrags der Lehrkraft oder beim Lesen von Sachtexten) wirken sich negativ auf den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen aus. Dasselbe gilt für Schwierigkeiten bei der Produktion (etwa bei mündlichen Präsentationen oder beim Verfassen von Texten). Deshalb gehört es zu den wesentlichen Zielen des Deutschunterrichts, die Schüler: innen an die Verwendung von Bildungssprache heranzufüh‐ ren. Für den Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören bedeutet dies, dass möglichst authentische Situationen geschaffen werden, die die Verwendung von Bildungssprache nahelegen (Selimi 2020: 9). Eher nicht hilfreich ist dagegen das unreflektierte Einfordern bildungssprachlicher Mittel in Kontexten, in denen sie nicht erforderlich sind („Bitte im ganzen Satz! “, s. auch Krafft 2019a). Die Weiterentwicklung kommunikativer Kompetenz lässt sich jedoch nicht allein durch ein möglichst vollkommenes sprachliches Vorbild erreichen: Schüler: innen müssen die Möglichkeit haben, ihre eigenen mündlichen Fähigkeiten im Unterricht zu erproben und weiterzuentwickeln. Allerdings ist dieses Ziel nur schwer vereinbar mit den institutionellen Bedingungen, unter denen Unterrichtsgespräche stattfinden. Diese Bedingungen unter‐ scheiden sich nämlich deutlich von jenen, denen ‚private‘ beziehungsweise nicht-institutionelle Gespräche unterliegen: ■ Die Zahl der (potenziellen) Sprecher: innen ist um ein Vielfaches höher. ■ Es besteht ein deutlicher hierarchischer Unterschied zwischen Lernen‐ den und Lehrpersonen. ■ Alles, was von den Schülerinnen und Schülern zum Gespräch beigetra‐ gen wird, könnte einer Bewertung durch die Lehrperson unterliegen. Diese und weitere Bedingungen haben dazu geführt, dass sich im Unterricht bestimmte Rituale und Handlungsmuster herausgebildet haben, die immer wieder unreflektiert praktiziert werden, in anderen Gesprächssituationen jedoch völlig dysfunktional wären und letztlich der Weiterentwicklung kommunikativer Fähigkeiten im Wege stehen (Heller/ Morek 2015: 3): 26 2 Sprechen und Zuhören <?page no="27"?> alternative Formen des ge‐ planten In‐ struierens ■ Eine teilnehmende Person (in der Regel zunächst die Lehrkraft) hat das Rederecht und vergibt dieses durch Fremdzuweisung. Nach Beendigung eines Beitrags fällt das Rederecht automatisch an die leitende Person zurück. ■ Gesprächsbeiträge, die von Schülerinnen und Schülern geäußert wur‐ den, werden häufig durch die Lehrkraft bestätigt, wiederholt und/ oder kommentiert - das sogenannte ‚Lehrer: innenecho‘: Dadurch entstehen dreischrittige Gesprächssequenzen (Initiierung - Respondierung - Eva‐ luierung). ■ Da sich die ausschließliche Weitergabe von Informationen als wenig effektiv erwiesen hat, werden Aufgaben (‚didaktische Fragen‘) gestellt - zum Beispiel im Rahmen eines „Lehrervortrags mit verteilten Rollen“ (Becker-Mrotzek/ Vogt 2009: 66 ff.) oder eines „fragend-entwickelnden Unterrichts“ (ebd.). Es kommt zu der an sich paradoxen Situation, dass die Lehrperson (die die Antwort kennt) eine Aufgabe stellt und die Schüler: innen (die die Antwort nicht kennen) sie lösen sollen. Eine ausführliche Analyse sowie Kritik dieser nach wie vor umstrittenen, teilweise aber auch befürworteten Praxis findet sich bei Ehlich (1981) sowie zusammenfassend bei Becker-Mrotzek/ Vogt (2009: 77 ff.). Erläuterung Als Handlungsmuster bezeichnen Ehlich/ Rehbein (1979: 250) Formen von standardisierten Handlungsabläufen, die im konkreten Handeln realisiert werden. Ein traditionelles schulisches Handlungsmuster ist das ‚Aufgabe stellen - Aufgabe lösen‘-Muster. Wenn die Deutschdidaktik das Ziel ernst nimmt, mündliche Kompetenzen durch Unterrichtskommunikation weiterzuentwickeln, müssen die klassi‐ schen Methoden des Unterrichtsgesprächs daher immer wieder ersetzt beziehungsweise ergänzt werden durch andere Formen (im Folgenden Becker-Mrotzek/ Vogt 2009: 64 ff.): ■ Durch einen (angemessen kurzen und gut geplanten) Vortrag der Lehr‐ kraft können Informationen kompakt vermittelt werden. Auch kann die Lehrperson hier in besonderem Maße als sprachliches Vorbild fungieren. 2 Sprechen und Zuhören 27 <?page no="28"?> Themen‐ zentrierte Interaktion ■ Schüler: innengespräche, das heißt Phasen, in denen der Wechsel des Re‐ derechts verfahrensgeregelt oder ohne explizite Steuerung stattfindet, tragen dazu bei, dass die Schüler: innen lernen, Verantwortung für Ge‐ sprächsverläufe zu übernehmen, sich an Gesprächsregeln zu halten, sich aber auch bei Bedarf gegen Gesprächspartner: innen ‚durchzusetzen‘. ■ Gruppengespräche, bei denen die Öffentlichkeit der Klasse für einen begrenzten Zeitraum aufgehoben ist, ähneln aufgrund der geringeren Zahl an Teilnehmenden und der fehlenden Rangunterschiede am ehes‐ ten nicht-institutionellen Gesprächen. Hier können auch weniger ex‐ trovertierte Kinder und Jugendliche sprachliche Mittel erproben, die im Anschluss daran im Plenum (beispielsweise in Schüler: innengesprächen oder Präsentationen) eingesetzt werden können. ■ Schüler: innen müssen die Möglichkeit bekommen, in geeigneten Kon‐ texten für längere Zeit und ohne Unterbrechung das Rederecht zu be‐ halten. In solchen Präsentationen (→ 2.2) können neben der Vermittlung inhaltlicher Aspekte auch rhetorische Fähigkeiten geschult werden. „Gesprächsfähigkeit verbessern heißt zuallererst, Unterrichtsgespräche zu verbessern.“ (Becker-Mrotzek/ Quasthoff 1998: 8) Ein Bezugspunkt für die Diskussion um die Gestaltung von Unterrichtskom‐ munikation ist die themenzentrierte Interaktion (TZI), die von der Psycho‐ login Ruth Cohn (1912-2010) entwickelt wurde (Cohn 1994; Cohn/ Terfurth 2007). Es handelt sich dabei um eine gruppendynamische Methode, deren be‐ sondere Eignung für das Unterrichtsgespräch daraus resultiert, dass neben der Einzelperson (Ich) und der Gruppe (Wir) auch der Gesprächsgegenstand beziehungsweise das Thema (Es) eine zentrale Rolle spielt. Umschlossen werden diese drei Faktoren vom Globe (dem strukturellen, sozialen und kulturellen Umfeld, das die Zusammenarbeit der Gruppe beeinflusst). Im Unterricht bildet die Institution Schule den Globe, der die Entwicklung von Gesprächen, wie oben bereits gezeigt wurde, maßgeblich mitbestimmt. Von zentraler Bedeutung ist für Cohn (im Gegensatz zur alltäglichen Unter‐ richtspraxis, die durch eine Überbetonung des Es gekennzeichnet sei) die Balance zwischen den vier Faktoren, die a priori von gleicher Bedeutung und gleichem Gewicht seien: 28 2 Sprechen und Zuhören <?page no="29"?> Postulate und Hilfs‐ regeln Lebendige Lernprozesse verlangen, daß die beteiligten Menschen […] zwischen den vier Faktoren (ICH, WIR, ES, GLOBE) pendeln, um den Lernprozeß in Gang zu halten. Weil dies die TeilnehmerInnen überfordern kann, sind geschulte LeiterInnen nötig, die u. a. die Kunst des Balancierens gelernt haben. (Osswald 1993: 12) Aus diesen Axiomen leitet Cohn drei (ursprünglich zwei) Postulate und neun Hilfsregeln ab, die hier vollständig aufgelistet, aber nur teilweise erläutert werden sollen. Eine etwas ausführlichere Darstellung findet sich bei Schuster (2003: 44 ff.). ■ Sei deine eigene Chairperson, die Chairperson deiner selbst! Unter einer Chairperson versteht Cohn eine leitende, Interessen ver‐ tretende Person. Wenn jedes Gruppenmitglied sich als Chairperson begreife, werde es die eigenen Wünsche und Bedürfnisse bewusst wahr‐ nehmen und in den Kommunikationsprozess einbringen, gleichzeitig aber auch die Interessen der anderen vertreten und Verantwortung für den Gesprächsverlauf insgesamt übernehmen. ■ Störungen haben Vorrang. Das zweite Postulat meint, dass Störungen - wie sie auch im Unterrichts‐ gespräch alltäglich sind - akzeptiert werden müssen; sie treten auf und ‚fragen nicht nach Erlaubnis‘. Für den Unterricht sei daraus abzuleiten, dass eine Lehrperson Verstöße oder Konflikte nicht ignorieren, sondern bearbeiten und zu lösen versuchen solle. ■ Verantworte dein Tun und Lassen - persönlich und gesellschaftlich! Die folgenden Hilfsregeln (ebd.: 123 ff.) ergeben sich aus den Postulaten und können, wenn sie sinnvoll eingesetzt werden, die Kommunikation auch in Schulklassen positiv beeinflussen. 1. Vertritt dich selbst in deinen Aussagen. 2. Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst und was deine Frage für dich bedeutet. 3. Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. 4. Halte dich mit Interpretationen von anderen so lange wie möglich zurück. 5. Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen. 6. Wenn du etwas über das Benehmen oder die Charakteristik einer anderen teilnehmenden Person aussagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass sie so ist, wie sie ist. 2 Sprechen und Zuhören 29 <?page no="30"?> Bedeutung für den Deutsch‐ unterricht literari‐ sches Un‐ terrichts‐ gespräch Kooperati‐ ves Lernen 7. Seitengespräche haben Vorrang. 8. Nur einer zur gleichen Zeit. 9. Wenn mehr als einer gleichzeitig sprechen will, verständigt euch in Stichworten, über was ihr zu sprechen beabsichtigt. Aus den Postulaten und Hilfsregeln lassen sich - im Sinne einer reflexi‐ onsbezogenen Vorgehensweise (→ 2.6) - Prinzipien für das Führen von Klassengesprächen ableiten, die gemeinsam mit den Lernenden erarbeitet und festgelegt werden können. Die Berechtigung der achten Hilfsregel beispielsweise ist bereits für Kinder im Grundschulalter leicht nachvollzieh‐ bar. Mit steigender Komplexität der Gesprächsverläufe und zunehmender Gesprächsfähigkeit der Teilnehmenden können auch anspruchsvollere Re‐ geln wie die neunte als sinnvoll erkannt und eingeübt werden. Daneben erleichtert die intensive Beschäftigung mit den Postulaten und Hilfsregeln es den Lehrkräften möglicherweise, auf Probleme oder Störungen im Ge‐ sprächsverlauf reflektiert zu reagieren und sie konstruktiv zu bearbeiten - ungeachtet dessen, dass im Unterrichtsgespräch Störungen offensichtlich nicht grundsätzlich Vorrang haben können. Wenn die themenzentrierte Interaktion im Unterricht eingesetzt wird, so führt dies meist über die Grenzen des Kompetenzbereichs Sprechen und Zuhören (und häufig auch über die Grenzen des Deutschunterrichts) hinaus. Es handelt sich bei den Verfahren der TZI also nicht nur um Methoden, mit denen sich mündliche Fähigkeiten der Schüler: innen weiterentwickeln lassen, sondern vor allem um Formen der Gesprächsführung, mit denen in klarer Abgrenzung zum lehrkraftzentrierten fragend-entwickelnden Un‐ terricht gemeinsames Lernen ermöglicht werden soll. Hier ist an erster Stelle das L IT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→ 5.4) zu nennen, bei dem bestimmte Grundsätze der TZI besonders für die Leitung von Unterrichts‐ gesprächen eine Rolle spielen. Das kooperative Lernen ist zunächst ein kompetenzbereichs- und fächer‐ übergreifender Ansatz, der ähnlich wie die klassische Gruppenarbeit in Verbindung mit unterschiedlichen Unterrichtsinhalten eingesetzt werden kann: Er stellt zum Beispiel beim Lese-Förderprogramm TRAIL (→-4.3) die hauptsächliche Vermittlungsform dar. Zugleich finden sich hier Impulse, die für die Gestaltung der Unterrichtskommunikation und somit auch für die gezielte Weiterentwicklung mündlicher Fähigkeiten genutzt werden können. 30 2 Sprechen und Zuhören <?page no="31"?> Dreischritt: think - pair - share Lernende erhalten im kooperativen Lernen mehr Verantwortung, da die Lehrperson eine neue Rolle als Moderator: in (und nicht als Expertin bezie‐ hungsweise Experte) einnimmt - eine ‚Umdeutung‘ der Rolle der Lehrkraft, die immer wieder auch kritisch hinterfragt werden sollte. Brüning/ Saum (2017: 17 ff.) beschreiben als grundsätzliche Vorgehensweise den Dreischritt Denken/ think (in der Einzelarbeit: Vorwissen verbindet sich mit neuem Wissen) - Austauschen/ pair (in der Kleingruppe: einzelne Konstruktionen werden miteinander verglichen) - Vorstellen/ share (im Plenum: erneute Ko-Konstruktion durch die Zuhörer: innen). Wichtig ist bei allen Variations‐ möglichkeiten, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, dass individuelle Lernphasen (in Gruppen) durch kollektive Lernphasen (im Plenum) ergänzt werden. In individuellen Lernphasen gilt das WELL-Prinzip (wechselseitiges Lehren und Lernen), was bedeutet, dass „die Lernenden für einen umschriebenen Teil der Inhalte zu Expertinnen und Experten werden und sich diese anschließend wechselseitig vermitteln“ (Konrad/ Traub 2008: 154): Insgesamt wird auf diese Weise die Aktivität beim Lernen kontinuierlich hoch‐ gehalten; und da die äußeren Bedingungen präzise in der Klasse miteinander vereinbart worden sind […], ist das gesamte Verfahren in der Tat aufgaben- und lernzeitorientiert. (Baurmann 2007: 6) Durch das kooperative Lernen kann der mündliche Sprachgebrauch in viel‐ fältiger Weise angeregt, strukturiert und weiterentwickelt werden, indem es zahlreiche unterschiedliche Gesprächsanlässe generiert und dabei auf eine hohe Qualität der sprachlichen Äußerungen hinwirkt (Heckt 2012: 270; Baurmann 2007: -9). Diskussion (→ 2.3), Präsentation (→ 2.2) und Evaluation (→ 2.6) werden gleichzeitig als Lernmedium und als Lerngegenstand genutzt: Damit werden fachsprachliche Ausdrucksweisen auch in solchen Lern- und Gesprächssituationen etabliert, die im herkömmlichen Unterricht eher alltags‐ sprachlich und auf der Grundlage des je unterschiedlichen Sprachvermögens der Schüler/ innen erfolgen. (Heckt 2012: 273) Eine beispielhafte Methode, die fachsprachliche Ausdrucksweisen auch in der Gruppenarbeit nahelegt und einfordert, ist die Konstruktive Kontroverse (ebd.: 273 f.). Sie eignet sich Heckt zufolge für ein weites Spektrum von Inhalten aus dem Deutschunterricht, beispielsweise für Gespräche über literarische Texte (→ 5.4), oder aus anderen Fächern. Schüler: innen üben 2 Sprechen und Zuhören 31 <?page no="32"?> gezielte Förderung mündli‐ cher Fähig‐ keiten sich hier darin, zu einer Streitfrage unabhängig von der persönlichen Mei‐ nung nacheinander unterschiedliche Standpunkte einzunehmen. Zunächst in der vertrauten Sprechsituation der Zweiergruppe, später in Vierergrup‐ pen und abschließend im Plenum erhalten die Lernenden die Aufgabe, für unterschiedliche Positionen Partei zu ergreifen und diese zu begründen - so lassen sich Gesprächskompetenzen beobachten und gezielt fördern. In ersten empirischen Untersuchungen konnte sich das kooperative Ler‐ nen im Vergleich zu ‚frontalen‘ Unterrichtsformen nicht nur hinsichtlich der Lernmotivation, sondern auch hinsichtlich des Erwerbs von deklarativem und prozeduralem Wissen als überlegen erweisen (Baurmann 2007: 7 f.). Derartige Untersuchungen zu Effekten bestimmter Unterrichtsmethoden sind stets mit Vorsicht zu interpretieren; unter anderem, weil Vergleichs‐ gruppen nie mit völlig identischen Bedingungen gebildet werden können und weil aus Lernerfolgen nicht zwangsläufig eine Kausalität (im Zusam‐ menhang mit den Methoden) zu schließen ist. Dennoch kann dieser Ansatz aus gesprächsdidaktischer Perspektive als eine sinnvolle Möglichkeit ange‐ sehen werden, die mündlichen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in fach- und bildungssprachlichen Kontexten weiterzuentwickeln. Erläuterung Deklaratives Wissen (knowing that) bezeichnet, vereinfacht gesagt, das Wissen um Sachverhalte. Prozedurales Wissen (knowing how) ist im Gegensatz dazu das Wissen um Handlungsabläufe und Prozesse. So wichtig ein bewusster Umgang mit gesprochener Sprache als Lernme‐ dium im Unterricht sein mag, ist er doch nicht per se ausreichend für die Förderung kommunikativer Kompetenzen. Handlungen des Sprechens und Zuhörens (in unterschiedlichen Ausprägungen) müssen auch als Lern‐ gegenstand gezielt erarbeitet und eingeübt werden. Allerdings wurde dieser Lernbereich in der Deutschdidaktik jahrzehntelang vernachlässigt - auf Basis einer Haltung, die das folgende Zitat illustriert: Während die mündliche Kommunikationsfähigkeit schon vorschulisch erworben wird und sich auch ohne schulische Unterweisung in einem bestimmten Maß weiterentwickelt, ist die Einführung in die Schriftkultur vor allem Aufgabe der Schule. (Fritzsche 1994: 58) 32 2 Sprechen und Zuhören <?page no="33"?> Inzwischen hat sich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieses Ver‐ trauen auf die ungesteuerte Entwicklung ausreichender mündlicher Fä‐ higkeiten nicht gerechtfertigt ist - insbesondere angesichts heterogener Lernvoraussetzungen. So etwa gehört es nicht zum Gattungsrepertoire jeder Familie, unklare Sachver‐ halte und Begriffe zu erklären, widerstreitende Standpunkte argumentativ aus‐ zuhandeln und zu begründen oder Konsequenzen oder potenziell problematische Aspekte bestimmter Ansichten oder Entscheidungen abzuwägen. Genau diese Praktiken liegen aber im Kern dessen, was einen aufgeklärten Schulunterricht ausmacht. Darüber hinaus stellen sie auch diejenigen kommunikativen Lernziele dar, die in Bildungsstandards und Curricula - nicht nur, aber insbesondere des Faches Deutsch - einen zentralen Platz einnehmen. Gerade auch angesichts der ungleich verteilten Ausgangsbedingungen verschiedener Schüler/ innen […] obliegt es also dem schulischen Unterricht, die Aneignung entsprechender Dis‐ kurskompetenzen zu ermöglichen und zu fördern. (Heller/ Morek 2015: 2) Es etabliert sich nach und nach ein eigenständiger Forschungsbereich, der bereits umfangreiche Erkenntnisse zum Erwerb und zur Förderung unter‐ schiedlicher mündlicher Kommunikationsformen hervorgebracht hat. Je‐ doch steht eine konsequent zu Ende gedachte didaktische Modellierung von Mündlichkeit beziehungsweise den dazu gehörenden Kompetenzen nach wie vor aus. Auch ist es bisher nur ansatzweise gelungen, didaktische Kon‐ zeptionen oder zumindest Methoden zu entwickeln, die über die Grenzen bestimmter Kommunikationsformen hinaus für den gesamten Gegenstands‐ bereich Gültigkeit beanspruchen können (Honnef-Becker/ Kühn 2019: 51 ff.). Vielmehr orientieren sich fachdidaktische Darstellungen meist an einzelnen ausgewählten Lerngegenständen oder Aspekten von Mündlichkeit (zum Beispiel Becker-Mrotzek 2012a, Honnef-Becker/ Kühn 2019, Krelle/ Spiegel 2009). Deshalb weichen wir im Folgenden vom Aufbau der übrigen Kapitel ab und orientieren uns nicht an fachdidaktischen Konzeptionen im oben ausgeführten Sinne, sondern an den Modellierungen der Bildungsstandards für den Primarbereich beziehungsweise den mittleren Bildungsabschluss. Auf dieser Basis unterscheiden wir - angelehnt an Honnef-Becker/ Kühn 2019 - zwischen sechs basalen Teilkompetenzen: ■ zu anderen sprechen, ■ mit anderen sprechen, ■ vor anderen sprechen, 2 Sprechen und Zuhören 33 <?page no="34"?> ■ verstehend zuhören, ■ szenisch spielen, ■ über Lernen sprechen. Die ersten drei Teilkompetenzen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des jeweils typischen Grades an Interaktivität: Beim Sprechen ‚vor anderen‘ (zum Beispiel Präsentieren) handelt es sich um überwiegend monologische Kontexte; hier sind Sprecher: innenwechsel aufgrund der direkten Kommu‐ nikationssituation zwar grundsätzlich möglich, aber nur eingeschränkt erwartbar. Das Sprechen ‚mit anderen‘ (zum Beispiel Diskutieren) impliziert dagegen ein hohes Maß an Interaktivität und häufige Wechsel des Rede‐ rechts ohne eine klare Zuweisung von Sprecher: innen- und Hörer: innenrol‐ len. Der Bereich ‚zu anderen sprechen‘ (zum Beispiel Erzählen, Erklären) nimmt eine Zwischenstellung ein: Diskurseinheiten können zwar durch Sprecher: innenwechsel unterbrochen werden, jedoch fällt das Rederecht im Anschluss daran in der Regel wieder an die ursprünglich sprechende Person zurück (Behrens/ Gätje 2016: 9-f.). Die Bereiche ‚szenisch spielen‘ und ‚über Lernen sprechen‘ fallen etwas aus dem Rahmen, ihre Sonderrolle wird in den entsprechenden Abschnitten thematisiert. Die beschriebene Einteilung stellt eine Verbindung zwischen den Bil‐ dungsstandards für den Primar- und den Sekundarbereich dar: Während der Bereich ‚über Lernen sprechen‘ erstaunlicherweise nur in der Grund‐ schule aufgeführt ist, taucht ‚vor anderen sprechen‘ (ungeachtet des Stel‐ lenwerts von Präsentationen bereits in den ersten Schuljahren) erst in der Sekundarstufe auf. Auch darüber hinaus erweist sich die Systematik der Bildungsstandards bei genauerem Hinsehen in mehrfacher Hinsicht als terminologisch unklar, unvollständig und widersprüchlich (für eine ausführliche Kritik s. Honnef-Becker/ Kühn 2019: 18 ff.). Sie erlaubt jedoch insgesamt einen systematischen Blick auf die fachdidaktisch relevanten mündlichen Lerngegenstände und bildet so einen geeigneten Rahmen für die folgenden Ausführungen. Die Bereiche werden mit ihren grundsätzlichen Anforderungen umrissen; es folgt jeweils die exemplarische Darstellung eines mündlichen Lerngegenstands oder eines Themenentfaltungsmusters (Brinker 2018) unter Berücksichtigung didaktischer und methodischer Über‐ legungen. 34 2 Sprechen und Zuhören <?page no="35"?> Hinweis Mündliche Lerngegenstände oder Themenentfaltungsmuster beinhalten eine bestimmte Art der Auseinandersetzung mit einem Thema und eine bestimmte kommunikative Intention. Das Verfügen über solche Muster ist ein wichtiger Bestandteil kommunikativer Kompetenz. Zu einer umfassenden Förderung des Sprechens und Zuhörens im Deutsch‐ unterricht gehören darüber hinaus auch Konzeptionen und Methoden zur Förderung lexikalisch-semantischer und grammatikalischer Fähigkeiten, die in Kapitel 6 (Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren) thematisiert werden, sowie die Sprech- und Stimmbildung (s. folgenden Kasten). Grundlagen des Sprechens Zum Sprechenkönnen gehören nicht nur rhetorische und kommunika‐ tive Fähigkeiten im weiteren Sinne - auch Atemtechnik, Stimmeinsatz, Aussprache, Mimik und Gestik sind wesentliche Elemente mündlicher Fähigkeiten (s. für einen Überblick Pabst-Weinschenk 2004). Allzu oft wird deren Beherrschung vorausgesetzt und dementsprechend in der Schule nicht oder nur am Rande thematisiert. Diese Vernachlässigung von Sprech- und Stimmbildung kann sich gerade für Schüler: innen, die dialektal oder mit Deutsch als Zweitsprache aufwachsen, fatal auswirken. Weil die Sprechbildung „einen wesentlichen Beitrag zu den Basisqualifikationen in unserer Informations- und Mediengesellschaft“ (ebd.: 15) leistet, müsste ihr ein zentraler Stellenwert im Unterricht zukommen. Ertmer (2004) weist darauf hin, dass die Sprechbildung und das gestaltende Sprechen hauptsächlich im Rahmen schulischer Theaterarbeit thematisiert würden - jedoch ohne entsprechende Qualifikation der Lehrenden. Sie fordert deshalb die Möglichkeit der Weiterbildung für Lehrkräfte in diesem Bereich. Es gibt von Seiten der Fachdidaktik attraktive Vorschläge zur Implemen‐ tierung der Sprechbildung in den Unterricht - exemplarisch sei hier die Sprechwerkstatt von Pabst-Weinschenk (2000) genannt. Eine enge Verbindung hat die Sprechbildung zum sprechkünstlerischen Gestalten beziehungsweise gestaltenden Sprechen literarischer Texte (in Bezug auf dramatische Texte Lösener 2008, auf lyrische Texte Lösener 2 Sprechen und Zuhören 35 <?page no="36"?> Hand‐ lungsori‐ entierung vs. Reflexi‐ ons- und Präskripti‐ onsorien‐ tierung 2007). Diese Form der ästhetischen Kommunikation (Pabst-Weinschenk 2004) ist bereits in der Grundschule relevant, wenn Kinder zum Beispiel Gedichte rezitieren. Auch hierbei gilt, dass für die Ausbildung sprech‐ künstlerischer Fähigkeiten deren intensive, regelmäßige Förderung die grundlegende Voraussetzung ist. Konzepte und Impulse für das Vorlesen und Vortragen literarischer Texte im Deutschunterricht (→ 4.7) sind bei Hillegeist/ Pabst-Weinschenk (2021) zusammengestellt. Eine wesentliche, wenngleich nicht überraschende Erkenntnis der (in die‐ sem Kompetenzbereich noch recht dünnen) fachdidaktischen Forschung ist, dass handlungsorientierte Methoden die stärksten und nachhaltigsten Effekte erzielen: „Sprechen lernt man nur durch Sprechen“ (Wagner 2006: 748). Es wurden vielfältige Methoden entwickelt, mit denen Kompetenzen in den oben genannten Bereichen (zu anderen sprechen - mit anderen sprechen - vor anderen sprechen - verstehend zuhören - szenisch spielen - über Lernen sprechen) durch gezieltes Initiieren und Durchspielen von Kommunikationssituationen gefördert werden können. „Übung macht den Meister - das gilt in der mündlichen Kommunika‐ tion nur dann, wenn durch das Üben positive Erfahrungen vermittelt und Monotonie, Verdrossenheit und Lampenfieber vermieden werden.“ (Wagner 2013: 301) Eine Auswahl davon, die sich auf verschiedene Formen mündlicher Kom‐ munikation bezieht, soll in den folgenden Abschnitten dargestellt werden. Eine wichtige Ergänzung hierzu bilden reflexions- oder präskriptionsorien‐ tierte Zugänge, also die Analyse und/ oder das Formulieren von Regeln für kommunikative Handlungen (Wagner 2006: 748; Wildemann/ Vach 2013: 44). Der Grundprozess der metakommunikativen Reflexion ist die unverzichtbare Basis für das Lernen. Er erfasst bewusst gewordene, bewusst gemachte und meta‐ kommunikativ thematisierte Prozesse der Produktion und Rezeption mündlichen Sprachgebrauchs vor allem im curricular angelegten Lernbereich Mündliche Kommunikation, aber auch punktuell in der Unterrichtskommunikation anderer Fächer. (Polz 2012: 233) 36 2 Sprechen und Zuhören <?page no="37"?> Gesprächs‐ regeln Eine klassische Methode ist das Formulieren von Gesprächsregeln, die in allen Schulformen entweder implizit oder explizit eine Rolle spielen und häufig von Lehrkräften sowie von Schülerinnen und Schülern (ab einem gewissen Alter) als selbstverständlich angesehen werden. Sie entstammen teilweise einer diffusen ‚pädagogischen Tradition‘, werden aber mitunter auch Konzepten wie der themenzentrierten Interaktion entnommen. In den allermeisten Fällen sind sie allerdings auf Unterrichtssituationen ausgerichtet und für diese formuliert, dienen also vor allem dem reibungslosen Ablauf schulischer Gespräche. Positive Auswirkungen auf die Gesprächskompetenz außerhalb von institutionellen Kontexten sind daher kaum zu erwarten. Gesprächsregeln Wagner (2006: 754) formuliert die folgenden Gesprächsregeln, in denen auf missverständliche oder allzu absolute Formulierungen („Sprich laut! “) bewusst verzichtet wird: 1. Sprich angemessen laut und deutlich. 2. Sprich nicht zu schnell, gönne dir und uns kleine Pausen. 3. Hör genau zu, was der andere sagt und was ihn bewegt. 4. Lass deinen Partner ausreden. Unterbrich andere nur in echten Notfällen. 5. Fass dich möglichst kurz. 6. Sprich so ausführlich, dass die anderen verstehen können, was du meinst. Aufgaben 1. Welche Hilfsregel(n) der themenzentrierten Interaktion würden Sie für Unterrichtsgespräche in Ihrer eigenen Klasse für sinnvoll halten? 2. Im kooperativen Lernen wird der Lehrperson überwiegend eine mode‐ rierende Funktion (und nicht die eines Experten oder einer Expertin) zugewiesen. Begründen Sie diese ‚Umdeutung‘ der Lehrer: innenrolle und nehmen Sie kritisch dazu Stellung. 3. Wählen Sie ein grammatikalisches Thema aus und skizzieren Sie unter Berücksichtigung des Dreischritts think - pair - share (Denken - Aus‐ tauschen - Vorstellen) sowie des WELL-Prinzips mögliche Unterrichts‐ schritte. Mit welchen grammatikdidaktischen Konzeptionen (→ 6.5- 2 Sprechen und Zuhören 37 <?page no="38"?> 6.11) lässt sich das kooperative Lernen Ihrer Meinung nach besonders lernförderlich verbinden? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B E C K E R - M R O T Z E K , M./ V O G T , R. (2009) (umfassende Beschreibung der Eigenheiten des Unterrichtsgesprächs, geht auch auf didaktisch-methodische Aspekte - zum Beispiel verschiedene Möglichkeiten geplanten Instruierens, Varianten der Organisation des Sprecher: innenwechsels im Unterrichtsgespräch - ein) H O N N E F - B E C K E R , I./ K ÜH N , P. (2019) (an den Bildungsstandards orientierte, grund‐ legende Einführung in den Kompetenzbereich, illustriert mit zahlreichen Unter‐ richtsbeispielen) Lektüreempfehlung für einen inklusionsorientierten Unterricht H E E , K. (2019) (nimmt Erfordernisse des inklusiven Unterrichts im Kompetenzbe‐ reich Sprechen und Zuhören in den Blick) 2.1 Zu anderen sprechen Das Erzählen ermöglicht uns die Bearbeitung und Transformation von Wahr‐ nehmungen, Erfahrungen, Erinnerungen und Fiktionen zu ‚Geschichten‘. (Mo‐ rek/ Ohlhus 2018: 11) Die Bildungsstandards für den Primarbereich und für den mittleren Bil‐ dungsabschluss umfassen für den Teilbereich ‚zu anderen sprechen‘ unter anderem funktionsangemessenes Sprechen, klare Artikulation, situations‐ angemessene Planung sowie eine Orientierung an der gesprochenen Stan‐ dardsprache. Explizit genannt wird neben anderen mündlichen Formen wie dem Erklären oder Beschreiben jeweils das Erzählen, auf das wir im Folgenden ausführlicher eingehen. Die mündliche Kommunikationsform Erzählen lässt sich wie folgt defi‐ nieren: „Erzählen ist ein spezifisch strukturierter abgegrenzter Teil des Diskurses oder auch eine kohärente Ereignisfolge mit mindestens einem Element der Diskontinuität oder Ungewöhnlichkeit“ (Becker 2009: 64). Der Begriff Ungewöhnlichkeit weist darauf hin, dass ein Erwartungsbruch vorlie‐ gen muss, der ein Ereignis erst ‚erzählwürdig‘ macht. In der Erzählforschung wird häufig unterschieden zwischen einem Erzählen im weiteren Sinne, wie 38 2 Sprechen und Zuhören <?page no="39"?> Erzählför‐ derung im Erzähl‐ kreis? es im Alltag häufig vorkommt, und einem Erzählen im engeren Sinne, das eine größere Nähe zu schriftlichen/ literarischen Formen aufweist und von Becker als „idealtypisch“ (ebd.: 65) bezeichnet wird. Erläuterung ■ Erzählen im engeren Sinne monologisch - diskursiv isoliert - kohärent - temporal und kausal klar organisiert - Erwartungsbruch - literal markiert ■ Erzählen im weiteren Sinne häufig ko-konstruiert, also dialogisch - in Diskurse eingebettet - weniger klar strukturiert Erzählentwicklung im Vor- und Grundschulalter Zur Erzählentwicklung im Vor- und Grundschulalter wurden schon et‐ liche Studien veröffentlicht, deren Aussagekraft aufgrund der zugrunde liegenden „artifiziellen Settings“ (Bredel 2019: 12) allerdings mitunter bezweifelt wird. Wir orientieren uns im Folgenden an Boueke et al. (1995), die auf der Basis der mündlichen Bearbeitung von Bilderge‐ schichten bei Kindern unterschiedlichen Alters vier Stufen beschreiben: 1. Isolierter Typ: Einzelaspekte werden genannt, inhaltliche Verbindun‐ gen zwischen Ereignissen aber nicht verbalisiert. 2. Linearer Typ: Die einzelnen Äußerungen werden durch Konnekto‐ ren verbunden, beispielsweise durch das temporale ‚und dann‘. 3. Strukturierter Typ: Zusätzlich werden (zum Beispiel kausale) Bezüge zwischen den Ereignissen hergestellt und verbalisiert, das Kind markiert Anfang und Ende der Erzählung. 4. Narrativer Typ: Zusätzlich werden nun die Zuhörer: innen durch affektive Markierungen oder Stellungnahmen angesprochen und eingebunden. Das mündliche Erzählen ist bereits im Vorschulalter eine grundlegende Form des alltäglichen Sprachgebrauchs, deren frühe Einübung und Förderung sich auch auf die Entwicklung anderer mündlicher Formen positiv auswir‐ ken kann. Schon deshalb genießt das Erzählen traditionell einen hohen 2.1 Zu anderen sprechen 39 <?page no="40"?> methodi‐ sche Vor‐ schläge Stellenwert in der Didaktik der mündlichen Kommunikation, vor allem in der Primarstufe. Übersehen wird dabei in der Praxis häufig, dass die institutionellen Rahmenbedingungen des Unterrichts (→ S. 26 f.) für das Produzieren von Erzählungen in vielerlei Hinsicht ungeeignet sind. Fiene‐ mann/ v. Kügelgen erläutern anhand zahlreicher Beispiele eindrücklich, dass und warum im vertrauten Erzählkreis in aller Regel keine Erzählungen im engeren Sinne entstehen: „Obwohl […] unstrittig Erzählanlässe vorliegen […], kommt es nicht zu den beschriebenen, eine Erzählung konstituierenden Elementen. Wichtiges und Unwichtiges, Interessantes und Banales wird linear hintereinander weg verbalisiert“ (2006: 138; s. auch Becker/ Stude 2017: 81-ff. sowie Bredel 2019: 19). „Wo die Schule anfängt, hört das Erzählen auf.“ (Fienemann/ v. Kügelgen 2006: 137) Der Erzählerwerb vollzieht sich außerhalb der Schule vor allem in Zweier- Kommunikationssituationen mit gleichberechtigten Gesprächspartnerin‐ nen und -partnern - ein Kontext, der im Unterricht nur schwer simuliert werden kann. Der Erzählkreis mag in mancher Hinsicht entlastend wirken und aus pädagogischer Perspektive ein geeigneter Wochenauftakt in der Grundschule sein - die Fähigkeit, Erzählungen im engeren Sinne zu produ‐ zieren, wird damit aber offenbar nicht oder kaum gefördert. Konkrete handlungsorientierte Methoden zur Unterstützung des Erzähl‐ erwerbs zeichnen sich daher häufig dadurch aus, dass eigene (meist fik‐ tive) Erzählanlässe geschaffen werden, die auch aufgrund der geringeren persönlichen Involviertheit die Kritik und Evaluation der entstehenden Erzählungen erleichtern. Die häufig eingesetzte Bildergeschichte erscheint in diesem Zusammenhang wenig geeignet, da sie durch die stark visuelle Stimulation zur Produktion wenig kohärenter Einheiten mit zahlreichen deiktischen Elementen führt (s. für das schriftliche Erzählen Bredel 2001, für das mündliche Erzählen - mit Alternativvorschlägen - Köhler 2014 sowie Akbulut 2018). Bei Nacherzählungen, Erlebnis- und Phantasieerzählungen dagegen sei es Kindern eher möglich, ihre vorhandenen Erzählfähigkeiten zu entfalten und weiterzuentwickeln (Becker 2015: 200 ff.). Claussen/ Mer‐ kelbach (1995) präsentieren in ihrer Erzählwerkstatt zahlreiche Anregungen 40 2 Sprechen und Zuhören <?page no="41"?> für solche Erzählimpulse, die auch das interaktive Planen und gemeinsame Gestalten von Erzählungen in Kleingruppen ermöglichen. Becker (2009: 75) weist zudem auf die Bedeutung unterschiedlicher Teilkompetenzen hin, die erst in ihrem Zusammenwirken Erzählfähigkeit ausmachen. So lassen sich fruchtbare Anknüpfungspunkte beispielsweise zur T E XT O R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT (→-6.3: Erarbeitung eines themen‐ spezifischen Wortschatzes) oder zum F UNKTIONAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.9: Erarbeitung und Erprobung der Funktionen verschiedener Tempus‐ formen) herstellen. Auch für den Unterricht in inklusiven Kontexten ist das mündliche Erzählen (eventuell ausgehend von einem erweiterten Erzählbegriff, der auch dialogische Formen sowie non- und paraverbale Elemente einschließt) gut geeignet. Hee (2016) erläutert Möglichkeiten der Förderung bestimmter Aspekte von Erzählkompetenz (unter anderem lineare Strukturiertheit, Kohäsion und Kohärenz sowie literale Markiertheit) im Hinblick auf die Arbeit mit Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen. Über das diktierende Schreiben (Merklinger 2010) lasse sich hier gerade in heterogenen Lern‐ gruppen, in denen ausgewählte Schüler: innen die Aufgabe des Schreibens übernehmen können, auch eine Brücke zum schriftlichen Erzählen schlagen. 2.2 Vor anderen sprechen Für das vortragende Kind wird das Durchdringen der Sache gefördert, wenn es einen Sachverhalt vor einer Gruppe darstellt, das Interesse der Zuhörer gewinnt, wenn es Gesagtes durch eine Veranschaulichung, ein Bild, Stichwörter an der Tafel oder auf der Folie erklärt. Es fördert aber auch seine mündliche Rede und damit den Mut, vor anderen zu sprechen; es fördert das planvolle Sprechen und die didaktische Kompetenz, weil es anderen die Sache interessant und verständlich machen will. (Bartnitzky 2000: 38) Der Teilbereich ‚vor anderen sprechen‘ nimmt monologische Kommunika‐ tionsformen in den Blick, in denen ein: e Schüler: in einen längeren, mehr oder weniger freien Redebeitrag äußert. Neben dem Vorlesen und Vortragen (s. hierzu Baurmann 2017b) gehört hierzu insbesondere das Präsentieren, das inzwischen in den Bildungsplänen, in Lehrwerken und in der Praxis der Primar- und Sekundarstufe eine wesentliche Rolle spielt - mit gutem Grund 2.2 Vor anderen sprechen 41 <?page no="42"?> und ungeachtet dessen, dass dieser Teilbereich in den Bildungsstandards für die Grundschule bisher keine Erwähnung findet. Präsentationen finden als Buchvorstellungen, Referate, informierende Kurzvorträge und Ähnliches in allen Schulformen und Klassenstufen statt. Berkemeier/ Pfennig betonen die damit verbundenen Chancen: Präsentieren bietet eine gute Möglichkeit, mündliche Fähigkeiten zu fördern, weil diese Handlungsform ohne weiteres in andere Lernbereiche des Deutschun‐ terrichts integriert und auch fächerübergreifend nutzbar gemacht werden kann. (2012: 544) Zudem bieten Präsentationen einen authentischen Anlass, um - mit geeigneter Unterstützung durch die Lehrperson - die Verwendung bildungssprachlicher Praktiken anzubahnen und gezielt zu fördern (Voßkamp 2019: 188). Berkemeier/ Pfennig (2012: 544 f.) verstehen Präsentieren als einen kom‐ plexen Prozess, der in drei Phasen unterteilt werden kann, wobei die beiden letzten naturgemäß parallel ablaufen: ■ Entwicklungsphase (Informationen werden recherchiert und zusammen‐ gestellt; der Vortrag wird geplant, gegliedert und überarbeitet) ■ Umsetzungsphase (sprachliche, sprecherische, nonverbale und mediale Gestaltung des Vortrags) ■ Rezeptionsphase (seitens der Zuhörer: innen werden Informationen ent‐ nommen und in mentale Repräsentationen umgewandelt) Die in der Grundschule omnipräsenten Buchvorstellungen werden von Berke‐ meier/ Pfennig kritisch beurteilt: Möglicherweise gelinge es dadurch, Lesemo‐ tivation zu wecken - Präsentationskompetenz lasse sich allerdings so wohl nur eingeschränkt fördern, weil die Aufgabe für Kinder im Grundschulalter ungeheuer komplex sei und deshalb häufig durch allzu präzise Vorgaben seitens der Lehrkraft gesteuert werde (ebd.: 545). Von wesentlicher Bedeutung ist es deshalb Spinner zufolge, die Schüler: innen nicht mit der großen Herausforde‐ rung, die das Vorbereiten und Halten einer Rede beinhaltet, ‚allein zu lassen‘: „Reden ist so komplex, dass es schwer ist, alle Aspekte immer gleichzeitig im Blick zu haben“ (1997: 22). Deshalb seien Übungen zu einzelnen Bausteinen (z. B. Gliederung, Möglichkeiten des Einstiegs, Einbeziehung paraverbaler und nonverbaler Mittel) sinnvoll, um die Komplexität der Aufgabenstellung zu reduzieren und einzelne Aspekte gezielt optimieren zu können. Gätje et al. (2016: 5 ff.) betonen die Bedeutung schriftkultureller (literaler) Elemente beim mündlichen Präsentieren. Dieses eignet sich demzufolge in 42 2 Sprechen und Zuhören <?page no="43"?> Förderung von Teilfä‐ higkeiten besonderem Maße für das situationsangemessene Einfordern und Einüben bildungssprachlicher Praktiken, was gerade für Schüler: innen mit ungünstigen sprachlichen Lernvoraussetzungen einer gezielten Unterstützung bedarf. Ähnlich wie in der prozessorientierten Schreibdidaktik (→-3.10) können die Teilfähigkeiten, die zum Präsentieren gehören, in einzelnen Unterrichts‐ schritten gezielt gefördert werden. So kann der Fokus etwa auf das Sammeln von Inhalten, die Auswahl von Anschauungsmaterial für das Publikum, das Erstellen einer Sprechvorlage oder die sprecherische und nonverbale Gestal‐ tung der Präsentation gelegt werden (s. auch die Materialien in der Lernbox Präsentieren, Pabst-Weinschenk 2011). Erfolgversprechend erscheint außer‐ dem der gezielte Einsatz mündlicher Prozedurausdrücke (→ 3.10), die bei‐ spielsweise bestimmte Elemente der Präsentation einleiten oder abschließen und so wesentlich zu einem bildungssprachlichen Charakter des Vortrags beitragen. Berkemeier/ Pfennig (2012: 550 f.) heben zudem die Bedeutung der Rezeption und Reflexion von Präsentationen hervor (→ 2.6). Ein Feedback‐ gespräch sei unverzichtbar, weil darin nicht nur Präsentationsfähigkeiten thematisiert, sondern auch inhaltliche Fragen geklärt würden und so eine Absicherung des von den Schülerinnen und Schülern geleiteten Lehr-Lern- Prozesses möglich sei. Gätje weist darauf hin, dass der steigende Stellenwert von Präsentationen im Deutschunterricht nicht nur ein Wiederaufleben rhetorischer Elemente impliziere, sondern auch „im Zeichen einer allgegen‐ wärtigen visual culture“ (2014: 18; Herv. i. O.) die Ergänzung oder Ersetzung sprachlicher durch graphische Mittel erfordere. Grundsätzliches und kon‐ krete Anregungen zur multimedialen Unterstützung von Präsentationen finden sich in Praxis Deutsch 244 (2014), beispielsweise in den Beiträgen von Baurmann/ Berkemeier und Berkemeier/ Brauch, sowie - insbesondere für die Sekundarstufe I und II - von Geldmacher 2010. Hinweis Bücher präsentieren: Das Vorstellen von literarischen Werken im Deutsch‐ unterricht ist im Laufe der Zeit zu einer unhinterfragten Tradition erstarrt, die in erster Linie dazu geeignet ist, Langeweile und Desinteresse bei den Zuhörenden auszulösen. Dahingegen enthält das Themenheft Bücher vor‐ stellen der Zeitschrift Deutsch 5-10 (2008, H. 14) eine Fülle an Vorschlägen, um Buchpräsentationen interessant zu gestalten. 2.2 Vor anderen sprechen 43 <?page no="44"?> Präsentie‐ ren - auch fächer‐ übergrei‐ fend Über den expliziten Redeunterricht hinaus fordert Spinner (1997: 22) mit Recht, auch fächerübergreifend vielfältige Situationen zu nutzen, in denen Schüler: innen kleinere oder größere Redebeiträge einbringen können. Das Einsetzen und Weiterentwickeln der Fähigkeit, vor anderen zu sprechen, ist nicht auf den Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören beschränkt, sondern kann darüber hinaus als allgemeines Unterrichtsprinzip betrachtet werden. Weitere, über das Präsentieren im engeren Sinne hinausgehende Vorschläge für die Förderung des Sprechens vor anderen, wie etwa die Dreiminuten- Rede oder improvisierte Werbeansprachen, finden sich bei Selimi (2020: 72-ff.). Erarbeitung von sachtextbezogenen Präsentationen Unter dem Titel Präsentieren lehren bietet Berkemeier ausgearbeitete Vorschläge für Unterrichtseinheiten, beispielsweise zu sachtextbezoge‐ nen Präsentationen (2009: 95 ff.). Es wird dabei zunächst ein Thema ausgewählt, das an die Interessen der Schüler: innen oder aktuelle Situationen anknüpft. Anschließend wird eine Präsentation, die auf einem ins Thema einführenden Sachtext basiert, im Plenum entwickelt - dabei durchläuft die gesamte Klasse die vollständige Entwicklungsphase. Im Anschluss daran werden weitere Präsentationen zu inhaltlich ver‐ wandten Sachtexten, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Themas abdecken, arbeitsteilig in Gruppen erarbeitet. Eine Übersicht über die einzelnen Schritte der Entwicklungsphase ist dabei stets zugänglich und soll dazu beitragen, dass die Lernenden den Überblick über den Gesamtprozess behalten: 1. Text(e) lesen und verstehen 2. wichtige Informationen heraussuchen 3. Informationen ordnen und verbinden 4. Präsentation planen 5. Probevortrag (eventuell überarbeiten) 6. Präsentation Zahlreiche Hilfestellungen für den Umgang mit den Grundlagentexten, für die Verbindung verschiedener Aspekte und den Aufbau des Vortrags unterstützen die Unterrichtsplanung und geben den Lernenden direkte Hinweise zur Vorbereitung und Umsetzung der Präsentation. 44 2 Sprechen und Zuhören <?page no="45"?> 2.3 Mit anderen sprechen Das Diskutieren spielt in den Lehrplänen wie im Unterricht eine wichtige Rolle, insbesondere auch als Mittel zur Schulung der Argumentationsfähigkeit, auf die unsere demokratische Grundordnung angewiesen ist. Nur die gesellschaftliche Wertschätzung des Argumentierens als geeignetem Verfahren zur gemeinsamen Lösungssuche bei offenen Fragen lässt jene Form des Zusammenlebens möglich werden. (Grundler/ Vogt 2012: 487) Im Teilbereich ‚mit anderen sprechen‘ (in den Bildungsstandards für den Primarbereich: ‚Gespräche führen‘) lernen Kinder und Jugendliche unter an‐ derem, sich konstruktiv an Gesprächen zu beteiligen, auf Gesprächsbeiträge anderer einzugehen sowie unter Einhaltung von Gesprächsregeln die eigene Meinung zu vertreten beziehungsweise auf andere Meinungen sachlich und informierend einzugehen. Insbesondere das mündliche Diskutieren genießt in den aktuellen Lehr- und Bildungsplänen einen hohen Stellenwert, wird jedoch im Gegensatz zum Erzählen zumeist erst in der Sekundarstufe vertieft berücksichtigt. Die Diskussion als „thematisch zentriertes Gespräch mit offener bzw. strittiger Fragestellung“ (Grundler/ Vogt 2012: 488) enthält typischerweise argumentierende Gesprächsbeiträge: Beim Argumentieren versuchen wir, ungesicherten Thesen durch Begründungen zur Geltung zu verhelfen. Die Notwendigkeit zu argumentieren entsteht durch Einwände eines Gesprächspartners oder durch eigene Zweifel. (Ebd.: 487) Insofern lässt sich die Fähigkeit, adressatinnen- und adressatengerecht und überzeugend zu argumentieren, als Teil der Diskussionskompetenz verste‐ hen. In der fachdidaktischen Literatur werden die Begriffe ‚Diskutieren‘ und ‚Argumentieren‘ allerdings gelegentlich auch synonym verwendet, obschon Diskussionen sehr häufig neben argumentierenden auch beispielsweise erklärende oder informierende Sprechhandlungen beinhalten. Nicht nur für die individuelle Entwicklung, sondern auch für den Fortbe‐ stand der demokratischen Gesellschaft ist es unerlässlich, die Fähigkeit zum Diskutieren und Argumentieren gezielt zu fördern - dies gilt, ausgehend von einem erweiterten Verständnis des Gegenstands (Grundler/ Vogt 2012: 489), selbstredend auch für die Primarstufe. Es handelt sich hier um eine sehr komplexe mündliche Form, weil je nach Gesprächsgegenstand ganz unterschiedliche (z. B. erklärende oder beschreibende) Teilhandlungen er‐ 2.3 Mit anderen sprechen 45 <?page no="46"?> methodi‐ sche Vor‐ schläge forderlich sind und miteinander kombiniert werden können. Das mündliche Argumentieren verlangt im Vergleich zu seinem schriftlichen Pendant weniger Planung und sprachliche Explizitheit, ist aber aufgrund der dialo‐ gischen Kommunikationssituation anspruchsvoll; so müssen beispielsweise auch überraschende Äußerungen der Gesprächspartner: innen einbezogen werden (Kotthoff 2009: 49-f.). Zur Förderung der Argumentationsfähigkeit empfehlen Grundler/ Vogt (2012: 498 ff.) die Durchführung schüler: innenzentrierter Gespräche (ohne Verteilung des Rederechts durch die Lehrperson) zunächst in Kleingruppen und unter Berücksichtigung bestimmter Verfahren für den Wechsel des Rederechts. Eine Einteilung in Phasen (Eingangsstatement - Diskussion - Abschlussstatement) sowie zeitliche Vorgaben strukturieren das Gespräch und ‚zwingen‘ die Schüler: innen, sich neben inhaltlichen Aspekten auch auf die Form der eigenen sprachlichen Äußerungen zu konzentrieren. Für die drei Phasen werden klare Vorgaben zeitlicher Art (Eingangsstatement: zwei Minuten, Abschlussstatement: eine Minute) und weitere Hilfestellun‐ gen empfohlen; die Leistung der Teilnehmenden lässt sich anschließend mithilfe eines vorgegebenen Kriterienkatalogs durch die Mitschüler: innen beurteilen. Diskussionen im Plenumsunterricht haben demgegenüber den Nachteil, dass nicht alle Beteiligten zu Wort kommen können. Sie eignen sich aber besonders für eine anschließende Reflexion (→ 2.6), beispielsweise durch das Führen von Metagesprächen, in denen Diskussionsverläufe und -ergeb‐ nisse thematisiert werden. Die Lehrkraft hat im Kontext des ‚unterrichtsin‐ tegrierten Argumentierens‘ die wichtige Aufgabe, ausgehend von fachlichen Problemen Gelegenheiten für Diskussionsbeiträge seitens der Schüler: innen zu schaffen, durch gezieltes Nachfragen ‚Zugzwänge‘ zu setzen und ihre Erwartungen an argumentierende Äußerungen zu explizieren (Heller/ Mo‐ rek 2015: 19). Tipp Konkrete Vorschläge zur Praxis des Debattierens für die Sekundarstufe (mit Arbeitsmaterialien) bieten Wagner/ Kemmann (2021). Auch online (→ 5.7) lassen sich sinnvolle (auch interkulturelle) Vernetzungen von Schülerinnen und Schülern finden (s. z. B. die Initiative Jugend debattiert: jugend-debattiert.de und jugend-debattiert.eu). 46 2 Sprechen und Zuhören <?page no="47"?> Diskussion als ‚Simu‐ lation‘ oder ‚Ernstfall‘? Im Plenum können, wie Wagner (2006: 749) betont, auch ‚Ernstfalldiskussi‐ onen‘ durchgeführt werden, wenn in der Klasse strittige Themen (etwa zur Verwendung der finanziellen Mittel aus der Klassenkasse) aufkommen. Den Vorteilen dieser Vorgehensweise (höhere Motivation) sind allerdings auch Nachteile gegenüberzustellen: Persönliche Involviertheit und zwischen‐ menschliche Beziehungen erschweren die Konzentration auf sprachliche Aspekte der Äußerungen. Eine weitere, vor allem für die Sekundarstufe in‐ teressante Möglichkeit ist das fächerverbindende Arbeiten, also die Nutzung von Diskussionsanlässen aus anderen Lernbereichen wie dem Geschichts-, Politik- oder Religionsbeziehungsweise Ethikunterricht. Grundsätzlich ist es wichtig, das Augenmerk bei der Unterrichtsvorbereitung nicht aus‐ schließlich auf die Förderung der Gesprächskompetenz, sondern deutlich auch auf die zu diskutierenden Inhalte zu richten: „Gutes Argumentieren steht und fällt mit Sachkenntnis und ist insofern immer an einen adäquaten Informationsstand gebunden” (Kotthoff 2009: 52). Ähnlich wie in monologischen Redekontexten (→ 2.2) spielen auch beim Argumentieren ganz unterschiedliche sprachliche Ebenen, an denen gezielt gearbeitet werden kann, eine Rolle. Grundler (2009: 85 ff.) erläutert exemplarisch am Beispiel der Lexik, wie ein großer autonomer Wortschatz (→ 6) mit der Komplexität von Argumentationen zusammenhängt, und schließt daraus: „Die Förderung der Argumentationsfähigkeit muss […] immer mit einer Förderung des Wortschatzes der Kinder und Jugendlichen einhergehen“ (ebd.: 94). Selbstverständlich umfasst das Sprechen ‚mit anderen‘ neben Diskussio‐ nen im engeren Sinne noch weitere Gesprächskontexte, die unter anderem im Rahmen von sozialen Rollenspielen (→ 2.5) thematisiert werden können: persönliche/ private Gespräche, Telefongespräche, Verkaufsgespräche oder Interviews - und auch Unterrichtsgespräche. Einen didaktisch orientierten Überblick mit konkreten methodischen Vorschlägen bieten Honnef-Becker/ Kühn (2019: 102 ff.). 2.4 Verstehend zuhören Das Ergebnis von Zuhören ist immer eine Konstruktion des Zuhörers, der aus seinem Wissensbestand und der neu aufgenommenen Information ein mentales Modell baut. Zuhören ist also immer ein Prozess der subjektiven Rekonstruktion von Sinn. (Imhof 2018: 56) 2.4 Verstehend zuhören 47 <?page no="48"?> S-O-I- Modell Bei aller berechtigten Kritik an der traditionell lehrkraftzentrierten Gestal‐ tung von Unterrichtsgesprächen (Becker-Mrotzek/ Vogt 2009: 180 ff.) scheint doch immerhin das Zuhören eine Tätigkeit zu sein, die Schüler: innen in ausreichendem Maße praktizieren (sollen). Dennoch ist die Entwicklung der Fähigkeit, in mündlichen Kommunikationssituationen zuzuhören und zu verstehen, keine Selbstverständlichkeit. Verstehendes Zuhören umfasst un‐ ter anderem die Fähigkeit, Gesprächsbeiträge anderer ebenso wie umfang‐ reichere gesprochene Texte zu verfolgen und zu verstehen, Informationen zu sichern, in ein mentales Modell zu integrieren und wiederzugeben. Zuhören erfordert ebenso wie das Lesen (→-4) Bottom-up- und Top-down-Prozesse: Kognitiv betrachtet ist Zuhören ein Prozess, der aus mehreren Schritten besteht: Wir hören etwas, nehmen das Gehörte in den Aufmerksamkeitsfokus und versu‐ chen einen Sinn zu konstruieren, den wir mit dem bereits Gehörten (Erinnern) und dem, was wir noch hören werden, konsistent zu machen versuchen. (Spiegel 2006: 155) „Keine Instruktionsform kommt ohne akustisch vermittelte Information aus, jede Unterrichtsform, mit oder ohne Unterstützung technischer Medien, setzt die Zuhörfertigkeiten der Lernenden voraus.“ (Imhof 2003: 216) Auf wesentliche Unterschiede zwischen der Verarbeitung gesprochener und geschriebener Sprache weist Imhof (2003: 21 ff.) hin. Hierfür seien unter anderem Spezifika der akustischen Wahrnehmung, des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und der weiteren Verarbeitung vor der Aufnahme ins Langzeitgedächtnis erforderlich. Die Besonderheiten der mündlichen Kom‐ munikationsform verlangen eine Selektion des zu Hörenden aus der Fülle der sonstigen akustischen (und gegebenenfalls visuellen) Reize, bevor diese mithilfe vorhandener kognitiver Muster strukturiert (Organisation) und in bereits existierende Wissensstrukturen eingebaut (Integration) werden können (Imhof 2010: 18 f.). Kröger-Bidlo (2018) präsentiert eine Erweiterung des S-O-I-Modells, die insbesondere den Umgang mit komplexen Hörtexten in den Blick nimmt. Sie untergliedert die drei Teilschritte, indem sie jeweils affektiv-emotionale, kognitive, metakognitive und selbstregulierende As‐ pekte unterscheidet. Auf dieser Basis formuliert sie exemplarische Lernziele: 48 2 Sprechen und Zuhören <?page no="49"?> didakti‐ sche und methodi‐ sche Über‐ legungen So gehöre zum kognitiven Selektieren unter anderem die Aktivierung von Vorwissen und die Formulierung des Wissensbedarfs, während das meta‐ kognitive Selektieren beispielsweise eine Prüfung der Vollständigkeit von Informationen und ein Abwägen derselben umfasse (ebd.: 144-ff.). Einerseits werden beim Zuhören also konkrete, akustisch wahrgenom‐ mene Inhalte verallgemeinert und mit bereits vorhandenen Kategorien verknüpft; andererseits beeinflussen eben diese Kategorien - das vorhan‐ dene Wissen und die vorhandenen Einstellungen - die Wahrnehmung und Verarbeitung des akustisch Rezipierten. Die Zuhörfähigkeit entwickelt sich ungesteuert nicht automatisch in ausreichendem Maße - dasselbe gilt darüber hinaus auch für das Rückmel‐ deverhalten, da dieses im traditionellen lehrkraftzentrierten Unterrichtsge‐ spräch nur eine untergeordnete Rolle spielt. Da erfolgreiches Zuhören und Verstehen wesentliche Bestandteile kom‐ munikativer Kompetenz sind, muss auch im Deutschunterricht hieran gearbeitet werden - eine Zuhördidaktik ist allerdings erst im Entstehen (Behrens 2013: 397; s. jedoch schon Spinner 1988a und 1988b; zur Bedeutung des Zuhörens in Verbindung mit dem literarischen Lernen Müller 2012; s. grundlegend - aus fachwissenschaftlicher Perspektive - Imhof 2003 und 2010). Krelle (2010: 51 ff.) präsentiert hierfür eine erste Systematisierung, indem er die Bereiche Hörästhetik und Aufmerksamkeitssteuerung, Zuhören und Hörverstehen sowie interaktives Sprechen und Zuhören unterscheidet. Behrens (2013: 398) fordert in ähnlicher Weise wie im Kontext der Leseför‐ derung (→ 4.3) die Etablierung und gezielte Einübung von Zuhörstrategien, was beispielsweise eine Entlastung durch die Aktivierung von Vorwissen oder das vorbereitende Sammeln von Fragen und Erwartungen vor einer längeren Präsentation beinhalten kann. Umsetzen lässt sich dies, wie Krelle (2016) anschaulich ausführt, beispielsweise durch die Arbeit mit einem ‚Ratekrimi‘, bei dem über aufmerksames und strategiegeleitetes Zuhören ein Fahrraddieb entlarvt werden soll. Ein konkreter Vorschlag für den Einsatz von Zuhörstrategien bei der Arbeit mit Sachtexten in Verbindung mit metakognitiver Überwachung findet sich bei Schilcher (2012). Spiegel (2009: 200 ff., s. Kasten) schlägt verschiedene handlungsorientierte Beobachtungs- und Zuhöraufgaben vor, mit denen es gelingen könne, die Aufmerksamkeit der Schüler: innen auf verschiedene kommunikative und inhaltliche Ebenen zu lenken und sie so für die kommunikative Tätigkeit des Zuhörens zu sensibilisieren. Diese darf nicht als rein rezeptive Tätigkeit missverstanden werden, sondern schließt immer das Produzieren von nonverbalen und 2.4 Verstehend zuhören 49 <?page no="50"?> literari‐ sches und soziales Rollenspiel verbalen Rückmeldungen und Nachfragen ein (Berkemeier/ Spiegel 2014: 124 ff.). Eine wichtige Rolle spielt das Zuhören darüber hinaus für das literarische Lernen im Umgang mit akustisch-auditiven Medien; neben dem Hörverstehen stehen hier insbesondere Hörästhetik und Aufmerksamkeits‐ steuerung im Fokus (→-5.7). Beobachtungs- und Zuhöraufgaben Beobachtungsaufgaben lenken die Aufmerksamkeit der Schüler: innen auf verschiedene Aspekte von Äußerungen (z. B. Körpersprache, pa‐ rasprachliche Mittel, Inhalt des Gesagten) und sensibilisieren so für unterschiedliche sprachliche Ebenen. Zuhöraufgaben lenken den Fokus dagegen auf die Sachebene. Inhaltliche Fragen beispielsweise dienen zur Vorstrukturierung und erleichtern häufig das Verstehen mündlicher Äußerungen. Zu betonen ist dabei die Bedeutung der „Zielklarheit nicht nur aus Sicht der Lehrperson, sondern auch für die Schüler/ innen“ (Spiegel 2009: 218). Die Messung von Zuhörkompetenzen scheint im Vergleich zu den produk‐ tiven Formen (zu, vor und mit anderen sprechen) verhältnismäßig leicht objektiv und reliabel durchführbar zu sein - nicht umsonst sind Aufgaben zum Zuhören beziehungsweise Hörverstehen inzwischen ein beliebter Be‐ standteil von Leistungserhebungen wie der VERA-Studie. Zingg Stamm et al. (2016) betonen demgegenüber die Komplexität des Gegenstands und schlagen differenziertere Aufgaben vor, die unter anderem auch prosodische Merkmale der Zuhörtexte einbeziehen. 2.5 Szenisch spielen Das Rollenspiel ist als eine wichtige Methode sprachlichen und sozialen Lernens […] nicht mehr aus dem Unterricht wegzudenken. (Neuland/ Peschel 2013: 52) Das szenische Spiel wird im Deutschunterricht traditionell im Zusammen‐ hang mit literarischen Texten eingesetzt (→ 5.2 H ANDL UN G S - UND P R ODU KTI ‐ O N S O R I E NTI E R T E R L IT E R ATU R UNT E R R ICHT , → 5.5 S Z E NI S CH E I NT E R P R E TATIO N ). Im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören rückt dagegen das soziale Rollen‐ spiel in den Blick. Im Gegensatz zu den bisher behandelten Teilbereichen 50 2 Sprechen und Zuhören <?page no="51"?> steht hier also nicht eine konkrete mündliche Kommunikationsform, son‐ dern eine Methode im Fokus - es geht darum, dass Kinder und Jugendliche lernen, sich in andere Rollen hineinzuversetzen, und in diesem Rahmen unterschiedliche kommunikative Praktiken einüben. In der Natur der Sache liegen somit auch Überschneidungen mit anderen Teilkompetenzen, insbe‐ sondere mit dem Bereich ‚mit anderen sprechen‘ (→-2.3). Das soziale Rollenspiel (auch: Konfliktrollenspiel) weist nach Krappmann (1972) einige Merkmale auf, die ihm im Vergleich mit anderen Methoden einen Mehrwert verleihen: Es fördere zusätzlich die Entwicklung der Fä‐ higkeit, Perspektiven anderer zu übernehmen oder sich in Gefühle und Stimmungen anderer hineinzuversetzen. Die Trennung zwischen Rolle und Schüler: in ermögliche es, einen rollengemäßen (gegebenenfalls von den eigenen Gewohnheiten abweichenden) Kommunikationsstil spielerisch zu erproben und sich bewusst auch mit divergierenden oder problematischen Rollen auseinanderzusetzen. Neben ‚lebensweltlichen‘ Bezügen (zum Bei‐ spiel dem Vorstellungsgespräch in der 9. oder 10. Klassenstufe) können etwa auch Computerspiele Kontexte und Anregungen für die Ausgestaltung von Rollen liefern (Abraham 2016: 114; zur Nutzung von Computerspielen im Deutschunterricht s. auch Boelmann 2019). Weitere grundsätzliche Überlegungen zum szenischen Spielen im Deutschunterricht und praktische Vorschläge, unter anderem zum ‚Mei‐ nungstheater‘, das eine interessante Herangehensweise für die Sekundar‐ stufe bietet, finden sich bei Abraham (2016: 113-ff.). Angeleitetes Rollenspiel Honnef-Becker/ Kühn (2019: 154 f.) beschreiben für das angeleitete Rollenspiel, das sich besonders für die Bearbeitung konfliktträchtiger Themenstellungen eigne, vier Phasen: 1. In der Aufwärmphase können die Kinder und Jugendlichen durch Sprech- und Bewegungsübungen Hemmungen und Ängste abbauen. 2. Die Vorbereitungsphase dient dazu, die Lernenden mit der Spielsi‐ tuation und den zu verkörpernden Rollen vertraut zu machen. Auch Beobachtungsaufgaben, die von den nicht am Rollenspiel Beteiligten zu übernehmen sind, müssen vorbereitet werden (z. B. durch Beobachtungsbögen). 2.5 Szenisch spielen 51 <?page no="52"?> Sprachförderung durch Dramapädagogik 3. Die Spielphase wird durch eine leitende Person explizit eingeführt. Möglich sind mehrere Durchgänge, eventuell auch mit Rollenwech‐ seln oder unter Einbeziehung der Zuschauer: innen. 4. In der Nachbearbeitungsphase dürfen zunächst die Akteurinnen und Akteure auf das Rollenspiel zurückblicken. Anschließend werden die Beobachtungen der Zuschauer: innen zusammengetragen. Wich‐ tig ist hier die Trennung zwischen Rolle und Person, um sachliche und zugleich zielführende Kritik zu ermöglichen. Positive Effekte im Hinblick auf sprachliche Fähigkeiten, insbesondere von Kindern und Jugendlichen mit DaZ, wurden in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Dramapädagogik (beziehungsweise Dramagram‐ matik) beobachtet. Diese aus dem englischsprachigen Kontext stammende Methode wird inzwischen recht häufig und erfolgreich in Förderkontexten eingesetzt (z. B. in den ‚Jacobs-Sommercamps‘, Rösch 2006), spielt in der Unterrichtspraxis aber bisher nur eine untergeordnete Rolle. Dramagrammatik ist ein Lehr- und Lernansatz, der auf den Prinzipien von Dramapädagogik aufbaut und Grammatik mit performativen Techniken zusam‐ menführt. Fremdsprachliche Grammatik wird auf der Bühne des Klassenraums in Lernmomenten inszeniert, die durch ihren fiktionalen Charakter einen Schutz‐ raum gewährleisten, in dem Lernende Wörter, Phrasen und Strukturen mit Gesten, Bewegung und Handlung verbinden und im gemeinsamen Spiel erleben, ob und wie ihre Beiträge den Verlauf der dramatischen Situation beeinflussen. (Even 2016: 7-f.) 2.6 Über Lernen sprechen Der Grundprozess der metakommunikativen Reflexion ist die unverzichtbare Basis für das Lernen. Er erfasst bewusst gewordene, bewusst gemachte und meta‐ kommunikativ thematisierte Prozesse der Produktion und Rezeption mündlichen Sprachgebrauchs vor allem im curricular angelegten Lernbereich Mündliche Kommunikation, aber auch punktuell in der Unterrichtskommunikation anderer Fächer. (Polz 2012: 233) 52 2 Sprechen und Zuhören <?page no="53"?> Analyse von Unter‐ richtsge‐ sprächen Die Teilkompetenz ‚über Lernen sprechen‘ taucht nur in den Bildungsstan‐ dards für die Grundschule auf; einige verwandte Punkte finden sich jedoch auch unter ‚Methoden und Arbeitstechniken‘ in den Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss. Hierzu gehört unter anderem, Sachverhalte zu beschreiben, zu begründen und zu erklären, Lernergebnisse zu präsentieren und über eigene Lernerfahrungen zu sprechen - beispielsweise auf der Basis eines Portfolios. An dieser Zusammenstellung wird bereits deutlich, dass es hier zahlreiche Überschneidungen mit den Teilbereichen ‚zu anderen sprechen‘, ‚mit anderen sprechen‘ und ‚vor anderen sprechen‘ gibt. Ein insbesondere für die Sekundarstufe interessanter Vorschlag für die Einbeziehung metakommunikativer Elemente ist die Analyse realer Unter‐ richtskommunikation (Wagner 2006: 754). So biete es sich an, Gespräche in der Klasse in unterschiedlichen Kontexten (lehrkraftzentriertes Gespräch im Plenum, Gespräche in Kleingruppen, Schüler: innengespräche mit verfah‐ rensgeregelter kommunikativer Ordnung) aufzunehmen, zu transkribieren und anschließend zu analysieren. Hinter einer solchen Untersuchung natür‐ licher (also nicht zum Zweck der Aufnahme inszenierter) Gespräche steht die Überlegung, dass durch den Erwerb von Fähigkeiten zur genauen Wahr‐ nehmung und Interpretation von kommunikativen Phänomenen sich besonders gut Strukturwissen über alltagsweltliche und institutionelle Gespräche aufbauen lässt. (Brünner/ Weber 2012: 298) Dies kann dazu beitragen, dass die Teilnehmenden das eigene Gesprächsver‐ halten zunehmend reflektieren und kontrollieren. Allerdings wird - gerade in der Sekundarstufe - nicht in jeder Lerngruppe ein solches Vorgehen möglich sein, ohne dass zumindest ein Teil der Schüler: innen Angst vor Ausgrenzung oder verletzenden Kommentaren empfindet. Kritisch zu hin‐ terfragen ist auch, inwiefern Gespräche unter diesen Umständen tatsächlich noch als ‚natürlich‘ bezeichnet werden können. Tipp HIAT (Halbinterpretative Arbeitstranskriptionen) ist ein Transkripti‐ onssystem, das von Ehlich und Rehbein entwickelt wurde. Ausführliche Informationen, Beispiele und Tools zum Download stehen unter exma‐ ralda.org zur Verfügung. 2.6 Über Lernen sprechen 53 <?page no="54"?> frei verfüg‐ bare Trans‐ kriptions‐ software Die Transkription natürlicher Gespräche ist, auch wenn Hilfsmittel wie eine geeignete Transkriptionssoftware zur Verfügung stehen, eine mühsame und zeitintensive Angelegenheit - allerdings in vielfacher Hinsicht gewinnbrin‐ gend, weil man gezwungen wird, den Blick intensiv auf unterschiedliche Aspekte mündlicher Kommunikation zu richten. Möglich ist neben der sequenziellen Einzelfallanalyse, bei der ein Gespräch (oder ein Gesprächsausschnitt) unter verschiedenen Fragestellungen betrach‐ tet wird, auch die fragegeleitete Transkriptanalyse, bei der man sich an vorfor‐ mulierten Fragestellungen orientiert und die Aufmerksamkeit so direkt auf bestimmte Phänomene richtet, zum Beispiel Merkmale von Mündlichkeit, Organisation und Ablauf des Sprecher: innenwechsels, Nachweis und Unter‐ suchung bestimmter sprachlicher Handlungsmuster (Brünner/ Weber 2012: 306 f.). Tipps für den Unterricht im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören ■ Machen Sie die Förderung mündlicher Fähigkeiten zum allgemeinen Unterrichtsprinzip, indem Sie lernbereichs- und fächerübergreifend den Schülerinnen und Schülern immer wieder das Erproben und Weiterentwickeln von Gesprächs- und Redekompetenz ermöglichen. ■ Insbesondere bei Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache müssen (neben den in den oben dargestellten Konzeptionen besonders fokussierten pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten) auch arti‐ kulatorische, morphosyntaktische und lexikalisch-semantische Fä‐ higkeiten kontinuierlich beobachtet und gefördert werden. Standar‐ disierte Instrumente für Lerner: innen mit Deutsch als Erstsprache sind dafür nur sehr eingeschränkt geeignet - ein für L2-Lernende geeignetes, besonders auf grammatikalische Aspekte zugeschnitte‐ nes Verfahren liegt mit LiSe-DaZ (Schulz/ Tracy 2011) vor. ■ Legen Sie an die mündlichen Produktionen der Lernenden keine Maßstäbe an, die zu schriftlichen Kommunikationsformen gehören (z. B. die häufig gehörte Aufforderung „Bitte im ganzen Satz! “, die - dies nur am Rande - kein ‚ganzer Satz‘ ist). ■ Legen Sie bei der Bewertung mündlicher Leistungen sowohl lang‐ fristige Beobachtungen (unterstützt durch regelmäßige Notizen) als auch punktuelle Leistungsüberprüfungen zu bestimmten mündlichen 54 2 Sprechen und Zuhören <?page no="55"?> Formen (Diskutieren, Präsentieren, Erklären …) zugrunde. Machen Sie Ihre Bewertungskriterien für die Schüler: innen transparent. ■ Seien Sie sich Ihrer Funktion als sprachliches Vorbild bewusst. Planen Sie wichtige Redebeiträge (zum Beispiel kurze Vorträge) präzise und achten Sie auch auf deren sprecherische Gestaltung. Hilfreiche Anregungen für ein Stimm- und Sprechtraining für Lehr‐ kräfte finden Sie in Eberhart/ Hinderer (2020). Aufgaben 1. Das Erzählen wird in erster Linie in nicht-institutionellen Kontexten erworben und eingesetzt. Nennen Sie Gründe dafür, es auch als Unter‐ richtsgegenstand zu berücksichtigen. Welche mündlichen Kompeten‐ zen, die auch in anderen Zusammenhängen wichtig sind, lassen sich durch das Erzählen fördern? 2. Vergleichen Sie die Kommunikationsform ‚mündliches Erklären‘ mit dem Erzählen und ziehen Sie Neumeister/ Vogt (2012) zurate. Skizzieren Sie handlungs- und reflexionsorientierte Methoden, mit denen die Er‐ klärkompetenz von Kindern und Jugendlichen ab der 4. Klasse gefördert werden kann. 3. Reflexion mündlicher Handlungen findet häufig ungesteuert in Feed‐ backgesprächen statt. Formulieren Sie Beobachtungsaufträge für eine der unter → 2.1-2.3 behandelten mündlichen Formen, die ein solches Nachgespräch strukturieren und damit ergiebiger gestalten können. 4. Welche Schwierigkeiten, die sich aus der institutionellen Kommunika‐ tionssituation ergeben, sprechen gegen das Transkribieren und Unter‐ suchen von Unterrichtsgesprächen? Halten Sie diesen Ansatz dennoch für praktikabel und zielführend? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B E C K E R , T./ S T U D E , J. (2017) (kompakte und zugleich umfassende Einführung in Theorie, Erwerb und Didaktik des Erzählens) B E C K E R -M R O T Z E K , M. (Hg.) (2012a) (DTP-Band zur mündlichen Kommunikation und Gesprächsdidaktik) 2.6 Über Lernen sprechen 55 <?page no="56"?> B E C K E R - M R O T Z E K , M./ V O G T , R. (2009) (unverzichtbare Einführung in die Analyse von Unterrichtskommunikation) B E R K E M E I E R , A. (2009) (erläutert die Anforderungen, die das Präsentieren an Schü‐ ler: innen stellt, und gibt konkrete Unterrichtsvorschläge) B E T Z , A. E T A L . (Hg.) (2016) (theoretische Einführung in das Konzept der Dramapä‐ dagogik, mit zahlreichen Unterrichtsbeispielen) C L A U S S E N , C./ M E R K E L B A C H , V. (1995) (theoretische Grundlagen des mündlichen Erzählens werden vorgestellt; es folgen zahlreiche konkrete Unterrichtsbeispiele und -materialien) I M H O F , M. (2010) (beschreibt das Zuhören als mehrstufigen Informationsverarbei‐ tungsprozess und formuliert didaktische Konsequenzen) K R E L L E , M./ S P I E G E L , C. (Hg.) (2009) (Forschungsergebnisse und Praxisvorschläge zu zahlreichen mündlichen Formen, unter anderem auch zum Erzählen, Präsen‐ tieren, Argumentieren und Zuhören) Praxis Deutsch 160 (2000) (enthält einen Basisartikel von Ludwig/ Spinner zum mündlichen und schriftlichen Argumentieren sowie Unterrichtsvorschläge, die vor allem für die Sekundarstufe I und II geeignet sind) W A G N E R , R. (2006) (Leitfaden für die Untersuchung und unterrichtliche Bearbeitung unterschiedlicher Kommunikationsformen) Lektüreempfehlung für einen inklusionsorientierten Unterricht H E E , K. (2016) (beleuchtet Möglichkeiten und Herausforderungen des inklusiven Unterrichts im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören am Beispiel des münd‐ lichen Erzählens) 56 2 Sprechen und Zuhören <?page no="57"?> Stellen‐ wert der Recht‐ schreibung Recht‐ schreib‐ kompetenz 3 Schreiben Der Kompetenzbereich Schreiben umfasst in den Bildungsstandards und aktuellen Lehrbeziehungsweise Bildungsplänen sowohl das Rechtschreiben als auch das Verfassen von Texten. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Schreiben eigener Texte der ‚Ernstfall‘ ist, in dem sich Rechtschreibfähigkeit immer bewähren muss. Dennoch haben sich aufgrund der Verschiedenheit der beiden Lernberei‐ che in der Deutschdidaktik ganz unterschiedliche Konzeptionen für das Rechtschreiben und Texteschreiben herausgebildet, weshalb wir beide im Folgenden getrennt behandeln werden. Die unter → 3.1-3.7 dargestellten Konzeptionen beziehen sich dabei auf den Bereich des Rechtschreibens, in →-3.8-3.11 wird das Verfassen von Texten thematisiert. Rechtschreiben Bildungsstandards über Schreibfertigkeiten verfügen - richtig schreiben - Schreibstrate‐ gien anwenden Die Rechtschreibung genießt in unserer Gesellschaft traditionell einen hohen Stellenwert (SPIEGEL 11/ 2021: Deutschland verlernt das Schreiben), erscheint in manchen Fällen sogar geradezu überbewertet, wenn sprachli‐ che Fähigkeiten und Rechtschreibfähigkeiten ausdrücklich gleichgesetzt werden (Steinig/ Huneke 2010: 139 ff.). Auch in der emotionalen Debatte um die Rechtschreibreform in den 1990er-Jahren zeigte sich die Schwierigkeit, eine sachliche Diskussion über ein hochsensibles Thema zu führen, zu dem jeder und jede auch ohne profunde Kenntnisse Substantielles beitragen zu können glaubt. Ungeachtet dessen ist es selbstverständlich eine wesentliche Aufgabe des Deutschunterrichts, die Entwicklung orthographischer Kompetenz zu fördern. Hierzu gehören Teilkompetenzen auf ganz unterschiedlichen Ebe‐ nen: <?page no="58"?> Diagnose orthogra‐ phischer Kompe‐ tenz ■ Schüler: innen müssen über ein gewisses Repertoire an Wörtern verfü‐ gen, die automatisiert, also ohne größeren kognitiven Aufwand, korrekt geschrieben werden können. ■ Sie müssen in der Lage sein, die Schreibung unbekannter Wörter erfor‐ derlichenfalls aufgrund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zu erschließen, sofern diese systemgetreu geschrieben werden. ■ Hilfsmittel wie Wörterbücher oder Rechtschreib-Apps sollen zur Er‐ mittlung und Überprüfung von Wortschreibungen eingesetzt werden können. ■ Voraussetzung hierfür ist, dass die Schüler: innen über eine gewisse Sensibilität für Fehlschreibungen und orthographiebezogenes Sprach‐ bewusstsein verfügen. Orthographische Kompetenz ist also ein sehr vielschichtiges Phänomen. Dies spiegelt sich auch in den didaktischen Konzeptionen wider, die im Fol‐ genden erläutert werden sollen (→ 3.1-3.7) und die jeweils unterschiedliche Teilkompetenzen fokussieren. Konzeptionsübergreifend besteht Einigkeit darüber, dass Rechtschrei‐ bung mit anderen Kompetenzbereichen, insbesondere dem Texteschreiben, zusammenhängt. Vor diesem Hintergrund sollte zum Beispiel das Diktat nur selten und nur als eines von mehreren Instrumenten zur Leistungsmessung herangezogen werden (Müller, A. 2017b: 289; zur Diskussion um das Diktat im Rechtschreibunterricht s. auch Menzel 1997). Auch als Lern- und Übungs‐ instrument erweist sich das Diktat als wenig geeignet: „Das weitverbreitete Üben für Diktate kann einzig die Vorstellung fördern, Rechtschreibung sei eine Ansammlung von Wörtern, die man sich irgendwie und möglichst dauerhaft einprägen muss“ (Müller, A. 2017b: 289). Zur Erfassung des Lernstands von Schülerinnen und Schülern wurden zahlreiche Verfahren entwickelt, die teils standardisiert mit vorgegebenem Wortmaterial, teils auch an freien Texten eingesetzt werden können (zur nicht-standardisierten qualitativen Fehleranalyse s. Meyer-Schepers/ Löffler 1994; zu standardisierten Tests s. die Übersicht in Fay/ Berkling 2013). Hinweis Bei Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten beziehungsweise Legasthenie handelt es sich um ein Thema, das aus unterschiedlichen Perspektiven (Psychologie, Pädagogik, Medizin …) betrachtet wird und das wir in die‐ 58 3 Schreiben <?page no="59"?> Systema‐ tik der deutschen Orthographie sem Rahmen nicht ausführlich behandeln können. Für eine Einführung aus sprachdidaktischer Perspektive empfehlen wir Scheerer-Neumann (2015). Die Rechtschreibung wird im deutschen Sprachraum schon seit langer Zeit als ein „Schulmeisterkreuz“ (Ossner 2006a: 357), ein schwieriges Terrain für Lehrende und Lernende, angesehen. Dies mag daran liegen, dass im Deut‐ schen - anders als in einer Reihe anderer Sprachen (etwa im Türkischen) - nicht ausschließlich nach der Graphem-Phonem-Korrespondenz verfahren wird: Wir schreiben nicht einfach, wie wir sprechen. Prinzipien der deutschen Rechtschreibung Eine schlüssige und weit verbreitete Darstellung der Systematik der deutschen Rechtschreibung wurde von Eisenberg (2016: 66 ff.) vorge‐ legt. Die Grundlage seiner Ausführungen bildet das phonographische Prinzip; das bedeutet, dass jedem Phonem ein Graphem regelhaft zuge‐ ordnet ist. Dieses Prinzip wird aber in bestimmten - genau festgelegten - Fällen von anderen überlagert: Aufgrund des silbischen Prinzips werden Einheiten, die in der geschrie‐ benen Silbe eine besondere Rolle spielen, abweichend von der reinen Lautorientierung verschriftet. Dies führt nach Eisenberg beispielsweise zur Einfügung eines silbeninitialen <h> in Wörtern, in denen sonst zwei Vokalgrapheme aufeinander folgen würden (*Müe > Mühe). Das morphologische Prinzip (auch: Prinzip der Schemakonstanz) ist schließlich dafür verantwortlich, dass Einheiten mit gleichbleibender Bedeutung (Morpheme) im Deutschen nach Möglichkeit auch gleich geschrieben werden. Dies führt etwa dazu, dass das silbeninitiale <h> in verwandten Wortformen erhalten bleibt, auch wenn es nicht mehr die Funktion hat, den Beginn einer neuen Schreibsilbe zu markieren (*müsam > mühsam). Zusätzlich wird an anderer Stelle (z. B. von Müller, A. 2010: 50 ff.) ein syntaktisches Prinzip aufgenommen, das geeignet ist, bei Eisenberg nur oberflächlich berücksichtigte Phänomene wie Interpunktion, Groß- und Kleinschreibung oder Getrennt- und Zusammenschreibung zu erklären. Insbesondere die Interpunktion wird häufig als undurchschau‐ bares und rein normativ zu behandelndes Randgebiet der Orthographie 3 Schreiben 59 <?page no="60"?> Orthogra‐ phie als Lesehilfe Verbin‐ dung von Lese- und Recht‐ schreibun‐ terricht wahrgenommen - eine Auffassung, die sich auch in der Interpunktions‐ didaktik und (davon ausgehend) der Interpunktionskompetenz vieler Schreiber: innen niederschlägt. Einen alternativen, semiotisch orientier‐ ten Blick auf das System Interpunktion, im Rahmen dessen jedem Element ein fester Sprachverarbeitungswert (in Form einer ‚Instruktion‘ an die lesende Person) zugewiesen wird, bietet Bredel (2011b). Theore‐ tisch, empirisch und didaktisch-methodisch ausgerichtete Beiträge zu verschiedenen Teilbereichen des Interpunktionssystems finden sich in Olsen/ Hochstadt/ Colombo-Scheffold 2016. Ein alternatives, ebenfalls in sich stimmiges Modell, das insbesondere der Silbe einen sehr viel geringeren Stellenwert zuerkennt, stammt von Nerius (kompakt und übersichtlich dargestellt von Risel 2011: 8 ff.). Viele andere Darstellungen sind allerdings unübersichtlich oder irreführend, weil sie ganz unterschiedliche Gesichtspunkte vermischen oder Randaspekte (wie ästhetische oder historische Faktoren) in den Rang von Prinzipien erheben. Zusammenfassend erklärt Eisenberg die Abweichungen von der Graphem- Phonem-Korrespondenz als Erleichterung des Leseprozesses. Man kann die deutsche Orthographie also insgesamt (im Gegensatz z. B. zur türkischen) als leser: innenfreundlich, aber anspruchsvoll für Schreibende bezeichnen - zugleich ist sie in ihren Grundzügen nachvollziehbar und sollte Kindern und Jugendlichen auch so vermittelt werden. Augst/ Dehn drücken dies folgendermaßen aus: „Rechtschreibung heißt: der Schreiber macht den Wortaufbau und den Satzaufbau - und damit die Bedeutung und Funktions‐ weise des Wortes - für den Leser sichtbar“ (2009: 13). Welche Zusammenhänge zwischen der Aneignung von Lese- und Schreibkompetenz bestehen und inwiefern zwischen den beiden Bereichen Transfereffekte möglich sind, ist nach wie vor umstritten (s. z. B. Mesch 2017). Auch ist es in den folgenden Abschnitten nicht möglich, vollständig zwischen lese- und schreibdidaktischen Konzeptionen zu trennen, da die auf den Schriftspracherwerb im Anfangsunterricht fokussierten Konzeptionen beide Kompetenzbereiche stets im Zusammenhang sehen. Dadurch sind einzelne Überschneidungen mit Konzeptionen aus dem Kompetenzbereich Lesen (→ 4) unvermeidlich. Konzeptionen, die den integrierten Lese- und Rechtschreiberwerb in den ersten Schuljahren - im sogenannten Anfangs‐ unterricht - betreffen, werden ausschließlich hier behandelt. 60 3 Schreiben <?page no="61"?> Probleme des Schreibunterrichts Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B E T Z E L , D./ D R O L L , H. (2020) (umfassende Einführung in die Schriftlinguistik und Rechtschreibdidaktik) B R E D E L , U. (2009) (begründet schlüssig die Notwendigkeit, Orthographie als System anzusehen und Schülerinnen und Schülern auch als solches nahezubringen) Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht B E R K E M E I E R , A. (2019) (erläutert von der Schriftstruktur ausgehend didaktische Konzepte, Methoden und Kompetenzraster; mit einem besonderen Fokus auf heterogene/ mehrsprachige Lerngruppen) B E T Z E L , D. (2019) (Überlegungen zu den Erfordernissen an einen Rechtschreibun‐ terricht in inklusiven Lerngruppen) D I E H L , K./ H A R T K E , B./ M A H L A U , K. (2020) (Schriftspracherwerb und Rechtschreib‐ didaktik aus inklusionsorientierter Perspektive) J E U K , S./ S C HÄF E R , J. (2019) (praxisorientierte Einführung in den Schriftspracher‐ werb; berücksichtigt auch den Mehrsprachigkeitsaspekt) Texte verfassen Bildungsstandards über Schreibfertigkeiten verfügen - einen Schreibprozess eigenver‐ antwortlich gestalten: Texte planen/ schreiben/ überarbeiten - Schreib‐ strategien anwenden - in unterschiedlichen Textformen schreiben (informierend/ erklärend/ argumentierend/ gestaltend) Von einer Krise des schulischen Texteschreibens ist schon seit den 1970er- Jahren die Rede, nachzulesen zum Beispiel in Form einer ‚Mängelliste‘ bei Sauter/ Pschibul (1975: 17 ff.). Seither hat sich vieles gewandelt - den‐ noch beklagt in neuerer Zeit zum Beispiel Schäfer (2013: 327 f.), dass der praktizierte Schreibunterricht nach wie vor kaum an den Ergebnissen der Schreibforschung orientiert sei. Zu beobachten sei eine starre Fixierung auf formale Kriterien, die in ihrer Rigidität zu einer weitverbreiteten Ablehnung bei den Lernenden führe. Becker-Mrotzek/ Böttcher bemängeln darüber hinaus „das Fehlen eines systematischen Schreibunterrichts“ (2012: 67). Die Ergebnisse weiterer Untersuchungen zeigen womöglich die Folgen dieser 3 Schreiben 61 <?page no="62"?> Schreib‐ kompetenz schreibunterrichtlichen Praxis: Die DESI-Studie etwa offenbarte, dass rund ein Drittel der getesteten Neuntklässler: innen „nicht in der Lage ist, einen verständlichen Text zu schreiben“ (ebd.: 65). Das Schreiben von Texten ist eine sehr komplexe Handlung. Erforderlich dafür ist die Fähigkeit, pragmatisches Wissen, inhaltliches (welt- und bereichsspezifisches) Wissen, Textstrukturwissen und Sprachwissen in einem Schreibprozess so anzu‐ wenden, dass das Produkt den Anforderungen einer (selbst- oder fremdbestimm‐ ten) Schreibfunktion […] gerecht wird. (Fix 2006: 33) Den Schreiberinnen und Schreibern werden demzufolge inhaltliche Kompe‐ tenz, Zielsetzungskompetenz, Strukturierungskompetenz, Formulierungs- und Revisionskompetenz abverlangt - und dies in teilweise völlig anderer Form als bei der mündlichen Kommunikation, die normalerweise in einer direkten Kommunikationssituation stattfindet. Beim schriftsprachlichen Handeln ist dagegen die räumliche und zeitliche Gemeinsamkeit in der Regel nicht mehr gegeben, wodurch beispielsweise verschiedene Kommunikati‐ onskanäle (nonverbal/ paraverbal) nicht zur Verfügung stehen, deiktische Einheiten (jetzt, vorhin, dort, diese …) nicht problemlos verwendet werden können oder keine Möglichkeit zur direkten Nachfrage besteht. In Anleh‐ nung an Ehlich (1984) wird deshalb von einer zerdehnten Kommunikations‐ situation gesprochen; auf diese Besonderheiten müssen Kinder sich im Lauf ihres Schreiberwerbs einstellen. Schreibentwicklungsmodell nach Bereiter/ Scardamalia Ein vielbeachtetes und -diskutiertes Modell wurde von Bereiter (1980; Bereiter/ Scardamalia 1987) vorgestellt. Er geht von der Grundannahme aus, dass kompetente Schreibende je nach Aufgabenstellung drei ver‐ schiedene Kontrollebenen (Prozess, Produkt und Leser: in) berücksich‐ tigten. Diese würden im Lauf der Schreibentwicklung in unterschiedli‐ chem Maße fokussiert - ein Wechsel auf eine neue Kompetenzstufe sei demzufolge dann möglich, wenn eine neue Kontrollebene in den Blick der schreibenden Person gerate. Auf der Stufe des assoziativ-expressiven Schreibens beanspruche der Prozess des Schreibens die vollständige Aufmerksamkeit des Kindes, deshalb spielten die übrigen Kontrollebenen noch keine Rolle. An‐ schließend rücke - ausgelöst unter anderem durch die schulische 62 3 Schreiben <?page no="63"?> integrative Schreibdidaktik Vermittlung orthographischer und textualer Normen - das Produkt in den Fokus der schreibenden Person; Ergebnis sei das normorientierte oder performative Schreiben. Durch die Berücksichtigung von Adres‐ satinnen und Adressaten, deren Bedürfnisse zunehmend die Textpro‐ duktion mitbestimmten, komme es zum leser: innenorientierten Schrei‐ ben. Auf der Stufe des kritischen Schreibens liege die Aufmerksamkeit wiederum auf dem Produkt, allerdings auf stärker reflektierte Art und Weise: Die Schreibenden entwickelten nun Distanz zum eigenen Text - eine unabdingbare Voraussetzung zum Beispiel für die gezielte Überarbeitung von Texten. Die abschließende fünfte Stufe bezeichnet Bereiter als erkenntnisbildendes Schreiben. Hier stehe noch einmal die Kontrollebene des Prozesses im Vordergrund; das Schreiben werde zur Organisation und Neustrukturierung von Wissen genutzt. Das Dimensionswechselmodell hatte großen Einfluss auf die Schreib‐ didaktik, wurde in der Folge aber auch stark kritisiert. Tatsächlich widerspricht die Annahme der ausschließlichen Konzentration auf jeweils eine Kontrollebene zahlreichen Befunden und Erfahrungen. Fix (2008: 53 f.) weist darauf hin, dass das Modell - entgegen Bereiters ursprünglicher Intention - nicht linear gelesen werden solle: Zu häufig komme es vor, dass zum Beispiel kommunikative Strategien, nicht aber produktorientierte Normen erkennbar seien. Als Darstellung ver‐ schiedener zu erwerbender Schreibfunktionen oder -strategien, die von kompetenten Schreibenden nach Bedarf eingesetzt werden können, sei es jedoch geeignet. Das Dimensionswechselmodell nach Bereiter/ Scardamalia ist auch deshalb von Interesse, weil sich den verschiedenen Kontrollebenen (Prozess, Pro‐ dukt, Leser: in) schreibdidaktische Konzeptionen zuordnen lassen, die je‐ weils eine Dimension ganz besonders hervorheben. Aus der Tatsache, dass bei kompetenten Schreiberinnen und Schreibern alle Kontrollebenen je nach Schreibsituation einbezogen werden, lässt sich bereits schließen, dass eine ausschließliche Konzentration auf eine Dimension nicht empfehlenswert und darüber hinaus selbstredend auch gar nicht möglich ist. Vielmehr ist für die schulische Praxis die Entwicklung einer integrativen Schreibdidaktik (ausführlich Fix 2008: 120 ff.) erforderlich, die es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, je nach Kommunikationssituation und Aufgabenstellung den 3 Schreiben 63 <?page no="64"?> Schwerpunkt auf produktbezogene, leser: innenbezogene, prozessbezogene oder andere Aspekte zu richten. Durch ihre klare Lernenden- und Kompetenzorientierung beinhalten integrative Konzepte auch eine starke Ausrichtung an der schreibenden Person. Dies zeigt sich an einem weiteren als integrativ zu charakterisie‐ renden Ansatz, den Becker-Mrotzek/ Böttcher (2012) mit ihrer kompetenz‐ orientierten Schreibdidaktik für die Sekundarstufen I und II entwickelt haben. Ihrem Ansatz liegt ein handlungsorientiertes, funktionales Modell von schriftsprachlicher Kommunikation (→ 3.9) zugrunde. Der Ansatz definiert Ziele in den drei Entwicklungszonen Festigung und Ausbau der basalen Schreibfähigkeiten, Erwerb komplexer Textformen und Schreibstra‐ tegien und Erwerb einer umfassenden literalen Kompetenz. Eine wesentli‐ che Steuerungsinstanz für den Schreibprozess und die Entwicklung der Schreibkompetenz sehen Becker-Mrotzek/ Boettcher in Schreibaufgaben (ebd.: 83 ff.); diese teilen sie in instruierende (= Lernaufgaben), umfassende (=-Übungsaufgaben) und Leistungsaufgaben (= Tests) ein. Ziel ist hierbei, dass „die einzelnen Schreibaufgaben ein strukturiertes Ganzes bilden, das in seiner Gesamtheit zu einem sukzessiven Aufbau der Schreibkompetenz führt“ (ebd.: 77). Integrativ ausgerichtete Ansätze sind vor allem mit Blick auf Lernende mit Deutsch als Zweitsprache von Bedeutung. In den letzten Jahren wächst das fachdidaktische Interesse an der spezifischen Entwicklung von Schreib‐ fähigkeiten dieser Zielgruppe. Wir empfehlen hier das Buch von Schmölzer- Eibinger (2011), in dem die Autorin ein Konzept der Literalen Didaktik vorstellt; auch Ballis (2010) richtet den Fokus ihrer Studie auf den Mehrspra‐ chigkeitsaspekt. Die Besonderheiten inklusiver Lerngruppen nehmen unter anderem Ferencik-Lehmkuhl (2019), Ritter (2020) und Zielinski (2019) in den Blick. Hinsichtlich des Texteschreibens plädieren sie für die Arbeit an gemeinsa‐ men Lerngegenständen unter Verwendung eines erweiterten Textbegriffs (was einen erweiterten Schreib- und Lesebegriff einschließt), der auch Abbildungen und nicht-schriftliche Zeichen sowie medial mündliche Trans‐ formationen umfasst. Dadurch sei es möglich, Kindern und Jugendlichen mit ganz unterschiedlichen Lernvoraussetzungen die Arbeit an gemeinsamen Lernaufgaben zu ermöglichen und zugleich „produktive Anschlussstellen für fachlich begründete Förderangebote im Sinne der Zone der proximalen Entwicklung” (Ritter 2020: 106) zu schaffen. 64 3 Schreiben <?page no="65"?> Für die folgenden Darstellungen (→ 3.8-3.11) orientieren wir uns an den Einteilungen von Merz-Grötsch (2000: 183 ff.) und Schäfer (2013: 328), indem wir produktorientierte, leser: innenorientierte, prozessorientierte und schreiber: innenbeziehungsweise schüler: innenorientierte Ansätze unter‐ scheiden - im Bewusstsein der Tatsache, dass in den vorgestellten didakti‐ schen Entwürfen auch jeweils andere Aspekte, wenn auch mit geringerem Stellenwert, berücksichtigt werden. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung F I X , M. (2008) (umfassende Einführung in den Arbeitsbereich; liefert neben theore‐ tischen Informationen auch Unterrichtsvorschläge und Originaltexte von Schü‐ lerinnen und Schülern) M E R Z - G RÖT S C H , J. (2010) (Darstellung wesentlicher Erkenntnisse der Schreibfor‐ schung und -didaktik, enthält Unterrichtsbeispiele zu verschiedenen Textsorten) P H I L I P P , M. (2014a) (beschreibt auf der Basis zahlreicher Studien und Metaanalysen Merkmale eines guten Schreibunterrichts, den er insbesondere als strategie- und prozessorientiert definiert) Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht S C H MÖL Z E R -E I B I N G E R , S. (2011) (gibt einen umfassenden Überblick zum Zusammen‐ hang von Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache und entwickelt darüber hinaus ein Konzept zur Förderung der Textkompetenz) Z I E L I N S K I , S. (2019) (stellt den Arbeitsbereich aus inklusionsorientierter Perspektive dar und diskutiert insbesondere Konsequenzen, die sich aus dem erweiterten Textbegriff ergeben) 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht Eines der wichtigsten Grundkonzepte, welches unsere Schreibung bestimmt, ist die mehr oder weniger systematische Beziehung zwischen Lauteinheiten und Schriftzeichen […]. Für die Rechtschreibdidaktik folgt daraus, dass die Schreibung von Wörtern bis zu einem gewissen Grad abgehört werden kann. (Lindauer/ Schmellentin 2008: 13) Im P HON O G R AP HI S CH O R I E NTI E R T E N R E CHT S CH R E IB UNT E R R ICHT wird besonderer Wert auf das Schreiben nach der Graphem-Phonem-Korrespondenz gelegt, 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 65 <?page no="66"?> die synthe‐ tische Methode Lesen durch Schreiben das als grundlegend für erfolgreiches Rechtschreiben angesehen wird. Ursprünglich gehen diese Ansätze zurück auf die heute nicht mehr prakti‐ zierten S Y NTH E TI S CHE N L E S E - UND S CH R E IB L E H R V E R F AH R E N (s. u.). Die Tendenz zur Orientierung an der lautgetreuen Schreibung findet sich jedoch auch in neueren Ansätzen, insbesondere dem von Reichen vertretenen L E S E N DU R CH S CH R E IB E N , der im Folgenden aufgrund seiner Bedeutung ausführlich dargestellt wird. Grundlagen Die klassischen synthetischen Verfahren, die von Beginn der Neuzeit an und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein an deutschen Schulen praktiziert wurden, setzen die Einführung von Lauten und Buchstaben (Lautgewinnung) an den Beginn des Schriftspracherwerbs; es folgt das Zusammenschleifen derselben (Lautverschmelzung) sowie das Erlesen von (zunächst naturgemäß sehr ein‐ fach strukturierten) Silben und Wörtern (zusammenfassendes Lesen). Diese dreischrittige Vorgehensweise wurde unter anderem mit dem Prinzip ‚vom Einfachen zum Schwierigen‘ begründet - tatsächlich jedoch zeigen entspre‐ chende Untersuchungen, dass das vordergründig einfache Wahrnehmen und Zusammenschleifen von Einzellauten die sogenannte phonologische Bewusstheit voraussetzt und nicht einfach von allen Kindern zu Beginn der Schulzeit erwartet werden kann. Die in diesem Zusammenhang notwendige Abstraktionsleistung überfordert viele Schriftanfänger. Ein geschriebenes Wort ist im Deutschen - im Gegensatz zu logographischen Systemen wie z. B. dem Chinesischen - kein Zeichen für einen Begriff, sondern ein Zeichen für eine Lautfolge; diese wiederum fungiert als Zeichen für den Begriff. Hinzu kommt, dass durch das zu Beginn extrem begrenzte Buchstabenan‐ gebot fast ausschließlich Kunstwörter und sinnlose Silben erlesen werden können - die kommunikative Funktion der Schrift erfahren Kinder so erst verhältnismäßig spät. S Y NTHE TI S CH E M E THOD E N waren in der BRD noch bis 1975 führend, wurden dann aber durch ANAL Y TI S CH - S Y NTHE TI S CH E V E R FAH R E N (→ 3.3) verdrängt und spielen in der Unterrichtswirklichkeit heute keine Rolle mehr - im Gegensatz zu der Konzeption L E S E N DU R CH S CH R E IB E N , die ebenfalls den P HON O G R A P HI S CH O R I E NTI E R T E N A N SÄTZ E N zugeordnet werden kann. Das Verfahren, das von Reichen in den 1970er-Jahren entwickelt wurde und auf Grundschulen seither großen Einfluss genommen hat, beruht auf drei Prinzipien (Reichen 2001: 27 ff.): 66 3 Schreiben <?page no="67"?> Arbeit mit der Buch‐ stabentabelle 1. dem lesedidaktischen Prinzip Lesen durch Schreiben, nach dem die Kinder Reichen zufolge mithilfe der Buchstabentabelle lautgetreu „alle Wörter der Welt“ (ebd.: 28) aufschreiben könnten und in diesem Prozess das Lesen lernten, 2. dem lernpsychologischen Prinzip des selbstgesteuerten Lernens sowie 3. dem schulpädagogischen Prinzip des Werkstattunterrichts. L E S E N DU R CH S CH R E IB E N versteht sich erst in zweiter Linie [als] ein ‚Leselehrgang‘. In erster Linie handelt es sich um den Versuch, dem Kind vom ersten Schultag an einen offenen, kommunikativen und kindgemäßen Unterricht zu ermöglichen, in dem es nicht nur das Lesen, sondern vor allem auch das Lernen und das Denken lernen darf. (Reichen 2008: 9) Darüber hinaus wird L E S E N DU R CH S CH R E IB E N von Reichen als Schreiblehr‐ gang aufgefasst, bei dem im Gegensatz zum scharf kritisierten traditionellen Fibelunterricht vor allem „der aktive, produktive, selbstbestimmte Umgang mit Schrift“ (2001: 105) im Mittelpunkt stehen soll. Mit anderen Worten: Das Schreiben finde vor dem Lesen statt beziehungsweise sei die Grundlage des Lesenlernens. Der Lehrgang soll Schüler: innen dazu befähigen, „ein beliebiges Wort in seine Lautabfolge zu zerlegen und danach phonetisch vollständig aufzu‐ schreiben“ (Reichen 1982: 8). Als Grundlage dient eine Buchstabentabelle (häufig auch als Anlauttabelle bezeichnet), in der die benötigten Laute ge‐ sucht und dann mithilfe des korrespondierenden Buchstabens beziehungs‐ weise Graphems verschriftet werden. Nach Reichen habe das Kind dann schreiben gelernt, wenn es „die gesamte Laut-Buchstaben-Zuordnung verinnerlicht hat und beherrscht“ (1982: 19). Er widerspricht deutlich der Annahme, Lesen könne durch systematisches Üben gelernt und gelehrt werden (2001: 83). Dagegen vertritt er die Haltung, dass der Leseerwerb ein natürlicher Prozess und gewissermaßen ein Neben‐ effekt des Schreibenlernens sei. Hinweis In den meisten aktuellen Fibeln werden Anlautbeziehungsweise Buch‐ stabentabellen (von unterschiedlicher Qualität) angeboten. Die überarbei‐ tete Version von Reichen, die die Grundlage der folgenden Ausführungen 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 67 <?page no="68"?> selbstge‐ steuertes Lernen Umgang mit Recht‐ schreib‐ fehlern bildet, ist ebenso wie die Originalfassung unter rechtschreibwerkstatt.de / rsl/ me/ antab/ html/ bildreichen.html zu finden. Die pädagogische Grundorientierung des Ansatzes räumt motivationalen Aspekten eine zentrale Rolle ein, was sich sowohl im Verständnis des Lesebegriffs als auch in der methodischen Ausrichtung des Lehrgangs niederschlägt. Das Konzept L E S E N DU R CH S CH R E IB E N wird von Reichen als Alternative zum traditionellen Fibelunterricht verstanden, den er stark kritisiert als „Frontalunterricht im Klassenverband“ (Reichen 2001: 31); dieser sei geprägt „von Nachahmungslernen durch wiederholtes Üben“ (ebd.). Die Grundhaltung, die hinter seinem Konzept steht, richtet den Fokus vielmehr auf selbstgesteuertes, individualisiertes Lernen, setzt also auf Eigenständigkeit und Produktivität. Jedes Kind müsse in seinem eigenen Lerntempo arbeiten können. Anstelle einer Fibel solle ein strukturiertes, frei kombinierbares Materialangebot (Arbeitsblätter, Lesehefte, Spiele) die Schü‐ ler: innen im Rahmen eines ‚Werkstattunterrichts‘ in ihren Lernprozessen unterstützen. Als ‚Moderator: in‘ fungiere dabei die Lehrkraft, „die Lernpro‐ zesse nur noch indirekt anregt, indem sie Aufgaben, Anschauungsmaterial, Hilfsmittel für Experimente usw. bereitstellt“ (ebd.: 31). Insofern kann die Konzeption durchaus auch als Sonderform des S P R ACH E R F AH R UN G S AN S ATZ E S (→-3.4; s. auch Topsch 2005: 68) bezeichnet werden. Den Rahmen für das Konzept L E S E N DU R CH S CH R E IB E N bildet ein Werkstatt‐ unterricht, in dem „nicht wie sonst üblich die ganze Klasse gemeinsam für die Dauer einer Lektion in einem bestimmten Fach unterrichtet, sondern […] in längeren Zeitblöcken individualisiert und fächergemischt gearbeitet wird“ (Reichen 2001: 30). Reichen fordert darüber hinaus, sein Konzept in Verbindung mit vielfältigen Schreibanlässen durchzuführen (ebd.). Teil des Konzepts ist es, orthographische Fehler zu tolerieren, um die Motivation und die Schreibfreude nicht einzuschränken (Reichen 1982: 29) - sofern es sich um Fehler handelt, die auf lautgetreuen Schreibungen beruhen (z. B. <FARAT> für Fahrrad). Fehler, die durch Verstöße gegen das phonogra‐ phische Prinzip entstanden sind (Lautauslassungen, -hinzufügungen oder -umstellungen, z. B. <FART> für Fahrrad), sollen hingegen angesprochen und korrigiert werden. 68 3 Schreiben <?page no="69"?> Unstim‐ migkeiten in Buchsta‐ bentabel‐ len Lautana‐ lyse und -synthese Problematisierung Die Buchstabentabelle ermöglicht die Unterstützung des F R E I E N S CH R E IB E N S (→ 3.11) im Anfangsunterricht und wird inzwischen auch in zahlreichen Fibellehrgängen als Instrument zur Individualisierung und Differenzierung genutzt (s. für einen Überblick Schründer-Lenzen 2009: 67 ff.). Ihr dies‐ bezüglicher Nutzen wird auch durch sachlogische Probleme, die die wi‐ derspruchsfreie Erstellung einer Buchstabentabelle erheblich erschweren, nicht geschmälert. Kritisch sind beispielsweise die Buchstabenverbindun‐ gen <ng> und <ch>, die im Deutschen nicht beziehungsweise kaum am Wortanfang vorkommen und deshalb in der überarbeiteten Version Rei‐ chens als Auslaute (Ring beziehungsweise Teppich/ Buch) dargestellt werden. Auch die konsequente Darstellung gespannter und ungespannter Vokale ist durch das Graphem <ie>, das im Deutschen nicht am Wortanfang stehen kann, erschwert. In vielen Anlauttabellen ist zudem die Auswahl der abgebildeten Wörter diskutabel, da oft kultur- oder milieuspezifisches Vorwissen vorausgesetzt wird (Osterhase, Geige) (Geist/ Krafft 2019: 85). Für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache empfiehlt sich die Erweiterung von Hüttis-Graff/ Schüler (2016), die die vollständigen Ankerwörter direkt am Bild verschriftet. Bei den genannten Punkten handelt es sich aber um Probleme, die durch geeignete Unterstützung seitens der Lehrkraft ‚entschärft‘ werden können, sodass der Einsatz von Buchstabentabellen in Verbindung mit anderen Konzeptionen durchaus erwägenswert ist (Valtin 2006: 767). Berücksichtigt werden müssen dabei allerdings die enormen Anforderun‐ gen, die die Arbeit mit der Buchstabentabelle an die Kinder stellt: Sie müssen die Vergegenständlichung von Sprache und die Abstraktion vom Bedeutungskontext begreifen, ohne das dafür hilfreiche Schriftbild vor Augen zu haben, und sie müssen zu einer vollständigen Lautanalyse befähigt sein, was - wie das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs zeigt - jedoch eine relativ späte Errungenschaft ist. (Valtin 2006: 767) Schründer-Lenzen weist auf die Problematik hin, die sich hieraus insbeson‐ dere für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache ergibt. Sie konstatiert, dass Anlauttabellen gerade für jene Kinder, „die unter ungünstigen Bedingungen der Lernausgangslage in den Schriftspracherwerbsprozess eintreten, ein inadäquates Lernmittel“ (2009: 72) seien. 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 69 <?page no="70"?> Auswirkun‐ gen auf or‐ thographi‐ sche Fähigkei‐ ten Noch schwerer wiegt die grundsätzliche Kritik an Reichens Konzeption. Das Prinzip, dass eine didaktische Steuerung des Schriftspracherwerbspro‐ zesses nicht möglich sei, sondern dass „die kognitiven Selbststeuerungs‐ akte des Schülers völlig unangetastet“ (Reichen 1982: 16) bleiben sollten, kann sich zumindest hinsichtlich der Komponente Rechtschreibung als fatal erweisen. Indem die Konzeption L E S E N DU R CH S CH R E IB E N das deutsche Schriftsystem gewissermaßen auf das phonographische Prinzip reduziert, werden die weiteren ebenfalls zum System gehörenden Prinzipien ignoriert. Die Frage, ob diese Ausblendung orthographischer Gesetzmäßigkeiten sich auf die späteren Rechtschreibfähigkeiten der Lernenden negativ auswirken kann, wird seit den 1980er-Jahren kontrovers diskutiert. Die Forschungs‐ ergebnisse sind hier nicht einheitlich - einerseits liegen Untersuchungen vor (Reichen et al. 1995), denen zufolge nach der Anwendung der Konzep‐ tion keine nachteiligen Einflüsse auf die späteren Rechtschreibleistungen festgestellt werden konnten. Andererseits konnte beispielsweise Einsiedler (1997) signifikante Nachteile der nach der Reichen-Methode unterrichteten Kinder zumindest in Diktaten nachweisen. Eine metaanalytische Bestands‐ aufnahme von Funke (2014) lässt schwächere Rechtschreibleistungen der L E S E N DU R CH S CH R E IB E N -Kinder im Vergleich zu Schülerinnen und Schü‐ lern, die nach der analytisch-synthetischen Methode (→ 3.3) unterrichtet wurden, in den Klassenstufen 2-4 erkennen. Auch in einer kombinierten Längs- und Querschnittstudie (Kuhl/ Röhr-Sendlmeier 2018) zeigten die nach L E S E N DU R CH S CH R E IB E N unterrichteten Schüler: innen über die gesamte Grundschulzeit hinweg schwächere Rechtschreibleistungen als die syste‐ matisch unterrichteten Kinder - obwohl sie der anderen Gruppe in den kurz nach Schulbeginn erhobenen Vorkenntnissen sogar noch überlegen gewesen waren. Interessanterweise zeigte der Blick auf die parallel erhobene intrinsische Schreib- und Lesemotivation ebenfalls keine Vorteile der nach L E S E N DU R CH S CH R E IB E N unterrichteten Kinder. Insofern empfiehlt sich aus heutiger Sicht anstelle des ‚Umwegs‘ über die lautgetreue Verschriftung, den L E S E N DU R CH S CH R E IB E N ebenso wie die ältere S Y NTH E TI S CH E M E THO D E nahelegt, die direkte Hinführung zur orthographischen Struktur unseres Schriftsystems. Dass daraus keine Überforderung der Schüler: innen im Anfangsunterricht resultieren muss, zeigen die etablierten und bewährten S IL B E N O R I E NTI E R T E N K ONZ E P TIO N E N (→-3.7). 70 3 Schreiben <?page no="71"?> phonogra‐ phische Ansätze in der ‚Alltagsdidaktik‘ Hinweis Der Einsatz von L E S E N DU R CH S CH R E IB E N beziehungsweise Schreiben nach Gehör, wie die Methode mitunter auch genannt wird, ist Lehrkräften in mehreren Bundesländern (u. a. Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen) inzwischen explizit untersagt. Eine ausführliche und ausgewogene Darstellung der diesbezüglichen Diskussion findet sich bei Scheerer-Neumann (2020). Problematisch ist darüber hinaus auch der häufig unreflektierte Einsatz phonographischer Strategien in der ‚Alltagsdidaktik‘. Die Vorstellung, wir würden schreiben, wie wir sprechen (oder hören), ist nach wie vor weit verbreitet. Sicherlich gibt es die zum Beispiel von Lindauer/ Schmellentin so benannten „Nachsprechwörter“ (2008: 13) und sie machen auch einen nicht geringen Anteil unseres Wortschatzes aus; allerdings ist es schon von Dialekt und Erstsprache abhängig, bei welchen Wörtern die korrekte Schreibung ‚abgehört‘ werden kann. Äußerst bedenklich - aber in der Praxis häufig zu beobachten - ist der Fall, dass Kinder auch bei definitiv nicht laut‐ bezogenen Phänomenen (z. B. Verdopplung von Konsonantengraphemen, silbeninitiales <h>) aufgefordert werden, genau hinzuhören, um daraus die richtige Schreibung abzuleiten ( Jagemann 2016). Bredel, Fuhrhop und Noack zeigen anhand von Beispielen eindrücklich die eklatanten Unterschiede zwischen lautgetreuen und systemgetreuen Schreibungen auf und schließen daraus: Die Schrift ist keine Abbildung der Laute, sie ist vielmehr eine Abbildung von Grammatik. Wer die Kinder auffordert, zu schreiben, wie sie sprechen, erschwert oder versperrt ihnen den Weg in diese alles entscheidende Einsicht. (2017: 22) Auch deshalb besteht heute in der rechtschreibdidaktischen Diskussion weitgehend Konsens darin, dass orthographische Zusammenhänge schon in der Grundschule berücksichtigt werden sollten, dass also nicht in einem regelfernen ‚Schonraum‘ zunächst so getan werden sollte, als schrieben wir tatsächlich ausschließlich nach dem phonographischen Prinzip (Bredel 2009; Betzel/ Droll 2020: 33-ff.). 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 71 <?page no="72"?> Aufgaben 1. Ein Kind möchte mithilfe der Buchstabentabelle folgenden Satz schrei‐ ben: Mein lieber Hund sitzt in seiner Hütte. Welche Probleme können sich dabei ergeben? Welche Hilfestellungen lassen sich dem Kind im Rahmen eines offenen ‚Werkstattunterrichts‘ geben? 2. Welche der folgenden Wörter würden Sie als ‚Nachsprechwörter‘ im Sinne von Lindauer/ Schmellentin (2008: 13) bezeichnen? Begründen Sie Ihre Entscheidungen. Eule - Säule - Kette - Kater - Spaten - Schaden Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B R E D E L , U./ F U H R H O P , N./ N O A C K , C. (2017) (setzen sich ausführlich und kritisch mit einem phonographischen Verständnis von Schriftsprache sowie lautbezogenen Vorgehensweisen im Anfangsunterricht auseinander) R E I C H E N , J. (2002 und 2003) (Leselehrgang und methodische Empfehlungen) R E I C H E N , J. E T A L . (1995) (umfassende Einführung in die Arbeit mit L E S E N D U R C H S C H R E I B E N ; zahlreiche Arbeitsanregungen und Kopiervorlagen, deren Sinnhaftig‐ keit allerdings kritisch hinterfragt werden muss) 3.2 Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht Kinder lernen am Vorbild orthografisch richtig geschriebener Texte und Wör‐ ter. Die effektivsten Übungsformen hierfür sind: Abschreiben von Texten, die nur lernbereichsbezogene Schreibungen enthalten, Übungen mit einem lernbe‐ reichsbezogenen, aufbauenden Modellwortschatz oder Modellwörterlisten und Übungen zur Textkorrektur. (Sommer-Stumpenhorst 2005: 18) Die noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Wortbildtheorie bildet die Grundlage sowohl der ANAL Y TI S CHE N M E THOD E im Schriftspracherwerb als auch neuerer WO R T S P E ZI F I S CH E R oder G R UNDWO R T S CHATZO R I E NTI E R T E R V E R F AH ‐ R E N (s. u.). Sie ist in ihrer ursprünglichen Form widerlegt, dennoch in Variationen weiterhin verbreitet. Die Bandbreite insbesondere der grund‐ wortschatzorientierten Ansätze ist enorm, weshalb hier zwischen proble‐ matischen und sinnvollen Herangehensweisen unterschieden werden muss. 72 3 Schreiben <?page no="73"?> die analyti‐ sche Me‐ thode Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass Rechtschreibkompetenz überwie‐ gend verstanden wird als die Fähigkeit, eine ausreichend große Anzahl von gespeicherten Wortformen ohne aufwändige Reflexion richtig schreiben zu können. Diesem Verfahren wird von den Vertreterinnen und Vertretern - insbesondere in Bezug auf die Primarstufe - im Vergleich zu einem regelgeleiteten Vorgehen eine höhere Effektivität zugeschrieben: Wichtig bleibt, daß Wörter nicht zu früh unter rechtschreibsystematischen Aspekten präsentiert werden. Ich selbst habe auch als erwachsene Schreiberin kein primäres Interesse an Rechtschreibphänomenen oder orthographischen Spitzfindigkeiten. Ich verwende Wörter aus inhaltlich-thematischen Gründen und möchte sie dann in meinen Texten richtig schreiben können - automatisch. […] Wieso sollen Grundschulkinder sich eigentlich für Wörterlernen unter rechtschreibsystematischen Aspekten interessieren? (Süselbeck 1995: 9) Darstellung Den Gegenpol zu den traditionellen S Y NTH E TI S CH E N V E R FAH R E N (→ 3.1) bildete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ANAL Y TI S CH E M E THOD E , die unter anderem auf die Wortbildtheorie nach Bormann (1840) zurückgeht: Jedes Wort hat in der Schriftsprache seine eigenthümliche Physiognomie und es ist nun die Aufgabe des Rechtschreibunterrichts, dem Kinde dazu zu verhelfen, daß es sich diese Physiognomie der Wörter scharf und sicher einpräge, welches natürlich allein durch Vermittelung des Auges geschehen kann. (Zit. n. Scheerer- Neumann 1995: 171) Ausgehend von der Beobachtung, dass Kinder gesprochene und geschrie‐ bene Sprache nicht in ihren Einzelteilen, sondern ganzheitlich wahrnehmen, forderten die Vertreter: innen der ANAL Y TI S CH E N M E THOD E (z. B. Kern/ Kern 1930), im Leselehrgang mit Sinneinheiten, also Wörtern oder ganzen Sät‐ zen, zu beginnen. Diese sollten zunächst ganzheitlich erlesen werden; das alphabetische Schriftsystem wird hier also wie ein logographisches System behandelt. Erst in einem zweiten Schritt werden Wörter durchgliedert, einzelne Buchstaben isoliert und dem entsprechenden Lautwert zugeordnet. Dies ermögliche dann drittens das selbständige Erlesen unbekannter Wörter auf der Basis bekannter Buchstaben und unter Nutzung des Sinnzusammen‐ hangs. 3.2 Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht 73 <?page no="74"?> Wortbild‐ orientie‐ rung Kritik an der Wort‐ bildorien‐ tierung Die ANAL Y TI S CHE M E THOD E (oder Ganzheits-Methode) bringt den großen Vorteil mit sich, dass schon zu einem frühen Zeitpunkt des Schriftspracher‐ werbs sinnvolle Wörter und Sätze erlesen und auch geschrieben werden können. Somit wird die kommunikative Funktion der Schrift früh erfahren, was zur Lese- und Schreibmotivation beitragen kann. Allerdings wird der logische und für Kinder auch durchaus durchschaubare Aufbau des alphabetischen Schriftsystems zu spät genutzt. Dies veranlasst die Kinder zum ‚Erraten‘ von Wortbildern, wobei sie sich häufig an irrelevanten und zufälligen Wortmerkmalen orientieren. Die ANAL Y TI S CH E M E THOD E in ihren verschiedenen Ausprägungen ver‐ breitete sich in der Nachkriegszeit rasch, wurde in den 1960er-Jahren in der BRD sogar überwiegend eingesetzt, dann aber allmählich wieder von S Y NTH E TI S CH E N (und später im gesamten deutschen Sprachraum von ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E N ) K O NZ E P TION E N verdrängt. Sie fand allerdings ihre Fortsetzung in WO R TBILDO R I E NTI E R T E N A N SÄTZ E N , die nun nicht mehr auf den Anfangsunterricht beschränkt waren. Ihre Grundlage bildete nach wie vor die Wortbildtheorie nach Bormann, die sich in verschiedenen - teilweise nach wie vor in der Alltagsdidaktik verbreiteten - methodischen Implikationen niederschlug: ■ Die wichtigste Methode des Rechtschreibunterrichts sei das Abschrei‐ ben, da sich hierdurch das richtige Wortbild am ehesten festigen lasse. ■ Wortschreibungen würden über ihre Umrisse, also unter Berücksichti‐ gung von Ober- und Unterlängen, abgespeichert. ■ Vom Kind geschriebene Texte müssten genauestens kontrolliert und verbessert werden (möglichst durch Unkenntlichmachen der Fehl‐ schreibungen), da sich ansonsten falsche Wortbilder einprägen würden. ■ Eigene Texte dürften erst dann geschrieben werden, wenn die Kinder dazu rechtschreiblich in der Lage seien - ansonsten seien fatale Recht‐ schreibfehler unvermeidlich. ■ Grundsätzlich dürften Kinder keine falschen Wortschreibungen zu Ge‐ sicht bekommen - auch nicht zu Demonstrations- oder Analysezwecken an der Tafel. Mit diesen veralteten Auffassungen hat sich die Sprachdidaktik in den letz‐ ten Jahrzehnten intensiv auseinandergesetzt, nachzulesen etwa in Scheerer- Neumanns Aufsatz von 1995: Wortspezifisch: Ja - Wortbild: Nein. Ein letz‐ tes Lebewohl an die Wortbildtheorie. Sicherlich spielt die wortspezifische Speicherung im Rechtschreiberwerb eine wesentliche Rolle, wie beispiels‐ 74 3 Schreiben <?page no="75"?> Orientie‐ rung am Grund‐ wortschatz weise frühe korrekte Verschriftungen hochfrequentierter Wörter wie und neben nicht korrekten wie *runt (für rund) oder *wint (für Wind) zeigen. Daraus kann jedoch nicht auf eine ausschließlich visuelle Speicherung im Sinne eines Wortbildes geschlossen werden - im inneren orthographischen Lexikon sei laut Scheerer-Neumann zu jedem Eintrag eine Vielzahl von Informationen, nicht nur auf der visuellen Ebene, gespeichert. Gegen die Wortbildtheorie spricht vor allem das Input-Argument, also die Tatsache, dass Lernende in ihrer Umwelt fast ausschließlich korrekt geschriebene Wortformen vorfinden - trotzdem kommt es zu Fehlschreibungen. Außerdem lassen sich die in der Realität vorkommen‐ den Fehlschreibungen nur selten durch eine visuelle Ähnlichkeit zum kor‐ rekten Wortbild erklären - vielmehr führen gerade häufige Fehlertypen (z. B. Kleinstatt Großschreibung, Weglassung von Graphemen wie dem Dehnungs-h) oft zu einer gravierenden Änderung der ‚Wortgestalt‘. Des Weiteren lässt sich anführen, dass Kinder und Erwachsene in sogenannten ‚Kunstwort-Experimenten‘ in der Lage sind, auch unbekannte Wörter, die nicht schematisch abgespeichert sind, plausibel und den orthographischen Prinzipien entsprechend zu verschriften. Aus diesen Gründen spielt der klassische Wortbild-Ansatz in der aktuellen Rechtschreibdidaktik keine Rolle mehr. Die G R UNDWO R T S CHATZO R I E NTI E R UN G wird dagegen häufig in der Fachdi‐ daktik und (noch häufiger) in Curricula, Sprachbüchern sowie kommerziell vertriebenen Lernhilfen und Lernsoftware empfohlen. Durch wiederhol‐ tes und vielfältiges Üben (beispielsweise Abschreiben, buchstabenweises Zerlegen und Zusammensetzen, Sortieren) soll demnach eine bestimmte Menge von Wortformen abgespeichert und damit sicher beherrscht werden. Dahinter steht die Motivation, den gerade für langsamer Lernende unüber‐ schaubar erscheinenden Lerngegenstand Orthographie zu beschränken und ihn damit bewältigbar zu machen: „Mit einer solchen Lernhilfe ist die Zusicherung für den Lernenden verbunden, wenn du diese Wörter schreiben kannst, hast du ein wichtiges Ziel erreicht“ (Augst/ Dehn 2009: 221; Herv. i. O.). Die Erarbeitung und Anwendung von Regeln (→ 3.5) wird dagegen kritisch gesehen, da dies viele Schüler: innen überfordere und wegen der zahlreichen Ausnahmen auch häufig nicht zielführend sei. Das ständige be‐ wusste Reflektieren, so Süselbeck, „behindert oder verlangsamt das Schrei‐ ben, bestenfalls ignorieren Kinder die Rechtschreibung, schlimmstenfalls vermeiden sie Schreiben überhaupt“ (1995: 10). 3.2 Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht 75 <?page no="76"?> phänomenorientierte Grundwortschatzarbeit Kriterien für die Aus‐ wahl von GWS-Wör‐ tern Viele Autorinnen und Autoren vertreten allerdings weniger strikte Po‐ sitionen und schlagen eine Verbindung grundwortschatzorientierter Me‐ thoden mit phänomenorientierten Herangehensweisen vor (z. B. Merten 2016a: 77 ff.). Dies wird unter anderem mit besonderen rechtschreiblichen Schwierigkeiten begründet: So sind etwa für Kinder in Süddeutschland wegen des dort kaum vorkommenden stimmhaften s-Lautes Wörter mit <ß> nicht regelgeleitet von solchen mit <s> zu unterscheiden (reisen vs. reißen). Hier bietet es sich an, häufig vorkommende Wörter mit <ß> (Straße, fließen, Gruß) in eine Wörterliste aufzunehmen, dabei Analogiebildungen anzubahnen (fließen > schießen, Gruß > Ruß), ansonsten aber auf eine regelgeleitete Erarbeitung der Schreibungen zu verzichten (z. B. Risel 2004: 47 ff.). Geradezu unumgänglich ist diese Vorgehensweise bei den Wörtern, deren Schreibung sich nicht aus den Prinzipien der deutschen Orthographie herleiten lässt, die also als Ausnahmeschreibungen (z. B. aus historischen Gründen) gelten müssen. Dies ist beispielsweise der Fall bei Wörtern mit <ai> (Kaiser, Laib) oder bei Wörtern mit <v> für [v] (Vase, Advent) beziehungsweise <v> für [f] (Vogel, viel) (ebd.: 32 ff.). Bei Wörtern mit den Präfixen <vor> und <ver> ist hier wiederum die Analogiebildung, also eine Verbindung von grundwortschatz- und systemorientiertem Vorgehen, möglich. Als Kriterien für die Zusammenstellung eines Grundwortschatzes werden neben der Auftretenshäufigkeit bei Erwachsenen und bei Kindern (z. B. gucken) auch die Fehlerträchtigkeit (z. B. kam) und die Modellhaftigkeit der Schreibung (z. B. Hand für vergleichbare Wörter mit Auslautverhärtung) genannt. Richter legt in diesem Zusammenhang Wert auf eine Orientierung an den persönlichen Interessen der Schüler: innen und begründet dies unter anderem mit Erkenntnissen aus der Genderforschung, die in ihrer Einsei‐ tigkeit aus heutiger Sicht allerdings ebenfalls hinterfragt werden müssen: Es kann vermutet werden, dass die Interessen der Jungen bei einem Unterricht, der sich durchgängig an vorgegebenen Unterrichtsmaterialien orientiert, zu kurz kommen. Wenn aber die subjektive inhaltliche Bedeutsamkeit des Lernmaterials von entscheidender Bedeutung für die Lernergebnisse ist, liegt hier mit großer Wahrscheinlichkeit eine Ursache, warum Jungen im Durchschnitt schlechtere Schulleistungen im Lesen und Schreiben haben. Die Geschlechterdifferenzen wä‐ ren demnach auszugleichen oder wenigstens zu verringern, wenn die Interessen der Jungen im Lernmaterial stärker berücksichtigt würden. (Richter 1998: 14) 76 3 Schreiben <?page no="77"?> individu‐ elle Recht‐ schreibkartei Grund‐ wortschatz als ‚Trainingsbasis‘ Richter zufolge lässt sich dies verallgemeinernd auf alle Kinder übertragen in dem Sinne, dass sich die Wortauswahl im Rechtschreibunterricht an den persönlichen Interessen orientieren solle. Eine ‚individuelle Rechtschreib‐ kartei‘ könne beispielsweise Fehlerschwerpunkte aus den eigenen Texten der Kinder enthalten, zusätzlich diejenigen Exemplare aus der Liste der 100 häufigsten Wörter, bei denen dem Kind Fehlschreibungen unterlaufen sind. Problematisierung Die Auffassung, der Rechtschreiberwerb bestünde allein oder überwiegend aus dem Einprägen von Wortschemata, ist nach wie vor weit verbreitet. Methodisch vielfältige Übungen zur Sicherung eines Grundwortschatzes wie das Abschreiben, das Sortieren von Wörtern, das Zusammenfügen von ‚Purzelwörtern‘ sowie verschiedene Diktatvarianten (z. B. Dosen- und Lauf‐ diktate) sind deshalb im Rechtschreibunterricht (sowie auch in kommerziell vertriebenen Fördermaterialien und Apps) allgegenwärtig. Jedoch ist es „in didaktischer Hinsicht höchst problematisch […], wenn Übungsformen, die für das Einprägen von Ausnahmeschreibungen funktional sind, auch auf Schreibungen des Kernbereichs ausgeweitet werden“ (Budde/ Riegler/ Wi‐ prächtiger-Geppert 2012: 127). Wortschreibungen mit silbenintialem <h>, mit verdoppeltem Konsonantengraphem oder mit <ie> für [i] sind system‐ basiert und sollten nach Möglichkeit auch so vermittelt werden. Eine sys‐ temferne Variante des G R UNDWO R T S CHATZK ONZ E P T S , die die Rechtschreibung implizit als chaotisch und undurchschaubar auffasst und die Schüler: innen vor orthographischen Gesetzmäßigkeiten ‚schützen‘ möchte, wird in der Fachdidaktik deshalb überwiegend kritisiert (Steinig/ Ramers 2020: 33). Grundwortschatzorientierte Vorgehensweisen sind dann berechtigt, wenn der Grundwortschatz als Ausgangspunkt für phänomenorientiertes Arbeiten an ausgewählten orthographischen Lerngegenständen dient (Risel 2011: 101) - zumal in orthographischen Kontexten, die auf der entsprechen‐ den Altersstufe oder ganz allgemein kaum mit Regeln zu bewältigen sind (s. o.). Gleiches gilt für die Schreibung von Fremdwörtern, deren Abwei‐ chungen vom nativen Wortschatz zusätzlich zu sprachbetrachtenden und -reflektierenden Aktivitäten einladen (Müller, A. 2017a: 273). Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass es in inklusiven Lerngruppen immer wieder Kinder und Jugendliche gibt, die mit dem Abspeichern von Wortschemata ganz grundsätzlich bessere Ergebnisse erzielen. Bei der 3.2 Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht 77 <?page no="78"?> individuellen Förderung sollten die Vorgehensweisen selbstverständlich den Stärken und Schwächen der Schüler: innen angepasst werden. Aufgaben 1. Welche der folgenden Wortschreibungen lassen sich mit den Prinzipien der deutschen Rechtschreibung nach Eisenberg (→ S. 59 f.) begründen? Bei welchen Wörtern erscheint Ihnen eine Aufnahme in einen Grund‐ wortschatz - eventuell in Verbindung mit phänomenorientierten Her‐ angehensweisen - sinnvoll? Rabe - Sahne - Schwan - Stahl - Saal - Magen wiegen - Biber - ihnen - Sieb - Fibel - Maschine 2. Zeigen Sie an der folgenden Aufgabe (verkürzt aus Richter 1998: 112) Merkmale des Grundwortschatzkonzepts auf und nehmen Sie kritisch dazu Stellung: Wörter, die mit Dehnungs-h geschrieben werden Das Dehnungs-h zeigt an, dass der davorstehende Vokal lang gespro‐ chen werden soll. […] Du sollst jetzt Wörter suchen, die mit einem langen a gesprochen und mit „ah“ geschrieben werden. Suche aus dem Abc deiner Kartei 8 heraus. 1) Markiere „ah“ mit einem Farbstift. 2) Lies dir dann die Wörter laut vor. Fällt dir etwas auf ? 3) Kannst du es als Merksatz aufschreiben? (Vergleiche deine Lösung mit dem Merksatz auf der Rückseite.) (Vorgeschlagene Lösung: „In diesen Wörtern wird das lange a als „ah“ geschrieben.“) Lektüreempfehlungen zur Vertiefung M E R T E N , S. (2016a) (kritisiert ein grundwortschatzorientiertes Vorgehen sowohl aus wortschatzals auch aus rechtschreibdidaktischer Sicht) R I C H T E R , S. (1998) (Anregungen für die Arbeit mit einem an den Interessen der Lernenden orientierten Grundwortschatz) 78 3 Schreiben <?page no="79"?> Verbin‐ dung von Lesetech‐ nik und Sinnent‐ nahme 3.3 Analytisch-synthetische Verfahren Den Begriff ‚Integration‘ beziehe ich auf alle Operationen, die beim Erwerb der Schriftsprache erlernt werden müssen, und damit meine ich, daß diese Operationen nicht im Aufbau des Lehrgangs nacheinander, sondern in jeder Lerneinheit und von Anbeginn an miteinander durchgeführt werden, da sie sich gegenseitig unterstützen und im Lernprozeß auch tatsächlich in engster Beziehung zueinander stehen. (Menzel 1990: 39; Herv. i.-O.) Erste Merkmale eines ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E N V E R F AH R E N S im Erstlese- und Erstschreibunterricht lassen sich bereits in Ickelsamers Teutsche Gram‐ matica (erstmals veröffentlicht Anfang des 16. Jahrhunderts) finden (Topsch 2005: 60). Jedoch sind die heute verbreiteten ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E N V E R F AH R E N historisch vor allem als Resultat der Kontroverse zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der synthetischen (→ 3.1) und der analytischen Methode (→-3.2) in den 1960er- und 1970er-Jahren zu verste‐ hen. Während diese beiden Positionen in ihrer reinen Form als überholt gelten, ist die ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E M E THOD E in ihren verschiedenen Ausprägungen heute das mit Abstand am häufigsten eingesetzte Verfahren im Schriftspracherwerb. Darstellung Die ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E M E THOD E versucht, die schwerwiegenden Pro‐ bleme der synthetischen beziehungsweise der Ganzheitsmethode zu umge‐ hen, indem von Anfang an sowohl technische als auch kommunikativsemantische Aspekte des Lesens und Schreibens berücksichtigt werden. Diese Idee setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich durch und wurde schließlich auch in Lehrplänen berücksichtigt, wie das folgende Beispiel zeigt: Beim Lehrgang kann schwerpunktmäßig von Satz, Wort oder Laut ausgegangen werden, jedoch sind von Anfang an alle Sprachelemente einzubeziehen. Ausge‐ schlossen ist somit ein rein synthetisches Verfahren, bei dem die Laute und Lautzeichen ohne Einsicht in ihre Funktion als Sinnträger erlernt werden, wie auch ein extrem ganzheitliches Verfahren, bei dem die Analyse zu lange hinaus‐ gezögert wird. (Amtsblatt des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur 1981: 554) 3.3 Analytisch-synthetische Verfahren 79 <?page no="80"?> Integration von Ana‐ lyse und Synthese Lehr‐ gangsori‐ entierung Der logische Aufbau des alphabetischen Schriftsystems, der sich vor allem aus dem phonographischen Prinzip ergibt, wird von Beginn an genutzt, indem Buchstaben beziehungsweise Grapheme als Lautrepräsentanten eingeführt werden. Gleichzeitig arbeitet man von Anfang an aber auch mit sinnvollen sprachlichen Einheiten, also Wörtern und Sätzen, die nach Möglichkeit in Kommunikationssituationen eingebettet sind. In der Praxis werden - ähnlich wie in der ANAL Y TI S CH E N M E THO D E - schon früh vollständige Wörter eingeführt, die von den Kindern als Einheit erlesen werden können. Jedoch werden diese Schlüsselwörter, die „gezielt im Hin‐ blick auf Lauttreue und Analyseeignung ausgewählt“ (Schenk 2012: 93) sind, zusätzlich sofort durchgliedert, also akustisch, artikulatorisch, visuell und schreibmotorisch in ihre Einzelteile zerlegt. Bei diesen Einzelteilen handelt es sich einerseits um Laute (Phoneme), andererseits um die diesen Lauten zugeordneten Buchstaben (Grapheme). Mit den gewonnenen Bestandteilen können - wenn sie eingeführt sind - wiederum neue Wörter aufgebaut und verschriftet werden; gleichzeitig ist es nun möglich, aus den Bestandteilen zusammengesetzte neue Einheiten zu erlesen. Das häufigste Lernmedium in analytisch-synthetischen Lehrgängen ist die Fibel, die eine Lernprogression - beispielsweise durch die Einführung von Schlüsselwörtern und Einzelbuchstaben - vorgibt. Die Fibel wird aktuell in der Praxis aber meist ergänzt durch zusätzliche Materialien (z. B. Buch‐ stabentabellen →-3.1, Schreibübungshefte) und gezielte Schreibanlässe, die in stärkerem Maße individuelle Lernwege ermöglichen. Problematisierung Während des sogenannten Methodenstreits Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E -M E THOD E , die eine Zwischenlösung anbot, von Vertreterinnen und Vertretern sowohl der synthetischen als auch der analytischen Methode zunächst heftig kritisiert: Will man auf dem Felde der Lesemethodik wirkliche Fortschritte erzielen, so ist ein solcher Mischversuch verfehlt. […] Wahres und Falsches vermischt [kann] wieder nur Falsches ergeben. (Schmitt 1966: 93) Inzwischen sind rein synthetische und analytische Ansätze aus der didakti‐ schen Diskussion ebenso wie aus der Realität verschwunden, und fast alle derzeit eingesetzten Erstlese- und Erstschreiblehrgänge sowie auch offenere Konzepte (z. B. der S P R ACHE R F AH R UN G S AN S ATZ → 3.4) basieren letztlich auf 80 3 Schreiben <?page no="81"?> Fibelkritik dem ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E N V E R FAH R E N (Topsch 2005: 64) und umfassen entsprechend den Grundzügen der ANAL Y TI S CH - S Y NTHE TI S CHE N M E THOD E systematische Lautierübungen, einen anfänglich in Bezug auf die Laut-Buchsta‐ ben-Regelhaftigkeit kontrollierten Wortschatz, die sorgfältige Einführung eines umfassenden Lesewortschatzes und die Einbeziehung des Schreibens. (Valtin 2006: 767) Dennoch lässt sich an der konkreten Umsetzung dieser Konzeption - insbe‐ sondere in den klassischen Fibellehrgängen - durchaus einiges kritisieren (s. auch die von Vertreterinnen und Vertretern des S P R ACHE R FAH R UN G S AN S ATZ E S geäußerte Fibelkritik →-3.4). Das anspruchsvolle Ziel, lautgetreu-alphabe‐ tisches Schreiben und Erlesen von Anfang an mit der kommunikativen Funktion der Schrift zu verbinden, wird häufig nicht erreicht - stattdessen beschränken sich Lesetexte angesichts des geringen Buchstabenangebots oft auf kurze und extrem vereinfachte Sätze mit reduziertem Inhalt, was nur unwesentlich über den in synthetischen Lehrgängen üblichen „Fibel-Dada‐ ismus“ (Reichen 2001: 85) hinausgeht. Es ist daher inzwischen allgemein üblich, die ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E M E THOD E im Schriftspracherwerb zum Beispiel mit lautorientierten Elementen (→ 3.1) und Ideen des S P R ACH E R F AH ‐ R UN G S AN S ATZ E S (→-3.4) zu verbinden. Auf einer anderen Ebene kritisieren unter anderem Bredel und Noack die lautorientierte Vorgehensweise in analytisch-synthetischen Lese- und Schreiblehrgängen. Ähnlich wie in aktuellen P HO NO G R AP HI S CH E N A N SÄTZ E N (→ 3.1) werde auch hier der Systemcharakter unseres Schriftsystems ver‐ kannt; die Kinder würden somit zum lautgetreuen Verschriften ‚verführt‘. Obwohl Schüler: innen im Zuge der inneren Regelbildung häufig bereits früh von der alphabetischen Schreibstrategie abwichen, wie unter anderem die Verschriftung von <er> für Reduktionssilben wie in Eimer zeige, würden solche Bemühungen im Unterricht weder aufgegriffen noch unterstützt (Bredel 2012: 11; Noack 2015: 43). Aufgaben 1. Machen Sie sich mit dem „Zwei-Wege-Modell des Worterkennens“ (Scheerer-Neumann 2006: 515) vertraut und erklären Sie, welcher ‚Weg‘ von den analytischen und welcher von den synthetischen Komponenten der ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E N M E THOD E genutzt wird. 3.3 Analytisch-synthetische Verfahren 81 <?page no="82"?> 2. Überprüfen Sie, ob der folgende Text (aus der Fibel Lesen, Lesen, Lesen 1991: 19) hinsichtlich der Wortauswahl und inhaltlicher Aspekte den Grundsätzen der ANAL Y TI S CH - S Y NTH E TI S CH E N M E THOD E entspricht. Am Tor Lulu rast los. Lulu ist am Tor. Was tut Lulu? TOR, TOR, TOR! Uta lacht: Toll, Lulu. Susi sagt: Lulu ist gut! Lektüreempfehlung zur Vertiefung M E N Z E L , W. (1990) (nach wie vor ein sinnvoller Einstieg in die Beschäftigung mit dem Schriftspracherwerb; zahlreiche Praxisvorschläge: u. a. ein Selbsttest zur Erprobung eines ‚neuen‘ Schriftsystems) 3.4 Spracherfahrungsansatz Die Fähigkeit der Kinder, Sprache selbständig, aktiv experimentierend zu erwer‐ ben, macht sich der entdeckende Ansatz beim Lese- und Schreiberstunterricht zunutze. Hier werden die Kinder nicht in die Rolle des passiven, uninformierten, nur zu Schluckbewegungen fähigen Konsumenten gedrängt, um von ‚klugen‘ Erwachsenen die aus der Erwachsenenlogik heraus portionierten, kleinen Wis‐ senshäppchen entgegenzunehmen und zu schlucken. Hier werden die Kinder stattdessen in ihren Entdeckungs- und Gestaltungsbedürfnissen und -fähigkeiten ernstgenommen und herausgefordert. (Spitta 1994: 72) Basis des S P R ACH E R F AH R UN G S AN S ATZ E S (auch: whole language approach) ist die grundsätzliche Annahme, dass der schriftliche ebenso wie der mündliche Spracherwerb ein natürlicher Prozess sei. Es genüge demzufolge, Kindern eine anregungsreiche Umgebung mit vielfältigen schriftsprachlichen Reizen zu geben. Wichtigste Aufgabe des Unterrichts sei es, den Lernenden indivi‐ duelle Zugangsmöglichkeiten zur Schriftsprache zur Verfügung zu stellen und sie zur selbständigen Produktion derselben anzuregen. 82 3 Schreiben <?page no="83"?> Die Konzeption stammt ursprünglich aus den USA und wird in Deutsch‐ land seit den 1980er-Jahren unter anderem von Brügelmann und Spitta vertreten. Darstellung Zu den theoretischen Grundlagen des S P R ACH E R F AH R UN G S AN S ATZ E S gehören Schriftspracherwerbsmodelle, die seit den 1980er-Jahren zunehmend Ein‐ gang in die fachdidaktische Diskussion fanden. Modelle des Schriftspracherwerbs Eines der ersten Schriftspracherwerbsmodelle stammt von der Entwick‐ lungspsychologin Frith (1985), die sowohl im Leseals auch im Schreib‐ erwerb drei wesentliche Strategien unterscheidet: ■ die logographische Strategie, bei der visuelle Repräsentationen eines Wortes als Ganzes erfasst und gespeichert werden, ■ die alphabetische Strategie, bei der auf Basis der Graphem-Pho‐ nem-Korrespondenz Wörter zunehmend lautgetreu verschriftet und Buchstabe für Buchstabe erlesen werden sowie ■ die orthographische Strategie, bei der Kinder in ihre Verschriftungen Gesetzmäßigkeiten der Rechtschreibung integrieren sowie beim Erlesen von Wörtern Signalgruppen, Morpheme und weitere abge‐ speicherte Einheiten nutzen. Zusammenfassende Darstellungen des Forschungsstands zum Schrift‐ spracherwerb sowie Weiterentwicklungen des Modells bezüglich der Lese- und Schreibfähigkeiten finden sich beispielsweise bei Scheerer- Neumann (2006) sowie Thomé (2006). Grundsätzliche Kritik an dem den Erwerbsmodellen zugrunde liegenden Verständnis von Schriftspracherwerb üben Bredel, Fuhrhop und Noack. Sie halten „die Modellierung des Schriftspracherwerbs als Stufenabfolge für einen Zirkelschluss, da die Didaktik damit etwas erklärt, was sie methodisch selbst verursacht hat“ (2017: 96), und begründen dies fol‐ gendermaßen: Fibelkonzept, Spracherfahrungsansatz oder freies Schreiben folgen dem Grundsatz, dass geschriebene Sprache aus Zeichenketten besteht, deren 3.4 Spracherfahrungsansatz 83 <?page no="84"?> individu‐ elle Lern‐ vorausset‐ zungen Orientierung an eigenen Texten einzelne Elemente als Abbilder auf Elemente der gesprochenen Sprache bezogen werden können. […] Wenn Unterricht die Schrift also stets in dieser lautlichen Beziehung vermittelt, ist es dann verwunderlich, dass alle Kinder mit der sogenannten alphabetischen Stufe beginnen? (Ebd.: 98) Der Anfangsunterricht steht vor der Herausforderung, dass sich Kinder zu Beginn der ersten Klasse auf ganz unterschiedlichen Entwicklungsni‐ veaus befinden. Aufgrund dessen kritisieren Vertreter: innen des S P R ACH E R ‐ F AH R UN G S AN S ATZ E S die Vorgehensweise des klassischen ANAL Y TI S CH - S Y NTH E ‐ TI S CHE N V E R F AH R E N S (→ 3.3), das durch seinen - meist durch die Fibel vorgegebenen - Unterricht ‚im Gleichschritt‘ die individuellen Lernvoraus‐ setzungen ignoriere. Dies führe bei einem Großteil der Kinder entweder zu Über- oder Unterforderung - und in beiden Fällen zu Frustration. Entdeckungen der Schüler: innen, die durchaus dazu fähig seien, eigene Vor‐ stellungen und Hypothesen über den Aufbau der Schriftsprache zu bilden, würden nicht berücksichtigt, weil sie nicht in den vorgegebenen Rahmen passten. Auch gelinge es durch die isolierte Vermittlung von Teilkenntnissen und durch die Überbetonung motorisch-technischer Aspekte nicht, den Kindern den eigentlichen kommunikativen Charakter der Schriftsprache von Anfang an zu verdeutlichen (Spitta 1994: 11 ff.). Als Alternative bietet Spitta zahlreiche Ideen zur Erarbeitung und Ein‐ übung unterschiedlicher Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit in einem offenen Unterricht an. Insbesondere orientiert sie sich dabei an den eigenen schriftlichen Erzeugnissen der Lernenden - diese sind neben Lernspielen, Zeitungen, Kinderbüchern und konventionellen Leselehrgängen das Mate‐ rial, mit dem gearbeitet wird (ebd.: 19). Arbeit mit und an eigenen Texten Die Texte kommen beispielsweise im Erzählkreis (→-2.4) durch Erzäh‐ lungen der Kinder zustande, die später diktiert, von der Lehrperson an die Tafel geschrieben, gemeinsam gelesen und in unterschiedlicher Weise weiterverarbeitet werden. So werden Erfahrungen und Gefühle nicht aus der Schule ausgeschlossen, sondern ganz gezielt aufgegriffen und als wichtig anerkannt. Zugleich bietet sich die Möglichkeit, Un‐ 84 3 Schreiben <?page no="85"?> Umgang mit Recht‐ schreib‐ fehlern terschiede zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (→-S.-23-f.) wahrzunehmen und zu verbalisieren. Die Produkte der Lernenden werden nach Möglichkeit nicht nur in einem dafür vorgesehenen Heft niedergeschrieben, sondern in kommu‐ nikative Prozesse eingegliedert. So führt Spitta mehrere Beispiele für die Erstellung von ‚Büchern‘ an, in denen jeweils eine Seite einem Kind ‚gehört‘ und von diesem gestaltet wird. So könne etwa ein Buch erstellt werden, in dem sich alle Erstklässler: innen mit Bild vorstellen, oder ein ‚Traumbuch‘, in dem sie von ihren Wünschen und Träumen erzählen. Auch durch Briefe an fiktive oder reale Adressatinnen und Adressaten könne das Schreiben (und Lesen) in einen sinnvollen und motivierenden Kontext eingebettet werden. Spitta verzichtet im Anfangsunterricht gänzlich darauf, in den Texten der Kinder Fehler zu markieren, und schlägt stattdessen vor, eine ortho‐ graphisch korrekte Fassung danebenzuschreiben - sowohl als Vergleichs‐ möglichkeit für das Kind als auch als Hilfe für Mitschüler: innen oder Erwachsene, die den Text später lesen möchten. Dadurch erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihre Version mit derjenigen der Lehrkraft zu vergleichen und daraus selbständig Hypothesen zur Systematik der Rechtschreibung abzuleiten. Eine integrative Konzeption, die neben dem S P R ACH E R F AH R UN G S AN ‐ S ATZ auch Elemente anderer Verfahren berücksichtigt, schlagen Brügel‐ mann/ Brinkmann (1998) vor. Sie beruht auf vier Säulen: ■ freies Schreiben (→ 3.11) eigener Texte (z. B. mithilfe einer Anlauttabelle → 3.1): Entwickeln und Überprüfen eigener orthographischer Hypothesen, ■ gemeinsames (Vor-)Lesen von Kinderliteratur: Erzeugung von Lesemo‐ tivation; Schriftsprache soll als Kommunikationsmedium erlebt werden; Weiterentwicklung sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten, ■ systematische Einführung von Schriftelementen und Leseverfahren (z. B. ‚Buchstabe der Woche‘, Auf- und Abbauübungen), ■ Aufbau und Sicherung eines Grundwortschatzes: Automatisierung der Schreibweise häufiger Wörter, Nutzung von Modellwörtern für be‐ stimmte orthographische Phänomene. 3.4 Spracherfahrungsansatz 85 <?page no="86"?> Schrift‐ spracher‐ werb als natürlicher Prozess? Integration in andere Konzeptio‐ nen Problematisierung Kritisiert werden muss zunächst die Vorstellung eines ‚natürlichen‘ Ortho‐ graphieerwerbs. Das System Orthographie, wie es beispielsweise Eisenberg beschreibt, ist so komplex, dass Kritiker: innen des S P R ACH E R F AH R UN G S AN ‐ S ATZ E S zufolge eine gezielte Steuerung von Lernprozessen (unter Einbezie‐ hung metasprachlicher Beschreibungen oder geeigneter Strategien) unab‐ dingbar ist. Der Rechtschreibunterricht solle demzufolge nicht auf eine Anleitung zu lautgetreuem Verschriften sowie die Vermittlung eines Grund‐ wortschatzes beschränkt werden (s. z. B. Bredel/ Fuhrhop/ Noack 2017: 96). Bangel/ Müller (2018; s. auch Bangel 2020) betonen auf Grundlage einer In‐ terventionsstudie die Bedeutung eines schriftstrukturbasierten Recht‐ schreibunterrichts gerade für leistungsschwache Lerner: innen, und auch Hüttis-Graff/ Wirszing (2018) schlussfolgern aus den Ergebnissen ihrer Längsschnittstudie: Lernförderlich ist […] ein schriftorientierter Anfangsunterricht, der Erkundun‐ gen des richtig Geschriebenen anstößt, dazu auch direkt auffordert, und auf diese Weise sowohl die Ausbildung eines sachgerechten Phonembegriffs als auch die Bildung und Erprobung orthografischer Muster und Schreibschemata unterstützt, die in Auseinandersetzung mit der Norm entstanden sind. (Ebd.: 71) Risel weist darauf hin, dass instruktionsarmes Lernen immer in der Gefahr stehe, die Auswirkungen ungleicher Eingangsvoraussetzungen zu verlän‐ gern (2011: 143 f.). Zudem überfordere eine konsequente Umsetzung der Konzeption viele Lehrkräfte, die „neben der Sachanalyse auch die didakti‐ sche Reduktion und die lernpsychologische Aufarbeitung leisten müssen“ (ebd.). Der S P R ACHE R FAH R UN G S AN S ATZ in seiner reinen Form ist wenig praktiziert; so spricht Risel von einem „Phänomen der Hochschulen und fachdidakti‐ scher wie pädagogischer Publikationen“ (ebd.: 95). Zahlreiche Ideen und Methoden aus diesem weiten Feld sind jedoch häufig adaptiert und ergänzen inzwischen viele - auch fibelorientierte, zum Beispiel ANAL Y TI S CH - S Y NTHE TI ‐ S CH E - Lese- und Schreiblehrgänge (→ 3.3). Die Verbindung selbstgesteu‐ erter und systematischer Elemente beispielsweise durch die Einbeziehung eigener Texte, die in realen oder fiktiven Kommunikationssituationen ent‐ stehen, hat sich vielfach bewährt. Ebenso bedeutsam für den Unterrichtsall‐ tag ist die unterrichtsbegleitende Diagnose schriftsprachlicher Fähigkeiten. 86 3 Schreiben <?page no="87"?> Einen Überblick über Diagnoseverfahren, die unterschiedliche Teilbereiche abdecken, bietet Wildemann (2015: 118-ff.). Aufgaben 1. David (Kl. 1; aus Spitta 1994: 52 f.) schreibt: Bos Aos HPe ich FesA gK (Bus aus habe ich Fenster geguckt bzw. Im Bus habe ich aus dem Fenster geguckt). Beschreiben Sie seinen Stand in der Entwicklung der Rechtschreibfähigkeiten (z. B. nach Thomé 2006). 2. Wie würden Sie als Lehrkraft auf die Normverstöße in seinem Text reagieren? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B R ÜG E L M A N N , H./ B R I N K M A N N , E. (1998) (integratives Modell eines Lese- und Schreib‐ unterrichts unter starker Berücksichtigung von Elementen des S P R A C H E R F A H ‐ R U N G S A N S A T Z E S ) S P I T T A , G. (1994) (enthält neben einer Begründung des F R E I E N S C H R E I B E N S im An‐ fangsunterricht zahlreiche Anregungen für Schreibprojekte) 3.5 Regelorientierter Rechtschreibunterricht Regeln interessieren viele Hochschuldidaktiker vor allem dann, wenn die Ler‐ nenden selbst sie generieren, wenn sie also in Gestalt von Eigenregeln auftauchen. Empirisch wenig erforscht ist dagegen Unterricht, der sowohl Eigenregeln und Eigentermini hervorlockt als auch Fremdregeln als Reibungsfläche für Lernzu‐ wachs anbietet. (Risel 2011: 107) Der R E G E L O R I E NTI E R T E R E CHT S CH R E IB UNT E R R ICHT setzt sich von den bisher dargestellten Ansätzen insofern ab, als er von der analysierten Struktur der Schriftsprache ausgeht und nicht bei der Lautanalyse oder dem Abspeichern von Wörtern oder Wortbausteinen stehen bleibt - dies gilt in ähnlicher Form auch für S T R AT E GI E O R I E NTI E R T E (→ 3.6) oder S IL B E N BA S I E R T E (→ 3.7) K O NZ E P TIO ‐ N E N . Es gibt eine Vielzahl ausdrücklich regelorientierter Vorschläge für die Primar- und Sekundarstufe, von denen im Folgenden einige exemplarisch vorgestellt werden. 3.5 Regelorientierter Rechtschreibunterricht 87 <?page no="88"?> „Metasprache meint das Kommunizieren und Nachdenken über Sprache. In metasprachlichen Äußerungen wird Sprache selbst zum Objekt sprach‐ licher Äußerungen oder zum Gegenstand spielerischer Manipulationen.“ (Wehr 2001: 29; Herv. i. O.) Darstellung Den R E G E L O R I E NTI E R T E N A N SÄTZ E N ist gemeinsam, dass von einem bestimmten orthographischen Phänomen, einer Rechtschreibschwierigkeit, ausgegan‐ gen wird. Zu diesem wird metasprachlich eine Regel oder Gesetzmäßigkeit formuliert, die es den Lernenden anschließend ermöglichen soll, Wörter mit der entsprechenden Rechtschreibschwierigkeit orthographisch zu durch‐ schauen und korrekt zu schreiben. Die Ansätze unterscheiden sich insbe‐ sondere in den fokussierten sprachlichen Ebenen (z. B. Morpheme, Silben), im Komplexitätsgrad der verwendeten Regeln und in der Art und Weise, wie diese erarbeitet werden (deduktiv oder induktiv). Verdopplung von Konsonantengraphemen Eine explizite Regel, die sich in dieser oder ähnlicher Form in diversen Lernmaterialien findet, ist beispielsweise: Nach einem kurzen Vokal wird der folgende Konsonant meistens verdoppelt. Eine solche Formulierung ist wenig komplex und damit scheinbar kindgerecht - allerdings (wie das meistens schon zeigt) in vielen Fällen nicht zutreffend und damit inhalt‐ lich problematisch. Eine differenziertere regelorientierte Behandlung des Phänomens doppelte Konsonantenbuchstaben kann folgendermaßen aussehen: Hier haben sich zwei Wörter mit langem Selbstlaut versteckt: Kette - Ast - Wolke - Schlitten - Kessel - Katze - rasen - Wand - Lust - rennen - retten - wenden - blöd […] 1. Sprich alle Wörter übertrieben lang und übertrieben kurz aus: Keeete oder Ketttte? - kurz, also kommt ein Punkt unter das kurze ẹ. Ein langer Selbstlaut wird durch einen Strich markiert, z. B. a. 88 3 Schreiben <?page no="89"?> 2. Färbe die Dopplungswörter an der Dopplungsstelle mit einer Farbe: re nn en. (ck und tz sind auch Doppelungen, sie bekommen nur eine Farbe.) 3. Färbe bei den anderen Wörtern die beiden verschiedenen Buchstaben nach dem Selbstlautbuchstaben mit verschiedenen Farben: A s t. (Risel 2004: 70) Diese Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise ist fachlich korrekt und zielfüh‐ rend, allerdings von erheblicher Komplexität - zumal hier Wörter mit zwei Konsonanten nach dem kurzen Vokal, bei denen aufgrund des morpholo‐ gischen Prinzips dennoch gedoppelt wird (z. B. rannte), noch nicht berück‐ sichtigt sind, was in einem nächsten Schritt geschehen müsste. Deshalb ist es unabhängig von der thematisierten Rechtschreibschwierigkeit üblich und legitim, wie in diesem Beispiel eine didaktische Reduktion vorzunehmen und Regeln mit verringertem Komplexitätsgrad zu formulieren - allerdings erhöht sich dadurch zwangsläufig die Zahl der Ausnahmen. Regelorientierte Ansätze finden sich besonders häufig in Kontexten, in denen sich morphologische Aspekte auf Wortschreibungen auswirken. Dies ist beispielsweise der Fall bei doppelten Konsonantenbuchstaben in flektier‐ ten Wörtern wie rannte, bei Wörtern mit phonographisch problematischen Morphemgrenzen (aussehen, Geburtstag) oder bei Wörtern mit Auslautver‐ härtung beziehungsweise g-Spirantisierung (Berge, sonnig) (Risel 2004). Da Schüler: innen Morpheme offenbar noch seltener als Silben intuitiv als Hilfsmittel einsetzen, sind hier Zugänge, die stark auf explizites Lernen und metasprachliche Umschreibungen setzen, theoriebasiert zu rechtfertigen. Hinweis Mit Ortho & Graf (Beißwenger/ Meyer 2018) liegt ein digitales wikiba‐ siertes Planspiel zur Förderung von Rechtschreibkompetenz vor, das für die Sekundarstufe II konzipiert ist und den Fokus auf die Analyse, Beschreibung und Anwendung orthographischer Regeln legt. 3.5 Regelorientierter Rechtschreibunterricht 89 <?page no="90"?> induktive Erarbei‐ tung von Regeln vom Wis‐ sen zum Können Zu den Ritualen des R E G E L O R I E NTI E R T E N R E CHT S CH R E IB UNT E R R ICHT S gehören Merksätze. Von zweifelhaftem Nutzen ist es allerdings, diese als Lehrperson einfach vorzugeben oder in einem fragend-entwickelnden Unterricht durch geschickt formulierte Impulse aus den Schülerinnen und Schülern ‚heraus‐ zukitzeln‘. Aus lernpsychologischen Gründen ist die induktive Erarbeitung von Gesetzmäßigkeiten vorzuziehen: Hypothesen über orthographische Re‐ gularitäten können aus (i. d. R. durch die Lehrkraft vorstrukturiertem) Ma‐ terial gewonnen, formuliert und dann überprüft werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei Aufgaben, die die Schüler zum Nachdenken über bestimmte Schreibweisen herausfordern und sie auch dazu anregen, ihr Vorgehen bei der Lösung des orthographischen Problems zu explizieren. (Budde et al. 2012: 128) Wenn die gefundenen Regeln anschließend unter Beteiligung der Schü‐ ler: innen und mit ihren eigenen Worten versprachlicht werden, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie auch verstanden und behalten werden. Allerdings eignet sich für diese induktive Herangehensweise nicht je‐ der orthographische Gegenstandsbereich: Manche sind zu unsystematisch (nach Meinung vieler Autorinnen und Autoren z. B. das Dehnungs-h), andere als Fehlerschwerpunkt eher peripher. Lindauer/ Schmellentin (2008) schlagen vor, in solchen Kontexten Regeln nur situativ zu thematisieren oder mit Lernwörtern, also grundwortschatzorientiert (→-3.2), zu arbeiten. Problematisierung In Praktika beschränkt sich der R E G E L O R I E NTI E R T E R E CHT S CH R E IB UNT E R R ICHT erfahrungsgemäß meist auf Einführungsstunden, wohingegen Risel die Wichtigkeit der Wiederholung hervorhebt: Es müsse möglich sein, im Unterricht „entlastende rechtschreibliche Routinen“ (2011: 88) auszubilden. Auch Lindauer/ Schmellentin, die ebenfalls für eine regelorientierte Vor‐ gehensweise plädieren, räumen ein: „Es braucht eine gewisse Zeit, bis bewusstes Rechtschreibwissen in unbewusstes übergehen kann“ (2008: 18). Die Annahme, dass hierfür Zeit und mehrfache Wiederholungen grund‐ sätzlich ausreichten, muss jedoch bezweifelt werden: Ein Automatismus, durch den explizites Rechtschreibwissen in implizites Rechtschreibkönnen umgewandelt werde, existiert nicht (Funke 2005). Deshalb ist nicht selten zu beobachten, dass Schüler: innen (auch induktiv erarbeitete) Merksätze zwar ‚auf Knopfdruck‘ reproduzieren können, die betroffenen Wörter aber davon unbeeindruckt weiterhin falsch schreiben. Insbesondere beim 90 3 Schreiben <?page no="91"?> Schreiben eigener Texte, bei dem erhöhte Aufmerksamkeit auf andere als rechtschreibliche Aspekte verwendet werden muss, fehlt es häufig an Sprachaufmerksamkeit und Fehlersensibilität, um Fehlschreibungen durch Anwendung von Regeln zu vermeiden. Auch für Bredel ist die Vorstellung, Lernende über Merksätze und Re‐ geln zu regelgeleitetem Schreiben anzuleiten, ein Irrweg; sie schlägt mit sogenannten „deiktischen Merkhilfen“ (2011a: 417), worunter sie eine an prozedurales Wissen angebundene handelnde Umsetzung von Strategien (→ 3.6) beziehungsweise den Einsatz von silbisch orientierten Visualisie‐ rungen (→-3.7) versteht, eine Alternative vor. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Vorwurf, der R E G E L O R I E NTI E R T E R E CHT ‐ S CH R E IB UNT E R R ICHT bevorzuge leistungsstärkere Schüler: innen. Es besteht insbesondere bei der Erarbeitung und Formulierung von Regeln im Plenum die Gefahr, sich an den schneller Lernenden mit ausgeprägter Sprachauf‐ merksamkeit und Fähigkeit zur metasprachlichen Beschreibung zu orien‐ tieren - dies ist fatal, weil dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit genau die Kinder auf der Strecke bleiben, die rechtschreibliche Unterstützung besonders nötig hätten. Es muss also darauf geachtet werden, bei der induktiven Erarbeitung differenzierte Aufgabenstellungen anzubieten und allen Schülerinnen und Schülern (z. B. in Einzel- oder Partnerarbeit mit klar definierter Aufgabenverteilung) eigene Entdeckungen zu ermöglichen. Aufgaben 1. Die Groß- und Kleinschreibung ist einer der fehlerträchtigsten Bereiche der deutschen Orthographie. Traditionell wird hier meist mit regelori‐ entierten Zugängen gearbeitet: Nomen, die an verschiedenen Merkma‐ len (semantische Kriterien, Artikel o. Ä.) erkannt werden können, sind großzuschreiben. Erläutern Sie (ggf. unter kritischer Reflexion Ihrer eigenen Rechtschreibpraxis) die Problematik dieser offenbar nicht allzu erfolgreichen Vorgehensweise. 2. Ein häufiges Rechtschreibproblem bilden aufgrund der g-Spirantisie‐ rung die Adjektivderivationen mit [lich] und [ig]. Formulieren Sie eine für die Klassenstufe 4 oder 5 angemessene Rechtschreibregel, mit der entschieden werden kann, ob <ch> oder <g> zu schreiben ist. Berück‐ sichtigen Sie dabei auch, dass ein Kind, das nicht weiß, ob <sonnig> oder <sonnich> zu schreiben ist, auch bei der ‚Verlängerungsprobe‘ häufig nicht zwischen <sonnige> und <sonniche> entscheiden kann. 3.5 Regelorientierter Rechtschreibunterricht 91 <?page no="92"?> Operatio‐ nen statt Regeln Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B R E D E L , U. (2011a) (geht allgemein auf die Rolle von Regeln im Orthographieerwerb ein und setzt sich kritisch mit Merksätzen auseinander) R I S E L , H. (2004) (enthält fachliche und didaktische Informationen sowie methodi‐ sche Hinweise und Kopiervorlagen zu zahlreichen Rechtschreibthemen) R I S E L , H. (2011) (Überblick über verschiedene Konzeptionen der Rechtschreibdidak‐ tik; plädiert u. a. für eine induktiv-regelorientierte Vorgehensweise) 3.6 Strategieorientierter Rechtschreibunterricht Das Wissen um Regeln […] nützt vielen Schülerinnen und Schülern, die das Schreiben lernen, genauso wenig, wie einem Dreijährigen Grammatikregeln da‐ bei helfen würden, sprechen zu lernen. Gelernt werden müssen vielmehr überall, wo das möglich ist, die Gedankengänge, die nötig sind, um die Schreibweise eines Wortes aus der gesprochenen Sprache zu erschließen. (Mann 2010: 12) Strategieorientierte Ansätze basieren auf der Idee, den Lernenden „statt metasprachlich beschreibender Regelformulierungen geeignete mentale Prozeduren als Prüfoperationen anzubieten, die ihnen die Analyse der jeweiligen sprachlichen Struktur ermöglichen“ (Huneke 2013: 320). Mitunter ist die Unterscheidung zwischen S T R AT E GI E O R I E NTI E R T E N und R E G E L O R I E NTI E R ‐ T E N A N SÄTZ E N (→ 3.5) schwierig, da auch die oben genannten mentalen Prozeduren metasprachlich umschrieben werden können. Mann schlägt folgende Abgrenzung vor: Der Unterschied zwischen Regel- und Strategielernen besteht darin, dass man das Regelwissen auf ein Minimum reduziert und versucht, stattdessen die Denk‐ bewegungen einzuüben, die der Anwendung der Regel zugrunde liegen. (2010: 24) Ossner (2013: 98) hingegen fasst den Strategiebegriff enger: Automatisierte Verhaltensweisen gehören für ihn nicht in diese Kategorie, wohl aber „ein planendes (mentales) Vorgehen auf ein angestrebtes Ziel hin“ (ebd.). Strategien sind damit Bestandteil sowohl des Problemlösungswissens als auch des metakognitiven Wissens - beides gilt auch für die im Folgenden dargestellten Rechtschreibstrategien. Es ließe sich zusammenfassend beim strategieorientierten Rechtschreib‐ unterricht auch von einer prozessorientierten Vorgehensweise sprechen, 92 3 Schreiben <?page no="93"?> Recht‐ schreibgespräche wobei die fokussierten Prozeduren (im Gegensatz zu Regeln) an konkretes sprachliches Material gebunden sind. Darstellung Zahlreiche Strategien zur Lösung von konkreten orthographischen Pro‐ blemen haben in den letzten Jahrzehnten den Weg in die Alltagsdidaktik gefunden, so beispielsweise das Verlängern bei Wörtern mit Auslautverhär‐ tung oder das Silbieren bei Wörtern mit doppeltem Konsonantenbuchstaben (→ 3.7). Häufig ist dabei eine deduktive Einführung der Strategien - gefolgt von (mehr oder weniger abwechslungsreichen) Übungen für die Einzelarbeit - zu beobachten. Eine Möglichkeit, Kinder und Jugendliche über Strategien kommunizieren und diese dabei ein vertieftes Verständnis entwickeln zu lassen, bieten dagegen Rechtschreibgespräche (Geist 2018). Ausgehend von schwierigen Schreibungen (‚Stolperwörter‘ bzw. ‚Stolpersätze‘) kann durch die Zuordnung passender Strategien und die gegenseitige Erklärung der Herleitung Gelerntes vertieft und dessen Anwendung eingeübt werden. Neben anspruchsvollen Wörtern oder Sätzen werden den Schülerinnen und Schülern auch Leitfragen, etwa in Form eines ‚Fragenfächers‘, zur Verfügung gestellt. Tipp Mögliche Leitfragen für Rechtschreibgespräche: ■ Was fällt dir an dem Wort auf ? ■ An welcher Stelle könntest du dir beim Schreiben unsicher sein? Warum? ■ An welcher Stelle könnten andere Kinder (z. B. in der ersten Klasse) beim Schreiben unsicher sein? Warum? ■ Wie ist das Wort gebildet? ■ Bei welchen Wörtern könnte das gleiche Problem auftreten? ■ Welche Strategie kann dir helfen, das Wort richtig zu schreiben? ■ Wo findest du das Wort im Wörterbuch? ■ Materialien, Videos und zahlreiche weiterführende Informationen finden sich unter anderem hier: beate-lessmann.de/ rechtschreiben/ rechtschreibgespraeche.html. 3.6 Strategieorientierter Rechtschreibunterricht 93 <?page no="94"?> Ein inzwischen etabliertes Beispiel für strategie- oder prozessbasiertes Arbeiten im Rechtschreibunterricht ist der syntaxbasierte Zugang zur Groß- und Kleinschreibung, der im Folgenden nach Röber-Siekmeyer (1999) vorgestellt wird. Einen alternativen Ansatz, dessen Fokus vor allem auf der Formveränderung der vor dem großzuschreibenden Wort eingefügten Adjektive liegt, präsentiert Funke (1995; 2017). Syntaxbasierte Großschreibung Die satzinterne Großschreibung bereitet vielen Schülerinnen und Schü‐ lern (sowie auch Studentinnen und Studenten) große Schwierigkeiten - dies bestätigt sich auch beim Betrachten von Fehlerstatistiken (s. z. B. Betzel 2015). Der traditionelle Zugang, den wir als regelorientiert einordnen, begründet die Hervorhebung bestimmter Einheiten durch große Initialen mit ihrer Wortart: Nomen werden großgeschrieben. Nünke/ Wilhelmus (2002: 211) weisen unter anderem anhand von Kin‐ derzitaten sehr überzeugend die Ineffektivität dieser Vorgehensweise nach und erläutern eine Alternative, die im Folgenden dargestellt wird. Grundsätzlich lassen sich Sätze in einen verbalen Kern und weitere Konstituenten einteilen, von denen die überwiegende Mehrheit aus Nominalphrasen besteht. In diesen wird das jeweils letzte Element großgeschrieben - dies hat den Effekt, dass die syntaktische Struktur des Satzes für die lesende Person schneller zu durchschauen ist. Es lässt sich also auch die Großschreibung von Wörtern als Folge der Orientierung an der lesenden Person deuten, wenn man davon ausgeht, dass Wör‐ ter nicht aufgrund ihrer lexikalischen Eigenschaften großgeschrieben werden, sondern aufgrund der Funktion, die sie innerhalb eines Satzes übernehmen. Bredel fasst zusammen: Nun gilt nicht mehr Substantivität als Auslöser für Großschreibung, sondern die Funktion, die Substantive in Sätzen im prototypischen Fall übernehmen. Erfasst werden nun also auch syntaktische Konversionen (das viele Üben, sein beschädigtes Ich). (2010a: 218, Herv. i.-O.) Kennzeichnend für die Kerne von Nominalgruppen ist ihre Attribu‐ ierbarkeit, insbesondere (aber nicht ausschließlich) durch Adjektive: „Ein Wort ist [also] dann großzuschreiben, wenn es durch (flektierte) vorgestellte Attribute erweiterbar ist und wenn es das rechte Ende einer Nominalgruppe darstellt“ (Röber-Siekmeyer 1999: 70). 94 3 Schreiben <?page no="95"?> Stufenwör‐ ter - Ein‐ füllwörter - Achsen‐ wörter --- ‚Treppengedichte‘ Prägend für den syntaxbasierten Zugang ist vor allem Röber-Siekmeyer (1999) mit ihrem Buch Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung. Sie arbeitet mit sogenannten Treppengedichten, bei denen Schüler: in‐ nen durch eigenes Ausprobieren die Erfahrung machen, dass bestimmte Wörter ihre charakteristische Position behalten und dass diese durch einen großen Anfangsbuchstaben gekennzeichnet sind: unter Schnee unter dem Schnee unter dem kalten Schnee unter dem kalten, feuchten Schnee unter dem kalten, feuchten, glitschigen Schnee schläft der grüne Klee (Ebd.: 94) Mittels genau erläuterter Methoden werden die Treppengedichte beschrie‐ ben, nachgebaut und mit vielfältigen Experimenten variiert. Die Beobach‐ tungen werden metasprachlich formuliert. Röber schlägt hierfür eigene Termini vor; Begriffe wie Nomen sollten nicht benutzt werden, da gerade nicht nur Nomen, sondern auch andere großzuschreibende Einheiten mit dem syntaxbezogenen Zugang erfasst werden sollen. Die erarbeiteten Re‐ geln könnten von den Kindern folgendermaßen zusammengefasst werden: Vor Stufenwörter [z. B. Schnee] kann man Einfüllwörter [z. B. kalten] setzen. Achsenwörter [z. B. schläft] stehen zwischen den Treppen, und sie bleiben da, auch wenn man die Treppen umdreht. Achsenwörter haben unterschiedliche Endungen. Stufenwörter werden großgeschrieben. Achsenwörter werden klein‐ geschrieben. (Röber 1999: 101) Anschließend wird mit neuen Sätzen gearbeitet, aus denen die Kinder selbst Treppengedichte entwickeln, um die Stufenwörter zu identifizieren. Der entscheidende Schritt ist letztlich die Ermittlung der Kerne von Nominal‐ gruppen mit der Attribuierungsprobe bei selbst formulierten Sätzen. 3.6 Strategieorientierter Rechtschreibunterricht 95 <?page no="96"?> Erklärun‐ gen von Schülerin‐ nen und Schülern weitere strategieorientierte Ansätze Nünke/ Wilhelmus konnten den Erfolg der Methode mittels eines Kurz‐ diktats, das vor dem Hintergrund der traditionellen Methode als sehr anspruchsvoll bezeichnet werden muss, überzeugend belegen: Mogli wandert durch den Wald. Beim Gehen bewundert er das Grün der Bäume. Plötzlich kommt eine Schlange. Von ihrem Zischen bekommt er Angst. (2002: 209) Zitate der Schreiber: innen (es handelt sich um Kinder der 2. Klasse) zeigen, dass die Strategie gerade bei den Nominalisierungen hilfreich sein kann: Bei ‚zischen‘, da habe ich gedacht: ‚ihrem schnellen Zischen‘ und ich hatte es erst klein, aber deswegen habe ich es dann doch großgeschrieben. Am Anfang wird ja jeder Buchstabe großgeschrieben, am Satzanfang. Die Namen‐ wörter werden auch großgeschrieben. Manche Tu- und Wiewörter werden auch großgeschrieben. […] Also hier, z. B. ‚grün‘, da könnte man was dazwischensetzen, das schöne Grün. Dann wird das großgeschrieben, das Wort danach. (Ebd.: 211) Gerade bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache wurden mit dieser Her‐ angehensweise überzeugende Ergebnisse erzielt - dies könnte mit ihrer zu Beginn der Grundschulzeit besonders ausgeprägten Aufmerksamkeitskon‐ trolle zusammenhängen, das heißt mit ihrer Fähigkeit, den Fokus direkt auf die geforderten formalen Aspekte sprachlicher Äußerungen zu richten (Krafft 2013). Weitere S T R AT E G I E O R I E NTI E R T E A N SÄTZ E , die den Lernenden ebenfalls Ope‐ rationen zur Bewältigung orthographischer Probleme zur Verfügung stellen, können hier nicht in derselben Ausführlichkeit besprochen werden. Hinge‐ wiesen sei noch auf ein strategieorientiertes interpunktionsdidaktisches Konzept zur Kommasetzung (Lindauer/ Sutter 2005; Lindauer/ Schönenberg 2012): Das Komma zwischen Teilsätzen wird hier als Grenzmarkierung zwischen zwei ‚Königreichen‘, die jeweils von einem (finiten) Verb ‚regiert‘ werden, aufgefasst. Auf diese Weise könne ein Aspekt der Zeichensetzung, der neben Kindern und Jugendlichen (Betzel/ Steinig 2020: 125 f.) auch vielen Lehramtsstudierenden (mit dem Fach Deutsch! ) noch große Probleme bereitet (Hochstadt/ Olsen 2016; Krafft 2016), schon gegen Ende der Grund‐ schulzeit erfolgreich vermittelt werden. Hervorzuheben ist dabei, dass es im Gegensatz zu regelorientierten Herangehensweisen nicht erforderlich sei, die markierten Sätze oder die Relation zwischen ihnen formal zu bestimmen - die metaphorische Bezeichnung als ‚Königreich‘ sei völlig ausreichend: 96 3 Schreiben <?page no="97"?> Wem diese Bildlichkeit zu kindlich ist, der kann ebenso gut von ‚Verb‘ mit ‚Beigemüse‘ sprechen - und dann eventuell eine entsprechende Gartenmeta‐ pher verwenden. Auf eine traditionell grammatische Kategorisierung sollte man aber auf jeden Fall verzichten: Das lenkt nur ab. (Lindauer/ Sutter 2005: 31) Mann vertritt ebenfalls einen S T R AT E GI E O R I E NTI E R T E N A N S ATZ : „Nicht das Regelwissen ist entscheidend für die Rechtschreibfähigkeit, sondern die Strategie der Regelanwendung“ (2010: 16, Herv. i. O.). Konsequenterweise fordert sie, im Unterricht nicht von Rechtschreibphänomenen auszugehen, sondern drei Ableitungsstrategien einzuüben, mit denen sich ein Großteil der von der lautgetreuen Schreibung abweichenden Wörter erschließen lasse (ebd.: 27-f.): ■ Ableitung bei t-Signal (dreht - drehen, fällt - fallen), ■ Wörter verlängern (Kleid - Kleider, Schuh - Schuhe), ■ Wörter auseinandernehmen und den ersten Teil verlängern (Drehpunkt - Drehen, leidvoll - leiden). Auch die S IL B E N BA S I E R T E N K ONZ E P TIO N E N lassen sich in vielerlei Hinsicht als S T R AT E GI E O R I E NTI E R T bezeichnen, da sie ebenfalls eher auf intuitiv einsetzbare Operationen als auf explizite Regeln setzen. Diese werden jedoch im nach‐ folgenden Kapitel (→-3.7) thematisiert. Problematisierung Generell ist darauf hinzuweisen, dass der Einsatz von Rechtschreibstra‐ tegien - ebenso wie der von Rechtschreibregeln (→-3.5) - in der Praxis mitunter daran scheitert, dass die Notwendigkeit einer Herleitung von den Schreibenden nicht erkannt wird. Das Einüben von Hilfestellungen ist also „nur dann zielführend, wenn aufseiten des Lerners ein gewisses ‚Rechtschreibgespür‘ hinzukommt“ (Fay 2013: 191) (→-S.-58). Der syntaxbezogene Zugang zur Groß- und Kleinschreibung enthält durchaus Anklänge an regelorientierte Konzeptionen, so etwa die meta‐ sprachlichen Beschreibungen der untersuchten Phänomene. Der Grundge‐ danke ist aber die Einübung einer Strategie, der Attribuierungsprobe, die von Schülerinnen und Schülern flexibel und ohne Bezug auf metasprachliche Regeln oder Merksätze eingesetzt werden kann. 3.6 Strategieorientierter Rechtschreibunterricht 97 <?page no="98"?> systemin‐ terne Pro‐ blem- und Zweifels‐ fälle Bei den in Treppengedichte umgewandelten Sätzen, die von Röber-Siek‐ meyer und anderen Autorinnen und Autoren genutzt werden, handelt es sich um prototypische Beispiele, die jedoch nicht die gesamte sprachliche Realität abbilden. So sind im Deutschen durchaus Konstituenten möglich, die keinen großzuschreibenden Kern enthalten (z. B. Pronomen, aber auch Adjektiv- und Adverbphrasen). Ebenso lassen sich - etwa mit Präpositio‐ nal- oder Genitivattributen - Konstituenten bilden, die zwei oder mehr großzuschreibende Einheiten enthalten. Diese der Methode innewohnenden inhaltlichen Probleme sind jedoch lösbar, weil die anfänglich eingesetzten Treppengedichte lediglich zur Einübung der Strategie dienen. Spätestens in der Sekundarstufe können auf der Grundlage eines stabilen Konzepts von Groß- und Kleinschreibung dann auch Zweifelsfälle bearbeitet werden. Angesichts der überzeugenden Erfahrungsberichte (Nünke/ Wilhelmus 2002) sowie der offensichtlichen Probleme vieler Schüler: innen im Bereich der satzinternen Großschreibung, die die traditionelle wortartbezogene Didaktik nicht beheben kann, sollte der syntaxbezogene Zugang als Alter‐ native unbedingt in Erwägung gezogen werden: Insbesondere für die Lernenden, die in der Sekundarstufe noch grundlegende Schwierigkeiten mit der Großschreibung haben und kaum Fortschritte erzielen, eröffnen syntaxorientierte Strategien die Chance, bisher Unverstandenes aus anderer Perspektive zu begreifen und vorhandene Widersprüchlichkeiten aufzu‐ lösen, um weitere Lernzuwächse erreichen zu können. (Betzel 2015: 308) Dies gilt trotz der Komplexität der vorzunehmenden sprachlichen Opera‐ tionen auch für den Anfangsunterricht: Wahl/ Rautenberg/ Helms (2017: 44 ff.) konnten in einer umfangreichen Interventionsstudie zeigen, dass der syntaxbezogene Zugang bereits in der 2. Klassenstufe umsetzbar ist; positive Effekte wurden erwartungsgemäß insbesondere bei der Richtigschreibung von Abstrakta und Nominalisierungen beobachtet. Aufgaben 1. Mann nennt als eine von drei wesentlichen Strategien die „Ableitung bei t-Signal“ (2010: 27). Erläutern Sie anhand der Beispiele erhält und erhellt, wie das Erkennen des Graphems <t> in der Flexionsendung eines Verbs zur richtigen Schreibung führen kann. 98 3 Schreiben <?page no="99"?> 2. Erläutern Sie, wie mithilfe der ‚Königreichs-Metapher‘ (Lindauer/ Sutter 2005) die - typischen - Interpunktionsfehler in den folgenden drei Sätzen vermieden werden könnten. a. Fehlendes Komma: Obwohl das alles sehr ärgerlich war entschied man sich gegen eine weitere Bearbeitung des Themas. b. Falsches Komma: Nach langer und intensiver Auswertung der Ergebnisse, entschied man sich gegen eine weitere Bearbeitung des Themas. c. Fehlendes Komma: Die Lehrerin, die den Brief eben erst gelesen hatte und die Rektorin einigten sich, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung Deutsch 5-10, H. 31 (2012) (enthält Beiträge zum ‚Königreich-Modell‘, eine CD mit Kopiervorlagen und weiteres veranschaulichendes Material) M A N N , C. (2010) (Grundlagen des strategiebasierten Rechtschreibunterrichts mit Vorschlägen für die Klassenstufen 1-9) N ÜN K E , E./ W I L H E L M U S , C. (2001) (kompakte Einführung in den syntaxbasierten Zugang zur Groß- und Kleinschreibung; mit Arbeitsblättern) L I N D A U E R , T./ S U T T E R , E. (2005) (bewährter strategieorientierter Zugang zur Kom‐ masetzung; ab Klasse 4 geeignet) 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht […] die silbenanalytische Methode [kann] gerade für die Gruppe der Kinder, die den hohen analytischen Aufwand selbständiger Regelfindung, den die anderen Methoden den Kindern abverlangen, nicht zu leisten in der Lage sind, eine geeignete Hinführung zur Schrift bieten […]. (Röber 2011: 16) Auf die Tatsache, dass sich wesentliche Bereiche der deutschen Orthogra‐ phie mit silbischen Strukturen erklären lassen, wurde bereits hingewiesen (s. hierzu auch die umfassende Darstellung unterschiedlicher Positionen von Berkemeier 2007). Nun ist die Silbe selbstverständlich kein didaktisches, sondern ein linguistisches Phänomen - Silbenorientierung kann also ebenso wie Morphemorientierung ganz unterschiedlich (strategievs. regelorien‐ tiert, deduktiv vs. induktiv usw.) praktiziert werden. Da Silben im Gegensatz zu Morphemen zu den intuitiv leichter zugänglichen Einheiten gehören, 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 99 <?page no="100"?> phonologi‐ sche Be‐ wusstheit intuitive Silbenkon‐ zepte rhyth‐ misch-sil‐ bierendes Mitspre‐ chen liegt es nahe, dass sich die meisten silbenorientierten Ansätze eher den strategieals den regelorientierten Konzeptionen zuordnen lassen. Weil allerdings seit den 1990er-Jahren umfassende rechtschreibdidakti‐ sche Konzepte auf der Basis der Silbe formuliert wurden, soll diesen ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Darstellung Forschungsergebnissen zufolge verfügen Kinder im Schuleingangsalter über phonologische Bewusstheit im weiteren, nicht aber im engeren Sinne. Das bedeutet, dass sie Silben oder Reime wahrnehmen können, bei der Phonem‐ analyse und -synthese aber häufig scheitern (z. B. Küspert 1998). Insofern bietet es sich an, im Schriftspracherwerb zunächst auf eine Orientierung an Silben zu setzen, bevor Phoneme differenziert werden. Silbische Zugänge werden deshalb besonders häufig - wenn auch nicht ausschließlich - im Anfangsunterricht eingesetzt. Es soll hier in Übereinstimmung mit Berkemeier (2007: 89 ff.) und Risel (2011: 126 ff.) zwischen intuitiven (‚naiven‘) und theoriebezogenen (‚elabo‐ rierten‘) Silbenkonzepten unterschieden werden. Zu ersteren gehört ganz maßgeblich die sogenannte Buschmann-Methode, die in den 1980er-Jahren in der Schulpsychologischen Beratungsstelle Waldshut entwickelt wurde (ausführlich Tacke et al. 1993). Buschmann geht von der Annahme aus, dass Lese-Rechtschreib-Schwie‐ rigkeiten auf eine neurologische Verarbeitungsschwäche zurückzuführen seien. Als externe Steuerungshilfe, welche die Synchronisierung von Wahr‐ nehmung und Schreibmotorik erleichtern soll, schlägt sie das rhythmischsilbierende Mitsprechen während des Schreibens vor. Dies wird eingeübt, indem Schüler: innen, „während sie ein Wort sagen, die Silben mit Arm‐ schwüngen in Schreibrichtungen begleiten“ (Tacke et al. 1993: 139). Zu‐ nächst bewegen sich die Kinder synchron dazu schrittweise seitwärts in Schreibrichtung, später schwingt die Schreibhand kleinere Girlandenbögen von links nach rechts auf der Tischplatte. Die Vertreter: innen der Methode stützen sich dabei auf die Annahme, dass ein großer Teil des deutschen Wortschatzes lautgetreu geschrieben werde, sodass synchrones, rhythmisch-silbierendes Mitsprechen zur richti‐ gen Schreibung führe. Die übrigen Wörter werden in drei Gruppen aufgeteilt und unterschiedlich behandelt: 100 3 Schreiben <?page no="101"?> ■ Wörter, die rhythmisch verlängert werden müssen, da sie am Wortende nicht lautgetreu geschrieben werden (z.-B. Berg > Ber.ge), ■ Wörter, deren Schreibungen von Mitgliedern der Wortfamilie abgeleitet werden müssen (z.-B. Häuser > Haus), und ■ Merkwörter, die weder durch rhythmisches Sprechschreiben noch durch Strategien korrekt zu schreiben sind und daher abgespeichert werden müssen (z.-B. Stadt, Vogel, ihm). Voraussetzung für die Methode ist grundsätzlich, dass Schüler: innen dazu fähig sind, Silbengrenzen wahrzunehmen und insbesondere Wörter mit Silbengelenk entsprechend zu segmentieren (Löf.fel). Dies ist aber fraglich: Während beispielsweise Huneke (2002: 97 ff.) beobachtet, dass Grundschul‐ kinder mehrheitlich einen intuitiven Zugang zum Silbengelenk hätten und es in zwei Komponenten aufspalteten, stellt Risel (1999) fest, dass in diesen Fällen ganz unterschiedliche Segmentierungsstrategien eingesetzt würden und die Silbengrenze insbesondere häufig nach dem Kurzvokal der betonten Silbe angesetzt würde (Lö.ffel). Dennoch werden mit der Methode teilweise überzeugende Ergebnisse bei der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese-Rechtschreib- Schwierigkeiten erzielt. Tacke et al. wiesen signifikante Verbesserungen vor allem bei Diktaten nach, was sie darauf zurückführen, dass hier das rhyth‐ misch-silbierende Mitsprechen besonders hilfreich wirke (1993: 144 ff.). Allerdings weist die Untersuchung methodische Schwächen auf und legt teilweise nahe, dass die Fördereffekte unspezifisch sind und nicht direkt mit der Methode zusammenhängen müssen. Darauf deuten zum Beispiel die Verbesserungen der geförderten Kinder im Bereich der Groß- und Kleinschreibung hin, die mit Sicherheit nicht auf das ‚Silbenschwingen‘ zurückgeführt werden können. Die Buschmann-Methode wird insbesondere in Fördergruppen und Be‐ ratungsstellen eingesetzt. Sie prägt auch stark das weitverbreitete Förder‐ programm FRESCH (Freiburger Rechtschreibschule, Brezing et al. 2020, Michel 2008, s. auch fresch-renk.de) sowie diverse darauf basierende Lehr‐ werke für die Primarstufe. Einen ähnlichen Ansatz, der allerdings auch sprachanalytische Prozeduren einschließt und damit zumindest teilweise den elaborierten Silbenkonzepten zuzuordnen ist, legt Hinney (2004) vor. Intuitive Silbenzugänge finden sich darüber hinaus auch immer wieder ‚versteckt‘ in Sprachbüchern und anderen Lernmitteln, wenn beispielsweise Verdopplungen von Konsonantengraphemen ‚herausgehört‘ werden sollen. 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 101 <?page no="102"?> theoriebe‐ zogene Sil‐ benkon‐ zepte Häusermo‐ dell nach Röber Die theoriebezogenen oder elaborierten Silbenkonzepte basieren grund‐ legend auf den orthographietheoretischen Arbeiten von Maas (1992) und Eisenberg (2016), deren schriftlinguistische Erkenntnisse auf den Erwerb der Schriftsprache übertragen werden. Zumeist wird von trochäischen Zweisilbern ausgegangen, deren Struktur erschlossen und auch als Grund‐ lage für anders silbierte Formen genutzt werden könne. Röber (2011: 45) unterscheidet dabei zwischen vier verschiedenen Wortgestalten: ■ offene Vollsilbe, langer Vokal (Typ Hüte) ■ offene Vollsilbe, kurzer Vokal (Typ Hütte) ■ geschlossene Vollsilbe, langer Vokal (Typ Hühnchen) ■ geschlossene Vollsilbe, kurzer Vokal (Typ Hüfte) Diese viergeteilte Systematik umfasst alle Regularitäten für das Lesen, damit auch für das Schreiben deutscher Trochäen nach ihrem lautunabhängigen ‚Klang‘ und ermöglicht die Formulierung eines orthographischen Regelsystems für Trochäen mit Reduktionssilben. Sie machen die überwiegende Mehrzahl der deutschen Wörter aus. (Röber 2011: 46) Mithilfe von Symbolen werden Wortstrukturen visualisiert und dabei sys‐ tematisches Wissen über die Strukturen gesprochener und geschriebener Wörter erworben. Es steht jeweils ein Haus für die betonte Vollsilbe und die dazugehörige ‚Garage‘ für die unbetonte Reduktionssilbe. Röber schlägt vor, im Unterricht zunächst auf Basis der vorhandenen phonologischen Be‐ wusstheit Wörter mit verschiedenen Akzentmustern (z. B. Löwe, Tomate, Elefant) zu vergleichen und symbolisch darzustellen - dabei können bei‐ spielsweise große Steine für betonte, kleine für unbetonte Silben genutzt werden. Anschließend wird das Häusermodell für trochäische Zweisilber anhand von Wörtern des Typs Hüte eingeführt (Röber 2011: 157 ff.). Dar‐ aufhin wird durch Gegenüberstellungen wie gebe und gelbe der zweite Haustyp präsentiert: Nun können Wörter des Typs Hüfte geschrieben und gelesen werden. Es folgt die Erarbeitung von Schärfungswörtern des Typs Hütte: Hier wird die Garage ‚ins Haus geschoben‘; der Konsonant, der so‐ wohl für den Endrand der ersten als auch für den Anfangsrand der zweiten Silbe zuständig ist, wird verdoppelt. Ein Kind versprachlichte dies folgen‐ dermaßen: „Wenn bei ‚Betten‘ die Garage ins Haus gebaut ist, kann das Ga‐ ragen-t auch das ‚e‘ davor quetschen. Weil es zwei Sachen machen muss, schreibe ich es zweimal“ (ebd.: 163). 102 3 Schreiben <?page no="103"?> Erweite‐ rung des ‚Häuser‐ modells‘ durch Bredel Bei Wörtern des Typs Hühnchen ist zu beachten, dass das zweite Zimmer im Haus durch den Vokalbuchstaben vollständig ausgefüllt ist. Für den Kon‐ sonanten, der auf den langen Vokal folgt, muss daher eine ‚Besenkammer‘, ein ‚Balkon‘ oder Ähnliches eingerichtet werden. Abschließend nennt Röber (ebd.: 168 ff.) weitere Möglichkeiten, auch Wörter mit abweichenden Akzentstrukturen mit dem Häusermodell zu verbinden - ausführlich wird beispielsweise die Visualisierung von Kom‐ posita wie Filzstifte mit betonter Vollsilbe (Filz > Haus mit großem Dach), unbetonter Vollsilbe (stif > Haus mit normalem Dach) und Reduktionssilbe (te > Garage) erklärt. Hinweis Ein auf den Arbeiten von Röber basierendes Lehrwerk, das neben Betonungsmustern und Silben auch grammatische Strukturen in den Vordergrund stellt, liegt inzwischen mit Die Kinder vom Zirkus Palope vor: zirkus-palope.de. Die silbenanalytische Methode nach Röber bietet zudem Hilfen für die Analyse der Schreibungen von Lernenden. Beobachtungen dazu, welche Worttypen besonders von Fehlschreibungen betroffen sind und an welchen Stellen in den Voll- oder Reduktionssilben Verstöße auftauchen, können Aufschluss über den Leistungsstand und die dominierenden Strategien von Schreiberinnen und Schreibern geben. Bredel (2010b) bezieht sich in ihren Überlegungen ausdrücklich auf Röber: Sie sieht ebenfalls den Trochäus als Grundmuster des Deutschen an und greift die Visualisierung mittels Haus (betonte Silbe) und Garage (unbetonte Silbe) auf. Sie geht jedoch von einem anderen Silbenmodell aus, was sich insbesondere darin zeigt, dass Wörter mit Silbengelenk (Hütte) dem Typ ‚geschlossene Vollsilbe‘ zugeordnet werden. Zudem beschränkt sie ihre Vorschläge nicht auf den Schriftspracherwerb im engeren Sinne, sondern empfiehlt die Arbeit mit dem Häusermodell bis in die Sekundarstufe hinein. Ihr Anspruch ist, dass nicht nur prosodische Muster zum Erschließen von Schreibungen genutzt, sondern auch weitere grammatische Markierungen in der Schriftsprache nachvollzogen werden sollen. Im Gegensatz zu Röber verwendet sie nur einen einzigen Haustyp, der für alle morphologisch einfachen trochäischen Zweisilber geeignet sei (Abb. 2): Haus und Garage 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 103 <?page no="104"?> orthogra‐ phische Markierun‐ gen im Haus- Garagen- Modell bestehen aus jeweils drei Zimmern (Anfangsrand, Kern und Endrand); zwischen Kern und Endrand ist ein Durchgang angedeutet, der auf die Zu‐ sammengehörigkeit des Silbenreims hinweist. Für eine sinnvolle Lernpro‐ gression ist ein genauerer Blick auf die verschiedenen Worttypen wichtig: Bei den Formen rufen (offene Vollsilbe) und rupfen (geschlossene Vollsilbe) handelt es sich um unmarkierte Schreibungen aus dem Kernbereich. Gehen (offene Vollsilbe) und zerren (geschlossene Vollsilbe) gehören ebenfalls dem Kernbereich an, weisen mit dem silbeninitialen <h> beziehungsweise dem verdoppelten Konsonantengraphem aber orthographische Markierungen auf, während Wortformen mit Dehnungs-h wie wohnen (offene Vollsilbe) dem Peripheriebereich zuzuordnen sind (s. hierzu vertiefend Betzel/ Droll 2020: 48-f.). Abb. 2: ‚Häusermodell‘ (n. Bredel 2010b: 15) Bei der Arbeit mit dem Modell zeigen sich schnell Möglichkeiten zu orthographischen Generalisierungen, die teilweise über die Inhalte des Anfangsunterrichts hinausgehen: ■ Die Mittelzimmer sind immer von Vokalen besetzt. ■ Das Mittelzimmer der Garage enthält unabhängig von der Lautqualität immer ein <e>. ■ Das erste Zimmer der Garage ist immer besetzt - wenn kein Konsonant hörbar ist, wird hier ein <h> (silbeninitiales h) eingefügt (gehen). ■ Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Lautqualität des Vokals und der Besetzung des dritten Zimmers im Haus. Deshalb muss in bestimm‐ ten Fällen das Konsonantengraphem verdoppelt werden (zerren), auch sind Längenmarkierungen im dritten Zimmer des Hauses (Dehnungs-h, wohnen) möglich. 104 3 Schreiben <?page no="105"?> Weiterent‐ wicklung des Häu‐ sermodells ■ Der Wortstamm besteht nicht nur aus dem Haus, sondern zusätzlich aus dem ersten Zimmer der Garage. Dies lässt sich durch ein farbiges Absetzen der ersten vier oder durch ein Abknicken der letzten beiden Zimmer („Der Trick mit dem Knick“, Bredel 2010b: 17) visualisieren, wodurch für Schüler: innen nachvollziehbar wird, dass die im Stamm enthaltenen orthographischen Markierungen auch in verwandten For‐ men (zerrt, gehst, Wohnung) erhalten bleiben. Da diese Beobachtungen ausschließlich für morphologisch nicht komplexe Zweisilber (v. a. nicht flektierte Nomen und Verben im Infinitiv) gelten, können Wörter wie rufst, wohnte oder Filzstift nicht eingetragen werden. Sie müssen deshalb auf die entsprechenden trochäischen Basisformen (rufen, wohnen, filzen, Stifte) zurückgeführt werden. Eine auf den Arbeiten von Röber und Bredel basierende Visualisierung des trochäischen Grundmusters mit (gespannter und ungespannter) Silbenkette schlägt Berkemeier (2019: 51 ff.) vor. Auch Andreas/ Andreas (2020) orien‐ tieren sich bei ihrem Konzept der Silbensofas am Häusermodell und beziehen zusätzlich strategieorientierte Elemente, beispielsweise im Hinblick auf die satzinterne Großschreibung, ein. Problematisierung Zu den intuitiven Silbenkonzepten ist zunächst kritisch anzumerken, dass es zahlreiche empirische Belege gibt für die Schwierigkeiten, die Kinder noch im Schulalter beim Segmentieren von Silben haben: Die Fähigkeit, Silben grundsätzlich als lautliche Einheiten wahrzunehmen (phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne, s. o.), führt nicht zwangsläufig dazu, dass beispielsweise bei Silbengelenken wunschgemäß die Silbengrenze zwischen den beiden konsonantischen Einheiten ‚gehört‘ wird. Das einfache Silben‐ schwingen und -klatschen kann daher nicht bei allen Kindern automatisch zu korrekten Schreibungen führen. Es kann vielmehr auch gerade zu me‐ thodengenerierten Fehlern führen: Kindern wird so „fälschlich vermittelt, Wortschreibungen seien grundsätzlich lautlich motiviert; die grammatische Ebene der Schriftsprache bleibt dadurch kognitiv unterentwickelt“ (Bredel 2011a: 109; s. auch Betzel/ Droll 2020: 54). Hinney (2014: 167) betont die Be‐ deutung der Wortauswahl für den silbenorientierten Schriftspracherwerb, die gerade bei intuitiv-silbenorientierten Lehrwerken häufig nicht an einer sinnvollen Progression der Silbentypen ausgerichtet sei. 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 105 <?page no="106"?> Grundsätzlich lassen sich durch schriftlinguistisch motivierte Einwände die Erfolge, die besonders bei Schülerinnen und Schülern mit Lese-Recht‐ schreib-Schwierigkeiten vielfach mit dem rhythmisch-silbierenden Mitspre‐ chen erzielt wurden, nicht wegdiskutieren. Möglicherweise - und dafür gibt es einige Hinweise - handelt es sich dabei jedoch zu einem großen Teil um unspezifische Effekte, die nicht direkt von der eingesetzten Methode, sondern von anderen Faktoren abhängen. Die elaborierten Silbenkonzepte zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass der Unterricht an der Systematik des Lerngegenstandes (des Schrift‐ systems) orientiert ist - daraus ergibt sich eine klare Strukturierung des Unterrichts. Den Kindern werden so nicht nur Einzelwörter, sondern gezielt ausgewählte Repräsentanten von orthographischen Mustern angeboten, die sie zu Verallgemeinerungen und eigenen Entdeckungen herausfordern (Bre‐ del/ Röber 2015: 7). Die Häusermodelle und die darauf basierenden Weiter‐ entwicklungen erscheinen als sinnvolle Veranschaulichungen, die zahlrei‐ che Variationen und motivierende Arbeitsformen ermöglichen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sie insbesondere zum sicheren Verschriften und Erlesen der (im Deutschen häufig nicht lautgetreuen) Reduktionssilben beitragen. Zudem deuten Studien darauf hin, dass sich diese Vorgehensweise insbesondere für Schüler: innen mit Deutsch als Zweitsprache, die ein für das Deutsche in der Regel weniger ausgebautes mentales Lexikon (→ S. 298) und ebenfalls eher wenig (Schrift-)Spracherfahrung mitbringen, positiv auswir‐ ken kann (Wildemann 2010: 84; s. auch Pracht 2010 zum Schriftspracherwerb bei erwachsenen Migrantinnen und Migranten). Auch in inklusiven Kon‐ texten wurden elaborierte Silbenkonzepte bereits erfolgreich erprobt (Moths 2014; s. auch Betzel 2019: 413 ff.). Dennoch bleibt die Evaluierung der dargestellten Modelle und die Implementierung entsprechender Inhalte in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften auch weiterhin eine dringende Aufgabe der Sprachdidaktik (Bredel 2015: 277). Beim Vergleich der Visualisierungen wirkt das Modell von Röber auf‐ grund der zahlreichen verschiedenen Häusermodelle (vier Grundtypen, die bei Komposita noch variiert und kombiniert werden) an einigen Stellen überfrachtet (Pracht 2010: 105). Teilweise erscheint die Darstellung auch unnötig kompliziert - es stellt sich die Frage, ob ein Kind, das Filzstifte schreiben möchte, tatsächlich von einer derartigen Darstellung (Haus mit großem Dach - Haus mit normalem Dach - Garage) profitiert. Demge‐ genüber kommt der Ansatz von Bredel mit einem einzigen Haustyp aus und wirkt dadurch bestechend einfach und überzeugend. Allerdings ist 106 3 Schreiben <?page no="107"?> es deshalb sehr viel häufiger notwendig, zur Erschließung von Wortschrei‐ bungen zunächst die passende trochäische Basisform zu finden, was bei schwächeren Schülerinnen und Schülern wiederum zu Schwierigkeiten führen kann und gezielt eingeübt werden muss. Das freie Schreiben im Anfangsunterricht, das häufig durch Anlautbe‐ ziehungsweise Buchstabentabellen unterstützt wird (→ 3.1), ist mit diesem systematischen, auf bestimmte prototypische Wortformen konzentrierten Zugang naturgemäß nur schwer vereinbar. Riegler (2012; 2016) schlägt mit ihrer silbenbezogenen Lauttabelle, die sich in ihrer Anordnung am Auftreten der Phoneme in der Silbe orientiert, eine Möglichkeit zur Ergänzung silben‐ orientierter Ansätze im Schriftspracherwerb vor. Mit dieser könnten Kinder „schon früh die kommunikative und expressive Kraft von Schrift erfahren - und damit liegt ihr Schwerpunkt genau dort, wo umgekehrt die systematische Arbeit an grundlegenden Baumustern der Wortschreibung an Grenzen gerät“ (Riegler 2012: 11). Einen Transferversuch, der im Gegensatz zu Rieglers Vorschlag auch die Unterschiede zwischen Voll- und Reduktionssilben sowie zwischen offenen und geschlossenen Vollsilben berücksichtigt, präsentiert Berkemeier (2019: 61 ff.). Es bleibt allerdings weiterhin eine wichtige Aufgabe der Rechtschreibdidaktik, kognitiv orientierte Herangehensweisen zu entwi‐ ckeln, die Einblicke in den Aufbau des deutschen Schriftsystems erlauben und sich mit Verfahren des F R E I E N S CH R E IB E N S verbinden lassen (Fay 2015). Aufgaben 1. Das Dehnungs-h wird bei FRESCH im Rahmen der Merkwörter aufge‐ führt (z. B. fehlen, bohren). Erläutern Sie, wie es bei Bredel mit Bezug auf das Häusermodell erklärt werden kann. 2. Begründen Sie die Schreibung der folgenden Wörter durch Visualisie‐ rung im Häusermodell nach Bredel: Miete - Mitte - Mietwagen - Mittwoch Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B R E D E L , U./ F U H R H O P , N./ N O A C K , C. (2011) (Grundsätzliches zu Schriftsystem und Schrifterwerb; geht auch auf Möglichkeiten der qualitativen Fehleranalyse ein und thematisiert die Bedürfnisse von mehrsprachigen Lernenden) M I C H E L , H.-J. (2008) (Freiburger Rechtschreibschule: Unterrichtsmaterial für den Förderunterricht, basiert v. a. auf einem intuitiven Silbenkonzept) 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 107 <?page no="108"?> Hinter‐ gründe R ÖB E R , C. (2011) (stellt die bewährte silbenanalytische Methode zusammenfassend dar) T A C K E , G. E T A L . (1993) (stellt die Methode des rhythmisch-silbierenden Mitspre‐ chens nach Buschmann vor und beschreibt mögliche Fördereffekte) 3.8 Produktorientierter Schreibunterricht Da jeder Inhalt die ihm gemäße Form der Darstellung verlangt, gibt es keinen allgemein festgelegten Stil, der für jeden Stoff passend ist, sondern jeweils nur den einen, der dem bestimmten Stoff entspricht […]. Darin ist also der sprachschaf‐ fende oder sprachgestaltende Aufsatz ein gebundener Aufsatz: gebunden an das Stilgesetz des gewählten Stoffes. (Fahnemann 1947: 67) Im klassischen ‚Aufsatzunterricht‘, wie er im schulischen Kontext nach wie vor häufig praktiziert wird (Schäfer 2013: 328), orientieren sich Schü‐ ler: innen beim Verfassen ihrer Texte an scheinbar objektiven Kriterien, die durch die Textsorte vorgegeben werden: Eine Erzählung sei im Präteritum zu schreiben, ein Bericht enthalte keine subjektiven Elemente wie etwa wertende Adjektive und eine dialektische Erörterung zeichne sich durch einen ganz bestimmten Aufbau aus. Ziel dieses Schreibunterrichts, der sich stark an der Kontrollebene (→ S. 62) Produkt orientiert, ist die Fähigkeit, verschiedene Textsorten unter Berücksichtigung der jeweiligen Kriterien erzeugen zu können. Darstellung Produktorientiertes Schreiben wurde im deutschen Sprachraum bereits in den Volksschulen des 19. Jahrhunderts praktiziert. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Literalisierung der Gesellschaft wurde es zur Aufgabe der Bildungsinstitutionen, Kinder und Jugendliche zur Produktion einfacher Texte in der Standardsprache und damit zur Teilnahme am gesellschaftli‐ chen Leben zu befähigen. Es entwickelte sich ein „Aufsatzunterricht, der sich weitgehend auf die Reproduktion vorgegebener Muster beschränkte“ (Ludwig 2006: 173) - teilweise wurden gar ganze Texte schlicht von der Tafel abgeschrieben. 108 3 Schreiben <?page no="109"?> sechs Auf‐ satzfor‐ men nach Marthaler Erläuterung Literalisierung bezeichnet den Prozess der zunehmend schriftlichen Organisation des gesellschaftlichen Lebens, wie er in weiten Teilen Eu‐ ropas im 19. Jahrhundert stattfand. Ohne schriftsprachliche Fähigkeiten ist soziale Teilhabe kaum möglich. Der nach wie vor häufig praktizierte P R ODUKTO R I E NTI E R T E S CH R E IB UNT E R R ICHT lässt sich auf den gebundenen oder sprachgestaltenden Aufsatzunterricht der Nachkriegszeit zurückführen, in der die heute noch gebräuchlichen Textsorten systematisiert und mit festen Merkmalen versehen wurden. Starken Einfluss hatte beispielsweise die Einteilung von Marthaler (1962), der zwei Darstellungsweisen (sachlich-objektiv, persönlich-subjektiv) und drei Darstellungsgegenstände (zeitliches Nacheinander, räumliches Neben‐ einander, gedankliche Durchdringung) unterscheidet und damit zu sechs Aufsatzformen kommt: - persönlich-subjektiv sachlich-objektiv zeitliches Nacheinander Erzählung (wie ein Spielfilm) Bsp.: Mein schönstes Ferien‐ erlebnis Bericht (wie ein Dokumentarfilm) Bsp.: Zeugenaussage zu ei‐ nem Unfall räumliches Nebeneinander Schilderung (wie ein Gemälde) Bsp.: Auf dem Jahrmarkt Beschreibung (wie eine Photographie) Bsp.: Informationstext über eine Ferienwohnung gedankliche Durchdringung Betrachtung (Besinnungsaufsatz) (wie eine Mikroskopauf‐ nahme) Bsp.: In den Urlaub per An‐ halter - ja oder nein? Abhandlung (Erörterung) (wie ein Röntgenbild) Bsp.: Vor- und Nachteile einer Schuluniform Abb. 3: Aufsatzarten (n. Marthaler 1962: 53-ff.) In der Praxis werden nach wie vor die Merkmale dieser Textsorten meist deduktiv (als deklaratives Wissen) vermittelt; anschließend versuchen die Schüler: innen bei der Textproduktion, sich an diesen zu orientieren, was wiederum von den Lehrkräften zum Zweck der Bewertung überprüft wird. 3.8 Produktorientierter Schreibunterricht 109 <?page no="110"?> aktuelle produktori‐ entierte Ansätze In der aktuellen P R ODUKTO R I E NTI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK , die in enger Ver‐ bindung mit der P R OZ E S S O R I E NTI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK (→ 3.10) steht, wird demgegenüber insbesondere die handlungsentlastende Funktion von Text‐ sortenwissen betont: Das Wissen über Textmuster sollte […] nicht deklarativ sein, sondern vielmehr durch praktische Erfahrungen zu einem Handlungswissen („knowing how“) werden, das entweder bewusst zur Bewältigung der Problemsituation eingesetzt wird (Problemlösewissen) oder bereits automatisiert ist (prozedurales Wissen). (Fix 2008: 93) Hinweis Eine aktuelle produktorientierte Perspektive auf Form- und Funktions‐ aspekte diverser schulisch relevanter Textsorten bieten Feilke/ Pohl (Hg.) (2014): zum Beispiel zum Erzählen (Ohlhus), Berichten (Feilke), Beschreiben (Ossner), Instruieren (Bachmann), Argumentieren (Pohl) und Referieren (Steinhoff). In Abgrenzung zu den traditionellen Aufsatzformen sprechen beispielsweise Böttcher/ Becker-Mrotzek von Textarten und verstehen darunter „diejenigen sprachlichen Formen, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwendet werden“ (2003: 23) - im Gegensatz zu künstlichen Konstrukten wie der Erörterung oder Schilderung. Textarten wie etwa Rezept, Beileidsschreiben oder Einladung seien in Kommunikationssituationen eingebettet und erfüll‐ ten darin bestimmte Aufgaben. Aus diesem Handlungskontext ergäben sich auch Kriterien für einen gelungenen Text. Insofern ist eine Verbindung zur L E S E R : INN E N O R I E NTI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK (→ 3.9) deutlich erkennbar - allerdings liegt der Fokus hier weniger auf dem konkreten ‚kommunikativen Ernstfall‘ als vielmehr auf der Erarbeitung von Textmusterwissen, das ge‐ wissermaßen als „Lösungspotenzial für Schreibaufgaben“ (ebd.: 24) fungiere. Zudem wurden - auch im Rahmen von Überlegungen zur Schreibförde‐ rung von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache - weitere wertvolle Vorschläge zu einer sinnvollen Nutzung von Textmuster- und Textsorten‐ wissen erarbeitet (z. B. Dehn 2005; Wilczek 2008; Ballis 2010). Dass muster‐ orientiertes Schreiben eine stark prozessuale Komponente aufweisen und 110 3 Schreiben <?page no="111"?> Bewertung und Beur‐ teilung von Texten schriftli‐ ches Er‐ zählen darüber hinaus auch eng mit kreativem Handeln verbunden sein kann, zeigt Stemmer-Rathenberg (2011) mit ihrem Ansatz des IMITATIV E N S CH R E IB E N S . Einen produktorientierten Basiskatalog zur Beurteilung der Texte von Schülerinnen und Schülern, dessen Unterpunkte sich aus den dargestell‐ ten Überlegungen ergeben, legen Böttcher/ Becker-Mrotzek (2003: 56 ff.) vor. Dieser wird anschließend für verschiedene Textarten (u. a. einfache Geschichten, lyrische Texte - Schneeballgedicht oder Rezept) ausdifferenziert. Schreibatelier Schneuwly (1995: 119) schlägt im Rahmen von Schreibateliers, die auch deutliche Anklänge an eine P R OZ E S S O R I E NTI E R T E S CH R E IB DIDAKTIK (→-3.10) aufweisen, eine Abfolge von Unterrichtsschritten vor, die für ganz ver‐ schiedene Textarten geeignet sei: ■ Den Lernenden wird eine sprachliche Aufgabe gestellt. ■ Die Lehrkraft erzeugt Lernsituationen, in denen sich die Lernenden die für die Schreibaufgabe notwendigen sprachlichen (z. B. lexikali‐ schen oder grammatischen) Mittel aneignen können. ■ Die ausgewählte Textart wird im Wechsel gelesen und produziert. ■ Gemeinsam mit der Klasse werden Kriterien erarbeitet, die eine Hilfestellung für eine gelungene Umsetzung der Textart und gleich‐ zeitig Grundlage für die Bewertung der Texte sind. Aus dem „gemeinsame[n] Entwickeln und Offenlegen der Schreibkriterien, gebündelt in Kriterienkatalogen“ (Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 48), ergibt sich eine „hohe Zieltransparenz“ (ebd.). ■ Die selbst verfassten Texte werden von Mitschülerinnen und Mit‐ schülern wechselseitig gelesen und kritisiert. Ihre ersten Schreiberfahrungen sammeln Kinder in aller Regel beim schrift‐ lichen Erzählen. Dieses basiert zunächst auf dem im Alltag präsenten münd‐ lichen Erzählen (→ 2.1), allerdings müssen bei der Textproduktion auch die besonderen Erfordernisse der zerdehnten Kommunikationssituation berücksichtigt werden, weshalb die Arbeit an narrativen Texten als „Brücke zwischen mündlichen Diskursfähigkeiten und beginnender Schreibentwick‐ lung“ (Ohlhus 2014: 216) angesehen werden kann. Neben der Interaktion, die vor allem in mündlichen Erwerbskontexten stattfindet, bilden auch literarische Modelle, die durch Rezeption unterschiedlicher Medien angeregt 3.8 Produktorientierter Schreibunterricht 111 <?page no="112"?> schriftli‐ ches Be‐ richten werden, eine wichtige Ressource für die Textproduktion. Ebenso bedeutsam ist der Einfluss schulischer Instruktion, zum Beispiel in Form von gezielten Aufgabenstellungen für das schriftliche Erzählen (ebd.: 225 f.). Anregungen für geeignete Impulse zum spannenden Erzählen, die über die abstrakte Darstellung von Strukturen (etwa einer ‚Spannungskurve‘) und die rein oberflächenorientierte Arbeit an einzelnen Wörtern (beispielsweise plötz‐ lich anstelle von und dann) hinausgehen, bietet Menzel (2014). Ein Beitrag von Feilke (2006) zur klassischen Aufsatzform Bericht ist ein weiteres gelungenes Beispiel für einen reflektierten Umgang mit tex‐ tualen Normen. Er relativiert zunächst die künstliche Unterscheidung von objektiven und persönlichen Textsorten, die der oben angeführten Einteilung nach Marthaler (1962) zugrunde liegt, und kritisiert in diesem Zusammenhang, dass das Berichten häufig als ein mit Verboten belegtes Erzählen, in Form einer „Anti-Erzähldidaktik“ (Feilke 2006: 15), vermittelt werde. Anschließend begründet er die Merkmale der Textsorte (relevant, aktuell, exklusiv, authentisch) funktional-kommunikativ. Die verschiedenen Kriterien (z. B. zum Tempusgebrauch oder zur Einbeziehung subjektiver Elemente) werden nicht schematisch vorgegeben, sondern ergeben sich aus der konkreten Kommunikationssituation unter Berücksichtigung der Erwartungen der Leser: innen. Feilke sieht die Textsorte Bericht (im Gegen‐ satz zum traditionellen Aufsatzunterricht) auch nicht als einheitlich an, sondern unterscheidet drei Berichtstypen mit je unterschiedlichen Themen und kommunikativen Einbettungen: Erfahrungsberichte (können subjektive Elemente enthalten und weisen die stärksten Bezüge zum Erzählen auf), Ereignisberichte (informieren über ein vergangenes singuläres Ereignis und entsprechen am ehesten der schulischen ‚Berichtstradition‘) und Untersu‐ chungsberichte (stellen Informationen und Hintergründe über ein Thema zusammen), deren didaktisches Potenzial besonders hervorgehoben wird: Für die Didaktik des Berichtens stehen mit den Untersuchungsberichten Mög‐ lichkeiten bereit, die mit dem Erzählen gar nicht erst in Konflikt geraten und stärker auf die funktionale und strukturelle Selbstständigkeit des Berichtens setzen. Der Untersuchungsbericht hat den großen Vorteil, dass er Aktualität und Exklusivität als zentrale Berichtsmotive mitliefert, und zwar ohne dass dafür wie beim Ereignisbericht immer etwas ‚passiert‘ sein muss. (2006: 13-ff.) 112 3 Schreiben <?page no="113"?> Problematisierung Die traditionelle produktfokussierte Aufsatzdidaktik in der Tradition Mar‐ thalers wird in der Fachdidaktik seit Jahrzehnten heftig kritisiert. Schon die grundlegende Unterscheidung von subjektivem und objektivem Sprachge‐ brauch, die Humboldt zugeschrieben wird, beruhe auf „erheblichen Missver‐ ständnissen“ (Haueis 2006: 228) und sei in der außerschulischen Sprachver‐ wendung so nicht verankert. Die darauf basierenden Textsortenmerkmale (so etwa die ‚Ausschmückung‘ der Erzählung durch Adjektive und direkte Rede) hätten ebenso wenig mit der sprachlichen Realität zu tun: Diese Annahmen beruhen weniger auf Einsichten in die sprachliche Beschaffen‐ heit von beschreibenden, erzählenden oder berichtenden Texten, die außerhalb der Schule verfasst und gelesen werden, als auf Festlegungen für den Schulge‐ brauch. (Ebd.) So komme es im Schreibunterricht häufig „zu einem stereotypen Drill, bei dem auch gute Schüler im gewohnten institutionellen Rahmen die ausge‐ tretenen Pfade lieber nicht verlassen“ (Fix 2008: 92). Auch Böttcher/ Becker- Mrotzek weisen darauf hin, dass die traditionellen Aufsatzarten nicht mit der Schreibwirklichkeit außerhalb der Schule übereinstimmen: Die ursprünglich als Stilübungen gedachten Formen sind im Laufe der Zeit zu normierten Aufsatzarten erstarrt. […] Wir empfehlen daher, auf diese Formen zu verzichten und stattdessen auf Textarten zurückzugreifen, wie sie in der Lebenswirklichkeit zu finden sind. (2003: 23) Zuletzt ist, wie Gätje (2013: 235) betont, auch die inzwischen zur didakti‐ schen Tradition gewordene Abfolge der Aufsatzarten (von der Erlebnis- oder Phantasieerzählung über Berichte und Beschreibungen bis zur Erörterung) mit ihrer angenommenen Abstimmung auf die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Schüler: innen zumindest fragwürdig. Die Kritik an dieser Ausprägung der P R ODUKT O R I E NTI E R UN G führte auch dazu, dass der eng damit verbundene Begriff des Aufsatzes aus der fachdidak‐ tischen Diskussion (nicht aus der schulischen Praxis! ) inzwischen nahezu verschwunden ist. In neueren Publikationen ist grundsätzlich nicht von ‚Aufsatzdidaktik‘, sondern von ‚Schreibdidaktik‘, dem ‚Texteschreiben‘ oder von ‚Schreibprozessen‘ die Rede. Dies führt aber, wie oben dargelegt wurde, nicht zu einer vollständigen Abkehr von produktfokussierten Vorgehens‐ weisen. Vielmehr hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein (primär 3.8 Produktorientierter Schreibunterricht 113 <?page no="114"?> prozedurales und nicht deklaratives) Wissen über Textmuster eine wichtige Hilfestellung für Schreibende sein kann und gleichzeitig eine unabdingbare Voraussetzung für eine objektive und nachvollziehbare Bewertung der Texte von Schülerinnen und Schülern darstellt. Die Produktfokussierung muss aber, wie in den folgenden Kapiteln (→ 3.9-3.11) deutlich wird, unbedingt ergänzt werden durch das Berücksichtigen anderer Dimensionen des Schreibens. Aufgaben 1. Formulieren Sie Kriterien, die Sie zum Zweck der Bewertung an eine Erzählung mit dem Titel Mein schönstes Ferienerlebnis anlegen würden, und reflektieren Sie diese Schreibaufgabe kritisch. 2. Analysieren Sie eine produktfokussierte Aufgabenstellung aus einem Sprachbuch: Handelt es sich bei den vorgegebenen Kriterien um de‐ duktiv vermitteltes, rein deklaratives Wissen, oder sind sie aus einer (realen oder fiktiven) Kommunikationssituation heraus begründet und prozedural angelegt? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B A L L I S , A. (2010) (beschäftigt sich umfassend mit dem Textmustererwerb in der Zweitsprache Deutsch) Deutschunterricht 3/ 2008 (enthält praxisnahe Beiträge zum Thema ‚Textmuster in Aufsätzen‘) Praxis Deutsch 161 (2000) (enthält neben einem Basisartikel von Feilke schreibdidak‐ tische Beiträge für alle Klassenstufen) 3.9 Leser: innenorientierter Schreibunterricht Schreiben kann nur eingesetzt und geübt werden, wo konkrete, interessebesetzte Intentionen vorhanden sind und Wirkungen erzielt werden sollen, wo konkrete Partner vorhanden sind, nach denen sich die Wahl des jeweiligen Soziolekts und der Schreibform richten muss. (Boettcher et al. 1973: 44) Ähnlich wie der S ITUATION S O R I E NTI E R T E G R AMMATIKUNT E R R ICHT (→ 6.7) lässt sich auch die L E S E R : INN E NO R I E NTI E R T E S CH R E IB DIDAKTIK auf eine Diskussion in den 1970er-Jahren zurückführen, die in engem Zusammenhang mit der 114 3 Schreiben <?page no="115"?> Kritik an der produktorientier‐ ten Auf‐ satzdidaktik pragmatischen Wende in der Linguistik steht. Eine starke Wirkung erzielten dabei insbesondere Boettcher, Firges, Sitta und Tymister (die sogenannte ‚Aachener Gruppe‘) mit ihrem 1973 erschienenen Buch Schulaufsätze - Texte für Leser, in dem sie den schulischen Schreibunterricht grundsätzlich emanzipatorisch begründen: Sein Ziel sei die Erarbeitung und Einübung von ‚Zweckformen‘, deren Notwendigkeit für die Schüler: innen plausibel ist und die in der realen Lebenswelt eine Rolle spielen. Darstellung Die Autoren üben dabei zunächst Kritik an der traditionellen P R ODU KT ‐ O R I E NTI E R T E N A U F S ATZDIDAKTIK (→ 3.8), die sie als ‚scheinkommunikativ‘ charakterisieren: Adressat: in sei einzig die Lehrkraft, einzige Intention die gute Note. Sie weisen auch auf die Bewertungsproblematik hin, die mit dem Mangel an klaren Kriterien für die üblichen schulischen Textsorten zusammenhänge: Anfertigungsvorschriften […] lassen sich dort nicht aufstellen, wo die Definitio‐ nen der einzelnen Gattungen nur in der Vagheit gegeben werden können, die die gängigen Aufsatzdidaktiken durchweg bestimmt. Diese wiederum können von ihrem Ansatz her nicht präziser sein, weil die in der Schule geforderten Schreibgattungen nicht eingebunden sind in eine kommunikative Situation, die bestimmt ist durch eine Reihe konstitutiver Faktoren wie Schreiberintention, Adressatenbezug, Lesererwartung u. a., von denen her die Weise des Schreibens sich zuallererst bestimmen lassen kann. (Boettcher et al. 1973: 9) Als Konsequenz daraus fordern sie, schulische Schreibaufgaben in reale Kommunikationssituationen einzubetten, sodass sich aus den Rahmenbe‐ dingungen eindeutige Kriterien für einen gelungenen Text ergeben sollen. Ein ‚guter‘ Text zeichne sich somit nicht dadurch aus, dass er bestimmte - der Textsorte inhärente - Merkmale aufweise, sondern dadurch, dass er in der konkreten Situation seinen Zweck erfülle. Andere Arbeitsbereiche des Deutschunterrichts, insbesondere die Wortschatz- und Grammatikarbeit (→-6), erhalten in diesem Zusammenhang dienende Funktion: Sprachliche Mittel sollten nicht isoliert vom Kontext, sondern immer in Verbindung mit Äußerungssituationen und -absichten behandelt werden. Textsortenmuster könnten bei derartigen Schreibaufgaben unterstützend wirken, sollten aber kritisch-reflektiert verwendet werden: 3.9 Leser: innenorientierter Schreibunterricht 115 <?page no="116"?> ‚Ernstfall‐ didaktik‘ mögliche Schreibanlässe Es ist […] wichtiges Lernziel für die Schule, die in der Gesellschaft relevanten Textsorten nicht lediglich zu beherrschen und erfüllen zu können, sondern kritisch entscheiden zu können, wo um der Bewältigung einer Situation willen die übliche Textsorte durchbrochen werden muss. (Ebd.: 44) Reale Schreibsituationen sollten im Schreibunterricht nicht nur simuliert, sondern tatsächlich erzeugt beziehungsweise bereitgestellt werden: Die ‚Aachener Gruppe‘ fordert, nicht von fiktiven, erfundenen Situationen auszugehen, sondern ausschließlich Schreibsituationen zu wählen, die zwar z. T. vom Lehrer oder den Schülern geplant sein können, in denen es die Schreiber aber immer mit tatsächlichen Lesern zu tun haben […]. (Ebd.: 57) Wir wollen einen Robinson-Spielplatz Eine dritte Klasse (s. im Folgenden Boettcher et al. 1973: 91 ff.) trifft bei einem Ausflug auf einen ‚Robinson-Spielplatz‘ und beklagt sich in der Folgezeit über die unzureichenden Freizeitangebote im eigenen Stadtviertel. Die Lehrkraft informiert die Kinder über politische Zustän‐ digkeiten und Einflussmöglichkeiten, worauf diese beschließen, eine Initiative für die Einrichtung eines ‚Robinson-Spielplatzes‘ zu starten. Nach einer Sammlung wesentlicher inhaltlicher Aspekte formuliert jedes Kind eine eigene Eingabe; die entstandenen Texte werden in der Klasse vorgelesen und besprochen. Auf Basis der Verbesserungs‐ vorschläge überarbeiten die Schüler: innen ihre Texte und schicken sie persönlich an jeweils ein Stadtratsmitglied. Als arbeitsbereichsbezogenes Lernziel formulieren Boettcher et al.: „Die Schüler sollen eine ‚Eingabe‘ erarbeiten und ihre Einsatzmöglichkeit erproben“ (ebd.: 91). Boettcher et al. (1973) stellen eine Liste von über 30 möglichen Schreiban‐ lässen in der Schule zusammen, von denen viele inzwischen etabliert sind - hier einige Beispiele: ■ Zusammenstellung und Veröffentlichung einer Klassenzeitung ■ Schriftverkehr mit Autorinnen und Autoren von Kinder- und Jugendli‐ teratur 116 3 Schreiben <?page no="117"?> Schreibun‐ terricht als Beitrag zur politischen Bildung ■ Schriftverkehr zur Vorbereitung von Klassenausflügen, Schullandheim‐ aufenthalten und größeren Unterrichtsprojekten ■ Einladungen zu Festen und Feierlichkeiten ■ Verfassen und Zusammenstellen von klasseneigenen Erzählbänden Deutlich wird, dass der Ansatz weit über die damals schon übliche Praxis, Schreibanlässe aus der Lebenswelt der Schüler: innen heranzuziehen, hin‐ ausgeht - wenngleich die zu generierenden Schreibaufgaben heutzutage einer Anpassung an das Zeitalter der Digitalisierung bedürfen (→ 5.7). In‐ trinsische Schreibmotivation soll nicht durch das Thema entstehen, sondern durch die reale Notwendigkeit des Schreibens - den ‚Ernstfall‘. Ein weiterer Schwerpunkt der L E S E R : INN E NO R I E NTI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK lag bereits in den 1960er-Jahren auf der politischen Bedeutung einer kom‐ petenten und bewussten Verwendung geschriebener Sprache in Produktion und Rezeption: Worauf es uns ankommen muss, ist letztlich dies: den künftigen Staatsbürger durch ein festes Sprachwissen vor demagogischem Missbrauch zu schützen und ihn andererseits durch ein geläufiges Sprachkönnen zum Gebrauch seiner demokratischen Rechte fähig zu machen. (Herrlitz 1966: 310) Für Herrlitz ist politische ohne sprachliche Bildung nicht möglich. Deshalb sei auch die Beschränkung auf eine unpolitische oder künstlerische Sprach‐ gestaltung in der Schule ein Irrweg - daneben müsse immer die handelnde Sprachverwendung stehen: In rhetorischen Gestaltungsübungen kann der Schüler ein sprachliches Können erlernen, das unmittelbar in die Ernstsituation sprachlicher Beziehungen (und politischer Konflikte) einführt. Er muss erfahren, dass es neben der „erkennen‐ den“ und der „künstlerischen“ eine „handelnde“ Weise der Sprachgestaltung gibt, der er einmal ausgesetzt sein wird und der er dann gewachsen sein muss. (Ebd.) Herrlitz’ Ideen weisen einige Bezüge zum Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören, insbesondere zum Sprechen ‚vor anderen‘, auf (→ 2.2); es muss in diesem Zusammenhang allerdings zwischen mündlichen und schriftlichen Kontexten, die verschiedene Aufgaben an Sprechende beziehungsweise Schreibende stellen, präzise unterschieden werden. Vielversprechend und häufig erprobt ist im Rahmen der Schriftlichkeit unter anderem sein Vor‐ schlag der Arbeit mit Werbetexten, deren Machart analysiert und anschlie‐ 3.9 Leser: innenorientierter Schreibunterricht 117 <?page no="118"?> Orientie‐ rung an Le‐ serinnen und Lesern in der aktu‐ ellen Schreibdi‐ daktik ßend auf neue Gegenstände übertragen werden kann; als weitere Beispiele werden die Laudatio oder die Verteidigungsschrift genannt. Wie sich die Leser: innenorientierung in eine aktuelle Auffassung von Schreiben integrieren lässt, zeigen Becker-Mrotzek/ Böttcher (2012) mit ihrem Modell schriftlicher Kommunikationssituationen, das auch als funk‐ tionales Modell ‚gelesen‘ werden kann: Abb. 4: Schreiben als schriftsprachliches Handeln (n. Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 21) Das Modell berücksichtigt „systematisch, dass Schreiben Teil einer kommu‐ nikativen Handlung ist“ (ebd.: 20). Das Wissen, die Erwartungen/ Interessen und die Position der lesenden Personen können demnach bereits auf die ersten Handlungsschritte, also die Planungsphase der Schreibenden, ent‐ scheidenden Einfluss haben. In der modernen Schreibdidaktik gibt es - meist in Verbindung mit einer prozessorientierten (→ 3.10) und integrativen (→ S. 63 f.) Ausrichtung - zahlreiche konkrete Unterrichtsvorschläge für Schreibaufgaben, die eine Orientierung an Leserinnen und Lesern beinhalten: Mail- oder Brieffreund‐ schaften zwischen Klassen, Klassenzeitungen, Projekte wie zum Beispiel populärwissenschaftliches Schreiben - ein Zeitungsprojekt (z. B. Becker-Mrot‐ zek/ Böttcher 2012: 208 ff.) oder das Verfassen von Theaterkritiken (→ 5.6). 118 3 Schreiben <?page no="119"?> Leser: in‐ nenorien‐ tierung und digitale Medien Bereitstel‐ lung au‐ thenti‐ scher Schreibsi‐ tuationen Die Orientierung an der lesenden Person rückt ebenfalls in Verbindung mit einzelnen Textformen wieder stärker in den Vordergrund. Ein Beispiel hierfür ist das schriftliche Argumentieren (z. B. Schneider/ Tetling 2012), das einen besonderen Adressatinnenbeziehungsweise Adressatenbezug erfordert und zumindest im Primarstufenbereich ein weithin vernachlässig‐ ter Handlungsbereich ist, sowie für die Sekundarstufe das Verfassen von Bewerbungsschreiben (Droll/ Betzel 2014b). Auch in medialen Zusammenhängen (→ 5.7) wird der Aspekt der Ori‐ entierung an lesenden Personen neu beleuchtet: Eine Möglichkeit, das zielgerichtete Verfassen von Hypertexten kennenzulernen und einzuüben, bietet das WebQuest-Konzept (Moser 2008). Obgleich einige der praxisorientierten Vorschläge von Boettcher et al. (1973) bisweilen umgesetzt werden, wird in der aktuellen Unterrichts‐ praxis sowie in Lehrwerken die L E S E R : INN E NO R I E NTI E R UN G zumeist in abge‐ schwächter Form vertreten: Zwar ist in Aufgabenstellungen bei geeigneten Textsorten (z. B. Vorgangsbeschreibung, Wegbeschreibung, Bericht) häufig ein expliziter Bezug zu Adressatinnen und Adressaten erkennbar, jedoch handelt es sich in der Regel um simulierte ‚Ernstfälle‘: Weder liegt eine für die Schüler: innen nachvollziehbare Notwendigkeit vor, diesen Text zu verfassen, noch existieren tatsächlich Leser: innen, die am Text interessiert sind und von denen eine Reaktion zu erwarten wäre. Hinweis Hypertexte, wie sie im Internet üblich sind, stellen aufgrund Ihrer Ei‐ genheiten (z. B. Nichtlinearität, multimodale Kodiertheit, Interaktivität) besondere Herausforderungen an Schreiber: innen und Leser: innen (s. z. B. Storrer 2008). Problematisierung Die konsequente Beschränkung auf reale Kommunikationssituationen ist ein ganz wesentliches, gleichzeitig aber auch problematisches Merkmal der L E S E R : INN E NO R I E NTI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK nach Boettcher et al. (1973). Die Autoren weisen selbst auf die Schwierigkeit hin, authentische Schreibsitu‐ ationen in ausreichender Anzahl zu finden, halten dies jedoch bei entspre‐ chender Sensibilisierung der Lehrkräfte für machbar. Schwerer wiegt der 3.9 Leser: innenorientierter Schreibunterricht 119 <?page no="120"?> Einwand, dass bei einer völligen Konzentration auf derartige Schreibformen wichtige andere Aspekte des Lernbereichs unberücksichtigt blieben. Im Falle einer naheliegenden Reduktion auf informierende und appellierende Textsorten dient der Schreibunterricht dann zwar der sozialen, aber nicht der ästhetischen und persönlichen Bildung - Schreiben als Möglichkeit der Erkenntnisbildung und Welterschließung findet nicht statt. Behrens (2016: 165 ff.) stellt die grundsätzlichen motivationalen Vorzüge lebens‐ weltbezogener Schreibaufgaben anhand von Vergleichen verschiedener Unterrichtsarrangements infrage und weist darauf hin, dass „Aufgaben, die als lebensweltlich relevant konzipiert sind, insbesondere von Jugendlichen auch als anbiedernd oder zudringlich wahrgenommen werden können“ (ebd.: 178). Die Lehrperson muss also individuell entscheiden, ob für ihre Schüler: innen in einer bestimmten Situation der tradierte Schreibanlass eines Tagesbucheintrags oder das zeitgemäße Verfassen eines Posts in sozialen Medien als förderlich erachtet wird. Trotz dieser Kritikpunkte muss neben anderen Dimensionen auch die L E ‐ S E R : INN E N O R I E NTI E R UN G im Rahmen einer integrativen Schreibdidaktik (s. o.) eine wesentliche Rolle spielen. Die Fähigkeit, sich auf bestimmte Adressa‐ tinnen und Adressaten einzustellen, deren Erwartungen und Bedürfnisse zu antizipieren und mit schriftlichen Äußerungen kommunikative Ziele zu erreichen, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil von Schreibkompetenz und muss im Deutschunterricht - möglichst unter Verwendung realer Schreibanlässe - gefördert werden. Gerade die digitalen Medien (→ 5.7) bieten vielfältige Möglichkeiten, kommunikativ relevante (Hyper-)Texte in unterschiedlichen Kontexten zu verfassen und im Netz gezielt bestimmten Rezipientinnen und Rezipienten oder einer breiten Öffentlichkeit zugäng‐ lich zu machen. Aufgaben 1. Skizzieren Sie einen Unterrichtsvorschlag, in dem die Textsorte Vor‐ gangsbeschreibung möglichst im Rahmen eines ‚kommunikativen Ernst‐ falls‘ und orientiert an Adressatinnen und Adressaten erarbeitet und eingeübt wird. 2. Textsorten, die bei einer Fokussierung auf L E S E R : INN E N O R I E NTI E R T E S S CH R E IB E N häufig ‚unter den Tisch fallen‘, sind unter anderem die Erzäh‐ lung, die Erörterung oder auch lyrische Texte. Welche Möglichkeiten 120 3 Schreiben <?page no="121"?> sehen Sie, entsprechende Unterrichtseinheiten auch unter Berücksich‐ tigung konkreter Adressatinnen und Adressaten zu planen? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B O E T T C H E R , W. E T A L . (1973) (grundlegendes Werk der leser: innenorientierten Schreibdidaktik; kritisiert den traditionellen Aufsatzunterricht und begründet den damals neuen Ansatz kommunikationstheoretisch) M O S E R , H. (2008) (Vorstellung des WebQuest-Konzepts, s. auch: webquest-forum.de) 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht Von prozessorientiertem Schreibunterricht wird […] dann gesprochen, wenn der komplexe Vorgang der Textproduktion tatsächlich als Prozess begriffen wird, in dem alle Teilprozesse des Schreibens umfassend Berücksichtigung finden. (Merz- Grötsch 2010: 69) Die aus der US-amerikanischen Schreibforschung übernommene Vorstel‐ lung von der Segmentierung des Schreibens in Subprozesse führte in der Fachdidaktik zu einer Abkehr von der traditionellen, am Produkt orientier‐ ten Aufsatzdidaktik (Schäfer 2013: 332). Grundgedanke der P R OZ E S S O R I E NTI E R ‐ T E N S CH R E IBDIDAKTIK ist, dass diese Teilprozesse schreibenden Schülerinnen und Schülern bewusst gemacht und gezielt eingeübt werden können. Darstellung Prozessorientierte Ansätze dominieren derzeit die fachdidaktische Diskus‐ sion, sind in den Schulen jedoch erst teilweise angekommen. Nach wie vor herrscht in der Unterrichtspraxis das Ideal vom ‚Schreiben in einem Zug‘ vor. Nach wie vor wird das Schreiben von Texten von vielen Kindern und Jugendlichen als nicht lernbar beziehungsweise nicht vorbereitbar erlebt - nicht zuletzt deshalb, weil ihnen diese falsche Sichtweise mitunter auch von Lehrpersonen vermittelt wird. Es lassen sich in der Praxis drei verschiedene, letztlich nicht oder nur eingeschränkt haltbare Vorstellungen von Schreibkompetenz beobachten (Baurmann 2002: 8): das Genie-Konzept (Schreiben kann man, oder man kann es eben nicht), das Dornröschen-Modell (Schreibkompetenz entfaltet sich durch Reifung, die insbesondere durch Leseerfahrungen unterstützt werden kann) und das Nachahmungsmodell 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 121 <?page no="122"?> (Schreibkompetenz entwickelt sich über das imitierende Reproduzieren vorgegebener Schreibmuster). Demgegenüber sehen Vertreter: innen der P R OZ E S S O R I E NTI E R UN G das Schreiben als anspruchsvolle, aber lernbare Hand‐ lung an und fordern insbesondere die Vermittlung methodisch-strategischer Kompetenzen. Schreibprozessmodelle Kognitive Modelle des Schreibprozesses (Hayes/ Flower 1980) verstehen Schreiben grundsätzlich als Problemlösen. Die wesentlichen Kompo‐ nenten (Planen, Formulieren und Überarbeiten - jeweils überwacht durch eine Kontroll- und Steuerungsinstanz), die nicht als linear ablau‐ fend verstanden werden dürfen, sondern während des Schreibprozes‐ ses ineinandergreifen und parallel stattfinden, werden dabei in einen komplexen Kontext, bestehend aus dem Langzeitgedächtnis und dem Aufgabenumfeld, eingebettet. Abb. 5: Schreibprozessmodell (n. Hayes/ Flower 1980, Übers.: C. H./ A. K./ R. O.) Kritisiert wurde an diesem und ähnlichen kognitiven Schreibprozess‐ modellen unter anderem, dass sie auf Schreibexpertinnen und Schreib‐ experten ausgerichtet seien und ein idealisiertes Bild von Schreibpro‐ 122 3 Schreiben <?page no="123"?> Planen zessen widerspiegelten. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion dieses und weiterer Schreibprozessmodelle findet sich beispielsweise bei Sieber (2006). Grießhaber (2010) legt das Schreibprozessmodell von Hayes/ Flower in modifizierter Form für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache vor. Ein alternatives Modell, das auch die Besonderheiten der zerdehnten Kommunikationssituation berücksichtigt, stammt von Becker-Mrotzek/ Böttcher (2012: 21) (→-3.9). Die Schreibprozessforschung findet ihren Niederschlag in der P R OZ E S S O R I E N ‐ TI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK unter anderem in Form konkreter Hilfestellungen für das Planen, Formulieren und Überarbeiten von Texten. In dem Maß, in dem Schreibaufgaben nicht mehr wie im traditionellen Aufsatz‐ unterricht ausschließlich auf abgeschlossene Texte zielen, sondern Teilaufgaben in den didaktischen Fokus rücken (z. B. Reflexion von Schreibstrategien, Ent‐ wicklung eines Schreibplans, Überarbeitung bestimmter Textprozeduren), wird es möglich, auch didaktisch situierte Schreibprozesse methodisch zu zerlegen und in ihren Komponenten zu untersuchen und zu fördern. (Feilke 2017b: 165) Schriftliche Texte entstehen aufgrund der zerdehnten Kommunikationssi‐ tuation langsamer als gesprochene Texte, zugleich zeichnen sie sich auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene oft durch eine höhere Komplexität aus. Das erfordert umfangreichere Planungsprozesse, als es in der mündlichen Kommunikation in der Regel der Fall ist. Die Textplanung vollzieht sich […] auf unterschiedlichen Ebenen und ist - als eine Verkettung komplexer Handlungsschritte - eine Herausforderung selbst für erfahrene Schreibende. Um die Ansprüche geschriebener Sprache erfüllen zu kön‐ nen, müssen sich Kinder bei der Weiterentwicklung ihrer Schreibkompetenzen zunehmend auf die Vorbereitung ihrer Texte konzentrieren. (Baldaeus 2018: 164) Zum Planen kann es unter anderem gehören, Schreibziele zu reflektieren (An welche Leser: innen schreibe ich? Was will ich erreichen - oder will ich über‐ haupt etwas erreichen? ), das Schreiben durch eine ‚Ideensammlung‘ vorzube‐ reiten und diese Ideen und Gedanken zu strukturieren. In diesem Teilprozess können die Lernenden durch verschiedene Fragen und Impulse unterstützt werden. Dazu erläutert Merz-Grötsch (2010: 75 ff.) unterschiedliche Metho‐ den, die vornehmlich aus dem angloamerikanischen Raum stammen und sowohl in der Einzelarbeit als auch im Klassenverband eingesetzt werden 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 123 <?page no="124"?> Formulie‐ ren können: das Brainstorming, das Assoziogramm, das Mindmapping und das Clustering (Rico 1984). Zur Unterstützung von Planungsprozessen dient auch die Vermittlung von (prozedural verfügbarem) Textstrukturwissen: Dieses deklarative Wissen bezieht sich auf tradierte Elemente und deren Anord‐ nungen bei verschiedenen kommunikativen Absichten (jemanden überzeugen, etwas erzählen), die sich in verschiedenen Textsorten (Argumentation, Narration) niederschlagen. Im Schreibprozess fungiert dieses Wissen als wichtige Ressource - insbesondere für die Informationsorganisation. (Philipp 2017b: 195) Für den Teilprozess des Formulierens nimmt der Bereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren (→ 6) eine zentrale Stellung ein. Sowohl grammatisch-syntaktische Fähigkeiten als auch ein umfassen‐ der Wortschatz sind für den Formulierungsprozess entscheidend. Je nach Textsorte spielt auch die Vertrautheit mit Routineformeln eine mehr oder weniger zentrale Rolle. Die grundlegende Bedeutung eines umfangreichen und differenzierten Wortschatzes für das Formulieren von Texten hebt unter anderem Mer‐ ten (2019: 28) hervor; zur gezielten Förderung des Wortschatzerwerbs im Hinblick auf Schreibprozesse eignet sich vor allem die T E XTO R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT (→-6.3) Fix betont die Rolle der Lehrperson bei der Produktion angemessener Formulierungen im Zusammenhang mit der „UWE-Technik“ (2005: 10 ff.): Angeregt durch Hinweise und Verbesserungsvorschläge der Lehrkraft sollen die Lernenden durch verschiedene Proben (U = Umstellen, W = Weglassen, E = Erweitern), die ursprünglich dem O P E R ATIO NAL E N G R AMMATIK ‐ UNT E R R ICHT (→-6.6) entstammen, Formulierungsvarianten prüfen und ihren Text sprachlich überarbeiten. Klotz beschreibt weiterführend das Konzept eines auf die Förderung von Schreibkompetenz fokussierten „Sprachangebotsunterrichts“ (2014: 387), der im Wesentlichen auf zwei Ebenen funktioniere: Zum einen wird ein bestehendes Sprachkönnen über grammatische und textuelle Aspekte - nach dem mäeutischen Prinzip also - bewusst gemacht und nach Notwendigkeit behutsam in Begrifflichkeit […] gefasst. Zum anderen werden im Unterricht sprachliche Alternativen zur bestehenden Kompetenz bekannt gemacht und in funktionalen Verwendungszusammenhängen eingeübt. (Ebd.: 388) Auch Pohl (2015: 242 ff.) plädiert für eine intensivere und selbstverständ‐ lichere Verbindung des Grammatikunterrichts mit dem Schreibunterricht. 124 3 Schreiben <?page no="125"?> Eine nachhaltige Förderung impliziter sprachlicher Fähigkeiten durch den Erwerb expliziten metasprachlichen Wissens sei allerdings nur möglich, wenn Letzteres am Erwerbsstand der Lernenden orientiert sei, wenn also explizit nur vermittelt werde, was implizit bereits genutzt werde. Außerdem dürfe der Grad an Explizitheit metasprachlicher Beschreibungen, die zurück zur sprachlichen Handlungskompetenz führen sollen, nicht zu hoch sein - Umschreibungen, Faustregeln oder lerngruppenspezifische Termini seien also zu tolerieren und die begriffliche Präzision den „Restriktionen der metakommunikativen und -textuellen Verständnisleistung konsequent un‐ terzuordnen“ (ebd.: 251 f., Herv. i. O.). Pohl führt seine Überlegungen an drei aus der traditionellen Schreibdidaktik bekannten Lerngegenständen aus, indem er gängige Herangehensweisen kritisiert und eigene konzeptuelle Überlegungen anstellt (ebd.: 254-ff.). Fallbeispiele eines sprachreflexiven Schreibunterrichts nach Pohl ‚Variation des Satzanfangs‘ - temporale Situierung beim Erzählen Die in der Primarstufe allgegenwärtige ‚Bekämpfung‘ der unddann-Konstruktionen verkennt deren altersentsprechende Leistung bei der kohäsiven Verknüpfung von Texten in Überwindung des assoziativexpressiven Schreibens (→ S. 62 f.). Ein am impliziten Erwerb orientier‐ ter Schreibunterricht, der die nächste Entwicklungsphase anbahnt, darf nicht auf einen simplen Ersatz durch weitere Konnektoren (danach, plötzlich) beschränkt sein, sondern muss vor allem Wortgruppen (im selben Moment) und Gliedsätze (als ich die Treppe hinunterrannte) fokus‐ sieren und in ihren Effekten für die Textqualität beobachten lassen. Das ‚schmückende Adjektiv‘ - emotionale Involvierung beim Erzählen Der Einsatz von Adjektiven zur Intensivierung von Anschaulichkeit, Spannung, Dramatisierung oder emotionaler Involvierung wird, wie die Analyse von Unterrichtsmaterialien zeigt, häufig am Ende der Grundschulzeit angestrebt - in einem Zeitraum, der durch eine starke ‚Versachlichung‘ der Kindertexte gekennzeichnet ist, was eine Über‐ nahme der intendierten Strategien in die implizite Schreibpraxis der Schüler: innen erschwert. Zudem ist zu kritisieren, dass die Auswahl stilistischer Mittel durch die Konzentration auf eine einzige Wortklasse stark begrenzt wird - zielführender erscheint ein offenerer Zugang über 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 125 <?page no="126"?> Textproze‐ duren das Entdecken geeigneter Sprachmittel (z. B. in literarischen Texten) und das gezielte Einüben derselben (Menzel 2014). ‚Logischer‘ Einsatz von Konjunktionen - Kausalbeziehungen und Begrün‐ dungszusammenhänge beim Argumentieren Der Einsatz von Konjunktionen und Subjunktionen, der oft auch er‐ wachsenen Schreiberinnen und Schreibern noch misslingt, unterliegt einer ‚umgekehrten U-Kurve‘: Nach einem deutlichen Anstieg ab dem Ende der Grundschulzeit werden diese Elemente von Schreibenden ab der Mitte der Sekundarstufe wieder seltener eingesetzt, was auf den vermehrten Gebrauch funktional ähnlicher Mittel (Nominalphrasen, Partizipgruppen) zurückzuführen ist. Hier (und nicht schon früher) besteht nun die Möglichkeit, in einem sprachreflexiven Schreibun‐ terricht unterschiedliche Mittel (Nomen/ Nominalgruppen, Adverbien, Präpositionalgruppen, Konjunktionen und Subjunktionen) einander gegenüberzustellen und zum Beispiel für die Textüberarbeitung gezielte Substitutionstests einzuüben. Eine ebenso konkret auf die Gestaltung der Textoberfläche bezogene Unter‐ stützung bieten nach Feilke „Textprozeduren als sprachliche Werkzeuge des Schreibens“ (2014: 14), die „in hohem Maß kontext- und textsortengebun‐ den“ (ebd.) seien und somit „eine Mittlerstellung zwischen dem Prozess- und dem Produktaspekt des Schreibens“ (ebd.: 11) einnehmen. Er vergleicht das Schreiben mit anderen komplexen Handlungen und schließt: Wer schon öfter ein Fahrrad erfolgreich repariert hat, der traut sich zu, das auch wieder tun zu können: prüfen, ob der Schlauch dicht ist, den Mantel aufziehen, die Felgenbremse nachspannen usw. Solche Prozeduren sind enorm wichtig. Sie stützen den schwierigen Weg zwischen den jedes Mal situativ anders bestimmten Prozessen des Problemlösens einerseits und dem Produkt andererseits. (Feilke 2017a: 51) Einem Texthandlungstyp (z. B. Argumentieren) lassen sich dabei verschie‐ dene Handlungsschemata (z. B. Positionieren, Einräumen) und entspre‐ chende Prozedurausdrücke (z. B. Ich finde, dass; meines Erachtens; zwar …, aber; wenn auch …, so doch) zuordnen, die bewusst gemacht und anschlie‐ ßend von den Schülerinnen und Schülern gezielt eingesetzt werden können (ebd.: 26 f.; s. auch die weiterführenden Hinweise zum materialgestützten 126 3 Schreiben <?page no="127"?> Argumentieren in Feilke/ Tophinke 2017). In ähnlicher Weise lassen sich Textprozeduren zur Etablierung von Erzählräumen in narrativen Texten (zur Personalisierung, Lokalisierung und Temporalisierung des Geschehens) einsetzen, wie Uhl (2020a) zeigt. Weitere wertvolle Praxisvorschläge liefern unter anderem Anskeit/ Steinhoff (2014), Bachmann (2014a), Betzel (2018) sowie - zur Anbahnung wissenschaftlicher Schreibkompetenz in der Ober‐ stufe - Schüler/ Lehnen (2014). Besonderen Stellenwert hat dieses Arbeiten für Kinder und Jugendliche mit Deutsch als Zweitsprache, denen häufig implizites Prozedurenwissen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht und die deshalb auf eine „frequente und qualitativ ansprechende Darbietung von Textprozeduren im Unterricht“ (Michalak et al. 2021: 208) angewiesen sind. Eine zunehmend zentrale Rolle bei der Förderung von Schreibkompetenz nehmen sogenannte Schreibstrategien ein, nicht zuletzt wegen ihrer Bedeu‐ tung für die Selbstregulation in Schreibprozessen ( Jost 2017: 183). Hierzu liegen verschiedene Definitionen und didaktisch-methodische Ausarbeitun‐ gen vor. Ein umfassendes Modell stammt von Ortner, der Schreibstrategien als „Formen des Sprachverhaltens“ (2000: 346) definiert und zehn Schreib‐ strategien und - damit verbunden - verschiedene Schreiber: innentypen unterscheidet (ebd.: 346 ff.). Drei dieser Strategien seien hier exemplarisch dargestellt. Sie sollen verdeutlichen, dass Schreibprozessmodelle nicht als Folie für einen scheinbar idealtypischen Schreibprozess verstanden werden sollten, sondern dass abhängig vom Typ der schreibenden Person, von Mo‐ tivation, Schreibanlass oder Kommunikationssituation ganz verschiedene Strategien zum Tragen kommen können. Schreibstrategien nach Ortner Schreibstrategie 1: (Scheinbar) nicht-zerlegendes Schreiben. Schreiben in einem Zug, Schreiben im Stil der pensée parlée, écriture automatique. Typ des Aus-dem-Bauch-heraus-(=-Flow-)Schreibers Schreiben wird als „Expedition ohne Kompaß […], ohne leitende Idee, ohne Arbeitstitel oder Gliederung“ (Ortner 2000: 362) beschrieben. Das Motto ist: „Es soll kein Pingpong geben, nur ein Vorwärtsschreiben ohne Unterbrechung“ (ebd.). Schreiben in einem Zug kann in unterschiedli‐ chen Ausprägungen stattfinden: zu Beginn des Erwerbs von Textkom‐ petenz als Form des assoziativen Schreibens, in einer Klassenarbeit oder 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 127 <?page no="128"?> Überarbei‐ ten im Stil eines professionellen literarischen Schreibens. Planende und überarbeitende Tätigkeiten rücken in den Hintergrund. Schreibstrategie 5: Planendes Schreiben (Plan = eine Version in Kurzschrift). Typ des Planers Planendes Schreiben kann als kontrollierter Prozess verstanden werden. Eingeübt wird diese Schreibstrategie in der Schule besonders im Rahmen argumentativer und erörternder Schreibhandlungen. Schreibstrategie 10: Schreiben nach dem Puzzle-Prinzip. Extrem produkt‐ zerlegend. Typ des Produkt-Zusammensetzers Die einzelnen Puzzle-Teile spiegeln singuläre schreiberische Handlun‐ gen wider, die im Cluster-Prinzip entstehen. Anfang und Ende eines Textes sind nicht erkennbar und nicht geplant. In der Schule wird das Puzzeln zumeist negativ bewertet, obwohl es gerade aus literatur‐ didaktischer Sicht auch großes Potenzial birgt und eine Form des erkenntnisgewinnenden Schreibens sein kann. Ein auf Schreibstrategien fokussierender methodischer Vorschlag zur För‐ derung von Textproduktion und -überarbeitung ist der Stationenbetrieb (Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 40). Den Lernenden soll hierbei die Mög‐ lichkeit gegeben werden, an verschiedenen Stationen, die jeweils eine Schreibstrategie thematisieren, entweder allein oder kooperativ verschie‐ dene Vorgehensweisen einzuüben und produktiv zu erproben. Auf den Prinzipien des kooperativen Lernens (→ S. 30 ff.) basiert auch die kooperative Textproduktion, die Becker-Mrotzek/ Böttcher in gemein‐ sames und schrittweises kooperatives Schreiben (ebd.: 32 ff.; Lehnen 2014: 418 ff.) aufteilen. Besonders bedeutsam kann eine solche Unterstützung von Formulierungsprozessen für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache sein: „Dabei soll durch das Vorschlagen, Begründen und Verhandeln von Formulierungen der Schreibprozess gewissermaßen entschleunigt werden“ (Geist/ Krafft 2019: 105). Besonders häufig hervorgehoben wird im Rahmen der P R OZ E S S O R I E N ‐ TI E R T E N S CH R E IB DIDAKTIK der im traditionellen Aufsatzunterricht oft vernach‐ lässigte Schritt des Überarbeitens. Das Korrigieren und Revidieren von Tex‐ ten fällt vielen Schülerinnen und Schülern erfahrungsgemäß schwer (s. hierzu auch das Modell von Überarbeitungskompetenz in Jantzen 2003: 114 ff.). Untersuchungen zeigen jedoch, dass es durch geeignete Methoden 128 3 Schreiben <?page no="129"?> Schreib‐ konferen‐ zen gefördert werden kann und dass dies zur Weiterentwicklung der Schreib‐ kompetenz beiträgt (Schäfer 2013: 332 f.). So konnte Ferencik-Lehmkuhl (2017: 275 ff.) nach Durchführung eines Revisionstrainings, das neben Über‐ arbeitungsstrategien auch Elemente der metakognitiven Selbstregulation einschloss, in der Sekundarstufe I positive Effekte auf die Revisionskompe‐ tenz zeigen, die sich nicht auf Korrekturen an der Textoberfläche beschränk‐ ten: Hervorzuheben sind hierbei vor allem die geglückten Revisionen auf der Ebene der Globalstruktur, die dabei halfen, den Text dem intendierten Schreibziel näher zu bringen und damit die gewünschte Schreibfunktion zu erfüllen. Die Kontrollgruppe revidierte im Vergleich weniger erfolgreich. (Ebd.: 276) Ein für die Einübung überarbeitender Aktivitäten offenbar geeignetes Ver‐ fahren, das seit den 1980er-Jahren zunehmend Verbreitung insbesondere in der Primarstufe findet, ist die Schreibkonferenz, die von Spitta aus dem USamerikanischen Kontext übernommen und in die deutschdidaktische Dis‐ kussion eingeführt wurde: Schreibkonferenzen stellen […] ein Verfahren dar, einen selbst verfaßten Text einer kleinen kritischen Öffentlichkeit zur Diskussion zu präsentieren, um aus den Reaktionen der Teilnehmer Hinweise für eine eventuelle Überarbeitung des Textes zu erhalten. (Spitta 1992: 13) Ablauf einer Schreibkonferenz nach Spitta Eine Schreibkonferenz besteht aus vier Phasen (Spitta 1992: 42 ff.): 1. Individuelle Themenfindung und Erstellen eines Entwurfs in fest eingeplanten Schreibzeiten, z. B. im Rahmen des Wochenplans. 2. Schreibkonferenz im engeren Sinne, ebenfalls während der Freiar‐ beitsphasen: Das ‚Autorenkind‘ und zwei ‚Mitarbeiterkinder‘ arbei‐ ten am Entwurf und führen dabei vier verbindliche Arbeitsschritte durch: □ Vorlesen - Spontanreaktionen zum Inhalt □ satzweises Durchgehen unter sprachlichen und inhaltlichen Gesichtspunkten 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 129 <?page no="130"?> □ satzweise Rechtschreibkontrolle □ Weiterarbeit am Entwurf durch das ‚Autorenkind‘ 3. Endredaktion mit der Lehrkraft; anschließend wird die endgültige Fassung auf einem eigenen Blatt verschriftet. 4. Veröffentlichung beispielsweise im Rahmen einer regelmäßig statt‐ findenden ‚Dichterlesung‘: Die entstandenen Texte werden vorge‐ lesen und besprochen, anschließend können sie auch ausgestellt oder als Buchprojekt veröffentlicht werden. Schreibkonferenzen eignen sich Spitta zufolge vor allem zur gezielten Unterstützung des F R E I E N S CH R E IB E N S (→-3.11). Darüber hinaus könnten sie dabei helfen, Schülerinnen und Schülern die Dynamik von Schreibprozessen zu verdeutlichen und Überarbeitungsstrategien zu verinnerlichen. Das kri‐ tische Lesen und Reflektieren eines ‚fremden‘ Textes helfe Kindern, auch eigene Texte distanziert zu betrachten und zu revidieren. Auch lasse sich durch das bewusste Schreiben für ein ‚Publikum‘ bereits im Grundschulalter eine stärkere Orientierung an der lesenden Person erreichen: Schreiberinnen und Schreiber werden […] beim komplexen Prozess des Schrei‐ bens und Überarbeitens entlastet und auf anschauliche Weise mit der Leserper‐ spektive vertraut gemacht. Da Kinder und Jugendliche erst noch lernen, die Sichtweise anderer zu übernehmen und schließlich zu verinnerlichen, kann der Wert von Schreibkonferenzen nicht hoch genug eingeschätzt werden. (Baurmann 2002: 108) Deshalb befürwortet Baurmann in Erweiterung von Spittas Vorschlägen den Einsatz von Schreibkonferenzen auch in der Sekundarstufe und mit gebundenen Schreibaufgaben, also nicht ausschließlich im Rahmen des F R E I E N S CH R E IB E N S , weil nur so eine nachhaltige Weiterentwicklung der Schreibkompetenz möglich sei. Eine Einrichtung von Schreibkonferenzen im Rahmen des diskursiven Schreibens auch in der Sekundarstufe II, verbun‐ den mit einer „sprachbewussten“ Diskussion über Formen und Funktionen von Formulierungsalternativen, fordert Steinhoff (2012: 127). Eine erweiterte Form der Methode präsentieren Anderer/ Baark (2012) mit der in den Klassenstufen 2-5 erprobten Lektorenrunde. Auf den besonderen Wert der Gesprächssituation, auch bei der Überarbeitung von Fremdtexten, weist Hüttis-Graff hin: 130 3 Schreiben <?page no="131"?> weitere methodi‐ sche Vor‐ schläge Ist die Einschätzung des Überarbeitungsbedarfs und das Finden einer Textalternative in normalen Schreibsituationen eine Anforderung an den Schreiber selbst, schafft im Vergleich dazu die Überarbeitung im Team erleichternde Möglichkeiten der Abstimmung, des Abwägens und der Vergewisserung aufgrund der stattfindenden ‚Textgespräche‘ und des gemeinsamen Modellierens […]. (2012: 73) Eine moderne Form des Verfahrens sind virtuelle Schreibkonferenzen (s. z. B. Becker-Mrotzek 2012c), bei denen zwei Schüler: innen zusammen einen Text schreiben und beispielsweise in einer Cloud speichern, der anschließend von der Lehrkraft oder auch von beratenden Studierenden korrigiert und kommentiert wird. Dieser Austausch kann sich beliebig oft wiederholen. Fix (2005; 2008: 178 ff.) schlägt als Orientierungshilfe für das Überarbeiten Checklisten vor, die an das Prinzip von Kriterienkatalogen (→ 3.8) angelehnt sind, aber den Schreibprozess fokussieren und an die Lernenden Fragen stellen, die sie beim Revidieren anleiten - was gerade für revisionsungeübte Schreiber: innen wichtig ist. Weitere Möglichkeiten, im Deutschunterricht das Überarbeiten von Texten anzuleiten, sind zum Beispiel die Textlupe (ein Beurteilungsbogen mit Kriterien für einen gelungenen Text), die Fragelawine (Leser: innen schreiben reihum Fragen zum Text auf, die an die Autorinnen und Autoren weitergegeben werden) (Baurmann 2002: 108 ff.) und das Chatten auf dem Papier (Fix 2008: 177 f.). Es hat sich grundsätzlich bewährt, beim Einüben von Überarbeitungsstrategien zunächst mit fremden Texten zu beginnen, da die für das Revidieren notwendige Distanz zum Produkt auf diese Weise leichter zu erreichen ist. Diese und weitere prozessorientierte Vorgehensweisen werden, wie oben schon angedeutet, durch den Einsatz von digitalen Medien (→ 5.7) im Deutschunterricht erheblich erleichtert: „Computer lassen Schreiben eher als zielorientiertes Problemlösen erfahren denn als Imitieren oder Herstellen eines mehr oder weniger auf Anhieb fertigen Resultats“ (Schmitz 2006: 256). Wegbeschreibung - prozessorientiert Als Beispiel für eine umfangreiche Schreibaufgabe, in der der Schreib‐ prozess als Ganzes im Mittelpunkt steht, sei hier ein Unterrichtsvor‐ schlag von Popp (2007: 38 ff.) skizziert. Ziel ist das Verfassen einer Wegbeschreibung: „Um den Schülerinnen und Schülern gezielt Teilkom‐ petenzen des Schreibprozesses wie auch Kenntnisse über den Schreib‐ 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 131 <?page no="132"?> prozessori‐ entiertes Bewerten von Schü‐ lertexten prozess zu vermitteln, wird die Schreibaufgabe schrittweise gelöst“ (ebd.: 41 f.). Die Hinführung beginnt mit einer Erzählung der Lehrperson, in deren Verlauf eine Flaschenpost und deren Inhalt (die Karte einer unbewohn‐ ten Insel und Hinweise auf einen dort versteckten Schatz) präsentiert werden. Die Schüler: innen begegnen der Textsorte Wegbeschreibung somit zunächst als Lesende. Gegenstand der Erarbeitung ist die sprachliche Aufarbeitung des The‐ mas: So werden beispielsweise der notwendige textsortenspezifische Wortschatz aufgebaut und ein objektives räumliches ‚Koordinatensys‐ tem‘ eingeführt. In der Schreibphase verfassen die Lernenden erste Wegbeschreibungen zu einem eigenen Schatzversteck; als Leser: innen sind dabei die Mit‐ schüler: innen vorgesehen. Neben dem motivierenden Charakter der Schreibaufgabe ist somit auch ein klarer Bezug zu Adressatinnen und Adressaten gegeben (→-3.9). In der abschließenden Präsentation werden die Funktionalität und An‐ gemessenheit der Texte durch Mitschüler: innen, die dem beschriebenen Weg auf der Karte folgen, überprüft. Wie im obigen Beispiel bereits angedeutet wurde, lässt sich in einem P R OZ E S S O R I E NTI E R T E N S CH R E IB UNT E R R ICHT die Produktion von Sachtexten mit dem Lesen derselben (→ 4.4) verknüpfen - einen ausführlichen Vorschlag hierzu präsentieren Fix/ Schmid-Barkow (2013). Eine wesentliche Weiterentwicklung hat die prozessorientierte Schreib‐ didaktik in Bezug auf das Bewerten, Beurteilen und Benoten von Schreib‐ leistungen angestoßen. Es wird immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass in einem modernen P R OZ E S S O R I E NTI E R T E N S CH R E IB UNT E R R ICHT eine Orien‐ tierung ausschließlich am Endprodukt nicht vertretbar sei. Vielmehr müsse auch der Prozess des Schreibens in die Beurteilung einbezogen werden. In Anlehnung an Merkelbach (1982: 148 ff.) könnte dies folgendermaßen gestaltet werden: Fünf-Phasen-Modell zur Bewertung von Schüler: innentexten Zunächst erstellen die Schüler: innen einen ersten Entwurf ihres Textes, möglichst mit doppeltem Zeilenabstand oder breiter Randspalte, um die 132 3 Schreiben <?page no="133"?> Überarbeitung zu erleichtern. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand (mindestens ein Tag) erhalten sie die Möglichkeit zur Überarbeitung. Es folgt die Korrektur und Bewertung durch die Lehrkraft, verbunden mit Hinweisen zur weiteren Überarbeitung. Anschließend erstellen die Schüler: innen die Reinschrift, die erneut von der Lehrperson korrigiert und bewertet wird. Die zweite Version hat dabei geringeres Gewicht, geht aber mit immerhin einem Drittel in die Gesamtnote ein. Des Weiteren liegen mit sogenannten Kriterienkatalogen (Böttcher/ Becker- Mrotzek 2003) Bewertungsmaßstäbe vor (→ 3.8), die nicht nur für die Lehrperson, sondern auch für Schüler: innen und Eltern transparent sein sollen. Problematisierung Dass die P R OZ E S S O R I E NTI E R UN G im Rahmen einer integrativen Schreibdidaktik eine wesentliche Rolle spielen muss, wird in der Deutschdidaktik aktuell nicht infrage gestellt. Kritische Anmerkungen beziehen sich zumeist auf einzelne methodische Vorschläge, beispielsweise auf die oben beschriebene Schreibkonferenz. In Untersuchungen von Becker-Mrotzek (2000) und Fix (2004) zeigte sich unter anderem, dass die Schüler: innen in ihren Arbeits‐ gruppen überwiegend sprachliche Einzelstrukturen revidierten und sich dabei stark an orthographischen und textsortenbezogenen Normen orien‐ tierten - tiefergehende Eingriffe (auch wenn sie nötig gewesen wären) gelangen jedoch nur selten. Den mitarbeitenden Kindern fehlte teilweise die Fähigkeit, diffus empfundene Mängel metasprachlich zu artikulieren. Becker-Mrotzek (2000: 53) weist zudem auf das Problem hin, dass ‚Mitarbei‐ terkinder‘ sich teilweise auch bei geäußerten Verständnisschwierigkeiten mit mündlichen ‚Reparaturen‘ zufriedengaben und eine Änderung des Textes völlig ausblieb. Fix fasst zusammen: Schreibkonferenzen scheinen also die Sensibilisierung für Textgestaltungspro‐ bleme zu fördern, helfen Schülern aber für sich allein zunächst relativ wenig bei der Wahl von Revisionsstrategien und der Realisierung in konkrete Revi‐ sionshandlungen. Insofern muss die positive fachdidaktische Beurteilung von Schreibkonferenzen eingeschränkt werden: Die Methode sollte vor allem bei Anfängern hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung auf eine tiefergehende Text‐ 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht 133 <?page no="134"?> überarbeitung nicht überschätzt werden, ihre schreibdidaktische Funktion liegt eher im Bereich der Problemdiagnose. (2004: 317 f.) Schäfer/ Sevegnani heben in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Lehrperson hervor, die durch gezielte Hinweise den anspruchsvollen Über‐ arbeitungsprozess unterstützen sollte (2013: 86). Auch wenn die Schreibkonferenzen von den Schülerinnen und Schülern selbst meist als positiv erlebt wurden, können die Ergebnisse deshalb nicht durchweg als überzeugend bezeichnet werden. Dagegen lassen sich positive Effekte im Hinblick auf die Textqualität vor allem dann nachweisen, wenn die mitarbeitenden Kinder sich nicht in erster Linie als ‚Kritiker: innen‘, son‐ dern als ‚Ko-Autorinnen und -Autoren‘ verstehen und ihre Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge direkt, also ohne die Notwendigkeit syntaktischer Umformung, in den Text übertragen werden können (Reichardt/ Kruse 2018: 199). Die der Schreibkonferenz innewohnende ‚Entzerrung‘ des Schreibpro‐ zesses in Kombination mit einem verstärkten Bezug zu den Leserinnen und Lesern bietet insofern großes Potenzial für die Förderung der Schreibkom‐ petenz, wie unter anderem Feilke (2017b: 163 f.) hervorhebt. Insgesamt sehen wir es als wichtig an, Methoden der P R OZ E S S O R I E NTI E R T E N S CH R E IBDIDAKTIK kontinuierlich und nicht nur punktuell einzusetzen. Hierzu können auch Formen des materialgestützten Schreibens (Feilke 2017a) gehören, die das Lesen als einen weiteren wichtigen Teilprozess (neben dem Planen, Formu‐ lieren und Überarbeiten) in den Blick nehmen. Aufgaben 1. Formulieren Sie mögliche positive Effekte einer Schreibkonferenz mit Bezug auf das Schreibentwicklungsmodell nach Bereiter: Welche Kon‐ trollebene(n) lässt/ lassen sich durch die Methode fokussieren, welche Schreibstrategien können eventuell angebahnt werden? 2. Beobachten und reflektieren Sie Ihren eigenen Schreibprozess bei der Produktion einer Hausarbeit, eines Posts in sozialen Medien oder einer Mail an eine Lehrperson an der Hochschule (und beziehen Sie sich dabei evtl. auch auf die oben dargestellten Schreibstrategien nach Ortner). Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Schritte des Schreibprozesses für Sie? Welche Folgerungen ziehen Sie daraus für die Unterrichtspraxis? 134 3 Schreiben <?page no="135"?> der ‚freie Aufsatz‘ Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B A U R M A N N , J. (2002) (umfassende Einführung in die Schreibdidaktik; er vertritt eine explizit prozessorientierte Position) B E C K E R - M R O T Z E K , M./ B ÖT T C H E R , I. (2012) (gibt einen sehr praxisnahen Einblick in die Schreibdidaktik) P H I L I P P , M. (2014b) (plädiert für eine prozess- und strategieorientierte Schreibdi‐ daktik; listet zahlreiche ‚Bündel‘ von Planungs-, Formulierungs- und Überar‐ beitungsstrategien auf und diskutiert diese auch auf der Basis empirischer Untersuchungen) S P I T T A , G. (1992) (Begründung und konkrete Hinweise zum Einsatz von Schreib‐ konferenzen in der Grundschule) 3.11 Schreiber: innenorientierter Schreibunterricht Der Mensch soll sich schreibend über Situationen äußern, weil sie ihm und ande‐ ren wegen der Notwendigkeit der Versprachlichung aller Situationskomponenten bewusster werden können, und weil er durch das Medium Schrift Öffentlichkeit herstellen kann, was den Zielen der sozialen Emanzipation förderlich ist. (Ingen‐ dahl 1972: 75) Schreibdidaktischen Ansätzen, die sich durch eine Orientierung an der schreibenden Person auszeichnen, ist eine „subjektive Herangehensweise an die Textproduktion“ (Schäfer 2013: 331) gemeinsam. Es lassen sich hier mit dem F R E I E N S CH R E IB E N , dem P E R S ONAL E N S CH R E IB E N und dem K R EATIV E N S CH R E IB E N Ansätze zusammenfassen, die methodisch sehr unterschiedlich vorgehen, häufig aber auch miteinander verknüpft werden. Ein einigendes Band besteht in der Zielsetzung: Ein schülerorientierter Schreibunterricht versucht, die Vorteile der intrinsischen Motivation dadurch nutzbar zu machen, dass persönliche Schreibbedürfnisse und Schreibabsichten im Vordergrund stehen und das Schreiben überwiegend vom Schüler selbst ausgeht. (Merz-Grötsch 2010: 61) Darstellung Eine wesentliche Wurzel aktueller Praktiken im S CH R E IB E R : INN E NO R I E NTI E R T E N U NT E R R ICHT ist im sogenannten freien Aufsatz zu sehen, der zu Beginn 3.11 Schreiber: innenorientierter Schreibunterricht 135 <?page no="136"?> des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Reformpädagogik propagiert wurde. Schreiben wurde hier als Mittel der Persönlichkeitsbildung angesehen - eine Reproduktion vorgegebener Muster erschien hierfür nicht hilfreich: „Frei sollten die Kinder werden, und frei sollten deshalb ihre Aufsätze sein“ (Ludwig 2006: 174). Es wurden also weder das Thema noch die sprachliche Form, weder zeitliche noch räumliche Rahmenbedingungen vorgegeben - im Idealfall entschieden auch die Schüler: innen selbst, ob überhaupt geschrieben wurde. In den 1980er-Jahren erlebte das F R E I E S CH R E IB E N insbesondere in Grund‐ schulen eine Renaissance, initiiert unter anderem durch eine Veröffentli‐ chung von Sennlaub mit dem provozierenden Titel Spaß am Schreiben oder Aufsatzunterricht? Hervorgehoben wird hier und andernorts vor allem die hohe Schreibmotivation, die sich durch die Methode erreichen lasse: Schreiben muss Freude machen. Könnten Kinder Schreiben so zwanglos-freudig lernen, wie sie Sprechen lernten, würde es diese Unlust und Angst, diesen Widerwillen und diese Gleichgültigkeit gegen Schreiben und Geschriebenes nicht geben. (1998: 15) Auch Spitta fordert im Rahmen ihrer prozessorientierten Arbeit mit Schreib‐ konferenzen (→ 3.10) eine konsequente Beschränkung auf das F R E I E S CH R E I ‐ B E N , das zur Identitätsfindung und zur Entwicklung von Empathiefähigkeit beitragen könne (1992: 28 ff.). Fähigkeiten, die sich beim F R E I E N S CH R E IB E N gleichsam von selbst entwickelten, könnten später dann auch auf vorgege‐ bene Textsorten und Themenstellungen übertragen werden. Durch die dem F R E I E N S CH R E IB E N innewohnende Individualisierung und die Orientierung an den Ressourcen der Schüler: innen eignet sich es auch in besonderem Maße für die Arbeit in inklusiven Lerngruppen (s. z. B. Ritter/ Hennies 2013). Hier ist allerdings zu beachten, dass zusätzlich auf Steuerung und Impulse durch die Lehrperson nicht verzichtet werden kann (Ballis 2010: 248), weshalb zusätzlich der Einsatz produktorientierter (→-3.8) beziehungsweise prozessorientierter (→-3.10) Herangehensweisen erforderlich ist (Krafft 2019b: 312). Um eine Variante des F R E I E N S CH R E IB E N S handelt es sich bei der écriture automatique. Bei diesem Verfahren wird ausgehend von einem Startimpuls (beispielsweise einem Reizwort oder einem Ton) in einem festgelegten Zeitraum automatisch, das heißt assoziativ und ohne motorische Unter‐ brechung sowie ohne Berücksichtigung von Normen und Konventionen, geschrieben. Reith/ Hülsmann/ Bräuer (2020: 183 ff.) betonen die Eignung 136 3 Schreiben <?page no="137"?> persona‐ les/ eman‐ zipatori‐ sches Schreiben kreatives Schreiben dieser Methode - in Kombination mit anschließenden Reflexionsgesprächen - für heterogene Lerngruppen und hier insbesondere für die Förderung von hochbegabten Schülerinnen und Schülern. Eine zweite Tendenz innerhalb des an der schreibenden Person orien‐ tierten Schreibunterrichts lässt sich unter der Prämisse Aufsatzerziehung als Hilfe zur Emanzipation (Ingendahl 1972) zusammenfassen. Hier wird ebenfalls der Wert des Schreibens als Hilfsmittel zur Generierung von Wissen und zur Identitätsfindung betont: Schreiben wird begriffen als eine Möglichkeit des Erkennens, des Sichselbster‐ kennens, der Selbsterfahrung im Umgang mit dem eigenen Ich und infolgedessen als eine Möglichkeit der Ausbildung eines eigenen, eines persönlichen Stils. (Ludwig 2006: 175) Sprache als emanzipatorische Kraft ermögliche die Befreiung aus historisch bedingten Abhängigkeiten - deshalb spiele die sprachliche Form der von den Lernenden produzierten Texte eine entscheidende Rolle. Insbesondere Schüler: innen, die in prekären Verhältnissen, in sogenannten bildungsfer‐ nen Familien und/ oder mit Deutsch als Zweitsprache aufwachsen, sind in diesem Zusammenhang möglicherweise benachteiligt, weil ihnen oft nur ein quantitativ und qualitativ eingeschränkter Input zur Verfügung steht. Ingen‐ dahl und weitere Vertreter: innen des P E R S ONAL E N S CH R E IB E N S fordern deshalb eine kompensatorische Spracherziehung auch im Schreibunterricht. Hier könnten unter anderem die Proben der operationalen Grammatik (→ 6.6) gewinnbringend eingesetzt werden, um sprachliche Nuancen bewusst zu machen und Formulierungsalternativen zu erproben. Erläuterung Als kompensatorische Spracherziehung wird der Versuch bezeichnet, die Probleme von Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligten Familien und/ oder mit quantitativ und qualitativ nicht ausreichendem sprachlichen Input zu beheben. Insbesondere seit der PISA-Debatte spielt kompensatorische Sprachförderung in der Deutschdidaktik eine wichtige Rolle. Die in der Praxis aktuell am stärksten vertretene Ausprägung schreiber: in‐ nenorientierter Konzeptionen stellt das K R EATIV E S CH R E IB E N dar. Hierbei ist 3.11 Schreiber: innenorientierter Schreibunterricht 137 <?page no="138"?> mit dem Begriff kreativ nicht in erster Linie ‚schöpferisch‘ im Sinne der ursprünglichen Bedeutung gemeint, sondern je nach Ausprägung entweder die Abweichung von Normen und Konventionen oder die Betonung persön‐ licher und subjektiver Ausdrucksformen. In den USA, wo das Schreiben traditionell sehr viel stärker als lernbare Technik angesehen wird, sind Kurse zum creative writing ein fester Bestandteil vieler Studiengänge. Im deutsch‐ sprachigen Raum wurde die Konzeption in den 1980er-Jahren zunächst in schulischen Kontexten, später auch im Rahmen der Erwachsenenbildung etabliert (Bothe 1998: 137; Abraham 2020: 364 f.). Das K R EATIV E wird häufig mit dem F R E I E N S CH R E IB E N in einem Atemzug genannt, ähnelt diesem auch durchaus bezüglich der Zielsetzungen. Hin‐ sichtlich der konkreten Vorgehensweise zeichnet es sich aber durch eine sehr viel stärkere methodische Lenkung aus: „Beim kreativen Schreiben scheut man sich […] nicht, Schreibimpulse zu geben, ausgehend von der Auffassung, dass man kreative Prozesse gezielt anregen und anstoßen kann“ (Spinner 2017e: 84). Es werden präzise und häufig bis ins Detail ausgefeilte Aufgabenstellungen formuliert, die sich jedoch von denen der traditionellen P R ODUKTO R I E NTI E R T E N A U F S ATZDIDAKTIK (→-3.8) trotzdem noch deutlich unterscheiden. Methoden des kreativen Schreibens Böttcher (1999: 22) unterscheidet sechs Methodengruppen: ■ Assoziative Verfahren (dienen insbesondere der Ideenfindung und dem Einstieg in den Schreibprozess; z. B. Clustering) ■ Schreibspiele (mehrere Personen arbeiten gemeinsam an einem Text, kooperatives Schreiben; z. B. Reihum-Geschichten) ■ Schreiben nach Vorgaben, Regeln und Mustern (inhaltliche, formale oder strukturelle Merkmale werden vorgegeben; z. B. Elfchen, Akrostichon) ■ Schreiben zu und nach literarischen Texten (durch Imitieren und Expe‐ rimentieren werden eigene Gestaltungsmöglichkeiten entdeckt; z. B. Fortsetzen literarischer Texte, perspektivisches Schreiben, Parodie) ■ Schreiben zu Stimuli (bildliche Darstellungen, Musik, Geräusche oder Ähnliches werden als Reize genutzt und regen kreative Prozesse an; z. B. Schreiben zu einem Kunstwerk oder zu einer Phantasiereise) ■ Weiterschreiben an kreativen Texten (hierbei werden kreative oder kriterienorientierte Überarbeitungstechniken eingesetzt; z. B. Textlupe) 138 3 Schreiben <?page no="139"?> Prinzipien des kreati‐ ven Schreibens: Irri‐ tation, Ex‐ pression, Imagina‐ tion Insbesondere beim Schreiben zu und nach literarischen Texten wird die Verbindung zur Literaturdidaktik deutlich: Einige Verfahren des HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S (→ 5.2) lassen sich auch in das K R EATIV E S CH R E IB E N verorten, so beispielsweise das häufig praktizierte Fortsetzen eines literarischen Textes oder das Umformulieren aus der Perspektive einer bestimmten Figur. Allerdings ist hier auf unter‐ schiedliche Schwerpunkte in der Zielsetzung hinzuweisen: Während es bei produktiven Verfahren im Literaturunterricht primär darum geht, sich dem Deutungsangebot eines literarischen Textes schreibend zu nähern, steht im Schreibunterricht die Förderung von Textproduktionskompetenz im Vordergrund - selbstverständlich spricht nichts dagegen, die beiden Arbeitsbereiche in einem integrativen Deutschunterricht (→ S. 349 f.) miteinander zu verknüpfen. Zahlreiche Vorschläge dazu finden sich in der einschlägigen Literatur, beispielsweise zum Verfassen verschiedener Gedichtformen (Elfchen, Schneeballgedicht, Rondell) bei Böttcher (1999). Gemeinsam sind den genannten Aufgabentypen drei grundlegende Prin‐ zipien (Spinner 1996: 82): ■ Irritation: Angestrebt wird eine Abweichung von gewohnten Denk- und Vorstellungsmustern. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Schreiben nach Regeln und Vorgaben an den Unterschieden zu geläufigen Aufga‐ benstellungen aus der traditionellen Aufsatzdidaktik - so wird beispiels‐ weise bewusst mit Reizwortzusammenstellungen gearbeitet, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Durch diese ‚Hindernisse‘, die den Schreibprozess zunächst verlangsamen, soll die Imaginationskraft der Lernenden aktiviert werden. ■ Expression: Die Schreiber: innen erhalten die Möglichkeit, sich subjektiv und individuell auszudrücken und sich somit selbst zu entfalten. ■ Imagination: Durch die Begegnung mit Neuem oder durch einen verän‐ derten Blick auf scheinbar bekannte Sachverhalte und das Einnehmen neuer Perspektiven soll die Einbildungskraft eingesetzt und gefördert werden. Problematisierung Das F R E I E S CH R E IB E N lässt aufgrund des Verzichts auf Vorgaben keine klaren schreibdidaktischen Lernziele zu, auch die Formulierung konkre‐ ter Kompetenzen gestaltet sich schwierig. Hingegen liegen zahlreiche 3.11 Schreiber: innenorientierter Schreibunterricht 139 <?page no="140"?> Bestätigungen aus der Praxis vor, die auf eine erstaunliche Entwicklung von Schreibmotivation schließen lassen. Gerade in der Grundschule sind deshalb einzelne Anregungen aus dem Konzept hilfreich - „nicht jedoch die grundsätzliche, letztlich einseitige Entscheidung zugunsten des freien Schreibens“ (Baurmann 2002: 62), die ignoriert, dass die Entwicklung von Schreibfähigkeiten auch auf Anstöße von außen angewiesen ist. Ansätze des P E R S O NAL E N und K R EATIV E N S CH R E IB E N S tragen dieser Erkennt‐ nis Rechnung. Durch präzise, teilweise irritierende und zu subjektiven Lösungen herausfordernde Aufgabenstellungen können sie reflektierte Schreibprozesse auslösen. Die heuristische (erkenntnisbildende) Funktion des Schreibens wird dadurch unterstützt, was insbesondere einen Einsatz bei fortgeschrittenen Schreiberinnen und Schreibern gegen Ende der Sekundar‐ stufe I oder in der Sekundarstufe II nahelegt. Viele Verfahren des K R EATIV E N S CH R E IB E N S wurden jedoch auch erfolg‐ reich mit jüngeren Schülerinnen und Schülern durchgeführt. Durch ein spielerisches Einüben und bewusstes Anwenden von Techniken werden verschiedene Aspekte des Schreibprozesses, besonders die Planung und Überarbeitung (→ 3.10) sowie die Orientierung an der lesenden Person (→ 3.9), bereits im Grundschulalter gefördert; positive Effekte ließen sich bereits ansatzweise empirisch nachweisen (Böttcher/ Becker-Mrot‐ zek 2003: 32). Andererseits erinnert Schäfer an Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass traditionelle Schreibaufgaben gerade im Bereich der Kreativitätsentwicklung den Verfahren des K R EATIV E N S CH R E IB E N S erstaunlicherweise sogar überlegen seien (2013: 332). Hervorzuheben ist, dass Kinder und Jugendliche auch beim K R EATIV E N S CH R E IB E N nicht nur auf geeignete Aufgabenstellungen, sondern auch auf eine fundierte Rückmeldung zu ihren Texten angewiesen sind. Abraham (2020: 373 ff.) plädiert im selben Zusammenhang für eine Verbindung produkt- und schreiber: innenorientierter Vorgehensweisen. So kann der Gefahr entge‐ gengewirkt werden, „dass die Authentizität der Texte überhöht werde, ohne an ihrer Qualität zu arbeiten. Eine Weiterentwicklung der Schreib‐ fähigkeiten können die Schülerinnen und Schüler nicht aus sich selbst heraus schöpfen“ (Schäfer 2013: 332). 140 3 Schreiben <?page no="141"?> Aufgaben 1. Machen Sie sich mit der vor allem in der Grundschule häufig eingesetz‐ ten Form des Elfchens (s. z. B. Böttcher 1999: 57 ff.) vertraut. Formulieren Sie eine didaktische Begründung für den Einsatz dieser lyrischen Form und reflektieren Sie diese kritisch. 2. Ist eine Bewertung kreativer Texte Ihrer Ansicht nach möglich/ sinn‐ voll/ erforderlich? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B ÖT T C H E R , I. (1999) (theoretische Begründung und Darstellung unterschiedlicher Richtungen des K R E A T I V E N S C H R E I B E N S ) I N G E N D AH L , W. (1972) (begründet das P E R S O N A L E S C H R E I B E N mit emanzipatorischer Zielsetzung und grenzt sich von der traditionellen Aufsatzdidaktik ab) Praxis Deutsch 119 (1996) (enthält neben dem zitierten Basisartikel von Spinner zahlreiche Unterrichtsvorschläge für das K R E A T I V E S C H R E I B E N ) S E N N L A U B , G. (1998) (Plädoyer für das F R E I E S C H R E I B E N anstelle des traditionellen produktorientierten Aufsatzunterrichts) Tipps für den Unterricht im Kompetenzbereich Schreiben Rechtschreiben ■ Planen Sie Ihren Rechtschreibunterricht - auch wenn er integrativ angelegt ist - nicht von inhaltlichen Aspekten, sondern von ortho‐ graphischen Phänomenen ausgehend. ■ Überlegen Sie sich genau, welche (evtl. verschiedenen) Möglichkei‐ ten zur Erklärung des zu behandelnden Phänomens es gibt, und entscheiden Sie sich erst dann für eine rechtschreibdidaktische Konzeption. ■ Neben der Anwendung von Strategien und der Automatisierung von Schreibungen sollte auch der Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Wör‐ terbücher, Rechtschreibtools in Textverarbeitungsprogrammen) in Ihrem Unterricht thematisiert werden. ■ Häufig sehen Außenstehende den Sinn von Rechtschreibunterricht in der Vorbereitung auf Diktate oder ähnliche Formen der Leistungs‐ messung. Zielpunkt Ihres Rechtschreibunterrichts sollte hingegen 3.11 Schreiber: innenorientierter Schreibunterricht 141 <?page no="142"?> die Anwendung orthographischer Fähigkeiten bei der Produktion eigener Texte sein. Vertreten Sie das auch Schülerinnen und Schülern sowie Eltern gegenüber. ■ Überprüfen Sie die Rechtschreibleistungen Ihrer Schüler: innen nicht (beziehungsweise nicht ausschließlich) durch Diktate. Setzen Sie alternative Methoden der Leistungsmessung ein, bei denen die im Unterricht erworbenen Fertigkeiten möglichst direkt angewandt werden können. Texte schreiben ■ Auch wenn Sie je nach Schreibaufgabe unterschiedliche Akzente setzen, sollten alle oben behandelten Konzeptionen in Ihrem inte‐ grativen Schreibunterricht eine Rolle spielen. ■ Nutzen Sie Möglichkeiten, Schreibaufgaben mit Themen aus an‐ deren Lernbereichen (auch dem Literaturunterricht) und anderen Fächern zu verbinden. ■ Zur Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache ist es wichtig, dass Sie Schriftlichkeit generell einen hohen Stellenwert in Ihrem Unterricht einräumen. Legen Sie dabei besonderes Augenmerk auf lexikalisch und grammatikalisch bildungssprachliche Elemente. ■ Berücksichtigen Sie bei der Bewertung von Texten produktorien‐ tierte Aspekte, indem Sie beispielsweise Kriterienkataloge zugrunde legen, die (möglichst) gemeinsam mit den Schülerinnen und Schü‐ lern erarbeitet wurden. Beziehen Sie aber je nach Schreibaufgabe auch leser: innenorientierte (z. B.: Wird der Text seiner kommunika‐ tiven Funktion gerecht? ), prozessorientierte (z. B.: Sind Planungs- und Überarbeitungsprozesse zu erkennen? ) und schreiber: innenorien‐ tierte (z. B.: Ist ein Erkenntnisgewinn festzustellen? ) Gesichtspunkte ein. 142 3 Schreiben <?page no="143"?> PISA = Pro‐ gramme for Interna‐ tional Stu‐ dent As‐ sessment 4 Lesen Bildungsstandards über Lesefähigkeiten verfügen - über Leseerfahrungen verfügen - Texte erschließen - verschiedene Lesetechniken beherrschen - Stra‐ tegien zum Leseverstehen kennen und anwenden Kaum ein Bildungssystem einer vergleichbaren Industrienation produziert so viele schwache und sehr schwache Leser wie Deutschland, und kaum irgendwo ist der Zusammenhang zwischen Leseleistung, Schichtzugehörigkeit und formaler Schullaufbahn so eng wie hier. (Rosebrock 2008: 175; s. hierzu auch Rosebrock 2014a) In diesem Buch wird dem Bereich Lesen - im Folgenden stets verstanden als textverstehendes Lesen (Schmid-Barkow 2013) - ein eigenes größeres Kapitel gewidmet. Damit reagieren wir auf bestimmte bildungspolitische und fachdidaktische Entwicklungen, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Lesen gilt - neben Rechnen und Schreiben - als eine der wichtigsten Kulturtechniken, die auch in der modernen ‚Mediengesellschaft‘ nicht an Bedeutung verloren hat. Die gezielte Förderung unterschiedlicher Dimensionen des Lesens über den Anfangsunterricht hinaus war bis vor einiger Zeit erstaunlicherweise - die einzige Ausnahme bildete die Förderung der ‚Leselust‘ - ein Stiefkind sowohl der Didaktik als auch der schulischen Praxis. Man ging mehr oder weniger stillschweigend von der Annahme aus, dass die vornehmlich kogni‐ tiv orientierten Grundoperationen des Lesens (also z. B. die Automatisierung der Leseflüssigkeit oder das Anwenden von Lesestrategien) entweder mit Abschluss der Primarstufe vollständig entwickelt seien oder sich nebenbei, beim zunehmenden Umgang mit literarischen Texten in höheren Jahrgangs‐ stufen, ausbildeten. Zu einem allmählichen Umdenken führte erst der ‚PISA-Schock‘ im Jahre 2001, als die OECD ihre weltweite Studie (Vergleichstest der Leistungen 15-jähriger Schüler: innen) vorstellte: Beinahe jede: r vierte getestete deut‐ sche Schüler: in hatte enorme Schwierigkeiten beim Lesen (und somit beim Textverstehen), sodass Deutschland im Ranking lediglich Platz 22 (von 23! ) <?page no="144"?> OECD = Organisa‐ tion for Economic Co-opera‐ tion and Develop‐ ment belegte. Damit wurde offensichtlich, dass die Fachdidaktik und die Schulen in einem katastrophalen Ausmaß einen der wichtigsten Lernbereiche ver‐ nachlässigt hatten. Den PISA-Studien liegt folgende Modellierung von Lesekompetenz zu‐ grunde: Abb. 6: Theoretische Struktur der Lesekompetenz in PISA (n. Deutsches PISA-Konsortium 2000: 34) Hinweis Neben dem Lesekompetenzmodell von PISA gibt es noch weitere psycho‐ metrisch orientierte, die für die Deutschdidaktik von Interesse sind: das IGLU- (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) und das DESI- Modell (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International). Lesekompetenz in diesem Sinne - also vornehmlich orientiert an der sogenannten Reading Literacy - „heißt geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Deutsches PISA-Konsortium 2000: 24). Den PISA- Studien liegen aufgrund der Zusammenfassung der fünf Dimensionen der Lesekompetenz (s. Kasten) schließlich nur noch drei Dimensionen (Informa‐ 144 4 Lesen <?page no="145"?> tionen ermitteln - textbezogenes Interpretieren - Reflektieren und Bewerten) zugrunde; jeder einzelnen lassen sich die unten stehenden Kompetenzstufen zuordnen. Erläuterung Reading Literacy bezeichnet im angelsächsischen Raum die Fähigkeit, Lesen in unterschiedlichen, für die Lebensbewältigung praktisch be‐ deutsamen Kontexten einsetzen zu können. Der Bereich der literari‐ schen Bildung wird hiervon nicht erfasst. Obwohl es kein mit der PISA-Konzeption verbundenes Ziel ist, alle weiteren möglichen - ebenso wichtigen - Dimensionen des Lesens einer Testung zu unterziehen und folglich in erster Linie auf Sachtexte (→-S.-154) rekurriert wurde (von den 129 PISA-Aufgaben waren lediglich 17 literarischen Texten gewidmet), reagieren einige Fachdidaktiker: innen mit Recht bis heute äu‐ ßerst kritisch auf die damit verbundene, häufig unreflektierte Ausweitung der Kompetenzorientierung. Stufen der Lesekompetenz I: Oberflächliches Verständnis einfacher Texte II: Herstellen einfacher Verknüpfungen III: Integration von Textelementen und Schlussfolgerungen IV: Detailliertes Verständnis komplexer Texte V: Flexible Nutzung unvertrauter, komplexer Texte Dieser kritische Blick ist überaus wichtig für das Lernen im Deutschun‐ terricht, denn nicht alle Fähigkeiten und Haltungen, die insbesondere im textorientierten Unterricht (Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen → 5) ausgebildet werden (und selbstverständlich auch mit dem Lesen zu tun haben), lassen sich kompetenzorientiert erfassen (→ S. 144). Darauf muss immer wieder hingewiesen werden, denn vor allem die derzeitigen schuli‐ schen Entwicklungen neigen zur Vernachlässigung dieser Problematik: Das 4 Lesen 145 <?page no="146"?> Arbeiten mit sogenannten ‚Kompetenzrastern‘ beispielsweise leistet dieser nicht aufzuhaltenden Entwicklung Vorschub. Hinweis Konnten die deutschen Schüler: innen bis zur vorletzten Erhebung (2009) nur ein wenig aufholen, lag das Ergebnis zur Lesekompetenz bei der letzten im Jahr 2018 etwas über dem OECD-Durchschnitt. Diese Raster werden zunehmend als ein besonders geeignetes Mittel zur Umsetzung und Operationalisierung der Bildungsstandards angesehen. Hier ist nun kein Raum, um eine Kompetenz(raster)-Debatte weiter (kritisch) zu verfolgen. Für ganz bestimmte Bereiche des Deutschunterrichts erscheinen eine kompetenzorientierte Operationalisierung und damit auch der Einsatz von Kompetenzrastern insbesondere vor dem Hintergrund einer individua‐ lisierenden Förderung von Schülerinnen und Schülern jedoch möglich und sinnvoll. Dies gilt in besonderem Maße für einige Teildimensionen des Lesens. Hinweis Das Institut Beatenberg (institutbeatenberg.ch) hat sich im Jahre 1999 erstmalig mit der Erstellung von Kompetenzrastern (zur grundsätzli‐ chen Kritik s. z. B. Jeuk/ Schäfer 2013b u. Dammer 2019: 42 f.) beschäftigt. Seitdem haben diese Raster einen nicht unproblematischen ‚Siegeszug‘ durch die Bundesrepublik angetreten. Die Fachdidaktik hat auf das oben vorgestellte PISA-Lesekompetenz-Kon‐ strukt reagiert und eigene Modellierungen entwickelt, um das von PISA bewusst Ausgeblendete adäquat auszufüllen (s. z. B. das sozialisationsspe‐ zifische Modell von Hurrelmann 2002). Unter anderem darauf aufbauend haben Rosebrock/ Nix (2020) ein didaktisch orientiertes Mehrebenenmodell des Lesens vorgestellt, auf das wir in diesem Kapitel dezidiert eingehen werden. Wir verstehen die Arbeit von Rosebrock/ Nix als den bisher überzeugendsten Versuch, den Bereich der Leseförderung für die Arbeit an Schulen praxisnah und leicht verständlich zu konzeptionalisieren. 146 4 Lesen <?page no="147"?> Von daher lehnen wir uns auch in systematischer Hinsicht eng an diese Monographie an. Diese Einleitung beschließend kommen wir auf die von uns vorgenom‐ mene Trennung der beiden Lernbeziehungsweise Kompetenzbereiche Lesen und Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen zurück. Im Jahre 2003 wurden die ersten Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss vorgestellt. Im darauffolgenden Jahr erschienen die Bildungs‐ standards im Fach Deutsch für den Primarbereich und die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss. Hinweis Die Bildungsstandards können unter kmk.org abgerufen werden. In diesen älteren Bildungsstandards wurden die beiden oben genannten Be‐ reiche zusammengefasst. Eine möglicherweise pragmatische Entscheidung, die sich jedoch auch inhaltlich begründen lässt, da der Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen naturgemäß stets auch mit Lesen verbunden ist - eine Tatsache, die immer wieder zu größeren Problemen in der Deutschdidaktik führen kann. Bis heute ist eine „Antinomie zwei[er] Kulturen in der Deutschdidaktik: die einer primären Leseförderung und die eines Literaturunterrichts, in dem es vor allem um die analytische Ausein‐ andersetzung mit kanonischen Texten gehen soll“ (Fehr 2007: 45 f.), spürbar. Maiwald beispielsweise fragt grundsätzlich: „Soll sich der Deutschunter‐ richt um praktische Lesefertigkeiten oder um schöngeistiges Literaturlesen kümmern? ” (2010: 60); Rosebrock/ Scherf haben 2019 ein kleines Büchlein vorgelegt, das Anfängerinnen und Anfängern grundlegende Fragen rund um die Lese- und Literaturdidaktik beantworten möchte. Erst im Jahre 2012, als die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife fertiggestellt waren, erfolgte in diesem Dokument eine Trennung, womit erstmalig ein prozessbezogener (Lesen) von einem domänenspezifischen Bereich (Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen) unterschieden wurde. An diese mitunter künstlich wirkende und dennoch gerade für die unterrichtliche Praxis äußerst sinnvolle Unterscheidung lehnen wir uns an. Nichtsdestotrotz trifft man in der Deutschdidaktik weiterhin auf eine Zusammenfassung der beiden Bereiche (s. zuletzt z. B. den empfehlenswer‐ ten Überblicksartikel von Kammler 2017a). 4 Lesen 147 <?page no="148"?> Lese‐ schwache Schüler: in‐ nen Der Terminus L E S E FÖR D E R UN G umfasst alle Maßnahmen, die vornehmlich schwächere Leser: innen auf „den eigentlichen Sach- und Literaturunter‐ richt“ (Rosebrock/ Nix 2020: 59) vorbereiten. In Anbetracht dessen sollten lesefördernde Verfahren anderen konzeptionellen Ansätzen der Deutschdi‐ daktik zumeist vorauslaufen oder begleitend dazu eingesetzt werden. Die unterschiedlichen Ansätze und Programme lassen sich (im Hinblick auf hierarchiehöhere Prozesse, s. u.) zwei unterschiedlichen Ansätzen zuordnen: Zum einen wird auf der Grundlage kognitionspsychologischer Modelle des Textverstehens die Vermittlung und Einübung von Lesestrategien sowie von Strategien der kognitiven und motivati‐ onalen Selbstregulation propagiert […]. Zum anderen wird auf der Basis eines sozialisationstheoretisch und lesedidaktisch orientierten Erwerbsmodells von Lesekompetenz allein oder zusätzlich auf Maßnahmen der Leseanimation und zur Förderung des Leseinteresses gesetzt. (Gold 2007: 107) Daneben werden drittens auch - als unmittelbare Folge der ‚Entdeckung‘ der US-amerikanischen Leseförderung - hierarchieniedrige Prozesse (s. u.) gezielt in den Blick genommen und gefördert. Eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte stellt die Leseförderung für leseschwache Schüler: innen dar. Zur ersten Orientierung bieten sich drei miteinander verbundene Beiträge von Philipp (2011a, 2011b, 2011c) an, in denen er allgemeine Prinzipien und ‚Gebote‘ der Lese- und Schreibförderung vorstellt und Tipps zur Implementierung von Lesestrategien (→ S. 160 ff.) gibt. Einen etwas umfangreicheren, ebenso praxisorientierten Überblick zur Gesamtproblematik der Förderung leseschwacher Schüler: innen (mit und ohne Migrationshintergrund) bietet Sigel (2010); in dem Online-Dokument werden neben sinnvollen Hinweisen zur Unterrichts- und Organisations‐ entwicklung auch zwei lesediagnostische Beobachtungsbögen (Münchner Lese-Beobachtungsbögen) vorgestellt. Allgemeine Informationen zur Dia‐ gnostik von Leseleistungen finden sich bei Wildemann (2012a); dort finden sich auch einige Prüfverfahren für Grundschüler: innen. Gailberger/ Nix (2013) bieten vor dem Hintergrund einer diagnostischen Perspektive einen umfangreichen Überblick zur systematischen Leseförderung. 148 4 Lesen <?page no="149"?> Darstellung Bei der L E S E FÖR D E R UN G handelt es sich nicht um eine fachdidaktische Kon‐ zeption im engeren Sinne, sondern um eine Vielzahl sehr unterschiedlicher methodischer Vorschläge zur Steigerung der Lesekompetenz, die systema‐ tisch von Rosebrock/ Nix (2020) aufgearbeitet wurden. Hinweis Allgemein zum Lesen von Texten ist das grundlegende Lehrbuch von Garbe/ Holle/ Jesch 2010 hilfreich; einen hervorragenden ersten Ein- und Überblick in das Feld - evidenzbasierter - Lesefördermaßnahmen in der Grundschule bieten Wild/ Schilcher 2019; einen praxisorientierten Ge‐ samtüberblick zur systematischen Förderung des eigenständigen Lesens in der Grundschule liefert das Heft 4/ 2019 der Zeitschrift Grundschule. Mit dem Buch von Rosebrock/ Nix ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Terminus L E S E FÖR D E R UN G von Lehrenden nicht mehr vorrangig beziehungsweise ausschließlich als Leseanimation wahrgenommen wird. Sie haben in ihrer Darstellung unter anderem auf ein US-amerikanisches Fortbildungskonzept (Schoenbach et al. 2006) - Reading Apprenticeship - zurückgegriffen, das Gaile ‚entdeckt‘ und in Deutschland bekannt gemacht hat (ebd.). Aufgrund des erstmaligen Systematisierungsversuchs - verbun‐ den mit einer engen Anknüpfung an ein eigenes Lesemodell (s. u.) - verste‐ hen wir die Arbeit von Rosebrock/ Nix als ein grundlegendes ‚Dach‘ der Leseförderung, der folglich ein übergeordneter konzeptioneller Charakter zuerkannt werden sollte. Die theoretische Grundlage von Rosebrock/ Nix bildet ein Konstrukt von Lesekompetenz, das über den Lesekompetenzbegriff nach PISA hinausgeht. Während PISA sich in erster Linie auf den Prozess der Informationsent‐ nahme und -verarbeitung konzentrierte, hat - wie oben angedeutet - die Deutschdidaktik in kritischer Abgrenzung davon weit darüber hinaus‐ reichende Aspekte mit berücksichtigt (grundlegend Groeben/ Hurrelmann 2009), die beim Lesen eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle spielen: soziale und subjektive Dimensionen. Rosebrock/ Nix haben vor diesem Hintergrund ein sogenanntes Mehrebenenmodell des Lesens vorgestellt. 4 Lesen 149 <?page no="150"?> Tipp Sehr gut veranschaulichend erläutert wird das Modell unter leseforum. ch/ sysModules/ obxLeseforum/ Artikel/ 480/ 2012_3_Rosebrock.pdf. Abb. 7: Das Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock/ Nix 2020: 15) Im Zentrum der Kreise (Prozessebene) stehen kognitive Aktivitäten des Lesevor‐ gangs, die in fünf Dimensionen unterschieden werden können (ausführlich Rosebrock/ Nix 2020: 17 ff. u. Rosebrock/ Wirthwein 2014: 14 ff.). Diese theore‐ tisch voneinander abgrenzbaren Aktivitäten laufen nicht nacheinander ab, sondern vollziehen sich gleichzeitig während des Leseprozesses. Kognitionspsychologische Grundlagen der Textverarbeitung Bei der Bedeutungskonstitution von Texten (im Mehrebenenmodell von Rosebrock/ Nix unter ‚Prozessebene‘ gefasst) spielen bestimmte basale kognitive Prozesse eine Rolle (im Folgenden beziehen wir uns auf Christmann/ Schreier 2003): 150 4 Lesen <?page no="151"?> 1. Wortebene Die Verarbeitung von Texten beginnt auf der Wortebene. Es wird heute davon ausgegangen, dass sowohl Buchstaben als auch Wörter im Gehirn gespeichert werden. Beim Lesen wird dann entweder auf den gespeicherten Buchstaben oder auf das Wort zurückgegriffen. Wörter werden allerdings nicht in isolierter Form, sondern innerhalb eines sprachlichen Kontextes ‚abgelegt‘ - dies erleichtert Leserinnen und Lesern anschließend den kognitiven Zugriff. 2. Satzebene Um im Verstehen eines Textes voranzuschreiten, müssen die Wortfolgen aufeinander bezogen und strukturiert werden. Nach herrschender Mei‐ nung kann man davon ausgehen, dass der hauptsächliche Zugriff auf der Grundlage semantischer Relationen zustande kommt (Semantik = Lehre von der Bedeutung der Zeichen). Mitunter muss die semantische Analyse allerdings durch eine syntaktische ergänzt werden (Syntax = Satzlehre): Die Leser: innen können mithilfe ihres syntaktischen Wissens bestimmte Vorhersagen treffen beziehungsweise Zuordnungen vornehmen (z. B., dass das Subjekt zumeist am Anfang, das Prädikat in der Mitte und das Objekt am Ende eines Satzes stehen). Dies kann ihnen dabei helfen, rasch Bedeutungen zu konstituieren. 3. Textebene Schließlich müssen Leser: innen Verknüpfungen zwischen den Sätzen herstellen. An der Bildung dieser lokalen Kohärenz sind sowohl Hin‐ weise (z. B. durch Wortwiederholungen oder durch die Verwendung von Pronomina) aus dem Text als auch das Vor- und Weltwissen der Leser: innen beteiligt. Bei längeren und komplexeren Texten bildet sich während des Leseaktes nach und nach eine Makrostruktur (= Verdich‐ tung von Mikropropositionen) aus. An der aktiven Bedeutungskonstitution sind darüber hinaus noch wei‐ tere, sehr komplexe - insbesondere schlussfolgernde - Prozesse beteiligt (zur Vertiefung s. ebd.: 255 ff.). Auf der Subjektebene spielen neben dem Aspekt des Antriebs/ der Motivation folgende Komponenten eine bedeutsame Rolle: Weltwissen, Reflexion und innere Beteiligung. Das lesebezogene Selbstkonzept ist für didaktische Überlegungen der möglicherweise problematischste Ansatzpunkt: Es ist 4 Lesen 151 <?page no="152"?> häufig so verfestigt, dass es mit den Mitteln, die der heutigen Schule zur Verfügung stehen, nicht immer aufgebrochen werden kann, sodass folglich trotz aller Bemühungen lesefördernde Maßnahmen in der Schule ins Leere laufen können. Leichte/ einfache/ vereinfachte Texte Wie oben bereits angemerkt (→ S. 147), gibt es in der Deutschdidaktik seit längerer Zeit mehrere ‚Lager‘: Während die einen - äußerst grob verallgemeinert - literarische Texte in erster Linie unter lesefördern‐ den Aspekten betrachten (und entsprechend eingesetzt sehen wollen), möchten andere (bestimmte) literarische Texte stärker als Kunstwerke rezipiert sehen und empfinden eine Vereinfachung als äußerst proble‐ matisch (s. hierzu Olsen 2016; Frickel/ Kagelmann 2020). Eine weitere Herangehensweise besteht darin, literarische Texte in ‚vereinfachter‘ Form anzubieten, insbesondere in inklusiven Kontexten. Es liegt nahe und empirische Studien (z. B. Brüggemann/ Stark/ Fekete 2020) zeigen es auch mehr oder weniger deutlich: Gerade Schüler: innen mit einem problematischen Leseselbstkonzept empfinden vereinfachte Texte als ‚ansprechender‘ - dies sollte die Deutschdidaktik jedoch nicht dazu ver‐ leiten, lediglich ein entsprechendes textuelles Angebot zu unterbreiten. Zumindest im Primar- und Sekundarbereich ist unschwer zu erkennen, dass vornehmlich Texte herangezogen werden, die Schülerinnen und Schülern so wenig Schwierigkeiten wie möglich bereiten (sollen). Dass durch ein derartiges Vorgehen den Kindern und Jugendlichen unter anderem wertvolle ästhetische Erfahrungen vorenthalten werden, liegt auf der Hand. Unserer langjähriger Beobachtung nach scheinen sowohl Studentinnen und Studenten als auch Lehrpersonen literarische Texte hauptsächlich unter funktionaler Perspektive auszuwählen und entspre‐ chend zu instrumentalisieren - und das Angebot in vielen Schulbüchern und in vergleichbaren Materialien spielt ihnen in eben diesem Sinne in der Regel leichterdings ‚in die Hand‘. Der Einsatz sogenannter ‚leichter‘ oder ‚vereinfachter‘ Texte (s. zur Problematik der Terminologie Topalović/ Diederichs 2020) ist aus le‐ sedidaktischer Perspektive natürlich nicht per se problematisch, im Hinblick auf literaturdidaktische Zielsetzungen jedoch sehr wohl, wenn eine Zunahme des Einsatzes dieser Texte ein herausforderndes Lesen im Literaturunterricht verhindern sollte. Vom Idealfall eines Deutsch‐ 152 4 Lesen <?page no="153"?> unterrichts ausgehend (Berücksichtigung vielfältiger Texte unter ver‐ schiedenen fachdidaktischen Perspektiven), ist das Einsetzen ‚leichter Texte‘ selbstverständlich äußerst sinnvoll und unabdingbar - auch und gerade aus inklusiver Perspektive (s. hierzu beispielsweise Köb/ Sansour/ Vach 2019). Rosebrock (2019; s. grundsätzlich zum Phänomen der Textverständlichkeit - mit Textbeispielen - auch Sander/ Rosebrock 2016) hat sich in einem inklusionsorientierten Grundlagenbeitrag mit dem Phänomen dieser Textform auseinandergesetzt und stellt dort unter anderem entsprechende Kategorien der Textverständlichkeit vor, die wir im Folgenden stark verkürzt wiedergeben (s. einführend zu dieser Thematik auch Köster 2018): Textseitige Kategorien des Einfachen und Komplexen Einfachheit von Texten auf der Ebene der sprachlichen Oberfläche Texte können einfacher gelesen werden, wenn kurze Wörter und kurze Sätze verwendet werden; damit einher geht ein einfacher, alltagsnäherer Sprachstil. Hinzu kommt ganz grundsätzlich, dass der jeweilige Text‐ umfang kurz gehalten ist. Einfachheit von Texten auf der Ebene kleinräumiger Bedeutungszusam‐ menhänge Texte sind einfacher, wenn engmaschig sprachliche Bezüge (in der Regel in aufeinanderfolgenden Sätzen) hergestellt werden (Koreferenz). Daneben werden in derartigen Texten neue Informationen zumeist eng an bekannte angebunden. Schließlich zeichnen diese Texte (insbe‐ sondere Sachtexte) sich auch dadurch aus, dass sie intensiv kausale Verknüpfungen nutzen. Einfachheit von Texten auf der Ebene des globalen inhaltlichen Zusam‐ menhangs Bei einfachen Texten werden inhaltliche Beziehungen zwischen einzel‐ nen (Unter-)Themen stark verdeutlicht, zum Beispiel durch Zwischen‐ überschriften und/ oder Hervorhebungen. Einfachheit von Texten auf der Ebene des globalen formalen Zusammen‐ hangs Insbesondere Lehrtexte zeichnen sich in ihrer Musterhaftigkeit (‚Super‐ strukturen‘) dadurch aus, dass die Informationen hierarchisch struktu‐ 4 Lesen 153 <?page no="154"?> riert sind: Das Abstraktionsniveau der einzelnen Ebenen ist absteigend angeordnet. Allerdings können bestimmte einfache Texte auch genau gegensätzlich aufgebaut sein. Einfachheit von Texten in Bezug auf das Wissen und die Motivation der Adressatinnen und Adressaten Texte sind einfach, wenn sie an die Wissensbestände der Leser: innen anknüpfen. Während dies bei Sachtexten hauptsächlich mithilfe vor‐ strukturierender Elemente geschieht, übernimmt diese Rolle bei Erzähl‐ texten (für Kinder und Jugendliche) eine literarische Figur, an die eigene Erfahrungen angeknüpft werden können. Funktion von Bildern für die Einfachheit von Texten In diesem Kontext kann es nur um Bilder gehen, die keinen künstleri‐ schen Anspruch haben. Derartige Bilder können dabei helfen, einen Text zu vereinfachen, zum Beispiel indem sie Sachverhalte in der Regel durch ein Doppeln illustrieren und damit das Textverständnis erleichtern. Es sollte bereits an dieser Stelle deutlich geworden sein, dass diese Kategorien hauptsächlich aus der Analyse von Sachtexten gewonnen wurden und sich folgerichtig auch zuvörderst auf derartige Texte bezie‐ hen lassen. Zu literarischen Texten merkt Rosebrock an: Maximale Verständlichkeit von Texten ist […] in erster Linie nur dann anzustreben, wenn die Inhalte unvertraut sind und erlernt werden sollen. Aus didaktischer Perspektive ist das in der Regel bei Lehrtexten, nicht aber bei literarischen der Fall. (2019: 99) Ein bewusst anzustrebendes Nichtverstehen beispielsweise, das bei lite‐ rarischen Texten durchaus eine bestimmte Rolle spielen kann, erörtern wir an anderer Stelle (→-S.-189-f.). Einen Einblick in die konkrete schulische Arbeit mit ‚leichten Texten‘ zum Einsatz von Balladen in einer 7. Klasse einer inklusiven Gesamt‐ schule bieten Dube/ Priebe (2020). Fuhrhop/ Schreiber (2020) problema‐ tisieren die Vereinfachung von Kinderbuchklassikern (hier am Beispiel von Defoes Robinson Crusoe) aus sprachwissenschaftlicher Perspektive und möchten mit ihren Analyseinstrumenten der Literaturwissenschaft ein „interessantes Handwerkszeug“ (ebd.: 95) zur Verfügung stellen: Wir empfehlen ihre Ausführungen - sowie in dieser Hinsicht auch 154 4 Lesen <?page no="155"?> diejenigen von Topalović/ Diederichs (2020) - explizit auch für lese- und literaturdidaktische Zusammenhänge. Schließlich macht Kruse (2020b) darauf aufmerksam, dass Medienverbünde eine sinnvolle Brücke zur (nicht zu vereinfachenden! ) Literatursprache darstellen können. Der Austausch über Gelesenes umfasst die soziale Ebene. Rosebrock/ Nix stellen fest: „Man könnte die gesamte Schule mit ihrem Fächerkanon als eine Institution beschreiben, die gesellschaftlich eingerichtet wurde, um kompetente Anschlusskommunikationen an Texte sicherzustellen“ (2020: 19). Vor diesem Hintergrund ließe sich zum Beispiel die literaturdidaktische Konzeption L IT E R A R I S CH E S U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→ 5.4) auch unter L E S E FÖR ‐ D E R UN G subsumieren. Obwohl gute Gründe dafür sprechen, plädieren wir für eine Sonderstellung, da das L IT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH nach dem Heidelberger Modell eindeutig auch andere und weitergehende Ansprüche aufweist, die über eine Lesedidaktik im engeren Sinne weit hinausgehen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R ‐ T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT (→ 5.2), der mitunter als lesefördernde Konzeption angesehen wird (Lührs 2012). Zur Effektivität des Leseunterrichts Philipp (2013) hat untersucht, welche Förderansätze (auch für den Schreibunterricht) sich in Einzelstudien als effektiv erwiesen haben. Folgende Trends kann er aufzeigen (s. ebd.: 157 ff.; im Folgenden nur exemplarisch): Besonders effektiv seien: ■ die Vermittlung von Lesestrategien (→ S.-160-ff.) ■ kooperative Lernformen ■ der Einsatz des Computers ■ die Auswahl motivierender Texte ■ die Partnerarbeit und die Arbeit in Kleingruppen ■ eine ‚explizite Vermittlung‘ (z. B. das Aufzeigen des Stundenziels oder das Erteilen systematischer Rückmeldungen) Das Mehrebenenmodell des Lesens bildet den Ausgangs- und Zielpunkt der lesedidaktischen Verfahren, die im Folgenden aufgeführt werden - sie 4 Lesen 155 <?page no="156"?> können auch die Grundlage bilden „für inklusiv intendierte Leseförderung“ (Wrobel 2019: 274). 4.1 Lautlese-Verfahren Diese Verfahren streben in der Regel an, die Leseflüssigkeit von Schülerin‐ nen und Schülern zu verbessern. Weitere Zielsetzungen, Überschneidungen zum Vorlesen (→ S. 176 ff.) und andere Aspekte werden im Themenheft Lautes Lesen der Zeitschrift Leseräume (H. 6/ 2020) thematisiert. Reading fluency wird in der angelsächsischen Leseforschung als eigenständige Kom‐ ponente von Lesekompetenz beschrieben. Sie lässt sich in vier Dimensionen differenzieren: das genaue Dekodieren von Wörtern, die Automatisierung der Dekodierprozesse, eine angemessene Lesegeschwindigkeit und die Fähigkeit zur sinngemäßen Betonung beim Vorlesen. Diese Verfahren sind in erster Linie für diejenigen Schüler: innen geeignet, „die auf der hierarchieniedrigen Prozessebene Probleme mit dem Lesen haben und deren Leseflüssigkeit nur mangelhaft ausgebildet ist“ (Rosebrock/ Nix 2012: 29). Insofern überrascht es nicht, dass in Evaluationsstudien im englisch- und deutschsprachigen Raum insbesondere bei Schülerinnen und Schülern aus bildungs- und schriftfernen Elternhäusern sowie aus Familien mit Migrationshintergrund positive Ergebnisse erzielt wurden (Geist/ Krafft 2019: 66 f.). Daneben legen andere Studienergebnisse den Schluss nahe, dass die Förderung der Lese‐ flüssigkeit am Ende der Grundschulzeit wieder stärker in den Hintergrund treten sollte (s. hierzu beispielsweise die etwas ernüchternden empirischen Ergebnisse zur Wirksamkeit entsprechender Lautlese-Verfahren mit peer‐ orientierten Tandems in der Grundschule von Lauer-Schmaltz 2014): Ältere Schüler: innen profitierten möglicherweise eher von Fördermaterialien mit dem Schwerpunkt Leseverständnis (Kawohl 2015: 339). Varianten der Wiederholung ■ aus einem Lieblingsbuch vorlesen ■ Gestaltung einer ‚Radiosendung‘ ■ Erstellung eines Hörbuchs ■ jüngeren Schülerinnen und Schülern einen Text vorlesen ■ ein Lesetheater aufführen 156 4 Lesen <?page no="157"?> Problematisch ist, dass Lautlese-Verfahren trotz des mittlerweile varianten‐ reichen Angebots (Kawohl 2015: 37; s. hierzu auch Kutzelmann/ Rosebrock 2018, Rosebrock et al. 2019 u. Wild/ Schilcher 2019) in deutschen Schulen immer noch nicht sehr bekannt sind. Die Verfahren sind gekennzeichnet durch zwei Grundformen: Erstens gibt es das wiederholte Lautlesen, das schon in den 1970er-Jahren entwi‐ ckelt wurde. Zumeist müssen die Schüler: innen hierbei einer Tutorin be‐ ziehungsweise einem Tutor einen kürzeren Text so oft vorlesen, bis sie einen bestimmten Wert an gelesenen Wörtern (pro Minute) erreicht haben. Van Zadelhoff kann in ihrer empirischen Studie nachweisen, dass dieses kooperativ orientierte Leseverfahren einer spezifischen Einzelförderung hinsichtlich der Wirksamkeit letztlich nicht überlegen ist, kommt aber dennoch zu folgendem didaktisch interessanten Schluss: Im Hinblick auf den zu erbringenden Aufwand zur Umsetzung der Leseförderung in der unterrichtlichen Praxis und vor dem Hintergrund der sich verändernden Schullandschaft durch vermehrte inklusive Beschulung kann eine Leseförderung mit kooperativen Lesepartnerschaften in der in diesem Projekt beschriebenen Vorgehensweise empfohlen werden. Aufgrund der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft und der Zunahme von Lernenden mit schwachen Leseleistun‐ gen ist eine Leseförderung anzudenken, die mit dem gesamten Klassenverband durchgeführt werden kann und bei der Lernende mit stärkeren Leseleistungen Lernende mit schwachen Leseleistungen unterstützen. (2016: 347) Explizit weist van Zadelhoff noch darauf hin, dass vor dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse folgende Gelingensbedingungen für eine erfolg‐ reiche Leseförderung im Bereich der Lautlese-Verfahren erfüllt sein müssten (ebd.: 344): ■ ausführliche Einführung in den Ablauf der Leseförderung ■ durchgängige Anleitung durch die Lehrperson ■ Einhaltung des Ablaufs der Leseförderung ■ angeleitete Textauswahl ■ Steigerung des lesetechnischen Schwierigkeitsniveaus ■ dreibis viermalige Wiederholung der Lesetexte ■ zeitlich begrenzter Ablauf von Diagnose und Intervention ■ leistungsheterogene Zusammensetzung der Lesepaare ■ konstante Durchführung der Leseförderung (dreimal wöchentlich) 4.1 Lautlese-Verfahren 157 <?page no="158"?> Die zweite Grundform ist das begleitende Lautlesen, bei dem es weniger auf das Moment der Wiederholung ankommt, sondern stärker von der positiven Auswirkung eines Lesemodells ausgegangen wird. Zuletzt hat Gailberger (2013) nachweisen können, dass das ‚Hörbuchlesen‘ anderen Leseförderver‐ fahren insbesondere in Bezug auf Lesegeschwindigkeit, Lesefreude und Lesegenuss überlegen ist. Varianten der Begleitung ■ Lesepaare (Texte werden von gut und schlecht lesenden Schülerin‐ nen und Schülern gemeinsam chorisch halblaut gelesen) ■ Hören eines Hörbuches und dazu begleitendes Lesen des Textes ■ Lautlese-Tandems (eine Weiterentwicklung des Verfahrens ‚Lese‐ paare‘: Einbindung in eine Rahmenhandlung mit sportlichem Cha‐ rakter; Verknüpfung mit dem wiederholten Lautlesen; s. hierzu vertiefend die praxisorientierten Beiträge von Nix 2012 und Zim‐ mermann 2014; s. auch die wertvollen Hinweise von Zimmer in Rosebrock/ Wirthwein 2014: 36 ff.; zu Bedingungen und Grenzen die‐ ses Verfahrens s. Lauer-Schmaltz/ Rosebrock/ Gold 2014). Besonders empfehlenswert erscheinen - auch aus empirischer Perspektive - die aus den USA stammenden Ansätze PAL (Peer-Assisted Learning, s. hierzu Philipp 2010a) beziehungsweise PALS (Peer-Assisted Learning Strategies, s. hierzu Philipp 2016). Funke unterstreicht, dass es nicht ‚das laute Lesen‘ geben kann, sondern „verschiedene, in sich als solche identifizierbare soziale Praktiken, die man als ‚lautes Lesen‘ bezeichnet“ (2018: 89); in diesem Zusammenhang verweisen wir zum Beispiel auf das Vorlesen (→ 4.7), das gänzlich andere Zielsetzungen aufweist als die hier aufgezeigten Lautlese-Verfahren. Funke problematisiert darüber hinaus auch das ‚leise Lesen‘, das ebenfalls mit einer (hörbaren) Verlautlichung einhergehen kann. Entsprechende didaktische Implikationen für die Praxis des Deutschunterrichts stehen noch aus. Ein wichtiger Hinweis zum Schluss dieses Teilkapitels: Lautlese-Verfah‐ ren dürfen nicht in Zusammenhang gebracht werden mit dem hierzulande leider immer noch weit verbreiteten ‚Reihumlesen‘, bei dem auch schlecht lesende Schüler: innen dem Rest der Klasse einen zumeist unbekannten Text laut vorlesen müssen. 158 4 Lesen <?page no="159"?> 4.2 Viellese-Verfahren Bei diesen Verfahren geht es darum, dass Schülerinnen und Schülern entweder in der Schule freie Lesezeiten zuerkannt werden oder sie ein bestimmtes Pensum an Lesestoff in der Freizeit ‚abarbeiten‘ müssen. Es wird davon ausgegangen, dass durch die Lesemenge quasi beiläufig auch die Lesekompetenz gesteigert wird. Weil die empirische Forschungslage hierzu widersprüchlich ist und der Einsatz dieser Verfahren bei schwachen Leserinnen und Lesern sogar keinerlei Kompetenzsteigerung bewirkt, sollte man Viellese-Verfahren nur äußerst kritisch-reflektiert und ausgerichtet auf individuelle Förderbedarfe der Schüler: innen in den Deutschunterricht inte‐ grieren. Der mit Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verbundene Zugriff auf hierarchiehöhere (kognitive) Leseleistungen kann ungewollt die schwächeren Schüler: innen aus dem Blickfeld verlieren; erwiesen ist lediglich, dass diese Verfahren die sowieso schon guten Leser: innen noch weiter fördern. Insbesondere in inklusiven Kontexten sollte noch sehr viel zurückhal‐ tender mit den zumeist außerschulisch situierten Konzepten umgegangen werden, „da die notwendige Begleitung und die gegebenenfalls schnell erforderliche Unterstützung von Leseprozessen beispielsweise durch Lehr‐ kräfte nicht möglich ist“ (Wrobel 2019: 279). Viellese-Verfahren Sustained Silent Reading Dreibis viermal pro Woche erhalten die Schüler: innen freie Lesezeiten (etwa 20 Minuten), in denen sie ihre Lektüre (Sach- und literarische Texte) frei wählen können; es gibt bewusst keine Aufgaben zu den Texten. Leseolympiade Das schulische Lesen soll folgende Aspekte aufweisen: zum Lesen ver‐ locken - zum Lesen veranlassen - an das Lesen gewöhnen (Bamberger 2000: 294 f.). Der Schwerpunkt liegt auf der Gewöhnung an das Lesen: Die Schüler: innen erhalten einen entsprechenden Pass (Kopiervorlage in ebd.: 447 f.) und tragen darin die Bücher ein, die sie gelesen haben; die Lehrkraft überprüft in regelmäßigen Abständen das Leseverstehen und die -geschwindigkeit (Kopiervorlage in ebd.: 446). 4.2 Viellese-Verfahren 159 <?page no="160"?> Kilometer-Lesen Hierbei handelt es sich um eine Verknüpfung der beiden genannten Verfahren (Rosebrock/ Nix 2020: 59-f.). Meine LeseZeit Dube (2014) hat mit Meine LeseZeit ein Viellese-Projekt vorgestellt, das aus folgenden Bausteinen besteht: ■ individuelle habitualisierte Leseerfahrungen (die Schüler: innen können aus einem großen Angebot von Texten selbständig auswäh‐ len; ein Training kognitiver Teilfähigkeiten ist beinhaltet) ■ kulturelle Kontextualisierung (außerschulische Lernorte werden stark einbezogen) ■ soziokulturelle Interaktionen (Einbindung unterschiedlicher An‐ schlusskommunikationen) Die ‚Neuerung‘ soll nicht in den einzelnen Bausteinen selbst - diese finden sich in vielen anderen Lesefördermaßnahmen -, sondern in der Verknüpfung derselben bestehen. Unseres Erachtens zeichnet sich jeder ‚gute‘ Deutschunterricht durch eine Berücksichtigung (und Verknüp‐ fung) derartiger Bausteine aus, sodass dieses Projekt insgesamt - und die von Dube selbst durchgeführte Projektevaluation bestätigt dies - keine in didaktischer Hinsicht innovative Kraft entfalten kann. Dennoch ist es insbesondere für Berufsanfänger: innen sinnvoll, sich zum Beispiel anhand der Monographie von Dube verschiedene Möglichkeiten der Verknüpfung von Lesefördermaßnahmen zu vergegenwärtigen, um letztlich eigene projektorientierte Anstrengungen ausgestalten zu kön‐ nen. 4.3 Lesestrategien einüben Die Ergebnisse der PISA- und der DESI-Studien zeigen deutlich, dass ein Großteil der Schüler: innen in Deutschland in technischer Hinsicht zwar an‐ scheinend gut lesen kann, aber ausgeprägte Schwierigkeiten beim Verstehen von Texten hat. Untersuchungen mit kompetenten Leserinnen und Lesern haben ergeben, dass diese sich aktiv vor, während und nach der Lektüre mit einem Text auseinandersetzen und dabei (unbewusst) bestimmte Lese‐ 160 4 Lesen <?page no="161"?> SQ3R/ PQ4R strategien anwenden (s. hierzu auch den immer noch für die unterrichtliche Praxis wertvollen Artikel von Willenberg 2004). Diese lassen sich wie folgt unterscheiden: ■ vor der Lektüre: Gute Leser: innen aktivieren schon vor dem Lesen ihr Vorwissen und können in Folge zum Beispiel eine bestimmte Erwartungshaltung auf‐ bauen („Was weiß ich schon zu diesem Thema? “). ■ während und/ oder nach der Lektüre: Die hier auftretenden Lesestrategien lassen sich in ordnende (z. B.: wich‐ tige Textstellen unterstreichen), elaborierende (z. B.: Absätze in eigenen Worten wiedergeben) und wiederholende (z. B.: bestimmte Textstellen laut vorlesen) Strategien aufgliedern. Derzeit gibt es mehrere Lesestrategieprogramme, die sich im Kern jedoch sehr ähneln (s. auch die differenzierteren Übersichten von Lenhard 2009 und Philipp 2012b): Die schon ältere, recht bekannte SQ3R-Methode (Ro‐ binson 1948/ 1970) weist fünf Techniken auf: Survey (Text überfliegen), Question (Fragen an den Text stellen), Read (lesen), Recite (Wiedergabe des Inhalts) und Review (Wiederholung der ersten vier Schritte). Später wurde die Methode modifiziert (PQ4R: Thomas/ Robinson 1972): Preview (Text überfliegen), Question (Fragen zu jedem Abschnitt vorher formulieren), Read (lesen und Fragen beantworten), Reflect (nachdenken; Beispiele finden; Bezug zur eigenen Lebenswelt), Recite (Wiedergabe des Inhalts), Review (Wiederholung der vorherigen Schritte). „Strategien sequenzieren, entschleunigen und entlasten damit den Lese- und Schreibprozess.“ (Philipp 2013: 40) Hinweis Philipp (2012b: 53 ff.) plädiert auf der Basis von Metaanalysen zu zahlreichen Interventionsstudien nachdrücklich dafür, Lesestrategien in der Primar- und Sekundarstufe verstärkt beobachten, diskutieren, lernen und anwenden zu lassen. 4.3 Lesestrategien einüben 161 <?page no="162"?> reziprokes Lehren TRAIL Palincsar/ Brown (1984) konzipierten in Amerika eine spezielle Interven‐ tionsmethode (Reciprocal teaching), um das Leseverstehen in speziellen Fördergruppen zu trainieren. In diesem Programm geht es um vier Lese‐ strategien: Zusammenfassen eines Textabschnitts - Fragen zum Abschnitt stellen - Klären von Wortbedeutungen/ Textstellen - Vorhersagen treffen (in Bezug auf den nächsten Abschnitt). Bedeutsam ist, dass das Arbeiten mit diesem Programm immer stärker in die Verantwortung der Schüler: innen (Kleingruppen) im Sinne eines selbstregulierten Lernens (häufig wie folgt abgekürzt: SRL) gelegt wird: Jede Schülerin beziehungsweise jeder Schüler schlüpft auch immer wieder in die Rolle einer Moderatorin beziehungsweise eines Moderators, um in dieser das ‚Textverstehensteam‘ anzuleiten - daher rührt die Bezeichnung ‚reziprok‘. Die Einführung dieses Programms ist sehr zeitaufwändig und es sollten unbedingt bestimmte methodische Aspekte beachtet werden (ausführlich Rosebrock/ Nix 2020: 80 ff.). Einen hervorragenden Einblick (nebst direkt einsetzbaren Unterrichtsmaterialien) in dieses bisher am stärksten evaluierte und nachweislich erfolgreiche Programm bietet Pangh (2009); zu empirischen Erkenntnissen beim Einsatz eines derartigen Programms in den Regelunterricht siehe Koch/ Spörer 2016 (mit Hinweisen auf weitere Interventionsstudien). Dem reziproken Lehren ähnlich (beide lassen sich auch unter die Wen‐ dung Peer Assisted Learning (PAL) subsumieren; s. hierzu sowie auch zur Variante Concept Orientated Reading Instruction Philipp 2010b und 2010c) ist das Förderprogramm TRAIL (Training Reading And Improving Literacy = „Das Lesen trainieren und sich darin verbessern“) von Philipp et al. (2014). Neben der Fokussierung auf Lesestrategien berücksichtigt das Programm auch die Lesemotivation und basale Leseprozesse (hier: Leseflüssigkeit). Die Schüler: innen durchlaufen drei ‚Aktivitäten‘, die auch in anderen Ansätzen immer wieder eine Rolle spielen: 1. Lautlesen (→ S. 156 ff.) und Nacherzählen, 2. Absätze zusammenfassen, 3. Inhalte vorhersagen. Sie finden sich in Tandems (→ S. 158) zusammen, bei denen die ‚lesestärkere‘ Person als ‚Vorkletterer: in‘ und die ‚leseschwächere‘ als ‚Nachkletterer: in‘ zu verstehen ist. Daneben gibt es noch eine: n ‚Sicherer: in‘, die/ der die Durchführung der Arbeit als ausgelagerte Kontrollinstanz überwacht (diese Rolle übernehmen die ‚Kletterer: innen‘ im Wechsel). Obwohl auch dieses vier- (Implementierungsphase) beziehungsweise zwölfwöchige (Durchfüh‐ rungsphase) Programm recht komplex ist, bietet es eine Vielzahl sofort einsetzbarer, praxistauglicher Materialien. 162 4 Lesen <?page no="163"?> Daneben existieren noch viele weitere Varianten: zum Beispiel Textde‐ tektive (Gold 2007) oder Lesen. Das Training, das darüber hinaus auch grundlegende Lesefertigkeiten und die Leseflüssigkeit in den Blick nimmt (Bertschi-Kaufmann et al. 2007; Eisenstecken 2019). „Lesestrategien werden vor allem für das Verstehen von Sachtexten vermittelt; sie stellen aber auch eine Grundlage für den Umgang mit literarischen Texten dar.“ (Spinner 2007: 19, Herv. i.-O.) Während sich die bisher genannten Ansätze und Programme in erster Linie auf Sachtexte beziehen (lassen) und unseres Erachtens auch vornehmlich für diese Art von Texten geeignet sind, stellen Lesestrategien, die explizit für literarische Texte entwickelt worden sind, noch eine Ausnahme dar. Leubner/ Saupe (2014) sind der Frage nachgegangen, „welche ‚Werkzeuge‘ für die Bildung von Deutungshypothesen und für die Erschließung von Handlungen geeignet sind“ (ebd.: Klappentext), und haben diese im Rahmen einer größeren empirischen Studie diskutiert (s. mit ähnlicher Intention auch schon Schöffl 2005). Für die unterrichtliche Praxis bieten sie folgende Schritte der Texterschließung an (s. in zusammengefasster Form Leubner 2013): Strategiesets Leubner/ Saupe schlagen für die Erschließung literarischer Texte (Prosa) folgende Bausteine (und Strategiesets) vor (2014: 313 ff.): Baustein 1: Strategieset für die Hypothesenbildung 1. Wie gefällt dir die Erzählung? Warum gefällt sie dir/ gefällt sie dir nicht? 2. Worum (= um welches Thema) geht es in der Erzählung? Formuliere das Thema nach Möglichkeit in einem Satz. Alternativ: Um welches Problem geht es in der Erzählung vor allem? Formuliere das Problem in knapper Form. 3. Was könnte uns die Erzählung sagen (z. B. über Menschen und ihr Verhalten)? 4.3 Lesestrategien einüben 163 <?page no="164"?> Baustein 2: Untersuchung von Handlungen (die beiden folgenden Sets werden hier zum Teil nur stark verkürzt oder sinngemäß wiedergegeben) Strategieset ‚Komplikation und Auflösung‘ 1. Welche der Figuren in der Erzählung ist in einer besonders schwie‐ rigen Lage? 2. Benenne diese schwierige Lage. 3. Welche Gründe sind dafür entscheidend, dass die schwierige Lage für die Figur entstehen konnte? 4. Entscheide, wie die schwierige Lage aufgelöst wird. 5. Aus welchen Gründen kommt die Auflösung der schwierigen Lage zustande? 6. Überlege und schreibe auf, was uns die Erzählung sagen könnte. Strategieset ‚Textnahes Lesen‘ (→-S.-230-ff.) 1. Lies die Erzählung langsam und gründlich. Achte auf Aspekte der Handlung, die dir besonders wichtig/ interessant erscheinen. Markiere die entsprechenden Textstellen oder mache dir Notizen zum Text. 2. Ergänze die markierten Textstellen/ Notizen durch Fragen oder Ver‐ mutungen zur Handlung. 3. Bringe die markierten Textstellen etc. in eine sinnvolle Ordnung. 4. Betrachte deine Lösungen. Überlege, was uns die Erzählung sagen könnte. Leubner/ Saupe stellen auch in ihrer Monographie Erzählende Texte im Literaturunterricht und Textanalyse umfangreiche Strategiesets vor, die im Rahmen textanalytischer Arbeit (→ S. 201 ff.) herangezogen werden sollten (2017: 79 ff.). Einen ersten Einblick in das Feld Lesestrategien (explizit in Bezug auf den Umgang mit literarischen Texten) sowie direkt einsetzbare Materialien, die auch zur Analogisierung für den eigenen Unterricht geeig‐ net sind, bietet Oesterhelt (2019: 53 ff.). Philipp (2017a) verdeutlicht auf der Grundlage empirischer Studien die Notwendigkeit, bei der Auswahl geeig‐ neter Strategien die Unterschiedlichkeit von literarischen und Sachtexten fest im Blick zu behalten. 164 4 Lesen <?page no="165"?> Obwohl die Bedeutsamkeit von Lesestrategien nunmehr seit vielen Jahren be- und anerkannt ist und auch immer wieder hervorgehoben wird, scheint die tatsächliche (und erfolgreiche) Vermittlung im Deutschunterricht - darauf weist auch Philipp in seinen Publikationen zur Leseförderung immer wieder hin - bisher noch viel zu selten stattzufinden. Es gibt mehrere Erklä‐ rungsansätze dafür, warum neuere lesedidaktische Konzepte nur schwerlich Eingang in die schulische Praxis finden. Zum Beispiel wird angeführt, dass Lehrkräfte nur ungern von bekannten und bewährten Unterrichtsroutinen ab‐ weichen, dass Unsicherheiten dahingehend bestehen, alternative Konzepte auch korrekt anzuwenden, dass der Fortbildungsaufwand gescheut wird und dass ent‐ sprechend aufbereitete Materialien fehlen. (Souvignier/ Philipp 2016: 15; weitere Erklärungsversuche s. ebd.) In eben diesem Zusammenhang stützt Philipp (2015) sich deshalb zur Erleichterung der unterrichtlichen Implementierung von Lesestrategien auf bestimmte Tipps zur Strategievermittlung aus dem Jahre 1989 (Pressley et al.), die er oberbegrifflich geringfügig modifiziert und anschließend ausführlich erläutert hat (Philipp 2015: 135 ff.); wir beziehen uns im Folgenden bei unserer knappen Wiedergabe dieser Tipps (nebst Erläuterungen) auf jenen praxisorientierten Abschnitt seiner Monographie. Tipps zur Strategievermittlung Tipp 1: Finden Sie verfügbare Lesestrategien Es gibt zwar eine beinahe unüberblickbare Anzahl an wissenschaftli‐ chen Publikationen zum Bereich Lesestrategien, doch sinnvolle praxis‐ orientierte Bücher für den konkreten Unterricht sind noch nicht allzu häufig vorzufinden. Philipp weist unter anderem auf folgende Werke hin: Besser lesen und schreiben (Philipp 2012b), Handbuch Lernstrategien (Mandl/ Friedrich 2005), Lese- und Schreibunterricht (Philipp 2013), Lesen kann man lernen (Gold 2018) und Selbstreguliertes Lesen (Philipp/ Schil‐ cher 2012). Auf Seite 137 seiner Monographie (2015) führt er darüber hinaus noch empfehlenswerte Lesestrategie-Trainingsprogramme an. Es muss jedoch immer bedacht werden, dass avisierte Strategien stets auf individuelle Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern und die ausgewählten Texte abzustimmen sind. 4.3 Lesestrategien einüben 165 <?page no="166"?> Tipp 2: Wählen Sie eine geringe Zahl fachübergreifender und zielgerichteter Lesestrategien Mit ‚fachübergreifend‘ sind hier diejenigen Lesestrategien gemeint, die für eine Vielzahl von Leseanlässen geeignet sind; Lehrpersonen sollten zudem möglichst solche Strategien auswählen, deren Wirksamkeit auch empirisch hinreichend erforscht ist (zum Beispiel: Fragen zum Text beantworten). Wichtig ist, dass den Schülerinnen und Schülern der Nutzen der einzelnen Strategien immer deutlich wird - etwa durch den (parallelen) Einsatz derselben Lesestrategien in unterschiedlichen Unterrichtsfächern. Tipp 3: Vermitteln Sie fachübergreifende und zielgerichtete Le‐ sestrategien mit wirksamen Vermittlungsmethoden Das Vermitteln von Lesestrategien scheint für Lehrkräfte unter ande‐ rem auch deshalb schwierig zu sein, weil förderliche Verhaltensweisen ganz offensichtlich zu wenig bekannt sind. Philipp (2015: 139 ff.) hat diesbezügliche Ausführungen von Brown übernommen, ins Deutsche übersetzt und angepasst. Obwohl dieser Katalog äußerst umfangreich ist, stellen wir ihn aufgrund seiner Bedeutsamkeit für die schulische Praxis hier - unter gendergerechter sprachlicher Anpassung - in Gänze vor: Verhaltensweisen von Lehrerinnen und Lehrern im Kontext der Vermittlung von Lesestrategien - Die Dimension der guten Strategienutzerinnen und -nutzer 1. Lehrpersonen erklären, dass gute Leser: innen Strategienutzer: in‐ nen sind. 2. Lehrpersonen teilen ihre persönlichen Erfahrungen in der Strate‐ gienutzung mit ihren Schülerinnen und Schülern. 3. Lehrpersonen betonen die Bedeutung des Nachdenkens während des Lesens. 4. Lehrpersonen bringen ihren Schülerinnen und Schülern bei, di‐ verse forschungsbasierte Lesestrategien zu koordinieren. 5. Lehrpersonen betonen einzelne Strategien in einzelnen Sitzungen, aber sie modellieren und überprüfen ebenso andere Strategien, um zu demonstrieren, wie gute Leser: innen den Strategiegebrauch koordinieren. 166 4 Lesen <?page no="167"?> 6. Lehrpersonen betonen die Rolle der persönlichen Wahl, der An‐ strengung und des Durchhaltevermögens bei der Strategieausfüh‐ rung. 7. Lehrpersonen motivieren die Strategienutzung seitens der Lernen‐ den, indem sie zeigen, wie sich das Leseverstehen durch die Strategienutzung verbessert. 8. Lehrpersonen heben die hohe Rolle der Vorwissensaktivierung und Verbindung des Wissens mit dem Text für das Textverstehen vor. 9. Lehrpersonen betonen, wie das Wissen über die Stärken und Bedürfnisse als Leser: innen die Strategieauswahl der Lernenden unterstützen kann. 10. Lehrpersonen betonen, dass gute Leser: innen Ziele für das Lesen setzen, ihr Textverstehen überwachen, Strategien nutzen, um Schwierigkeiten zu überwinden, und ihren Fortschritt bei der Zielerreichung überwachen. - Die Dimension der allmählichen Übertragung der Verantwortung 1. Lehrpersonen fördern die unabhängige Strategienutzung, indem sie die Verantwortung so schnell wie sinnvoll und möglich an die Schüler: innen übertragen. 2. Lehrpersonen erklären den Nutzen von Strategien allgemein und den Nutzen von spezifischen Strategien. 3. Lehrpersonen beschreiben, wann (vor, während oder nach dem Lesen) und wo [im Originaltext steht - unseres Erachtens - fälsch‐ licherweise erneut „wann“] (bei fiktionalen oder expositorischen Texten) Strategien anwendbar sind. 4. Lehrpersonen modellieren ihr Vorgehen, um ihr Denken für die Lernenden nachvollziehbar zu machen. 5. Lehrpersonen erklären und modellieren, wie textbezogene Inter‐ pretationen mittels Lesestrategien entstehen. 6. Lehrpersonen assistieren ihren Schülerinnen und Schülern, indem sie a) Hinweise geben, eine passende Strategie zu wählen, b) durch erneutes Erklären Unstimmigkeiten klären, c) Gelegenheiten zum Lehren ganz gezielt nutzen, d) die Strategienutzung wiederholt modellieren und e) ihre Vermittlung an die schüler: innenseitigen Bedürfnisse[n] und deren Verständnis adaptiv anpassen. 4.3 Lesestrategien einüben 167 <?page no="168"?> 7. Lehrpersonen ermöglichen angeleitetes und unabhängiges Üben, sodass die Schüler: innen lernen, die Strategien bei einer Vielzahl von Zielen, Zwecken, Aufgabenerfordernissen und Texten zu nutzen. - Die Dimension der Zusammenarbeit beim Lernen und des Diskutierens über Texte 1. Lehrpersonen geben den Schülerinnen und Schülern Hinweise wie „Was lässt dich das denken? “ oder die Aufforderung, andere Strategien zu nutzen, um die Interpretation des Textes aktiv zu unterstützen. Dieses Vorgehen befähigt zudem weniger versierte Klassenmitglieder, leistungsstärkere Mitschüler: innen und deren Leseprozesse zu beobachten. 2. Lehrpersonen und Schüler: innen konstruieren gemeinsam die Textbedeutung. 3. Lehrpersonen fördern Diskussionen, statt sie direktiv zu leiten. 4. Lehrpersonen vermeiden starre Lektionen. Sie führen ihre Lektion mit Lernzielen ein, identifizieren eine oder zwei Hauptstrategien, die zur Lektion passen, und planen, wann und wo sie diese Strategien erklären und modellieren. Dabei sind die Lehrpersonen flexibel und berücksichtigen die Bedürfnisse der Lernenden sowie den Verlauf der Diskussion über Texte. 5. Lehrpersonen fragen häufig „Was denkst du? “ und „Was fühlst du? “. 6. Lehrpersonen dirigieren die Schüler: innen nicht in die Richtung einer einzigen ‚richtigen‘ Interpretation. 7. Lehrpersonen fördern ausführliche Dialoge zwischen den Klassenmit‐ gliedern statt repetitiver Wiederholung von Diskussionsbeiträgen. 8. Lehrpersonen bereiten ihre Schüler: innen auf die Diskussionen vor, indem sie erklären, modellieren und Richtlinien für eine aktive, ange‐ messene und taktvolle Teilnahme an den Diskussionen etablieren. 9. Lehrpersonen halten sich mit dem Hinzufügen von eigenen inter‐ pretativen Kommentaren zurück, um die Kommentare der Schü‐ ler: innen wenig zu beeinflussen. 10. Lehrpersonen vermeiden Aussagen wie „Du hast recht“ oder „Das ist falsch“. Stattdessen paraphrasieren sie die schüler: innenseitigen Kommentare, um die Lernenden zu weiteren Äußerungen zu ermutigen. 168 4 Lesen <?page no="169"?> Tipp 4: Bekräftigen Sie die Nutzung von fachübergreifenden allgemeinen Strategien Bei diesem Tipp geht es um das Motivieren von Schülerinnen und Schülern, ihre individuellen Lesestrategien anderen Klassenmitgliedern vorzustellen, da aus lernpsychologischer Perspektive davon auszugehen ist, dass ein derartiges Vorgehen Lernzuwächse bewirkt. Tipp 5: Motivieren Sie die Schüler: innen zur Nutzung der vermit‐ telten Strategien Das Motivieren im Hinblick auf das Erlernen von Lesestrategien ist derart komplex, dass es von Philipp an dieser Stelle noch einmal aus‐ differenziert wird. Das explizite Vermitteln leseförderlicher Strategien steht in einer engen Verbindung mit folgenden Aspekten, die hier aufgrund ihrer leichten Verständlichkeit nur aufgeführt werden (zur Vertiefung s. 2015: 143-ff.): ■ Autonomieförderung beim Lesen ■ sinnvolle und situierte Aufgaben ■ Förderung positiver Wahrnehmungen als Leser: in und Lerner: in ■ informationsreiches, formatives [= prozessbegleitendes] Feedback ■ Möglichkeiten zum sinnvollen Kooperieren Tipp 6: Suchen Sie nach zusätzlichen Strategien, die für Ihre Schüler: innen außerdem nützlich sein könnten Lehrpersonen sollten nicht so viele Strategien wie möglich vermitteln wollen oder sich eng an ein bestimmtes Trainingsprogramm anlehnen, sondern sich vielmehr langfristig ein eigenes diesbezügliches Repertoire zulegen, aus dem gezielt ‚eigene‘ Lesestrategien ausgewählt werden. Tipp 7: Ermutigen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen, etwas über Lesestrategien zu lernen und diese zu vermitteln Empirische Ergebnisse deuten darauf hin, dass teamorientierte Maßnah‐ men - wie zum Beispiel gemeinsam angelegte Unterrichtseinheiten oder Projekte - für das erfolgreiche Vermitteln von Lesestrategien besonders bedeutsam sind. 4.3 Lesestrategien einüben 169 <?page no="170"?> Tipp Einen ersten Einblick in das Feld ‚Lesestrategien‘ sowie direkt einsetz‐ bare Unterrichtsmaterialien, die auch dazu geeignet sind, sie für den eigenen Unterricht zu analogisieren, bietet Oesterhelt (2019: 53-ff.). 4.4 Sachtextlektüre unterstützen Sowohl in der Fachwissenschaft als auch in der Fachdidaktik trifft man häufig auf eine klare Unterscheidung zwischen ‚Sachtexten‘ auf der einen und ‚literarischen Texten‘ auf der anderen Seite. Obwohl diese scheinbare Trennbarkeit immer stärker in Zweifel gezogen wird, lässt sich bei vielen Texten zumindest eine deutliche Tendenz erkennen: Wenn die Texte die lesende Person zum Beispiel in erster Linie informieren (oder instruieren), werden sie zu einem Großteil als ‚pragmatisch‘ gelten können. In aller Regel werden sie dann auch nicht mehrdeutig beziehungsweise mehrfach kodiert sein. So würde man etwa bei einer naturwissenschaftlich orientierten Beschreibung einer Geburt nicht von einem literarischen Text sprechen. Diese Zuordnungsversuche sind höchst problematisch und es wird in Einzelfällen immer auch ‚Mischtypen‘ geben. Neben der textorientier‐ ten Perspektive lässt sich für diesen Problemkreis auch die Lesehaltung heranziehen. Rosenblatt (1994) beispielsweise unterscheidet (im anglo‐ amerikanischen Sprachraum) zwischen efferent stance (= die Haltung, die beim informierenden Lesen eingenommen wird) und aesthetic stance (=-‚zweckentbundene‘ Haltung). Während das efferente Lesen zuvörderst darauf abziele, Inhalte zu generieren, umfasse ästhetisches Lesen in erster Linie sinnliche Aspekte (z. B. das bewusste, genießende Erleben eines bestimmten Sprachrhythmus). Im Prinzip seien die Haltungen jedoch nicht textsortengebunden, sodass es zumindest theoretisch vorstellbar sei, ei‐ nem informierenden Text - zumindest zeitweilig - mit einer ästhetischen Lesehaltung gegenüberzutreten (s. vertiefend zu dieser Unterscheidbarkeit von Lesehaltungen den kritischen und erhellenden Beitrag von Jörgens 2017). Für eine dringend erforderliche sachtextspezifische Lesedidaktik sind die jeweiligen Fachlehrer: innen „nicht […] ausgebildet und erachten das häufig auch nicht als ihre Aufgabe“ (Rosebrock/ Nix 2012: 76). Um derartige Texte 170 4 Lesen <?page no="171"?> verstehen zu können, ist zum einen das Anknüpfen an Vorwissen erforder‐ lich, zum anderen benötigen (schwächere) Schüler: innen Unterstützung bei der Verarbeitung von Textstrukturen. Dies gilt insbesondere für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache: Typischerweise liest der zweitsprachige Leser langsamer. Seine Leseflüssigkeit ist gegenüber dem L1-Lesen verringert und seine Lesezeitspanne ist kürzer. Ursache dafür sind eingeschränkte Wortschatzkenntnisse und/ oder mangelnde Automatisierung von Grundfertigkeiten. (Ehlers 2020: 220) Kuchenreuther/ Michalak (2008) zufolge wirken sich diese Verständnisbar‐ rieren beim Lesen von Sachtexten in besonderer Weise aus, unter anderem weil diese auf der Wort-, Satz- und Textebene Elemente der Bildungssprache (→-S.-305-f.) enthalten, die spezielle Anforderungen an die Lesekompetenz der Lernenden stellen. Die oben aufgezeigten Strategietrainings können methodisch eingesetzt werden, wenn die Lehrkraft genau darauf achtet, ob das jeweilige Verfah‐ ren wirklich sinnvoll (also passend zum Text) ist (s. hierzu auch Petek 2019 für einen kurzen Einblick in das entsprechende Training Filia). Sehr häufig lässt sich nämlich beobachten, dass Lernende zunächst ‚die wichtigsten Textstellen unterstreichen‘ sollen - dieses Verfahren muss bei unbekannten, fachlich hochkomplexen Texten jedoch scheitern, da die meisten Schüler: innen aufgrund des mangelnden Vorwissens noch nicht in der Lage sind, Wichtiges von (scheinbar) Unwichtigem zu unterscheiden. Auch die oben beschriebenen Lautlese-Verfahren können hilfreich sein, das Lesen von Sachtexten zu unterstützen. Besonders sinnvoll und erfolgreich sollen jedoch Verfahren sein, die zielgenau die Strukturen von Texten veranschaulichen. Rosebrock/ Nix verweisen insbesondere auf das CORE- Modell des US-Amerikaners Dymock (Rosebrock/ Nix 2020: 101), der den Verstehensvorgang der Schüler: innen in Bezug auf das Nachvollziehen von Textstrukturen mithilfe einfacher Grafiken, die zum Beispiel gemeinsam mit den Lernenden an der Tafel erarbeitet werden, unterstützt. Weitere sinnvolle Vorschläge für die Praxis finden sich bei Baurmann (2009) und bei Hiller (2010), der Effekte seiner werkstattorientierten Vorgehensweise empirisch untersucht hat: Unter anderem „die Auseinandersetzung mit den wichtigen Begriffen eines Texts in den Gruppendiskussionen […] und […] die Arbeit mit dem Werkstattheft“ (ebd.: 325) führten zu einer Steigerung der Lesekompetenz bei Achtklässler: innen aller Schularten. 4.4 Sachtextlektüre unterstützen 171 <?page no="172"?> kulturelle Teilhabe Ähnlich wie Dymock verweist auch Philipp (2012b) auf den Einsatz von Schaubildern. Er hat ein (nachweislich wirksames) ‚Strategiebündel‘ an Lese- und Schreibstrategiefördermaßnahmen vorgestellt, das insbesondere für die ‚Risikogruppe schriftschwacher Heranwachsender‘ ein geeignetes Instrumentarium für den Umgang mit Sachtexten im Fachunterricht sein kann; die Maßnahmen lauten: Textinhalte generieren und strukturieren, Texte überprüfen lassen, Textinhalte graphisch organisieren, Texte zusammenfassen. In diesem Zusammenhang möchten wir darauf hinweisen, dass für diese oder ähnliche Zielsetzungen auch Sachbilderbücher (Lieber 2019) herange‐ zogen werden können - ein im Deutschunterricht noch viel zu selten genutztes Medium. Ebenso noch kaum berücksichtigt sind sogenannte Sachhörtexte, in denen eine professionelle Sprecherin beziehungsweise ein professioneller Sprecher als Lesemodell fungiert (Stabler 2019). 4.5 Leseanimation Leuchtende Augen bei der Lesenacht machen noch keine systematische Förde‐ rung. (Klieme/ Vach 2020: 9) Verfahren der Leseanimation werden auch heute noch häufig - fälschlicher‐ weise - mit dem Terminus L E S E FÖR D E R UN G gleichgesetzt (Rosebrock/ Nix 2020: 110). Es handelt sich bei diesen Verfahren um alle Bestrebungen, die Kinder und Jugendliche zum Lesen ‚verlocken‘ sollen, um ihnen eine kul‐ turelle Teilhabe zu ermöglichen (grundlegend Hurrelmann 1994; Hurrel‐ mann/ Elias 2005). Orte der Leseanimation ■ Deutschunterricht (z. B. Einrichtung einer Klassenbibliothek, Lese‐ tagebücher, Lesen von Boardstories über onilo.de) ■ Schulöffentlichkeit (z. B. Lesungen, Leseclub, Vorlesetag, Projekt‐ tage zum Lesen) ■ außerschulisch (z. B. Zusammenarbeit mit Bibliotheken, Besuch von Buchmessen) ■ ortsungebunden (antolin.de; s. hierzu auch die empirische Studie von Meier 2017, durch die deutlich wird, dass eine Leistungsorien‐ tierung in Bezug auf literarisches Lesen - hier: das Sammeln von 172 4 Lesen <?page no="173"?> Punkten - nicht unproblematische Folgen wie z. B. das Verkümmern des Lesegenusses nach sich ziehen kann); ilteducation.de (digitale mehrsprachige Bücher) Es wird aus heutiger Sicht davon ausgegangen, dass diese Verfahren in erster Linie für diejenigen Leser: innen geeignet sind, die zwar in ‚technischer‘ Hinsicht - also auf der Ebene der hierarchieniedrigen Prozesse - keine Probleme mehr aufweisen, jedoch wenig lesemotiviert sind, sodass sich noch keine gefestigte Lesepraxis etablieren konnte. Leseschwache Schüler: innen sind in der Regel durch diese Verfahren überfordert, können jedoch vermut‐ lich indirekt davon profitieren (Rosebrock/ Nix 2020: 119). Es hat sich herauskristallisiert, dass peers offenbar - wie seit Langem vermutet - äußerst bedeutsam für die Lesemotivation sein können. Auf den Ergebnissen von Philipp (2008) aufbauend hat Kleer (2014) ein vielverspre‐ chendes lesedidaktisches Konzept entwickelt und positiv evaluiert: Lesefriends Dieser Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass die Schüler: innen sich zu selbstgewählten Teams zusammenfinden. Diese treffen sich im Rah‐ men des Deutschunterrichts wöchentlich zu festgelegten Zeiten, lesen gemeinsam selbstgewählte Bücher und sprechen anschließend darüber: Die regelmäßig praktizierte, schulische literarische Geselligkeit soll einer‐ seits die Lesegewohnheiten begeisterter Vielleser stabilisieren bzw. durch den innovativen Teamkontext bereichern, andererseits aber auch die bereits im Alter von zehn Jahren schwindende Lesepraxis bzw. ablehnende Lese‐ haltung durchaus auch im gymnasialen Bereich vorhandener Wenigleser konterkarieren. (Kleer 2014: 111) Während Kinder- und Jugendliteratur durchweg als leseanimierend betrach‐ tet wird, stellt der entsprechende Einsatz von Sachtexten eine Seltenheit dar. Da Leseförderung jedoch immer auch unter gendersensitiven Gesichtspunk‐ ten betrachtet werden muss, ist es unabdingbar, einen Teil der Schülerinnen und Schüler auch durch das Heranziehen geeigneter Sachtexte zum Lesen zu motivieren (Baurmann/ Müller 2005). 4.5 Leseanimation 173 <?page no="174"?> Bilderbücher (→ S. 278 ff.) sowie adaptierte, transformierte und neu entwickelte Produkte im Sinne von Medienverbünden (s. hierzu den pra‐ xisorientierten, besonders anschaulichen Beitrag von Ritter/ Ritter 2014), die insbesondere in motivationaler (aber auch ästhetischer) Hinsicht viel‐ versprechend sind, sind prädestinierte Gegenstände zur Leseanimation. Eine sehr interessante Möglichkeit des leseanimierenden Umgangs mit Bilderbüchern stellt Stenzel (2013) dar: Zweit-, Dritt- und Viertklässler: innen lesen sowohl Vorschulkindern als auch sich selbst gegenseitig Bilderbücher vor. 4.6 Literarisches Lesen unterstützen Der Bereich der Förderung des literarischen Lesens ist ein sehr spezieller, da hier die oben angesprochene Unterschiedlichkeit zwischen literarischen Texten und Sachtexten eine wichtige Rolle spielt und somit das mitunter als heikel betrachtete Verhältnis zwischen Lese- und Literaturdidaktik berührt wird. Literarische Texte sind zumeist mehrdeutig, sodass sich insbesondere ihre Verstehensanforderungen auf der hierarchiehöchsten Ebene des Leseprozesses (Darstellungsstrategien identifizieren) eklatant von denjenigen, die sich auf Sachtexte beziehen, unterscheiden. Die Reflexion über die unterschiedlichen Deutungsversuche der Schüler: innen übersteigt die Zuständigkeit der Lesedidaktik, sodass hierfür auf andere Konzeptionen (→-5) zurückgegriffen werden muss. Deutlich wird dies zum Beispiel beim sogenannten Hattinger Modell (Wrobel 2008) - ein individualisierender Lese‐ förderansatz speziell für heterogene Lerngruppen in der nicht gymnasialen Sekundarstufe I -, bei dem mehrere deutschdidaktische Konzeptionen (und Kompetenzbereiche) berücksichtigt werden. Problematisch ist jedoch, dass viele Lehrkräfte hierarchieniedrigen Teilprozessen des Lesens wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken. Der Unterricht sollte mit solchen Aufgaben zum Textverstehen beginnen, die dazu führen, dass alle Schüler(innen) zunächst die globalen Textzusammenhänge eigenständig mög‐ lichst umfassend konstruiert haben, zum Ausdruck bringen und ggf. weiter differenzieren. (Rosebrock/ Nix 2020: 124) Hierfür könne durchaus auch auf die oben angeführten Lesestrategien zurückgegriffen werden (ebd.: 145; s. hierzu grundlegend auch Carl et al. 2020); die Autorin und die Autoren weisen jedoch explizit darauf hin, dass 174 4 Lesen <?page no="175"?> auch die Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R ‐ UNT E R R ICHT S dafür geeignet sein können. Indem die Schüler: innen beispielsweise ein Gespräch mit einer der literarischen Figuren imaginieren oder eine Fortsetzung einer Geschichte produzieren, verbleiben sie gewissermaßen auf derjenigen Verstehensebene, die den Lesevorgang selbst dominiert hat, nämlich auf der des mentalen Sich-Bewegens innerhalb der Ereignisse und Horizonte des Textes. (Ebd.: 124) Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass der Literaturunterricht schon immer etwa durch die Herausarbeitung von textsortenspezifischen Merk‐ malen aus lesedidaktischer Perspektive die Einsicht in Superstrukturen unterstützt hat (Rosebrock/ Nix 2020: 138). Beispielhaft sei hier auf das Märchen hingewiesen, zu dem Rosebrock (2014b) ein entsprechendes Auf‐ gabenbeispiel für die Sekundarstufe und Wuwer (2012) vor dem Hintergrund einer strukturalistischen Analyse interessante Bezüge zu Computerspielen (→-S.-291-ff.) hergestellt hat. Systemisches Lesen Einige Literaturdidaktiker: innen tun sich - zu Recht - schwer mit Modellierungen des Lesens, die in erster Linie einen dekodierenden Charakter aufweisen. Lösener (2006) zum Beispiel plädiert vehement immer wieder für die Berücksichtigung und Förderung von Lesepro‐ zessen, die sich davon abgrenzen lassen. In einer seiner Monographien (ebd.) skizziert und modelliert er das von ihm so genannte systemische Lesen. Hierbei handele es sich um ein „Lesen als Fortsetzung des Hörens“ (ebd.: 17), das „auf die Bewegung des Sprechens im Geschriebenen hört“ (ebd.) - ein anspruchsvoller, leider bisher noch kaum von der Didaktik berücksichtigter Ansatz, der es verdient, in der unterrichtlichen Praxis endlich seinen Niederschlag zu finden. In einem Beitrag aus dem Jahre 2009 schlägt Lösener sogar vor, das ‚hörende Lesen‘ als Alternative zur traditionellen Form-Inhalt-Interpretation von Gedichten (→ S. 267 ff.) zu etablieren. Zuletzt hat Brune (2020a: 258 ff.) sich intensiv mit dem Ansatz des ‚hörenden Lesens‘ auseinandergesetzt und ihn produktiv in seine eigene Modellierung integriert. Eine konkrete erste methodi‐ sche Umsetzungsmöglichkeit könnte wie folgt lauten: „Im Text treten verschiedene Sprecher auf. Lies ihn für dich mehrfach halblaut so, dass du sie voneinander abgrenzen kannst. Wie viele Stimmen kannst du 4.6 Literarisches Lesen unterstützen 175 <?page no="176"?> stilles Lesen Stellen‐ wert unterscheiden und wem sind sie zuzuordnen? “ (ebd.: 265 - in Bezug auf Goethes Erlkönig; anschließend finden sich weitere mögliche methodi‐ sche Schritte). Eine interessante Spielart eines ‚hörenden‘ Lesens, das sich zwischen ‚laut‘ und ‚leise‘ bewegt, ist das sogenannte ‚Flüsterlesen‘ (Lösener/ Rathmer 2012), das ein genaueres Verstehen schwieriger Texte ermöglichen soll (s. hierzu auch den vergleichbaren Ansatz des soge‐ nannten ‚prosodischen Lesens‘ von Lösener/ Mesch 2022). 4.7 Vorlesen Für den „normalen Deutschunterricht“ scheint (unausgesprochen) zu gelten: Vorlesen ist zu langsam, hält nur ab von der Informationsentnahme und der Analyse von Texten, ist im besten Fall ästhetische Zutat. Girlande. Verzichtbar. (Beisbart 1993: 169) Das Vorlesen ist eine Tätigkeit, die in so gut wie allen Lern- und Kom‐ petenzbereichen eine Rolle spielen kann und somit einen Großteil der deutschdidaktischen Konzeptionen berührt (s. für einen praxisnahen und umfassenden Überblick Baurmann/ Menzel 2006; Bräuer/ Trischler 2015). Sie kann dementsprechend mit unterschiedlichen Zielsetzungen verbunden sein (s. z. B. Belgrad/ Schünemann 2011 u. Belgrad 2015 sowie Stenzel 2013). Das laute Lesen von Texten war bis ins 18. Jahrhundert „nicht eine besondere, einen Anlass erfordernde Tätigkeit, sondern die Form der Text‐ rezeption schlechthin“ (Abraham 2012: 116). Erst danach wurde es immer stärker üblich, still zu lesen. Heute wird das Vorlesen (mit Textvorlage) beziehungsweise Vortragen (zumeist ohne Textvorlage) im Privaten in der Regel nur noch mit besonderen Anlässen verbunden (Ausnahme: das Vorle‐ sen für Kleinkinder). Auch im Deutschunterricht - bereits in der Primarstufe und weiter abnehmend in den Sekundarstufen - hat das Vorlesen einen zu geringen Stellenwert. Verwunderlich ist die marginale Bedeutung des Vorlesens nicht, da sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit dieser Thematik als auch die praktische Einübung von Vorlesekompetenzen in allen Phasen der Lehrer: innenbildung kaum Berücksichtigung zu finden scheint. Als kommunikative Handlung, die entweder ‚zum Selbstzweck‘ - aus Genussbeziehungsweise ästhetischen Gründen - oder verbunden mit 176 4 Lesen <?page no="177"?> Bedeutung familiärer Leseprozesse anderen Zielsetzungen durchgeführt werden kann, sollte sie einen hohen Stellenwert in allen Klassenstufen einnehmen. Nach der Grundschulzeit verliert sie jedoch zumeist an Bedeutung. Die Potenziale sowohl zum Lernen in verschiedenen Kompetenzbereichen als auch zum Genießen im Sinne eines evasiven (Vor-)Lesens sind vielfältig und werden fachdidaktisch nach wie vor umfassend erarbeitet. Für Ockel stellt die Handlung des Vorlesens „eine bewußte/ gewollte, die sich in einem kommunikativen Rahmen abspielt“ (2000: 2), dar. Dieser Rahmen ist durch zwei Pole gekennzeichnet: Auf der einen Seite die vor‐ lesende Person (s. hierzu vertiefend die umfangreichen praxisorientierten Ausführungen von Trischler 2015), auf der anderen die Zuhörer: innen. Dass dabei noch weitere Komponenten eine Rolle spielen, zeigt Birkle (2011: 21 ff.): Neben die beiden oben genannten Pole treten noch der Text, das Hörverstehen selbst, situative Aspekte (z. B. Raumbedingungen) und die Vorlesekommunikation, womit die das Vorlesen begleitende Kommunika‐ tion bezeichnet wird. Aus der Perspektive der literarischen Sozialisation kommt ein Kind idea‐ lerweise schon im frühkindlichen Alter mit Vorlesesituationen in Kontakt. Dass familiäre Leseprozesse basal für die Entwicklung von Kindern sind, ist in der Forschung inzwischen vielfach belegt worden (Wieler 1997; eine fun‐ dierte Zusammenfassung und Einordnung zentraler Befunde verschiedener Vorlesestudien bieten Ehmig/ Reuter 2013). Durch das Vorlesen bekommen Kinder früh rezeptiven Kontakt mit Schriftsprachlichkeit, sie nehmen an der literalen Kultur teil und entwickeln ihre sprachlichen Fähigkeiten weiter (Elley 1989). Dabei ist die Vorlesekommunikation ein entscheidender Faktor. In der Schule findet Vorlesen unter institutionellen Bedingungen statt - als Ergänzung zum eigenen, stillen Lesen. Dabei können sowohl die Lehr‐ personen als auch die Schüler: innen selbst (s. hierzu Bräuer 2015) vorlesen. Populär geworden sind auch sogenannte ‚Vorlesepatinnen und -paten‘, die von außen in die Schule kommen: Das können zum Beispiel (Groß-)Eltern genauso sein wie Autorinnen und Autoren oder Schauspieler: innen. Ziele sind zum Beispiel, den Kindern und Jugendlichen eine Kultur des Zuhörens zu vermitteln, die Vorlesefähigkeiten der Lernenden selbst zu schulen oder ihnen implizites literarisches Lernen zu ermöglichen. Aber auch die zu Vorleserinnen und Vorlesern befähigten vorlesekompetenten Schüler: innen selbst können dazu ermutigt werden, die Schule zu verlassen, um anderen Menschen vorzulesen - beispielsweise in Altenheimen (Gessner/ Kuhley/ 4.7 Vorlesen 177 <?page no="178"?> ästheti‐ sche Erfah‐ rungen Dietz 2015). Dass auch der Erwerb von Textmusterkenntnis durch das Vorlesen unterstützt wird, bestätigt die Studie von Birkle (2011). Zu all dem kommt die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen durch das Vorlesen: Sinnliche Wahrnehmung ist die Grundlage ästhetischer Erfahrung; das entspricht auch der Etymologie des Begriffs (von gr. aisthesis: Wahrnehmung). Mit unseren Ohren hören wir Musik, mit unseren Augen schauen wir ein Gemälde oder einen Film an und die Kochkunst verwöhnt unseren Gaumen. Bezogen auf Literatur setzen ästhetische Hör-Erfahrungen früh ein, z. B. mit dem Klang und dem Rhythmus von Kinderversen oder der Stimme der vorlesenden Mutter bei der Gutenachtgeschichte. […] Durch Vorlesesituationen können auch in der Schule solche sinnlichen Spracherfahrungen lebendig werden. (Spinner 2008a: 83-f.) Mit einer ästhetischen Sicht auf das Vorlesen hängen auch das sprechkünst‐ lerische Vortragen (s. zum szenischen Vortragen Spinner 2000c und - unter anderem mit einem Hinweis auf einen mehrsprachigkeitsorientierten Deutschunterricht - 2016) und die Ausbildung stimmlicher und sprecheri‐ scher Fähigkeiten zusammen. Ockel rechnet das Vorlesen zu den „Grundfähigkeiten der Textdeutung“ (2000: IX); seine Monographie bietet neben einer Darstellung der histori‐ schen Entwicklung und Gegenstandsbestimmung des Vorlesens mannigfal‐ tige Anregungen für den Unterricht (s. auch die Praxisvorschläge von Menzel 1990; Beisbart 1993; in Bezug auf das Vortragen lyrischer Texte Schmidt, G. 2006). Während das Vorlesen sowohl bei Ockel als auch bei Menzel einen eige‐ nen Stellenwert aufweist, verknüpft Spinner (2014) es mit dem L IT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→ 5.4), indem er vorschlägt, das Vorlesen explizit durch Gesprächseinlagen zu ‚zerlegen‘ (s. hierzu auch die methodischen Vorschläge zur Hörer: innenaktivierung von Kruse 2009). Spinner etabliert damit in der Institution Schule eine Vorlesekommunikation, die ihren Platz zuvörderst in der Familie hat beziehungsweise hatte (aufgrund der sich verändernden sozialen Strukturen) und der nunmehr eine kompensatori‐ sche Funktion zukommt (s. zu einzelnen Aspekten des Vorlesens auch den Sammelband von Gressnich/ Müller/ Stark 2015, insbesondere 143-ff.). Grundlegende, innovative Übungen für den Deutschunterricht finden sich bei Littwin (2018: 77 ff.), die hier im Folgenden lediglich stichwortartig angerissen werden: 178 4 Lesen <?page no="179"?> 1. übergreifende Übungen a. Zungenbrecher (in Einzelarbeit werden Zungenbrecher eingeübt und anschließend in stark übertreibender Weise vorgetragen) b. Ein-Minuten-Vorträge (die Schüler: innen sprechen eine Minute lang vor der Klasse zu einem bestimmten Thema) c. ‚gehen wie‘ (eine pantomimische Übung: die Schüler: innen bewegen sich in einer vorgegebenen Gangart) d. Situationen darstellen (eine weitere pantomimische Übung: die Schü‐ ler: innen setzen vorgegebene Situationen um) e. Hannes (chorisches Sprechen: alle Schüler: innen und die Lehrerin be‐ ziehungsweise der Lehrer sprechen einen Spruch in Verbindung mit einer bestimmten körperlichen Bewegung gemeinsam aus) 2. gezielte Übungen a. sprechend vorlesen (die Schüler: innen sollen sich an eine natürliche Gesprächssituation erinnern; aus dieser Atmosphäre heraus lesen sie einen - epischen - Text möglichst ‚natürlich‘ vor) b. langsam lesen (Schritt 1: Demonstration eines übertrieben schnellen oder langsamen Lesens durch die Lehrkraft und damit zwangsläufig verbundener Verstehensschwierigkeiten; Schritt 2: Anwendung des ersten Schrittes durch die Schüler: innen) c. situativ vorlesen I: Improvisation (die Schüler: innen erhalten bestimmte Rollen und sollen über ein bestimmtes Thema sprechen, zum Beispiel sollen sie - nicht - froh sein über das Wetter) d. situativ vorlesen II: Stimmungen erkennen (die Schüler: innen sollen anhand von Fotos, auf denen Gesichter von Menschen zu sehen sind, unterschiedliche Emotionen erkennen) e. situativ vorlesen III: Dracula (ein bestimmtes Rollenspiel, das hier in Kürze nicht umrissen werden kann, s. ebd.: 78-f.) f. körperbetont vorlesen (kurze Dialoge werden in Zweiergruppen vorge‐ stellt) g. Pausensetzung I (die Schüler: innen erhalten Textausschnitte aus einem Kinder- oder Jugendbuch, allerdings in Kleinschreibung und ohne In‐ terpunktion; sie sollen eigene Varianten für das Vorlesen erstellen und präsentieren; Vergleich mit einer Hörbuchfassung) 4.7 Vorlesen 179 <?page no="180"?> h. Pausensetzung II (die Schüler: innen erhalten einen bestimmten Satz - hier: von Michael Ende - mit vier unterschiedlichen Pausensetzungen; Kleingruppendiskussion; Vergleich mit einer Hörbuchfassung) Um der zentralen Bedeutung des Vorlesens gerecht zu werden, bedarf es aber zunächst einer intensiven sprecherzieherischen Förderung angehender Lehrpersonen, die an den meisten Universitäten und Hochschulen jedoch immer noch weitgehend ein Schattendasein führt. Problematisierung Insgesamt betrachtet sollte es vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse heute keine grundsätzlichen Einwände mehr gegen lesefördernde Maßnah‐ men geben (Kruse 2008: 184). Die bis vor einigen Jahren zu vernehmende allgemeine Kritik an leseförderlichen Maßnahmen bezog sich vornehmlich auf den Bereich der - mitunter von Schulen recht unreflektiert ausgeübten - Leseanimation, da andere Verfahren im deutschsprachigem Raum nahezu unbekannt waren und erst seit PISA vor allem die Strategieorientierung sowie der Einsatz von Lautlese-Verfahren an Bedeutung gewonnen haben. Eine Ausnahme bildete das eher in den Bereich des Umgangs mit literari‐ schen Texten zu verortende T E XTNAHE L E S E N ( UND S CH R E IB E N ) (→ 5.3), das aufgrund seiner (vermeintlich) ‚strengen‘ Ausrichtung im Verdacht stand, lediglich gymnasial orientiert und ‚lustfeindlich‘ zu sein. Pangh weist (im Zusammenhang mit dem Reciprocal teaching) richtigerweise darauf hin, dass gerade in Deutschland sozialisierte Lehrkräfte Probleme mit einer frontalen, ‚strenger‘ geführten Ausrichtung ihres Unterrichts aufwiesen, da sie in ihrer Ausbildung gelernt hätten, genau dies zu vermeiden (2009: 17). Die noch bis zum Jahre 2007 vorherrschenden Projekte, die sich in ihrer engen Ausrichtung auf Lesemotivation und -kultur als leseförderlich verstanden, wurden in einer spezifischen Expertise stark kritisiert: unter anderem sei bis dato viel zu wenig das Erlernen von L E S E S T R AT E GI E N beachtet worden (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007). Die von den PISA-Forscher: innen angemahnte Neuausrichtung der Leseförderung hat sowohl in der Deutschdidaktik als auch in den Schulen selbst zu einem Umdenken geführt. Als negativ zu bewerten ist jedoch, dass insbesondere der gesellschaftliche Druck auf Schulen derart angestiegen ist, dass ein Großteil der Lehrer: innen nunmehr sein Hauptaugenmerk auf die ‚neuen‘ Formen der Leseförderung legt, nicht selten infolge literarische Texte wie 180 4 Lesen <?page no="181"?> Sachtexte bearbeiten lässt und damit viele andere ebenso wichtige Bereiche und Zielsetzungen des Deutschunterrichts letztlich ‚unter den Tisch fallen‘. Ganz besonders gilt dies unserer Beobachtung nach für den Bereich der sinnlichen Erfahrungen beim Umgang mit literarischen Texten. Spinner hat diesbezüglich für den Bereich des Lesens deutlich auf bestimmte Erforder‐ nisse hingewiesen: Wenn man vom Lesen als ästhetischer Bildung spricht, dann ordnet man das Lesen in einen umfassenderen Zusammenhang ein. Es geht nicht nur um Lese‐ erziehung und literarisches Lernen, sondern es geht auch um die Entwicklung einer ästhetischen Sensibilität, die sich vielfältig im Alltag auswirken kann. […] Ein Zusammenspiel von rezeptivem und produktivem Umgang und eine Verbindung verschiedener Künste […] kann den Schülerinnen und Schülern den ästhetischen Zugang zur Welt und zum eigenen Ich als unverzichtbaren Teil ihres Menschseins wichtig werden lassen. (2008b: 92) Auch wenn die unterschiedlichen Verfahren der Leseförderung insgesamt als eine positive, in Deutschland längst überfällige Entwicklung zu betrach‐ ten sind, offenbaren sie bei einer genaueren Einzelbetrachtung ihre jeweili‐ gen Schwächen. Wir können hier einzelne Verfahren nicht genauer unter die Lupe nehmen - die spezifische Mahnung von Rosebrock/ Nix lässt sich jedoch generalisieren: Kritisch sollte im Blick bleiben, dass Lesestrategietrainings grundsätzlich nichts anderes als Methodentrainings sind, die - genauso wie beispielsweise die ausufernden methodischen Vorschläge von Klippert (2004) - da, wo sie sich verselbstständigen, das verlieren, worum es eigentlich geht: den Textgegenstand. (2012: 73) Daneben geraten - wie oben bereits kurz erwähnt - trotz vielfältiger Lese‐ fördermaßnahmen die hierarchieniedrigeren Prozesse mitunter grundsätz‐ lich aus dem Blickfeld (s. hierzu problematisierend Rautenberg/ Reißig 2015); in dem entsprechenden Sammelband von Rautenberg/ Reißig (2015) werden beispielsweise Einsichten in morphologische Strukturen (Bangel/ Müller 2015) und die Nutzbarmachung der Syntax (Zepnik/ Zepter 2015) thematisiert. 4.7 Vorlesen 181 <?page no="182"?> Tipps für den Unterricht ■ Überprüfen Sie regelmäßig die individuellen Lesefähigkeiten Ihrer Schüler: innen auf der Prozessebene. Nutzen Sie hierfür einschlägige Testverfahren (z. B. ELFE II). ■ Setzen Sie stets differenzierendes Material ein und probieren Sie auch neuere Verfahren (wie z. B. das Lesetandem) aus. ■ Denken Sie immer daran, dass ein negatives Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern die schwierigste Klippe darstellt. Wägen Sie vor jedem Einsatz einer Methode kritisch ab, ob sie auch dafür geeignet sein könnte, das Selbstkonzept ein Stück weit aufzubre‐ chen. ■ Planen Sie - zum Beispiel unterrichtsbegleitend - für die lese‐ schwächeren Schüler: innen die Teilnahme an speziellen (internet‐ basierten) Lesetrainings ein. ■ Untersuchen und bewerten Sie jeden einzelnen Text sehr genau vor dem Einsatz im Unterricht: Welches lesefördernde Verfahren könnte passen? Probieren Sie das ausgewählte Verfahren vorher möglichst selbst aus. ■ Verknüpfen Sie lesefördernde Maßnahmen so oft wie möglich mit anderen Konzeptionen aus dem Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen. ■ Werden Sie selbst kompetent im Lesen digitaler Texte, im Rezipieren digitaler Medien(produkte) und vermitteln Sie Schülerinnen und Schülern entsprechende Lesekompetenzen. ■ Sichten Sie Online-Angebote stets kritisch. Eine empfehlenswerte Seite für Ihren konkreten Unterricht ist zum Beispiel die Homepage beate-lessmann.de. Dort finden Sie auch zum Bereich Leseförderung überaus interessante Materialien (u. a. von Kin‐ dern selbst verfasste und eingelesene Texte). Darüber hinaus werden dort auch Mitschnitte von Deutschunterricht zur Verfügung gestellt: An solche Filmszenen ist in der Regel nur äußerst schwer heranzukommen und sie sind in unterschiedlicher Hinsicht von unschätzbarem Wert. 182 4 Lesen <?page no="183"?> Aufgaben 1. Erläutern Sie das Mehrebenenmodell des Lesens nach Rosebrock/ Nix. Berücksichtigen Sie dabei andere, vorgängige Lesekompetenzmodelle. 2. Nennen und erläutern Sie einige lesefördernde Verfahren und versuchen Sie, diese im Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock/ Nix) zu verorten. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung R O S E B R O C K , C. (2013) (bietet einen guten, knappen Überblick zur aktuellen lesedi‐ daktischen Diskussion) R O S E B R O C K , C./ N I X , D. (2020) (das unabdingbare Standardwerk für einen fundierten, systematisierten Überblick zur Leseförderung) W R O B E L , D. (2019) (besonders bedeutsam und hilfreich ist der praxisorientierte Versuch, die Forschungs- und Praxisliteratur zur Leseförderung zu sichten und knapp vorzustellen) Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht F R I C K E L , D. A./ K A G E L M A N N , A. (2020) (plädieren für den Einsatz anspruchsvoller literarischer Texte auch in inklusiven Settings) H O Y A , F./ H E L L M I C H , F. (2015) (kurzer, ergebnisorientierter Beitrag zu einer empi‐ rischen Studie; verdeutlicht und belegt die Bedeutsamkeit des individuellen Feedbacks für leistungsschwächere Schüler: innen) O L S E N , R. (2016) (Problematisierung der Textauswahl in einem inklusionsorientier‐ ten Literaturunterricht) P A L E C Z E K , L./ S E I F E R T , S. (Hg.) (2020) (ein Sammelband aus Österreich, der vielfältige Ideen und Anregungen für einen inklusionsorientierten Leseunterricht bietet) R O S E B R O C K , C. (2019) (grundlegender Überblicksartikel zu ‚leichten Texten‘) W R O B E L , D. (2019) (sichtet aus inklusiver Perspektive kritisch die derzeit vorfindli‐ chen lesefördernden Ansätze) 4.7 Vorlesen 183 <?page no="185"?> fünf Haupt‐ konzeptio‐ nen 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Bildungsstandards Texte erschließen - sich mit literarischen Texten auseinandersetzen - sich mit Sach- und Gebrauchstexten auseinandersetzen - sich mit Texten unterschiedlicher medialer Form und Theaterinszenierungen auseinandersetzen - Texte präsentieren - in unterschiedlichen Text‐ formen schreiben - Gespräche führen - zu/ vor/ mit anderen sprechen - verstehend zuhören - szenisch spielen Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht lehrbar ist. (Baum 2010: 119) Wie oben dargestellt (→ 4), haben wir uns in diesem Buch aus unterschied‐ lichen Gründen dafür entschieden, zwei Lernbereiche (Lesen und Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen), die in älteren Bildungsstandards noch zusammengefasst werden, getrennt auszuweisen. Die methodischen Grund‐ ausrichtungen des Bereichs Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen werden häufig (lediglich) drei Hauptgebieten zugeordnet (Leubner/ Saupe/ Richter 2016: 165): T E XTANAL Y S E (→-5.1), HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E N ‐ TI E R T E R L IT E R ATU R UNT E R R ICHT (→ 5.2) und LIT E R A R I S CH E S U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→-5.4). Da wir jedoch das S Z E NI S CHE I NT E R P R E TI E R E N (→ 5.5) und das T E XTNAH E L E S E N ( UND S CH R E IB E N ) (→ 5.3) gesondert ausweisen (die Begründung erfolgt in den entsprechenden Kapiteln), werden im Folgenden fünf übergeordnete Konzeptionen sichtbar. Anschließend gibt es Hinweise zu gattungsspezi‐ fischen Ausprägungen und zur medialen Erweiterung des traditionellen Textangebots. In allen Bereichen spielen nicht nur eine Vielzahl von Textbeziehungs‐ weise Mediensorten (→ 5.8), sondern auch sehr unterschiedliche Teilkom‐ petenzen - und folglich unzählige methodische Zugänge - eine Rolle. In diesem Zusammenhang sei an die (nicht abgeschlossene) Kompetenzdebatte erinnert (s. hierzu Frederking 2019): Gerade im Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen können (neben der Ausbildung von literari‐ scher Rezeptionskompetenz, Lesekompetenz und Medienkompetenz) durch den Deutschunterricht Fähigkeiten und Haltungen angestoßen und ausdifferen‐ <?page no="186"?> Textverste‐ hen Texte = Medien Medien = Texte ziert werden, die sich nicht in Kompetenzmodellierungen erfassen lassen (s. aber z. B. den Versuch von Scherf 2014, ‚Moralverstehen‘ kompetenzorien‐ tiert zu erfassen). Zum sogenannten Textverstehen, um das es immer wieder in den folgen‐ den Kapiteln gehen wird, äußert Baum sich trefflich: Weder die älteren literaturdidaktischen Phasenmodelle noch aktuelle Kompe‐ tenz-Raster werden der Komplexität (literarischen) Verstehens gerecht. Zwar ist es nur zu verständlich, wenn gerade aufgrund der Vielschichtigkeit des Problems die Lösungen idealtypisch ausfallen (Stufen, Kompetenzen), der Nach‐ teil ist jedoch, dass Faktoren, die aus der Literatur nicht wegzudenken sind, wie Paradoxien, komische oder groteske Verzerrungen, komplexe Bildhaftigkeit, rhythmische Bewegung etc. ebenso aus dem Blick geraten wie leserseitig der dialogische, offene, reversible, durch Fragen und Hypothesen geleitet [sic! ] Prozess der Lektüre. (2013a: 104 f., Herv. i.-O.) Damit ist implizit eine Problematik berührt, die zwar bei jeglicher Auseinandersetzung mit deutschdidaktischen Konzeptionen zum Tragen kommt, im Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen für Stu‐ dentinnen und Studenten sowie Referendarinnen und Referendare aber offensichtlich wesentlich schwerer zu bewältigen ist: die Notwendigkeit, die den Konzeptionen zugrunde liegenden - nicht selten konkurrierenden - Theorien und Methoden der Fachwissenschaft verstehen und einordnen zu können. Ohne ein profundes Wissen über zum Beispiel die Rezeptions‐ ästhetik oder die Dekonstruktion (s. zur grundsätzlichen Bedeutsamkeit dieses Ansatzes für die Literaturdidaktik bereits Kammler 1999; → S. 233) ist es nicht möglich, die vorgeschlagenen fachdidaktischen Verfahren ad‐ äquat einzuordnen. Besonders augenfällig wird das Erfordernis, wenn man erkennt, dass unterschiedliche Vertreter: innen einer Konzeption sich - wie etwa beim HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT - auf konkurrierende Literaturtheorien beziehen, um mitunter doch zu sehr ähnlichen methodischen Zugriffsweisen zu gelangen. Zum anderen sollte nie vergessen werden, dass Schüler: innen sehr oft mit künstlerischen Texten oder anderen Medien ‚umgehen‘ sollen. Dies erfordert von der Lehrkraft eine entsprechende Sensibilität und Aufmerksamkeit nicht nur den Lernenden, sondern auch den Bildungsgegenständen gegen‐ über. Allzu häufig erhält der ästhetische Eigenwert von Texten in unter‐ richtlichen Zusammenhängen zu wenig Aufmerksamkeit, werden die 186 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="187"?> Kunstwerke als solche verkannt oder für mitunter äußerst textferne unter‐ richtliche Aktivitäten instrumentalisiert. Textauswahl im (inklusiven) Literaturunterricht Die Auswahl literarischer Texte (zur Gegenwartsliteratur s. die Mono‐ graphie von Pfäfflin 2007) im konkreten Deutschunterricht ist eine weithin unterschätzte Problematik, die sich aus naheliegenden Grün‐ den vornehmlich im Primarbereich und der Sekundarstufe I zeigt (s. hierzu und zum Folgenden vertiefend Olsen 2016 u. 2020). Wenn man entsprechenden Unterricht beobachtet, muss man sehr häufig feststel‐ len, dass Studierende oder Lehrkräfte sich zunächst für eine ihnen interessant erscheinende unterrichtliche Methode entscheiden und sich erst anschließend der Textauswahl widmen. In einen sehr engen Zu‐ sammenhang damit tritt die Tatsache, dass Unterrichtende in der Regel fiktionale Texte auswählen, die möglichst in einer ‚einfachen Sprache‘ (→ 152 ff.) gehalten und damit ‚leicht verständlich‘ sind: Sie sollen von den zumeist jüngeren Schülerinnen und Schülern rasch und restlos ‚ver‐ standen‘ werden. Diejenigen Aspekte und Phänomene, die eigentlich kennzeichnend für den Umgang mit literarischen Kunstwerken (! ) sind und ästhetische Erfahrungen ermöglichen, werden durch eine derartige Vorgehensweise vollständig in den Hintergrund gerückt; in erster Linie ist hier das Irritiertsein durch literarische Texte zu nennen (s. hierzu Nickel-Bacon/ Ronge 2018 u. Ronge/ Nickel-Bacon 2018 sowie Lessing- Sattari/ Wieser 2016 u. die Beiträge in Freudenberg/ Lessing-Sattari 2020). In einem besonderen Maße scheint dies für Lehrende zu gelten, die in Förderschulen tätig sind beziehungsweise in inklusiven Kontexten an Regelschulen wirken. Noch ist kein Konsens darüber erreicht, ob alle Schüler: innen (ganz unabhängig von individuellen Begabungen, Beeinträchtigungen etc.) mit anspruchsvollen literarischen Texten kon‐ frontiert werden sollen. Selbstverständlich kann dieser Anspruch nicht für jede literaturunterrichtliche Stunde gelten, denn über ein gesamtes Schuljahr hinweg müssen natürlich auch andere, weniger ästhetisch ori‐ entierte Zielsetzungen eine gleichwertige Berücksichtigung finden, die möglicherweise erst unter Zuhilfenahme sogenannter ‚leichter Texte‘ erreicht werden können. Um allen Schülerinnen und Schülern wertvolle und nachhaltige ästhe‐ tische Erfahrungen mit literarischen Texten zu ermöglichen, bieten sich 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 187 <?page no="188"?> Sachtexte vs. literarische Texte Verstehen vs. Nichtverstehen zunächst und vor allem lyrische Texte (→ 267 ff.) an. Ute Andresen, eine ehemalige Grundschullehrerin, hat bereits vor über zwanzig Jah‐ ren erstmalig ein interessantes Büchlein mit dem programmatischen Titel Versteh mich nicht so schnell - Gedichte lesen mit Kindern (1999) herausgebracht; diese Monographie bietet einen hervorragenden ers‐ ten praxisorientierten Zugang zu literarischen Texten (mit vielen anre‐ genden Beispielen), die gemeinhin nicht mit Kindern in Verbindung gebracht werden. Eine intensive Problematisierung der Textauswahl im Deutschunterricht auch unter inklusiver Perspektive bietet der oben bereits erwähnte Beitrag von Olsen (2016; mit vielfältigen Hinweisen auf entsprechende Sekundärliteratur; s. mit Bezug zu Gedichtillustrati‐ onen auch Olsen/ Dellwing 2019 u. allgemein zur Bedeutsamkeit von Bilderbüchern für ästhetische Erfahrungen in einem inklusiven Litera‐ turunterricht z. B. Vach 2020). Erschwerend kommt hinzu, dass die häufig noch anzutreffende (scheinbar) klare Unterscheidung in fiktionale Texte auf der einen und pragmatische (oder Sachbzw. Gebrauchstexte) auf der anderen Seite fehlschlagen muss, da die Grenzen allzu häufig fließend sind (s. grundlegend hierzu Nickel- Bacon 2003); diese traditionelle Verfestigung sollte immer wieder kritisch hinterfragt (Groeben 2009: 12; Jost 2013: 22) (→ 4.4) und im Deutschunter‐ richt aufgebrochen werden. Erst dadurch wird zum Beispiel - auch schon bei Schülerinnen und Schülern - der Blick frei für das Bildhafte in nichtfiktionalen Texten (Olsen 2007). Zugute kommt dieser Entwicklung, dass neben der Sprachdidaktik auch die Literaturdidaktik ein immer stärkeres Interesse an ‚Sachtexten‘ hat (Fix/ Jost 2013; s. auch schon die Forderung von Eichler 2003). Schließlich - und dies bereitet den meisten Studentinnen und Studenten erfahrungsgemäß große Probleme - kommt dem Terminus Verstehen im Literaturbeziehungsweise Medienunterricht eine besondere Bedeutung zu. Erneut ist es Baum, der (zunächst) in Bezug auf einige Phasenmodelle (s. für einen ersten Überblick von Brand 2017), für die in dieser Hinsicht Analoges gilt, auf Folgendes aufmerksam macht: Literaturdidaktische Modelle sind in der Regel Konzeptionen gelingenden Unter‐ richts. Dies trifft z. B. auf die sehr bekannten Phasenmodelle […] zu, die der Lehrerin oder dem Lehrer einen Weg weisen, wie vom anfänglichen Nichtverste‐ 188 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="189"?> hen schrittweise zum Verstehen vorangegangen werden kann. Nichtverstehen ist dabei nur am Anfang vorgesehen und verschwindet anschließend aus dem Raum des sich idealtypisch Schritt für Schritt vollziehenden Verstehens […]. […] Literaturdidaktische Phasenmodelle helfen bei der Bewältigung von Unter‐ richtskomplexität, sind jedoch - systemtheoretisch gesprochen - auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung angesiedelt. Sie zeigen, inwiefern Verstehen möglich ist, nicht inwiefern Verstehen nicht möglich ist. Das sollte in der Unterrichtsplanung bedacht werden. (2013a: 118) Hinweis Phasenmodelle für den Literaturunterricht ■ Kreft (1982) ■ Fritzsche (1994) ■ Einecke (1994) ■ Engler/ Möbius (2006) ■ Waldmann (2011) ■ Frederking (2013) Wie sich diese Problematik konkret bei einem Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S niederschlagen kann, ist dort nachlesbar. Neben einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit dem literarischen Verstehen (s. für einen ersten Zugriff zum Beispiel das entsprechende Themenheft der Zeitschrift Der Deutschunterricht: H. 4/ 2010) müssen Lehrkräfte für das Fach Deutsch zukünftig auch eine Haltung einnehmen können, die auch das Nichtverstehen als ebenbürtige Qualität einer literarischen Kommunikation selbstverständlich einschließt (Härle/ Steinbrenner 2003). Obwohl Baum schon mehrfach (z. B. 2010) darauf hin‐ gewiesen hat, rückt das literaturbezogene Nichtverstehen erst vor dem Hin‐ tergrund der Etablierung des L IT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S (→ 5.4) zunehmend in den Fokus literaturdidaktischer Betrachtungen; siehe hierzu aus inklusionsorientierter Perspektive Olsen 2016 und die übergeordnete Modellierung in Olsen 2020. Härle (2020: 66) beispielsweise fordert die Anerkennung einer Nichtverstehenskompetenz (→ S. 194); Mitterer (2020; s. auch Mitterer 2016) plädiert für eine Ethik des Nichtverstehens - sie sei ein „wertvoller und unersetzbarer Teil allen Sprechens und Handelns, das sich 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 189 <?page no="190"?> mit Kunst beschäftigt“ (2020: 185). Bei der praxisorientierten Etablierung des Nichtverstehens kann Lehrpersonen zum Beispiel eine Offenheit gegenüber der sogenannten doppelten Lektüre nahegelegt werden. Doppelte Lektüre Der Begriff doppelte Lektüre geht auf die Dekonstruktion zurück. Er ist ein literaturdidaktischer Versuch, eine „Gleichzeitigkeit von Kontingenz und Kohärenz bearbeitbar“ (Baum 2010: 107) zu machen, der Paradoxie von Verstehen und Nichtverstehen gerecht zu werden und Lektüre zu ermöglichen, „ohne dass am Ende eine Sinneinheit oder auch nur geordnete Sinnvielfalt behauptet würde“ (ebd.). Baum weist zu Recht darauf hin, dass die doppelte Lektüre in der Literaturdidaktik nicht selten missverstanden und „zur Auflösung der pädagogischen Paradoxie […] als Form der T E XT E R S CHLI EẞUN G UND AL S R E K ON S T R UKTIO N der Auto‐ rintention“ (ebd., Herv. i. O.) aufgefasst werde. Bei der doppelten Lektüre sollte es darum gehen, Paradoxien jeder Art auszuhalten. Aus dieser Perspektive heraus bezeichnet Baum die Wendung ‚literarisches Lernen‘ (s. u.) als „Formel der Entparadoxierung“ (ebd.: 119). Lehrkräfte müssten dementsprechend die Gegensätze verschiedener Sinnzuschreibungen „zwischen der Vieldeutigkeit des Textes und dem Ordnungscharakter der Zielbeschreibungen“ (ebd.) als Chance begrei‐ fen. Sie sollten sich in ihrer Textauswahl lösen vom zumeist unterfor‐ dernden Angebot der Lehrwerke - auch und gerade im Primarbereich. Sie müssten Literatur begreifen als etwas, das nicht schnell oder gar nicht verstanden werden kann/ soll (Andresen 2004). Es liegt auf der Hand - auch das markiert eine auszuhaltende Paradoxie -, dass diese Forderung dem Großteil bildungspolitischer und schulischer Bemühungen zuwiderläuft. So sind die Überlegungen etwa von Baum nur schwerlich in Einklang zu bringen mit deutschdidaktischen Bemühungen etwa zum sogenannten ‚Vorwissen‘. Freudenberg (2012) bemerkt zu diesem Wissensbestand: Die flexible Applikation von Vorwissen auf einen literarischen Text erweist sich darin, dass der Leser seine Vorurteile sowie sein erstes Verständnis immer wieder an den Text zurückbindet, sich seiner stets aufs Neue versichert, seine Annahmen an ihm überprüft. Der kompetente Leser von Literatur nutzt sein Wissen, um 190 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="191"?> Kompe‐ tenzorien‐ tierung auf den individuellen Stil des Textes als originären Ausdruck eines Sprechers aufmerksam zu werden, und nicht, um sich sein Wissen durch den Text bestätigen zu lassen, den Text also den eigenen Erwartungen anzupassen. (Ebd.: 16) Im Vergleich wird deutlich, dass in der Deutschdidaktik ganz unterschiedli‐ che Vorstellungen zu ‚Verstehen‘ vorliegen (zumeist wird Nichtverstehen als ein Mangel aufgefasst), die untrennbar mit der ‚Kompetenzorientierung‘, die im nächsten Abschnitt eine Rolle spielen wird, gekoppelt sind. Freudenberg hat (unter anderem) 50 Abiturklausuren daraufhin untersucht, „welche Rolle leserseitiges domänenspezifisches Vorwissen für die Erschließung literari‐ scher Texte spielt“ (ebd.: 17). Die Ergebnisse sind ernüchternd: Freudenberg muss konstatieren, dass alle Proband: innen „das erworbene Vorwissen nicht in wünschenswerter Weise haben nutzen können“ (ebd.: 402); „das Vorwissen bleibt träge; wo es aktiviert wird, wird es zumeist ohne Bezug abgeladen“ (ebd.: 401). Die bisher angerissenen Aspekte können hier nur einen Minimalbereich des weiten Feldes, den der Lernbereich Sich mit Texten und Medien aus‐ einandersetzen ausmacht, abstecken. Gerade die erfolgte Etablierung der Kompetenzorientierung birgt „die Gefahr, dass Lehrpersonen […] in eine ähnliche kleinschrittige Vorgehensweise zurückfallen, wie sie zur Zeit der Lernzielorientierung üblich war“ (Schubert-Felmy 2014: 113). Auch wenn die Zeit der (unsäglichen) Operationalisierung von Unterrichtszielen vorbei ist: Bei der Vorbereitung von Unterricht sollen sich die gesteckten Ziele mög‐ lichst in entsprechenden Kompetenzen wiederfinden - dies ist ministeriell durch die Bildungspläne so vorgegeben. Die oben aufgeführten Bildungsstandards stellen zentrale, sehr allge‐ meine Zielsetzungen des Lernbereichs Sich mit Texten und Medien auseinan‐ dersetzen dar. In den Ausführungen für die unterschiedlichen Schularten werden diese in spezifische Teilkompetenzen ausdifferenziert. Jedoch er‐ scheint es auch über den Aspekt des Textverstehens hinaus nicht möglich, alle Zielsetzungen in abprüfbare Kompetenzen zu transformieren (Kepser 2012a). Und es scheint sich nach einer nunmehr über zwanzig Jahre lang währenden, in weiten Teilen unkritischen Kompetenzorientierung zumindest in der Literaturdidaktik nach und nach die - möglicherweise ‚überlebenswichtige‘ - Überzeugung auszubilden, dass eine adäquate, sinn‐ volle Rezeption literarischer Texte weit über den Erwerb bildungspolitisch eingeforderter Kompetenzen hinausreichen muss: 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 191 <?page no="192"?> literari‐ sches Lernen Denn wenn all das, was über den kompetenzorientiert zu vermittelnden Bereich des Literaturunterrichts hinausgeht, aus dem Kernbereich des Faches eskamotiert wird, wird die Frage, worüber sich Literaturunterricht noch legitimieren kann, schwierig zu beantworten. Will man das Potential entfalten, das Literatur als Gegenstand schulischer Lernprozesse besitzt, so ist dies in den engen Grenzen des Weinert’schen Kompetenzbegriffs nicht möglich. (Brune 2020a: 12) Die Literaturdidaktik bemüht sich schon sehr viel länger um die Formulie‐ rung von Zielsetzungen und/ oder Kompetenzen - nicht erst seit PISA. Der größte Teil der Vorschläge bezieht sich - obwohl Schüler: innen selbst‐ verständlich auch produktiv tätig sein sollen - auf die Rezeption von Texten (eine ‚wirkliche‘ produktive Tätigkeit im Sinne des Hervorbringens eigener Werke stellt eher eine Randerscheinung im Deutschunterricht dar: s. hierzu Gans/ Prenting 2012 u. Abraham 2017a). Trotz einiger interes‐ santer Vorschläge, die vor dem Hintergrund von Bestimmungsversuchen der textseitigen Anforderungen literarischer Texte (Eggert 2009) gesehen werden sollten, gibt es keinen Konsens in Bezug auf einen ‚Kanon‘ von Kompetenzen. Die unter die Wendung literarisches Lernen subsumierbaren, von Spinner formulierten elf Aspekte (2006) können trotz einer „Reihe ungelöster Pro‐ bleme“ (Kammler 2012a: 16) als der „bislang überzeugendste[n] Versuch einer Systematisierung nicht nur des literarischen Lernens, sondern auch der entsprechenden Lern- und Kompetenzbereiche“ (ebd.) bezeichnet wer‐ den. In der Lehrkräfteprofessionalisierung aller Phasen scheint literarisches Lernen nach Spinner die am häufigsten herangezogene Grundlage zur literaturdidaktischen Begründung von Literaturunterricht zu sein. So zeigt sich in Unterrichtsentwürfen mitunter eine nicht unproblematische Veren‐ gung auf die Inhalte des vielfach zitierten literaturdidaktischen Fachtexts. Dies könnte nicht zuletzt daran liegen, dass die Wendung literarisches Lernen mittlerweile einzig dem Spinner’schen Text zugedacht wird, obwohl derartige Aspekte zum Beispiel bereits von Büker (2002) oder Waldt (2003) thematisiert wurden (s. zur Terminologie auch Frederking 2019: 377 f.) Li‐ terarisches Lernen ist eine Zielsetzung des Literaturunterrichts und kann als kompetenzorientierte Modellierung verstanden werden; die Aspekte werden von Spinner allerdings als nicht zwangsläufig überprüfbare Teilkompeten‐ zen bezeichnet und er plädiert daher dafür, „dass auch als Kompetenz gelten darf, was wir empirisch (noch) nicht überprüfen können“ (Spinner 2015: 189; s. hierzu auch Spinner 2017a). Die Aspekte können in ihrer Offenheit 192 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="193"?> grundsätzlich zwar als messbare literarische Kompetenzen (s. hierzu z. B. die Kompetenzmodellierung literarischer Kompetenz von Schilcher/ Pissarek 2018) betrachtet werden, zeigen sich jedoch vielmehr als eine hoch anschluss- und leistungsfähige Ausbuchstabierung literarischen Ler‐ nens. Sie stiften eine Einheit des Literaturunterrichts von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II, sie kombinieren text- und leserorientierte Anliegen, sie verfolgen eine Subjektorientierung auch unter den Vorzeichen der Kompetenz‐ orientierung. (Maiwald 2015: 85) Aspekte des literarischen Lernens (nach Spinner 2006) 1. beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln (s. grundlegend hierzu Brune 2020a: 269 ff.; empirische Erkenntnisse - auch in Verbindung mit der Perspektivübernahme - finden sich bei Stark 2018) 2. subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen (Winkler 2021 perspektiviert diesen Aspekt international) 3. sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen (s. hierzu das Aufga‐ benbeispiel von Starz 2014; didaktisch vertiefend Wiprächtiger-Geppert/ Lüscher Mathis 2014 sowie Olsen 2017; eine empirische Annäherung zum Zusammenhang von Perspektivenübernahme und Textverstehen findet sich bei Buhl 2016; ein dreistufiges entsprechendes Modell stellt Rietz 2017 vor) 5. narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen 6. mit Fiktionalität bewusst umgehen (s. grundlegend in theoretischer und empirischer Hinsicht König 2020; s. hierzu auch das Aufgabenbeispiel von Rosebrock 2014c) 7. metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen (s. hierzu das Aufgabenbeispiel von Rank 2014) 8. sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen 9. mit dem literarischen Gespräch vertraut werden (→ 5.4) (Winkler 2021 perspektiviert diesen Aspekt international) 10. prototypische Vorstellungen von Gattungen/ Genres gewinnen 11. literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 193 <?page no="194"?> „Der kompetente Leser sollte nicht nur die Fähigkeit besitzen, in einer Geschichte imaginativ zu versinken, sondern auch die Fertigkeit, ein mieses Buch wütend in die Ecke zu feuern.“ (Abraham/ Kepser 2009: 73) Trotz der nachvollziehbaren Kritik an dieser Aufstellung (s. z. B. Abra‐ ham/ Kepser 2016: 84 ff.) plädieren wir nach wie vor für Beachtung dieser - auch, weil sich die Aspekte problemlos auf andere mediale Formen von Literatur (→ 5.7) übertragen lassen (Spinner 2010a); vielfältige praxisorien‐ tierte Anregungen finden sich etwa im entsprechenden Schwerpunktheft (H. 48/ 2015) der Zeitschrift Grundschule Deutsch. Lindner (2017) hat sich intensiv mit den sogenannten ‚Leerstellen‘ in literarischen Texten auseinandergesetzt und schlägt in diesem Zusammen‐ hang vor, der obigen Spinner’schen Auflistung einen zwölften Aspekt hin‐ zuzufügen: mit Unbestimmtheitserfahrungen umgehen (ebd.: 168). Dadurch „würde man mit dem Tabu des Nichtverstehens brechen, das aufgrund der permanenten Bewertungssituationen im Schulsystem allgegenwärtig ist“ (ebd.); auch Härle (2020) spricht sich dafür aus (s. hierzu grundlegend Olsen 2020). Spinner selbst weist später an anderer Stelle (2017b: 144 f.) explizit darauf hin, dass seine Modellierung (mindestens) noch um folgende Aspekte erweitert werden sollte: ■ Identitätsbildung ■ psychologisches Verstehen ■ moralische Urteilskraft ■ Phantasie und Vorstellungsfähigkeit ■ Erweiterung des Weltwissens ■ ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit Aus inklusiver Perspektive widmet von Brand (2019a) sich grundlegend einer Modellierung eines entsprechenden literarischen Lernens. Dabei geht er streng schematisch vor, indem er vier Felder als besonders relevant für einen inklusiven Deutschunterricht ausweist (ebd.: 226-ff.): 194 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="195"?> 1. Lernende mit ihren individuellen Voraussetzungen □ Legasthenie/ LRS □ AD(H)S □ Hochbegabung □ emotionale und soziale Entwicklung □ geistige Entwicklung □ Hören □ körperliche und motorische Entwicklung □ Lernen □ Sehen □ sprachliche Entwicklung □ Autismus □ Krankheit (gemeint sind in erster Linie chronische Erkrankungen) 2. erwünschte Kompetenzentwicklung Von Brand steht dem modernen Kompetenzparadigma äußerst skeptisch gegenüber, lehnt es jedoch nicht grundsätzlich ab, sondern ruft (u. a.) dazu auf, „die vorhandenen Konzepte vor allem auch daraufhin zu hinterfragen, ob sie in ausreichendem Maße die Auswirkungen des Zugewinns an Bedeutung von Heterogenitätsaspekten in den Lehr- Lernsituationen berücksichtigen“ (ebd.: 231). 3. mögliche Gegenstände □ Textschwierigkeit (Einfachheit von Texten/ Beseitigung von Text‐ schwierigkeiten) (zum Einschätzen der Schwierigkeit eines litera‐ rischen Textes in Bezug auf Schüler: innen der Sekundarstufe I s. auch Bremerich-Vos 2017) □ mediale Repräsentation(en) (grafische Adaptionen/ Medienver‐ bünde) 4. sinnstiftende Lehr-Lern-Arrangements □ gemeinsames Lernen (koexistente, kommunikative, subsidiäre und kooperative Lernsituationen) □ Individualisierung □ Differenzierung (sozial, didaktisch, methodisch, arbeitsorganisa‐ torisch) □ Handlungs- und Produktionsorientierung □ literarische Kommunikationsformen 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 195 <?page no="196"?> Hinweis Auf europäischer Ebene wurde ein Referenzrahmen Literatur erarbei‐ tet, der Niveaus der literarischen Entwicklung beschreibt. Neben Kom‐ petenzniveauübersichten, ‚Bücher-Eigenschaften‘, Buchempfehlungs‐ listen und didaktischen Hilfestellungen bietet die Website de.literary framework.eu auch didaktische Analysen an (für nähere Informationen s. Pieper 2014). Einen Versuch, literarisches Lernen kompetenzorientiert in Bezug auf Mess‐ barkeit zu modellieren, haben Schilcher/ Pissarek (2018) in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik unternommen. Sie grenzen sich zu Spinners Modell insofern ab, als sie lediglich diejenigen Aspekte des Umgangs mit literarischen Texten in ihr Modell aufnehmen, die sich auch im Literaturunterricht prozessorientiert entwickeln ließen. Die von ihnen vorgestellten Subkompetenzen unterglie‐ dern sie in unterschiedliche Niveaustufen; sie orientieren sich dabei an „vermuteten Entwicklungslinien“ (ebd.: 25): 1. explizite und implizite Textbedeutung verstehen 2. grundlegende semantische Ordnungen erkennen 3. Überstrukturierung poetischer Texte: Metrik, Rhetorik, Mythologie 4. Merkmale der Figur erkennen und interpretieren 5. zeitliche Gestaltung rekonstruieren und beschreiben 6. Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren 7. die Vermittlungsebene von Texten analysieren 8. mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umgehen 9. kultureller Kontext - kulturelle Situierung Das BOLIVE-Modell von Boelmann, König und Klossek (Boelmann/ König 2021) stellt eine Weiterentwicklung des Bochumer Modells literarischen Verstehens (Boelmann/ Klossek 2013) dar. Tipp Der Band von Boelmann/ König (2021) ist unter bolive.de herunter‐ ladbar; zudem finden sich dort Übertragungen der entsprechenden Lehrpläne aus Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Nie‐ 196 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="197"?> dersachsen und Nordrhein-Westfalen in die BOLIVE-Systematik sowie kurze Erklärvideos, in denen das Modell und seine Anwendung erläutert werden. Es fokussiert literarische Lernprozesse von der Primarbis in die Sekun‐ darstufen und erhebt den Anspruch, als Erwerbsstufenmodell literarischer Kompetenz für die schulische Diagnostik wie auch die empirische Forschung pragmatisch nutzbar zu sein. Boelmann und König unterscheiden zwischen literarischer Bildung und literarischer Kompetenz, die beide für das lite‐ rarische Verstehen gleichermaßen wichtig seien, sich jedoch strukturell unterschieden. Unter literarische Kompetenzen subsumieren sie diejenigen Aspekte literarischen Verstehens, die ihrer Ansicht nach 1) modellierbar, 2) messbar, 3) operationalisierbar und 4) auf unterschiedliche Lerngegenstände übertragbar seien. Die sechs Grundkompetenzen werden in Niveau- und detailliertere Durchdringungsstufen ausdifferenziert. Literarische Bildung hingegen umfasse alle spezifischen Wissensbestände sowie affektive, ko‐ gnitive und metakognitive Aspekte, die nicht alle diese vier Bedingungen erfüllten. Eine Wertung gehe hiermit nicht einher: Boelmann und König weisen explizit mehrfach darauf hin, dass ein Aspekt wie zum Beispiel Genussfähigkeit, der wohl nur schwerlich messbar sein dürfte, auf gar keinen Fall als weniger bedeutsam für den literarischen Verstehensprozess angesehen werden sollte. Das Modell stellt sich in groben Zügen wie folgt dar (die grundlegenden vier Teilkompetenzen beziehen sich auf Ebene 1 und somit auf die Erzählung des Textes): Handlungsebene 1. narrative und dramaturgische Handlungslogik im thematischen Zusam‐ menhang verstehen 2. Perspektiven, Handlungsmotivationen und erlebte Grunderfahrungen literarischer Figuren verstehen Metaebene 1. sprachliche Mittel verstehen 2. symbolische und metaphorische Ausdrucksweise verstehen Diese Teilkompetenzen wirkten sich in Folge auf das Verstehen der Erzähl‐ instanz (Ebene 2) sowie die Sinndeutung (Ebene 3) aus. Das BOLIVE-Modell 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 197 <?page no="198"?> literari‐ sche Bildung durch lite‐ rarische Erfahrung versteht die Kompetenzen der ersten beiden Ebenen als Analyse-Kompeten‐ zen (Boelmann 2015: 86): Einzelne Merkmale werden untersucht, zerlegt und durch mögliche Bedeutungsdimensionen angereichert. Die Sinndeutung (Ebene 3) hingegen wird nicht als Analyseleistung verstanden, sondern als Zusammenführung der einzelnen Analysen in eine kohärente Sinndeutung des Textes im Sinne einer Synthese der zuvor erbrachten Analyseleistungen. Sowohl das Modell von Schilcher/ Pissarek als auch das von Boelmann/ Kö‐ nig sind unseres Erachtens in besonderem Maße als Fundament für die schulische Textanalyse geeignet (→ 5.1); an genannter Stelle werden die Modelle deshalb auch noch einmal ausführlicher vorgestellt. In Bezug auf das literarische Lernen selbst jedoch liefern auch diese Modelle noch keine befriedigenden Antworten; hinzu kommt, dass die beiden Modelle nur auf erzählende Texte anwendbar sind. Lösener (2014) fordert deshalb: Das literarische Lernen muss auch in Zukunft über messbare Standards hinaus‐ gedacht und es müssen dafür Konzepte entwickelt werden, die langfristige Lern- und Entwicklungsprozesse im Umgang mit Literatur miteinander in Beziehung setzen. […] Die Literaturdidaktik sollte weiter an Kompetenzmodellen für das literarische Lernen arbeiten, die sich nicht unter das instrumentalistische Bil‐ dungskonzept der BS [gemeint sind die Bildungsstandards, C. H./ A. K./ R. O./ C. M.] subsumieren lassen, die aber dem Anspruch gerecht werden, grundlegende personale, sprachliche und methodische Fähigkeiten, die beim literarischen Lernen erworben werden können, präzise zu beschreiben. (Ebd.: 19) In diesem Zusammenhang - dies wurde bei der Modellierung von Boel‐ mann/ König recht deutlich - geraten auch folgende Wendungen immer wieder in die Diskussion: literarische Erfahrung und literarische Bildung. Sie tauchen beim literarischen Lernen als Teilaspekte zwar sowohl explizit als auch implizit auf, werden unserer Erfahrung nach dort jedoch mithin ein wenig ‚übersehen‘, sodass wir an dieser Stelle kurz gesondert auf sie hin‐ weisen möchten. Die Literaturdidaktiker Rank und Bräuer haben im Jahre 2008 eine interessante Konzeption vorgelegt, die unserer Einschätzung nach immer noch nicht in einem angemessenen Maße rezipiert wird. Sie beziehen Bildung und Erfahrung eng aufeinander und verstehen literarische Bildung „als einen fortdauernden Prozesses [sic! ] der Bildung durch und zur Literatur auf dem Weg über literarische Erfahrungen“ (2008: 68). Für die schulische Praxis besonders bedeutsam ist die von ihnen umfänglich ausgearbeitete didaktische Systematisierung (ebd.: 77 ff.), die eine hervorragende Wegwei‐ sung bietet für die Frage, ob und inwieweit ein literarischer Text (oder 198 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="199"?> literarästheti‐ sche Literalität aber auch ein anderes Medium) für anvisierte Lernprozesse geeignet ist. Ein derartiges notwendiges didaktisches Ausloten für jeden einzelnen Text vermisst man im schulischen Literaturunterricht häufig schmerzlich. Die Konzeption von Rank und Bräuer haben Bräuer und Wiprächtiger-Geppert (2019) für einen inklusionsorientierten Literaturunterricht entsprechend aufgegriffen und weitergeführt. Brune (2020a) hat in einer seiner Monographien den Versuch unternom‐ men, dem Spannungsfeld, das zwischen einer Kompetenzorientierung und einem Bildungsideal (im Humboldt’schen Sinne) und insbesondere ästheti‐ schen Lernprozessen besteht, insofern produktiv zu begegnen, als er ein ver‐ mittelndes Modell einer literarästhetischen Literalität überzeugend entfaltet. Hierzu stützt er sich bei seiner Modellierung auf das literacy-Konzept der New London Group (ein pädagogisch orientierter Zusammenschluss austra‐ lischer, amerikanischer und britischer Wissenschaftler: innen unterschiedli‐ cher Disziplinen mit dem Ziel, die bisherige Engführung von ‚Literalität‘ zu erweitern; s. hierzu ebd.: 205 ff.), um zu neuen Perspektiven zu gelangen, „die innerhalb der Kompetenzorientierung im Sinne Weinerts nicht denkbar sind“ (ebd.: 208). Ganz grob und stark vereinfachend dargestellt: Das Kollek‐ tiv New London Group veranschlagt als bedeutsamste Kategorie Design (hier im Sinne von ‚das Ästhetische‘) mit den Unterkategorien Available Designs (Aufbau von Bedeutungen), Designing (Aktivierung zur Selbstgestaltung) und The Redesigned (Reflexion der Produkte). Für den Literaturunterricht bedeutet dies - unter explizitem Verweis auf den Anglisten Robert Scholes - zunächst konkret, die Bedingungen kulturell codierter Bedeutungskonstruktionen über die Ausein‐ andersetzung mit Sprache insbesondere in literarischen Verwendungskontexten zur Reflexion kommen zu lassen und zugleich Fähigkeiten zu vermitteln, die Schüler_innen in die Lage versetzen, gestaltend mit dem vorgefundenen Material im Rahmen von Selbstbildungsprozessen umzugehen. (Ebd.: 212) Brune bindet diese bedeutsame Ausrichtung enger an (anspruchsvolle) literarische Gegenstände und ihre Besonderheiten (etwa das in diesem Fall deutliche Hervortreten der poetischen Funktion) an und plädiert hin‐ sichtlich unterrichtsmethodischer Ausrichtungen für eine Berücksichtigung unterschiedlicher literaturdidaktischer Konzeptionen - stets vom individu‐ ellen künstlerischen Text und seinen ästhetischen Spezifika ausgehend. Der Rückgriff auf das (erweiterte) Konstrukt Literalität ermöglicht in diesem Modell unter anderem den bewussten Einbezug bestimmter Fähigkeiten, die 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 199 <?page no="200"?> bisher im Sinne der (Weinert’schen) Kompetenzorientierung zumeist expli‐ zit keine Berücksichtigung erfahren konnten: ästhetische Wahrnehmungen, Imaginationen, sinnlicher Genuss etc. Hervorgehoben werden muss in diesem Zusammenhang noch einmal, dass Brune mittlerweile etablierte Kompetenzbereiche für den Literaturunterricht nicht grundsätzlich ablehnt, sondern sie - lediglich - als „Ausgangspunkte“ (ebd.: 219) für anzustrebende ästhetische (Nicht-)Verstehensprozesse begreift. Es muss abschließend dar‐ auf hingewiesen werden, dass die Brune’sche Modellierung, die den Versuch unternimmt, die Termini Kompetenz, Literalität und Bildung produktiv literaturdidaktisch zusammenzudenken, sehr komplex ist und hier nicht umfassend und leicht nachvollziehbar dargestellt werden kann: Im letzten Drittel seiner Monographie veranschaulicht Brune seine theoretischen Überlegungen in überzeugender Weise und verweist hinsichtlich methodi‐ scher Umsetzungsmöglichkeiten im konkreten Unterricht auf eine Vielzahl bekannter literaturdidaktischer Konzeptionen, die wir im Anschluss an diese Einleitung im Einzelnen darstellen werden. Was immer wieder bereits in den vorherigen Kapiteln thematisiert wurde (und auch bei Brune 2020a anklingt), kommt in den folgenden ganz beson‐ ders zum Tragen: Die einzelnen Konzeptionen werden nur im Ausnahmefall allein zur Anwendung gelangen. Matthiessen merkt hierzu an: Verschiedene erfolgversprechende didaktische sowie methodische Wege sind denkbar; so kann gleichermaßen mit dem Rezeptionsdiskurs als Problemstellung begonnen werden wie mit einer handlungsorientierten Inszenierung, die dann textimmanent hermeneutisch und strukturell analysierend weitergeführt wird und in einer Schreibaufgabe endet. (2008: 136) Lektüreempfehlungen zur Vertiefung Leseräume, H. 2/ 2015 (leseräume.de) (aus unterschiedlichen Perspektiven werden einige Aspekte des literarischen Lernens nach Spinner konstruktiv kritisiert, kontextualisiert und weiterentwickelt) Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht B R A N D , T. V . (2018) (bietet einen geeigneten ersten didaktischen Zugriff auf die Thematik) B R A N D , T. V . (2019a) (ein grundlegender Versuch, literarisches Lernen für inklusive Lerngruppen zu modellieren) 200 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="201"?> B R ÄU E R , C./ W I P R ÄC H T I G E R - G E P P E R T , M. (2019) (in diesem Beitrag wird aus einer übergeordneten Perspektive ausgelotet, welche Anforderungen und Herausfor‐ derungen sich beim ‚literarischen Lernen für alle und mit allen‘ ergeben) M ÜL L E R , C. (2017) (praxisorientierte Überlegungen zu einem inklusiven Literatur‐ unterricht für Schüler: innen ohne deutsche Sprachkenntnisse) O L S E N , R. (2016) (hier wird am Beispiel eines anspruchsvollen lyrischen Textes aufgezeigt, wie inklusionsorientierte Bildung im Literaturunterricht konzipiert werden kann) 5.1 Textanalyse Eine Analyse von Erzähltexten erlaubt die deutliche Erkenntnis von Strukturen, die zum einen die (auch) subjektive Interpretation anregt und zum anderen ihre Spielräume begrenzt, sodass die Gefahr vermieden werden kann, eine Erzählung als bloßen Anknüpfungspunkt für subjektive Assoziationen oder konventionelle Deutungen von Wirklichkeit zu nutzen […]. (Leubner/ Saupe 2012: 18) Seitdem in Schulen Texte gelesen werden, wird von Lernenden in ganz unterschiedlicher Weise verlangt, dass sie diese auch analysieren und/ oder interpretieren. Diese beiden Termini wurden und werden in der Fachwissen‐ schaft (und in der Fachdidaktik) immer wieder diskutiert und es wird bis heute versucht, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen (für einen ersten knappen Überblick s. Spinner 2017c). In den Bildungsstandards und in den einzelnen Bildungs- oder Lehrplänen der Bundesländer tauchen im Zusammenhang mit dem Lernbereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen immer wieder folgende Begriffe auf: ‚Verstehen‘, ‚Analysieren‘ und ‚Interpretieren‘. Mal hat man den Ein‐ druck, dass sie untereinander austauschbar - also synonym - seien; mal glaubt man, dass es wohl doch irgendeine Form der Überbeziehungsweise Unterordnung geben müsse. Diese Unsicherheit scheint sich jedoch in Prüfungsaufgaben erledigt zu haben: In Abituraufgaben heißt es häufig: „Analysieren Sie den folgenden Text von XY und interpretieren Sie …“ Die scheinbare Klarheit der Begriffsverwendung und dieser Abfolge setzt sich dann häufig im Lehramtsstudium fort (obige schriftliche Arbeitsanweisung findet sich in entsprechenden Prüfungen nicht selten wortgleich wieder). 5.1 Textanalyse 201 <?page no="202"?> Begriffsgeschichtliches Um die Gesamtproblematik zumindest ein wenig einschätzen zu kön‐ nen, muss ein minimaler Blick auf die Geschichte des Begriffs Verstehen geworfen werden. Er ist einer der Schlüsselbegriffe sowohl der Litera‐ turwissenschaft als auch der Philosophie. Während Anfang des 20. Jahrhunderts versucht wurde, sich mit ihm gegenüber den Methoden der Naturwissenschaft abzugrenzen, gab es in der Begriffsgeschichte unzählige Versuche, ihn immer wieder neu zu bestimmen. Definiti‐ onsversuche reichen vom ‚Sich-Hineinversetzen‘ (Humboldt) über ein ‚Wiedererkennen im Fremden‘ (Gadamer) bis zur Anerkennung seines ‚hypothetischen Charakters‘ (Frank). Als ab den 1960er-Jahren verschiedene strukturalistische Strömungen der Literaturwissenschaft auftraten und diese - vereinfacht ausgedrückt - den Begriff Verstehen ablehnten, um nunmehr ausschließlich einen ‚analyti‐ schen Blick‘ auf Texte zu richten, wurde ihren Vertreterinnen und Vertretern vorgehalten, dass auch dieses Vorgehen eine Form des Verstehens beinhalte. Erläuterung Der Strukturalismus ist eine Methode der Literaturwissenschaft, die linguistische Wurzeln aufweist. Vertreter: innen des Strukturalismus sind weniger an den Inhalten eines Textes interessiert; mithilfe von Strukturanalysen sollen die formalen Organisationsprinzipien eines Textes aufgedeckt und die einzelnen Einheiten benannt werden können. Wenn man nun noch den Begriff Interpretieren (lat. = Auslegung, Überset‐ zung, Erklärung) in die unmittelbare Nähe zu Verstehen setzt - und dies ist unproblematisch möglich -, wird sehr deutlich, dass die Unschärfen der Begrifflichkeiten in der Natur der Sache selbst liegen. Auch wenn es umstritten ist: Analyse und Interpretation sollten unseres Erachtens getrennt voneinander betrachtet werden. Interpretation - oder auch Verstehen - lässt sich dem Begriff Analyse überordnen, denn „verste‐ hen kann man auch ohne explizite Analyse“ (Leubner/ Saupe 2012: 18). Das Wort Analyse entstammt dem Altgriechischen und bedeutet ‚Auflösung‘: Ein Ganzes wird in seine Teile zerlegt und die Teile werden in ihrem Ver‐ 202 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="203"?> hältnis zum Ganzen untersucht. Das Problematische daran ist, dass genau so auch das Verstehen im Sinne der hermeneutischen Spirale funktionieren soll. Trotz dieses vielfältig verwobenen und teilweise auch paradox anmuten‐ den Hintergrunds kann man in Bezug auf einen schulischen Umgang mit Texten davon ausgehen, dass eine T E XTANAL Y S E sich sehr viel stärker auf textinterne Faktoren konzentriert - im Gegensatz zu einer wie auch immer gearteten Interpretation, die stets auch textexterne Aspekte einbezieht. Von einem derartigen Verständnis von T E XTANAL Y S E sind die oben genannten strukturalistischen Strömungen geprägt, die sich unter anderem auf die Methoden des Linguisten de Saussure berufen. Überblickt man die einschlägigen deutschdidaktischen Einführungen, fällt auf, dass die T E XTANAL Y S E überhaupt nicht explizit als Konzeption auftaucht und häufig nur als - mitunter mahnende - Abgrenzungsfolie zum HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT gestreift wird. Die Ratsuchenden finden zwar hin und wieder komplizierte Einblicke in Spezialdiskurse, aber wie methodisch vorgegangen werden könnte, mutet beinahe wie ein Geheimnis an - oder es wird einfach stillschweigend davon ausgegangen, dass Lehrende dies ohne weitere Hinweise einfach vermitteln könnten. Das ist sehr verwunderlich, denn (schriftliches) Analysieren und Interpretieren spielen - wie oben schon erwähnt - letztlich die Hauptrolle vor allem im gymnasialen Deutschunterricht. Aufgrund der großen literaturwissenschaftlichen Methodenvielfalt und insbesondere aus der sich aus poststrukturalistischer Perspektive ergeben‐ den Ablehnung der tradierten schulischen Praxis dürfte es heute im Prinzip keine anerkannte konzeptionelle Grundlage zur traditionellen T E XTANAL Y S E geben. Es gibt jedoch einige bewährte unterrichtliche Zugriffe, die seit einiger Zeit insbesondere von Leubner und Saupe neu konzipiert werden. Erläuterung Poststrukturalisten sind der Auffassung, dass Textmerkmale sich nicht ‚feststellen‘ oder ‚festschreiben‘ ließen, sondern dass diese sich durch beständige Diskontinuitäten und Bedeutungsverschiebungen auszeich‐ neten. Sie fragen „nach den Ursprüngen und Bedingungen für ihr Entstehen, nach den normativen Kontexten, die sie hervorbringen“ 5.1 Textanalyse 203 <?page no="204"?> (Wrobel 2010: 207). Viele Vertreter: innen rücken intertextuelle Bezüge in den Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Die Tätigkeit des Interpretierens - häufig nach einer Textanalyse - wird in der Didaktik zumeist in den Verantwortungsbereich anderer Konzeptio‐ nen übertragen. Dem Deutungsangebot eines literarischen Textes können Schüler: innen möglicherweise angemessener in einem LIT E R A R I S CH E N U NT E R ‐ R ICHT S G E S P RÄCH näherkommen als durch das Verfassen eines traditionellen ‚Interpretationsaufsatzes‘. Diese Textsorte ist in der Didaktik schon seit langer Zeit stark umstritten; in Schulen spielt sie jedoch immer noch vor allem als Klausurform eine herausragende Rolle, und auch in Hochschulen wird das Verfassen dieser Textsorte in bedeutsamen (Abschluss-)Prüfungen verlangt, obwohl es irritierenderweise in der Regel nicht explizit gelehrt wird. Bezogen auf den schulischen Kontext spricht Fritzsche von einem „unseligen Zirkel“ (1994: 248): „Die I. [gemeint ist der ‚Interpretationsauf‐ satz‘, C. H./ A. K./ R. O./ C. M.] wird nur geübt, weil sie in der Klausur gekonnt werden soll, und geprüft wird sie, weil sie als Lerngegenstand behandelt worden ist“ (ebd.). Insbesondere auch vor dem Hintergrund neuerer Lite‐ raturtheorien ist ihre Anwendung nur noch schwerlich zu vertreten. Wir werden dem klassischen ‚Interpretationsaufsatz‘ deshalb in diesem Buch keinen größeren Platz einräumen, sondern verweisen auf die hilfreichen Ausführungen von Pieper (2008), Abraham/ Kepser (2016: 255-ff.), Kammler (2012b), Köster (2017) und Zabka (2017). Darüber hinaus empfehlen wir den noch stärker praxisorientierten Beitrag von Baurmann/ Kammler (2012), das Praxis Deutsch-Heft 234, das (im Wissen um die große Problematik) Wege eröffnen möchte, „die sowohl dem Gegenstand als auch den Beteiligten gerecht werden“ (ebd.: 4), das erste Heft der Zeitschrift ide aus dem Jahr 2021 (Interpretieren) sowie insbesondere den literaturdidaktisch und litera‐ turwissenschaftlich ausgerichteten Sammelband Interpretationskulturen von Lessing-Sattari et al. (2015) und die umfangreiche Monographie Interpretati‐ onsaufsätze schreiben von Rödel (2016), die sowohl für den schulpraktischen Gebrauch (in der Sekundarstufe II) als auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik besonders geeignet ist. Am Ende dieses Kapitels wird ein gesonderter (kurzer) Abschnitt zum Bereich Sachtexte stehen, denn diese können natürlich ebenfalls analysiert werden - dieser Aspekt wird mitunter nicht deutlich genug herausgestellt. Das mag daran liegen, dass die moderne Lesedidaktik (→-4) sich vorrangig 204 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="205"?> theoreti‐ scher Hin‐ tergrund um die Erschließung von Texten bemüht, denen Informationen entnom‐ men werden können; damit verbundene Tätigkeiten (die Anwendung von Lesestrategien etwa, → 4.3) sind aber implizit als kognitiv-analytisch zu bewerten. Darstellung Dieser Abschnitt befasst sich zunächst mit literarischen, und zwar aus‐ schließlich erzählenden, Texten. Diese Gattung ist die in Schulen am häu‐ figsten verwendete (zu anderen literarischen Gattungen →-5.6). - Literarische Texte Verfahren der schulischen T E XTANAL Y S E (und der Interpretation) lassen sich immer nur vor dem Hintergrund einer Anlehnung an literaturwissen‐ schaftliche Verfahren verstehen, von denen Wrobel (2010) die wichtigsten skizziert: ■ werkimmanentes Verfahren Ausgehend von der Vorstellung, dass literarische Texte autonom seien, wird bei diesem Verfahren davon ausgegangen, dass in einem Text alles enthalten sei, was für das Verständnis erforderlich ist. ■ biographisches Verfahren Hierbei werden Verbindungslinien zwischen dem Text und der Urhebe‐ rin beziehungsweise dem Urheber konstruiert. Obwohl dieses Verfahren spätestens seit der wichtigen Schrift Der Tod des Autors (1968) von Roland Barthes heftig kritisiert wird, zählt es nicht nur an Schulen, sondern in besonderem Maße auch an Hochschulen immer noch zu den wohl häufigsten. ■ strukturalistische Verfahren ■ poststrukturalistische Verfahren Eine noch stärkere Ausdifferenzierung in unterschiedliche, sich teil‐ weise auch vehement widersprechende Ansätze lässt sich beim Post‐ strukturalismus beobachten. Die Vertreter: innen (vor allem Foucault, Derrida und Lacan) lehnen strukturalistische Tätigkeiten ab. 5.1 Textanalyse 205 <?page no="206"?> Ziele Leubner/ Saupe ■ literatursoziologische Verfahren Die Literatursoziologie umfasst mehrere Strömungen, wie zum Beispiel Gender Studies oder interkulturell orientierte Ansätze. Weit über die Bio‐ grafie der Autorin beziehungsweise des Autors hinausreichend werden bei diesen Verfahren Produktion (Spannungsverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Text), Distribution (z. B. Vertriebsbedingungen) und Rezeption (die lesende Person in ihrem sozialen Kontext) berück‐ sichtigt. Erläuterung Ein werkimmanentes Verfahren ist eine literaturwissenschaftliche Me‐ thode. Die Vertreter: innen stellen den Text in den Vordergrund und untersuchen in der Detailanalyse sprachlich-ästhetische Besonderhei‐ ten (z. B. Satzbau, Erzähltechniken und Stilfiguren). Die positivistische Literaturwissenschaft widmet sich in erster Linie der Biographie der Autorin beziehungsweise des Autors. Daneben werden noch andere Quellen (zum Beispiel Tagebücher und Briefe) herangezo‐ gen. Die Herangehensweise beschränkt sich jedoch nicht - dies wird oft falsch dargestellt - auf inhaltliche Aspekte des literarischen Textes, sondern untersucht auch sprachliche Auffälligkeiten. Ein zentrales Ziel beim schulischen Umgang mit erzählenden Texten ist die sogenannte (rezeptive) Narrationskompetenz. Diese soll als Kompetenz des Rezipienten gelten, sich die von einer Erzählung nahe gelegten neuen beziehungsweise differenzierteren Sichtweisen der Beziehung von Subjekt und Außenwelt anzueignen und für die eigene Lebenswirklichkeit zu nutzen. (Leubner/ Saupe 2012: 15) Sie kann in weitere Bereiche untergliedert werden (ebd.: 17). Derzeit kann man davon ausgehen, dass eine textanalytische Herangehensweise die Ausbildung der Texterschließungskompetenz (mit) begünstigen kann. Ein gut geeignetes Buch für die konkrete Anwendung in der Praxis ist die Monographie Erzählungen in Literatur und Medien und ihre Didaktik von Leubner/ Saupe (2012), das strukturalistischen Prinzipien folgt. Es liefert klare, verständliche und umsetzbare Hinweise und Aufgabenbeispiele für 206 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="207"?> einen textanalytisch-systematisch orientierten Literaturunterricht. Nach‐ drücklich betont werden muss schon hier, dass auch Leubner/ Saupe die analysierende Tätigkeit von Schülerinnen und Schülern stets in einem Zusammenhang mit anderen konzeptionellen Ausrichtungen sehen. An anderer Stelle (Textverstehen im Literaturunterricht und Aufgaben, 2016) verdeutlichen sie diese Einbettung, indem sie in überzeugenden Unterrichts‐ modellen insbesondere das LIT E R A R I S CHE U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH und den HAND ‐ L UN G S - UND P R ODU KTIO N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT der T E XTANAL Y S E gleichberechtigt zur Seite stellen, da sie der Auffassung sind, dass erst mithilfe dieser Konzeptionen die interpretierende Tätigkeit von Schülerinnen und Schülern sinnvoll angestoßen werden könne. Von dem Ziel ausgehend, in systematischer Weise die Texterschließungs‐ kompetenz fördern zu wollen, bestimmen sie den Gegenstandsbereich neu und verzichten deshalb auch auf einige Kategorien, die sich in der Schule traditionell verfestigt haben. Sie haben zwei Fragenkataloge entwickelt, die im Folgenden stark verkürzt (und im Sinne einer gendergerechten Sprache entsprechend angepasst) wiedergegeben werden (Leubner/ Saupe 2012: 81 f. u. 164 f.). Diese Kataloge sind nur als Grundgerüste zu verstehen, die je nach Leistungsstand der Klasse reduziert oder erweitert werden müssen. Fragenkataloge Analyse der Handlung und der Figuren 1. Überlege, welche Figur du als Hauptfigur der Geschichte betrachten möchtest. Überlege, ob die Hauptfigur eine Gegenspielerin bezie‐ hungsweise einen Gegenspieler hat. 2. Überlege, welche Eigenschaften die Hauptfigur (und ihr: e Gegen‐ spieler: in) haben. 3. Stelle fest, ob sich die Hauptfigur traurig, wütend … fühlt. Überlege, warum sie sich so fühlt. 4. Versuche zu erklären, warum die Hauptfigur das für sie Wichtige nicht so einfach bekommen/ behalten kann. 5. Überlege, ob die Hauptfigur das für sie Wichtige schließlich doch bekommen/ behalten kann oder nicht. 6. Versuche zu erklären, warum die Hauptfigur das für sie Wichtige schließlich doch bekommen/ behalten kann oder nicht. 7. Stelle fest, wo und wann die Geschichte stattfindet. 5.1 Textanalyse 207 <?page no="208"?> Analyse der Darstellung 1. Erzählperspektive(n): Teilt die Erzählerin beziehungsweise der Er‐ zähler uns nur das mit, was die Hauptfigur erlebt? Wird uns auch etwas mitgeteilt, was die Hauptfigur nicht erlebt? 2. Sichtweise(n): Teilt die Erzählerin beziehungsweise der Erzähler uns nur ‚von außen‘ mit, was die Figuren tun und sagen (und wie Figuren und Räume aussehen)? Wird uns auch mitgeteilt, wie es im Inneren der Figuren aussieht? 3. Erzähler: innenkommentar(e): Gibt es in der Geschichte Erklärun‐ gen, Meinungen, Wertungen …, die nicht von einer Figur gesagt oder gedacht, sondern von einer Erzählerin beziehungsweise von einem Erzähler in die Handlung eingefügt werden? 4. Form des Erzählens: Wird in Ich- oder in Siebeziehungsweise Er- Form erzählt? 5. Rückwendungen/ Vorausdeutungen: Gibt es Abschnitte, die von ei‐ ner Zeit vor der eigentlichen Handlung erzählen? Gibt es Abschnitte, die in der Handlung noch gar nicht eingetroffene Geschehnisse voraussagen? 6. Zeit I: Wie lange dauert die Zeit, in der sich die Handlung abspielt? 7. Zeit II: Gibt es Abschnitte, in denen Teile der Handlung besonders kurz zusammengefasst oder sogar ausgelassen werden oder in denen die Handlung besonders ausführlich wiedergegeben wird? Ausführliche fachwissenschaftliche und fachdidaktische Erläuterungen zu den Kategorien für die schulische Textanalyse mit expliziten Bezügen zu Bildungsplänen und Lehrwerken sowie sechs exemplarische Unterrichtsse‐ quenzen finden sich in der Monographie Erzählende Texte im Literaturun‐ terricht und Textanalyse (Leubner/ Saupe 2017; tabellarische Übersicht: 74 ff.). Einen anderen - semiotischen - Zugang zur literarischen Textanalyse ha‐ ben Schilcher/ Pissarek (2018; → S. 196) gewählt. Sie (und ihre Mitautor: in‐ nen des Kooperationsprojekts, die im Folgenden nicht einzeln ausgewiesen werden) grenzen sich aus unterschiedlichen Gründen explizit vom Vorgehen von Leubner/ Saupe ab, weil die Schüler: innen strategieorientiert (→ 4.3) arbeiten und „prozessuale, transferierbare Fähigkeiten, die dazu dienen, Verstehensprozesse zu vertiefen“ (ebd.: 30) erwerben sollen. Der folgende Kasten greift die oben erwähnten Dimensionen der literarischen Kompetenz 208 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="209"?> noch einmal auf - erweitert um eine detaillierte Kompetenzmodellierung (also mit Niveaustufen für die Grundschule sowie die 5.-7., 8.-10. und 11.- 12. Jahrgangsstufe; im folgenden Kasten = N1-N4), aus der sich Aufgaben für den konkreten Literaturunterricht ableiten lassen. Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz 1. Explizite und implizite Textbedeutung verstehen N1: Explizite und implizite Textbedeutungen am Text belegen und einfache Präsuppositionen offenlegen N2: Implizite Bedeutungen und die logisch-semantische Tiefenstruktur aus der lexikalischen Oberfläche folgern N3: Die implizite Bedeutung von abweichendem und uneigentlichem Sprach‐ gebrauch (beispielsweise in Form von Metaphern und Ironie) verstehen N4: Einen kulturellen Referenzrahmen für die Rekonstruktion impliziter Bedeu‐ tungen heranziehen 2. Grundlegende semantische Ordnungen erkennen N1: Einfache Oppositionen und ihre expliziten semantischen Äquivalente erkennen N2: Oppositionen und ihre (impliziten) semantischen Äquivalente rekonstruie‐ ren, auch unter Einbeziehung von Kontextwissen N3: Verschiedene Positionen auf einer Skala und ihre Bezüge zur Handlung erkennen (immanent und unter Einbeziehung von Kontextwissen) N4: Komplexe Oppositionen und ihre semantischen Äquivalente textimmanent und unter Einbeziehung philosophisch-kulturellen Wissens rekonstruieren 3. Überstrukturierung poetischer Texte: Metrik, Rhetorik, Mythologie N1: Rekurrenz auf phonetischer Ebene erkennen und beschreiben können (Alliteration, Wortwiederholung, Reim, Metrik) N2: Regelmäßigkeit und Abweichung erkennen und interpretieren können N3: Überstrukturierung auf Ebene der Tropen erkennen und interpretieren können N4: Unterschiedliche Sekundärcodes in ihrer Leistung beschreiben können (Phonetik, Syntax, Rhetorik); Mythologie als Sekundärcode interpretieren können 5.1 Textanalyse 209 <?page no="210"?> 4. Merkmale der Figur erkennen und interpretieren N1: Merkmale und Funktionen von Figuren erkennen - Charakterisierung über explizite Zuschreibungen und Figurenverhalten unterscheiden können N2: Statische und dynamische Figurenkonzeption erkennen und interpretieren können - Fremd- und Eigencharakterisierung unterscheiden und adäquat interpretieren N3: Relationen von Figuren zueinander erkennen und systematisieren kön‐ nen. Kontrast- und Korrespondenzrelationen in der Figurenkonstellation beschreiben und interpretieren können N4: Figuren als Konstrukt und Repräsentanten erfassen können - Modelle der Person und ihrer Psyche erkennen und interpretieren können 5. Zeitliche Gestaltung rekonstruieren und beschreiben N1: Die zeitliche Gesamtstruktur rekonstruieren: Dauer des dargestellten Zeit‐ raums, Chronologie der dargestellten Situationen und Ereignisse, temporale Nullpositionen, Gleichzeitigkeit von Geschehnissen an verschiedenen Orten der dargestellten Welt N2: Komplexe temporale Ordnungen rekonstruieren: Vorgeschichten vor dem dargestellten Zeitraum, Vor- und Rückgriffe. Temporale Nullpositionen durch andere Daten der Äußerung auffüllen N3: Funktionen der temporalen Situierung und Strukturierung rekonstruieren, indem z. B. Abweichungen von der chronologischen Darstellung und Null‐ positionen interpretiert werden (zum Teil auch unter Verwendung von kulturell-historischem Wissen) N4: Epochentypische Formen der Darstellung und des Umgangs mit Temporali‐ tät kennenlernen und komplexe temporale Strukturen und deren Funktionen im epochalen Kontext interpretieren 6. Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren N1: In einfach strukturierten Weltmodellen relevante Ordnungen und eine zentrale Grenzüberschreitung identifizieren können N2: In komplexeren Texten aus Grenzüberschreitungen zwischen topographi‐ schen Räumen (Textoberfläche) auf die Semantik des Textes (Tiefenstruktur) schließen N3: Unterschiedliche Ordnungsmerkmale in einem Text identifizieren und Ereignisfolgen aus unterschiedlichen Perspektiven erkennen 210 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="211"?> N4: Ausdifferenzierte semantische Räume erschließen und Ereignisse hierarchi‐ sieren; Grenzüberschreitungen in verschiedene Richtungen und verschiede‐ ner Figuren miteinander in Beziehung setzen 7. Die Vermittlungsebene von Texten analysieren N1: Eine heterodiegetische Erzählerin beziehungsweise einen heterodiegeti‐ schen Erzähler als Erzählinstanz identifizieren können und an Textstellen ihre beziehungsweise seine Funktion (Kommentare, Beschreibung des Set‐ tings) belegen N2: Homodiegetische Erzähler: innen erkennen, die Perspektivträger: innen sind. Durchschauen, dass deren Sichtweise die Vermittlung der dargestellten Welt prägt, und sich von dieser Sichtweise distanzieren können. Die Kon‐ struktion der Ich-Sprecherin beziehungsweise des Ich-Sprechers und deren beziehungsweise dessen Perspektive auf den Gegenstand in lyrischen Texten durchschauen N3: Unzuverlässige Erzähl- oder Sprechinstanzen als solche erkennen und die Funktion dieses Vermittlungskonzepts interpretieren können N4: Erkennen, dass es epochenspezifische textinterne Pragmatiken gibt, und diese zur Interpretation heranziehen 8. Mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umgehen N1: Einfache Textsorten- und Genrekompetenz erwerben und explizite Signale innerhalb des Textes erkennen N2: Semantische Ordnungen bewusst als textuelles Weltmodell erkennen und diese Semantiken rekonstruieren können N3: Die Grenze(n) zwischen Fiktion und Wirklichkeit erfassen und implizite Setzungen des Textes erkennen und hinterfragen können N4: Komplexe Referenzformen erkennen und Thematisierungen der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit reflektieren und diskutieren können 9. Kultureller Kontext - Kulturelle Situierung N1: Erkennen einfacher Gattungsregularitäten und ihrer Relation zu unserem Wissen über die Realität N2: Kulturelles Wissen als Voraussetzung zum Verständnis der dargestellten Welt identifizieren 5.1 Textanalyse 211 <?page no="212"?> N3: Relevante kulturelle Wissensmengen und deren Beitrag zur Textbedeutung erkennen. N4: Texte im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext interpretieren und situieren. Wie oben (→ S. 196 ff.) schon erwähnt, haben Boelmann/ König (2021) kürzlich ihr entsprechendes Kompetenzmodell veröffentlicht: Das BOLIVE-Modell Ebene 1: Erzählung Handlungsebene 1. Narrative und dramaturgische Handlungslogik im thematischen Zusammenhang verstehen 1.1 Identifizieren der Handlung 1.2 Analysieren von Handlungslogik und -struktur 1.3 Abstraktion und Reflexion von narrativen Funktionen 2. Perspektiven, Handlungsmotivationen und erlebte Grunderfahrun‐ gen literarischer Figuren verstehen 2.1 Identifikation von Figuren 2.2 Analyse von Figurendarstellung und -handlung 2.3 Abstraktion und Reflexion von Figurengestaltung Metaebene 3. Symbole und Metaphern verstehen 3.1 Identifizieren von Symbolen und Metaphern 3.2 Deutung von Symbolen und Metaphern 4. Sprachliche Mittel verstehen 4.1 Identifikation von sprachlichen Mitteln 4.2 Deutung von sprachlichen Mitteln 212 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="213"?> Ebene 2: Erzählinstanz 5. Erzählinstanz verstehen 5.1 Identifikation von Erzählinstanz(en) und erzählerischen Mit‐ teln 5.2 Deutung und Reflexion von Erzählinstanz(en) und erzähleri‐ schen Mitteln Ebene 3: Intentionsbestimmung 6. Intention des Textes bestimmen 6.1 Synthese: aus Einzelanalysen textübergreifende Strukturen herausarbeiten 6.2 Deutung: Sinnangebote, Intentionen und Wirkungsabsichten des Textes begründet darlegen Einen guten ersten praxisorientierten Einblick in die Bereiche Analyse (und Interpretation) literarischer Texte sowie entsprechende Materialien bietet auch Ächtler (2019). - Sachtexte Erläuterung Gebrauchstexte = Sachtexte = pragmatische Texte = expositorische Texte Wie oben bereits vermerkt, soll es in diesem Abschnitt um sogenannte Sachtexte gehen. In diesem Buch taucht an verschiedenen Stellen die Pro‐ blematik einer etwaigen (Un-)Unterscheidbarkeit von literarischen Texten und Gebrauchstexten auf. Allein schon die mittlerweile etablierte Wendung ‚literarische Gebrauchstexte‘ (z. B. die Autobiografie oder der Reisebericht) verdeutlicht die Schwierigkeit der Abgrenzung. Leubner weist darauf hin, dass jeder Definitionsversuch zum Terminus ‚Gebrauchstext‘ zum Scheitern verurteilt sein müsse (2021: 320; zur Einbeziehung der Rezipientinnen- und Rezipientenperspektive Rupp/ Gosewehr 2012). Dennoch - und damit gehen 5.1 Textanalyse 213 <?page no="214"?> wir konform - hält er die Definition Schwitallas für noch am besten geeignet: „Texte, die in den Funktiolekten der beiden finiten Sinnprovinzen ‚Alltag‘ und ‚Institutionen‘ produziert und rezipiert werden“ (2007: 664). Die Analyse dieser Texte fällt in den Bereich der Textlinguistik. Kategorien der Textanalyse Heute wird die unermessliche Anzahl verschiedener Gebrauchstexte nach ihren Funktionen klassifiziert; Brinker schlägt für das Basiskrite‐ rium ‚Textfunktion‘ folgende Unterteilung vor (2018: 140): ■ Informationstexte (z. B. ein Bericht) ■ Appelltexte (z. B. ein Gesetz) ■ Obligationstexte (z. B. ein Vertrag) ■ Kontakttexte (z. B. ein Kondolenzschreiben) ■ Deklarationstexte (z. B. eine Ernennungsurkunde) Des Weiteren bezieht sich eine Textanalyse (nach dem derzeitigen Erkenntnisstand) erstens auf kontextuelle Kriterien (s. im Folgenden ebd.: 141 ff.): ■ Kommunikationsform (das direkte Gespräch - das Telefongespräch - Rundfunksendung - Fernsehsendung - Brief - Zeitungsarti‐ kel/ Buch) ■ Handlungsbereich (privat - offiziell - öffentlich) Zweitens werden strukturelle Kriterien veranschlagt: ■ Textthema (temporale Orientierung - lokale Orientierung) ■ thematische Entfaltung (deskriptiv - narrativ - explikativ - argu‐ mentativ) ■ sprachliche/ nicht sprachliche Mittel Im Deutschunterricht fällt der Umgang mit Sachtexten in erster Linie in den Lern- und Kompetenzbereich Lesen (→ 4.4). Hierfür wurden von der Lesedidaktik vielfältige Herangehensweisen zur Erschließung dieser Texte entwickelt, sodass wir zur Vertiefung auf das entsprechende Kapitel verweisen. 214 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="215"?> Problematisierung Spätestens seit den 1980er-Jahren gibt es eine starke Kritik am Einsatz textanalytischer Verfahren. Ihnen wird vorgeworfen, Schülerinnen und Schülern systematisch die Freude an (literarischen) Texten zu verderben: „Lesebiographische Untersuchungen zeigen, dass viele Befragte den Litera‐ turunterricht im Rückblick wenig förderlich für den Zugang zur Literatur erfuhren, weil die Texte zu sehr zerpflückt wurden“ (Spinner 2012a: 757). Genau vor diesem Hintergrund konnten andere literaturdidaktische Kon‐ zeptionen (in erster Linie der HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E L IT E ‐ R ATU R UNT E R R ICHT ) gedeihen. Auch Abraham/ Kepser stehen der T E XTANAL Y S E äußerst skeptisch gegenüber, versäumen jedoch nicht, auch ihre grundsätz‐ liche Leistung zu betonen: Wenig spricht dafür, dass sich „Formbewusstsein“ und „sprach-ästhetische“ Sensibilität sozusagen additiv aus Einzelantworten auf viele Einzelfragen von selbst ergeben. Wichtig ist aber, mit vielleicht auch nur wenigen in diese Richtung zielenden Fragen, „den Blickwechsel zu üben“, also die Aufmerksamkeit der Lernenden immer wieder vom Inhaltlichen abzuziehen und auf Sprachliches und vor allem Stilistisches hin zu lenken. (2009: 222) Da es immer noch zweifelhaft bleiben muss, ob andere Konzeptionen ein vergleichbares ‚analytisches Potenzial‘ aufweisen - Gierlich (2013: 40) zum Beispiel behauptet das für die Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I ‐ E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S -, kann und sollte auf die T E XTANAL Y S E nicht verzichtet werden. Gerade in den letzten Jahren scheint es ein Umdenken in der Didaktik zu geben: Die klare Förderung der Analysefähigkeit ist nicht mehr verpönt und beginnt schon ganz selbstverständlich in der Grundschule, wenn zum Beispiel die Merkmale von Märchen erarbeitet werden. Die Kenntnis von Textstrukturen ist darüber hinaus auch unab‐ dingbar für einen Unterricht, der dekonstruktiv ausgerichtet ist. Schon in der Primarstufe muss aber darauf geachtet werden, dass textanalytische Handlungen nicht unkritisch - als Pseudo-Rechtfertigung für ein starres merkmalorientiertes Schreiben - unter dem Deckmantel einer normativen Festlegung unhinterfragter, ‚richtiger‘ Textmerkmale stattfinden. In den letzten Jahren gibt es vonseiten der Literaturdidaktik vielfältige Bemühungen, Dimensionen literarischen Verstehens kompetenzorientiert zu fassen (s. o.); sie eignen sich dazu, einen textanalytischen Umgang auf ein professionelles Fundament zu stellen. Allerdings stellt ihre Komplexität 5.1 Textanalyse 215 <?page no="216"?> Lehrende im unterrichtlichen Alltag vor große Herausforderungen. Sowohl für den Bereich der Gebrauchstexte als auch für die literarischen Gattungen (→ 5.6) gibt es noch nicht so weitreichende didaktisch-methodische Model‐ lierungsversuche, sodass hier die Umsetzung in der Schule in erster Linie noch in der Verantwortung der praktisch Tätigen verbleiben muss. Es gibt zwar eine ganze Reihe (bisweilen auch empfehlenswerter) methodischer Handreichungen von Schulbuchverlagen, doch hier müssen die Auswahl und der Einsatz stets sehr kritisch erfolgen. Tipps für den Unterricht ■ Werden Sie sich selbst auf Grundlage fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Literatur über die Sinnhaftigkeit analytischer Tä‐ tigkeiten klar. ■ Überlegen Sie darauf aufbauend, bevor Sie Schüler: innen einen Text analysieren lassen, worin der Sinn dieser Tätigkeit bei den von Ihnen formulierten Aufgaben besteht. Haben Sie dabei stets sowohl den Text als auch die Seite der Lernenden im Blick. ■ Loten Sie aus, ob sich zumindest Teilbereiche der gewünschten Analyseergebnisse auch unter Zuhilfenahme anderer Konzeptionen der Deutschdidaktik erschließen lassen, indem Sie zum Beispiel einen Unterricht planen und durchführen, der die T E XTANAL Y S E mit Verfahren des HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R ‐ UNT E R R ICHT S und dem LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH verbindet. Aufgaben 1. Nehmen Sie einen kürzeren epischen Text (z. B. eine Kurzgeschichte) Ih‐ rer Wahl zur Hand und versuchen Sie, eine Erzähltextanalyse nach Leub‐ ner/ Saupe beziehungsweise eine entsprechende Analyse auf der Grund‐ lage der Modellierungen von Schilcher/ Pissarek oder Boelmann/ König durchzuführen. Ziehen Sie hierfür die entsprechenden Fachbücher im Original heran. 2. Überlegen Sie nach der Analyse, worin nunmehr der Mehrwert dieser Tätigkeit besteht. Erweitern Sie Ihre Überlegungen um einen didakti‐ schen Blick auf Ihre (zukünftige) Zielgruppe. 216 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="217"?> Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B O E L M A N N , J. M./ K ÖN I G , L. (2021) (Versuch, literarisches Lernen kompetenzorien‐ tiert zu fassen; die Modellierungen eignen sich auch als Grundlage für einen textanalytisch orientierten Unterricht) L E U B N E R , M./ S A U P E , A. (2012) (ein grundlegendes Buch für die Erzähltextanalyse in der Schule; besonders bedeutsam ist, dass neben dem literarischen auch filmisches und interaktives Erzählen gleichermaßen berücksichtigt werden) L E U B N E R , M./ S A U P E , A. (2016) (ein unverzichtbares Buch; es beleuchtet eingehend Form und Funktion von Aufgaben im Deutschunterricht) 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht Didaktische Konzeptionen scheinen im Zug der verschiedenen zeitgenössischen Modernisierungsbewegungen in buntem Wechsel zu kommen und zu gehen. Bei all diesen Veränderungen gibt es jedoch Konstanten, die seit mehr als 150 Jahren unangetastet erhalten geblieben sind: die absolute Dominanz des kognitiven Vorgehens, die weitgehende Vernachlässigung der sinnlichen Seite von Literatur, vor allem aber die fraglose Priorität des literarischen Objekts gegenüber dem Subjekt des Lektüreprozesses. Der handlungs- und produktionsorientierte Lite‐ raturunterricht versteht sich als Korrektur dieser traditionellen Vorgaben. (Haas 2013: Klappentext) Die Konzeption des HANDLUN G S - UND P R ODU KTIO N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UN ‐ T E R R ICHT S entwickelte sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Un‐ zufriedenheit mit dem traditionellen Literaturunterricht, insbesondere der T E XTANAL Y S E (→ 5.1) und dem fragend-entwickelnden Unterricht: Einige Li‐ teraturdidaktiker: innen vertraten die Ansicht, dass der bisherige Unterricht lediglich kognitive Fähigkeiten berücksichtige und die sinnliche Dimension bei der Beschäftigung mit literarischen Texten - etwa ein ästhetisches Vergnügen - vernachlässige. Weniger eloquente, stillere, langsamere und vor allem literaturfernere Schüler: innen und deren Bedürfnisse würden übergangen. 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 217 <?page no="218"?> Subjektori‐ entierung Reformpädagogik Merkmale Darstellung In einem HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT sollte nunmehr nicht allein das literarische Objekt (der Text), sondern das Subjekt mit all seinen Sinnen, Gefühlen und Phantasien im Mittel‐ punkt des unterrichtlichen Geschehens stehen. Die grundlegenden Ideen eines subjektorientierten, ganzheitlichen Unterrichts wurden in den 1970er- Jahren wiederentdeckt: Neben Rousseau und Pestalozzi hatte sich schon der reformpädagogische Wegbereiter Comenius damit auseinandergesetzt. Wiederentdeckt wurden auch Überlegungen Lessings, der schon sehr viel früher dafür eintrat, dass Schüler: innen beispielsweise Fabeln selbst erfinden und schreiben sollten. Hintergrundinformation Der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) war ein Vorläufer der Reformpädagogik. Sein ganzheitlicher Ansatz, der die kindliche Entwicklung durch die gleichwertige Berücksichtigung von Kopf, Herz und Hand unterstützen soll, hat bis heute nicht an Bedeutung verloren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lieferten neben Karstädt - im Zuge des Aufkommens der Reformpädagogik - die Pädagogen Freinet, Petersen, Gaudig, Montessori und Dewey die letzten wichtigen Anstöße zur Entwick‐ lung eines (allgemeinen) handlungs- und produktionsorientierten Unter‐ richts. Für sie stand die aktive, eigentätige, mehrere Sinne einbeziehende Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand im Mittelpunkt. Dieses all‐ gemeinpädagogische und -didaktische Gedankengut wurde zunächst von Ulshöfer aufgegriffen und führte schließlich in den 1980er-Jahren auch in der Literaturdidaktik zu einem paradigmatischen Umdenken, das sich zunächst auf die Hauptschule beschränkte (einen kritischen Blick auf den Einsatz dieser Konzeption im gymnasialen Literaturunterricht bietet Pohl 2015). Ein HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E R L IT E R ATU R UNT E R R ICHT ist gekennzeichnet durch erhöhte selbständige Schüler: innenaktivität, Ganz‐ heitlichkeit, Produktions-, Lern- und Prozessorientierung. Weitere Charak‐ teristika sind Individualisierung, eine Einbindung ästhetisch-künstlerischer Tätigkeiten sowie die Berücksichtigung unterschiedlicher Deutungsange‐ 218 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="219"?> Hand‐ lungsori‐ entierung Produkti‐ onsorien‐ tierung bote zu literarischen Texten. Teilweise eng verwandt mit dieser Konzeption sind S Z E NI S CH E S I NT E R P R E TI E R E N (→ 5.5), K R EATIV E S S CH R E IB E N (→ 3.11), Pro‐ jektarbeit, Freiarbeit und offener Unterricht. Nicht unproblematisch ist der zumeist verwendete Doppelbegriff Hand‐ lungs- und Produktionsorientierung. Mitunter wird die gesamte Konzeption auch nur mit handelnder Umgang mit Texten oder mit der Wendung produk‐ tiver Umgang mit Texten etikettiert. Unter Handlungsorientierung wird in diesem Zusammenhang das prakti‐ sche und selbsttätige Handeln mit einem Text verstanden. Handlungsorien‐ tierung hat den Anspruch, ganzheitlich zu sein, das heißt, bei der Textarbeit sollen kognitive und affektive Zugänge zum Text miteinander verknüpft werden: Schüler: innen sollen „nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Händen und Füßen, mit dem Herzen und allen Sinnen lernen“ ( Jank/ Meyer 2014: 315). Eine weitere Besonderheit sind die von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern gemeinsam festgelegten Aufgaben. In methodi‐ scher Hinsicht bieten sich bildlich-illustrative, musikalische, darstellende und spielende Zugänge an (Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 18). Zur Kritik an dem Terminus ‚Handeln‘ - beziehungsweise zu seiner Verwendung in der Deutschdidaktik - siehe Fingerhut (1987) und Vorst (2007: 84 ff.). Bei der Produktionsorientierung handelt es sich um das eigene Verfassen von Texten, Textteilen oder Textvarianten, das selbst „(quasi-)literarischen Charakter“ (Leubner et al. 2016: 177) für sich beansprucht. Im Vergleich zur Handlungsorientierung komme es dabei stärker auf das kognitive Vermögen der Schüler: innen an (Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 18). Haas, einer der wichtigsten frühen Vertreter dieser literaturdidaktischen Konzeption, fasst beide Grundausrichtungen folgendermaßen zusammen: die allgemeinste und grundlegendste Bestimmung für den Begriff ‚handelnder Umgang mit Texten‘ […]: Texte in andere Medien, Aussageformen und Situatio‐ nen hinein übersetzen; sie variieren, modifizieren, ergänzen, verändern; ihnen widersprechen, sie spielen, aktualisieren, verfremden - alles in allem: sie ohne falsche Ehrfurcht, aber mit wachsender Sensibilität als etwas Gemachtes und damit auch - zumindest versuchs- und probeweise - Veränderbares verstehen, produktiv und aktiv mit ihnen umgehen, ihnen nicht nur mit Gedanken, sondern auch mit Gefühlen begegnen, auf sie in jeder findbaren Form reagieren. (1984: 7) Haas war es auch, der die Doppelbegrifflichkeit Handlungs- und Produkti‐ onsorientierung prägte. Beide methodischen Ausrichtungen eint die didak‐ tische Zielsetzung, die Lernenden aus ihrer passiven Haltung heraus in 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 219 <?page no="220"?> theoreti‐ scher Hin‐ tergrund Vertre‐ ter: innen Eigenaktivität und Selbsttätigkeit zu versetzen. Doch aufgrund der Unter‐ schiedlichkeit des methodischen Zugriffs positionieren sich die meisten Deutschdidaktiker: innen entsprechend - Waldmann zum Beispiel (s. u.) tritt in erster Linie für einen produktiven Umgang ein. Der HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E L IT E R ATU R UNT E R R ICHT stützt sich auf mehrere Begründungszusammenhänge aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Die meisten Vertreter: innen gehen bewusst eklektizistisch vor. Aus der Lern- und Kognitionspsychologie ist bekannt, dass Lernen und die damit verbundene Schaffung kognitiver Strukturen und Netzwerke in eigenaktiven, selbstgesteuerten Prozessen stattfindet. Die Forderung nach sinnlichen Erfahrungen und konkreten Handlungen im Unterricht lässt sich außerdem entwicklungspsychologisch damit erklären, dass für die Herausbildung des Bewusstseins die aktive, praktische Tätigkeit von großer Bedeutung ist. Neben Bezugnahmen auf den Russischen Formalismus und den Prager Strukturalismus stützen sich (nicht nur) die frühen Vertreter: innen des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S insbeson‐ dere auf die Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik. Gerade die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren sollen die (in diesem Sinne verstandene) aktive Sinnbildung durch Anregung eigener Textvorstellung fördern kön‐ nen. Darüber hinaus beruft man sich auf den Konstruktivismus und auch zu‐ nehmend auf die Dekonstruktion. Einige Vertreter: innen des HANDL UN G S - UND P R ODUKTIO N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S wenden eine dekonstruktive Haltung in eine Begründbarkeit für ihr Anliegen um: „Mit handlungs- und produktionsorientierten Verfahren greift man in Texte ein, bricht ihre formale und inhaltliche Geschlossenheit auf “ (Spinner 2002: 252; s. z. B. auch seine Begründung für den Einsatz operationaler Verfahren in 2000b: 235 - für ihn eine „Vorschule der Dekonstruktion“). Obwohl die meisten derjenigen Deutschdidaktiker: innen, die den HAND ‐ L UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT entwickelt und vorangetrieben haben, in wesentlichen Aspekten übereinstimmen, ist es auf‐ grund unterschiedlicher Gewichtungen dennoch notwendig und sinnvoll, die einzelnen Ansätze voneinander zu unterscheiden (Spinner 2008a). Be‐ rücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhang auch, dass die einzel‐ nen Literaturdidaktiker: innen zumeist sehr unterschiedliche Auffassungen vom Verhältnis der T E XTANAL Y S E zu handlungs- und produktionsorientierten Verfahren haben. 220 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="221"?> Gerhard Haas Wolfgang Menzel Harro Mül‐ ler-Micha‐ els und Gerhard Rupp Karlheinz Fingerhut Das Hauptanliegen von Haas, der mit seinem Werk (1984; 2013) Pionier‐ arbeit geleistet hat, ist es, allen Lernenden einen Zugang zu literarischen Texten zu gewähren (2013: 197). Er ist davon überzeugt, dass deshalb das praktische Handeln und ein aktiver Gebrauch der Sinne im Vordergrund stehen müssten. Kinder und Jugendliche sollten musizierend, darstellend, bildnerisch und spielerisch auf literarische Texte reagieren: Sein Ansatz ist der am stärksten pädagogisch ausgerichtete und stellt sich gegen den damals wie heute vorherrschenden fragend-entwickelnden Unterricht. Vergessen wird häufig, dass Haas jedoch auch - ähnlich wie Waldmann später (s. u.) - schon sehr früh das produktive Schreiben betont (ebd.: 199 f.). Menzel (2000b) setzt einen ganz anderen Schwerpunkt. Für ihn sind das Erkennen und Erlernen inhaltlicher und formaler Aspekte durch den produktiven Umgang mit Textelementen entscheidend. Er präferiert spiele‐ rische, kreative Zugänge, die eine gewisse ‚Handwerklichkeit‘ auszeichnet. Müller-Michaels hat schon sehr früh (1978) Überlegungen angestellt, warum und wie Schüler: innen die Rezeption literarischer Werke verarbeiten sollen. Er hat dabei Tätigkeiten im Blick, die für das spätere außerschulische Leben von besonderer Bedeutung sein sollen: zum Beispiel das Rezensieren, das Redigieren oder auch das Kommentieren. Müller-Michaels wendet sich nicht gegen das klassisch-philologische Interpretieren, sondern will dieses durch die produktiven Rezeptionshandlungen ergänzt wissen: Lehrkräfte sollten sehr genau überlegen, ob und wann sie produktive Zugänge einset‐ zen. Rupp (1987) bezieht sich explizit auf Müller-Michaels und hat dessen Ansatz weiterentwickelt. Er stellt dabei das eigene kulturelle Handeln der Lernenden in den Vordergrund und vertritt die Auffassung, dass deren Pro‐ duktionen auf gleicher Stufe stehen sollen wie die der Schriftsteller: innen. Die von ihm anvisierten produktiven Antworten auf Literatur (zum Beispiel Texte ergänzen oder verfremden) sollen stets dem Originaltext gegenüber‐ gestellt werden. Er erhofft sich von seinem Ansatz eine Veränderung der Alltagskultur der Kinder und Jugendlichen. Fingerhut steht mitunter nicht im Fokus, wenn es um die Vertreter: innen des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S geht. Der Grund hierfür liegt möglicherweise darin, dass Fingerhut sowohl als scharfer Kritiker (1987) als auch als Vertreter (1982; 1993) dieser Konzeption aufgetreten ist. Er fordert eine stetige enge Anbindung produktiver Metho‐ den an die Verfahren der T E XTANAL Y S E und legt seinen Schwerpunkt auf die Sekundarstufe II. Insbesondere das Umerzählen ist von ihm nachhaltig ge‐ 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 221 <?page no="222"?> Kaspar H. Spinner und Chris‐ tine Köp‐ pert prägt worden. Zum Verhältnis von analytischen zu produktiven Zugängen konstatiert er: Produktive Formen des Textumgangs sollen analytische Arbeitsschritte entlasten, indem sie neben den ‚werkgerechten‘ Verstehensleistungen andere denkbare Beobachtungen und Reflexionen setzen. Sie bedeuten jedoch keinesfalls die große kreative ‚Freiheit‘ im Deutschunterricht, sie erfordern - ganz im Gegenteil zu häufig geäußerten Meinungen - strenge und disziplinierte Auseinandersetzun‐ gen mit dem Ausgangstext. (1982: 6) Auch der weithin bekannte Literaturdidaktiker Spinner ist ein Befürworter des HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S (Haas/ Menzel/ Spinner 1994; Spinner 2010b). Für ihn stehen im Rahmen einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung in Verbindung mit literarischem Verstehen folgende Aspekte im Vordergrund: Förderung kreativer Fähigkei‐ ten, das Entwickeln von Empathiefähigkeit (Olsen 2017) und die Entfaltung der inneren Imaginationskraft. Er ist davon überzeugt, dass der HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E L IT E R ATU R UNT E R R ICHT „einen Beitrag zur Text‐ analysekompetenz leisten“ (Spinner 2002: 253) könne. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen zu imaginationsorientierten Verfahren von Köppert: Die philologische Analyse und Erörterung als (wichtiger) Bestandteil der litera‐ rischen Interpretation erhält nach meiner Ansicht inhaltliche und strukturelle Anknüpfungspunkte und gewinnt an Qualität, wenn sie durch imaginationsori‐ entierte Verfahren eröffnet wird und in ihrem weiteren Verlauf mit diesen ein Wechselverhältnis eingeht. (1997: 119) Vom Fragment zum Text Das im Unterricht beliebte Tilgen von Textstellen, sodass Lücken ent‐ stehen, die von den Lernenden ausgefüllt werden sollen, kann - wie das folgende Beispiel (nach Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 20) zeigt - sinnvoll für das Erschließen der Textstruktur sein: In einer Stadt (Imants Ziedonis) In einer , Stadt war eine , Straße. Auf dieser , Straße 222 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="223"?> Günter Waldmann stand ein , Haus. In diesem , Haus war ein , Zimmer. In diesem , Zimmer stand ein , Stuhl. Auf diesem , Stuhl saß ein , Mensch. Er streckte eine , Hand aus und . In der Regel fallen die Produkte der Schüler: innen sehr unterschiedlich aus und die Konfrontation mit dem originalen Text überrascht: Im Original beinhaltet jeder Vers die zweimalige Wiederholung des Wortes grau; der letzte Vers endet mit schaltete den Farbfernseher an. Den umfassendsten und in der Literaturdidaktik weitestgehend akzeptierten Ansatz hat Waldmann vorgelegt (grundlegend 2011). Sein Hauptfokus liegt auf der Erschließung literarischer Strukturen durch Eigenproduktion. Die hermeneutische Ausrichtung ist dahingehend aufzufassen, dass das „Verste‐ hen literarischer Texte strukturell durch produktive Momente bestimmt“ (ebd.: 28) sei. Damit sei nicht nur eine enge Anbindung von produktiven an analytische Zugänge gewährleistet, sondern Waldmann ist darüber hinaus der Auffassung, dass das Produzieren der Schüler: innen selbst erkenntnis‐ gewinnend sei. Seine oben genannte Monographie hat eine beispiellose Verbreitung erfahren; er hat seine methodischen Überlegungen zugleich mit einem Phasenmodell des literarischen Verstehens verbunden. Bedeutsam ist darüber hinaus, dass er für alle (traditionellen) literarischen Gattungen systematische Lehrgänge konzipiert hat (→-5.7). Das Waldmann’sche Phasenmodell literarischen Verstehens Dieses Idealmodell umfasst vier beziehungsweise - bei Mitberücksich‐ tigung der sogenannten Vorphase - fünf Phasen. Waldmann selbst weist darauf hin, dass in der Praxis Verschiebungen, Überschneidungen und Akzentuierungen nicht ausgeschlossen werden sollten. Den einzelnen Phasen hat er katalogartig eine Vielzahl an produktiven Verfahren zugeordnet: 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 223 <?page no="224"?> (Vorphase: spielhafte Einstimmung, z. B.: Metaphernspiel) 1. Phase: lesen und aufnehmen (z. B.: Verzögerung des Lesevorgangs) 2. Phase: konkretisierende subjektive Aneignung (z. B.: visualisierende Darstel‐ lung) 3. Phase: textuelles Erarbeiten (z. B.: Wahl einer anderen sprachlichen Form) 4. Phase: textüberschreitende Auseinandersetzung (z. B.: Verfassen einer Parodie) Die Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UN ‐ T E R R ICHT S sind äußerst vielfältig. Die folgende Auflistung (stark verkürzt nach Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 24) bietet einen grob-systematisierenden Überblick: 1. textproduktive Verfahren - 1.1 restaurieren und antizipieren (z. B.: Texte entflechten; einen eige‐ nen Text zu einem Titel verfassen) - 1.2 transformieren (z. B.: einen Text in einem anderen Stil nacherzäh‐ len; einen Text aus veränderter Perspektive umschreiben) 2. szenische Gestaltungen (z. B.: eine Textstelle pantomimisch darstellen; abstrakte Begriffe ‚sprechen‘ lassen) 3. visuelle Gestaltungen (z. B.: zu einem Text ein Bild malen; eine Litera‐ turzeitung herstellen) 4. akustische Gestaltungen (z. B.: einen Text vertonen; für das Vorlesen eines Textes Hintergrundmusik heraussuchen) Im HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT spielt das Schreiben von Texten (→ 3.8-3.11) eine große Rolle. Dieses Schreiben hat jedoch in der Regel andere Zielsetzungen und Bedingungen als die Tätigkeiten in dem eben genannten allgemeinen Lernbereich - auch wenn ein Teil derartiger literarischer Produktionsmöglichkeiten etwa zum K R EA ‐ TIV E N S CH R E IB E N (→ 3.11) eine ausgesprochen enge Beziehung aufweist (Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 17; Waldmann/ Bothe 2000). Eine Form des Schreibens, deren zentrales Merkmal die Vorlagen- und damit die Musterori‐ entierung ist, stellt das IMITATIV E S CH R E IB E N dar, das entweder kreativ-imitativ oder analytisch-imitativ angelegt sein kann (Stemmer-Rathenberg 2011). Eine bisher nur selten im Unterricht anzutreffende besondere Ausprägung der Produktionsorientierung im Literaturunterricht stellt das LIT E R A R I S CH E beziehungsweise P O E TI S CHE S CH R E IB E N dar, das auch eine unübersehbare Nähe zum K R EATIV E N S CH R E IB E N (→ 3.11) aufweist: Wenngleich auch dort 224 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="225"?> literarische Texte die Ausgangsbasis bilden können, fokussiert dieser Ansatz eigene literarische Produkte der Schüler: innen (Gans/ Prenting 2012; Abra‐ ham/ Brendel-Perpina 2015 u. Abraham 2017a, die in diesem Zusammenhang mithin auch von Literaturpädagogik sprechen). Ebenso spielt das Schreiben im Rahmen des T E XTNAH E N L E S E N S (→ 5.3) eine herausragende Rolle. Einen interessanten praxisorientierten Einblick in die methodische Vielfalt handlungs- und produktionsorientierten Unter‐ richtens bietet Pérez (2019) anhand von Tiny Tales (= Literatur im Twitter- Format) (→-5.7). Problematisierung Der HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E L IT E R ATU R UNT E R R ICHT wurde zu Beginn seiner Etablierung als paradigmatischer Wechsel begriffen und von vielen Seiten begrüßt. Sehr schnell mehrten sich jedoch auch die kritischen Stimmen, die zwar bis heute anhalten - dennoch hat die Konzeption aber niemals an Aktualität eingebüßt. Einen guten Überblick vor dem Hintergrund aktueller fachdidaktischer Entwicklungen bietet von Brand (2019b); Lösener/ Siebauer möchten mit ihrem lyrikorientierten Methodenband „den Beweis für die unverminderte Modernität dieser Verfahren antreten (2014: 8). Zum einen ist die Bezugnahme auf ganz unterschiedliche Literaturtheo‐ rien Gegenstand heftiger Kritik. Baum spricht (allgemein) von einer Überlastung des literaturdidaktischen Diskurses, der zum einen an neueren The‐ orieentwicklungen teilhaben will und zugleich seine leitenden Axiome (Lehrbar‐ keit, normative Bildungsziele, gesellschaftliche Verantwortung) nicht aufgeben kann; daher auch die merkwürdigen Verkürzungen, Marginalisierungen und Verzerrungen von Kulturtheorie in literaturdidaktischen Texten. (2010: 116) Zum anderen ist ein großes Problemfeld - dies lässt sich jedoch der Konzeption selbst nur schwerlich vorhalten - aufgrund der Vielzahl von Zielsetzungen vorhanden. Es ist zum Beispiel ein großer Unterschied, ob Rupp das kulturelle Handeln der Schüler: innen in den Mittelpunkt stellt oder ob Spinner das literarische Verstehen durch Anregung des Vorstellungsver‐ mögens fördern möchte. In der Praxis lässt sich leider nur zu oft beobachten, dass Lehrende sich kaum tiefer mit den konzeptionellen Grundlagen aus‐ einandersetzen: Dadurch entsteht häufig ein zielloser Aktionismus, der dazu 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 225 <?page no="226"?> führen kann, dass Lernende nur noch mit dem Text ‚spielen‘ und einer selektiven Textwahrnehmung Vorschub geleistet wird. Der wohl schärfste frühe Kritiker an diesen Verfahren ist Kügler. Er sieht durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren das literari‐ sche Kunstwerk in seiner autonomen Würde verletzt (1988 u. 1996; auch Paefgen 2006: 51 f.). Laut Kügler werde durch einen handlungs- und pro‐ duktionsorientierten Umgang die innere Bebilderung, die durch das Lesen eines literarischen Textes hervorgerufen werde, in einzelne Teilhandlungen zerlegt, was sich gegen das zentrale Moment des Lesens wende, nämlich die Auslösung und Aufrechterhaltung des Lesebedürfnisses (1996: 19). Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt am HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT ist die oft fehlende Berücksichtigung kontextueller Einbettung: Bogdal hat gezeigt, dass produktive Verfahren vor dem Hin‐ tergrund fehlenden historischen Wissens zu einem Missverstehen führen können (s. - mit Bezug zu Fingerhut - 2000: 42). Viele weitere Kritikpunkte wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder (neu) formuliert. „Sind die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren nicht längst Ersatzformen, Prothesen für ausbleibendes Textverstehen gewor‐ den? “ (Kügler 1996: 20) Saupe verweist auf die frühe Kritik von Fingerhut und prophezeit, dass der HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E L IT E R ATU R UNT E R R ICHT immer weiter an Bedeutung verlieren werde (2018: 269). Obwohl ihre Äußerung derzeitig wieder stärker zu verzeichnende Vorbehalte vonseiten der Didaktik gegen‐ über den handlungs- und produktionsorientierten Verfahren widerspiegelt, kann davon ausgegangen werden, dass diese Konzeption auch langfristig nicht mehr aus dem schulischen Alltag wegzudenken sein wird: So erschien zum Beispiel erst kürzlich erneut ein entsprechendes Themenheft der Zeitschrift Praxis Deutsch (H. 276/ 2019). Es kann nämlich - auch trotz gegen‐ teiliger empirischer Erkenntnisse (s. u.) - weiterhin angenommen werden, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren dafür geeignet sein können, das Interesse an literarischen Texten zu wecken und aufrechtzuer‐ halten. Darüber hinaus sind diese Verfahren auch für das Erkennen von Textelementen und -strukturen einsetzbar - die Annahme einer generellen ‚Überlegenheit‘ gegenüber anderen methodischen Zugängen wird heute 226 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="227"?> allerdings nicht mehr vertreten. Insbesondere die Tätigkeit des Interpretie‐ rens wird in den meisten Fällen zusätzlich mithilfe anderer Zugänge zu unterstützen sein. Cromme skizziert in einem knappen Erfahrungsbericht das Auslösen problematischer Verstehensprozesse bei einer unzulänglichen Text-Methode-Passung (2000; s. auch Paefgen 2006: 141 f.); Fritzsche et al. (2006) konnten zeigen, dass analytische Zugänge zu einer besseren Textverstehensleistung führen und dass Schüler: innen mit Förderbedarf in dieser Hinsicht vom HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UN ‐ T E R R ICHT gerade nicht profitieren. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass Fritzsche und sein Team erstens nicht alle denkbaren handlungs- und produktionsorientierten Verfahren haben untersuchen können und zweitens sich auf in der Regel kurze epische Texte beschränkt haben, sodass sie es schließlich offen lassen mussten, ob im Hinblick auf andere Zielset‐ zungen des Literaturunterrichts der handlungs- und produktionsorientierte Zugang nicht vielleicht doch ‚überlegen‘ sein könnte (ebd.: 46; zur Kritik an der Studie auch Wieser 2008: 254). Nachdenkenswert ist jedoch in jedem Fall das Ergebnis, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren nicht grundsätzlich stärker als andere die Freude/ Lust an literarischen Texten stärkten. Schließlich muss immer im Blick bleiben, dass einige Fachvertreter: innen produktionsorientierte Verfahren als eine (ebenbürtige) analytische Herangehensweise bewerten (z. B. Gierlich 2013: 40 u. Spinner 2017d). Tipp In der Zeitschrift Praxis Deutsch lässt sich eine interessante Debatte um diese Konzeption nachlesen (s. die H. 90-94 u. 98 sowie das Sonderheft Handlungsorientierter Literaturunterricht, 2000: 22-42). H ANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E R L IT E R ATU R UNT E R R ICHT ist in den Lehr- und Bildungsplänen sowie in Lehrwerken und methodischen Hand‐ reichungen (Vorst 2007; Reddig-Korn 2009) fest verankert. Diese Quasi- Legitimation birgt große Gefahren (s. o.). Jede Lehrperson sollte den Einsatz einzelner Verfahren besonders sorgfältig reflektieren, den hergestellten Be‐ zug zwischen Text und Methode äußerst kritisch hinterfragen und stets eine Verknüpfung mit Methoden anderer literaturdidaktischer Konzeptionen anstreben (zur besonderen Problematik der Auswertungsphase s. Neumann 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 227 <?page no="228"?> 1994). Gerade die - vor allem von Fingerhut geforderte - enge Anbindung an textanalytische Verfahren scheint mit großer Sicherheit spezifische Kompetenzzuwächse bei Schülerinnen und Schülern zu bewirken. Da im Besonderen der Umgang mit literarischen Texten beziehungsweise die damit verbundenen Zielsetzungen sich jedoch nur zu einem Teil in Kompe‐ tenzmodellierungen fassen lassen, sollte bei aller Skepsis gegenüber dem HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT Folgendes nicht in Vergessenheit geraten: Handlungs- und produktionsorientiertes Arbeiten und Umgehen mit Texten stellt nicht die Lösung aller didaktischen und pädagogischen Probleme dar. Als Verfahren jedoch, das die emotiven und kognitiven Fähigkeiten der Schüler gleichermaßen beansprucht und speziell das Bedürfnis nach einer ganzheitlichallseitigen, d. h. auch sinnlichen Annäherung an Texte zu stillen vermag; als Verfahren, das den Langsameren, Stilleren, Nichteloquenten und eventuell intel‐ lektuell weniger Ausgestatteten eine volle Chance gibt, sich einzubringen; und schließlich als ein Weg, der durch den geringeren Steilheitsgrad sowie durch seine spielerischen Ausschwünge, Nebenpfade und Rastplätze Mut macht, ihn zu begehen und so letztlich auch an sein kognitives Ziel zu kommen - als all das ist diese didaktisch-methodische Form durch nichts anderes zu ersetzen. (Haas 1984: 17) Schließlich: Es wird viel zu häufig übersehen, dass auch mit Sachtexten handlungs- und produktionsorientiert umgegangen werden kann (Gierlich 2013: 39-f.). Tipps für den Unterricht ■ Setzen Sie sich vor jedem Einsatz eines handlungs- oder produk‐ tionsorientierten Verfahrens kritisch mit der Frage auseinander, warum Sie überhaupt zu dieser Herangehensweise tendieren. ■ Welche Zielsetzungen verfolgen Sie mit dem Einsatz des von Ihnen ausgewählten Textes? Lassen diese sich voraussichtlich mit einem bestimmten Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S erreichen? ■ Prüfen Sie andere Konzeptionen: Wäre es auch möglich, ein Ver‐ fahren einer anderen Konzeption einzusetzen? Oder wäre es nicht 228 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="229"?> sogar sinnvoller, eine Verknüpfung verschiedener Konzeptionen anzustreben? ■ Verfolgen Sie aufmerksam und kritisch Ihren Unterricht: ‚Vergessen‘ die Schüler: innen während ihres Tätigseins mehr und mehr den Text? Falls ja: Führen Sie die Lernenden immer wieder zum Text zurück - brechen Sie das Handeln oder Produzieren notfalls (vor‐ übergehend) ab und erklären Sie die Gründe dafür. Aufgaben 1. Diskutieren Sie, inwieweit handlungs- und produktionsorientierte Ver‐ fahren mit den Bewertungs- und Benotungsaufgaben einer Lehrperson vereinbar sind. Ziehen Sie hierzu unter anderem die Beiträge von Spinner (2008a) und Müller-Michaels (1993) heran. 2. Erläutern Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem K R EA ‐ TIV E N S CH R E IB E N und ähnlichen Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODUKTI ‐ O N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S . Ziehen Sie hierzu einen Beitrag von Spinner (2008a) sowie die Seiten 115-119 aus dem Buch Texte schreiben von Fix (2008) heran. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B R A N D , T. V . (2019b) (bietet einen aktuellen Überblick zu handlungs- und produkti‐ onsorientierten Verfahren im Literaturunterricht) H AA S , G./ M E N Z E L , W./ S P I N N E R , K. (1994) (dieser Artikel gilt auch heute noch als einer der wichtigsten Basistexte zur Einführung in die Konzeption; leicht verständlich und praxisorientiert) S P I N N E R , K. H. (2008a) (bietet einen knappen, jedoch hervorragenden Überblick über die Konzeption; berücksichtigt auch wichtiges Hintergrundwissen) S P I N N E R , K. H. (2010b) (bietet einen guten, leicht verständlichen Überblick; beson‐ ders wertvoll ist dieser Beitrag aufgrund seiner Gegenüberstellung von Zielset‐ zungen und Lernbereichen des Literaturunterrichts zu einzelnen methodischen Zugängen) W A L D M A N N , G. (2011) (das Grundlagenwerk von Waldmann, auf dem seine gattungs‐ spezifisch orientierten Bücher aufbauen) 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 229 <?page no="230"?> Schwer‐ punkt: Schreiben Lektüreempfehlung für einen inklusionsorientierten Unterricht H AA S , G. (2013) (mit diesem Buch erlangte der Ansatz seinen konzeptionellen Stel‐ lenwert; es ist ein Standardwerk für den H A N D L U N G S - U N D P R O D U K T I O N S O R I E N T I E R T E N L I T E R A T U R U N T E R R I C H T ; es markiert aufgrund seiner auch stark pädagogischen Aus‐ richtung eine grundsätzliche, frühe, zukunftsweisende Inklusionsorientierung) 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben) ‚Lesen nach PISA‘ ist in neuer Form textnah geworden, auch wenn die neuen didaktischen Zuschreibungen eher von Lesestrategien, Lesetraining oder Lesede‐ tektiven sprechen. (Paefgen 2008: 213) Bis heute spielen im Literaturunterricht schriftliche Nacherzählungen, Inhalts‐ angaben und unterschiedliche Formen der schriftlichen T E XTANAL Y S E (→-5.1) eine große Rolle. Daneben etablierten sich - insbesondere auch vor dem Hin‐ tergrund der Kritik an diesen Formen - durch das Aufkommen des HANDLUN G S - UND P R ODU KTIO N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S (→-5.2) seit den 1980er- Jahren andere Formen der produktiven Auseinandersetzung: zum Beispiel das Verfassen einer möglichen Fortsetzung einer Geschichte oder das Schreiben eines inneren Monologs zu einer literarischen Figur (vertiefend Haas 1993). Eine der wichtigsten Leistungen des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S sei das integrative Moment durch die Verknüpfung von Lesen und Schreiben, durch das „einer Zersplitterung des Faches Deutsch ent‐ gegengewirkt und eine gegenseitige Befruchtung der beiden Arbeitsbereiche erreicht werden“ (Spinner 1993: 27) könne. Diese enge Verbindung der beiden Lernbereiche Lesen und Schreiben nimmt in den Ansätzen, die im Folgenden vorgestellt werden, eine zwar durchaus ähnliche, jedoch letztlich gesteigerte Form an: Das Schreiben (→ 3) dient einem stark kognitiv ausgerichteten Erkenntnisgewinn. Obwohl beim T E XTNAH E N L E S E N schon durch die Bezeichnung die Nähe zum Lesen (→ 4) deutlich wird und auch das vorangestellte Zitat den engen Bezug zu L E S E S T R AT E GI E N (→ 4.3) betont, muss diese Konzeption unzweifelhaft in den Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen eingeordnet werden, weil beim T E XTNAHE N L E S E N nicht die Förderung der Lesefähigkeit im Vordergrund steht, sondern eine (damals neue) Form der Interpretationspraxis etabliert werden sollte - den Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen bilden hier nicht die Wahrnehmungen und Ver‐ 230 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="231"?> textnahes Lesen Ziel: Textnähe stehensprobleme von Schülerinnen und Schülern, sondern der literarische Text (Paefgen 2008: 199). Darstellung In den 1990er-Jahren formierte sich eine Gruppe Literaturdidaktiker: innen, die unter der Wendung T E XTNAHE S L E S E N einen neuartigen, stärker textorien‐ tierten Umgang mit literarischen Texten propagierte (Paefgen 2008: 199) und im Anschluss an ein Symposion ihre Überlegungen in einem Sammelband veröffentlichte (Belgrad/ Fingerhut 1998; s. hierzu auch Kämper-van den Boogaart 2013). Die Einzelansätze sind mitunter sehr unterschiedlich und es sollte auch beachtet werden, dass sich bis heute immer wieder vor dem Hin‐ tergrund divergierender literaturtheoretischer Annahmen weitere Ansätze herauskristallisieren, die sich unter dem Begriff T E XTNAH E S L E S E N subsumie‐ ren lassen - auch wenn sie sich selbst nicht derartig etikettieren. Zuletzt tauchte beispielsweise bei der Konzeption von Leubner/ Saupe (2014) - ein Lesestrategieansatz für den Umgang mit literarischen Texten (→ S. 164) - die Wendung ‚textnahes Lesen‘ explizit als sogenanntes ‚Strategieset‘ auf. Gemeinsam ist allen, dass sie die Rückkehr zu einer Textnähe propagieren und sich damit mitunter deutlich vom HANDL UN G S - UND P R ODU KTIO N S O R I E N ‐ TI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT distanzieren. Im Vordergrund soll die Sprach‐ ästhetik literarischer Texte stehen, nicht der inhaltliche Unterhaltungswert (Paefgen 2008: 200). Bis heute am stärksten rezipiert werden die allgemein gehaltenen Sechs Thesen von Paefgen (1998: 14 f.): Paefgens Thesen These 1: genaues, langsames, gründliches Lesen Textnahes Lesen soll […] verstanden werden als genaues, langsames, gründ‐ liches Studieren eines literarischen Textes; als ein Lesen mit Stiften, mit Papier, mit Zeit und Geduld für den Satz, den Absatz, die Seite; als ein statarisches Lesen, das häufiges Zurückblättern ebenso wenig scheut wie wiederholtes Lesen ein- und derselben Passage, ein- und desselben Textes. 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben) 231 <?page no="232"?> These 2: textnahes Lesen muss gelehrt und gelernt werden Textnahes Lesen ist eine didaktische Herausforderung. Freiwillig lesen Schü‐ ler, lesen Lernende nur selten ‚textnah‘. Textnahes Lesen gehört zu den Leseformen, die gelehrt und gelernt werden müssen; in der Schule, aber nicht nur dort. These 3: Textmenge klein halten Eine solche Leseform wird durch vielerlei erschwert: Die leichte Zugänglich‐ keit von Lesestoff steht dem ebenso entgegen wie die Fülle des Gedruckten, die lesend zur Kenntnis genommen werden soll. Textnahes Lesen ist nach dem Verlust des Kanons, der einen selbstverständlichen Textkorpus des im‐ mer wieder neu Gelesenen voraussetzte, fast eine antiquierte Angelegenheit geworden. These 4: mehrmaliges Lesen des Textes Je fremder der Text dem Leser gegenübersteht, um so stärker muß dieser versuchen, ihn textnah zu lesen. Das Übersetzen fremdsprachlicher Texte erzwingt auf ‚natürlichste‘ Art textnahes Lesen. These 5: lyrische Texte sind am geeignetsten Textnahes Lesen steht in Abhängigkeit von den Gattungen: Lyrik wird am textnächsten gelesen, - dramatische Texte stehen an zweiter Stelle. Am schwersten haben es die epischen Texte, die - wie auch immer - eine Geschichte erzählen. These 6: wenig lesen - viel denken Methodische Verfahren, die zu textnahem Lesen auffordern, sind: Reduktion der zu lesenden Textmenge, Diktieren, Abschreiben; überhaupt: Lesen mit Schreiben verbinden. Theoretische Bezüge können sein: Dekonstruktion, Nachvollzug in Formulierungsentscheidungen, tiefenhermeneutische Spu‐ rensuche, Intertextualität etc. An diesen Thesen ist deutlich erkennbar, wie nah das T E XTNAH E L E S E N hinsichtlich der methodischen Konsequenzen den oben skizzierten Verfahren der Lesedidaktik (→-4) steht. 232 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="233"?> Textauswahl theoreti‐ scher Hin‐ tergrund Wichtig ist den Vertreterinnen und Vertretern des T E XTNAH E N L E S E N S jedoch unter anderem, dass im Unterricht auf Texte zurückgegriffen werden soll, die von den Lernenden nicht in der Freizeit gelesen werden, da damit die Hoffnung verbunden ist, dass sich diesbezüglich noch keine verfestigten Lesemodi herausgebildet haben. Neben lyrischen und dramatischen Texten seien auch Kurz- und Kürzestgeschichten geeignet. Der größte Unterschied zur Lesedidaktik besteht - neben einer grund‐ sätzlichen Orientierung am Strukturalismus - in vielfältigen literaturwis‐ senschaftlichen Bezugnahmen. Die folgenden Ausrichtungsmöglichkeiten können nur einen Einblick in die Vielfalt bieten: ■ Intertextuelle Orientierung Der Terminus Intertextualität spielt in der Literaturdidaktik eine sehr wichtige, jedoch nicht unproblematische Rolle (Härle 2006; Kammler 2013). Hinrichs (1998) und Klein (1998) beziehen sich ausdrücklich auf ihn und stellen Möglichkeiten einer textnahen intertextuellen Lektüre vor. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Arbeit von Buß (2006) hervorzuheben: Auch dort wird ausdrücklich von der Nähe der inter‐ textuellen Lektüre zum T E XTNAH E N L E S E N gesprochen. ■ Produktionsorientierte Ausprägung Eine auf den ersten Blick unerwartete Verbindung besteht auch zwi‐ schen dem HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R ‐ R ICHT und dem T E XTNAHE N L E S E N . So lasse sich zum Beispiel das bekannte Ausfüllen von im Originaltext getilgten Wörtern/ Textstellen als ausge‐ sprochen ‚textnah‘ bewerten; aber auch das Parodieren und Travestie‐ ren von literarischen Texten veranschauliche die Nähe dieser beiden zumeist als gegensätzlich aufgefassten Konzeptionen (Burdorf 1998). ■ Dekonstruktive Ausprägung Ein Literaturunterricht, der sich an die Dekonstruktion anlehnt, fragt nicht danach, was der Text bedeutet, sondern wie er konstruiert ist, um unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen zu ermöglichen - aber auch wieder zu zerstören. Damit einher geht eine Verschiebung des Selbstverständnisses als Rezipient: in: Förster spricht davon, dass die „Teilnehmerrolle […] tendenziell[e] vollständig in die des Beobachters“ (1998: 63) übergehe. Insbesondere die sogenannte doppelte Lektüre (ebd.; Fingerhut 1995 u. 1998; zur interessanten, weiterführenden Kritik an Fingerhuts Ausführungen s. Baum 2010) hat in der fachdidaktischen Diskussion Bedeutung erlangt. 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben) 233 <?page no="234"?> Bedeutung des Schrei‐ bens Schreiben und Lesen Erläuterung Im engeren Sinne umfasst der Terminus Intertextualität eine prinzipielle Eigenschaft aller Texte: die Bezugnahme von einem Text auf einen anderen. Nach Genette (1993) ist Intertextualität eine Ausprägung der übergeordneten Transtextualität. Es mag paradox klingen: Die methodischen Verfahren des T E XTNAH E N L E S E N S sind in erster Linie schreiborientiert. Durch den Vorgang des Schreibens sollen Schüler: innen zu einem textnahen Lesen „verführt“ (Paefgen 2008: 204) werden. Dabei steht, wie oben bereits angemerkt, nicht das Inhaltliche des Textes, sondern die „Vermittlung von sprachästhetischer Kunst“ (ebd.: 200) im Vordergrund. Eine interessante und leicht umsetzbare Möglichkeit stellt Paefgen dar (ebd.: 201 f.): Doppeltes Schreiben Ohne jegliche Vorbereitung wird den Schülerinnen und Schülern der Anfang (drei Sätze) eines literarischen Textes diktiert. Nach jedem Satz sollen sie zusätzlich ihre eigenen Kommentare, Fragen und Überlegun‐ gen notieren. Dieses ‚doppelte Schreiben‘ soll dazu führen, dass die sprachliche Ästhetik des Textes aufmerksamer wahrgenommen werden kann. Kurz vor dem oben erwähnten deutschdidaktischen Symposion veröffent‐ lichte Paefgen ihre Monographie Schreiben und Lesen. Ästhetisches Arbeiten und literarisches Lernen (1996), in der sie ihren (ursprünglichen) didaktischen Ansatz ausführlich beschreibt „und die Frage verfolgt, wie das Lesen ästhe‐ tischer Texte in ein ästhetisches Schreiben überführt werden und ob diese schreibende Fortsetzung eine begründete Funktion innerhalb des Literatur‐ unterrichts gewinnen kann“ (ebd.: 10). In methodischer Hinsicht lässt sich grob umreißen: Die schreibende und lesende Arbeit mit literarischer Sprache steht im Vordergrund eines Unterrichts, dem es darauf ankommt, die nur und ausschließlich durch literarische Sprache erreichbaren Dimensionen aufzuzeigen, zu erkennen und zu erproben. Eine unmittelbare Konfrontation mit einem literarischen Text, der 234 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="235"?> L-E-S-E-N eines systematisierenden Umfeldes beraubt den Schülern ohne ‚Schutzvorrich‐ tungen‘ und ‚Sicherheitsvorkehrungen‘ präsentiert wird, scheint ein sinnvoller methodischer Weg: Der ‚nackte‘ Text, (zunächst) ohne Autorzuschreibung, ohne (auffangende) historische Einordnung, ohne (schutzbietende) Gattungszuordnun‐ gen fokussiert die Aufmerksamkeit auf die Sprache, ‚aus der dieser Text gemacht ist‘. Die Künstlichkeit dieses Verfahrens wird aus diesem Grund gerne in Kauf genommen, zumal diese nicht höher bewertet werden darf als in didaktischen Verhältnissen unweigerlich üblich. In der Didaktik gibt es keine ‚Natürlichkeit‘. (Ebd.: 199) Ihr an den Arbeiten von Roland Barthes orientierter Ansatz, den sie als S CH R E IB E NUND L E S E N bezeichnet, konnte im T E XTNAH E N L E S E N teilweise ver‐ wirklicht werden. Auch heute noch gewinnbringend für die unterrichtliche Praxis sind die von ihr vollständig abgedruckten Aufgabenstellungen, die sie in Unterrichtsversuchen eingesetzt hat (ebd.: 201 ff.). Abraham/ Kepser machen auf weitere textnahe Schreibvarianten auf‐ merksam: unter anderem auf das Schreiben eines Précis und auf die Litera‐ rische Charakteristik (2016: 243). Erläuterung Ein Précis ist eine um ein Drittel der Wortanzahl gekürzte Zusammen‐ fassung des Ursprungstextes. Weder der Informationsgehalt noch der Schreibstil werden verändert. Dem T E XTNAH E N L E S E N - und mit Einschränkungen auch dem HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT - ähnlich ist ein Ansatz von Fingerhut, der unter der Formel L-E-S-E-N bekannt ist. Die Buchstaben stehen für folgende unterrichtliche Tätigkeiten (1997: 117): L = „Textlektüre“ E = „erste freie und ungeordnete Aussprache“ (‚Erörtern 1‘) S = „aufgabengeleitete Schreibaktion“ E = „Texterörterung unter Einschluß der in der Lerngruppe entstandenen Eigentexte“ N =„Nacharbeiten“ 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben) 235 <?page no="236"?> Talking to the text medienna‐ hes Lesen/ Hören Fingerhut bezeichnet seinen Ansatz (in Anlehnung an Fritzsche) als heu‐ ristisches Schreiben, eine „Form des funktional für Verstehensvorgänge eingesetzten schreibenden Umgangs mit Gelesenem“ (ebd.). Den zentralen Aspekt bildet das zweite E, das ‚Interpretationsgespräche‘ umfasst. L-E-S- E-N hat somit in konzeptioneller Hinsicht drei Berührungspunkte: das T E XTNAH E L E S E N , den HANDLUN G S - UND P R ODU KTIO N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UN ‐ T E R R ICHT und das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→ 5.4). Es lässt sich jedoch aufgrund seiner Gesamtausrichtung am ehesten dem T E XTNAHE N L E S E N zuordnen. Deutlich wird dies aus Folgendem: Der aus der Lektüre eines literarischen Werkes hervorgegangene eigene Text wird […] als ein Fall komplexer Literaturverarbeitung angesehen. In ihn gehen ein: was der Schreibende vom Autor, seiner Epoche, der Textsorte weiß; das, was ihn selbst am Thema des Textes interessiert, bestätigt oder aufgeregt hat; das, was er schon an Sekundärliteratur gelesen und verstanden hat; das, was er an allgemeinen Werturteilen über Literatur im Kopf hat. (Ebd.: 122) Einige Aspekte des T E XTNAH E N L E S E N S und des Ansatzes L-E-S-E-N von Fingerhut finden sich auch in dem aus der amerikanischen Leseforschung stammenden Verfahren T ALKIN G T O TH E T E XT wieder. Ganz offensichtlich könnte dieses Verfahren auch unter den Lernbereich Lesen subsumiert wer‐ den; aufgrund der starken Orientierung am schreibenden Subjekt halten wir es jedoch für sinnvoller, es hier einzureihen. Masanek (2008) hat auf dieses Verfahren aufmerksam gemacht. Der didaktische Schwerpunkt liegt auf dem sogenannten ‚konservierend-heuristischen Schreiben‘: Das Schreiben wird nicht nur als Mittel zur Erkenntnisgewinnung genutzt, sondern soll zugleich das Gedächtnis der Lernenden entlasten. Folgende Arbeitsschritte kommen im Unterricht zum Einsatz: 1. oberflächlicher Erstkontakt zum literarischen Text (z. B. kurzes Über‐ fliegen des Textes oder das Anschauen von Illustrationen) 2. Hauptphase: detailliertes Lesen und gleichzeitiges Verschriften der Gedanken (z. B. Fragen oder erste Deutungsansätze) 3. Besprechung der entstandenen Texte im Plenum Besonders interessant an diesem Verfahren ist, dass die Schüler: innen sich zunächst an einer ‚Expertin‘ beziehungsweise einem ‚Experten‘ - hier an der Lehrkraft - orientieren, indem diese die Herangehensweise demonstriert. Ranjakasoa (2018) ‚rettet‘ das textnahe Lesen in das digitale Zeitalter hinüber, indem sie in bewusster, analogisierender Absicht (unter Rückgriff 236 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="237"?> auf Überlegungen von Zabka) ein sogenanntes mediennahes Lesen/ Hören vorschlägt. Dieses stellt sie exemplarisch an Gedichtvertonungen vor. Hingewiesen werden muss im Zusammenhang mit diesem Verfahren schließlich auch auf Zabka (2012), der auf schlüssige Weise zeigt, „wie textnahes Lesen nach PISA aussehen kann“ (Paefgen 2008: 214), und auf Leubner/ Saupe (2014; s. o.). Weiterhin hat Brune (2020a: 288 ff.; s. hierzu auch Brune 2020b) die Bedeutung des textnahen Lesens insbesondere auch für die Herausbildung der Vorstellungs- und Imaginationsbildung hervorgehoben und plädiert in diesem Zusammenhang für eine entsprechende Modifikation dieses didakti‐ schen Ansatzes, da unter anderem Paefgen diese Bereiche nicht ausreichend berücksichtigt habe; auch er weist explizit auf die sinnvolle Verknüpfbarkeit mit handlungs- und produktionsorientierten Verfahren hin. Brune schlägt als neuen methodischen Baustein zur Erweiterung des textnahen Lesens Lektüreprotokolle vor und beschreibt detailliert ihren Einsatz in einer 11. Klasse eines Gymnasiums (2020a: 293 ff.; s. als geeignete ‚Vorlage‘ insbesondere die konkrete Aufgabenstellung ebd.: 295). Zweitens knüpft Mesch (2020) explizit an die Konzeption des T E XTNAH E N L E S E N S an, wenn sie vorschlägt, für den Literaturunterricht - insbesondere für den gesprächsorientierten (→ 5.4) - zukünftig das topologische Feldermodell heranzuziehen: Lernerbezogen geht es um die Entwicklung eines Registers, mit dem über Literar‐ ästhetisches im Unterricht gesprochen werden kann, lerngegenstandsbezogen um das Ausloten des literarästhetischen Potenzials von Sprache, methodisch um die Integration von sprachlichem und literarästhetischem Lernen und historisch um die Anknüpfung an das Konzept des textnahen Lesens, insofern die Topologie helfen soll, einen Weg zur textnahen literarischen Lektüre zu erschließen. (Ebd: 53) Dieser Ansatz erscheint uns äußerst innovativ und gewinnbringend - es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit er im schulischen Literaturunterricht einen entsprechenden Platz erhalten wird. Abgesehen von Brunes schreiborientiertem Vorstoß erfahren integrative und prozessorientierte Schreibformen (→ 3.10) ansonsten immer noch eine zu geringe Berücksichtigung (s. aber die Vorschläge von Abraham/ Kep‐ ser 2009: 139 u. a. zur Zusammenstellung von Portfolios im Sinne der Berücksichtigung von Vorstufen eigener Texte). Möglicherweise könnten dadurch die unterschiedlichen Lernbereiche Schreiben, Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen und Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren noch nachhaltiger miteinander verknüpft werden. Ebenso kaum etabliert sind - trotz der Nähe zum K R EATIV E N S CH R E IB E N (→ 3.11) - 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben) 237 <?page no="238"?> Schreibwerkstätten, in denen Schüler: innen nicht mehr (nur) eigene Texte zu literarischen Texten schreiben, sondern auch mehr oder weniger unabhän‐ gig davon selbst literarisch tätig werden (Perschke-Leis 1993; Wörner/ Rau/ Noir 2012); es ist noch nicht intensiv genug diskutiert worden, ob bezie‐ hungsweise in welchem Umfang ein derartiges Schreiben Gegenstand des Deutschunterrichts sein kann und soll (→-3.11). Problematisierung Obwohl zum Beispiel Abraham/ Kepser dem T E XTNAH E N L E S E N durchaus skep‐ tisch gegenüberstehen (2016: 288), betonen auch sie - in einer früheren Auflage ihres Einführungswerks - die Notwendigkeit, „die Aufmerksamkeit der Lernenden immer wieder vom Inhaltlichen abzuziehen und auf Sprachli‐ ches und vor allem Stilistisches hin zu lenken“ (2009: 222). Die Hauptkritik am T E XTNAHE N L E S E N zielt immer wieder auf den explizit ‚lustfeindlichen‘, ausnahmslos kognitiv orientierten Umgang mit literarischen Texten ab. Damit einher geht die Einschätzung, dass dieser Ansatz lediglich für das Gymnasium geeignet sei. Unserer Erfahrung nach ist ein phasenweise eingesetztes T E XT ‐ NAH E S L E S E N - und zwar durchaus auch schon in der Grundschule - jedoch grundsätzlich ein gewinnbringender Umgang mit literarischen Texten. Eine ‚Überdosierung‘ beinhaltet allerdings die Gefahr, Schülerinnen und Schülern die Freude am literarischen Kunstwerk zu nehmen. Tipps für den Unterricht ■ Wählen Sie für Ihren Unterricht Texte aus, die eine rasche Texter‐ schließung nicht zulassen. ■ Verknüpfen Sie ausgewählte methodische Bausteine stets mit ande‐ ren Ansätzen aus der Deutschdidaktik. ■ Platzieren Sie die von Ihnen ausgewählten Verfahren eher an den Anfang einer Unterrichtseinheit. ■ Geben Sie mehrsprachigen Lernenden die Möglichkeit, ihre Kommen‐ tare und Fragen zum Text in ihrer Erstsprache niederzuschreiben. ■ Fördern Sie literaturferne Schüler: innen, aber ebenso diejenigen, die an Literatur besonders interessiert sind - zum Beispiel durch zusätzliche Aufgaben im Sinne des literarischen Schreibens nach Paefgen (s. o.). 238 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="239"?> Aufgaben 1. Stellen Sie die Ideen der Konzeption T E XTNAH E S L E S E N auf der Grundlage der Paefgen’schen Thesen dar. Überprüfen Sie, inwieweit sich diese Ideen mit Aspekten unterschiedlicher L E S E S T R AT E G I E N (→ 4.3) vergleichen lassen. 2. Probieren Sie (z. B. innerhalb Ihrer Lerngruppe) das Verfahren T ALKIN G TO TH E T E XT zu folgendem Gedicht von Rainer Maria Rilke aus. Es handelt sich hierbei um seinen eigenen Grabspruch, den er in seinem Testament hinterlegt hatte (s. hierzu auch aus inklusionsorientierter Perspektive Olsen 2016): Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung K ÄM P E R - V A N D E N B O O G AA R T , M. (2013) (kritische, kenntnisreiche Anmerkungen zum textnahen Lesen; sehr gut geeignet für eine erste vertiefende Auseinander‐ setzung; umfangreiches Literaturverzeichnis) P A E F G E N , E. K. (1996) (eine anspruchsvolle, interessante Darstellung der Konzep‐ tion; sehr hilfreiche konkrete Aufgaben für den Unterricht) 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch Wer meint, den Sinn zu haben, hat ihn schon verloren. (Härle 2014: 42) Jeglicher Unterricht ist undenkbar ohne das (gemeinsame) Sprechen über be‐ stimmte Phänomene. Es liegt auf der Hand, dass dem Deutschunterricht dabei allgemein eine besondere Rolle zukommt (→-2); aber auch und insbesondere im Literatur- und Medienunterricht hat das Gespräch eine große Bedeutung. Der Literaturunterricht war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dominiert von einer überaus problematischen Gesprächsform: dem fragend-entwi‐ ckelnden Unterrichtsgespräch (Spinner 1992b; Fritzsche 1994: 176 ff.). Diese lange Zeit unhinterfragte Praxis lässt sich auf die Lehrdialoge des Sokrates zurückführen und ist - trotz gegenteiliger Entwicklungen in der Didaktik - bis heute in der schulischen Praxis immer noch die am häufigsten zu 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 239 <?page no="240"?> beobachtende. Becker-Mrotzek/ Vogt umreißen das methodische Vorgehen wie folgt: Die Kunst des Lehrenden besteht darin, dem Lernenden durch Fragen zunächst sein Nichtwissen vor Augen zu führen, um ihm anschließend durch weitere Fragen zur selbstständigen Erkenntnis zu verhelfen. Das setzt voraus, dass das erforderliche Wissen bereits vorhanden ist und durch richtiges Fragen lediglich ins Bewusstsein gebracht werden muss, es muss gleichsam entbunden werden. (2009: 77 f.) Eine solche Haltung von Lehrenden sowie das damit verbundene Verständ‐ nis von Lernen wurden im Kontext der Literaturdidaktik immer wieder stark kritisiert. Einerseits folgte daraus die Etablierung des HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S (→ 5.2), zum anderen gab es unterschiedliche didaktische Bemühungen um eine Neubestimmung des Gesprächs im Literaturunterricht, die zur Entwicklung des sogenannten Heidelberger Modells führten: Es ist die Methode der Wahl, um in einem am ästhetischen Gegenstand wie am rezipierenden Subjekt gleichermaßen orientierten Gesprächsprozess persönliche Begegnungen mit literarischen Texten zu inszenieren. (Nickel-Bacon/ Kloppert 2018: 193) Nickel-Bacon/ Frickel/ Ronge sprechen gar vom (methodischen) „Königsweg zur ästhetischen Erfahrung“ (2018: 231). Dieses Modell ist derzeit das am überzeugendsten theoretisch fundierte und das wohl deshalb auch am meisten beachtete: Bisher sind drei Sammelbände zu dem Modell er‐ schienen (Härle/ Steinbrenner 2019; Steinbrenner/ Mayer/ Rank 2014; Heiz‐ mann/ Mayer/ Steinbrenner 2020); darüber hinaus gibt es neben einer großen Anzahl an Aufsätzen den für die Praxis immer noch sehr empfehlenswerten Beitrag von Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert (2010). Die zunehmende Bedeutung des Heidelberger Modells lässt sich unter anderem daran ablesen, dass es mittlerweile an einigen Hochschulen schon „Bestandteil des Pflicht‐ curriculums“ (Garbe 2014: 68) ist. Selbstverständlich gibt es im Literaturunterricht noch weitere Gesprächs‐ formate, die sich nicht dem Heidelberger Modell im engeren Sinne zurechnen lassen; in dieser Hinsicht lassen sich unterschiedliche Formen unterscheiden (für einen ersten Überblick s. Zabka 2020a). Möbius (2019) bietet einen hervorragenden ersten Überblick zu gesprächsorientierten Methoden im Literaturunterricht und zeigt überzeugend die Vielfalt auf. Besonders her‐ 240 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="241"?> Vorläu‐ fer: innen vorhebenswert dabei ist, dass er gegen den „gegenwärtigen didaktischen Zeitgeist“ (ebd.: 280) das ansonsten in der Literaturdidaktik durchweg ver‐ schmähte fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch als auch heute noch sinnvolle und selbstverständliche Methode aufzeigt. Darstellung Im Folgenden werden zunächst Vorläufer: innen des Heidelberger Modells aufgezeigt (s. dazu ausführlich Härle/ Steinbrenner 2019: 6-ff.). Wieler setzte mit ihrer Arbeit (1989) den entscheidenden Wendepunkt in der didaktischen Neuorientierung des LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S . Ihre empirischen Ergebnisse offenbaren deutlich die Problematik der gän‐ gigen Praxis, die vornehmlich nach dem ‚Aufgabe-Lösungs-Muster‘ verlief (bzw. verläuft! ). Wieler fordert einen eigenen diesbezüglichen Lernbereich (Verständigung über literarisches Verstehen) und macht Vorschläge zur Ver‐ änderung der schulischen Praxis (u. a. die Ausgestaltung der Rolle der Lehrkraft als ausschließlich organisierend-moderierende). Die Arbeit von Werner (1996) offenbart ähnliche Erwägungen: Die Lehr‐ person soll moderierend auftreten und sich selbst inhaltlich nicht am Ge‐ spräch beteiligen. Wichtig ist ihm die explizit ‚demokratische‘ Ausrichtung des unterrichtlichen Geschehens. Vogt (2002) unterscheidet zwischen lehrer: innen- und schüler: innenzen‐ trierten Gesprächen über Literatur; beide Ausprägungen hätten Vor- und Nachteile. Er plädiert unter anderem grundsätzlich für eine stärkere Einbe‐ ziehung der Lernenden in die Unterrichtsplanung. Merkelbach und sein Team (Christ et al. 1995) arbeiteten im Sinne der Handlungsforschung eng mit Lehrpersonen zusammen, um herauszubekom‐ men, wie bestmöglich über literarische Texte gesprochen werden könne. Erstmalig wurde hier im Kontext der Literaturdidaktik formuliert, dass Lehrkräfte nicht nur moderierend, sondern prinzipiell als gleichberechtigte Gesprächspartner: innen am unterrichtlichen Geschehen teilnehmen sollen. In dem sehr bekannten und empfehlenswerten Buch Versteh mich nicht so schnell (2004) bietet Andresen einen interessanten Einblick in ihre Tätigkeit als Lehrerin: Den Leserinnen und Lesern wird deutlich, wie bedeutsam eine persönliche, empathische Beziehung zu Lernenden und die Textauswahl - sie plädiert vehement für anspruchsvolle Texte auch in der Grundschule (→-S.-187-f.) - gerade für das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH sind. 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 241 <?page no="242"?> Empirische Zugänge Gespräche über literarische Texte werden zunehmend auch empirisch unter die Lupe genommen. Kaspar H. Spinner (2020) hat zu bisherigen Studien einen interessanten, kritischen Überblick zusammengestellt, den wir hier in gebotener Kürze wiedergeben: 1. Ästhetische Kommunikation im Literaturunterricht (Frederking & Team) ■ Publikationen: Frederking/ Gerner/ Brüggemann/ Albrecht/ Henschel/ Roick/ Meier/ Rieder (2013); Brüggemann/ Frederking/ Albrecht/ Drewes/ Henschel/ Gölitz (2015); Frederking/ Albrecht (2016); Brüggemann/ Albrecht/ Frederking/ Gölitz (2017); Frederking/ Brüggemann/ Albrecht (2020) ■ Kurzbeschreibung: quasi-experimentelle Interventionsstudie (Unter‐ richtsgespräche wurden videographiert); N= 699 Schüler: innen, 10. Jahrgangsstufe, Gymnasium; zusätzlich Einzelinterviews und Online‐ fragebögen; die Schüler: innen wurden in zwei Gruppen aufgeteilt: (A) ÄSKIL (= ästhetische Kommunikation im Literaturunterricht; Fo‐ kus der Studie; Modellierung dem Heidelberger Modell vergleichbar) und (B) KOKIL (= kognitiv ausgerichtete Kommunikation im Literatur‐ unterricht; die Kontrollgruppe; traditioneller, fragend-entwickelnder, lehrkraftzentrierter Unterricht) ■ Ergebnisse: die kognitiven Verstehensleistungen der KOKIL-Gruppe sind etwas höher in Bezug auf formale Aspekte des literarischen Tex‐ tes; in Bezug auf semantische Aspekte gibt es keine Unterschiede; das ästhetische Erleben ist in der ÄSKIL-Gruppe höher ■ Kommentar: erwartbare Ergebnisse; derartige idealtypische Unter‐ richtsformen kommen in der schulischen Wirklichkeit so nicht (mehr) vor; es bleibt offen, welche Aspekte des Unterrichtens entscheidend waren für die Ergebnisse; Studie wirft mehr Fragen auf, als sie Antwor‐ ten geben kann (allerdings: eine nicht zu unterschätzende, bedeutsame Funktion von Forschung! ); aufgrund fehlender Randomisierung ist die Validität dieser Vorstudie beeinträchtigt: derzeit läuft die Hauptstudie SEGEL (s. hierzu deutschdidaktik.phil.fau.de/ startseite/ forschung/ #SE GEL) 2. Literarisches Lernen in der Förderschule (Wiprächtiger-Geppert) ■ Publikationen: Wiprächtiger-Geppert (2009; 2014) 242 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="243"?> ■ Kurzbeschreibung: Äußerungen von Schülerinnen und Schülern in literarischen Gesprächen werden mithilfe der qualitativen In‐ haltsanalyse untersucht (Ziel: welche Kompetenzen kommen zum Vorschein? ); Fallstudien ausgewählter Kinder; es werden elf Kate‐ gorien literarischen Lernens vorgestellt (ähnlich den Spinner‘schen elf Aspekten → S. 193; diese wurden jedoch bereits vor Spinners Beitrag entwickelt); fünf unterschiedliche Klassen, in denen jeweils sieben literarische Gespräche durchgeführt wurden ■ Ergebnis: auch Förderschüler: innen verfügen über literarische Rezeptionskompetenzen ■ Kommentar: wichtige Studie zur Frage, worin literarische Kompe‐ tenzen sich zeigen können 3. Wege literarischen Lernens (Mayer) ■ Publikationen: Mayer (2017; 2019; 2020) ■ Kurzbeschreibung: Interaktionen (zum Beispiel die gegenseitige Bezugnahme) zwischen Studierenden während des gemeinsamen Sprechens über literarische Texte werden mithilfe der Sequenzana‐ lyse (nach Deppermann) untersucht; neben Einzelfallanalysen auch Interviews, Fragebögen etc. ■ Ergebnisse: die Entwicklung des Verstehens in literarischen Gesprä‐ chen ist interaktionsabhängig; Schlussfolgerungen für Leitungs‐ kompetenzen ■ Kommentar: entsprechende Studien zu Schülerinnen und Schülern stehen weiterhin aus; die Notwendigkeit des Ausprobierens litera‐ rischer Gespräche an Hochschulen wird deutlich 4. Mimesis in literarischen Gesprächen (Steinbrenner) ■ Publikationen: Steinbrenner (2009; 2010a; 2010b; 2014) ■ Kurzbeschreibung: Aufzeigen eines bestimmten Sprechens - ‚mime‐ tisch-vergegenwärtigendes‘ - in literarischen Gesprächen; keine bestimmte empirische Methode, sondern Auswahl passender For‐ mulierungen zur Veranschaulichung ■ Ergebnisse: Abgrenzung des mimetischen Sprechens (Kennzeichen: assoziativ, skizzenhaft, suchend, expressiv) zu anderen Sprechweisen 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 243 <?page no="244"?> ■ Kommentar: neben der inhaltlichen Seite von Äußerungen wird auch die Ausdrucksweise (zum Beispiel zögerliches Sprechen) selbst in den Blick genommen; es bleibt fraglich, wie viele Schüler: innen wirklich einen Bezug zu den anspruchsvollen Texten herstellen können 5. Literarische Lernprozesse in der Grundschule (Heizmann) ■ Publikationen: Heizmann (2014; 2017; 2018a; 2018b; 2020) ■ Kurzbeschreibung: qualitativ-rekonstruktive Ausrichtung; doku‐ mentarische Methode; Kinder der dritten und vierten Klassen‐ stufe; Untersuchungen von Orientierungsdynamiken bei Denk- und Handlungsmustern ■ Ergebnis: Weiterentwicklung des Verstehens während literarischer Gespräche (Progression: vom wörtlichen zum symbolischen Verstehen) ■ Kommentar: sinnvolle Reduktion der Beobachtungsaspekte 6. Literarisches Lernen im Sprechen und Schreiben (Bräuer) ■ Publikationen: Bräuer (2014; 2018) ■ Kurzbeschreibung: explorative Einzelfallstudie (11. Jahrgangsstufe); Auswertung von Portfolios hinsichtlich literarischer Gespräche (Effektivität und Praktikabilität) ■ Ergebnis: Einblick in die Wirkungen literarischer Gespräche ■ Kommentar: es werden auch Möglichkeiten aufgezeigt, wie literari‐ sche Gespräche sinnvoll eingebettet werden können 7. Ästhetische Erfahrung in Gesprächen über Kunst (Schmidt, A.) ■ Publikationen: Schmidt, A. (2016; 2020) ■ Kurzbeschreibung: kunstdidaktische Studie; drei Gespräche mit Realschülerinnen und -schülern; linguistische Kommunikations‐ analyse; Kategorien: ‚instrumenteller‘ und ‚annähernder‘ Sprachge‐ brauch (unverkennbare Nähe zu Steinbrenners Arbeiten, s. o.) ■ Ergebnis: interessanter Versuch, den latenten Sinngehalt ästheti‐ scher Erfahrungen zu erschließen ■ Kommentar: wertvolles Kategoriensystem, das auch für die Untersu‐ chung literarischer Gespräche eingesetzt werden kann; nicht unproble‐ matisch ist, dass die Gespräche einer starken Lenkung unterworfen waren 244 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="245"?> theoreti‐ sche Grundla‐ gen Literatur‐ theorie Spracherwerbstheorie Zusammenfassung: überwiegend qualitative und rekonstruktive Stu‐ dien; Dialektik von Einzelbeobachtung und Verallgemeinerung; Gefahr der Überinterpretation der Daten: „Die Annahme, es gehe um harte Daten, verfliegt schnell, wenn man sich Kodierungen genauer anschaut.“ (Spinner 2020: 170); offen bleibt, inwieweit Schüler: innen, die sich kaum oder gar nicht an den Gesprächen beteiligen, von einem derartigen Unterricht profitieren. Spinner hat mehrere Aufsätze zum LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH ver‐ fasst (1987; 1992b; 2014). Neben praxisorientierten Vorschlägen für sinnvolle Gesprächsimpulse liegt sein Augenmerk besonders auf der Verknüpfung von literarischen Gesprächen mit dem HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E N ‐ TI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT sowie auf einer Anregung zu ‚Gesprächseinla‐ gen‘ beim Vorlesen (→-4.7) literarischer Texte. Unter Berücksichtigung bestimmter hermeneutischer Positionen unter‐ sucht Hurrelmann (1987) literarische Gespräche und kommt zu dem Ergeb‐ nis, dass ein Gelingen gewährleistet sei, wenn die Gespräche zwischen den Polen ‚Elaborieren‘ und ‚Strukturieren‘ hin- und herpendelten. Dieses Moment solle in der Didaktisierung des LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S berücksichtigt werden. Das Heidelberger Modell bezieht sich auf sehr unterschiedliche theoreti‐ sche Grundlagen (s. hierzu ausführlich Härle/ Steinbrenner 2003; in Kurz‐ form Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2010: 2 ff., die im Folgenden kurz erläutert werden). In der Einleitung zu diesem Lernbereich wurde schon die Problematik des Begriffs ‚Verstehen‘ angerissen. Hier setzt die Forschungsgruppe um Härle an und beruft sich ebenso wie Hurrelmann (s. o.) auf die Hermeneutik Schleiermachers. Diese verbindet das Forscher: innen-Team jedoch mit As‐ pekten der Dekonstruktion, um zu begründen, dass literarische Gespräche keine ‚geschlossenen‘ Interpretationen als Ziel haben dürften. Mittlerweile nimmt das literarische Nichtverstehen (→ S. 188 ff.) in dieser Konzeption auch explizit einen besonderen Stellenwert ein: So führt zum Beispiel Härle (2020) aus, warum ein Nichtverstehen gerade im L IT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S ‐ G E S P RÄCH ‚gut aufgehoben‘ sein soll. Die Heidelberger Gruppe bezieht sich in ihrer Begründung für die Form literarischer Gespräche auch auf Erkenntnisse der literarischen Sozialisation 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 245 <?page no="246"?> Gesprächs‐ theorie Zielsetzun‐ gen praktische Umset‐ zung Gesprächs‐ verlauf (s. zu Vorlesegesprächen Wieler 1997). Daneben wird auf die Spracherwerbs‐ theorie von Bruner rekurriert, der Erzähl- und Vorlesegespräche als Formate beschreibt, „die wesentliche literarische Erfahrungen ermöglichen und die Basis literarischer Kompetenz bilden“ (Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2010: 2). Vorlesegespräche sind in der Regel bilderbuchorientiert und etablieren sich allmählich auch ganz grundsätzlich im Deutschunterricht (→-S.-280). Schließlich übernimmt die Forschungsgruppe (in modifizierter Form) be‐ stimmte Bausteine aus dem Modell der TH EM E NZ E NT R I E R T E N I NT E R AKTIO N (→-S.-28-ff.). Es wird davon ausgegangen, dass Schüler: innen insbesondere - und teil‐ weise sogar ausschließlich - im LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH folgende grundlegenden literarischen (und sprachlichen! ) Kompetenzen erwerben können (ebd.: 4 ff.): 1. sich in einem Wechselspiel auf den Text und auf persönliche Erfahrun‐ gen beziehen 2. Leseerfahrungen und Verstehensansätze in der eigenen Sprache formu‐ lieren 3. den literarischen Text und seine Sprache mimetisch nachvollziehen 4. die eigene Sprache an der Sprache des literarischen Textes erweitern und bilden 5. Sprache im Gespräch über einen literarischen Text thematisieren und reflektieren 6. sich über unterschiedliche Lesarten verständigen 7. Irritation und Nichtverstehen artikulieren und aushalten 8. Gesprächskompetenzen entwickeln 9. an kultureller Praxis teilhaben Zum konkreten Einsatz in der Schule haben die ‚Heidelberger‘ sich recht lange sehr zurückhaltend geäußert. Dies liegt im eigenen Verständnis der Modellierung begründet: Das Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs ist weniger eine spezifische Technik, die zu erlernen erfolgreiche Gespräche garantiert, sondern steht vielmehr für eine bestimmte Haltung gegenüber den Schülerinnen und Schülern, dem Text und dem Gespräch, die sich in den einzelnen methodischen Formen ausdrücken kann. (Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2010: -6) Mittlerweile liegen jedoch klarere Vorstellungen vor. Neben der Textauswahl (Gedichte und kurze epische Texte), dem Gesprächsrahmen (Sitzkreis; eine 246 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="247"?> Dauer des Gesprächs von etwa 30 Minuten) und der Leitung (partizipierend) gibt es einen konkreten Vorschlag zum Gesprächsverlauf (Steinbrenner/ Wiprächti‐ ger-Geppert 2010: 7 ff.). „Auch Schweigen ist in einem literarischen Unterrichtsgespräch er‐ laubt.“ (Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2010: 7) Das Heidelberger Modell zielt nicht auf eine (plausible) Interpretation des Textes ab. Im Vordergrund steht die Verständigung über unterschiedliche Deutungsangebote. Entscheidend hierbei ist, dass die Lernenden sich über das Vorhandensein mehrerer Bedeutungsmöglichkeiten bewusst werden und den Nutzen eines diesbezüglichen gemeinsamen Bemühens um den Text erkennen. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass sich das L IT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH aufgrund seines Formats in be‐ sonderem Maße auch für den Literaturunterricht an Förderschulen (s. hierzu die empirische Studie von Wiprächtiger-Geppert 2009) beziehungsweise für einen inklusiven Literaturunterricht eignet. 1. Einstieg ■ Gesprächsatmosphäre herstellen ■ Rahmen und Regeln deutlich machen 2. Textbegegnung ■ Text einmal oder mehrmals vorlesen 3. erste Runde ■ allen (Schülerinnen, Schülern und mir) Gelegenheit geben, sich zu äußern 4. offenes Gespräch ■ den Schülerinnen und Schülern (und mir selbst) Raum geben, sich mit eigenen Themen zum Text zu äußern ■ Zeit lassen zum Nachdenken ■ Impulse für die Schülerinnen und Schüler oder Hilfen zur Gesprächsführung einbringen, wenn dies erforder‐ lich ist 5. Schlussrunde ■ allen (Schülerinnen, Schülern und mir) Gelegenheit geben, sich zu äußern 6. Abschluss ■ in Ruhe beenden, Rahmen deutlich machen ■ Schlusspunkt setzen Abb. 8: Struktur eines L I T E R A R I S C H E N U N T E R R I C H T S G E S P R Ä C H S (n. Steinbrenner/ Wiprächti‐ ger-Geppert 2010: 11) 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 247 <?page no="248"?> Stolper‐ steine Problematisierung Garbe stellt die Neuorientierung des LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S aufgrund seiner theoretischen Bezugspunkte und Zielsetzungen als eine der wichtigsten Konzeptionen der letzten Jahre heraus (2014: 80). Darüber hinaus bemerkt sie: Die Heidelberger Forschungsgruppe zum Literarischen Unterrichtsgespräch ist vielleicht der literaturdidaktische Arbeitszusammenhang des vergangenen Jahr‐ zehnts, der sich am konsequentesten dem […] bildungspolitischen Mainstream verweigert hat. (Ebd.: 90) Diese unzweifelhaft besonders auffällige Haltung der Heidelberger Gruppe kann jedoch bestimmte problematische Aspekte nicht verdecken. Erstens haben unserer Erfahrung nach Studierende erhebliche Schwierigkeiten, sich auf das ‚Wagnis‘ einzulassen, ein derart offenes Gespräch mit Schülerinnen und Schülern auszuprobieren beziehungsweise anzubahnen. Ihre eigenen Erfahrungen mit schulischem Literaturunterricht, in dem es in erster Linie um das möglichst restlose Tilgen von Unverständnis ging, stehen einer diesbezüglichen Offenheit stark entgegen. Zudem ist es nur sehr schwer möglich, sich beispielsweise in Praktika den Kindern und Jugendlichen so zu nähern, dass ein LIT E R A R I S CH E S U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH überhaupt sinnvoll erscheint - dies ist jedoch letztlich ein Organisationsproblem von Hoch‐ schulen. Vor diesem Hintergrund fordern Nickel-Bacon/ Kloppert noch etwa fünfzehn Jahre nach Veröffentlichung der ersten Publikationen zum L IT E R A ‐ R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH , dass „das literarische Gespräch zunächst in einschlägigen didaktischen Veranstaltungen des Lehramtsstudiums erprobt werden“ (2018: 198; dort finden sich auch interessante Ergebnisse einer ent‐ sprechenden Studie, die mit Studierenden durchgeführt wurde) sollte. Auch Scherf/ Werner (2017) haben mit ihren Studentinnen und Studenten entspre‐ chende Gesprächshandlungen geübt und anwenden lassen: Es zeigte sich, dass ein gesprächsorientierter Literaturunterricht für Anfängerinnen und Anfänger äußerst voraussetzungsreich und herausfordernd sei. Dass trotz der begrüßenswerten Offenheit des L IT E R A R I S CHE N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S bestimmte Gesprächsvorbereitungen notwendig sind, liegt auf der Hand: Zabka (2020b) hat diesbezügliche Anforderungen an die Lehrkräfte praxis‐ orientiert umrissen. Damit ist unmittelbar auch ein zweiter Problemkreis berührt: Aufgrund ihrer bisherigen Unterrichtserfahrungen bringt der Großteil der Schüler: in‐ 248 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="249"?> nen äußerst ungünstige Voraussetzungen für das Gelingen eines LIT E R A R I ‐ S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S mit: Vor allem zwei Stolpersteine scheinen den Einsatz literarischer Gespräche in der Schulpraxis zu erschweren: die mangelnden Gesprächskompetenzen der Schülerinnen und Schüler und die Offenheit des Gesprächs, die in Spannung steht zum institutionellen Rahmen beziehungsweise zu den Normen der Soziali‐ sationsinstanz Schule. (Ohlsen 2014: 338) Diese und ähnliche Problematiken begleiten die Implementierung dieser Konzeption bis heute. Auch Hofer-Krucker Valderrama/ Weber (2020: 133) weisen in diesem Zusammenhang auf folgende Problemstellen hin: grund‐ sätzliche Offenheit des Gesprächs, mangelnde entsprechende Erfahrungen der Schüler: innen, schwieriges Konzept des Innen- und Außenkreises (s. unten) sowie die damit verbundenen räumlichen Veränderungen - zudem fehle zumindest in Gymnasien der Rückhalt des Kollegiums; ihres Erachtens könnten literarische Gespräche jedoch funktionieren, wenn deren Grund‐ idee eng an das sogenannte Dialogische Lernen angebunden würde (s. zur Vertiefung nebst zahlreichen methodischen Hinweisen ebd.: 134 ff.; ebenfalls unterstreicht auch Mitterer 2020 noch einmal dezidiert, dass die Realisierung derartiger Gespräche in der heutigen Schule nur schwerlich möglich sei). Mesch (2020: 54 f.) kritisiert unter Zuhilfenahme von veröffentlichten Transkripten der Heidelberger Forschungsgruppe scharf eine ‚Textferne‘ des literarischen Unterrichtsgesprächs und schlägt vor diesem Hintergrund interessanterweise die Berücksichtigung des sogenannten topologischen Feldermodells (→ 6.10) vor, um auch einen gesprächsorientierten Literatur‐ unterricht zukünftig textnäher ausgestalten zu können (→-S.-237). Auch Spinner zum Beispiel steht dem Modell in seiner ‚Reinform‘ vor dem Hintergrund des Einsatzes in Großgruppen skeptisch gegenüber und plädiert dafür, sowohl die wichtigen ‚Vorläufer: innen‘ (s. o.) als auch das ewig kritisierte fragend-entwickelnde Gespräch nicht vollständig außer Acht zu lassen: Statt einen Gesprächstypus mit Hochwertwörtern [gemeint sind Begriffe wie z. B. ‚authentisch‘, C. H./ A. K./ R. O./ C. M.] zu belegen, erscheint es mir sinn‐ voll, die Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Gesprächsformen differenziert wahrzunehmen und diese im Unterricht flexibel einzusetzen (also beispielsweise fragend-entwickelnde Gespräche, moderierte Gespräche im Sinne 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 249 <?page no="250"?> Modifika‐ tionen der Frankfurter Gruppe und geleitete literarische Gespräche im Sinne des Hei‐ delberger Projektes). (2014b: 294) Schließlich birgt der mit dem Terminus ‚partizipierende Leitung‘ (Härle 2019; Mayer 2020; kritisch: Rubner/ Rubner 2014 und Kleer 2014, die explizit auf die Problematik hinweist, dass die von der Heidelberger Gruppe kriti‐ sierte Dominanz der Lehrkraft letztlich auch in dieser Konzeption nicht überwunden werden kann) verbundene Anspruch gerade in Gesprächen mit (jüngeren) Schülerinnen und Schülern weitere Problematiken. So wird zum Beispiel in diesem Zusammenhang auch eine ‚Partnerschaftlichkeit‘ zwischen Lernenden und Lehrenden postuliert, die wir - trotz oder vielmehr wegen unserer langjährigen Erfahrungen an Schulen - nicht nachvollziehen können und möchten (s. vertiefend hierzu die Kritik von Olsen 2018 sowie die Replik von Härle 2016). Auch Merklinger hält im Zusammenhang mit Gesprächen im Deutschunterricht deutlich fest: „Die Kommunikation zwischen Lehrkraft und Schüler*innen kann aufgrund der institutionellen Rahmung nicht symmetrisch sein“ (2020: 76). Harwart/ Sander/ Scherf (2020) greifen die Problematik der Lehrer: innenrolle in literarischen Unterrichts‐ gesprächen noch einmal dezidiert auf, zeichnen die bisherige kontroverse Diskussion dazu nach und veranschaulichen mit empirischen Beispielen das von ihnen präferierte adaptive Lehrer: innenhandeln, das auch an die Vorschläge von Olsen (2018) anschließt: „Eingreifendes Gesprächshandeln der Lehrer*innen wird […] als besonders wirksam erachtet, wenn es auf im Gespräch geäußerte Schülerbedürfnisse reagiert und das sachbezogene Verstehen weitertreibt“ (ebd.: 261). Mittlerweile scheinen die Vertreter: innen des L IT E R A R I S CHE N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S sich in ihren methodischen Überle‐ gungen grundsätzlich immer stärker an die beispielsweise von Olsen (2018) als unabdingbar erachteten Impulse in derartigen Gesprächen anzulehnen (s. z. B. die entsprechenden Vorschläge von Heizmann 2020). Ohlsen schlägt auf Grundlage ihrer Untersuchungen entsprechend fol‐ gende Modifikationen des Heidelberger Modells vor (2014: 339-ff.): ■ Durchführung eines gezielten Gesprächstrainings für Schüler: innen (ein Schwerpunkt ist aktives Zuhören) ■ Begrenzungen der Offenheit literarischer Gespräche (Transparenz der Methode, Textauswahl, Einführung eines Gesprächsprotokolls, Arbeit in Kleingruppen, Einsatz eines Lerntagebuchs) 250 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="251"?> Weitere überaus interessante Modifikationen, die Berührungspunkte vor allem zum Schreiben (→ 3), aber auch zum Lesen (→ 4) aufweisen, hat Bräuer (2014a; 2014b) vorgeschlagen (s. auch die methodischen Ideen - ‚Textlupe‘ und ‚Detektivausweis‘ - von Heizmann 2014). Spinner, der übrigens bereits seit Bekanntwerden der Heidelberger Konzeption für das Implementieren von Gesprächseinlagen plädiert (2004), überschreitet unter anderem bewusst die Grenzen zu anderen literaturdidaktischen Konzeptionen und unterbrei‐ tet für das literarische Unterrichtsgespräch folgende methodische Möglich‐ keiten: Methodische Anregungen zu Literarischen Gesprächen in der Sekundarstufe (Spinner 2014: 126 ff.) 0. Vorbereitung ‚lautes Denken‘ (Text liegt den Schülerinnen und Schülern vor, die halblaut dazu assoziieren); Schreibgespräch (Text liegt auf einem großen Papierbogen in der Mitte; die Schüler: innen schreiben ihre Assoziatio‐ nen und Fragen zum Text auf das Papier) 1. Textwahl Bezüge zu eigenen Lebenserfahrungen; deutliches Irritationspotenzial 2. Räumliches Arrangement Sitzkreis; bei Klassen mit über 15 Schüler: innen Bildung eines Innen- und Außenkreises (= ‚beobachtend‘); mögliche Wechsel der Sitzpositio‐ nen berücksichtigen 3. Einstieg verschiedene Möglichkeiten, die auch kombiniert werden können: Lehr‐ kraft liest den Text vor; Schüler: innen lesen selbst; anschließend liest jede: r eine gewählte Textstelle vor oder weist auf eine irritierende Formulierung hin; ‚Blitzlicht‘ (jede: r gibt ein kurzes Statement zum Text ab oder sagt, was der Text in ihr beziehungsweise ihm [nicht] ausgelöst hat); Lehrkraft gibt einen Impuls („Für mich gibt es einen Satz im Text …“) Alternative: Vorschaltung einer Produktionsaufgabe (zum Beispiel das Ausdenken eines Titels oder die Auswahl aus unterschiedlichen [von der Lehrkraft ausgedachten] Schlusssätzen) 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 251 <?page no="252"?> 4. Moderation Die Lehrkraft als Moderator: in kann Fragen stellen oder Impulse ge‐ ben. Wichtig ist, dass hierbei Offenheit gewährleistet ist (also nicht: „Was bedeutet diese Metapher? “, sondern: „Ich überlege, was diese Formulierung bedeuten kann. Wie versteht ihr sie? “). Bei Bedarf soll sie Hintergrundwissen zum Text liefern können, zum Beispiel zum Entstehungshintergrund. Äußerungen von Schülerinnen und Schülern sollen immer wieder miteinander verknüpft werden („Stefan hat vorhin gesagt …“). Eine besondere Aufgabe besteht im Aufrechterhalten der Ba‐ lance zwischen Textbezug und subjektivem Eindruck. Stille Schüler: in‐ nen sollten vorsichtig in das Gespräch einbezogen werden - allerdings nicht durch ein bloßes Aufrufen. 5. Abschluss und Nachbereitung Durchführung einer Endrunde (jede: r äußert sich zusammenfassend zum Text); Teilnehmer: innen des Außenkreises tauschen ihre Eindrücke aus; Text noch einmal ‚abrundend‘ vorlesen (lassen) Durch derartige Weiterentwicklungen wird der Einsatz des Heidelberger Modells in Schulen gewinnbringend unterstützt: Es versteht sich, dass sich das literarische Gespräch wesentlich weniger gut in die Institution Schule einpasst als das strategieorientierte Lernen. Die große Schülerzahl in den Klassen macht es kaum möglich, dass sich alle an einem solchen Gespräch intensiv beteiligen. Dass kein eindeutiges Ergebnis anvisiert wird, kollidiert mit der Leistungsorientierung und -feststellung in der Schule. Aber dieses Spannungsverhältnis betrifft grundsätzlich die Literatur und die damit verbundene ästhetische Erfahrung, die ja einen Gegenpol zur Zweckratio‐ nalität darstellt. Durch das literarische Gespräch kann Schülerinnen und Schülern bewusst werden, dass zur Bildung nicht nur Wissenserwerb und Aneignung von Fähigkeiten zur Problemlösung gehören, sondern auch die Entfaltung einer Bereitschaft, sich der Welt des Imaginären, dem intuitiven Angesprochensein und der Irritation zu öffnen und sich darüber ohne bestimmte Zweckorientierung auszutauschen. (Spinner 2007: 25) Heizmann (2020: 191) hat eine interessante, speziell auf die Primarstufe zugeschnittene Modifikation vorgestellt: 252 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="253"?> Das Textforscher: innen-Setting: Phasen, Utensilien und Aufgaben Vorbereitung und Vorphase ■ Gemeinsames sorgfältiges Einrichten des Sitzkreises. ■ Textforscher: innenkoffer mit Textblättern, Textlupen und Stiften bestücken und in die Mitte des Sitzkreises stellen. Phase 1: Gesprächseinstieg ■ Den Beginn des Literarischen Unterrichtsgesprächs sprachlich mar‐ kieren. ■ Angenehme, ruhige und konzentrierte Atmosphäre schaffen. ■ Regeln und Setting deutlich machen bzw. (re)aktivieren. ■ Gespräch als ‚Spurensuche‘ rahmen und die Kinder auf die Polyse‐ mie literarischer Texte einstimmen. Phase 2: Textbegegnung ■ Erstes Vorlesen durch die Lehrperson, die Schüler: innen hören (mit geschlossenen Augen) zu. ■ Jedes Kind nimmt aus dem Textforscher: innenkoffer ein Gedicht‐ blatt, eine Textlupe und einen (wasserlöslichen) Stift, den es zu‐ nächst unter seinen Stuhl legt. ■ Zweites Vorlesen durch die Lehrperson, die Kinder lesen still und ‚mit den Augen‘ mit. ■ Impuls zur Auswahl der individuellen Textspuren, die alle markieren und auswendig lernen; die Stifte werden vor der ‚Ersten Runde' wieder im Textforscher: innenkoffer verstaut. ■ Als Zeichen der erfolgten Wahl dreht jede/ r das Gedichtblatt auf dem Schoß um. Phase 3: Erste Runde ■ Alle (auch die Lehrperson) nennen ihre Textspur. ■ Die Lehrperson notiert sich stichwortartig die Textspuren der Kin‐ der mit ihren Namen. 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 253 <?page no="254"?> Phase 4: Offenes Gespräch ■ Alle Beteiligten zum Gespräch einladen. ■ Befestigung der Textlupe neben den einzelnen Strophen des Ge‐ dichts. ■ Eröffnung durch einen gesprächsfördernden thematischen Impuls oder einen gesprächsorganisierenden Impuls mit Bezug auf die Textspuren aus der ‚Ersten Runde‘. ■ Allen Raum geben, sich mit eigenen Themen zum Text zu äußern. ■ Zeit lassen zum Nachdenken. ■ Impulse formulieren, wenn dies erforderlich ist; auf die Balance zwi‐ schen Elaborieren und Strukturieren achten und sie durch Impulse immer wieder herstellen. ■ Verteilung des Rederechts durch Gestik (einladende Handbewegun‐ gen) oder Mimik (bestätigendes Zunicken). ■ Textlupen gegebenenfalls im fortgeschrittenen Verlauf unter dem Stuhl ablegen, um das Gedicht in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen. Phase 5: Schlussrunde ■ Gespräch rechtzeitig und langsam abrunden. ■ Zur Schlussrunde mit einem Impuls überleiten. ■ Allen Gelegenheit geben, sich noch einmal einzubringen. Phase 6: Abschluss ■ Das Gespräch in Ruhe beenden. ■ Den Abschluss sprachlich markieren (z. B. mit Dank für die Beteili‐ gung). Kleer (2014) hat mit einer außerordentlich starken Modifikation auf sich auf‐ merksam gemacht. Im Rahmen ihres lesedidaktischen Konzepts Lesefriends (→ S. 173) konzipiert sie ein Format der literarischen Anschlusskommuni‐ kation, das gänzlich auf die Lehrkraft verzichtet: Das Gespräch „wird in freundschaftlich verbundene, selbstgewählte Kleingruppen verlagert“ (ebd.: 53). Ob diese in der Didaktik noch nicht ausreichend diskutierte Möglich‐ keit sich auch im Literaturunterricht etablieren wird, bleibt abzuwarten. Daneben weisen sogenannte Vorlesegespräche (→ S. 280) - in der Regel 254 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="255"?> auf der Grundlage der Rezeption von Bilderbüchern - enge Bezüge zum L IT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH auf; der wichtigste Unterschied besteht (in Anlehnung an entsprechende Überlegungen von Spinner 2019a u. Kruse 2009) darin, dass bereits während der Rezeption des Mediums miteinander gesprochen wird. Wenn Lehrende sich all den skizzierten Herausforderungen stellen, wird sich mit großer Sicherheit zeigen, dass das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E ‐ S P RÄCH für alle Medien, die einen bestimmten ästhetischen Wert aufweisen, geeignet sein wird. Voraussetzung hierfür ist allerdings das Einnehmen einer bestimmten Haltung sowohl den Lernenden als auch dem Text beziehungs‐ weise Medium gegenüber. Tipps für den Unterricht ■ Bereiten Sie LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH E professionell und langfristig vor. Üben Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern zu‐ nächst allgemeine Gesprächskompetenzen (Sprechen und Zuhören, →-2) ein. ■ Fügen Sie nach und nach einzelne Gesprächsphasen im Sinne des Heidelberger Modells in Ihren Unterricht ein - planen Sie zum Beispiel beim Vorlesen ‚Gesprächseinlagen‘ (s. hierzu Spinner 2019a) ein. ■ Wählen Sie zuvörderst kurze Texte aus, die sich nur schwerlich (oder auch gar nicht) ‚verstehen‘ lassen. ■ Verbinden Sie das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH je nach Zielset‐ zung Ihres Unterrichts auch mit anderen deutschdidaktischen Kon‐ zeptionen. Bedenken Sie jedoch, dass es auch hervorragend dafür geeignet ist, ‚alleine‘ im Mittelpunkt Ihrer didaktisch-methodischen Überlegungen zu stehen - probieren Sie auch diese Möglichkeit aus. ■ Bedenken Sie bei Ihren methodischen Bemühungen, „dass sich nie‐ mals ein fixes Regelwerk für das Gelingen literarischer Gespräche festlegen lassen wird“ (Mitterer 2020: 186). Im Heft 43 der Zeitschrift Deutsch 5-10 (Literarische Gespräche führen) finden sich zahlreiche methodische Ideen und Impulse für einen ge‐ sprächsorientierten Literaturunterricht. 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch 255 <?page no="256"?> Aufgaben 1. Ziehen Sie die ‚Hilfsregeln‘ von Cohn heran (→ S. 29 f.) und begründen Sie, welche für das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (im Sinne des Heidelberger Modells) besonders wichtig sind. 2. Stellen Sie sich eine Klasse vor, die Sie bereits unterrichtet haben, oder versuchen Sie, sich an Ihren eigenen Literaturunterricht zu erinnern: Welche Modifikationen des Heidelberger Modells wären aus Ihrer Sicht notwendig (und auch umsetzbar)? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung H Ä R L E , G./ S T E I N B R E N N E R , M. (Hg.) (2019) (der erste Sammelband, mit dem der Beginn der Konzeptionalisierung begründet wurde) S T E I N B R E N N E R , M./ M A Y E R , J./ R A N K , B. (Hg.) (2014) und H E I Z M A N N , F./ M A Y E R , J./ S T E I N B R E N N E R , M. (Hg.) (2020) (zwei Sammelbände, die den Status als anerkannte Konzeption dokumentieren) S T E I N B R E N N E R , M./ W I P R ÄC H T I G E R -G E P P E R T , M. (2010) (ein praxisorientierter Beitrag, der den Einstieg in die unterrichtliche Umsetzung erleichtert) Lektüreempfehlung für einen inklusionsorientierten Unterricht W I P R ÄC H T I G E R - G E P P E R T , M. (2009) (erste grundlegende Studie, die verdeutlicht, dass literarische Gespräche auch für Schüler: innen mit Beeinträchtigungen eine herausragende Rolle im Unterricht spielen sollten) 5.5 Szenische Interpretation Szenisches Interpretieren ist Tätigsein mit Literatur. (Schau 1996: 18; Herv. i.-O.) Das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N von Texten nimmt im Bereich literaturdidak‐ tischer Konzeptionen eine Sonderstellung ein, da es häufig nicht als eigen‐ ständige Konzeption angesehen, sondern unter den HANDL UN G S - UND P R ODU K ‐ TIO N S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT (→ 5.2) subsumiert wird (Spinner 2002: 255 u. 2008a: 190) - wenn es denn überhaupt in literaturdidaktischen Veröffentlichungen erwähnt wird. Aufgrund der Eigenarten der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATION im methodischen Bereich und hinsichtlich der intendierten Zielsetzungen sollte ihr jedoch innerhalb der Literaturdidaktik der Status 256 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="257"?> Vertre‐ ter: innen einer eigenständigen Konzeption zugesprochen werden. Erst dadurch wird ihr besonderer Charakter erkennbar, der sich zumindest in der moderneren Ausprägung deutlich vom demjenigen des HANDL UN G S - UND P R ODU KTION S O R I ‐ E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S unterscheidet (für einen ersten knappen Überblick s. Abraham 2017b). Darstellung Die S Z E NI S CH E I NT E R P R E TATIO N ist eine handlungs- und insbesondere erfah‐ rungsbezogene Modellierung, die eine Erschließung von Texten auf meh‐ reren Bewusstseinsebenen anstrebt. Mitunter gerät in Vergessenheit, dass diese Konzeption durchaus auch beim Umgang mit Sachtexten Anwendung finden kann (ebd.: 75 ff.). Die begriffliche Wendung S Z E NI S CH E S I NT E R P R E TI E R E N wurde 1980 von Klinge eingeführt; die Weiterentwicklung zu fundierten Modellierungen mit unterschiedlichen Strategien und Techniken leisteten Schau und schließlich Scheller, dessen Name heute untrennbar mit der Konzeption verbunden ist. Eine Übertragung auf die Grundschule wurde von Grenz vorgenommen. Ein weiterer prominenter Vertreter ist Kunz, dessen für den Einsatz in der gymnasialen Oberstufe empfehlenswertes Buch Spieltext und Textspiel (1997) den Überlegungen der bisher genannten Vertreter: innen nahekommt. Eine im Jahre 2010 erschienene Monographie offenbart jedoch eine didak‐ tische Richtungsänderung: Kunz ist mittlerweile der Auffassung, dass die Schüler: innen nicht ‚nur‘ (szenisch) interpretieren, sondern auch und vor allem gestalten - also inszenieren - sollten (ebd.: 2). Durch diesen deutlichen ‚Sprung‘ zum Schultheater und zum Darstellenden Spiel, das in einigen Bundesländern als eigenständiges Unterrichtsfach der öffentlichen Schule etabliert ist, wird trotz der naturgemäßen Nähe zum Deutschunterricht des‐ sen Kernbereich doch derart stark überschritten, dass wir die Modifikation seines Ansatzes im Folgenden außer Acht lassen. Theatrale Lyrikuntersuchung (TLU) Bahn (2014) entwickelt aus theatraler Perspektive eine neue Form der Lyrikuntersuchung (→ S. 267 ff.): Diese beziehe ihre Wurzeln „aus der noch relativ jungen Tradition der szenischen Interpretation“ (ebd.: 14; Herv. i. O.). Damit erweitert Bahn das Textspektrum der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATIO N um diejenige Gattung, die bis dahin von dieser Konzep‐ 5.5 Szenische Interpretation 257 <?page no="258"?> Zielsetzun‐ gen tion zumeist ausgespart wurde. Das Ziel der TLU „ist die Entwicklung einer eigenständigen Position der Deuter zum Text, indem diese ein am Text belegbares Verständnis des selbigen erarbeiten“ (ebd.: 31). In methodischer Hinsicht basiert die TLU auf folgendem Phasenmodell (ebd.: 82; → S.-189): 0. Einstimmung - Aufgabe und Erwartungshaltung 1. Leseprozesse - Inhaltserfassung und Bruchstellenmarkierung 2. Theatralisierung des Gedichts - Visualisierung, Segmentierung, Konkretisierung 3. Rückblick auf die Oberfläche - Strukturerfassung 4. Spielentwicklung - Verknüpfung zweier Disziplinen aus der Dis‐ tanz 5. Theaterspiel - Lyrik erleben, Theater machen Um die Annäherung an den literarischen Text zu unterstützen, werden drei sogenannte ‚Hilfsmittel‘ zur Verfügung gestellt (s. ebd.: 83 ff.): Verständnistagebuch, Fragenkatalog und Darstellungsplan. Die TLU stellt unserer Einschätzung nach eine interessante Möglichkeit dar, Lernenden einen nachhaltigen, handlungsorientierten Zugang zu Lyrik zu verschaffen. Eine didaktische Diskussion dieses Ansatzes steht allerdings noch aus. Die Zielsetzungen der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATIO N sind äußerst vielfältig. Während Scheller beabsichtigt, literarische Texte nicht als lebensweltferne Lerngegenstände zu vermitteln, sondern sie eng an die eigenen Lebenser‐ fahrungen binden möchte (2010: 48), will Schau sowohl ein genussvollsinnliches Literaturerleben als auch ein erleichtertes kognitives Erschließen von Texten ermöglichen, das in der Regel fächerübergreifend orientiert sein soll (1996: 7 u. 22). Heute wird generell von einem sehr weiten inhärenten Lernpotenzial für die Bereiche Lesemotivation, Lesekompetenz und das litera‐ rische Lernen ausgegangen (Grenz 2010; 2012); es liegt auf der Hand, dass bei den Lernenden insbesondere die Bereiche Imaginationsfähigkeit und Per‐ spektivenübernahme gefördert werden (s. hierzu auch die empirische Studie von Kumschlies 2008). Neben den eng an literarische Bildungsgegenstände gekoppelten Zielsetzungen soll das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N viele weitere 258 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="259"?> theoreti‐ sche Bezüge Lernprozesse anstoßen und vertiefen (s. umfassend Scheller 2010: 75 ff.): unter anderem haltungsbezogenes (die Schüler: innen sollen sich Haltungen und Verhaltensweisen bewusst machen und dadurch neue Perspektiven entwickeln), historisches (die Schüler: innen sollen sich ihrer eigenen Histo‐ rizität bewusst werden) und interkulturelles Lernen (die Schüler: innen sollen sich in Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund einfühlen; s. grundlegend hierzu auch Olsen 2017). Terminologische Abgrenzungen ■ Szenisches Spiel: eine Methode der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATION ; eine besondere Form des Rollenspiels; es wird auch ganz unabhängig von literarischen Texten in anderen Unterrichtsfächern eingesetzt (→-2.4) ■ Darstellendes Spiel: die Wendung wird ausschließlich in schulischen Zusammenhängen verwendet; im weiteren Sinne umfasst sie alle Formen des In-Szene-Setzens wie zum Beispiel auch das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N und das szenische Spiel; im engeren Sinne ist damit das Schultheater oder das (in einigen Bundesländern etablierte) entsprechende Schulfach gemeint ■ Theatrales Rollenspiel: eng auf das Phänomen Theater bezogen; zumeist nehmen die Spielenden typische Rollen an (z. B. den ‚ju‐ gendlichen Liebhaber‘) ■ (Soziales) Rollenspiel: es gibt spontane Rollenspiele und reglemen‐ tierte (z. B. die weit verbreiteten Fantasyrollenspiele); in der Regel kein Bezug zu literarischen Texten; der Schwerpunkt liegt nicht im Geschehen, sondern in der Rollenpersönlichkeit (Psychodrama) oder in der Erprobung kommunikativer Muster (→-2.4) Den theoretischen Hintergrund für die vielfältigen methodischen Verfahren bietet in erster Linie die Rezeptionsästhetik, auf die sich schon Klinge bezogen hat. Davon grenzt sich Schau, der im S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TI E R E N mehr als ein methodisches Verfahren sieht, (scheinbar) ab: Er verortet seinen Ansatz in der psychologischen „Tätigkeitstheorie“ (1996: 15) - der wohl bedeutendste Vertreter ist Wygotski -, die unter anderem die gegenständliche Tätigkeit zum obersten Prinzip erhebt. Auffällig ist, dass Schau letztlich doch immer wieder das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N auch rezeptionsästhetisch legitimiert 5.5 Szenische Interpretation 259 <?page no="260"?> Verlaufs‐ modell nach Scheller (1996: 20 f.). Scheller (2010: 16) hingegen bezieht sich auf allgemeine theater- und schauspielpädagogische sowie sozio- und psychodramatische Ansätze wie zum Beispiel diejenigen von Stanislawski, Artaud, Fo und Boal. Darüber hinaus zieht er auch die epische Spielweise von Brecht und die theoretischen Überlegungen von Turner zum ‚sozialen Drama‘ (ebd.: 23 f.) heran. Sein Hauptanliegen besteht darin, mit Mitteln des szenischen Spiels einen Prozeß in Gang zu bringen und zu intensivieren, in dem Schüler und Schülerinnen bei der Auseinandersetzung mit den im Text gestalteten fremden Lebensentwürfen, Handlungsmustern und Sze‐ nen eigene Erlebnisse, Empfindungen und Verhaltensmuster entdecken können. (Scheller 1996: 22) Hintergrundinformation Konstantin S. Stanislawski (1863-1938) war ein russischer Schauspieler, Regisseur, Theaterreformer und -theoretiker. Er vertrat die Ansicht, dass eine Schauspielerin beziehungsweise ein Schauspieler ihre beziehungs‐ weise seine eigenen Erfahrungen und Gefühle in eine Rolle einbringen solle. Scheller, dessen Überlegungen in der Praxis am häufigsten herangezogen werden, liefert klare methodische Hinweise für den Verlauf einer S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATION (2010: 49 ff.). Zuerst sollten mit Bildern/ Projektionen unter‐ schiedliche Zugänge und Deutungsmöglichkeiten zum literarischen (hier beispielhaft: dramatischen) Text offengelegt werden, um ein Vorverständnis für die Situation zu schaffen. Daraufhin werden die Schüler: innen durch den Einsatz verschiedener Techniken dazu angeregt, sich in die Szenen und die Figuren einzufühlen, um deren Lebenszusammenhänge, Verhaltensweisen und Haltungen nachempfinden zu können. Anschließend wird in einzelnen Stationen szenisch reflektiert, wobei die Beobachtenden und die Spielenden aus ihrer eigenen Sicht sowie auch aus der Sicht der von ihnen dargestellten Figuren äußern, was sie wahrgenommen und empfunden haben. Zum Schluss wird die gesamte S Z E NI S CH E I NT E R P R E TATIO N ausgewertet, indem sie durch Standbilder und ähnliche Techniken rekonstruiert, reflektiert und gedeutet wird (s. hierzu das ausführliche Unterrichtsbeispiel in Steiner 2021: 234 ff.); hierbei findet auch die Auseinandersetzung mit der Form 260 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="261"?> und spezifischen Stilelementen statt. Um das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N nicht durch die Kenntnis vom Ausgang der Handlung zu beeinflussen, empfiehlt Scheller, den literarischen Text jeweils nur abschnittsweise lesen zu lassen. Kaum noch berücksichtigt werden die Hinweise zum Ablauf einer S Z E NI ‐ S CHE N I NT E R P R E TATIO N von Schau (1996: 26 ff.), obwohl sie nicht weniger interessant sind. Szenisch interpretieren lassen sich nicht nur dramatische, sondern im Prinzip alle Texte. Vorschläge für den Einsatz literarischer Texte finden sich in großer Zahl in den Publikationen von Scheller und Schau. Um sich einen Einblick in die Vielfalt der methodischen Möglichkeiten innerhalb einer gesamten Unterrichtseinheit zu verschaffen, sind die Beiträge von Dieterle/ Iaconis (2019a u. 2019b), Grenz (2010) und Lang (2019) sehr hilf‐ reich. Darüber hinaus ist diese Konzeption - wie oben schon erwähnt - auch für die Erschließung von Sachtexten geeignet. Techniken der szenischen Interpretation Eine Gegenüberstellung der methodischen Zugriffe von Scheller und Schau verdeutlicht das unterschiedliche Verständnis der szenischen Interpretation: Scheller: ■ Phantasiereisen (z. B. zur Einfühlung in örtliche Begebenheiten) ■ Rollentexte (z. B. zur Aneignung der Lebenssituation) ■ Selbstdarstellungen (Rollenbiographien) ■ Habitus- und Körperhaltungsübungen ■ szenisches Lesen (Erarbeitung von Sprechhaltungen) ■ Raumbeschreibungen ■ Rollengespräche (Aneignung der Kommunikationsweisen der Figu‐ ren) ■ szenische Improvisation (Entwicklung von Deutungsvarianten) ■ Standbilder (Reflexion von Beziehungskonstellationen und Situatio‐ nen) ■ Stimmenskulpturen (Beleuchtung ambivalenter Gefühle/ Gedanken einer Figur) (ausführlich 2010: 60 ff.) 5.5 Szenische Interpretation 261 <?page no="262"?> Lernkontrollen Vorzüge Schau: ■ Klangrealisation (vom Blatt ablesen - rezitieren) ■ musikalische Gestaltung (Instrumentaluntermalung - rhythmische Begleitung - singen - Vertonungen) ■ bildnerische Gestaltung (illustrieren - Bildtranskription des Textes) ■ mimisch-gestische Gestaltung (textbegleitende Mimik und Gestik - Pantomime) ■ kognitive Analyseverfahren (Einbeziehung von Diskurs und produk‐ tiven Schreibverfahren) (s. hierzu 1996: 22) Kunz unterbreitet sehr ähnliche Arbeitsvorschläge, die er in Annäherung an Text und Figur, Arbeit mit dem Text und Szenische Improvisation unterteilt (1997: 80). Wie auch bei einigen Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODU KTIO N S O R I E NTI E R ‐ T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S birgt die Natur der meisten Techniken des S Z E ‐ NI S CH E N I NT E R P R E TI E R E N S eine Problematik, die schwer mit den Aufgaben öffentlicher Schulen zu vereinbaren ist. Gemeint ist die Flüchtigkeit, die es Lehrkräften erschwert, sowohl den Lernprozess als auch ein etwaiges Pro‐ dukt adäquat in den Blick zu nehmen. Schau schlägt vor diesem Hintergrund vor, ein Regiebuch führen zu lassen, das als „Kontrollmethode“ (1996: 91) alle Aspekte beherbergen soll, die im Zusammenhang mit dem S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TI E R E N stehen: zum Beispiel spontane Einfälle, Spielideen, Hinweise für Kulissen, Deutungsansätze oder Zeichnungen (ebd.: 91 f.). Heute könnte man diesbezüglich auch von der Anfertigung eines lernbegleitenden Port‐ folios sprechen. Der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATION wird innerhalb der Literaturdidaktik eine Reihe von Vorzügen zugesprochen (s. im Folgenden Abraham/ Kepser 2016: 246 f.). Ihre starke Text- und Erfahrungsbezogenheit zeige sich darin, dass die Schüler: innen sich intensiv mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen und dabei auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen müssten. Die Hand‐ lungsorientierung verwirkliche sich über das Darstellen und Verfremden von Bildern, Beziehungen und Szenen. Die dafür nötige intensive Einbeziehung des Körpers solle eine motivierende Abwechslung zur rein kognitiven Erar‐ beitung von literarischen Texten gewährleisten. Insbesondere die Momente 262 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="263"?> der Erfahrung und der Handlung sollten das Interesse der Lernenden an literarischen Texten verstärken können. Schließlich sei das S Z E NI S CH E I NT E R ‐ P R E TI E R E N sowohl subjektals auch gruppenbezogen, weil das Individuum stets in einem engen Bezug zur gesamten Lerngruppe agiere. Auch in Bezug auf die Lehrperson stelle sich eine Veränderung des Rollenverständnisses ein: Sie diene Lernenden als Arrangeur: in, Moderator: in und als Mitspieler: in auf dem Weg ihrer eigenen Erarbeitung des Textes (Goldberg, H.-P. 2003: 8). Problematisierung Interessanterweise ruft das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N kaum direkte Kritik ‚von außen‘ hervor. Dies scheint darin begründet zu sein, dass es - wie oben angemerkt - entweder überhaupt nicht als literaturdidaktische Kon‐ zeption wahrbeziehungsweise ernstgenommen und/ oder dem HANDLUN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT zugerechnet wird. Trifft Letzteres zu, gelten für das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N häufig die gleichen Kritikpunkte. Auffällig ist jedoch, dass die Vertreter: innen selbst sich gegen‐ seitig zum Teil stark kritisieren - Schau beispielsweise ist davon überzeugt, dass der literarische Text bei Scheller „zum Spielanlaß verkommt“ (1996: 15). Hinweis Szenische Interpretation und literarische Kompetenzen: Kumschlies (2008) hat in ihrer Arbeit zwei Teilkompetenzen herausgearbeitet, die ihres Erachtens zentral und insbesondere durch das S Z E NI S CHE I NT E R P R E TI E R E N angestoßen und vertieft werden könnten: Imaginationsfähigkeit und Perspektivenübernahme (s. hierzu auch konkrete unterrichtliche Tipps in Bezug auf Märchen-Bilderbücher in Kumschlies 2014). Vorgeworfen werden kann den Vertreterinnen und Vertretern sicherlich, dass das zugrunde gelegte theoretische Fundament zwar eine große Vielfalt aufweist, sie es jedoch in nicht überzeugender Weise entsprechend entfaltet haben; einzig der Bezug zur Rezeptionsästhetik erscheint bislang schlüssig. Weitere kritische Aspekte liegen darüber hinaus in der Konzeption selbst begründet und werden auch von ihren Vertreterinnen und Vertretern thematisiert. Zuallererst ist der hohe Vorbereitungs- und Zeitaufwand hervorzuheben, der es erst gewähr‐ leisten kann, dass die Lehrperson auf alle möglichen Interpretationsansätze 5.5 Szenische Interpretation 263 <?page no="264"?> der Lernenden adäquat reagieren und dementsprechende anregende Impulse setzen kann (Scheller 2010: 252 u. 256 ff.). Hinzu kommt, dass das S Z E NI S CHE I NT E R P R E TI E R E N stets auf „vorbereitende Fertigkeiten und Tätigkeiten“ (Schau 1996: 95) angewiesen ist - beispielsweise Aufwärmübungen, Sprech- und Rezi‐ tationstechniken. Schau spricht diesbezüglich gar von einer ‚Propädeutik‘ und liefert in seiner Monographie vielfältige Hinweise zur praktischen Einführung in diese Konzeption (ebd.: 95 ff.). Auf eine Hauptproblematik bei der Anwendung von Techniken der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATION weist Scheller selbst hin: „Das Bauen von Stand‐ bildern ist einfach, verführt aber zur Oberflächlichkeit. Wenn nicht präzise gearbeitet wird, bleiben die Bilder beliebig, es wird nicht erfahrbar, was das Verfahren leisten kann“ (1998: 63; s. auch Roth-Lange 2010 u. 2011, der die szenischen Verfahren unter theaterdidaktischer Perspektive weiterent‐ wickelt; →-5.7). Durch den intensiven Rückgriff auf die eigene Lebenswelt der Schüler: in‐ nen kann zwar eine entsprechende Versprachlichung erleichtert werden, doch dieser Brückenschlag birgt auch das Risiko, dass diese nicht lernen, abstrakte Zugänge zur Literatur zu finden und diese unter Rückgriff auf entsprechende Fachtermini zu analysieren. Besonders problematisch sind die möglichen negativen Auswirkungen des S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TI E R E N S auf die psychische Verfasstheit der Schüler: innen: Durch das intensive Erspüren und Nachempfinden der Gefühle und Gedanken der literarischen Figuren - in Verbindung mit eigenen Erfahrungen (s. o.) - können bei den Kindern und Jugendlichen sehr persönliche, möglicherweise nicht verarbeitete Probleme zum Vorschein kommen. Da Lehrende jedoch weder einen therapeutischen Auftrag noch (in der Regel) eine diesbezügliche Ausbildung haben, kann es im Unterrichtsprozess zu belastenden, kaum lösbaren Konfliktmomenten kommen (Steitz-Kallenbach 1995). Es liegt auf der Hand, dass das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N nicht für alle Schüler: innen geeignet ist, da gerade im jugendlichen Alter das Reden und Spielen vor einem Publikum häufig mit Ängsten und Hemmungen einhergehen kann; damit muss die Lehrkraft besonders sensibel umgehen (Scheller 2010: 260 f.). Je nach Zusammensetzung der Lerngruppe muss auch darauf geachtet werden, dass infolge des Einfühlens in literarische Figuren keine Ressentiments gegen Einzelne entstehen, wenn den Mitschülerinnen und Mitschülern die Trennung zwischen der dargestellten Figur und der darstellenden Person nicht (immer) gelingen sollte. 264 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="265"?> Kernproblem: Er‐ fahrungs‐ orientie‐ rung Die starke Erfahrungsorientierung dieser Konzeption - das möglicher‐ weise wichtigste Alleinstellungsmerkmal - ist damit sowohl ihre Stärke als auch gleichzeitig die größte Schwachstelle. Sie erfordert eine genaue Einschätzung der Lerngruppe, eine sehr bedachte Textauswahl und ein sensibles sowie weitsichtiges Abschätzen der möglicherweise entstehenden Probleme. Sind Lehrpersonen entsprechend ausgebildet worden und verfü‐ gen sie über ein hohes Maß an Sensibilität (und literarischer Bildung! ), kann das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N ein breites Spektrum zur handlungs- und erfahrungsbetonten Erschließung von Texten bieten, das neben der Freude und Motivation der Schüler: innen auch kritisch-wertende Aspekte gleichermaßen zu gewährleisten imstande ist. Bedacht werden muss dabei stets, dass der Umgang mit dem literarischen Text nicht - wie oben schon in einem anderen Zusammenhang zitiert - als Spielerei abgetan wird. Tipps für den Unterricht ■ Wecken Sie die Spielbereitschaft Ihrer Schüler: innen und das Ver‐ trauen in das eigene Spielen durch vorbereitende Übungen. ■ Verlieren Sie die hauptsächliche Zielsetzung - Annäherung an das Deutungsangebot des Textes - nicht aus den Augen. ■ Planen Sie immer mindestens eine Doppelstunde ein. ■ Gestehen Sie allen Lernenden das Recht zu, sich dem Spielen zu verweigern. ■ Verknüpfen Sie diese Konzeption stets mit gesprächsorientierten, textanalytischen und textproduktiven Methoden (z. B. mit dem Verfassen eines inneren Monologs). ■ Üben Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern in diesem Zusam‐ menhang auch das Vortragen von Texten (→ S. 41 ff.) (Spinner 2000b). Aufgaben 1. Diskutieren Sie Vor- und Nachteile des S Z E NI S CHE N I NT E R P R E TI E R E N S gegen‐ über dem LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→-5.4) und überlegen Sie, ob und gegebenenfalls wie beide Konzeptionen produktiv miteinander verbunden werden können. Berücksichtigen Sie dabei das folgende Zitat: „Die Szenische Interpretation braucht […] Gespräche“ (Scheller 2010: 20). 5.5 Szenische Interpretation 265 <?page no="266"?> 2. Reflektieren Sie kritisch, ob Sie sich persönlich dazu in der Lage fühlen, eine S Z E NI S CH E I NT E R P R E TATIO N mit Schülerinnen und Schülern durchzu‐ führen. Welches professionelle Wissen und welches Können fehlt Ihnen möglicherweise noch - und welche konkreten Schritte wären denkbar, um sich diesbezüglich weiterzubilden? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung S C H A U , A. (1991) (ein Werkstatt-Heft, das sich direkt an Schüler: innen richtet; im ersten Teil werden Inszenierungsvorschläge unterbreitet; der zweite Teil enthält eine Textsammlung) S C H A U , A. (1996) (das Grundlagenwerk zu seinem Ansatz; beinhaltet hochinteres‐ sante theoretische Überlegungen und Praxisvorschläge, die etwas in Vergessen‐ heit geraten sind) S C H E L L E R , I. (1996) (ein umfassender, leicht verständlicher Basisartikel) S C H E L L E R , I. (2010) (eine breite Darstellung der Konzeption - wenngleich das theoretische Fundament äußerst randständig behandelt wird; viele Vorschläge für die Praxis) S T E I T Z - K A L L E N B A C H , J. (1995) (ein hervorragender Beitrag, der anschaulich pro‐ blematische Interaktionsebenen, die während des S Z E N I S C H E N I N T E R P R E T I E R E N S berührt werden können, thematisiert und geeignete Hilfestellungen anbietet) 5.6 Gattungsspezifische Hinweise zu literaturdidaktischen Konzeptionen Im Prinzip gelten die oben skizzierten Konzeptionen (→ 5.1-5.5) für den Umgang mit allen Erscheinungsformen literarischer Texte - also nicht nur (wie man bisweilen annehmen könnte) für epische Texte. Beispielsweise können also Kurzgeschichten mithilfe handlungs- und produktionsorien‐ tierter Verfahren bearbeitet werden, aber auch Gedichte und dramatische Texte. Letztere weisen jedoch Aspekte auf, die sich von denen epischer und lyrischer Texte unterscheiden. Daher werden im Folgenden lyrische und dramatische Texte insofern in den Blick genommen, als es für sie spezifische konzeptionenbezogene Hinweise gibt. Dabei können etwaige didaktischmethodische Überlegungen zu bestimmten Untergattungen - beispielsweise zum Sonett - nicht berücksichtigt werden. 266 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="267"?> Lyrische Texte Vom lustbetonten Vorlesen und Anhören von Gedichttexten bis zur literaturso‐ ziologischen Analyse, vom Textvergleich bis zur Eigenproduktion, von der Vers‐ analyse bis zur Problemdiskussion reichen die Möglichkeiten, die einzuschränken nur die Wirkungsmöglichkeiten von Lyrik beschneiden würde. (Spinner 2019b: 30) Wie oben schon erwähnt und hier noch einmal von Spinner nachhaltig unterstrichen: Lyrische Texte fallen in den Zuständigkeitsbereich aller literaturdidaktischen Konzeptionen (grundlegend für den Unterricht auch Kammler 2009; für einen ersten knappen Überblick s. Kammler 2017b). In textanalytischer Hinsicht (→ 5.1) wird gemeinhin auf die Kategorien nach Burdorf (2015) zurückgegriffen. Leubner et al. (2016) kritisieren in nachvollziehbarer Weise diese sowie auch Vorschläge anderer Autor: innen und schlagen folgende Kategorisierung vor (ebd.: 112): ■ Titel, Thema, Inhalt ■ Kommunikationssituation (monologische/ dialogische Sprechsituation, lyrisches Ich) ■ poetische Form (Rhythmus, Reim, Klang, Versbau) ■ Sprache (Wortgebrauch und Satzgestalt, v. a. rhetorische Figuren und Besonderheiten im Wortschatz) ■ historischer und biographischer Hintergrund In Handreichungen (z. B. die empfehlenswerten, allerdings nicht mehr neu aufgelegten Bücher von Herrmann 1983 u. Busse 1985) gibt es vielfältige Hinweise für einen textanalytischen Umgang, die zum größten Teil trotz ihres nicht unproblematischen Trainingscharakters oder auch ihres extrem sachlich-nüchternen Zugangs überzeugen und ähnlichen Neuerscheinun‐ gen zumeist vorzuziehen sind. Tipp Heinz-Jürgen Kliewer hat die Website kinderlyrik.com ins Leben geru‐ fen. Dort gibt es ein vielfältiges Angebot rund um lyrische Texte, die als für Kinder und Jugendliche geeignet angesehen werden. Kliewer ruft auch dazu auf, entsprechende Unterrichtsmodelle auf die Website zu stellen. 5.6 Gattungsspezifische Hinweise zu literaturdidaktischen Konzeptionen 267 <?page no="268"?> Überwiegend wird in der Didaktik jedoch in auffälliger Weise eine starke Be‐ rücksichtigung handlungs- und produktionsorientierter Verfahren (→ 5.2) gefordert (s. z. B. in Bezug auf Mundartgedichte Wildfeuer 2010). Schon Ulshöfer schlug vor, dass Schüler: innen sich mithilfe eigener Versuche die formalen Elemente von Gedichten vergegenwärtigen sollten (1965: 71). Noch viele Jahrzehnte später wird diese Auffassung zum Beispiel von Neurohr (2000) sowie von Nickel-Bacon (2020) bestätigt. In eben diese Richtung lassen sich auch die Bemühungen von Spinner (2010b) und Waldmann einordnen, der seine allgemeine Konzeption eines HANDLUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S (→ 5.2) auch lyrikspe‐ zifisch ausgearbeitet hat (2013). Gien spricht sogar davon, dass sich alle lyrikdidaktischen Ansätze „dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht zuordnen“ (2018: 284) ließen. Eine derartig verkürzende Einengung unterschlägt jedoch zum Beispiel das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S ‐ G E S P RÄCH (→ 5.4) sowie das T E XTNAH E L E S E N ( UND S CH R E IB E N ) (→ 5.3), die auch im Hinblick auf lyrische Texte gewinnbringend erscheinen. Und sie übersieht auch Waldmanns eigenen Standpunkt: Wenn ich mich […] darum bemühe, den produktiven Umgang mit Lyrik als ein ganz wesentliches Verfahren der Hinführung zur Lyrik plausibel und über‐ zeugend darzustellen, dann ist damit nicht gemeint, Lyrikunterricht solle nun ausschließlich produktionsorientiert sein. Im Gegenteil dürfte den Schülern ein Unterricht über Lyrik, in dem sie unaufhörlich produzieren müssen, sehr schnell und gründlich verleidet sein. (2013: 275) Auch Schuster relativiert das in der Praxis häufig anzutreffende Überge‐ wicht der Handlungs- und Produktionsorientierung und plädiert für eine Kombination von „diskursiv-analytischen und produktionsorientierten Verfahren“ (1993: 184). Ranjakasoa (2018) erweitert diese Möglichkeiten noch um reproduzierende - hält handlungs- und produktionsorientierte Verfahren insgesamt jedoch für am sinnvollsten. Schließlich eignen sich lyrische Texte beziehungsweise Gedichtsequenzen hervorragend für Ziel‐ setzungen, die auf dem Phänomen der Intertextualität (→-S.-233) gründen (Fingerhut 1993). Anders (2021) knüpft mit ihrem praxisorientierten Buch an all diese Aspekte an und erweitert den Umgang mit Lyrik um die multimediale Dimension (→ 5.7) sowie um einen mehrsprachigkeitsori‐ entierten Fokus. 268 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="269"?> Hintergrundinformation Poetry Slams sind kulturelle Veranstaltungen, bei denen Menschen jeglichen Alters selbst geschriebene lyrische Texte vortragen. Sie haben dafür in der Regel fünf Minuten Zeit. Das Publikum oder eine Jury wählt die jeweiligen Gewinner: innen. Anders hat mit ihren Arbeiten (z. B. 2021), die viele praxisorientierte Materialien beinhalten, dieses Format auch für den Deutschunterricht fruchtbar gemacht. Eine Vielzahl an überaus interessanten methodischen Möglichkeiten bieten auch Lösener/ Siebauer (2014); Zinn/ Klenke (2019) favorisieren einen akusti‐ schen Zugang zu lyrischen Texten und veranschaulichen das entsprechende Hören, Sprechen und Musizieren praxisorientiert anhand von Goethes Der Erlkönig - besonders hervorzuheben ist, dass sie ihren methodischen Fokus dabei auch sinnvoll und überzeugend explizit in die Bereiche Analyse und Interpretation einbetten. Obwohl auch im Rahmen des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S von Lernenden eigene Texte verfasst werden, hat sich ein darüber hinausreichendes ‚echtes eigenes‘ Schreiben (s. z. B. den interessanten, mehrsprachigkeits- und produktionsorientierten Ansatz von Oliver 2013), das zumeist nur außerhalb des eigentlichen Unterrichts etwa in Lyrik-AG oder Lyrikwerkstätten umgesetzt werden kann, bisher nur sehr vereinzelt etablieren können. Der Sammelband von Gans/ Pfäfflin/ Schmid (2018) setzt nicht nur in dieser Hinsicht einen interessanten Schwerpunkt, sondern bietet daneben auch didaktische Überlegungen und methodische Anregungen zum gesamten Spektrum lyrikorientierten Unterrichtens. Hamann (2022) erinnert an die enge Verbindung zwischen Lyrik und Rhetorik und stellt einen „Werkzeugkasten“ (ebd.: 8) vor, der sich an den fünf sogenannten Abteilungen der antiken Redelehre orientiert: inventio (Findung bzw. Erfindung), dispositio (Ordnung bzw. Anordnung), elocutio (Stil, Ausdruck), memoria (Gedächtnis) und actio (Präsentation); er schlägt vor, diese unterrichtlichen Bausteine phasenorientiert (→ S. 189) je nach Zielsetzung flexibel im Lyrikunterricht einzusetzen - ein innovativer Vor‐ schlag, der den Lyrikunterricht endlich wieder mit einer überzeugenden Rahmung versieht. 5.6 Gattungsspezifische Hinweise zu literaturdidaktischen Konzeptionen 269 <?page no="270"?> Dramatische Texte Sind Dramentexte überhaupt als Lesetexte geeignet? Brauchen sie nicht die Inszenierung auf der Bühne? Kann die Inszenierung die Lektüre ersetzen oder die Lektüre die Inszenierung? (Lösener 2021: 297) In Bezug auf dramatische Texte müssen die methodischen Herangehenswei‐ sen differenziert betrachtet werden. Sie unterscheiden sich nämlich von lyrischen und epischen (unter anderem) dadurch, dass durchaus fraglich ist, ob sie sich überhaupt als Lesetexte eignen. Ihr Partiturcharakter, dem in der Regel eine Inszenierung inhärent ist, steht einem unreflektierten Lese‐ verständnis vehement entgegen. Dennoch wurden und werden Dramen in der Schule zum größten Teil wie die anderen traditionellen Gattungen auch behandelt - unter gröbster Vernachlässigung ihres besonderen Charakters (zur Geschichte der Dramendidaktik s. Paule 2009: 65 ff.; für einen ersten kurzen Überblick s. auch Kammler 2017c). Insbesondere (ältere) struktur‐ orientierte Ansätze haben eine große, bis heute anhaltende Auswirkung auf die schulische Arbeit. Gleichwohl darf ein textanalytisches Vorgehen (→-5.1) nicht grundsätz‐ lich ausgeschlossen werden. Bis auf minimale Einschränkungen eignet sich zumindest für die Handlungs- und Figurenanalyse das von Leubner/ Saupe vorgestellte Schema (→ S. 207 f.). Daneben sollte auf das bekannte Gustav- Freytag-Schema, das in jeglicher entsprechender Fachliteratur vorzufinden ist, sowie auf die idealtypische Gegenüberstellung von offenem und geschlos‐ senem Drama (Klotz 1980) zurückgegriffen werden (s. grundlegend auch die Erweiterungen von Denk/ Möbius 2017). Eine Vielzahl aktueller methodischer Handreichungen (sog. Interpreta‐ tions- und Lektürehilfen) zeugt von dieser Tradierung, die insbesondere aus dem gymnasialen Bereich nicht wegzudenken ist, da beispielsweise Abituraufgaben sich immer noch genau auf diese Ausrichtung stützen. An dieser Problematik setzt Lösener an, grenzt sich von einem stark textanaly‐ tisch orientierten Vorgehen ab und plädiert für eine stärkere Beachtung derjenigen Ansätze, „die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und andere Wege des Umgangs mit Dramentexten eröffnen, indem sie den Dramenunterricht von der Beziehung zwischen Lektüre und Inszenierung her konzipieren“ (2021: 305). Im Folgenden orientieren wir uns an seinem Systematisierungsversuch (ebd.: 305 ff.), der drei Konzeptionen voneinander unterscheidet: 270 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="271"?> ■ spielorientiert Damit ist die S Z E NI S CH E I NT E R P R E TATION (→-5.5) gemeint. ■ produktionsorientiert Hier greift die allgemeine Konzeption des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S ‐ O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S ; wiederum ist es Waldmann, der - vergleichbar mit seinem spezifischen Lyrik-Band (s. o.) - auch in Bezug auf dramatische Texte eine umfangreiche Monographie vorgelegt hat (2010). Obwohl in seinem Ansatz der Schwerpunkt auf der Schreibori‐ entierung liegt, verknüpft er diese häufig (neben einer Berücksichtigung textanalytischer Anteile) mit sich anschließenden spielerischen Elemen‐ ten, die jedoch nicht mit der Ausrichtung der S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TATION verwechselt werden sollten. Produktive Erarbeitung von Grundstrukturen des Dramas als Spieltext Waldmann geht davon aus, dass sich Schüler: innen dramatische Struk‐ turen durch Schreiben - und anschließendes Erspielen - erschließen könnten. Das folgende Beispiel entstammt seiner sogenannten ‚drama‐ tischen Vorschule‘ (ebd.: 5): Friedrich Karl Waechter: Ich Das Telefon klingelt. Ein Mann hebt ab. MANN Wie bitte? - Ich bin draußen? - Im Wald? - Ich kann mich da finden? - Wer ist denn da am Apparat? - Wie bitte? - Ich? Schreiben Sie […] einen Dramenanfang und eine Fortführung, sodass sich eine kleine Gesamthandlung ergibt, in der die Telefon-Szene, die dialogisch aufgefüllt werden sollte und gegebenenfalls ergänzt werden muss, den Mit‐ telpunkt bildet. Spielen Sie Ihre Szenen und vergleichen Sie sie miteinander. ■ textorientiert Lösener bezieht sich in erster Linie auf die Arbeit von Frommer (1995). Dessen Konzeption gründet auf einem besonderen rezeptionsästheti‐ schen Verständnis des dramatischen Leseakts, in dem der Vorgang des Lesens selbst als eine Tätigkeit des Inszenierens (implizite Inszenierung bzw. simulierte Inszenierung) verstanden wird: „Die simulierte Inszenie‐ rung ist […] ein Sonderfall des produktiven Lesens“ (ebd.: 30). Damit führt Frommer entsprechende ältere dramendidaktische Erwägungen 5.6 Gattungsspezifische Hinweise zu literaturdidaktischen Konzeptionen 271 <?page no="272"?> (insbesondere von Geißler, Göbel, Haas und Willenberg) weiter. In me‐ thodischer Hinsicht lehnt Frommer sich jedoch eng an die Produktions‐ orientierung im Sinne Waldmanns sowie an das S Z E NI S CH E I NT E R P R E TI E R E N an, sodass sein Ansatz letztlich nicht so stark textorientiert ist, wie Lösener behauptet. Einzig einige interessante Vorschläge Frommers zur ‚simulierten Inszenierung‘ und diejenigen zur Arbeit mit sogenannten ‚Untertexten‘ (ebd.: 77 ff.; dem Verfassen innerer Monologe ähnlich) sind derart einzuordnen. Es ist Lösener selbst, der einige Jahre später (2008) einen bedeutsamen Auf‐ satz veröffentlicht - Die intermediale Lektüre. Wege zur Inszenierung im Text -, mit dem er genau die hier von uns als ‚lückenhaft‘ kritisierte Kategorie zu einem beträchtlichen Teil auffüllt. Er geht von einem ‚metasemiotischen Textmodell‘ aus, „das der Performativität des Textes Rechnung trägt und so ein Kontinuum zwischen Text und Aufführung zu beschreiben vermag“ (ebd.: 68). Auch Lösener spricht von einer ‚impliziten Inszenierung‘. Diese fordert das, was ich eine intermediale Lektüre nenne, also ein Lesen, das das Gelesene zugleich hört und sieht, körperlich nacherlebt und mental inszeniert und dadurch die Brücke zu anderen medialen Realisierungen schlägt. (Ebd.: 70) Methodisch rät er zur Arbeit mit Sprechgestaltungen: Die Lernenden sollen plausible Sprechcharakterisierungen zu Dramenausschnitten ‚finden‘ - ein bemerkenswerter, noch immer viel zu wenig beachteter dramendidaktischer Ansatz. Hinweis Lösener schlägt folgende Sprechgestaltungen vor: ■ Sprechformen (z. B. laut oder leise) ■ Sprechstimmungen (z. B. ärgerlich) ■ Sprechhaltungen (z. B. sich rechtfertigen) Obwohl die aufgeführten dramendidaktischen Ansätze auch schon - in sehr unterschiedlicher Weise - das Phänomen Inszenierungsbezogenheit berücksichtigen, gerät das Theater selbst (hier verstanden als in erster Linie professionelle Aufführung bzw. Inszenierung) in der Regel nicht in den Blick. Einen verbindenden Übergang zur Theaterdidaktik markiert das 272 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="273"?> Buch Dramen- und Theaterdidaktik von Denk/ Möbius (2017), das wertvolle Hinweise liefert. Wenn das Theater selbst als Bildungsgut in den Fokus unterrichtlichen Bemühens gerät, greifen theaterdidaktische Überlegungen (→ 5.7). Wie oben bereits zum lyrischen Schreiben ausgeführt: Eigenes szenisches Schreiben, das weit über den schulischen Unterricht hinausgeht (Richhardt 2011), kann hier nicht vertieft werden. Aufgaben 1. Lyrische Texte werden im Unterricht überwiegend mit handlungs- und produktionsorientierten Verfahren in Verbindung gebracht. Nehmen Sie eine Gegenposition ein: Versuchen Sie, den Einsatz anderer Konzeptio‐ nen zu rechtfertigen. 2. Reflektieren Sie Ihren eigenen Literaturunterricht hinsichtlich des Um‐ gangs mit dramatischen Texten. An welche methodischen Herangehens‐ weisen (s. o.) können Sie sich erinnern? Welche davon würden Sie in Ihren eigenen (zukünftigen) Unterricht implementieren? Begründen Sie Ihre (Nicht-)Auswahl. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung L E U B N E R , M./ S A U P E , A./ R I C H T E R , M. (2016) (auf den S.-105 ff. befinden sich praxis‐ orientierte, leicht verständliche Ausführungen zum Umgang mit lyrischen und dramatischen Texten im Deutschunterricht) L U D W I G , H.-W. (2005) (sehr gut geeignet für die fachwissenschaftliche Vorbereitung in Bezug auf lyrische Texte) P F I S T E R , M. (2001) und A S M U T H , B. (2016) (sehr gut geeignet für die fachwissen‐ schaftliche Vorbereitung in Bezug auf dramatische Texte) 5.7 Medien und Konzeptionen Sprache oder Literatur stehen nicht dichotomisch zu den Medien, sie besitzen vielmehr selbst eine spezifische Medialität. (Staiger 2007: 263) Die Deutschdidaktik hat schon früh den Einbezug weiterer Medien neben Sprache und den traditionellen Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik thema‐ tisiert. Im Jahre 1958 sprach Ulshöfer von Filmerziehung und Hörspielarbeit. Seitdem wird kontrovers über den Stellenwert von (jeweils ‚neuen‘) Medien 5.7 Medien und Konzeptionen 273 <?page no="274"?> Fachspezi‐ fische me‐ diendidak‐ tische Ansätze medienintegrativ computer‐ unterstützt diskutiert (s. die aufschlussreiche Tabelle von Staiger 2007: 134 f.). Einen wichtigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete das Symposion Deutschdi‐ daktik, das 2002 in Jena stattfand (Deutschunterricht und medialer Wandel). Paefgen und Abraham diskutierten bei der Auftaktveranstaltung kontro‐ vers: Während Paefgen den Deutschunterricht vor jeglichem Einbezug von sogenannten ‚neuen‘ Medien ‚schützen‘ wollte, plädierte Abraham für eine kompromisslose Berücksichtigung derselben. Heute wird der Einbezug der ‚neuen‘ Medien in den Deutschunterricht kaum noch infrage gestellt. Seit geraumer Zeit liegen diverse Publikationen (Gölitzer 2003; Vach 2005; Staiger 2007; Kurzrock 2021), medienfachdidaktische Grundlagenwerke (Barsch 2006; Frederking/ Krommer/ Maiwald 2018) und Herausgeberwerke speziell zu digitalen Medien vor (Frederking/ Krommer/ Möbius 2018; Knopf/ Abraham 2020). Des Weiteren wird immer wieder darüber nachgedacht, die Deutschdidaktik prinzipiell neu auszurichten - zum Beispiel als ‚Medi‐ enkulturdidaktik‘ (Staiger 2007). In Bezug auf den konkreten Deutschunterricht sollten grundsätzlich folgende Fragen die Unterrichtsplanung begleiten: Welche Gründe lassen sich für den Einsatz der neuen Medien beim Lesen- und Schreibenlernen, beim Lesen und Schreiben von Texten sowie bei der Reflexion über Sprache finden? Oder: In welchen Bereichen sind die neuen Medien den traditionelleren überlegen, bieten zumindest ein gleichwertiges Pendant, bei dem Aufwand und Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis stehen, oder müssen im Sinne einer Medienerziehung unbedingt betrachtet werden? (Kurzrock 2021: 189) Bis heute haben sich hinsichtlich der Frage des Einbezugs nicht-traditionel‐ ler Medien in den Deutschunterricht vier Ansätze herauskristallisiert (s. im Folgenden Frederking/ Krommer/ Maiwald 2018: 99 ff.; zur Genese der Einbettung der Ansätze in den Deutschunterricht s. auch Albrecht 2018): Der medienintegrative Deutschunterricht ist untrennbar mit Wermke verbunden, die mit ihrer Monographie (1997) wichtige Pionierarbeit geleis‐ tet hat. Sie macht darauf aufmerksam, dass aufgrund der Veränderungen der sogenannten ‚Mediengesellschaft‘ das Buch nicht mehr als Leitmedium an‐ gesehen werden dürfe. Der Deutschunterricht müsse seinen Gegenstands‐ bereich durch die Einbeziehung anderer Medienformate und -ästhetiken er‐ weitern. Jonas/ Rose (2002) haben einen Band vorgelegt, der computergestützte Lehr-Lern-Prozesse im Deutschunterricht didaktisch-methodisch situiert (s. auch Kepser 1999). Vor dem Hintergrund einer aus ihrer Sicht notwendi‐ 274 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="275"?> intermedial symmedial Medien und Kon‐ zeptionen gen Berücksichtigung sowohl instruktionistischer (eng geführter) als auch konstruktivistischer (selbstgesteuerter) Lernprinzipien plädieren sie für ein ausgewogenes Verhältnis derselben. Eine intermedial-didaktische Ausrichtung gründet auf dem Phänomen der Intertextualität und spielt im Prinzip schon bei Wermke eine Rolle (s. o.). Durch Bönnighausen und Rösch hat diese Ausrichtung verstärkt Eingang in die deutschdidaktische Diskussion erhalten. Inhaltlich geht es um die wech‐ selseitige, grenzüberschreitende Bezugnahme (mindestens) zweier Medien, wie sie zum Beispiel bei einer Literaturverfilmung vorliegt. Bedeutsam ist, dass ein entsprechender Deutschunterricht die jeweiligen medialen Bezüge der verschiedenen Gegenstände erkennen und für (ästhetische) Lern- und Bildungsprozesse aufschließen sollte: „Es geht um Grenzüberschreitungen im Medien-Wechsel, um das ‚Dazwischen‘ zwischen den Künsten, das mit dem zunehmenden Einsatz technischer Medien auch zu einem ‚Dazwischen‘ zwischen Mensch und Maschine wird“ (Bönnighausen/ Rösch 2004: 2). Ein Beispiel für den Bereich der Primarstufe sind die mittlerweile recht be‐ kannten intermedialen Rezeptionen (Kruse 2020a) von Märchen (Spielfilm, Hörspiel, Realverfilmung, Zeichentrick-Bearbeitung etc.): Kruse (2014b) zeigt entsprechende Zugänge und Potenziale bezüglich eines Unterrichts im Medienverbund auf (zu Medienverbünden s. auch Kruse 2014a). Weniger bekannt sind neuartige intermediale Systemwechsel: Hörspieladaptionen von Bilderbüchern beispielsweise; Maubach (2019) bietet hierzu einen kur‐ zen Überblick. Den Terminus Symmedialität hat Frederking geprägt. Der Deutschdi‐ daktiker kritisiert die oben genannten Ausrichtungen, indem er darlegt, dass sie zum einen die ‚alten‘ Medien (wie zum Beispiel das Buch) nicht berücksichtigten und zum anderen die „Vereinigung medialer Formen“ (Frederking/ Krommer/ Maiwald 2018: 105) nicht ausreichend reflektierten. Insbesondere der Computer sei ein hervorragendes Beispiel für Symmedia‐ lität, da er alle medialen Möglichkeiten in sich vereine. Dass ein symmedial orientierter Deutschunterricht auch schon in der Grundschule für das Gelingen sprachlicher und literarischer Lernprozesse möglich und nötig ist, haben Frederking/ Römhild (2016) in überzeugender Weise praxisnah aufgezeigt. Neben die aufgeführten mediendidaktischen Konzeptionen, die für den Deutschunterricht von Belang sind, treten im Folgenden die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Medien und Konzeptionen. Damit verbunden ist das Aufspüren auf die einzelnen Medien bezogener konzeptioneller 5.7 Medien und Konzeptionen 275 <?page no="276"?> Ansätze; der Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der Literaturdidaktik. Es wird davon ausgegangen, dass sich alle Medien ebenso unterrichtlich einsetzen lassen wie zum Beispiel das traditionelle Buch als Printmedium (grundlegend zu dieser Problematik Jonas 2002). Der Einsatz von Medien im Deutschunterricht ist geprägt durch die zahlreichen rezeptiven und produktiven Potenziale für fachliche Lehr-Lern-Prozesse. Werden rezep‐ tionsbezogene Ziele fokussiert, lassen sich Beziehungen einzelner Medien zum Beispiel zu lesedidaktischen Konzeptionen leicht herstellen; steht die Produktion mit Medien im Zentrum des Deutschunterrichts, kann zum Beispiel die H ANDL UN G S - UND P R ODUKTIO N S O R I E NTI E R UN G (→ 5.2) einen beson‐ deren Stellenwert einnehmen: In dreifacher Hinsicht sind die handlungs- und produktionsorientierten Ver‐ fahren auch für die Medienerziehung hilfreich. Zum einen können audiovisuelle und auditive Medien für die produktive Arbeit mit Texten eingesetzt werden, z. B. indem zu einem Erzähltext eine Videoszene gedreht oder ein Hörspiel gestaltet und aufgenommen wird. Zum anderen bietet der PC Möglichkeiten des produktiven Umgangs mit Texten, da er in vielfältiger Weise Prozesse des Veränderns, Erweiterns, typografischen Gestaltens von Texten erlaubt; Hypertexte als typische Form von Internet- und CD-ROM-Literatur zeichnen sich an sich schon durch eine Nähe zu produktionsorientierten Vorstellungen von Literaturunterricht aus. Schließlich eignen sich produktive Verfahren für die Filminterpretation; Schreiben von Fortsetzungen zu einem teilweise gezeigten Film, Verfassen eines inneren Monologes ausgehend von der Mimik einer Figur, Erfinden eines Dialoges zu einer tonlos gezeigten Szene sind solche Möglichkeiten. Produktive Verfahren bewirken hier ein verlangsamtes Sehen und damit eine Verstärkung der Imagination und der reflexiven Verarbeitung. (Spinner 2012b: 257) Im Folgenden sollen einzelne Medien vor dem Hintergrund der bisher diskutierten Konzeptionen vorgestellt werden; wir halten uns bei der Sys‐ tematisierung der Medien eng an das oben genannte Grundlagenwerk von Frederking/ Krommer/ Möbius (2018) und ergänzen um neuere didaktischmethodische Hinweise. 276 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="277"?> Akustisch-auditive Medien Hierzu zählen alle Medien, die Töne oder Schallwellen technisch erzeugen beziehungsweise speichern, sodass auch ein zeitlich versetztes Hören mög‐ lich ist. Das Hörbuch (audiobook) ist das zentrale akustische Speichermedium. Es lässt sich folgendermaßen differenzieren: Lesung (prosaisch; der Schwer‐ punkt liegt auf der Stimme der Sprecherin beziehungsweise des Sprechers) und Hörspiel (dramatisch; Klänge und Geräusche spielen eine wichtige Rolle). Daneben werden gelegentlich noch andere Formen einbezogen, die man allgemein als Hörtexte bezeichnet (zum Beispiel Archivaufnahmen, Multimediaprodukte etc.); sie bestehen aus der „Gesamtheit der akustischen Zeichen innerhalb eines Hörmediums, die Kohärenz aufweisen und Bedeu‐ tungskonstitution zulassen“ (Müller, K. 2019: 242). Hörbücher lassen sich zum einen als geeignete und noch viel zu wenig genutzte Gegenstände in den Rahmen der L E S E FÖR D E R UN G (→ 4) verorten, sodass methodisch zum größten Teil auf die oben dargestellten Verfahren zurückgegriffen werden kann (s. hierzu Gailberger 2012). Zum anderen sollte jedoch auch ihr Eigenwert nicht unberücksichtigt bleiben, dem man in besonderem Maße durch intermediale (Vergleich von Vorlage und Hörtext) und ästhetische (Fokus: nonverbale Elemente) Analysen (Müller, K. 2004) Rechnung tragen kann (zur Adaption von Bilderbüchern s. z. B. den praxisorientierten Beitrag von Willerich-Tocha 2019). Wermke hat auch in diesem Sinne maßgeblich zu einer Etablierung hördidaktischer Überlegungen beigetragen (2007 u. 2013; in Bezug auf Kinder- und Jugendliteratur Müller, K. 2013; s. auch die immer noch hilfreiche Bibliographie von Börder/ Ehrnsberger 2002). Die Rezeption und Produktion von Hörspielen eignen sich in besonderer Weise zur Förderung des literarischen Lernens (s. z. B. Pfäfflin 2015). Hinweis Wermke (1995a) unterscheidet folgende Wahrnehmungsformen einer Hörerziehung: ■ Hören (unspezifisch) ■ Horchen (konzentriert) ■ Lauschen (genussorientiert) 5.7 Medien und Konzeptionen 277 <?page no="278"?> Obgleich in analytischer Absicht im Hinblick auf das Verbale und das Narrative auf Ansätze der Literaturdidaktik beziehungsweise -wissenschaft zurückgegriffen werden kann, liegt bei weitergehenden Analysen, die zum Beispiel auch die musikalische Ebene in den Blick nehmen (müssen), eine nicht unproblematische - weil disziplinüberschreitende - Hürde vor. Ohne fundierte musikwissenschaftliche Kenntnisse etwa stößt man an nur schwer zu überwindende Grenzen (s. z. B. zum bekannten, umstrittenen Rilke- Projekt Olsen/ Stoller 2009). Am stärksten wird beim unterrichtlichen Umgang mit auditiv-akusti‐ schen Medien auf die produktive Tätigkeit der Schüler: innen Bezug ge‐ nommen, sodass in dieser Hinsicht die unterschiedlichen Verfahren des HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S (→ 5.2) her‐ angezogen werden können. Kaum Berücksichtigung hat dagegen bisher eine gesprächsorientierte Ausprägung erfahren - grundsätzlich sollte davon ausgegangen werden, dass das LIT E R A R I S CH E U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH (→ 5.4) auch für den Umgang mit diesen Medien geeignet ist. Einen interessanten didaktischen Ansatz verfolgt Ranjakasoa (2018) in Bezug auf Gedichtver‐ tonungen: Beim mediennahen Hören (eine didaktische Analogie zum → T E XTNAH E N L E S E N ), bei dem „die Höreindrücke und die Textdeutung durch Schreibwie auch Sprechübungen versprachlicht bzw. verbalisiert werden“ (ebd.: 494) sollen, präferiert auch sie handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, betont gleichzeitig aber auch die Bedeutsamkeit diskursiv-ana‐ lytischer und reproduzierender Zugänge (ebd.: 498 f.). Einen hilfreichen Überblick zum Einsatz auditiver Medien im Deutsch‐ unterricht (nebst exemplarischer Unterrichtsthemen) - unter Fokussierung aller Kompetenzbereiche, die sich aus den Bildungsstandards ergeben - bietet K. Müller (2018). Visuelle Medien Die enorme Bandbreite an visuellen Medien für den Deutschunterricht zeigt sich unter anderem in statischen Einzelbildern, wie zum Beispiel Fotografien (Maiwald 2006) oder Gemälden, und statischen Bilderfolgen wie in Bilderbüchern, Comics und Graphic Novels (Maiwald/ Josting 2009; Jost/ Krommer 2014; Giesa 2014 u. 2019). Exemplarisch in den Blick genommen wird in diesem Teilkapitel das vielseitige und populäre Medium Bilderbuch, seine Rezeption sowie die produktiven Möglichkeiten, die dessen Einsatz eröffnet. 278 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="279"?> Die Nutzung im Unterricht ist äußerst vielfältig und es dominiert mitunter eine Funktionalisierung vor dem Hintergrund bestimmter Zielsetzungen, sodass in der Vergangenheit nicht selten der ästhetische Eigenwert der ein‐ zelnen Medien in den Hintergrund geraten ist (grundlegend auch Baum, der in Bezug auf die Berücksichtigung von Comics für den Einsatz produktions‐ orientierter Zugänge plädiert: 2013b: 214). Mittlerweile hat ein Umdenken stattgefunden (Abraham/ Knopf 2019a; zur ‚ästhetischen Alphabetisierung‘ Duncker/ Lieber 2013): So sind einige empfehlenswerte Publikationen ent‐ standen, die sich vor dem Hintergrund aktueller Forschungsansätze und -ergebnisse (unter anderem) grundsätzlich mit der Rolle des Bilderbuchs im Deutschunterricht auseinandersetzen (Thiele 2013; Kruse 2013c; Kruse/ Sa‐ bisch 2013; Jantzen/ Klenz 2013; Knopf/ Abraham 2014a u. 2014b sowie 2019a u. 2019b; Scherer et al. 2014; Kümmerling-Meibauer 2016; Oetken 2019) und sie neu konstituieren. Neben kürzeren Beiträgen, die beispielsweise auch einen empirischen Einblick in den Umgang von Kindern mit anspruchsvol‐ len Bilderbüchern bieten (Scherer/ Volz 2013), ist die Monographie von Ritter (2017), die neben einem empirischen Teil auch einen guten historisch orien‐ tierten und didaktischen Überblick zum Unterrichtsgegenstand Bilderbuch liefert, besonders hervorzuheben; einen allgemeinen Forschungsbericht zu empirischen Studien der (interdisziplinären) Bilderbuchforschung liefert Vorst 2016; vielfältige praxisorientierte Hinweise für den Primarbereich finden sich beispielsweise im Heft 21 (Bilderbücher) der Zeitschrift Grund‐ schule Deutsch (2009). Die grundsätzliche Problematik, geeignete Texte für den Literaturunterricht auszuwählen, findet sich auch hier wieder. Entsprechende Beiträge zur Textauswahl sollten jedoch äußerst kritisch geprüft werden: Beispielsweise orientieren Kraft/ Luptowicz (2019) sich immer noch (auch) an einer sogenannten ‚Kindgemäßheit‘ und offenbaren damit ein zumindest teilweises Verhaften an mittlerweile überkommenen traditionellen Vorstellungen (s. zu ähnlichen - ebenfalls problematischen - Haltungen von Lehrerinnen und Lehrern auch die Studien von Ritter/ Ritter 2015 u. 2020). Weiter zeigt die Bilderbuchforschung auf, dass die gemeinsame Betrach‐ tung und das Vorlesen von Bilderbüchern zahlreiche Lernmöglichkeiten bieten. Becker (2019: 155 ff.) stellt die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zusammen und bezieht sie auf literarisches und sprachliches Lernen; für folgende Bereiche lasse sich lernförderliches Potenzial nachwei‐ sen beziehungsweise vermuten: 5.7 Medien und Konzeptionen 279 <?page no="280"?> ■ sprachliche Ebene (phonologisch, morphologisch, syntaktisch, lexika‐ lisch, diskursiv), ■ literale Ebene (graphisch, graphemisch-funktional, allgemein kognitiv, literale Praktik), ■ literarische Ebene (poetisch, Textmuster- und Textstrukturen, literari‐ sche und textuelle Vorstellungswelt), ■ psychosoziale Ebene (Aufmerksamkeits-Triangulation, soziales Verhal‐ ten). Die Interaktionsformen bei der Rezeption von Bilderbüchern können sehr unterschiedlich sein (zu einem prototypischen Format s. ebd.: 165). Kruse (2016) konnte nachweisen, dass das Vorlesehandeln von Lehrkräften „drin‐ gend verbesserungsbedürftig“ (ebd.: 116) sei. Die an ihrer Studie teilneh‐ menden Lehrpersonen vernachlässigten zum Beispiel die Einrichtung eines günstigen Vorlesesettings, ‚zerpflückten‘ die Bilderbücher kleinschrittig und drängten spontane Rezeptionsreaktionen der Grundschulkinder zurück, sodass hier in Bezug auf angestrebte Lernprozesse große Versäumnisse festzustellen seien. Auf der Grundlage entsprechender fachdidaktischer Überlegungen (Spinner 2005 u. 2019a; Kruse 2013b u. 2016; Fuhrmann/ Merk‐ linger 2015 u. Merklinger 2015 mit expliziten Bezügen zum literarischen Lernen; Wieler 2019) lassen sich in Bezug auf die methodische Gestaltung von Vorlesegesprächen derzeit folgende mögliche Impulse herausstellen: ■ Schaffung einer angenehmen Vorleseatmosphäre, ■ Aktivierung eigener Erfahrungen („Habt ihr auch schon mal-…? “), ■ sprechgestalterisches Beleben der literarischen Figuren, ■ Antizipationen (Erwartungen zum Fortgang des Bilderbuchs), ■ Anregungen zur Perspektivenübernahme (Fragen nach figurenbezoge‐ nen Gefühlen), ■ Anregungen zur Reflexion von Figurenverhalten („Ich an ihrer Stelle würde-…“), ■ Interpretationsfragen, ■ Erschließen der Narrativität einer Bildfolge („Was erzählen die Bilder? “), ■ Entdeckung spezifizierender und textergänzender Figurenmerkmale im Bild („Ist XY traurig? Schaut auf das Bild! “). Ein Deutschunterricht mit visuellen Medien steht vor einem ähnlichen Problem wie der oben angerissene entsprechende Umgang mit auditivakustischen Medien. Während für die Analyse der verbalen Anteile - sofern 280 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="281"?> denn solche vorhanden sind - auf Ansätze der Sprachbeziehungsweise Literaturdidaktik (bzw. der jeweiligen Fachwissenschaften) zurückgegriffen werden kann, muss für die Analyse der bildlichen Anteile auch die Kunstwis‐ senschaft befragt werden (Frederking/ Krommer/ Maiwald 2018: 165). Damit geht einher, dass (auch) seitens der Lernenden Folgendes bedacht werden muss: Für das Lernen mit Texten und Bildern lässt sich daraus folgern, dass die sprach‐ liche Kompetenz des Betrachters die Differenziertheit der Bildwahrnehmung steuert […]; die Auseinandersetzung mit Bildern ist immer zugleich Spracharbeit. (Baum 2013b: 207 f.) Reine Bildmedien und Bildgeschichten dienen im Deutschunterricht häufig als Anlässe zum Sprechen/ Zuhören (→ 2) und Texteschreiben (→ 3; zum Schreiben zu Bilderbüchern Spinner 1992a, Ballis/ Burkard 2019; zum Schrei‐ ben zu Comics Kepser 2019). Neben der klassischen - stark umstrittenen - Bildbeschreibung, die von Wermke überaus fruchtbar didaktisiert wurde (1989), werden beide mediale Formen auch im Rahmen des K R EATIV E N S CH R E I ‐ B E N S (→ 3.11; Spinner 1999; s. hierzu auch den praxisorientierten Beitrag von Nagel/ Wagner 2019) eingesetzt. Eng damit verbunden ist auch der Einsatz HANDL UN G S - UND P R ODUKTION S O R I E NTI E R T E R V E R F AH R E N (→ 5.2); besonders gewinnbringend erscheinen in dieser Hinsicht Verfahren der Verzögerung, Verfremdungen und Ergänzungen (s. den ästhetisch-medial orientierten Praxisvorschlag von Börder 2002). Hinsichtlich einer gesprächsorientierten Herangehensweise können ähnliche Bedingungen wie bei den auditivakustischen Medien gelten. Gelungene Praxisvorschläge sowohl zur Hand‐ lungsals auch zur Produktionsorientierung finden sich bei Bismarck (2019) und Rackwitz/ Brinkmann (2009), die ihren Fokus auf die Vertonung von Bilderbüchern legen. Obwohl die oben erwähnten Forschungsergebnisse und die zahlreichen didaktischen Anschlussmöglichkeiten die Komplexität von visuellen Me‐ dien belegen, wird das oft im Deutschunterricht der Primarstufe eingesetzte Bilderbuch von Lehrerinnen und Lehrern immer noch häufig lediglich als ‚Unterhaltungsmedium‘ und nicht als ernsthafter Lern- und Bildungsgegen‐ stand wahrgenommen (Stenzel 2013). Das liegt unter anderem auch daran, dass - wie oben angedeutet - kunstwissenschaftliche Kompetenzen für eine adäquate Analyse von Bilderbüchern fehlen. 5.7 Medien und Konzeptionen 281 <?page no="282"?> Tipp Digitale Bilderbücher rezipieren, produzieren und analysieren Unter onilo.de (→ S. 172) - eine Initiative, die im Jahre 2014 mit dem Bil‐ dungsmedienpreis ausgezeichnet wurde - finden sich zumeist bekannte, digital aufbereitete Bilderbücher (sogenannte Boardstories, die mithilfe von Whiteboards oder Beamern eingesetzt werden). Bemerkenswert ist, dass Onilo bei dieser Form der digitalen Literaturvermittlung besonders das ästhetische Lernen herausstreicht. Eine besonders reizvolle Tätigkeit, die mit unzähligen Zielsetzungen und Teilkompetenzen verbunden werden kann, stellt das schüler: innen‐ seitige Erstellen von eigenen digitalen (Bilder-)Büchern dar: In selbst - z. B. mit Apps - zu produzierenden Adaptable Books (adaptable‐ books.com) werden Text, Bild und Bewegtbild sowie Ton nach indivi‐ duellem Förderbedarf auf den einzelnen Buchseiten platziert (Hauck- Thum 2017). Wie digitale Bilderbücher analysiert werden können, zeigt Müller, C. (2022) anhand folgender Leitfragen auf: ■ Welche multimodale Kompositionalität aus Text, Bild und Bewegt‐ bild, Ton und interaktiven Elementen weist ein digitales Bilderbuch auf ? ■ Welche modalen Elemente erfordern welche multimodalen Rezep‐ tionsweisen (sprachlich, visuell, auditiv, taktil)? ■ Inwieweit erweisen sich die Elemente als narrativ und/ oder ludisch? Erweisen sie sich als verstehensunterstützend oder -hinderlich? ■ Schaffen die Elemente eigene Unbestimmtheitsstellen und Irritatio‐ nen, die z. B. einer animierten Szene immanent sind? ■ Eröffnen sie subjektive Deutungsmöglichkeiten, die sich durch die Interaktion ergeben? Nicht nur in diesem Zusammenhang plädieren wir auch für eine verstärkte Berücksichtigung der Potenziale textloser beziehungsweise textfreier Bil‐ derbücher (s. hierzu z. B. Dammann-Thedens 2013, Wieler 2019, Krichel 2020, Moderegger 2020 u. in Bezug auf einen inklusiven Literaturunterricht Volz 2018 u. 2020), Sachbilderbücher (Lieber 2019) und digitaler Bilderbücher 282 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="283"?> (Müller, C. 2022; s. grundsätzlich zur Vielfältigkeit des Genres Bilderbuch Abraham/ Knopf 2019b). Audiovisuelle Medien Frederking/ Krommer/ Maiwald beziehen sich in ihrem Buch ausschließlich auf „technisch erzeugte Verbindungen von (in der Regel) bewegten Bildern und Tönen“ (2018: 175). Audiovisuelle Medien sind damit zum Beispiel Filme oder Computerspiele. Das tradierte sogenannte Menschmedium Theater kann hierunter nicht subsumiert werden, wenngleich es sich dabei unstrittig auch um ein audiovisuelles Medium handelt. Darüber hinaus erfassen sie explizit nicht diejenigen Bereiche, bei denen die Erstellung eines audiovisu‐ ellen Mediums im Vordergrund steht (s. das nachfolgende Unterkapitel). Hinsichtlich der zweiten Einschränkung folgen wir den Autoren; in Bezug auf das Theater vertreten wir jedoch die Ansicht, dass durch einen entspre‐ chenden Ausschluss das Bildungsgut Theater (noch weiter) an den Rand gedrängt werden könnte. Dies ist heute nicht mehr zu vertreten, zumal u. a. in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (2012) folgender Aspekt unter dem Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen auftaucht: sich mit Texten unterschiedlicher medialer Form und Theaterinszenierungen auseinandersetzen. Theateraufführungen und -inszenierungen im Deutschunterricht Das Phänomen Theater (s. für einen ersten Überblick Paule 2017) hat seit jeher einen festen Platz in den Bereichen Bildung und Erziehung (s. im Folgenden Olsen 2010): Vor allem die Theaterpädagogik hat außerschu‐ lisch einen hohen Stellenwert erlangt. Im Vordergrund steht dort der aktive, spielende (junge) Mensch, der ganzheitlich gebildet werden soll. Ähnlich verhält es sich mit dem in einigen Bundesländern etablierten Schulfach Darstellendes Spiel. Stark vernachlässigt wird jedoch die Re‐ zeption des Theaters durch Kinder und Jugendliche. Obwohl im Rahmen dramendidaktischer Überlegungen immer wieder Berührungspunkte zu (professionellen) Theateraufführungen beziehungsweise -inszenierun‐ gen zu finden sind (→ 5.6), haben sie immer noch keinen festen Platz im Deutschunterricht gefunden. Paule hat mit ihrer Monographie Kultur des Zuschauens (2009; s. für einen Überblick zur Thematik Paule 2013) 5.7 Medien und Konzeptionen 283 <?page no="284"?> einen markanten Grundstein für die Etablierung einer Theaterdidaktik gelegt: Es wird also nicht um die Lektüre dramatischer Texte gehen, auch nicht um szenisches Spiel der Schülerinnen und Schüler oder um eine Auseinandersetzung mit Inszenierungen, wie sie in schulischen ‚Nischen‘ - etwa der Schultheaterar‐ beit - möglich ist, sondern um eine Integration des Theaters und insbesondere der Aufführungsrezeption in den regulären Deutschunterricht. (2009: 4) Es ist davon auszugehen, dass die (noch junge) Theaterdidaktik (s. auch Denk/ Möbius 2017) sich in ihrer konzeptionellen Ausrichtung auch am S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TI E R E N (→ 5.5) und am HANDLUN G S - UND P R ODU KTI ‐ ON S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT orientieren wird. Ebenso erschei‐ nen die Grundgedanken und -methoden einer gesprächsorientierten Herangehensweise übertragbar zu sein (Olsen 2018). Interessant ist, dass gerade der Bereich des nicht-literarischen Schreibens eine größere Rolle einzunehmen scheint (zum Anfertigen von Erinnerungsprotokollen Roselt 2004; s. auch Olsen 2012). In Bezug auf die analytischen Anteile eines ‚Theaterunterrichts‘ stehen Unterrichtende vor einem ähnlichen Problem wie etwa bei der Analyse von Bilderbüchern. Paule deutet in ihrer Arbeit allgemein einige methodische Möglichkeiten an (z. B. Inszenierungsvergleiche, das Schreiben einer Theaterkritik) - eine aus‐ reichende didaktische Modellierung der schüler: innenseitigen Analyse von Theateraufführungen und -inszenierungen steht zwar noch aus, aber mittlerweile gibt es vielfältige Vorschläge für die Integration des Theaters in den Deutschunterricht (s. z. B. Olsen/ Paule 2015). Bedacht werden muss in diesem Zusammenhang stets, dass Lehrende, die Theateraufführungen und -inszenierungen in ihren Deutschunter‐ richt integrieren, ihr in aller Regel „dramendidaktisch geprägtes Denken und Handeln“ (Bönnighausen 2015: 11) ganz offensichtlich nur schwer‐ lich aufgeben können: Das starre Festhalten am Primat des dramatischen Textes wird dem autonomen Kunstwerk Theater jedoch in keiner Weise gerecht - auch wenn selbstverständlich im zeitgenössischen Theater Dramentexte eine bestimmte Rolle spielen können. Als das im Deutschunterricht vorherrschende audiovisuelle Medium kann der (Spiel-)Film bezeichnet werden (eine überzeugende didaktische ‚Legiti‐ mation‘ für den Einbezug dieses Mediums in den Literaturunterricht bietet 284 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="285"?> Maiwald 2013b). Nach ersten bedeutsamen filmdidaktischen Überlegungen (Möbius 2005a; Leubner/ Saupe 2005) ist das Grundlagenwerk Filme im Deutschunterricht (Abraham 2018b) leitend für weitere Arbeiten zu dieser Thematik. Abraham legt eine praxisorientierte Filmdidaktik vor, die jedoch ausschließlich rezeptionsorientiert ist: „Produktionsorientierte Zugänge sind denkbar und sehr begrüßenswert; eine entsprechende Didaktik wäre aber nur fächerübergreifend zu schreiben“ (2018b: 8). Damit grenzt er sich stark von vielen anderen Deutschdidaktikerinnen und Deutschdidaktikern ab. Bedeutsam ist, dass Abraham explizit darauf hinweist, dass alle Lern- und Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts „von Filmen profitieren“ (ebd.: 71; s. hierzu auch Staiger 2014; vertiefend zu didaktisch relevanten Berüh‐ rungspunkten von literarischem Text und Film s. Schönleber 2012, der neben einem theoretischen Entwurf für einen filmintegrativen Deutschunterricht auch konkrete Unterrichtsmodelle vorlegt). Hinsichtlich der methodischen Zugänge lassen sich den Überlegungen Abrahams folgende (von uns erwei‐ terte) Leitperspektiven entnehmen: ■ Eine analytische Herangehensweise solle nicht im Zentrum des Un‐ terrichts stehen, da es nicht die Aufgabe des Deutschunterrichts sei, „Schüler zu Medienwissenschaftlern zu erziehen“ (ebd.: 57). Anderer Ansicht ist zum Beispiel Schönleber: „Die analytischen Methoden der Filmhermeneutik und der Filmnarratologie sind als Bezugstheorien besonders geeignet, Film und Literatur eng aufeinander zu beziehen“ (2012: 176); hervorgehoben werden muss in diesem Zusammenhang, dass Schönleber interessanterweise eine didaktische Zielrichtung zu etablieren versucht, die „jenseits der Verfilmungen einer literarischen Vorlage“ (ebd.: 178) verortet sein soll. ■ Der Einsatz szenischer Verfahren solle „rezeptionsbegleitend und zur Interpretation eingesetzt werden“ (ebd.: 61; s. auch 84 f.; vertiefend Abraham 2005; ähnlich Maiwald 2013a: 235; Krämer 2006). ■ Gespräche über Filme seien unabdingbar - und zwar auch vor dem Hintergrund der Zielsetzungen des Sprachunterrichts. Abraham weist auf das literarische Sehgespräch nach Möbius (2008) hin; Schmidt/ Wink‐ ler (2015) haben nachweisen können, dass Filmgespräche ein geeignetes Setting für die Förderung des Filmverstehens darstellen. ■ Das Schreiben zu Filmen lasse sich in vier Teilbereiche aufgliedern: expressives, klärendes, rhetorisches und poetisches Schreiben (Abraham 2018b: 96). 5.7 Medien und Konzeptionen 285 <?page no="286"?> ■ Filme (insbesondere Literaturverfilmungen; zum didaktischen Mehr‐ wert von Bilderbuchverfilmungen - auch unter intertextuellen bezie‐ hungsweise intermedialen Gesichtspunkten - s. Kudlowski 2013 u. zu entsprechenden Kurzfilmen Wegmann 2019) eigneten sich zur L E ‐ S E FÖR D E R UN G (→ 4). Noch kaum beachtet werden Lyrikverfilmungen: Littschwager (2010) zeigt in ihrer Monographie unter anderem die zentrale Strategie von Lyrikverfilmungen - „das Verhältnis von visueller und auditiver Sprachebene als synästhetischer Mehrwert“ (ebd.: 94) - auf. Wir gehen davon aus, dass diese besondere Art von Verfilmung sich nicht nur leseanimierend auswirken könnte, sondern auch dazu geeignet ist, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern interessante text- und filmanalytische Wege zu beschreiten. Winkler (2010) hat (er‐ neut) darauf hingewiesen, dass auch Musikvideoclips selbstverständlich eine besondere Form von Lyrikverfilmungen - und damit auch ein Gegenstand des Deutschunterrichts - sein können. Hinweis Maiwald (2013a: 231 ff.) weist zwei übergreifende Ziele der Filmdidaktik aus: ■ Filmlesefähigkeit ■ kulturelle Handlungsfähigkeit Neben entsprechenden Themenheften (Der Deutschunterricht 3/ 08: Filmdi‐ daktik; Deutschunterricht extra 2010: Filme im Unterricht) gibt es zu diesem Thema mittlerweile zahlreiche weitere fachdidaktische Veröffentlichungen (z. B. das Werk von Abraham in einer 4. Auflage von 2018; Anders et al. 2019; Kammerer/ Maiwald 2021); auch auf entsprechende Bibliographien kann zurückgegriffen werden (Albrecht 2005; Villard et al. 2008). „Aus Sprache ist er [gemeint ist der Film, C. H./ A. K./ R. O./ C. M.] gemacht, zu Sprache wird er wieder werden. Das ist der Hauptgrund dafür, warum Filme in den Deutschunterricht gehören.“ (Abraham 2014: 205) 286 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="287"?> Filmanalyse Der Filmanalyse wird in der Didaktik schon lange ein ausgesprochen hoher Stellenwert zugewiesen (s. Hickethier 1981 u. 1983; Gast 1996; für die Primarstufe Möbius 2021). In Bezug auf die Filmsprache gibt es eine stark ausdifferenzierte Fachterminologie, über die selbst in der Filmwissenschaft immer noch kein Konsens besteht. Eine praxisorientierte, systematische Ordnung filmanalytischer Grundbegriffe liefert Tasaki 2014. Daneben haben filmische Texte jedoch auch einen narrativen Charakter, der demjenigen von literarischen Texten ähnelt. Leubner/ Saupe haben einen Didaktisie‐ rungsvorschlag unterbreitet, indem sie diese beiden Aspekte erstmalig zusammengefasst haben (2012: 177 ff.). Schließlich haben sie - wie schon hinsichtlich der Analyse epischer Texte (→ 5.1) - einen Katalog erstellt, der für die unterrichtliche Arbeit von unschätzbarem Wert ist (ebd.: 217 ff.). Selbstverständlich können nicht alle Kategorien für jeden denkbaren filmi‐ schen Text herangezogen werden; im Folgenden geben wir diesen Katalog sehr stark verkürzt wieder. „Filmanalyse ersetzt Textanalyse.“ (Paefgen 2021: 249) Darstellungsanalyse filmischer Erzählungen 1. Narrationsspezifische Verfahren 1.1 Zeitgestaltung: Diese Kategorie kann bei Filmen nur sehr selten herangezogen werden, da die zeitliche Gestaltung nur in Ausnahmefällen so komplex ist wie bei epischen Texten. 1.2 Perspektivierung 1.2.1 Quantitativer Point of View: Die Schüler: innen sollen untersuchen, ob der/ die Rezipient: in mehr, weniger oder genauso viel weiß wie die (Haupt-)Figur(en). 1.2.2 Qualitativer Point of View: Hier wird danach gefragt, ob der/ die Rezipient: in objektive und/ oder subjektive Einblicke erhält. 1.3 Eigenschaften des Erzählers/ der Erzählerin: Sofern es in einem Film eine: n Erzähler: in gibt, kann diese Kategorie zum Einsatz kommen. 5.7 Medien und Konzeptionen 287 <?page no="288"?> 2. Filmsprachliche Verfahren 2.1 Einstellungsgröße: Panoramaaufnahme - Totale - Halbtotale - Halbnahe - Amerikanische - Nahe - Großaufnahme - Detail 2.2 Kameraperspektive: Normalsicht - Untersicht - Aufsicht 2.3 Kamerabewegung: Hierbei geht es um die Frage, ob die Kamera fixiert ist oder ob sie selbst Bewegungen im Raum vornimmt. 2.4 Kameraobjektiv: Normalobjektiv - Weitwinkelobjektiv - Te‐ leobjektiv - Zoomobjektiv 2.5 Mise en Scène: Es wird danach gefragt, wodurch die Raumin‐ szenierung bestimmt ist (Auswahl von Objekten und Figuren, räumliche Positionierung, Licht- und Beleuchtung). 2.6 Beziehung von Bild und Ton: Hier wird untersucht, ob und wie die Bilder in ein bestimmtes Verhältnis zu Sprache, Geräuschen und Musik gesetzt werden. 2.7 Montage: Hinsichtlich der Schnitttechnik wird danach gefragt, ob die einzelnen Schnitte weich/ hart sowie schnell/ langsam erstellt wurden. Sehr zu empfehlen ist auch das durchgängig mit konkreten Beispielen versehene Buch Filmanalyse im Deutschunterricht: Spielfilmklassiker von Jost/ Kammerer (2012). Wenngleich sie - ähnlich wie Leubner/ Saupe - die Notwendigkeit der Analyse interner Faktoren der Textgestaltung (= Filmge‐ staltung) herausstreichen, weisen sie immer wieder darauf hin, dabei die Bedeutsamkeit externer Faktoren - wie z. B. das Phänomen der Intertextua‐ lität (→ S. 234) - nicht zu vernachlässigen. In den Deutschunterricht Einzug halten sollten allerdings nicht nur Filmklassiker, sondern beispielsweise auch aktuelle Serien, die den Zeitgeist treffen. Mit einigen entsprechenden Beiträgen trägt das zweibändige Werk von Anders/ Staiger (2016) aus theo‐ retischer und praxisbezogener Sicht der heute populären Rezeption von Serien im Fernsehen und auf Streamingplattformen Rechnung. Viele Verfahren (vor allem entsprechende Schreibaufgaben) des HAND ‐ LUN G S - UND P R ODU KTION S O R I E NTI E R T E N L IT E R ATU R UNT E R R ICHT S können auch für den Umgang mit Filmen herangezogen werden: Im Gegensatz zu einer nur auf Strukturanalyse oder auf kritische Beurteilung zielenden Filmdidaktik nimmt der produktionsorientierte Ansatz die audiovisu‐ 288 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="289"?> ellen Medien als ästhetische Produkte ernst, die einer Wahrnehmungsschulung bedürfen. (Spinner 2012b: 257) Hinweis Faktuale Filme: Der Einsatz faktualer Filme (Dokumentarfilme und andere dokumentarische Formate; der Grad des Fiktionalen kann sehr unterschiedlich sein) im Deutschunterricht ist immer noch eine Selten‐ heit. Der Sammelband von Kammerer/ Kepser (2014) bietet erstmalig eine Einführung in die Theorie, Praxis und Didaktik dieser Formate. Digitale Medien Bei all den […] Nutzungsoptionen bzw. Konzepten zum Einsatz der neuen Digi‐ talmedien Computer und Internet ist einerseits evident, dass sie einander nicht ausschließen, sondern ergänzen bzw. miteinander verbunden werden können. Andererseits sollte stets die Frage leitend sein, worin der medienspezifische Mehrwert eines Einsatzes im Deutschunterricht liegt […]. Nur wenn dieser Mehrwert deutlich bestimmbar ist, ist der fachspezifische Einsatz von Computer und Internet wirklich sinnvoll. (Frederking/ Krommer/ Maiwald 2012: 259) Digitale Medien wie Computer und Internet können, um sie genauer zu fassen, als Symmedien (zu diesem Terminus ausführlich Frederking 2005) bezeichnet werden. Dieser Begriff berücksichtigt in besonderem Maße, dass die digitalen Medien Computer und Internet nicht nur Simulations-, sondern auch Integrationsmedien sind, die Text, Bild, Ton und Film in sich vereinen (können). Es zeigen sich vielfältige Erscheinungsweisen und Nutzungsmög‐ lichkeiten sowohl auf der sprachlichen als auch auf der literarischen Ebene: Dabei erlauben diese beiden neuen Digitalmedien Arbeitsprozesse einer neuen Art, die auch und gerade im Deutschunterricht fruchtbar zu machen sind, weil sie mit Ton, Text und bewegtem Tonbild die medialen Kernformen des oralen, des literalen und des audiovisuellen Paradigmas in sich vereinen und gleichzeitig weiterentwickeln. Besonders Lese- und Schreibprozesse erfahren durch Computer und Internet medienspezifische Veränderungen. Sie werden interaktiv und synästhetisch. (Frederking/ Krommer/ Maiwald 2018: 238; zum Stellenwert synästhetischer Bildung in einem symmedialen Deutschunterricht s. vertiefend Frederking 2018) 5.7 Medien und Konzeptionen 289 <?page no="290"?> Didak‐ tisch-me‐ thodische Nutzungs‐ optionen und digi‐ tale Kom‐ petenzen Lernmedium Diese Veränderungen schlagen sich auch im methodischen Umgang nieder. Obwohl auch in diesem Sektor in den meisten Fällen auf die allgemeinen Konzeptionen, die in diesem Band genannt wurden, zurückgegriffen wird, wird es zukünftig aufgrund bestimmter technischer Besonderheiten man‐ nigfaltige neue mediendidaktische Ansätze geben (müssen). Zahlreiche methodische Vorschläge finden sich zum Beispiel bei Gailberger/ Wietzke (2018) und Knopf/ Abraham (2020). Frederking/ Krommer/ Maiwald (2012: 250 ff.) weisen sechs didaktischmethodische Fokussierungen aus, die im Folgenden in den Blick genommen werden. Dabei könnten digitale Medien als Symmedien entweder integriert werden oder an die Stelle traditioneller Lernmedien treten (ebd.: 258 f.) und sowohl das fachliche Lernen durch ihren Einsatz unterstützen als auch selbst Gegenstand des Lernens im Zuge der Vermittlung digitaler Kompetenzen sein. Die KMK listet hierzu folgende Kompetenzbereiche mit zahlreichen - hier nicht angeführten - Teilkompetenzen auf, die Schnittmengen mit den didaktisch-methodischen Nutzungsoptionen aufweisen (2017: 16-ff.): 1. suchen, verarbeiten und aufbewahren, 2. kommunizieren und kooperieren, 3. produzieren und präsentieren, 4. schützen und sicher agieren, 5. Probleme lösen und handeln, 6. analysieren und reflektieren. Für die beiden traditionellen Lernbereiche Sprache und Literatur gibt es spezifische Lernbeziehungsweise Übungssoftware. Für den Bereich Spra‐ che sind in erster Linie vielfältige Rechtschreib- und Grammatikprogramme zu nennen. Viele davon (zumeist rein kommerzielle) entsprechen jedoch in methodischer Hinsicht älteren didaktischen Vorstellungen (z. B. eine starke Regel- oder Grundwortschatzorientierung, → 3.2 und 3.5). Dass digitale Rechtschreibhilfen aber auch „ein enormes Potenzial zu sprachdidaktisch gewinnbringender Verwendung bergen“ (Berndt/ Thelen 2015: 469) können, betonen die beiden Autoren, die eine kritische Sicht auf Rechtschreib-Lern- und Rechtschreib-Prüfprogramme werfen. Sie weisen darauf hin, dass „ein intensiverer Dialog zwischen Didaktikern und Softwareentwicklern not‐ wendig“ (ebd.) sei, gerade da auch kein didaktischer Fortschritt in neueren Apps zur Förderung der Rechtschreibung festgestellt werden kann (Müller, C. 2016b). 290 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="291"?> Für den Literaturunterricht beziehungsweise für das literarische Lernen gibt es mittlerweile einige sinnvolle Lernarrangements - beispielsweise bietet die gymnasial orientierte Lernsoftware Texte, Themen und Strukturen - interaktiv interessante Zugänge für die Lernenden (wobei der konzeptio‐ nelle Schwerpunkt textanalytisch ist). An dieser Stelle muss zunächst einmal unterschieden werden, ob durch eine ‚neue Medialität‘ überhaupt etwas ‚Neues‘ entsteht. Leubner (2018) unterscheidet in Bezug auf literarische Texte digital publizierte Texte von digitaler Literatur: Während erstere zum Beispiel in Bezug auf E-Books nur unterschiedliche Realisierungsformen seien, habe der zweitgenannte Typus „medienspezifische Merkmale“ (ebd.: 187) und sei „als multimediales ‚Gesamtkunstwerk‘ der Medienkunst zuge‐ hörig“ (ebd.: 197) - wichtigstes Unterscheidungskriterium sei, dass die Ent‐ stehung und Rezeption dieser Texte an den Computer gebunden ist. Neben zahlreichen Spielarten digitaler Literatur im Internet (s. hierzu die Vielfalt im Band von Meyer 2019) entstehen immer wieder digitale Buchformen, die bestimmte multimediale und multimodale Möglichkeiten neu ausloten und Rezipierende zum Beispiel zur Interaktion mit dem Medium Buch einladen: das digitale Bilderbuch. Digitale Bilderbücher (s. hierzu Müller, C. 2014, 2016a, 2020, 2022; Fahrer 2014; Schrenker/ Beyer 2014) halten aufgrund ihrer multimodalen Verfasstheit aus Bild, Bewegtbild, Text, Ton und Inter‐ aktivität lernförderliche Potenziale für sprachliches und literarisches Lernen bereit. C. Müller (2014) zeigt am Beispiel des digitalen Bilderbuchs im App- Format Alice im Wunderland Möglichkeiten des literarischen Lernens im Rahmen eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts auf (s. hierzu auch Knopf 2019b; allgemein zu Kinderbuch-Apps s. den umfangreichen, mit vielen Beispielen versehenen kritischen Beitrag von Ritter 2013). Neben diesen gibt es weitere digitale Bilderbuchangebote, auf die Knopf (2019a) überblicksartig hinweist: E-Books, Bilderbuchkinos, Buch‐ filme, Boardstories sowie neueste Entwicklungen im Kontext von Virtual und Augmented Reality (s. hierzu neben entsprechenden grundlegenden Ausfüh‐ rungen von Mosbach/ Müller 2019 auch die praxisorientierten Hinweise zu den entsprechenden Angeboten LeYo! und SuperBuch von Brodt/ Jakobs 2019 sowie zu HP Reveal und Metaverse von Eckle/ Jakobs 2019). Die Grenzen von solchen digitalen Formaten sind fließend: Dies wird zum Beispiel deutlich zwischen (interaktiven) Spielgeschichten (s. allgemein Schulz 2003 u. 2005 mit Bezug zu Ronja Räubertochter) und (narrativen) Computerspielen. Interaktions- und Handlungsmedien (Boelmann 2018) wie Computerspiele werden seit einiger Zeit im Hinblick auf den Erwerb 5.7 Medien und Konzeptionen 291 <?page no="292"?> literarischer Kompetenzen diskutiert (Boelmann 2014; vertiefend - und grundsätzlich aufgrund einer empirischen Studie bejahend - Boelmann 2015; in Bezug auf literarisch-theatrale Lernprozesse durch den Einsatz von Computerspielen Olsen 2015 u. durch den Einbezug von Theaterspiel-Apps Müller, C. 2015b). Hofer/ Bauer (2018) bieten umfangreiche didaktische und methodische Erwägungen zum Einsatz von Computerspielen im Deutsch‐ unterricht. In ihrem Beitrag stellen sie neun ‚Prinzipien‘ (eine leider sehr vage Bezeichnung, da sie diese auch als ‚Stufen‘, ‚Ziele‘ und ‚Etappen‘ etikettieren) beim Umgang mit Computerspielen im Unterricht vor: 1. sensibilisieren, 2. problematisieren, 3. vergleichen, 4. klassifizieren, 5. testen, 6. beurteilen, 7. erforschen, 8. entwerfen, 9. entwickeln. Kepser (2012b) hat ein kompetenzorientiertes Konzept vorgelegt, in dem sich diese Prinzipien wiederfinden. Er unterteilt den Umgang mit Compu‐ terspielen im Deutschunterricht wie folgt (s. ebd.: 30 ff.): 1. Computerspielanalyse (Teilbereiche: Computerspielgestaltung, Compu‐ terspielgeschichte, Genre und Genretheorie, Game Studies und Game Theory), 2. Computerspielnutzung (etwa die Wirkung von Spielen beschreiben können), 3. computerspielbezogene Produktion und Präsentation (z. B. das Entwer‐ fen eigener Schauplätze und Figuren) 4. Computerspiel in der Mediengesellschaft (z. B. Referenzen zu anderen Künsten/ Medien erkennen können). Empirisch erwiesen ist noch nicht, ob die Nutzung des Internets (und des Computers) einen positiven oder einen negativen Einfluss auf den Leseprozess hat: In nur wenigen der bislang durchgeführten Studien konnte eine Erhöhung des Lernpotenzials festgestellt werden (s. hierzu tiefgehend Möbius 2018). Kuzminykh diskutiert potenzielle Vor- und Nachteile und liefert einige interessante methodische Vorschläge unter lesefördernden Ge‐ 292 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="293"?> Schreib‐ medium sichtspunkten (2009: 148 ff.; s. in Bezug auf Computerspiele auch Bruelhart 2014). Digitale Medien haben als Schreibmedien (s. hierzu, auch im Zusammen‐ hang mit Präsentations- und Publikationsmedien, Abraham 2018a) schon lange - im Offline-Modus - Einzug in die Schulen gefunden. Durch Textver‐ arbeitungsprogramme können sie im gesamten Deutschunterricht sowohl musterorientierte als auch kreative Schreibprozesse (→ 3.8 und 3.11) äußerst gewinnbringend unterstützen (s. hierzu auch die empirischen Ergebnisse von Schieder-Niewierra 2011 mit dem Nachweis der positiven Auswirkung auf die Schreibmotivation), da insbesondere das Überarbeiten von Texten in einer komfortablen Weise vorgenommen werden kann. Im Online-Modus, der diesbezüglich in die Bereiche Schreiben im Netz und vernetztes Schreiben aufgeteilt werden kann (Heibach 2002), bieten digitale Medien noch lange nicht ausgeschöpfte schreiborientierte Einsatzmöglichkeiten, die erst im Ansatz deutschdidaktisch erschlossen wurden, siehe ■ allgemein Kuzminykh 2009: 157 ff., ■ zum Schreiben von Hyperfictions Leubner 2001, ■ zum kooperativen Schreiben Borrmann 2003, ■ zu virtuellen Schreibkonferenzen Becker-Mrotzek 2012c, ■ zum Argumentieren im DaZ-Bereich Grundler 2010, ■ zum Bloggen auf der Schreibplattform myMoment.de Furger 2011, ■ zum Wiki-Einsatz Anskeit 2011, ■ zum Schreiben von Literaturkritiken Mikota 2012 (grundsätzlich zum Einsatz im Deutschunterricht s. Pérez 2015), ■ zum Umwandeln von längeren (literarischen) Texten in Tweets Philipp 2012a, ■ zum Erstellen eigener Websites Vach 2017 und Probst/ Schlumpf 2018, ■ zum Schreiben zu Adventures Hoffmann/ Lüth 2012 und Hoffmann 2012, ■ zur schriftlichen Kommunikation im Netz Beißwenger 2020, ■ zu digitalen Schreibprozessen und -strategien Krelle 2020, ■ zu Schreiben in sozialen Netzwerken Wampfler 2020. Möbius macht vor dem Hintergrund einer Studie mit Studentinnen und Studenten explizit darauf aufmerksam, dass das T E XTNAH E L E S E N (→ 5.3) bei‐ spielsweise „mit der Kommentarfunktion von Textverarbeitungsprogram‐ men“ (2005b: 32) oder „mit Hilfe der Kommunikationstools der Lernplatt‐ form [gemeint ist stud.ip, C. H./ A. K./ R. O./ C. M.]“ (ebd.) zu realisieren sei 5.7 Medien und Konzeptionen 293 <?page no="294"?> Informati‐ onsme‐ dium Kommuni‐ kationsmedium Kooperati‐ onsme‐ dium (zur Vertiefung Möbius 2005c: 98 f.) - diese Ideen lassen sich leicht auf die Schule übertragen. Als Informationsmedien (s. hierzu überblicksartig, auch in Bezug auf die im Folgenden dargestellten Kommunikations- und Kooperationsmedien, Krommer 2018) gehen die digitalen Medien Computer und Internet immer stärker eine untrennbare Verbindung ein: (nicht nur) Schüler: innen ‚goo‐ geln‘ heute ganz selbstverständlich, um schnell - punktuell lesend - an Informationen (s. zum Interneteinsatz im Lyrikunterricht Hochholzer 2010) oder literarische Texte (s. zur ‚Internetliteratur‘ Kepser 2000, zu neueren Entwicklungen rund um digitale Literatur s. Winko 2016) heranzukommen. Diese werden dann nicht selten gespeichert, um auch im Offline-Modus auf sie zurückgreifen zu können. Falls diese Texte auch hypertextuell strukturiert sind, benötigen Schüler: innen neben den allgemeinen, oben dargestellten Lesekompetenzen (→ 4.3) auch solche, die über die des tradierten Lesens statischer Texte hinausgehen, deren Bedingungen jedoch bisher erst im Ansatz empirisch erfasst wurden (Blatt/ Voss/ Goy 2005; Voss 2006; Coiro/ Dobler 2007). Der Einbezug computervermittelter Kommunikation (E-Mail, Chat, Sprachnachrichten etc.) in den Deutschunterricht lässt sich mittlerweile als etabliert bezeichnen (z. B. zu E-Mails das Themenheft der Zeitschrift Deutschunterricht aus dem Jahr 2001; zum Chatten - im Zusammenhang mit dem S Z E NI S CH E N I NT E R P R E TI E R E N - Breilmann/ Schopen 1999 und aus interkul‐ tureller Perspektive Bozay 2008; beide Bereiche verbindend Frederking/ Stei‐ nig 2002). Unter Heranziehung verschiedener oben skizzierter Konzeptionen lassen sich mehrere Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts anvisie‐ ren. Hinsichtlich des Texteschreibens kann neben der P R OZ E S S O R I E NTI E R UN G (→ 3.10) in diesem Zusammenhang insbesondere das L E S E R : INN E N O R I E NTI E R T E S CH R E IB E N (→-3.9) genannt werden. Digitale Medien können genutzt werden, um virtuelle Kooperationen zwischen räumlich getrennten Personen herzustellen (Möbius et al. 2005). Deutschdidaktisch sinnvolle Einsatzmöglichkeiten ergeben sich beispielsweise, wenn ein gemeinsames Thema - z. B. ein literari‐ scher Text wie Goethes Faust oder ein Kinder- und Jugendbuch - innerhalb von zwei Lerngruppen ganz oder in Teilen im Horizont unterschiedlicher Schwer‐ punktsetzungen und auf der Grundlage unterschiedlicher literaturwissenschaft‐ licher oder literaturdidaktischer Konzeptionen (z. B. motivgeschichtlich versus 294 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="295"?> synästheti‐ sches Hand‐ lungsme‐ dium psychologisch bzw. analytisch versus handelnd-produktiv) behandelt wird. (Fre‐ derking/ Krommer/ Maiwald 2012: 256) Noch ist keine hinreichende didaktisch-methodische Annäherung an die ‚Lese- und Schreibräume‘ Literaturplattformen festzustellen, auf denen kooperationsähnliche - feedbackorientierte - Aktionen möglich sind (s. hierzu die aufschlussreiche fachwissenschaftliche Monographie von Boes‐ ken 2010). Der Zusatz ‚Handlung‘ legt nahe: Im Vordergrund dieser Fokussierung stehen handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, wenn die oben genannten medialen Formen im Verbund zum Einsatz kommen. So können zum Beispiel auch mit den digitalen Medien Tablets und Smartphones viel‐ fältige Produkte handlungsorientiert erarbeitet werden (Müller, C. 2015a; Wampfler 2017). Nicht zuletzt können rezeptive, analytische Annäherungen stattfinden. Im Laufe dieses Kapitels sollte deutlich geworden sein, dass lediglich in Bezug auf wenige (nicht traditionelle) Medien - wie zum Beispiel den Film - Konturen spezifischer Konzeptionen zu verzeichnen sind, sodass zukünftig auf entsprechende mediendidaktische Ausarbeitungen zu hoffen ist. Fragen vor dem und Tipps für den Unterricht Stellen Sie sich vor Beginn Ihres Unterrichts folgende Fragen: ■ Welche Zielsetzungen des sprachlichen und/ oder literarischen Ler‐ nens möchten Sie mit Ihrer Unterrichtsstunde/ Unterrichtseinheit verfolgen? Ist das von Ihnen ausgewählte Medium und dessen Funktionen geeignet zur Erreichung eines fachbezogenen Ziels? ■ Setzen Sie das von Ihnen ausgewählte Unterrichtsmedium in einen Zusammenhang zu den o. g. fachbezogenen mediendidaktischen Konzeptionen oder zu den allgemeinen Konzeptionen der Deutsch‐ didaktik: In welchem Verhältnis sollen zum Beispiel analytische, handlungs- und produktionsorientierte und/ oder gesprächsförmige Ansätze zueinander stehen? Warum? Recherchieren Sie: Welche spezifischen methodischen Zugänge gibt es? 5.7 Medien und Konzeptionen 295 <?page no="296"?> Aufgaben 1. Reflektieren Sie etwaige Vor- und Nachteile internetbasierter Kommu‐ nikation für den Schreibunterricht. Beziehen Sie sich dabei auf Partner‐ schaften zwischen Schulen, bei denen die Schüler: innen sich entweder digital schriftlich oder handschriftlich austauschen. 2. Erinnern Sie sich an Ihren letzten Theaterbesuch, bei dem Sie sich eine postdramatische Inszenierung angesehen haben. Gab es Anknüp‐ fungspunkte zu digitalen Medien? Wie könnten Sie diese in Ihren deutschdidaktisch orientierten Medienunterricht integrieren? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung F R E D E R K I N G , V./ K R O M M E R , A./ M AI W A L D , K. (2018) (das Standardwerk für den deutschdidaktischen Medienunterricht; es bietet einen umfangreichen, gut ver‐ ständlichen Überblick) F R E D E R K I N G , V./ K R O M M E R , A./ M ÖB I U S , T. (2018) (dieser umfassende Sammelband fokussiert digitale Medien im Deutschunterricht) Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht M ÜL L E R , C. (2019) (der Beitrag skizziert Bausteine eines inklusiven Deutschunter‐ richts mit digitalen Medien) V O L Z , S./ W I P R ÄC H T I G E R - G E P P E R T , M. (2014) (ein pointierter Beitrag, der in Abkehr alltagstheoretischer Vorstellungen pionierhaft und vehement für den Einbezug künstlerisch ambitionierter Bilderbücher plädiert) 296 5 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen <?page no="297"?> 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Zum Kompetenzbereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflek‐ tieren gehören in den Bildungsstandards und aktuellen Lehrbeziehungs‐ weise Bildungsplänen zwei Teilbereiche: das grammatische Lernen und die Wortschatzarbeit. Dementsprechend behandeln wir hier die Konzeptionen der beiden fach‐ didaktischen Teildisziplinen Wortschatzdidaktik (→-6.1-6.4) und Gramma‐ tikdidaktik (→-6.5-6.11) getrennt. Wortschatzunterricht In den Bildungsstandards fällt die Disziplin Wortschatzdidaktik in den Bereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen. Ein Großteil der Standards hängt mit dem Bereich Wortschatz mehr oder weniger indirekt zusammen, deshalb werden hier nur einige exemplarisch aufgeführt: Bildungsstandards an Wörtern, Sätzen, Texten arbeiten (Wörter strukturieren und Mög‐ lichkeiten der Wortbildung kennen; Wörter sammeln und ordnen) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entdecken (Deutsch - Fremdsprache, Dialekt - Standardsprache; Deutsch - Erstsprachen der Kinder mit Migrationshintergrund; Deutsch - Nachbarsprachen; gebräuchliche Fremdwörter untersuchen) Äußerungen/ Texte in Verwendungszusammenhängen reflektieren und be‐ wusst gestalten (beim Sprachhandeln einen differenzierten Wortschatz gebrauchen einschließlich umgangssprachlicher und idiomatischer Wen‐ dungen in Kenntnis des jeweiligen Zusammenhangs; Sprechweisen unterscheiden und beachten: z. B. gehoben, derb, abwertend, ironisch; ausgewählte Erscheinungen des Sprachwandels kennen und bewerten: z. B. Bedeutungswandel, fremdsprachliche Einflüsse) Textbeschaffenheit analysieren und reflektieren (sprachliche Mittel zur Sicherung des Textzusammenhangs (Textkohärenz) kennen und anwenden: […] - Bedeutungsebene (semantische Mittel): z. B. Syn‐ <?page no="298"?> onyme, Antonyme; Schlüsselwörter; Oberbegriff/ Unterbegriff; ausge‐ wählte rhetorische Mittel) Das Thema Wortschatzdidaktik gehört zu den fachdidaktisch randständigen (Kilian 2016b) und gewinnt erst wieder im Zuge zunehmender Beschäf‐ tigung mit DaZ-Fragestellungen an Bedeutung (zur Geschichte der Wort‐ schatzarbeit in der Schule s. Ulrich 2016a). Lange Zeit war die Problematik eines defizitären Wortschatzes nicht präsent beziehungsweise es wurde (und wird in der Praxis immer noch! ) davon ausgegangen, dass Wörter nebenbei miterworben würden (ebd.: 39). Dementsprechend wird der Zugriff auf ein differenziertes mentales Lexikon - wie man das begriffliche Netz ‚im Kopf ‘ nennt - auch in der Schule vorausgesetzt. Tipp Ein für schulische Kontexte interessantes Hilfsmittel für die Wortschatz‐ arbeit stellen Online-Wörterbücher dar, etwa dwds.de und owid.de. Bedeutung im Kopf Das mentale Lexikon ist vielschichtig modelliert. Wortschatzelemente sind auf unterschiedlichen Ebenen gespeichert und miteinander verbunden: syntagmatisch (die lineare Abfolge sprachlicher Zeichen betreffend) und paradigmatisch (die Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen auf der Ebene der Austauschbarkeit betreffend), formal und funktional, auf der phonologischen, der syntaktischen, der morphologischen und der seman‐ tischen Ebene (Ulrich 2013a: 22; Alber 2014; Bachmann-Stein/ Stein 2016). Vernetzungsrelevant sind zudem sogenannte Ablaufschemata (scripts) und deren Rahmen (frames) (→-S.-322). Zu einem Fußballstadion zum Beispiel gehören unter anderem eine Tribüne, Flutlichter, Kabinen, Tore; im Stadion gibt es feste Abläufe: Man nimmt seinen Platz ein, die Mannschaften betreten den Platz, es ertönt der Anpfiff. Bedeutung ist darüber hinaus individuell konnotativ und assoziativ beeinflusst (wer in einem Stadion nur Niederla‐ gen erlebt hat, wird Stadionbesuche negativer assoziieren als jemand, der einen Aufstieg seiner Mannschaft mitfeiern konnte). 298 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="299"?> Didaktisch geht es darum, einerseits die Aneignung neuen lexikalischen Materials (mitsamt seinen syntaktischen Eigenschaften) und andererseits dessen Vernetzung auf den unterschiedlichen Ebenen zu fördern. Erläuterung Unter Wortschatzerweiterung wird die Schaffung eines neuen Wort‐ feldes, unter Wortschatzvertiefung „dessen Pflege und Ausbau“ (Mer‐ ten/ Kuhs 2012: 10) verstanden. Bei Lernenden mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache machen sich Lücken im rezeptiven und produktiven Wortschatz zum Großteil im schriftsprach‐ lichen Register bemerkbar, was Abbildung 9 zeigt, die erschreckende Ergeb‐ nisse des DESI-Wortschatztests in der Klassenstufe-9 offenbart. Ein mangelhafter Wortschatz schränkt Schüler: innen nicht nur beim Lese- und Hörverstehen, sondern auch beim Schreiben und Sprechen ein und kann darüber hinaus auch für große schulische Schwierigkeiten in an‐ deren Fächern verantwortlich sein (Haushofer/ Benischek 2020: 1; Steinhoff 2009). Die T R ADITION E LL E W O R T S CHATZA R B E IT (→-6.1) leistet diesbezüglich zu wenig Abhilfe. Studien belegen, dass Zweitsprachlerner: innen häufig über einen geringeren Wortschatz als Erstsprachler: innen verfügen. Für sie sind die Zielsetzungen, die mit Wortschatzarbeit verbunden sind, deshalb von besonderer Bedeutung. In Bezug auf den Wortschatz wird in didaktischen Kontexten gewöhnlich unterschieden in Alltagssprache, Bildungssprache und Fachsprache. Eine Möglichkeit, wortschatzdidaktische Zielsetzungen für den schuli‐ schen Kontext differenzierter zu fassen, ist die Orientierung an sogenann‐ ten Operatoren, die in den meisten modernen Bildungsplänen in allen Kompetenzbereichen eine Rolle spielen. Als Operatoren im Bereich einer fachsprachspezifischen Wortschatzarbeit, der besonders im Rahmen eines sprachsensiblen Fachunterrichts Rechnung getragen wird, werden auf dem Bildungsserver Berlin/ Brandenburg zum Beispiel aufgeführt: einen Begriffs‐ inhalt selbstständig definieren, Sachverhalte angemessen fachsprachlich wie‐ dergeben/ darstellen, die Bedeutung/ den Inhalt eines Begriffs bestimmen/ ana‐ lysieren (wesentliche Merkmale angeben), einen Begriff im Blick auf seine Konnotationen bewerten (Ulrich 2013b, 323-f.). 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 299 <?page no="300"?> zwei Hauptrich‐ tungen Abb. 9: Ergebnisse des DESI-Wortschatztests (n. Willenberg 2007: 151) Sprachsensibler Fachunterricht Der Begriff sprachsensibler Fachunterricht wurde geprägt von Leisen (2013). Dort wird er definiert als „bewusster Umgang mit Sprache beim Lehren und Lernen im Fach“ (ebd.: 3). Lange Zeit wurde die Förderung sprachlicher Fähigkeiten ausschließlich im Sprachunterricht verortet. Nach und nach rückte ins Bewusstsein, dass Lernerfolge im Fachunterricht in engem Zusammenhang mit bildungs- und fachsprach‐ lichen Fähigkeiten stehen und Sprachförderung auch im Fachunterricht jeglicher Fächer außerhalb des Deutschunterrichts stattfinden sollte. Sprache ist einerseits das zentrale Vermittlungsmedium in allen Fächern, andererseits geht es auch um die Förderung spezifisch fachsprachli‐ cher und fächerübergreifender bildungssprachlicher Fähigkeiten. Von ihrer Ausprägung hängt ab, wie Schüler: innen einen Unterrichtsgegen‐ stand verstehen, reflektieren, aktiv anwenden und darüber kommuni‐ zieren können. Inzwischen liegen zahlreiche didaktisch-methodische Vorschläge für einen sprachsensiblen Fachunterricht für alle Schulfä‐ cher vor (s. z. B. Butler/ Goschler 2019; Emmermann/ Fastenrath 2018). Grob unterschieden werden kann zwischen incidental-learning- und inten‐ tional-vocabulary-instruction-Konzeptionen (Merten/ Kuhs 2012: 15). Erstere umfassen solche Ansätze, die einen beiläufigen lexikalischen Erwerb beim 300 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="301"?> Lesen und Hören fokussieren und davon ausgehen, dass Lernende sich die Wortbedeutung aus dem jeweiligen Kontext erschließen, wie es zum Beispiel im Rahmen der theory of learning from context (Sternberg/ Powell 1983) der Fall ist. Wichtigste unterrichtliche Prozesse sind die Unterrichtskommuni‐ kation, Lese- und Schreibhandlungen sowie das Vorlesen (→-4.7). Beiläufig erworben werden neue Ausdrücke und semantische Vernetzungen natürlich auch außerhalb der Schule. Eine wichtige Grundlage des beiläufigen Lernens ist das Prinzip der Wiederholung: Bei wiederholtem Vorlesen eines Textes können Schüler: innen bis zu 15 % der Wörter in ihr mentales Lexikon auf‐ nehmen, bei Kombination mit Erklärungshandlungen sogar 30 % (Apeltauer 2017: 248). Hinweis Eine Arbeit, die sich explizit dem Wortschatzerwerb von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache widmet und auf dem Konzept des funktiona‐ len Wortschatzes basiert, legt Ekinci-Kocks (2011) vor. Sie enthält ein Stufenmodell und umfangreiche Wortschatzlisten. Dagegen setzen intentional-vocabulary-instruction-Ansätze auf „intentio‐ nale, bewusste und geplante Wortschatzvermittlung“ (Merten/ Kuhs 2012: 16). Ihrer Bedeutung für eine systematische Wortschatzarbeit wird in der Praxis noch viel zu wenig Rechnung getragen. Konzeptionelle Unterschiede wortschatzdidaktischer Ansätze sind insbe‐ sondere in Bezug auf die Lerngruppen, auf den Gegenstandsbereich und auf die didaktisch-methodische Ausrichtung festzustellen: ■ Lerngruppen: Es muss unterschieden werden zwischen Vorschlägen, die auf L1-Lernende, die Deutsch als Erstsprache sprechen, fokussieren, solchen, die speziell für L2-Lerner: innen, also Zweitsprachlerner: innen (interkulturelle Wortschatzarbeit, → S. 369 f.), konzipiert wurden, und lerngruppenübergreifenden Konzeptionen. In jüngster Zeit werden auch didaktische Überlegungen zum Wortschatzlernen aus inklusiver Perspektive angestellt (Kilian 2019). In diesem Zusammenhang sind die Bedeutung und der unterrichtliche Umgang mit einer ‚Leichten Sprache‘ zu diskutieren (Bock/ Fix/ Lange 2017; Dudenredaktion 2016b; s. Kasten → S.-302-ff.). 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 301 <?page no="302"?> ■ Gegenstandsbereich: Hier kann man einzelwort-/ merkmalsorientierte (bspw. auch morphologisch orientierte, z. B. Ulrich 2016e) Ansätze von solchen unterscheiden, die Wörter in ihrer syntaktischen und (kon-)textuellen Eingebundenheit fokussieren. ■ didaktisch-methodische Ausrichtung: Hier geht es vor allem um die Frage nach dem Verhältnis von systematischer Wortschatzarbeit, die gegebe‐ nenfalls auch an einen curricular festgelegten Wortschatz (Merten/ Kuhs 2012: 14) gebunden sein könnte, und situativer Wortschatzarbeit. Eben‐ falls aus didaktisch-methodischer Perspektive von Bedeutung ist die Frage, ob Lernprozesse vorrangig rezeptiv oder produktiv (z. B. Königs 2000) ausgerichtet sein sollen, damit sie den Wortschatzerwerb optimal fördern können. Leichte Sprache Das Konzept der Leichten Sprache ist in den 1960er-Jahren im angloame‐ rikanischen Raum entstanden und in Deutschland im Rahmen inklusiver Bemühungen kurz nach der Jahrtausendwende in den Fokus gerückt. Im Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 ist erstmals festgehalten, dass Barrierefreiheit auch in Bezug auf „Systeme der Informationsverar‐ beitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunika‐ tionseinrichtungen“ (gesetze-im-internet.de/ bgg/ BJNR146800002.html) ermöglicht werden soll. Leichte Sprache kann als eine Varietät des Deutschen aufgefasst werden. 2006 wurde vom Netzwerk Leichte Sprache ein Regelwerk herausgege‐ ben, das in der Sprachwissenschaft kritisch rezipiert wird. Ein sprach‐ wissenschaftlich fundiertes Werk wurde von Bredel/ Maaß im Duden- Verlag (Dudenredaktion 2016b) veröffentlicht. Die zugrunde liegende Idee Leichter Sprache ist, dass Strukturen der Standardsprache vereinfacht werden, um Menschen mit Leseeinschrän‐ kungen, wovon in Deutschland etwa 20 Millionen Einwohner: innen betroffen sind, die Teilhabe an Schriftkultur (z. B. an Behördenkommu‐ nikation) zu erleichtern beziehungsweise zu ermöglichen. Von Bedie‐ nungsanleitungen über Zeitungsartikel bis hin zu literarischen Texten können alle Texte in Leichte Sprache ‚übersetzt‘ werden. Vereinfachun‐ gen finden auf Zeichen-, Wort-, Satz- und Textebene statt. Eine Auswahl zentraler Veränderungen wird im Folgenden aufgelistet (s. ausführlich Dudenredaktion 2016b): 302 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="303"?> ■ Multikodalität: verbale durch nonverbale Informationen (z. B. Bil‐ der) unterstützen, ■ Grundwortschatz verwenden, ■ kurze Wörter verwenden, ■ Fach- und Fremdwörter vermeiden, ■ komplexe Wörter durch Mediopunkte gliedern (Winter.ferien), ■ Komposita vermeiden, ■ komplexe und bildungssprachliche grammatische Strukturen ver‐ meiden (z. B. Konjunktiv, Präteritum, Nebensätze, Nominalstil, Pas‐ siv oder Genitiv), ■ Sätze auf eine Aussage reduzieren, ■ Personalpronomen der 3. Person durch Bezugsnomen ersetzen, ■ Texte in Zwischenüberschriften gliedern, ■ verantwortungsbewusst mit Metaphern umgehen (verständniser‐ leichternde Metaphern einsetzen, verständniserschwerende vermei‐ den). Auch im schulischen Kontext kann die Lesbarkeit von Texten durch die Generierung einer „verständlichkeitsoptimierten Sprache“ (Bredel/ Maaß 2019: 81) erhöht werden. Bredel/ Maaß (Dudenredaktion 2016b: 10 f.) unterscheiden die drei Kernfunktionen Partizipationsfunktion (Teilhabe ermöglichen), Lernfunktion (Einüben in Textpraxis und Wege zum Standard ebnen) und Brückenfunktion (Überbrückung temporärer oder lokaler Verstehenshürden) und bemühen alle drei Funktionen auch für einen inklusiven Unterricht. Sie weisen auf die Chancen hin, die der Einsatz Leichter Sprache im Unterricht eröffnen kann, etwa in Bezug auf die Förderung des Erwerbs sprachlicher Muster bei DaZ-Lernenden durch die Wiederholung einfacher syntaktischer Strukturen oder den Erwerb fachlichen Wissens durch verständlichkeitsoptimierte Texte (Bredel/ Maaß 2019: 85). Gleichzeitig diskutieren sie Gefahren, die mit dem Einsatz Leichter-Sprache-Texte verbunden sind, zum Beispiel die Gefahr, dass Kinder separiert und stigmatisiert werden, und skizzieren Dilemmata, die mit Leichter Sprache im Unterricht einhergehen. Eigens zu diskutieren ist der Einsatz Leichter Sprache für den Litera‐ turunterricht (Rosebrock 2019; s. hierzu auch den Kasten zu Leichten Texten →-S.-152-ff.). Hier stellt sich die Frage, inwieweit es literaturdi‐ daktisch sinnvoll und vertretbar ist, in die Einzigartigkeit literarischer 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 303 <?page no="304"?> kombi‐ nierte Ansätze Texte, die sich auch aus deren sprachlich-ästhetischer Form ergibt, einzugreifen. Eine weniger konsequent, aber im Vergleich zur Standard‐ sprache dennoch reduzierte Form der Sprache, in der von einigen Verlagen literarische Texte herausgegeben werden, ist die sogenannte Einfache Sprache, für die es kein Regelwerk gibt, die aber auch dem Prinzip folgt, die Lesbarkeit von Texten zu erleichtern. Der Umgang mit Leichter Sprache im Unterricht erfordert ein hohes Maß an Professionalität und sprachlichem Wissen und stellt Lehrkräfte vor eine Menge an Problemen und Situationen, die immer wieder neuen lehrkraftseitigen Abwägens bedürfen. In neueren Ansätzen lösen sich die oben dargestellten gegensätzlichen Vor‐ stellungen zum Teil auf. Beispielsweise schließt eine rezeptive Begegnung mit Wörtern ein produktives Handeln mit diesen nicht aus. Vielmehr bedin‐ gen sich die beiden Formen und ergänzen sich optimalerweise, wie etwa Kühn (2000) oder Kurtz (2012) betonen. Auch empirische Studien (s. z. B. die Meta-Studie von Marulis/ Neumann 2010) legen nahe, dass eine Kombina‐ tion unterschiedlicher Ausrichtungen erfolgversprechend ist. So zeigt etwa Cinar (2019) für den Erwerb eines bildungssprachlichen Wortschatzes im Elementarbereich, dass eine gezielte kontextuelle Verankerung des Inputs und eine Kombination „impliziter Wortschatzvermittlung mit Varianten der interaktiven Aushandlung von Bedeutungen im Bereich des grundlegenden Wortschatzes“ (ebd.: 172) den L2-Wortschatzerwerb am besten fördern. Methoden der Wortschatzarbeit Methodische Vorschläge zu einer transkonzeptionellen Integration macht Selimi (2016: 51 ff.). Er bietet eine Auflistung an methodischen Möglichkeiten der unterrichtlichen Wortschatzarbeit und greift dabei auf verschiedene konzeptionelle Richtungen zurück: 1. Wortbedeutungen im Kontext vernetzen, 2. Begriffe aus dem Kontext erschließen und ordnen, 3. Arbeit mit Ober- und Unterbegriffen, 4. den Wortschatz über den Rhythmus üben und festigen, 5. den Wortschatz mit semantischen Wortlisten erweitern, 6. den Wortschatz durch Textpräsentationen festigen, 304 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="305"?> 7. den Wortschatz mit Wortfamilien und Wortfeldern systematisch festigen, 8. mit Antonymen und Synonymen bewusst umgehen, 9. Texte mit Schlüsselwörtern entschlüsseln, 10. Zusammensetzungen und Ableitungen entschlüsseln, 11. Umgang mit Fachwortschatz und Fachtexten, 12. den Wortschatz mit Mindmap und Cluster strukturieren und erwei‐ tern, 13. Wortbeziehungen mit Begriffsnetz und Advance Organizer visuali‐ sieren, 14. Wortzusammenhänge mit der Strukturlegetechnik erklären, 15. feine Unterschiede der Vieldeutigkeit von Wörtern erkennen, 16. Redewendungen bewusst aufnehmen, 17. Metaphern bewusst anwenden. Viele der hier aufgeführten Möglichkeiten finden sich in den Folgekapiteln dargestellten Konzeptionen wieder. Bildungssprache und sprachliche Vielfalt In den letzten Jahren wurde der Fokus besonders im Zusammenhang mit Deutsch als Zweitsprache und der viel zitierten Wendung der gesellschaftlichen Teilhabe stark auf die Förderung von Bildungssprach‐ lichkeit und eines Bildungswortschatzes gelegt (z. B. Heller/ Morek 2021; Augst 2020; Selimi 2020; Cinar 2019, → S. 25). Darunter wird ein sprachliches Register verstanden, das sich durch spezifische grammati‐ sche und lexikalische Formen auszeichnet, „wie man sie im schulischen und akademischen Bereich findet“ (Feilke 2012: 5), etwa Nominalisierun‐ gen, Komposita, Passivkonstruktionen oder Partizipialattribute. Solche Formen sind für Texthandlungen wie Erörtern, Erklären oder Beschrei‐ ben, die im Unterricht aller Fächer zentral sind, basal. Nun wird die Orientierung an Bildungssprache und die diesbezügliche Förderung von Schülerinnen und Schülern gerade aus bildungssprachfernem Um‐ feld insbesondere vor dem Hintergrund einer ‚inklusiven Wende‘ als zentrale Aufgabe der Institution Schule deklariert, um etwa sozialisati‐ onsbedingte Erwerbsnachteile so gut wie möglich auszugleichen und 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 305 <?page no="306"?> dazu beizutragen, dass Lernende durch mangelnde bildungssprachliche Fähigkeiten gesellschaftlich nicht benachteiligt sind. Andererseits ist die Fokussierung eines bestimmten Registers, was schon an der singulären Formulierung Bildungssprache zu erkennen ist, stark an Normen gebun‐ den, deren Forcierung den inklusiven Gedanken wieder konterkariert. In diesem Zusammenhang wird zunehmend auch die Frage diskutiert, wie die Orientierung an sprachlichen Normen in Vermittlungsprozessen vor dem Hintergrund des Ziels, sprachliche Vielfalt zu fördern (Hochstadt 2019), bewertet werden soll (Kern 2019). Bock (2019) stellt diese Frage mit der generellen Problematik des Verhältnisses von individuellen Handlungsmöglichkeiten und institutionellen sowie gesellschaftlichen Kontexten in einen Zusammenhang. Letztere geben Erwartungen vor, die das Handeln der Lehrenden und Lernenden prägen. Das bedeutet, dass sich Unterrichtsprozesse stets im Rahmen von institutionellen und gesellschaftlichen Normerwartungen abspielen. Diese spiegeln sich nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in bildungspolitischen Vorgaben wider. Solche Normvorstellungen können sich ändern. Wurde lange Zeit etwa Dialekt in Bildungskontexten abgewertet, so beobachtet man in den vergangenen Jahren - parallel zur Fokussierung von Bil‐ dungssprachlichkeit - eine Einstellungsänderung und den bildungspoli‐ tischen Versuch, die Bedeutung dialektalen Sprechens und dessen Image zu stärken und dialektale Varietäten als Teil von Mehrsprachigkeit zu definieren (Hochstadt 2019 u. 2020). Lektüreempfehlungen zur Vertiefung K I L IA N , J./ E C K H O F F , J. (Hg.) (2015) (verschiedene Beiträge unter anderem zu Wort‐ schatzdidaktik und Wortschatzarbeit im Unterricht) K I L IA N , J. (2021) (aktueller und praxisnaher Überblick zu Wortschatzerwerb und Wortschatzlernen) M E R T E N , S./ K U H S , K. (Hg.) (2021) (vierter Band einer Reihe, die seit 2015 erscheint und Wortschatzarbeit im Zusammenhang mit verschiedenen weiteren Teilberei‐ chen des Deutschunterrichts behandelt) P O H L , I./ U L R I C H , W. (2016) (Überblickswerk; enthält zahlreiche Publikationen zu theoretischen, didaktischen und empirischen Fragen) S E L I M I , N. (2016) (sehr praxisnahes Werk mit zahlreichen Unterrichtsideen) 306 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="307"?> Definition Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht K I L IA N , J. (2019) (stellt Ansätze adaptiver Wortschatzarbeit im inklusiven Deutsch‐ unterricht dar) N E U M A N N , A. (Hg.) (2013) (enthält verschiedene Beiträge zum Zusammenhang von Wortschatzarbeit und mehrsprachigkeitsbedingter Heterogenität) Grammatikunterricht Bildungsstandards sprachliche Verständigung untersuchen - an Wörtern, Sätzen, Texten arbeiten - Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entde‐ cken - grundlegende sprachliche Strukturen und Begriffe kennen und verwenden - Äußerungen/ Texte in Verwendungszusammenhängen reflektieren und bewusst gestalten - Textbeschaffenheit analysieren und reflektieren - Leistungen von Sätzen und Wortarten kennen und für Sprechen, Schreiben und Textuntersuchung nutzen - Laut- Buchstaben-Beziehungen kennen und reflektieren Das Merkwürdige am Grammatikunterricht ist, daß es ihn immer noch gibt. (Köller 1997: 9) Der Sinn von Grammatikunterricht wird in der Deutschdidaktik seit jeher kontrovers diskutiert (zur Geschichte der Grammatikdidaktik s. Ossner 2015). Der Terminus steht nach Funke für Versuche, durch Kommunikation über syntaktische Strukturen und Merkmale im Unter‐ richt sowie durch Vorgabe metasprachlicher Aufgabenstellungen Anstöße zur Ausbildung grammatischen Wissens bei Schülerinnen und Schülern zu geben. (2001: 380) Dies kann sowohl im Fremdals auch im erstbzw. zweitsprachlichen Unterricht der Fall sein. Die Assoziationen, die viele Menschen zum Gram‐ matikunterricht haben, sind sehr negativ - dies gilt auch für angehende Deutschlehrkräfte (Dämmer 2019; Bremerich-Vos 1999). Auch die Untersu‐ chung von Ivo/ Neuland bestätigt die Ambivalenz, mit der der Sinn von Grammatikunterricht beurteilt wird: Obwohl die Befragten wenig von der Grammatik wüssten und keine guten Erinnerungen an ihren Grammatikun‐ 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 307 <?page no="308"?> Stellen‐ wert terricht hätten, hielten sie „daran fest, daß Grammatikunterricht sein muß“ (1991: 437). Der Grammatikunterricht hat also keinen leichten Stand. Immer noch dominiert ein eng gefasster, traditioneller Grammatikbegriff ( → 6.5), der sich vornehmlich auf klassische Wortarten und Satzglieder beschränkt, ausschließlich an einem alltagsfernen Standardschriftdeutsch orientiert ist und nicht an der Sprachrealität der Schüler: innen ansetzt. Seine Realität sieht laut Hoffmann so aus, dass er an einer veralteten Terminologie leide und letztlich nur dem Rechtschreibunterricht diene (2005: 24). Dabei könnte die Bedeutung von Grammatikunterricht viel weiter gefasst sein, als lediglich ‚Ort‘ für stupide Klassifizierungshandlungen oder ausschließlich orthographisches Lernen zu sein, wie auch die inzwischen in den bildungs‐ politischen Richtlinien dominante Bezeichnung Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren zeigt. Studierende sind in Seminaren zunächst sehr verwundert, wenn man mit ihnen darüber spricht, dass grammatisches Lernen immer den kritischen Dialog über grammatische Kategorisierun‐ gen, über sprachliche Normen und die Orientierung an verschiedenen Sprachverwendungskontexten (und nicht nur der bildungssprachlichen Schriftsprache) einschließen sollte. Auch sprachliche Zweifelsfälle und der Blick auf grammatische Phänomene, die üblicherweise, wenn überhaupt, nur peripher behandelt werden - zum Beispiel Interjektionen (ey, oha) oder Verschmelzungen (beim, zum) -, grammatische Mittel in Bilderbü‐ chern, die Auseinandersetzung mit grammatischen Strukturen im Bereich der Werbung, die Beschäftigung mit Dialekt oder bestimmten Registern, die kontrastive Gegenüberstellung syntaktischer Strukturen verschiedener Nationalsprachen sollten selbstverständlich zum Gegenstandsbereich von Grammatikunterricht gehören: Die (selbständige) Verbesserung der eigenen mündlichen und schriftlichen Aus‐ drucks- und Interpretationsfähigkeit unter Nutzung aufgebauten grammatischen Wissens, das sich an der sprachlichen Wirklichkeit orientiert, und anhand grammatischer Verfahrensweisen, die in verschiedenen Kontexten anwendbar sind, ist schließlich nicht nur für den Deutschunterricht und alle anderen Unter‐ richtsfächer, sondern auch für private und berufliche Zusammenhänge von hoher Bedeutung. (Berkemeier/ Hoppe 2001: 8) Für grammatikunterrichtliche Überlegungen sind zum Beispiel folgende Fragen relevant: Was ist grammatisches Können? Was ist grammatisches Wissen? Sollen Grammatikunterricht und das darin ausgebildete Wis‐ 308 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="309"?> sen einen eigenen Bildungswert haben (s. hierzu Peyer 2021: 87)? Hilft Grammatikunterricht beim Erlernen von Fremdsprachen? Sollte ein gut (aus-)gebildeter Mensch seinen Sprachgebrauch metasprachlich erklären und Alternativen kommunizieren können? Kann Grammatikunterricht den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, besser lesen und schreiben - und auch sprechen und zuhören - zu lernen? Wie werden grammatische Normen bewertet (Hochstadt 2020b)? Auf manche dieser Fragen geben die im Folgenden dargestellten Konzeptionen (kontroverse) Antworten, andere sind aufgrund einer unzureichenden empirischen Basis (bisher) nicht klar zu beantworten. Können und Wissen Die Frage nach dem Verhältnis von Können und Wissen ist eine der Grundfragen der Grammatikdidaktik. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Termini geläufig, die unterschiedlich gebraucht werden, zum Beispiel Können, (explizites und implizites) Wissen, Sprachbe‐ wusstheit, primär- und metasprachliche Fähigkeiten etc. Funke (2005) stellt fest, dass explizites sich nicht einfach in implizites Wissen ‚um‐ wandeln‘ lasse (s. hierzu auch Bredel/ Schmellentin 2014). So wird es etwa Schreibenden, die Schwierigkeiten im Bereich der Kommasetzung haben, kaum gelingen, allein auf der Basis des Lernens von Regeln ihre Kommatierungsfähigkeiten zu verbessern. Ein Kind aus der dritten Klassenstufe, das eine Regel zur Großschreibung von Nominalphrasen‐ kernen auswendig aufsagen kann, muss noch lange nicht dazu in der Lage sein, im Schreibprozess Großschreibungen zuverlässig zu realisie‐ ren. Daher müsse nach Funke auf zwei grammatischen Lernebenen gleicher‐ maßen gearbeitet werden: auf der Ebene expliziter grammatischer Beschreibung, auf welcher eine gedankliche Bewegung von Einzelfällen zur begrifflichen Generalisierung stattfindet, sowie auf der Ebene impliziten grammatischen Wissens, auf welcher sich aus instabilen und flüchtigen sprachlichen Intuitionen ein zunehmend zuverlässiges Vertrautsein mit syntaktischer Information, ihr Wiedererkennen, entwickeln kann. (2001: 383) Der klassische Lernweg, von dem in der Schule häufig ausgegangen wird (explizite Vermittlung - reflexive Durchdringung - Übung - 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 309 <?page no="310"?> formal und funktional zukünftige Aufgaben sprachliches Können), ist mit dieser Auffassung nicht vereinbar. Deshalb müssen Lernwege konzipiert werden, die von Grund auf könnensorien‐ tiert sind (Hochstadt 2015). Noch fehlt der Grammatikdidaktik aber die notwendige empirische Basis, um gesicherte Aussagen zum Verhältnis grammatischen Wissens und sprachlichen Könnens treffen zu können und didaktisch umzusetzen. In diesem Zusammenhang könnte auch der bisher unscharf bleibende Begriff des Sprachgefühls (Langlotz et al. 2014) eine zentrale Rolle spielen. Zudem rückt in jüngster Vergangenheit der Begriff der Grammatikkompetenz (Funke 2020) in den Fokus. Einen Einblick in die aktuelle Forschung zu diesem Thema geben Langlotz (2020), Bredel/ Schmellentin (2014) und zahlreiche Beiträge in Gornik (2015a). Innerhalb der Grammatikdidaktik hat sich seit den 1950er-Jahren viel getan. Immer wieder wird betont, wie sinnvoll die Verknüpfung einer formalen mit einer funktionalen Perspektive auf sprachliche Elemente sei (etwa Granzow- Emden 2015; Köller 2015; Rothstein 2015). Darüber hinaus ist die Polarisie‐ rung von systematischen und situativen Ansätzen durch einen integrativ ausgerichteten Weg relativiert (Wieland 2013). Dass Grammatikunterricht systematisch aufgebaut sein und gleichzeitig Raum für situationsgebundene Arbeit geben soll, wird nicht mehr ernsthaft bestritten. Hintergrundinformation Ein Ansatz, der in den 1970er-Jahren populär war, wird häufig als systematischer Grammatikunterricht (Gornik 2006: 818 f.) bezeichnet. Die verschiedenen Konzeptionen unterscheiden sich zum Teil nicht nur in ihrem grundlegenden Verständnis von Grammatik, sondern vor allem auch im Hinblick auf die unterrichtlichen Ziele, die Prinzipien, an die sie grammatisches Lernen knüpfen, und die methodische Ausrichtung. Fast alle können als klassisch erstsprachlich orientiert charakterisiert werden. Erst in den letzten Jahren werden sie erweitert durch Ansätze, die auch die Perspektive der Mehrsprachigkeit berücksichtigen. Zukünftig wird die Grammatikdidaktik eine Reihe von Aufgaben zu bewältigen haben (s. auch Gornik 2015b: 54). Dazu gehört, 310 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="311"?> ■ sich im Spannungsfeld zwischen DaE- und DaZ-Didaktik neu zu de‐ finieren, entsprechende Aufgaben zu erkennen und anzugehen und entsprechende konzeptionelle Ausrichtungen weiterzuentwickeln, ■ die empirische Basis für die konzeptionellen Ausrichtungen auszuwei‐ ten, ■ sich im Rahmen der Kompetenzorientierung zu positionieren, ■ das Verhältnis zu anderen deutschdidaktischen Teilbereichen verschärft zu reflektieren, ■ ein konzeptionell sinnvoll begründetes, umfassendes Curriculum zu entwickeln (Ossner 2006b). Ein Versuch, die letzte der aufgeführten Aufgaben zu erfüllen, liegt mit dem in Baden-Württemberg 2021 erschienenen Grammatikrahmen (Minis‐ terium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg) vor. Er stellt eine Alternative zum Verzeichnis grundlegender terminologischer Fachaus‐ drücke (Leibniz-Institut für deutsche Sprache 2020) dar, das jüngst komplett überarbeitet wurde, weil er über terminologische Fragen hinausgeht und Lehrkräften auch spiralcurriculare, klassenstufenspezifische und inhaltliche Orientierung bietet (s. ausführlicher Hochstadt 2021). Zum Grammatikrah‐ men erschien ebenfalls 2021 eine Begleitgrammatik von Jakob Ossner, der auch federführend bei der Erstellung des Rahmens mitwirkte. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B R E D E L , U. (2013) (umfassendes Grundlagenbuch der Grammatikdidaktik; stellt fachdidaktische Zusammenhänge auf hohem Niveau studierendenorientiert dar) G O R N I K , H. (2006) (systematisch aufgebauter und verständlich geschriebener Über‐ blick über grammatikdidaktische Konzeptionen) G O R N I K , H. (2015a) (Überblick über die aktuelle Forschung mit Beiträgen zu ver‐ schiedenen grammatikdidaktischen Fragestellungen) G R A N Z O W -E M D E N , M. (2019) (bietet einen Einblick in ein fortschrittliches, modernes Verständnis von Grammatikunterricht) L A N G L O T Z , M. (2019) (Handbuchartikel zum Stichwort Grammatikdidaktik, der einen sehr guten Überblick über aktuelle Fragestellungen und didaktische Ansätze gibt) O S S N E R , J. (2021) (für den Grammatikrahmen des Landes Baden-Württemberg zugrunde liegendes Werk, das curricular orientiert grammatische Inhalte klas‐ senstufenweise behandelt) W I E L A N D , R. (2013) (kritischer Überblick über grammatikdidaktische Fragestellun‐ gen, Zielsetzungen und Konzeptionen) 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren 311 <?page no="312"?> Lektüreempfehlungen für einen inklusionsorientierten Unterricht H O C H S T A D T (2019) (Grundlagenartikel zum Begriff der sprachlichen Vielfalt) H O C H S T A D T (2020b) (dieser Artikel beschäftigt sich explizit mit dem Zusammenhang von Inklusion und Grammatikunterricht) K E R N (2019) (kritische, heterogenitätsorientierte Auseinandersetzung mit sprachli‐ chen Normen) 6.1 Traditionelle Wortschatzarbeit Wenn du beschreiben möchtest, wie dein Freund isst, stehen dir viele Wörter aus dem Wortfeld essen zur Verfügung […]. Wählt nun sechs eurer Wörter aus und bildet mit ihnen jeweils einen Satz. (Baumbusch/ Laub 2011: 6) Der T R ADITION E LL E N W O R T S CHATZA R B E IT kommt, wie die folgende Darstellung zeigt, hauptsächlich eine ‚dienende‘ Funktion für andere Lernbereiche des Deutschunterrichts zu. Sie setzt sich zusammen aus Einzelverfahren, die sich in der schulischen Praxis konsequent halten, obwohl sie in der ausgeführten Form auf keinem konzeptionellen Fundament basieren. Darstellung Wortschatzarbeit in der Schule wird traditionell nicht systematisch, sondern eher punktuell durchgeführt. Diese vereinzelte, kontextisolierte Beschäfti‐ gung mit dem Wortschatz erschöpft sich nach Kühn in „wort- oder satzbe‐ zogene[n] Einsetz- oder Ergänzungsübungen […] ohne Berücksichtigung lernpsychologischer Aspekte“ (2000: 12). Obwohl er seine Kritik vorrangig auf den Bereich DaF bezieht, kann man sie doch weitgehend auch auf die regelunterrichtliche Praxis übertragen. Im erstsprachlich orientierten Regelunterricht lassen sich für die T R ADI ‐ TION E LL E W O R T S CHATZA R B E IT folgende Bereiche unterscheiden: ■ die Beschäftigung mit Wortfeldern (z. B. sagen, gehen), die meist im Zusammenhang mit stilistischen Aufsatzübungen stattfindet Ziel solcher Übungen ist es, dass Schüler: innen lexikalisches Material an die Hand bekommen, mit dem sie sich in ihren Texten differenzier‐ ter ausdrücken können. Gerade im Zusammenhang mit sogenannten 312 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="313"?> Sprechhandlungsverben (sagen, rufen, bitten) wird diesen Übungen in der Praxis eine besondere Bedeutung beigemessen. ■ Wortfamilienarbeit, die im Zusammenhang mit Rechtschreibübungen eine Rolle spielt Wortfamilienarbeit wird vorrangig dann mit den Schülerinnen und Schülern durchgeführt, wenn es um die Erschließung von Schreibungen geht, die auf das morphologische Prinzip zurückzuführen sind (fahren - Fährte-- Fuhrwerk - abgefahren). Eine differenzierte Beschäftigung mit dem lexikalischen Material ist dabei jedoch häufig zweitrangig. ■ singuläre Wortbedeutungsklärungen im Zusammenhang mit Leseprozes‐ sen in der Unterrichtspraxis, die an die berühmte Frage anschließen: „Gibt es Wörter, die ihr nicht verstanden habt? “ Dass das Wörterbuch ein sinnvolles Instrument darstellt, um die Bedeu‐ tung und die syntaktischen Eigenschaften von Wörtern zu untersuchen, wird in der T R ADITIO N E LL E N W O R T S CHATZA R B E IT meist verkannt. Die Arbeit mit einem Wörterbuch wird dort oft ausschließlich rechtschreib‐ didaktisch begründet. Ihr Ziel beschränkt sich dann darauf, dass die Lernenden Wörter mit unbekannter Schreibweise nachschlagen und anschließend richtig schreiben können sollen (→-3.2). Problematisierung Alle Aktivitäten der T R ADITION E LL E N W O R T S CHATZA R B E IT können situations‐ gebunden wichtig sein. Eine Beschränkung der Wortschatzarbeit auf tradi‐ tionelle Methoden jedoch lässt die Arbeit am mentalen Lexikon letztlich unsystematisch und zufällig bleiben und erschöpft die Notwendigkeit und das Potenzial einer Wortschatzförderung gerade für Schüler: innen mit defizitärem Lexikon (bei denen es sich häufig, aber nicht ausschließlich um Schüler: innen mit Deutsch als Zweitsprache handelt) bei Weitem nicht. Die Beschränkung auf wenige Wörter und Wortfelder wird dem Erfor‐ dernis, dass Wortschatzarbeit - wie auch andere Lernbereiche des Deutsch‐ unterrichts - eine kontinuierliche, differenziert didaktisierte Beschäftigung erfordert, nicht gerecht. Dass singuläre Wortbedeutungserklärungen im Rahmen von Textarbeit nicht nachhaltig sind und dazu oft noch über die Köpfe der Schüler: innen hinweg formuliert werden, zeigt folgender Auszug aus einem Unterrichtstranskript: 6.1 Traditionelle Wortschatzarbeit 313 <?page no="314"?> 22: 00-22: 04 L1 Sind schwierige Wörter in dem Text drin, die ihr nicht verstanden habt? 22: 04-22: 08 L1 …alles verstanden? 22: 08-22: 09 S Ja. 22: 09-22: 10 L1 Dann hör‘ ich da mal genauer nach. 22: 10-22: 12 L1 Was ist denn höhnisch, höhnisch lachen? 22: 12-22: 16 L1(S2) Wenn man höhnisch lacht, Joshua? 22: 16-22: 18 S2 Das ist wie (? ). 22: 18-22: 20 L1(S2) Mhm (nein)…nicht ganz. 22: 20-22: 25 L1 Er lacht höhnisch, haha ihr Bienen, jetzt kriegt ihr meinen Nektar nicht mehr. 22: 25-22: 26 L1(S20) Sabine 22: 26-22: 37 S20 Mhm (über) (? )…mit dem lachen halt…lachen dass die anderen nichts mehr kriegen 22: 37-22: 39 L1(S20) Ja, mit böser Absicht so. 22: 39-22: 40 L1(S13) Ja. 22: 40-22: 41 S13 Schadenfroh. 22: 41-22: 42 L1(S13) Schadenfroh wär ein anderes Wort dafür, mhm (ja). 22: 42-22: 44 L1 Was ist denn Gesindel? 22: 44-22: 46 L1 Diebe, Gesindel! 22: 46-22: 50 L1(13) Pauline. 22: 50-22: 58 S13 Das ist, das war früher ein Wort für die wo (? ) 22: 58-22: 59 L1(S13) Richtig, ne. 22: 59-23: 04 L1 Leute, die so rumgestreunt sind, Sachen angestellt ha‐ ben, ne, sagt man Gesindel dazu, mhm. 23: 04-23: 05 L1 Genau. Abb. 10: Auszug aus einem Unterrichtstranskript (n. Merten 2012: 65) Merten fasst die Problematik, die sich in diesem Beispiel widerspiegelt und Alltag an deutschen Schulen ist, zusammen: 314 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="315"?> Es wirkt eher wie eine Alibiveranstaltung, wenn die Lehrerinnen nach der Bedeutung unbekannter Wörter fragen, sie dann aber dem Ergebnis wenig Relevanz beimessen. An keiner Stelle in unseren Beispielen überprüfen sie, ob die Kinder das Wort tatsächlich verstanden haben. (2012: 66) Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine isolierte Wortschatzvermittlung eine Wortschatzautonomie suggeriert (Kühn 2010b: 1252), die nicht gegeben ist. Ein gutes Beispiel, um zu verstehen, was damit gemeint ist, ist die Behandlung alternativer Satzanfänge in Texten von Grundschulkindern: Häufig erhalten die Schüler: innen ein lexikalisches Korpus (z. B. in Form von Wörtersammlungskarten), dem sie Wörter/ Wendungen (danach, auf einmal, plötzlich) entnehmen und diese beliebig an entsprechenden Stellen in Texten einsetzen sollen. Hilfestellungen zur sinnvollen kontextbezogenen Einbindung und zur Bedeutung dieser Ausdrücke bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Dass die Beschäftigung mit isolierten Wörtern auch verbunden werden kann mit einer kontextualisierten Auseinandersetzung, zeigt Stahl, der beides in der Aufstellung dreier Prinzipien (1986: 663 ff.) für die Wortschatz‐ arbeit vereint: ■ Give both context and definitions (sowohl Kontext als auch Definition einbinden; Übers. hier und im Folgenden: C. H./ A. K./ R. O./ C. M.), ■ Encourage ‚deep processing‘ (tiefe Verarbeitung fördern), three different levels of processing: association, comprehension, generation (drei un‐ terschiedliche Verarbeitungsstufen: Assoziation, Verständnis, Erzeugung), ■ Give multiple exposures (mehrfache Betrachtungsweisen ermöglichen). Er führt dazu aus, dass eine tiefe, intensive Auseinandersetzung mit einem Wort wesentlich lernförderlicher sei als eine oberflächliche assoziative Beschäftigung. Den geringsten Effekt habe ein rein definitorisches Lernen (ebd.: 665). Die in den Folgekapiteln vorgestellten Konzeptionen versuchen zu be‐ rücksichtigen, dass diese Effektivität von Wortschatzarbeit eine kontextuelle Einbindung genauso wie eine intensive Beschäftigung mit dem lexikalischen Material auf verschiedenen Ebenen voraussetzt. 6.1 Traditionelle Wortschatzarbeit 315 <?page no="316"?> Aufgaben 1. Machen Sie sich Gedanken über den Terminus Wortschatz. Was drückt er für Sie aus? 2. Haben Sie Ideen, wie die Lehrperson im oben transkribierten Unter‐ richtsausschnitt ein ‚deep processing‘ mit den Wörtern höhnisch und Gesindel hätte fördern können? Ziehen Sie für Ihre Überlegungen andere wortschatzdidaktische Konzeptionen heran. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung M E R T E N , S.-(2012) (enthält Transkriptauszüge aus Unterrichtsstunden, die verdeut‐ lichen, wie Wortschatzarbeit traditionell peripher ‚abgearbeitet‘ wird) U L R I C H , W. (2016c) (anschauliche, kritische Auseinandersetzung mit der tradierten Wortschatzarbeit; Beispiele) 6.2 Lexikonorientierte Wortschatzarbeit Die Anreicherung und Erweiterung des impliziten Bedeutungswissens erfolgt nicht allein durch Folgebegegnungen mit einem neuen Lexem in anderen Kon‐ texten und Verwendungssituationen, sondern eben auch durch Untersuchung der semantisch-lexikalischen Vernetzung, also durch den Erwerb expliziten Bedeutungswissens. (Ulrich 2013a: 34) Die L E XIKO NO R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT , die auch als semantisch-lexikali‐ scher Ansatz bezeichnet wird, zielt auf eine systematische Wortschatzarbeit ab, bei der Lexeme grundsätzlich in Beziehung zu anderen Lexemen und zu Kontexten gestellt werden. Mit dem Begriff Lexikon im Sinne eines Nachschlagewerkes hat der Begriff also nur mittelbar zu tun. Das Ziel einer lexikonorientierten Wortschatzarbeit liegt in der Entwicklung des individuellen mentalen Lexikons der Lernenden. Dabei geht es übergeord‐ net um die Ausbildung mündlich- und schriftsprachlich kommunikativer Kompetenzen. Darstellung Innerhalb der Deutschdidaktik wird eine L E XIK ON O R I E NTI E R T E W O R T S CHATZ ‐ A R B E IT hauptsächlich von Ulrich vertreten. Zu Beginn seines Buches Wörter, 316 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="317"?> Wörter, Wörter - Wortschatzarbeit im muttersprachlichen Deutschunterricht (2013a) umreißt er die linguistischen Bezugstheorien der Wortschatzdidak‐ tik allgemein. Erläuterung Als Wortfeld bezeichnet man eine Menge von Wörtern, die partiell be‐ deutungsgleich sind, also mindestens ein semantisches Merkmal teilen (Stuhl - Tisch - Bett - Schrank). Später bezieht er sich explizit auf die Merkmalssemantik - in diesem Zusam‐ menhang gewinnt auch die Wortfeldtheorie wieder an zentraler Bedeutung - und auf die Prototypentheorie (ebd.: 38). Den Lernenden sollen, indem sie Lexembedeutungen untersuchen, semantische Beziehungen im menta‐ len Lexikon bewusst werden. Ulrich spricht von einem „‚Nachzeichnen‘ verbundener lexikalischer Strukturen“ (ebd.: 34). Dieses solle zu einer sprachrezeptiv wie -produktiv bedeutsamen „Sensibilisierung für feinere Bedeutungsunterschiede“ (ebd.) führen. Erläuterung Die Merkmalssemantik versteht Bedeutung als Kombination von Semen, von einzelnen semantischen Merkmalen. Dem Ausdruck Mädchen kön‐ nen demnach die Merkmale +Mensch, -erwachsen, +weiblich zugeschrie‐ ben werden. Die Prototypentheorie geht bei der Beschreibung von Bedeutungen von Prototypen aus und berücksichtigt auch periphere Bereiche. Während die Amsel z. B. ein prototypischer Vogel ist, ist der Pinguin im Randbe‐ reich anzusiedeln. Er betont die Notwendigkeit, Wortschatzarbeit an einen Kontext zu bin‐ den, bemerkt aber gleichzeitig, dass eine nachhaltige und differenzierte Aneignung nur durch die explizite Beschäftigung mit dekontextualisierten Lexemen und deren syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zu anderen Lexemen möglich sei. 6.2 Lexikonorientierte Wortschatzarbeit 317 <?page no="318"?> Komplexe der Wort‐ schatzar‐ beit Ziele Erläuterung Syntagmatische Beziehungen bestehen zwischen Ausdrücken, die ne‐ beneinander stehen (Der Hund bellt.). Innerhalb eines Syntagmas mit‐ einander austauschbare Ausdrücke stehen in einer paradigmatischen Beziehung zueinander (bellt/ jault/ winselt). Dementsprechend unterscheidet er zwei Komplexe der Wortschatzarbeit: Während beim ersten durch die Herauslösung lexikalischer Einheiten aus ihren Verwendungszusammenhängen lexikalische Strukturen untersucht werden sollten (2013: 37), führe der zweite - textorientierte - an „die Förde‐ rung des produktiven Wortschatzes heran und damit an eine Verbesserung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit“ (ebd.). Die Ziele seiner L E XIK ON O R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT fasst Ulrich (2016b: 43) folgendermaßen zusammen: ■ „einen möglichst umfangreichen rezeptiven und produktiven Wort‐ schatz zu speichern, ■ das Bedeutungsprofil […] eines Lexems mit seinen Haupt- und Neben‐ bedeutungen sowie den jeweiligen semantischen Merkmalen zu kennen, ■ die Prozesse der Bedeutungserweiterung und der Bildung von Meta‐ phern/ Metonymien zu durchschauen, ■ eine möglichst umfassende analytische und produktive Wortbildungs‐ kompetenz zu erwerben, ■ das semantische Beziehungsnetz eines Lexems im Lexikon zu durch‐ schauen, ■ bei Bedarf den der jeweiligen Situation angemessensten Ausdruck aus dem mentalen Lexikon abzurufen, ■ die Sprechhandlungen/ Sprechakte und die Handlungssequenzen/ Skripts zu beherrschen, in denen ein Lexem gewöhnlich verwendet wird, ■ die Gebrauchsbedingungen eines Lexems mit Blick auf seine Konno‐ tationen (z. B. mundartliche oder gruppensprachliche Verwendung oder Zugehörigkeit zu Fachsprachen, Gebundenheit an Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, Stil) zu beachten, ■ die Bereitschaft und Fähigkeit zu entwickeln, semantische Unklarheiten durch Nutzung von Hilfsmitteln (Nachschlagewerken) zu beseitigen.“ 318 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="319"?> Unter‐ richtsma‐ terialien Die zahlreichen Unterrichtsmaterialien, die Ulrich entworfen hat, be‐ inhalten unter anderem folgende Aspekte: Gegensätze - themenbezogene Wortschatzarbeit (z. B. einkaufen) - Wörter, die nicht zusammenpassen - Oberbegriffe und Unterbegriffe - Wortfamilien - Kollokationen - zu‐ sammengesetzte Wörter - Mehrdeutigkeit. Darüber hinaus unterbreitet er praxisorientierte Vorschläge - zum Beispiel die Orientierung an Sprach‐ spielen (An der Brechstange halten sich Seekranke auf einem Schiff fest), Verfremdung zur Bewusstmachung als Voraussetzung der unterrichtlichen Gestaltung der Wortschatzarbeit (Ladendiebstahl als ‚Diebstahl eines Ladens‘) oder den Einsatz von Wörternetzen; zudem formuliert er 18 Grundsätze einer modernen Wortschatzarbeit (2016c: 540 ff.). An anderer Stelle skizziert er einen Vorschlag für den Aufbau einer Unterrichtseinheit: Bausteine einer lexikonorientierten Unterrichtseinheit 1. Motivierender Einstiegstext (Text als Sprache in Funktion; Beitrag der Wörter als Textelemente, mit ihrer jeweils aktuellen Bedeutung, zur Funktion des ganzen Textes, der Textsorte bestimmen: Was leistet der Text? Welchen Anteil haben daran die untersuchten Wörter? ) 2. Ausfiltern der zu untersuchenden Lexeme und Analyse ihrer Beson‐ derheiten 3. Sammeln weiteren Sprachmaterials (Benutzung von Wörterbü‐ chern) in Wörterlisten oder Clustern und dessen semantische Be‐ stimmung durch Kontextproben (implizit durch ‚innere‘ Satzbildung oder explizit durch Einsetzungs- oder Ergänzungsproben) 4. systematisches Ordnen der Lexeme (Nachzeichnen der semantischen Strukturen des mentalen Lexi‐ kons) 5. graphische Veranschaulichung des geordneten Materials 6. Einbettung der Lexeme in vorgegebene Texte (Lückentexte, Text‐ fragmente) und/ oder selbstständige Textproduktion mit Anwen‐ dung der erworbenen Kenntnisse (2016d: 553 f.) Die Grundlagen der L E XIK O NO R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZDIDAKTIK werden von Merten/ Kuhs (2012) und von Merten (2016b) in Bezug auf eine reflexions‐ orientierte Wortschatzarbeit in mehrsprachigen Klassen aufgenommen. 6.2 Lexikonorientierte Wortschatzarbeit 319 <?page no="320"?> Bei Merten finden sich entsprechende Vorschläge für Übungsformen, die die Arbeit mit Wortfeldern in den Mittelpunkt stellen und unter anderem die Bedeutung von Wörterbüchern für das lexikalische Arbei‐ ten deutlich machen. Ebenfalls reflexionsorientiert ist die Ausrichtung einer kritischen Wortschatzarbeit (Kilian 2015 u. 2016b), die noch immer fachdidaktisch randständig ist (zu einer Begründung und Vorschlägen für eine allgemeine Sprachkritik in der Schule s. Osterroth 2015). Hier geht es um die „Befähigung zur Kritik der Sprachnormen zum Zweck eines bewussten, gar mündigen produktiven und rezeptiven kritischen Umgangs mit lexikalisch-semantischen Einheiten“ (Kilian 2015: 332). Kilian (ebd.) gibt dafür wertvolle theoretische, didaktische und metho‐ dische Hinweise. Problematisierung Die L E XIKO NO R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT ist der Versuch, eine umfassende, theorieübergreifende und gleichzeitig stark praxisorientierte Konzeption vorzulegen, die die jahrzehntelange Stiefkindposition des Wortschatzunter‐ richts überwinden soll. Sie ruft eindrücklich die Bedeutung der Wortschatz‐ arbeit zurück ins fachdidaktische Gedächtnis und argumentiert schlüssig gegen die gewöhnlich angebrachten Bedenken, die der Wortschatzarbeit gegenüber geäußert werden (z. B.: zu viele Wörter, nimmt zu viel Zeit in Anspruch). Der Rückgriff auf verschiedene semantische Theorien verleiht der L E XIKO NO R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT eine vielfältige Ausrichtung, die unterschiedliche Möglichkeiten des mentalen Lexikonausbaus in sich vereint. Sie stellt zudem die Grundlage für wesentliche Aufgaben des Deutschunterrichts dar - etwa für die Thematisierung von Sprachkritik, Sprachspiel, Sprachwandel oder Mehrdeutigkeit. Außerdem bietet sie zahl‐ reiche methodische Möglichkeiten für alle Jahrgangsstufen. Problematisch ist die fehlende empirische Basis. Im deutschsprachigen Raum gibt es bisher keine entsprechende Forschung, die die Wirksamkeit der L E XIK ON ‐ O R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT auf produktive und rezeptive Sprachhand‐ lungsprozesse überzeugend darlegt. Eine weitere Schwierigkeit ist nach wie vor die überwiegende Ausrichtung auf erstsprachliche Lerner: innen. Hier liegen mit Merten (2016b) wichtige Vorschläge im Rahmen einer Mehrsprachigkeitsdidaktik vor. Die Vorstöße von Ulrich, Merten, Kilian und anderen sind ein bedeutender Schritt in Richtung einer Neuaufwertung von Wortschatzarbeit im Unterricht. 320 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="321"?> Aufgaben 1. Wählen Sie einen Text und planen Sie eine Unterrichtseinheit nach dem Vorschlag von Ulrich. Bestimmen Sie, welche Lexeme/ Lexemverbände aus dem Text besonders im Vordergrund stehen sollten. 2. Recherchieren Sie nach den ‚Unwörtern‘ der letzten drei Jahre. Überle‐ gen Sie, welche unterrichtlichen Zielsetzungen - auch im Hinblick auf eine kritische Wortschatzarbeit - Sie mit der Behandlung dieser Wörter formulieren könnten. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung K I L IA N , J. (2015) (begründet eine sprachkritische Ausrichtung sprachlichen Lernens) K I L IA N , J. (2016a) (führt alle wesentlichen Hintergründe zu einer kritisch ausge‐ richteten Wortschatzarbeit auf und gibt darüber hinaus unterrichtspraktische Vorschläge) U L R I C H , W. (2013a) (gibt eine kurze und verständliche theoretische Einführung, der eine umfassende Sammlung an Arbeitsblättern/ Kopiervorlagen folgt) U L R I C H , W. (2018) (behandelt das Thema Mehrdeutigkeit lexikonorientiert, bezieht aber auch textorientierte Wortschatzarbeit ein → 6.3). 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit Wortschatzarbeit ist Textarbeit - alles andere bleibt Konstrukt. (Kühn 2007: 162) Die T E XTO R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT (z. B. Neuner 1990; Hausmann 1993; Kühn 2010a; Hoffmann 2016a; Steinhoff 2016) teilt mit der L E XIK ON O R I E N ‐ TI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT (→ 6.2) einige Grundsätze und Verfahren, legt ihren Schwerpunkt aber stärker auf die Arbeit an und mit Texten. Sie ori‐ entiert sich am Konstruktivismus und an der kognitiven Linguistik (speziell: der frame-and-script-Theorie) und begreift den Wortschatzerwerb und den Aufbau lexikalischer Netzwerke als vielschichtigen, aktiven und kreativen Konstruktionsprozess (Kühn 2010a: 67). Wörter würden in einem Kontext gelernt und müssten dementsprechend auch so vermittelt werden - ihre konkrete Bedeutung sei kontextisoliert, ohne Einbettung in Gebrauchssitu‐ ationen, gar nicht bestimmbar: 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit 321 <?page no="322"?> Dreischritt: Semanti‐ sierung - Vernet‐ zung - Re‐ aktivie‐ rung Die Sprache ist nur in den Texten Sprache. Der Rest ist Konstrukt. Der Sprach‐ schatz ist also kein Wortschatz, sondern ein Formulierungsschatz; aber er ist auch kein Formulierungsschatz, denn auch auf die Formulierungen gehen von den Texten weitere Zwänge aus. Also wäre die Sprache ein Textschatz? In gewisser Hinsicht ja, weil wir alle über die Begegnung mit Texten zur Sprachkompetenz gelangt sind. (Hausmann 1993: 479) Erläuterung Die frame-and-script-Theorie (Schank/ Abelson 1977) geht davon aus, dass Bedeutungen in frames (statisch organisierten Wissensbeständen) und scripts (prozessual organisierten Wissensbeständen, Handlungsab‐ läufen) organisiert sind. Darstellung Die T E XTO R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT versucht, sich in ihrer Ausrichtung an das mentale Lexikon mit seinen mehrdimensionalen Begriffs- und Be‐ deutungsnetzen anzupassen. Eine Grundlage der T E XT O R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT ist der von Kühn (2000: 12) postulierte wortschatzdidaktische Dreischritt: Der erste Schritt - die Semantisierung - sei rezeptiv zu gehen („Semantisierung der Wörter aus dem sprachlichen und nichtsprachlichen Kontext“), der zweite - die Vernetzung - betreffe reflexive Aufgaben („Sammeln und Ordnen der Wörter in Netzwerkmodellen“) und der dritte - die Reaktivierung - beziehe sich auf produktives Handeln („adressatenorientierter, intentionsadäquater und situationsspezifischer Gebrauch der Wörter in mündlichen wie schriftlichen Texten“). Der wortschatzdidaktische Dreischritt lässt sich auch für die situ‐ ationsbeziehungsweise kontextgebundene Klärung von Wortbedeutungen im Rahmen von Leseprozessen, wie in der traditionellen Wortschatzarbeit üblich, nutzen. Einen Vorschlag hierfür präsentiert Werner (2020) am Bei‐ spiel der Erzählung Die Geschichte vom Stofffetzen (E. Zöller). Hier werden auf der Grundlage eines literarischen Textes Wortbedeutungen unter Einsatz gemeinsam erarbeiteter Erschließungsstrategien erklärt (Semantisierung). Darauf folgen die Beschreibung und Visualisierung von Bedeutungsrelatio‐ nen anhand von Mindmaps und Assoziationsketten (Vernetzung) sowie die 322 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="323"?> rezeptive und pro‐ duktive Wort‐ schatzar‐ beit Textproduktion in Form einer Fortsetzung der Erzählung, in der auf die bearbeiteten Lexeme zurückgegriffen werden soll (Reaktivierung). Durch diese drei Schritte ist das Prinzip der Textorientierung sowohl auf rezeptive als auch auf produktive Wortschatzarbeit bezogen. Damit spielen Leseprozesse eine ebenso wichtige Rolle wie Schreibprozesse (zum Zusammenhang von Wortschatz und Schreibkompetenz s. z. B. Werner 2014). Kühn führt dazu aus: In einer solchen text(sorten)orientierten Wortschatzdidaktik korreliert die Se‐ mantisierung des Wortschatzes mit der Lesedidaktik (rezeptive Wortschatzar‐ beit), das Sammeln und Ordnen des Wortschatzes in Wörternetzen dient der Wortschatzfestigung und -erweiterung (systematische Wortschatzarbeit), wäh‐ rend die produktive Wortschatzarbeit auf das Sprechen und Schreiben funktio‐ nalisiert ist (produktive Wortschatzarbeit […]). (2007: 163) Produktionsorientierte Ansätze liegen unter anderen mit Honnef-Becker (2000) und Steinhoff (2013 u. 2016) vor. Steinhoff orientiert sich am Drei‐ schritt von Kühn und spezifiziert für die Semantisierungsphase (Wörter aus einem Text isolieren) die Möglichkeiten rezeptiver Wortschatzarbeit (z. B. vergleichende, kommentierende, eigenaktive Textrezeption, Einsatz des Wörterbuchs, Erstellen von Wortlisten), die für Lernende möglich sind. Für das Vernetzen schlägt er Techniken wie Cluster, Wörternetze oder Textschaubilder vor. Abschließend sollen die Schüler: innen die in den ersten beiden Phasen gewonnenen Einblicke in eigenen Schreibprozessen umsetzen. Textvergleich In einem Beispiel für eine T E XT O R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT , das Hoff‐ mann (2016b) konzipiert hat, sollen zwei unterschiedliche Texte zum selben Sportereignis von den Schülerinnen und Schülern unter lexika‐ lischen Gesichtspunkten miteinander verglichen werden: 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit 323 <?page no="324"?> Text 1 IN SCHANGHAI DEUTSCHLAND - BRASILIEN ……….. 2: 0 (0: 0) Deutschland: Angerer - Stegemann, Hingst, Krahn, Bresonik - Garefrekes, Laudehr, Lingor, Behringer (74. Müller) - Smisek (80. Bajramaj), Prinz. Brasilien: Andreia - Elaine, Aline (88. Katia), Renata Costa, Tania (81. Pretinha) - Formiga, Ester (65. Rosana), Maycon - Marta - Daniela, Cristiane. Schiedsrichterin: Tammy Ogston (Australien). Zuschauer: 31000. Tore: 1: 0 Prinz (52.), 2: 0 Laudehr (86.). Besondere Vorkommnis: Angerer (Deutschland) hält Foulelfmeter von Marta (64.). SPIEL UM PLATZ DREI Norwegen - USA 1: 4 (0: 1). (p otSdaMer n eueSte n achrichten , 1. 10. 2007) Text 2 Die Inszenierung war perfekt. Mehr als 22 Länder waren zugeschaltet, als sich Deutschland und Brasilien gestern in Schanghai ein packendes WM- Finale lieferten. Es war ein bisweilen hochklassiges Frauenfußballspiel: Brasilien gegen Deutschland, das könnte künftig nicht nur mit den Kloses und Ronaldinhos, sondern auch mit den Martas und Lingors ein Klassiker werden. Ein Gänsehaut-Gefühl stellte sich auch ein, weil die Hauptdarsteller stimmten. Zum einen Birgit Prinz, Deutschlands bekannteste Fußballerin. Die Frau, der wegen ihrer Torgefährlichkeit und Ballbeherrschung auch diejenigen Respekt zollen, für die Frau und Fußball ein unvereinbarer Gegensatz sind, zumal dann, wenn das Wesen am Ball keinem Model-Katalog entstiegen ist. Gestern trug die Symbolfigur weiter zur Legendenbildung bei, als sie das 1: 0 schoss. Wer auch sonst. Die zweite Hauptfigur kam aus dem Nichts und schenkt diesem WM-Titel etwas Märchenhaftes: Nadine Angerer aus Potsdam hat vor der WM 2007 schon sechs große Turniere bestritten, war Welt- und Europameisterin - hatte aber nie auch nur eine Sekunde gespielt. In China machte die Torhüterin die Spiele ihres Lebens. Und im Finale hielt sie den Elfmeter von Brasiliens Superstar Marta - der tragischen dritten Hauptfigur. Im gesamten Turnier steckte Angerer kein Gegentor ein und übertraf sogar den Rekord des Italieners Walter Zenga bei der WM 1990. (Ebd., Auszug) Abb. 11: Texte zu einem Sportereignis (n. Hoffmann 2016b: 566 f.) 324 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="325"?> beiläufiger Wort‐ schatzer‐ werb Beim Vergleich dieser beiden Texte (s. im Folgenden ebd.) könnte ein lexikalisches Augenmerk für Text 1 auf Städte-, Länder- und Personen‐ namen (Schanghai, Deutschland, Cristiane), Zahlwörter (74.) und Zahl‐ wortpaare (2: 0) gelegt werden. Demgegenüber steht Text 2 mit seinen Bewertungswörtern und bewertenden Wortgruppen (hochklassig, die Spiele ihres Lebens machen) sowie Metaphern (Hauptdarsteller). Die Ana‐ lyse des textsortentypischen Wortschatzes wird dabei an funktionale Fragen gebunden, zum Beispiel zu den kommunikativen Erwartungen, die Leser: innen an Sportjournalistinnen und -journalisten stellen (ebd.: 568). Nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit dem lexikali‐ schen Material und dessen Funktion soll das sprachdidaktische Prinzip Vom Text zum Text durch sprachproduktive Prozesse realisiert werden. Ebenfalls unter die T E XTO R I E NTI E R T E W O R T S CHATZA R B E IT ist ein Ansatz zu sub‐ sumieren, der nicht auf explizites, sondern auf implizites Lernen und damit auf eine Form des incidental learning zielt. Nation konstatiert: „Incidental learning via guessing from context is the most important of all sources of vocabulary learning“ (2013: 232). Neue Wörter sollen beim impliziten Lernen zum Beispiel in Leseprozes‐ sen beiläufig erworben beziehungsweise vertieft werden. Möglich ist eine Verbindung mit lesedidaktischen Zielsetzungen: Im Rahmen von Leseför‐ dermaßnahmen im Sinne des Partnerlesens (→ 4.1) wird eine wiederholte Begegnung mit lexikalischem Material auch als Grundlage für lexikalisches Lernen verstanden: „Durch die fortlaufende Wiederholung signifikanter Buchstabenkombinationen, phonologisch korrekter Lautstrukturen und oft vorkommender Basiswörter in sinnerschließenden Kontexten wird das mentale Lexikon der Schüler/ innen beiläufig erweitert“ (Nix 2007: 158). Nix (ebd.) weist auch auf die Notwendigkeit der kontextuellen Eingebundenheit der Wörter hin, deren Bedeutung bei Bedarf in den Leseteams zunächst geklärt werde. Den Zusammenhang von Lesen und beiläufiger Wortschatzerweiterung und -vertiefung stellt Polz (2016) dar. Sie unterstreicht die Bedeutung dieser Verbindung auch für andere Fächer - Wortschatzarbeit wird dementspre‐ chend mitunter auch als allgemeines Unterrichtsprinzip verstanden - und erläutert sie auf der Grundlage des Kühn’schen Dreischritts. Die Arbeit mit sogenannten Textprozeduren (Feilke/ Rezat 2020; Bach‐ mann/ Feilke 2014; → 3.10) kann ebenfalls in den Kontext einer textorien‐ 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit 325 <?page no="326"?> tierten Wortschatzarbeit eingeordnet werden. Textprozeduren als „routine‐ hafte funktionale Textbausteine“ (Feilke/ Rezat 2020: 5), als „Werkzeuge für Schreiben und Lesen“ (ebd.: 4), umfassen Texthandlungsschemata, die im konkreten sprachlichen Handeln durch typische sprachliche Ausdrücke realisiert werden und deren Verwendung an Textarbeit gebunden ist. Sie stellen somit eine Basis lexikogrammatischen Lernens dar. Beispiele für textprozedurenbezogene Formulierungsmuster sind etwa vor langer Zeit für die Eröffnung eines märchenhaften Vorstellungsraums oder an der nächsten Kreuzung für die Lokalisierung beziehungsweise räumliche Ori‐ entierung. Textprozeduren können Schülerinnen und Schülern nicht nur dabei helfen, einen komplexen Textproduktionsprozess dadurch zu entlas‐ ten, dass einzelne Handlungsschritte als Prozeduren greifbar gemacht und somit Strukturen verdeutlicht werden, sondern auch dabei, angemessene Formulierungen zu verwenden. Sie sind somit ein sinnvolles Konzept, um textorientierte Wortschatzarbeit zu unterstützen. Eine weitere Form der textorientierten Wortschatzarbeit lässt sich im Rahmen integrativer Spracharbeit (Reiß-Held/ Hohbauer 2019) finden. Hier liegt konzeptionell eine große Nähe zu Modellen eines integrierten Deutsch‐ unterrichts (→ 6.8) und zu sprachsensiblem Unterricht vor. Ziel ist es, Wortschatzarbeit und die Arbeit mit grammatischen Strukturen zwar auf der einen Seite integrativ in Anbindung an Textarbeit und verschiedene, auch literarische, Kontexte zu ermöglichen, darüber hinaus aber auch gezielt regelmäßige Wortschatz- und Strukturübungen anzubieten, um den Erwerb lexikalischer Mittel und grammatischer Strukturen durch Wiederholung und Übung zu fördern. Problematisierung Die Notwendigkeit der kontextuellen Einbindung lexikalischen Materials, die sich nicht nur spracherwerbstheoretisch begründen lässt, sondern in‐ zwischen in zahlreichen Studien belegt ist, wird in der T E XTO R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT deutlich herausgestellt. Durch die Analyse- und Vernet‐ zungshandlungen der Schüler: innen, die mit den Wörtern in einem zweiten Schritt dekontextualisiert arbeiten, wird versucht, eine Form der intensiven Auseinandersetzung zu schaffen, die der Komplexität des mentalen Lexikons gerecht werden soll. Zudem liegen überzeugende Unterrichtsvorschläge vor, es wird ein Zusammenhang mit anderen Lernbereichen (Lesen → 4; 326 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="327"?> Schreiben →-3) hergestellt und die unterrichtliche Umsetzung scheint sehr praktikabel und gut integrierbar. Für Lehrende, die textorientiert arbeiten, ist es eine wichtige Aufgabe, die einzelnen Schritte sinnvoll aufeinander abzustimmen, sodass das Verhältnis zwischen Textarbeit und dekontextualisierter, lexikonorientierter Arbeit am Wortschatz angemessen ist und Texte nicht nur instrumentalisiert werden, um anschließend doch T R ADITIO N E LL E W O R T S CHATZA R B E IT (→ 6.1) durchzu‐ führen. Wenn die Vernetzungsphase zu kurz kommt oder zu oberflächlich stattfindet, wenn ein Text nur Impuls ist und nicht intensiv und wiederholt rezipiert werden kann, besteht die Gefahr, dass sowohl rezeptive als auch produktive Wortschatzarbeit zu einer Überforderung bei den Lernenden führen kann - gerade bei denjenigen, die noch über keinen ausreichend differenzierten Wortschatz verfügen. Zudem sollte die Auswahl der Texte sorgfältig getroffen werden - Lehrwerke sind in dieser Hinsicht stets kritisch zu sichten (Polz 2016: 109). Auch für die T E XT O R I E NTI E R T E W O R T S CHATZDIDAKTIK stellt es weiterhin eine Aufgabe dar, empirisch zu überprüfen, wie wirksam die einzelnen Phasen und ihr Zusammenspiel in der Praxis sind. Aufgaben 1. Planen Sie eine Unterrichtseinheit im Sinne von Hoffmann (2016b). Suchen Sie dafür zwei geeignete Texte zum selben Thema. Welche Zielsetzungen würden Sie in den Vordergrund rücken? 2. Vergleichen Sie die Ausführungen zur L E XIK ON O R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZ ‐ A R B E IT (→ 6.2) mit denen zur T E XTO R I E NTI E R T E N . Können Sie konzeptio‐ nelle Überschneidungen feststellen? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung H O F F M A N N , M. (2016a) (stellt den Zusammenhang zwischen Text- und Wortschatz‐ kompetenz anhand vieler Beispiele dar) H O F F M A N N , M. (2016b) (Beispiel für eine textsortenorientierte Unterrichtseinheit zur Wortschatzarbeit) K ÜH N , P. (2010a) (praxisorientiertes Buch mit Kopiervorlagen) 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit 327 <?page no="328"?> Ziele 6.4 Robustes Wortschatztraining Ziel ist der Aufbau eines quantitativ und qualitativ tragfähigen bildungssprach‐ lichen Wortschatzes. (Kurtz 2012: 77) Das R O B U S T E W O R T S CHATZT R AININ G (RoW) ist im Rahmen des fachunabhängi‐ gen, integrierten Förderprogramms Sprachintensiver Unterricht (Kurtz et al. 2015) entstanden, das den weit verzweigten Förderbedarfen in verschiedenen Sprachbereichen mit einem umfassenden Ansatz präventiv begegnet und […] solchen Schülern Zugang zu anspruchsvollen Texten und Aufgaben ermöglicht […], denen sonst […] wesentliche Bildungsbereiche versperrt blieben. (ebd.: 1) Ziel ist die Förderung des Erwerbs der sogenannten Bildungssprache (→ S. 305 f. und S. 25 f.), gestützt etwa durch einen intensiven Sprachge‐ brauch seitens der Lernenden. Prinzipien des sprachintensiven Unterrichts sind zum Beispiel Kontextbasierung, Textsortenbezug oder fächerübergrei‐ fende Themenarbeit und längeres „Verweilen bei einem Themengebiet“ (ebd.). Als Teilansatz des sprachintensiven Unterrichts versteht sich RoW als Konzeption expliziter, systematischer und kontinuierlicher Wortschatz‐ arbeit, die sich an Lerner: innen mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache glei‐ chermaßen richtet. RoW weist Übereinstimmungen mit der T E XT O R I E NTI E R T E N W O R T S CHATZA R B E IT (→ 6.3) auf, zeichnet sich darüber hinaus aber unter anderem durch seine Prinzipien und seinen spezifischen Übungscharakter aus, weshalb wir es hier als eigene Konzeption aufführen. Darstellung Das R O B U S T E W O R T S CHATZT R AININ G orientiert sich an dem in den USA ent‐ standenen Konzept Robust Vocabulary Instruction (Beck et al. 2008 u. 2013). Es wird davon ausgegangen, dass der Wortschatz, der für den Schulerfolg in allen Fächern notwendig ist, nicht einfach beiläufig erworben wird, sondern vielmehr der regelmäßigen, systematischen und strukturierten unterrichtlichen Unterstützung bedarf. Übergeordnetes Ziel ist der Aufbau eines „gut vernetzten, tief verstande‐ nen Wortschatzes“ (Kurtz 2012: 73): Die Lernenden sollen an gehobener Sprache partizipieren und einen Bildungswortschatz aufbauen können (ebd.: 75). Dadurch haben sie, wie die Forschung vielfach gezeigt hat, 328 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="329"?> Zielwörter theoreti‐ scher Hin‐ tergrund Prinzipien einen wesentlichen Vorteil in Bezug auf den Ausbau jeglicher Sprachhand‐ lungskompetenzen (s. z. B. Vasylyeva/ Kurtz 2015 zum Zusammenhang von Wortschatz- und Lesekompetenz). Zielwörter sind Wörter und Wortgruppen der so bezeichneten tier-2- Gruppe. Ein tier-2-Wort [tier = engl. Ebene] ist ein Wort, das (a) nicht die einfachste Art ist, etwas auszudrücken, (b) in schriftnahen Kontexten (hoch)frequent, aber im Alltag selten ist, (c) in verschiedenen thematischen Kontexten auftaucht, also nicht domänenspezifisch ist, (d) konzeptuell reich ist, also abstrakte Konzepte birgt oder in übertragenen Bedeutungen verwendet wird. (Ebd.: 73) Beispiele für tier-2-Wörter beziehungsweise -Mehrworteinheiten sind arrogant, in Streit geraten oder zunehmend. Auch Funktionswörter (insbesondere, außer‐ dem), Idiome (weg vom Fenster sein), Metaphern (am Fuß des Berges) und Mehrworteinheiten, die für die „allgemeine, grammatik- und textbezogene Spracharbeit zentral“ (ebd.: 79) sind (bei Gelegenheit, in Bezug auf, sowohl … als auch), stehen im Zentrum von RoW. Dagegen werden im Alltag hochfre‐ quente Wörter (tier-1-Wörter), die beiläufig erworben werden können (z. B. kommen, Nachmittag, jetzt), und sehr niederfrequente oder domänenspezifische tier-3-Wörter (z. B. Gevatter, Embolie, substituieren) nicht im RoW bearbeitet. Die theoretische Grundlage für RoW ist eine gebrauchsbasierte Grammatik (Vasylyeva/ Kurtz 2015: 243 ff.), die auch spracherwerbstheoretisch naheliegt, weil Kinder Sprache stets im Gebrauch erwerben. Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Konstruktion, der Form-Bedeutungs-Ein‐ heiten umfasst, die sich nicht auf einzelne Lexeme beschränken, sondern vom Morphem bis hin zu komplexeren lexikalischen Einheiten alles einschließen (Goldberg, A. 2003: 219). Das Entscheidende ist, dass sich die Bedeutung einer Konstruktion und die Gesamtbedeutung einer Äußerung nicht aus der Addition ihrer Einzelelemente zusammensetzen, sondern durch den syntaktischen Kon‐ text, die Kombination von Konstruktionen und durch außersprachliche Zusam‐ menhänge konstituiert werden. Der Begriff Konstruktion weist eine inhaltliche Nähe zum Begriff chunk auf, der in didaktischen Kontexten gebräuchlicher ist. Das Konzept basiert auf dem Prinzip der Wiederholung, das sich in der häufigen und vielfältigen Zielwortbegegnung (ebd.: 73) niederschlägt. Dazu kommt ein hohes Maß an Ritualisierung durch routinisierte Abläufe „in nahezu täglichem Rhythmus“ (ebd.: 75). Weitere wesentliche Prinzipien sind die the‐ matische Einbindung (auch fächerübergreifend) und die an den Lernenden orientierte Ausrichtung durch die zahlreichen Aktivitäten und unterschiedli‐ 6.4 Robustes Wortschatztraining 329 <?page no="330"?> Zielgruppe chen Aufgaben. Auch die Berücksichtigung eines ästhetischen Zugangs zur Sprache (Wörter rufen, Verbindung mit literarischer Arbeit) wird erkennbar. Die Zielgruppe bilden Schüler: innen, „die nur beschränkt Zugang zur Stan‐ dard- und Bildungssprache Deutsch haben“ (ebd.: 75). Darüber hinaus sei die Konzeption unter anderem wegen des hohen Aktivitätsgrades der Übungen und des routinisierten Ablaufs auf disziplinschwierige Klassen ausgerichtet (ebd.). Vorbereitung und Ablauf Eine RoW-Einheit wird auf zwei bis fünf Wochen angesetzt. Sie bezieht sich auf nur wenige Wörter beziehungsweise Wortgruppen und umfasst verschiedene Aufgabentypen (im Folgenden - auch für die Beispielkäs‐ ten - Kurtz 2012: 82 ff.): ■ dem Zielwort/ Ausdruck (hier das Beispiel Abstand) im Zusammen‐ hang begegnen (das Wort wird in einem Text gelesen, seine Bedeu‐ tung wird dabei höchstens beiläufig und kurz erklärt) ■ das Zielwort aussprechen und verankern: ‚Reinrufübungen‘ (im Mittelpunkt steht die phonetisch-phonologische Repräsentation) Übung: L: „Ich sage euch einen Satz und ihr ruft Abstand, wenn in der Situation ein Abstand gehalten wird, aber ihr schweigt, wenn es nicht so ist.“: ■ „Ben läuft 50 m hinter Anna her.“ S: rufen im Chor „Abstand! “ ■ „Ben rennt sehr schnell.“ S: schweigen ■ mit dem Zielwort spielen, arbeiten, reflektieren (auffinden; sam‐ meln/ ordnen/ sortieren; Beispiele finden; über Fragen nachdenken) ■ Zeichnet eine Situation, in der jemand von etwas Abstand hält. ■ Wann ist es wichtig, dass jemand Abstand zu dir hält? ■ Findet Beispiele, wo ein großer Abstand gut ist. 330 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="331"?> ■ Abstraktion, Ausweitung, kontextfernes Abrufen: Mischübungen (z. B. Assoziationsübungen, Definitionen, Weiterführen von Satz‐ anfängen: Ich hatte so einen großen Abstand von den anderen, dass ) ■ testartige Aufgaben (z. B. Lückentexte, Zielwörter in einen eigenen Text einbauen) Ablaufpläne, die konkrete - auch zeitliche - Hinweise zur Durchführung geben, finden sich in Kurtz (2012) sowie Koppenhöfer/ Krafft (2019). Problematisierung RoW ermöglicht eine kontinuierliche Sprachförderung und regelmäßige Wortschatzarbeit und setzt zudem an der sprachlichen Realität an. Es zeich‐ net sich durch verschiedene ‚Alleinstellungsmerkmale‘ aus, unter anderem durch die explizite Berücksichtigung von Fügungen und Funktionswörtern sowie durch die Eignung für Lerngruppen mit einem hohen Anteil an Kin‐ dern mit Sprachförderbedarf. Empirische Untersuchungen, die den Erfolg von RoW bestätigen, liegen aus den USA vor und werden auch im deutsch‐ sprachigen Raum durchgeführt, beispielweise im Rahmen der Integrierten Sprachförderung an der Universität Heidelberg. Eine Schwierigkeit, das haben Gespräche in Hochschulseminaren immer wieder gezeigt, sehen Studierende in der quantitativen Beschränkung von RoW. Dem kann entgegengehalten werden, dass eine intensive Auseinan‐ dersetzung mit wenigen Wörtern nachhaltiger sein kann als eine oberfläch‐ liche Beschäftigung mit einer großen Anzahl von Ausdrücken. Zudem ist RoW gut kombinierbar mit anderen Ansätzen der Wortschatzarbeit. Aufgaben 1. Suchen Sie aus dem Ausschnitt der Zeitungsmeldung drei Wörter her‐ aus, die Ihres Erachtens tier-2-Wörter beziehungsweise -Wortgruppen sind: Feuer wütet auf Mallorca Ein großer Waldbrand hat auf Mallorca Menschen in Panik versetzt und mehr als tausend Hektar Kiefernwald vernichtet. Das Feuer wütete in der Nähe der 6.4 Robustes Wortschatztraining 331 <?page no="332"?> Ursprünge Urheber Gemeinde Andratx im Westen der spanischen Ferieninsel. Es war gestern noch rund 24 Stunden nach Ausbruch außer Kontrolle, berichteten spanische Medien. […] aus: der Sonntag vom 28.7.2013 2. Formulieren Sie Aufgaben zum Wort auftreten, in denen mit dem Zielwort gespielt, gearbeitet und darüber reflektiert wird. Lektüreempfehlung zur Vertiefung K U R T Z , G. (2012) (erläutert verständlich die theoretischen Hintergründe von RoW und bietet eine ausführliche Darstellung von Aufgabentypen zu einem Beispiel‐ wort) 6.5 Traditioneller Grammatikunterricht Wir sind der Meinung, […] und ein Vergleich der Unterrichtskonzepte über 150 Jahre würde das zeigen, daß sich über diesen langen Zeitraum im Grammatikun‐ terricht prinzipiell nichts geändert hat. (Erlinger/ Feilke 1983: 65) Das Zitat, dem auch fast vierzig Jahre später zuzustimmen ist, zeigt: Der T R ADITION E LL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT hält sich seit nunmehr fast 200 Jahren. Er wird in weiten Teilen dominiert von einer immer gleichen Struktur, die seitens der Schüler: innen Widerwillen, bisweilen gar Angst hervorruft (Klotz/ Peyer 1999). Darstellung Seine (auch sprachtheoretischen) Ursprünge sind im Kontext historischpolitischer Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund damaliger pädagogischer und philosophischer Veränderungen zu sehen (s. ausführlich dazu Erlinger/ Feilke 1983). Als Folge einer verbreiteten Fehlrezeption der Pestalozzi’schen Anschauungspädagogik wurden dessen Bemühungen Grundlage eines Sprachunterrichts, der seinen Intentionen zuwiderlief. Resultat war die „Entfernung vom Primat der sinnlichen An‐ schauungen“ (ebd.: 70). Die Grundlage für den T R ADITION E LL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT , der auch als F O R MAL - S Y S T EMATI S CH E R G R AMMATIK UNT E R R ICHT bezeichnet wird, stellt die 332 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="333"?> Sprachtheorie von Karl Ferdinand Becker dar. Dieser betrachtet sprachliche Strukturen als Ausdruck des Denkens; ihm geht es, wie Günther es formu‐ liert, darum, dass die Schüler: innen „durch die Analyse der Redeformen die Verhältnisse der Begriffe und damit die Prinzipien des Denkens erlernen“ (2010: 89). Beckers Sprachdenklehre wurde von Raimund Jakob Wurst für die Volksschule didaktisiert beziehungsweise methodisiert - mit dem Ziel der formalen Geistesbildung (Wurst 2019 [1841]: XVI). Wurst gliedert seine Ausführungen, die er als „Sprachlehre, durch die man richtig denken, und eine Denklehre, durch die man richtig sprechen lernt“ (ebd.: VIII), deklariert, in drei „Abtheilungen“ (ebd.): Satzlehre, Wortlehre und Wortbildung. Diese Schwerpunkte haben sich bis heute als Zentrum des Grammatikunterrichts gehalten. Die Methoden des T R ADITION E LL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S können als kleinschrittig, frontal und deduktiv charakterisiert werden. In einer Kombination aus lehrkraftzentriertem Frageunterricht und Formanalyse werden Wortarten- und Satzgliedlehre zum Zentrum eines am Lateinischen orientierten Erstsprachenunterrichts. Die Unterscheidung in Dinge, Tätig‐ keiten und Eigenschaften beeinflusst bis heute nicht nur den Grammatik-, sondern ebenso den Rechtschreibunterricht (→ 3.1-3.7) und zeigt sich noch immer auch curricular präsent. Aus einer Unterrichtsstunde, die im Jahre 2010 im Rahmen eines Praktikums durchgeführt wurde: Der Student hatte die Aufgabe, in einer dritten Klasse die Einheit Subjekt einzuführen. Zu Beginn schrieb er drei Beispielsätze an die Tafel und kreiste jeweils das Subjekt ein. In einem zähen Frage-Antwort-Spiel - das sich in unzähligen Unterrichtsstunden erleben lässt und häufig eingeleitet wird mit der bekannten Frage Was fällt euch auf ? - provo‐ zierte er das (letztlich von ihm selbst vorgetragene) Fazit, dass man die Einheiten, die er eingekreist habe, mit wer oder was erfragen könne (zur Frageproblematik im Grammatikunterricht s. Granzow-Emden 2006; Funke 2001). In einem nächsten Schritt schrieb der Student auf die rechte Tafelseite - mit der Aufforderung an die Schüler: innen, den Tafelanschrieb parallel ins Heft zu übertragen - folgenden Merksatz: Das Satzglied eines Satzes, das angibt, wer oder was etwas tut, nennen wir Subjekt. Das Subjekt steht häufig am Satzanfang. Daraufhin folgte ein Aufgabenblatt mit Unterstreichungsaufgaben, die nach der Bearbeitung durch die Lernenden mündlich besprochen wurden. 6.5 Traditioneller Grammatikunterricht 333 <?page no="334"?> Merksatz- und Termi‐ nologiefixierung Welche Intentionen lassen sich an diesem häufig zu beobachtenden Stundenverlauf erkennen? Am Anfang steht die Konfrontation mit dem Unterrichtsgegenstand, die nicht verfremdend ( F UNKTIO NAL E R G R AM ‐ MATIK UNT E R R ICHT , → 6.9) oder problemorientiert (Funke 2001: 386 ff.) stattfindet. Der Präsentation folgt eine von der Lehrperson gesteuerte Analyse, die für den dritten Unterrichtsschritt, die Übungsphase, not‐ wendige ‚Erkenntnisse‘ beziehungsweise notwendiges ‚Wissen‘ sichern soll. Durch die Wiederholung, so legt die Übungsphase nahe, soll dieses Wissen vertieft beziehungsweise gefestigt werden. Das Stundenziel beschränkt sich auf die Vermittlung eines für die Schüler: innen abstrakt bleibenden terminologischen Wissens. Obwohl es noch keine umfassende empirische Forschung zur Realität von Grammatikunterricht an deutschen Schulen gibt (Bredel 2013: 261), lassen einzelne Studien (z. B. Kleinbub 2012; Granzow-Emden 2008) vermuten, dass das oben skizzierte Beispiel stellvertretend für die Praxis des Grammatikun‐ terrichts in vielen Klassenzimmern ist. Problematisierung Der T R ADITIO N E LL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT wird schon seit seinen Anfängen vehement kritisiert. Engelien weist bereits im 19. Jahrhundert auf die Ausschließlichkeit formalsyntaktischer Zergliederungshandlungen im Un‐ terricht hin und schlussfolgert: „Wenn nur das neue Moment […] nicht als das allein selig machende angesehen worden wäre“ (o. J.: 381, zit. n. Erlinger/ Feilke 1983: 81). Engeliens Kritik, die Erlinger/ Feilke in fünf Punkten zusammenfassen (das Ziel des vollkommenen Verstehens der Sprache nach Becker, die Trivialität des Sprachstoffs, die Betonung der formellen Bildung, die Vergeudung von Zeit durch permanente Satzgliedzerlegung, das In-eins-Setzen von Sprachunterricht und Satzzergliederungsunterricht), sei, so Erlinger/ Feilke, „auch gegenüber heutigem Muttersprachenunterricht noch artikulierbar“ (1983: 81). Im T R ADITION E LL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT wird deduktiv, terminologie- und merksatzfixiert vorgegangen (zur Problematik einer schulgrammati‐ schen Terminologie s. Langlotz 2019: 134 f.; für ein überarbeitetes Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke s. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 2020). Die Sicht auf den Unterrichtsgegenstand ist normativ. Eine 334 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="335"?> „solch kleinschrittige und die Schüler in jedem Augenblick an der Leine eines bornierten Überwissens führende Methode“ (Erlinger/ Feilke 1983: 75) drücke eine „Geringschätzung der Alltagserfahrungen der Schüler“ (ebd.) aus und führe zu dem Ruf, der dem Grammatikunterricht und seinem Ge‐ genstand bis heute anhafte. Stark in Frage gestellt wird das im T R ADITIO N E LL E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT vermittelte deklarative Wissen, die terminologische Kenntnis, hinter der keine begriffliche oder strukturelle Durchdringung steht (s. hierzu auch Funke 2005). Dieses terminologische Lernen hat für produktive und rezeptive Sprachverarbeitungsprozesse - besonders für das Lesen und Schreiben - keine Bedeutung. Dass es zudem nicht nachhaltig ist, zeigt sich regelmäßig in der Arbeit mit Studentinnen und Studenten des Faches Deutsch. Giese resümiert: Vielfach blieb solcher Unterricht lediglich auf einer terminologischen Ebene: unverstandene Begriffe wurden memoriert; dazu gehörende Definitionen wurden eingeprägt […]. Der Grammatikunterricht gab sich damit zufrieden, Definitionen vorzugeben, ohne mit den Schülern wirklich zu erkunden, wo denn in der Sprache die angeblich definierten Einheiten tatsächlich zu finden seien. Behauptungen über grammatische Strukturen, durch einige Beispielsätze erläutert, führen bes‐ tenfalls zu abfragbarem Prüfungswissen, zu einer Bewusstheit eigenen Sprechens aber nicht. (1998: 68) Warum hält sich der T R ADITION E LL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT bis heute? Die Gründe dafür sind vielfältig. Wesentlich ist wohl, dass der terminologische Apparat, hinter dem vermeintlich klare begriffliche Inhalte stehen, schulisch praktikabel scheint und Lehrpersonen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Schon Glinz merkte an, dass die Becker’sche Lehre „dem Lehrer eine deut‐ sche Grammatik [biete], welche die notwendigen Formen des Gedankens und des sprachlichen Ausdrucks in einem geschlossenen System lehr- und lernbar darstellt“ (1947: 55). Die grammatikdidaktischen Impulse, die seit dem O P E R ATIO NAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.6) gegeben werden, erweitern die Sicht auf die Qualität des Wissens, das in Grammatikstunden angestrebt werden soll. Explizit als Gegenmodell zum T R ADITION E LL E N G R AM ‐ MATIK UNT E R R ICHT verstehen Boettcher/ Sitta (1981) ihre Konzeption eines S ITUATION S O R I E NTI E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S (→-6.7). 6.5 Traditioneller Grammatikunterricht 335 <?page no="336"?> Aufgaben 1. Erinnern Sie sich zurück an Ihre Schulzeit. Welche Erfahrungen mit Grammatikunterricht haben Sie gemacht? Befragen Sie auch Angehö‐ rige anderer Generationen und vergleichen Sie die Aussagen. 2. Beantworten Sie folgende Fragen: Was ist ein Subjekt? Warum sollten Grundschüler: innen wissen, was ein Subjekt ist - oder sollten sie es überhaupt? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung E R L I N G E R , H. D./ F E I L K E , H. (1983) (die Publikation legt die historischen Zusammen‐ hänge offen und bietet viele Originalzitate) G ÜN T H E R , H. (2010) (enthält eine kritische Darstellung der Becker’schen Schulgram‐ matik) W U R S T , R. J. (2019 [1841]) (das methodische Ausgangswerk für den T R A D I T I O N E L L E N G R A M M A T I K U N T E R R I C H T ) 6.6 Operationaler Grammatikunterricht Hauptaufgabe der Schule ist es, auf Grund des schon vorhandenen Verstehens und Sprechens in den Umgang mit geschriebener Sprache, das heißt in das Lesen und Schreiben einzuführen, und erst als letztes tritt zum Hören-Verstehen, zum Sprechen, zum Lesen und zum Schreiben die Grammatik, die Lehre vom Bau der Sprache, die Einsicht in den Bau der Sprache. Der Grammatikunterricht, das Hinführen zu bewusster Einsicht in den Bau der Sprache, darf denn auch nie isoliert betrieben werden, sondern er ruht auf dem schon lange gewohnten sprachlichen Handeln, ergibt sich unmittelbar aus solchem Handeln und stützt seinerseits wieder das zukünftige sprachliche Handeln. (Glinz 1993: 277) Dem T R ADITIO N E LL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.5), dessen formalistische, deduktive, terminologiefixierte und zudem am Lateinischen orientierte Ausrichtung sich im schulischen Unterricht festgesetzt hatte, wird in den 1950er-Jahren eine Konzeption gegenübergestellt, die neue Schwerpunkte setzt: der sogenannte O P E R ATIO NAL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT . 336 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="337"?> Fünf- Wortarten- Lehre Glinz’sche Proben Grundlagen Der O P E R ATIO NAL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT hat heute noch wesentlichen Ein‐ fluss auf die schulische Praxis des Grammatikunterrichts. Mit dieser Kon‐ zeption ist der Name Glinz untrennbar verbunden. Der Schweizer Linguist (1913-2008) entwickelte seine sprachwissenschaftlichen und -didaktischen Überlegungen parallel zu den Forschungsmethoden des amerikanischen Strukturalismus - ohne, wie er im Vorwort seiner 1952 erstmals erschiene‐ nen Grammatik Die innere Form des Deutschen angibt, Kontakt zur amerika‐ nischen Forschung gehabt zu haben. Während der T R ADITION E LL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT rein formalistisch ge‐ prägt ist, richtet Glinz seine Aufmerksamkeit neben formalen Aspekten auch auf sprachliche Inhalte. Er positioniert sich entsprechend zwischen zwei konkurrierenden Forschungsrichtungen: dem Strukturalismus und der inhaltsbezogenen Grammatik. Das Ziel der Glinz’schen Grammatik ist es, „die Struktur unseres Deutsch so objektiv wie möglich zu erkennen und zu beschreiben“ (1965: 13). Dabei will er „den alten und wohlbekannten Stoff nach neuen Kategorien“ (ebd.: 12) ordnen und „die sprachlichen Grundeinheiten, Wort, Satzglied und Satz, sowie ihre verschiedenen Arten, Formen und Verbindungen neu“ (ebd.) bestimmen. Es geht ihm um eine „Systemerprobung der heutigen Sprache, unserer Sprache, an Hand eines Textes“ (ebd.: 54). Glinz’ Grammatik setzt in vielerlei Hinsicht neue Akzente. Auch termino‐ logisch weicht sie stark von traditionellen Grammatikentwürfen ab. Zu den bekanntesten Neuerungen gehört Glinz’ als Fünf-Wortarten-Lehre bekannt gewordene Theorie, mit der er eine neue Wortartenunterscheidung vorlegt: die von formalen Merkmalen abhängige Einteilung in Nomen, Verben, Adjektive, Pronomen und Partikeln. Als methodische Verfahren der Systemerprobung schlägt Glinz Opera‐ tionen vor, die als Glinz’sche Proben bekannt geworden sind und einen zentralen Bestandteil schulischen Grammatikunterrichts darstellen. Sein methodisches Vorgehen führt er folgendermaßen aus: Wir legen […] einen bestimmten Text zugrunde und betrachten ihn in Stücken verschiedensten Umfangs, von der kleinsten klanglichen Einheit und ihren Teilen bis zu zusammenhängender Rede mehrerer Seiten. Aber wir nehmen diese Stücke nicht nur passiv auf, sondern versuchen sie zu manipulieren. Wir lassen sie von verschiedenen vorlesen, sprechen sie selbst in verschiedener Art und prüfen, inwiefern der Klang [Klangprobe; hier und im Folgenden C. H., A. K., R. O./ C. 6.6 Operationaler Grammatikunterricht 337 <?page no="338"?> Klang‐ probe Ver‐ schiebebzw. Um‐ stellprobe M.] dabei gleich bleibt und inwiefern er sich verändern kann. Wir lassen einzelne Stücke weg [Weglassprobe] und fügen andere hinzu [Ersatzprobe], stellen Ein‐ zelzeichen innerhalb eines Komplexes um [Umstellprobe] und erproben dabei immer an uns selbst und andern, ob die Ergebnisse der Änderungen wieder richtiges Deutsch sind, welche Inhaltsänderungen allgemein festgestellt werden, wieweit Umstellung oder Ersatz einzelner Teile gehen kann. (Ebd.: 53) Zur ‚Natürlichkeit‘ der Proben merkt er an: Das Experiment [Klangprobe, Ersatzprobe, Verschiebeprobe; C. H., A. K., R. O., C. M.] ist nämlich gar nichts Künstliches, nur in der Linguistik vorkommendes, sondern es ist nur eine zu Erkenntniszwecken bewußt geleitete Form des ohnehin vorhandenen lebendigen Umgangs mit der Sprache, des sprachlichen Handelns, wie es jeden Tag vorkommt, vom großen Dichter, der an seinem Werk arbeitet […], bis zum kleinen Kind, das ausruft: ‚Jetzt will ich heim! - Ich will jetzt heim! - Heimgehn will ich jetzt! ‘, und das damit dem Wissenschaftler völlig unbeab‐ sichtigt eine vollständige Verschiebeprobe und ein Stück Ersatzprobe vorführt. (Ebd.: 5 f.) Am Anfang sprachanalytischer Prozesse steht für Glinz die Klangprobe: Wir lesen den Text laut oder lassen ihn von verschiedenen Informanten laut lesen und stellen fest, wo ohne Sinnstörung Abschlüsse gesetzt, d. h. die Stimme bis zur Ruhelage gesenkt und ohne Störung eine längere Pause gemacht werden kann. (Glinz 1975: 16) Durch die Klangprobe kann ein Text lautlich in Einheiten gegliedert, können seine Satzgrenzen festgestellt werden. Der Duden betont zudem die kommunikative Bedeutung der Klangprobe: Durch Betonung können Sprecher: innen zeigen, wie ein Text verstanden werden soll. Durch die Verschiebeprobe wird bestimmt, welche Teile eines Satzes Satz‐ gliedstatus haben. Dazu werden Wörter beziehungsweise Wortgruppen vor das finite Verb, das an zweiter Stelle stehen bleibt, geschoben. Dabei darf der Satz nicht ungrammatisch werden und sich inhaltlich nicht verändern. Nach der Schule spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Der kleine Junge spielt nach der Schule immer mit seinem Hund. Mit seinem Hund spielt der kleine Junge nach der Schule immer. 338 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="339"?> Ersatz‐ probe Streich-/ Weglass‐ probe Jedoch nicht: *Nach der Schule spielt der immer kleine Junge mit seinem Hund. Für Schüler: innen schwerer nachvollziehbar ist der Unterschied zu folgen‐ der umgestellter Variante: Immer nach der Schule spielt der kleine Junge mit seinem Hund. An dieser Stelle könnte in der Schule angesetzt werden: Passt dieser Satz in die oben erhaltene Reihe oder nicht? Die Umstellprobe kann auch für stilistische Analysen und Abwägungen herangezogen werden. Die Ersatzprobe bezieht sich darauf, dass in einem Satz ein Wort oder eine Wortgruppe ersetzt wird. Durch diese Ersetzung können Wörter bezie‐ hungsweise Wortgruppen paradigmatisch nach bestimmten grammatischen Merkmalen geordnet werden. Nach der Schule spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Vor dem Essen spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Davor spielt er immer damit. Beim Vorlesen lacht die alte Frau oft mit ihrer Enkelin. Die Weglassprobe dient der Unterscheidung von fakultativen und obligato‐ rischen Satzteilen. Ebenso verdeutlicht sie, dass beim Weglassen des jeweils ersten Satzgliedes ein anderes an dessen Stelle treten muss, wenn sich der Satzmodus nicht ändern soll. Nach der Schule spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Nach der Schule spielt der kleine Junge mit seinem Hund. - Der Junge spielt. - - - Im Grammatik-Duden (Dudenredaktion 2016: 129 ff.) sind neben den oben dargestellten fünf weitere Proben aufgeführt, darunter die Einsetzprobe 6.6 Operationaler Grammatikunterricht 339 <?page no="340"?> - zum Beispiel zur Bestimmung von Adjektiven beim Einsetzen in Nomi‐ nalgruppen (der ständige Flops, *der immer Flops) -, die Flexionsprobe zur Bestimmung der Wortart (ich renn-e, du renn-st, sie renn-t) und die Erweite‐ rungsprobe, bei der durch Erweiterungen beziehungsweise Kombinierungen grammatische Eigenschaften eines Wortes bestimmt werden: Adrian hasst warten/ Warten. Adrian hasst das Warten. Die Proben werden von Glinz zunächst sprachwissenschaftlich begründet - als Methode einer objektiven Sprachanalyse. In einem zweiten Schritt stellt Glinz sprachdidaktische Prinzipien auf, die sich in allen nachfolgenden Konzeptionen mehr oder weniger stark wiederfinden und hier zusammen‐ gefasst werden sollen: Ein operational ausgerichteter Grammatikunterricht ■ setzt bei den Intuitionen der Lernenden an, ■ ist gebrauchs- und inhaltsorientiert, ■ hat eine deskriptive Sicht auf Grammatik, ■ schließt interpretative Prozesse ein, ■ fördert einen handelnden, operationalen Umgang mit Sprache und sieht ihn als Voraussetzung für Erkenntnisgewinn und Kategorisierung, ■ bindet grammatische Untersuchung an Texte (Glinz 1993: 282) an - wenngleich Glinz auch Wort und Satz als „die beiden grundlegenden Einheiten der Sprache“ (ebd.: 283) bezeichnet, ■ geht experimentierend vor. Problematisierung Ein operationaler Zugang durch die Methode des Erprobens wird in der Sprachdidaktik ambivalent betrachtet: Einerseits wird betont, dass die Pro‐ ben, die sowohl im F UNKTIO NAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→-6.9) als auch in der G R AMMATIK -W E R K S TATT (→ 6.10) ebenfalls eine zentrale Rolle spielen, „eine Öffnung nicht nur für eine Linguistisierung bewirkt, sondern auch für eine Anerkennung des Schulkindes als kompetentem Sprecher bzw. Sprachteilhaber gesorgt“ (Klotz 1996: 18) hätten. Was für einen operational verfahrenden Grammatikunterricht spricht, sind zum Beispiel der induktive Unterrichtscharakter, die Möglichkeit des entdeckenden Lernens und die Handhabbarkeit der Proben. Dementsprechend urteilt Funke, dass es die „Gleichzeitigkeit von operationaler Strenge und interpretativer Differen‐ ziertheit [sei], welche das Anregungspotential der glinzschen Arbeiten 340 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="341"?> Hauptkritik ausmacht“ (2001: 308). Dagegen wird an vielen Stellen kritisiert, dass die Anwendung der Proben grammatisches Wissen bereits voraussetze. Im Rahmen der Forderung, bei der Beschäftigung mit Satzgliedern nicht mit der abstrakten Kategorie Subjekt zu beginnen, sondern mit Adverbialen, schreibt Menzel: Wir nehmen ja gutgläubig an, wer nur die Frage richtig stelle, der komme damit zu der richtigen Antwort. Der Prozess des Denkens dürfte aber andersherum laufen: Wer das Subjekt schon kennt, kann auch die Frage richtig stellen. (1999: 47) Damit formuliert Menzel die Hauptkritik, der die Arbeit mit den Glinz’schen Proben ausgesetzt ist. Switalla betont die Komplexität der Arbeit mit gram‐ matischen Operationen aus einer anderen Perspektive: Auch die in den Schulgrammatiken eingeführten operationalen Verfahren, zum Beispiel zur Bestimmung von Satzgliedern, die man gelegentlich für den Inbegriff einer strukturalen Grammatik hält, sind übrigens nichts anderes als (höherstu‐ fige) intentionale Interpretationen sprachlicher Äußerungen und sprachlicher Ausdrücke. Ihre technisch-operationale Präsentation verdeckt nurmehr die Kom‐ plexität der sprachreflexiven und sprachanalytischen Überlegungen, zu denen eine Person imstande sein muß, wenn sie deren Sinn verstehen und begreifen können soll. Die sogenannten Proben sind ja nichts anderes als schematisierte Kurzformen von Argumentationen über grammatische Sachverhalte. (1993: 55) Kritik an den Proben wird auch in Bezug auf ihre Kontextabhängigkeit (Gornik 2006: 818) geübt. Weitere Kritikpunkte betreffen aber auch Schwie‐ rigkeiten, die sich in erster Linie nicht aus der Glinz’schen Theorie, son‐ dern aus deren verkürzter Rezeption und einer Schematisierung in der Anwendung ergeben und - entgegen der Glinz’schen Intention - zu einem grammatischen Schubladendenken ohne begriffliches Verstehen führen können. Hoffmann warnt deshalb: Die strukturalistischen Proben lassen sich sinnvoll nur in einem sprachtheoreti‐ schen Rahmen einsetzen, der Sprachwissen, Systemzugang, Funktionalität der differenten Strukturelemente vorab vermittelt und Intuitionen ausbildet, die eine kritische Nutzung der Operationen gestatten. Mechanische Durchführung führt zu undifferenzierter Bewusstheit sprachlicher Vielfalt, stellt vor das Problem, zwischen variablen Strukturen zu unterscheiden und dazu grammatische Krite‐ rien einsetzen zu müssen, die man nicht hat. (2005: 11) 6.6 Operationaler Grammatikunterricht 341 <?page no="342"?> Trotz aller Kritik, die der Glinz’schen Grammatik und damit auch seinen Proben in der deutschdidaktischen Diskussion widerfahren sind, bleibt zu resümieren: Der O P E R ATIO NAL E G R AMMATIKUNT E R R ICHT hat eine moderne Sprachdidaktik begründet. Aufgaben 1. Zur Unterscheidung von Präpositionalobjekt und adverbialer Bestim‐ mung wird häufig die Weglassprobe empfohlen; streichbar seien nur adverbiale Bestimmungen. Testen Sie das an den folgenden Beispielen (Hinze/ Köpcke 2011: 64): Die Spieler warten auf dem Fußballplatz. Die Spieler warten auf dem Fußballplatz auf den Anpfiff. Welche Schwierigkeiten ergeben sich? Einen ausführlichen Lösungsvor‐ schlag geben Hinze/ Köpcke (ebd.). 2. Führen Sie an den ersten Versen des Gedichts Der Panther von Rainer Maria Rilke die Glinz’schen Proben durch. Welche Ergebnisse/ Erkennt‐ nisse gewinnen Sie? Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung D U D E N R E D A K T I O N (2016) (erweitert die Glinz’schen Proben um weitere Proben; knappe und übersichtliche Darstellung und Erläuterung) G L I N Z , H. (1965) (gibt einen umfassenden Einblick in die Glinz’sche Theorie) H I N Z E , C./ K ÖP C K E , K.-M. (2011) (ein hervorragendes, phänomenorientiertes Bei‐ spiel für eine sinnvolle, kritische Einbindung operationaler Verfahren und deren Verknüpfung mit anderen theoretischen und methodischen Zugängen) 342 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="343"?> Zielset‐ zung 6.7 Situationsorientierter Grammatikunterricht Der Grundgedanke situationsorientierten Deutschunterrichts läßt sich dahin‐ gehend zusammenfassen, daß hier die ‚jetzigen‘ innerschulisch zugänglichen Lebenssituationen und -erfahrungen der Schüler als paradigmatische, modellhafte Lernsituationen aufgegriffen werden; sie werden gemeinschaftlich in der Klassen‐ gruppe in Reflexions- und Aktionsprozessen bearbeitet. (Boettcher/ Sitta 1981: 125, Herv. i.-O.) Der S ITUATIO N S O R I E NTI E R T E G R AMMATIK UNT E R R ICHT , der auch S ITUATIV E R G R AM ‐ MATIKUNT E R R ICHT genannt wird, lässt sich einordnen in eine Reihe kommu‐ nikationsorientierter Ansätze, die auch und vor allem in der Schreibdidaktik (→ 3.9) ihre Wirkung zeigten. Grammatikdidaktisch von Bedeutung sind vor allem die Arbeiten von Boettcher/ Sitta (z. B. 1979 u. 1981), deren Kernausführungen im Folgenden dargestellt werden. Darstellung 1978 erschien - im Zuge und als Folge der sogenannten pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft - erstmals Boettchers und Sittas Publika‐ tion Der andere Grammatikunterricht. Mit ihrer Konzeption distanzieren sich die Autoren vom T R ADITION E LL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→-6.5) und stellen diesem einen sprachgebrauchsorientierten, integrativ und induktiv ausge‐ richteten Unterricht gegenüber. Nicht systematisch aufgebautes Wissen über Sprache, sondern Sprachreflexion und die Förderung der kommunika‐ tiven Kompetenz der Schüler: innen bilden den programmatischen Kern. Boettcher/ Sitta halten fest: Während klassischer Grammatikunterricht unter der Zielsetzung ‚Einsicht in den Bau der Sprache‘ den Schülern Kenntnisse über grammatische Regularitäten im Bereich Wort und Satz vermitteln wollte, will situations- (und kommunika‐ tions-)orientierter Grammatikunterricht unter der Zielsetzung ‚Verstehenshilfe‘ Schülern (analytische) Verfahren und (metakommunikative) Argumentationsfä‐ higkeiten gegenüber (problematischen) Äußerungs-/ Textzusammenhängen ver‐ mitteln, bzw. […] unter der Zielsetzung ‚Verständigungskritik‘ (analytische) Verfahren und (metakommunikative) Argumentationsfähigkeiten gegenüber (problematischen) Äußerungs-/ Textzusammenhängen und deren (problemati‐ schen) gesellschaftlichen Bedingungszusammenhängen. (1981: 201 f., Herv. i.-O.) 6.7 Situationsorientierter Grammatikunterricht 343 <?page no="344"?> Orientie‐ rung am Sprachge‐ brauch der Lernenden integrierte Sprachreflexion Damit rückt ein Prinzip in den Vordergrund, das den Grammatikunterricht um ein wichtiges Element ergänzt: das Prinzip der Orientierung am tat‐ sächlichen (auch mündlichen) Sprachgebrauch und an für die Lernenden relevanten Sprechhandlungssituationen. Boettcher/ Sitta, beide Vertreter der Aachener Gruppe, fragen in ihrem Buch „nach Begründungen, Prinzipien und Realisierungsmöglichkeiten von Grammatikunterricht im Rahmen des Lernfeldes ‚Reflexion über (sprachliche) Kommunikation‘ im Kontext eines insgesamt schüler- und situationsbezogenen Deutschunterrichts“ (1981: 5). Sie wollen damit an die Spracherfahrungen der Schüler: innen anknüpfen und propagieren einen Grammatikunterricht, der sich am Sprachgebrauch - und nicht an einem abstrakten System oder an abstrakten Sprachnormen - orientiert. Boett‐ cher/ Sitta stellen den „Standardbegründungen für Grammatikunterricht“ (ebd.: 140) eigene Rechtfertigungsaspekte gegenüber, die sich an der Steue‐ rung des eigenen sprachlichen Handelns und an metasprachlichen und metakommunikativen Situationen orientieren. Ein kommunikationsinten‐ siver Unterricht soll es den Lernenden ermöglichen, über Sprachverwen‐ dung nachdenken und sprechen zu können. Sie sollen ihre Spracherfahrun‐ gen stets in den Unterricht einbringen können, um situationsgebundenes sprachliches Verhalten besser verstehen zu lernen (ebd.: 25). Grammatische Sprachreflexion wird als Chance zur Sprach- und Normkritik verstanden. Hintergrundinformation Als Aachener Gruppe bezeichnet man eine Gruppe von Deutschdidakti‐ kern (v. a. Boettcher, Firges, Sitta u. Tymister), die im Zusammenhang mit der pragmatischen Wende in den 1970er-Jahren eine Kommunika‐ tionsorientierung im Deutschunterricht etablierten. Boettcher/ Sitta sprechen dem Grammatikunterricht einen eigenen autono‐ men Gegenstandsbereich ab und sehen seine Gegenstände vielmehr als „Aspekte von Äußerungs- und Textzusammenhängen, die erst im Kontext komplexer Sprachverwendungsprozesse ihre Bedeutung erhalten“ (ebd.: 181). Sie plädieren für eine „massive Reduktion systematischen Gramma‐ tikunterrichts“ (ebd.: 182) und halten fest, „daß wir unter ‚Grammatikun‐ terricht‘ nicht primär an ganze Grammatikstunden denken, sondern an Reflexionsmomente oder Reflexionsphasen innerhalb komplexer Unter‐ 344 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="345"?> richtszusammenhänge“ (ebd.: 240, Herv. i. O.). Reale Situationen sollen den Ausgangspunkt grammatischer Reflexion bieten (wobei Boettcher/ Sitta betonen - das wird zu Unrecht häufig gegenteilig dargestellt -, dass auch die Lehrenden Situationen gezielt erzeugen können). Grammatikunterricht könne demnach auch zum Beispiel innerhalb einer Sportstunde stattfinden, wenn etwa die Äußerungsstruktur und kommunikative Rolle von Zurufen (Zu mir! , Flanke! ) oder sprachliche Aspekte von Anfeuerungsrufen themati‐ siert werden. Das Sprachbuch fungiert in dieser Form von Unterricht lediglich als Nachschlagewerk oder begleitende beziehungsweise nachträgliche Struktu‐ rierungsmöglichkeit. Eine gewisse Systematisierungsnotwendigkeit wird trotz der Situationsorientierung nicht rigoros ausgeschlossen. Ebenso sehen Boettcher/ Sitta die Vermittlung von Fachtermini und -begriffen als notwen‐ dig an. Jegliche Impulse sollen aber stets von den kommunikativen Bedürf‐ nissen der Schüler: innen ausgehen und unterrichtliche Ziele erschöpften sich nicht in der Erfüllung curricularer Vorgaben, sondern seien stets in übergeordneten, sprechhandlungsbezogenen Intentionen zu finden. Chumm! (s. im Folgenden Boettcher/ Sitta 1981: 207 ff.) Ein Lehramtskandidat bekommt vom Klassenlehrer den Auftrag, wäh‐ rend seines Praktikums in einer 6. Klasse einer Züricher Primarschule das Erkennen der Satzarten, Befehlsformen und die damit verbundene Zeichensetzung zu wiederholen. Auf dem Pausenhof beobachtet der Lehramtskandidat eine Szene zwischen einem neuen Schüler, der sich noch in einer Außenseiterrolle befindet, und dem ‚Klassenchef ‘, dessen Mannschaft zuvor in der Turnstunde gegen die Mannschaft des ‚Neuen‘ verloren hat. In der Pause spielen die Jungen wieder Fußball, nur der Neue steht abseits. Der ‚Klassenchef ‘ ruft ihm plötzlich zu: chumm, chasch cho, chunsch [Komm, du kannst kommen, kommst du]. Als der Neue freudig das Feld betritt, wird er vom ‚Klassenchef ‘ geohrfeigt. Anhand dieses Beispiels bespricht der Lehramtskandidat nun in der Fol‐ gestunde, was mit der Aussage des ‚Klassenchefs‘ gemeint gewesen sein könnte (eine Drohung, eine Aufforderung, eine Frage) und wie sie vom neuen Schüler verstanden worden war (als Einladung, Aufforderung). Die Probleme zweier Ebenen, der Zeichensetzung und der Sprechakte, werden thematisiert und die situative Einbettung und kontextuelle Abhängigkeit von Sprache demonstriert. 6.7 Situationsorientierter Grammatikunterricht 345 <?page no="346"?> Eine Reihe weiterer konkreter situativer Beispiele, zu denen jeweils eine Reflexionsrichtung angegeben wird, findet sich in Boettcher/ Sitta (1981: 241 ff.). Problematisierung Das Konzept des S ITUATION S O R I E NTI E R T E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT S wurde stark kritisiert und erweist sich ‚in Reinform‘ als ungeeignet für die Praxis. Man muss Boettcher/ Sitta allerdings zugestehen, dass ihre Konzeption oftmals vereinfacht und demzufolge auch falsch dargestellt wird. Dazu kommt, dass sie den Absolutheitsbeziehungsweise Ausschließlichkeitsanspruch, der dem S ITUATIO N S O R I E NTI E R T E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT häufig unterstellt wird, immer wieder relativieren. Kritikpunkte, die häufig genannt werden, sind die fehlende Systematik und damit die fehlende Struktur grammatischen Wissens, ein zu kurz greifendes sprachtheoretisches Fundament und die Tatsache, dass an die Lehrkraft kaum zu erfüllende Erwartungen gestellt würden: Diese müsse die sich aktuell bietende Chance zur Sprachreflexion erkennen, über die jeweils notwendigen fachlichen Grundlagen verfügen und schließlich auch fähig sein, ‚aus dem Stegreif ‘ und ohne Unterstützung durch Sprachbücher oder andere Medien eine induktive Erarbeitung durch die Schüler: innen zu ermöglichen. Dementsprechend verteidigt Menzel seine systematische Kon‐ zeption einer G R AMMATIK -W E R K S TATT (→ 6.10) „gegen die Unverbindlichkei‐ ten und Verlegenheiten eines situationsorientierten Grammatikunterrichts, der halbherzig und en passant Grammatik lehrt und den Lernenden keinen Begriff von Grammatik vermittelt“ (2000a: 246). Er fährt fort: Doch so, wie sich Boettcher/ Sitta ihr Konzept vorgestellt hatten, oder besser: wie es dann von Lehrplänen (miss-? )verstanden worden ist, hatte es in der Schule keine Chance. Das lag an der immensen Kompetenz in grammatischen Dingen, die es bei den Lehrenden voraussetzte, und an der niemals erreichten und wohl auch nicht zu erreichenden Koordination von Grammatik und Pragmatik. (Ebd.: 247) Ein Curriculum, das auf Systemfragen der Grammatik aufbaue und in verschiedene sprachliche Situationen hineinführe, sei dagegen einfacher zu bewerkstelligen. Die Urheber haben selbst auf die Gefahr hingewiesen, dass ihre Konzeption als „systematikfeindlich mißverstanden“ (Boettcher/ Sitta 1981: 298) werden könnte, und betonen gleichzeitig, dass situationsorientier‐ 346 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="347"?> tes Arbeiten Erfahrungen ermögliche, „auf deren Grundlage eine begriffliche Systematisierung erst fruchtbar werden kann“ (ebd.: 299, Herv. i.-O.). Auch das Prinzip der Orientierung an den Schülerinnen und Schülern wird bezweifelt. So weist Haueis auf die fehlende Berücksichtigung tatsäch‐ licher Lernvoraussetzungen wie Alter und Erfahrungen hin (1981: 13). Allgemeindidaktisch kritisch zu bewertende Aspekte, wie zum Beispiel die Voraussetzung eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Lernenden und Lehrenden, spielen in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Rolle. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Art des grammatischen Wissens, das fokussiert wird. Die Bindung von Sprachreflexion an Situa‐ tionen reduziere grammatisches Wissen auf sprachpraktische Fähigkeiten im Sinne von sprachlicher Kompetenz oder auf bloße Automatismen: Ein Registrieren syntaktischer Strukturen als Begleitphänomen, als zusätzliche Dimension einer die Sprechsituation anreichernden Kognition werde nicht ins Auge gefasst (Funke 2001: 313). Funke zieht schließlich das Fazit, „dass das Vorhaben, einen Sinn grammatischen Wissens zu finden, indem man nach dessen Rolle in kommunikativen Situationen fragt, dem Versuch gleichkommt, Wasser mit einem Sieb zu schöpfen“ (ebd.: 313). Weitere Kritikpunkte finden sich bei Gornik (2006: 821); zu den Voraus‐ setzungen für den S ITUATION S O R I E NTI E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT - jedoch nur in Bezug auf die Lehrperson - siehe Peyer (2021: 78). In Bezug auf die Schüler: innen merkt Funke an: „Weder Boettcher/ Sitta noch Augst und Nündel thematisieren die Schwierigkeiten, die mit grammatischem Lernen erfahrungsgemäß verbunden sind, zumindest für Schülerinnen und Schüler der Grund-, Haupt- und Realschule“ (2001: 312). Die extreme Position Boettchers und Sittas, die dem Image des S ITUATI ‐ O N S O R I E NTI E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S letztlich eher geschadet hat, muss im Zusammenhang ihrer Zeit gesehen werden. Dass das Prinzip der Situa‐ tionsorientierung innerhalb eines systematischen Rahmens durchaus sehr gewinnbringend sein kann, zeigt seine Adaption in anderen Konzeptionen, zum Beispiel im K ONT R A S TIV E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.11). Es sollte darüber hinaus selbstverständlich sein, dass Lehrkräfte prinzipiell situativ angemessen reagieren und sprachunterrichtlich relevante Situationen auf‐ greifen können müssen. Die Ausführungen von Boettcher/ Sitta (1981) - mit einem Kapitel zu konkreten methodischen Problemen und zu Kontext- und Hintergrundwissen für Lehrer: innen zum Bereich Grammatikunterricht - können eine Orientierung dafür bieten, wie ein derartiges Vorgehen methodisch umsetzbar ist. 6.7 Situationsorientierter Grammatikunterricht 347 <?page no="348"?> Aufgaben 1. Diskutieren Sie, inwieweit grammatikunterrichtliche Sequenzen, die situativ stattfinden, mit der Benotungspflicht Lehrender vereinbar sind. 2. Vergleichen Sie den S ITUATION S O R I E NTI E R T E N mit dem INT E G R I E R T E N G R AM ‐ MATIK UNT E R R ICHT (→ 6.8) und stellen Sie Gemeinsamkeiten und Unter‐ schiede fest. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B O E T T C H E R , W./ S I T T A , H. (1981) (das Standardwerk des S I T U A T I O N S O R I E N T I E R T E N G R A M M A T I K U N T E R R I C H T S ; einer sprachtheoretischen Begründung der konzeptio‐ nellen Ideen folgen die Aufreihung von Prinzipien eines situationsorientierten Deutschunterrichts und einer Vielzahl an kommunikativ ausgerichteten Qualifi‐ kationen der Schüler: innen, zu deren Erwerb diese Konzeption beitragen soll) B O E T T C H E R , W./ S I T T A , H. (1979) (der Basisartikel ist eine Zusammenfassung der ein Jahr zuvor in der Erstauflage erschienenen Publikation) 6.8 Integrierter Grammatikunterricht Textanalyse, Sprach- und Grammatikreflexion, mündliche und schriftliche Sprachproduktion sind nicht total verschiedene Disziplinen, sie bilden eher verschiedene Phasen oder alternative Möglichkeiten innerhalb einer einzigen Auseinandersetzung mit einem Thema oder Problem. (Wunderlich/ Conrady 1978: 298) Der Forderung nach einem integrativen Vorgehen im Deutschunterricht - wie sie auch in den deutschen Lehr- und Bildungsplänen verankert ist - versucht eine Vielzahl deutschdidaktischer Ansätze nachzukommen, die sich selbst als integrativ bezeichnen. Der Bedeutungsrahmen des teilweise inflationär gebrauchten Begriffs, der oftmals gleichbedeutend mit einem an den Lernenden orientierten, lebensweltnahen unterrichtlichen Vorgehen verwendet wird (Klotz 2008: 50; Belke 2019: 111), ist dementsprechend groß und erfordert verschiedene Begriffsdimensionen. 348 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="349"?> Integrativer Deutschunterricht Die Idee eines integrativ angelegten Deutschunterrichts ist nach Klotz mit dem Wunsch nach der Verbindung von Grammatik und Pragmatik in den 1970er-Jahren geboren. Klotz unterscheidet zwischen binnenfach‐ licher und fächerübergreifender Integration. Erstere definiert er als die „bewusste Vernetzung zweier oder dreier Bereiche des Deutschunter‐ richts“ (2008: 62, Herv. i. O.). Traditionell betrifft diese Verbindung die Bereiche Grammatik und Schreiben. Auch die Integration von Sprach- und Literaturunterricht fällt unter die binnenfachliche Integration. Der INT E G R I E R T E G R AMMATIKUNT E R R ICHT ist somit Teil einer „Verbindung und wechselseitigen Funktionalisierung von Sprach- und Literaturun‐ terricht“ (ebd.: 60). Hierbei geht es Klotz um eine Integration, die er als “frag-würdig” (2003: 51, Herv. i. O.) bezeichnet, bei der sich die beiden Disziplinen gegenseitig befruchten mit dem Ziel, spezifische, auch ästhetische (Sprach-)Erfahrung zu ermöglichen und sprachliche Sensibilität zu fördern (2008: 64). Für die Verbindung von Sprach- und Literaturunterricht gibt es zahlreiche Hinweise aus der Fachdidaktik. Wir möchten hier insbesondere auf Abraham (2001) und Scherner (2007 u. 2011) hinweisen. Scherner zeigt unter anderem am Beispiel der Konjunktionen, wie er sich einen INT E G R I E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT vorstellt (s. im Folgenden 2007: 74 f.): Konjunktionen würden traditio‐ nell als Bindewörter gelehrt - mit der Funktion, Sätze miteinander zu verbinden. Diese Definition weist Scherner als zu monodimensional aus. Vielmehr müsse gezeigt werden, wie Konjunktionen „auf das Zu‐ sammenspiel von Vorwissen und Fokuslenkung im Verstehensprozess bezogen“ (ebd.) seien. Er verdeutlicht seine Ausführungen am Beispiel eines Auszugs aus Thomas Manns Tonio Kröger. Nachdem Tonio seiner Freundin Lisaweta eine Reise in den Norden angekündigt hatte, beginnt das Folgekapitel der Erzählung folgendermaßen: Und Tonio Kröger fuhr gen Norden. Im Unterricht könne man nun thematisieren, dass die Kon‐ junktion keine primär satzverknüpfende Funktion habe, sondern „auf den im voraufgehenden Kontext aufgebauten propositionalen Gehalt, der dem Leser in seinem Horizont als mitlaufender textueller Wissens‐ raum im Rahmen der ‚Textwelt‘ zur Verfügung steht“ (ebd.: 75), ver‐ weise. Von dieser erweiterten Perspektive auf sprachliche Phänomene profitiere nicht nur der Sprach-, sondern auch der Literaturunterricht. 6.8 Integrierter Grammatikunterricht 349 <?page no="350"?> Ziel Unter fächerübergreifender Integration versteht Klotz die „natürliche Zusammenführung der fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten - freilich oft mit Barrieren, die überwindbar sind und deren Überwindung selbst routiniert werden kann, nämlich durch Integration“ (2008: 67). Das Fach Deutsch ist in anderen Schulfächern immer dort relevant, wo Lernen - und das ist es zum Großteil - sprachgebunden ist. Die Beispiele, die Klotz unter anderem für die Verbindung von Deutsch und Physik sowie Deutsch und Geographie anführt, versuchen, dem Rechnung zu tragen. Teil eines integrativen Deutschunterrichts, den Klotz als „höchst virulente Konzeption“ (ebd.: 59) bezeichnet, ist der INT E G R I E R T E G R AMMATIK UNT E R R ICHT , der auf der Annahme basiert, „dass sprachlich-grammatisches Wissen im‐ mer nur im Verbund mit anderen Wissensdomänen unserer Kognition funk‐ tioniert“ (Scherner 2011: 378). Wieland plädiert in diesem Zusammenhang schlüssig für die Bezeichnung INT E G R I E R T E R G R AMMATIK UNT E R R ICHT (2013: 351). Dem folgen wir, weisen aber darauf hin, dass es ebenso berechtigt ist, vom INT E G R ATIV E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT zu sprechen, wenn man dessen integrierende Funktion - die, wie Belke 2019 (→ 352 f. und 372 f.) zeigt, vielschichtig sein kann - betonen möchte. Darstellung Als Grundanliegen des INT E G R I E R T E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT S wird in der Fachdidaktik (Gornik 2006; Wieland 2013) besonders die Verbindung eines systematischen mit einem situationsorientierten Vorgehen betont. Dement‐ sprechend definieren Knapp/ Oomen-Welke diejenigen Ansätze als integra‐ tiv, die das Ziel verfolgen, „die Situations-, Kommunikations- und Hand‐ lungsorientierung in Einklang mit systematischem (Grammatik-)Unterricht und sprachlichem Regelwissen zu bringen und insofern die Unzulänglich‐ keiten der einseitigen Ansätze zu überwinden“ (2020: 185). Im Gegensatz zum S ITUATIO N S O R I E NTI E R T E N (→ 6.7), in dem in erster Linie reale Situationen aufgegriffen werden, sollen im INT E G R I E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT auch fiktive Kommunikationsanlässe genutzt werden, also „geplante, konstru‐ ierte, künstlich arrangierte Situationen, die sowohl ein methodisch genau geplantes Handeln ermöglichen als auch die Einbindung der verschiedenen Aufgaben des Deutschunterrichts gewährleisten“ (Boueke 1993: 78). 350 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="351"?> Teilaspekte eines INT E G R I E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S finden sich, wenn auch nicht terminologisch so bezeichnet, bereits bei Glinz (→ 6.6). Auch Köller (1997) (→ 6.9) formuliert als eines seiner Prinzipien das integrative Prinzip. Einen entscheidenden Beitrag zur Popularität des INT E G R I E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S leistet schließlich Einecke, dessen Ausgestaltung - auch wegen seiner langjährigen, inzwischen eingestellten Online-Präsenz - wohl die bekannteste unter Studierenden ist. Didaktische Grundlage der Überlegungen von Einecke ist eine funktionale Grammatik, die unter ande‐ rem nach der Funktion grammatischer Elemente in einem Text fragen und die Wirkungsperspektive einbeziehen müsse (1994: 12). Als methodische Aspekte eines INT E G R I E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S nennt er induktiv einfüh‐ ren, an andere Stoffe anbinden, situativ aufgreifen, wiederverwenden und im Exkurs ergänzen (ebd.: 11). Auch die Glinz’schen Proben (→ 6.6) spielen immer wieder eine wichtige Rolle. Einecke stellt den Versuch an, Sprach- und Literaturunterricht miteinander zu verbinden. Im Literaturunterricht gehe es „um den längerfristigen Aufbau des literarischen Lernens und des Leseverstehens der Schüler über die Vermittlung von Teilkompetenzen“ (ebd.: 43), im Bereich Reflexion über Sprache „um die Behandlung gram‐ matischer Phänomene in ihren Verwendungszusammenhängen sowie um den Aufbau der sprachlichen Reflexionsfähigkeit der Schüler“ (ebd.). Er weist darauf hin, dass in einem integrativen Deutschunterricht einzelne Teilbereiche „wechselnd die Stimmführung übernehmen“ (ebd.) könnten. Einecke bietet Unterrichtssequenzen mit didaktischen und methodischen Kommentaren und zahlreiche Kopiervorlagen an. Darüber hinaus gibt er den Lehrenden Bewertungshinweise (ebd.: 63 ff.) und - als Alternative zum ‚klassischen‘ Grammatiktest - Beispiele für integrierte Grammatikarbeiten. Zentral ist, dass er von einer „weiträumigen Unterrichtsplanung“ (ebd.: 43) ausgeht - er plädiert explizit dafür, weg „von Einzelstunden“ (ebd.) zu kommen: Auf den Wolf gekommen In einer Unterrichtssequenz zum Thema Auf den Wolf gekommen (s. im Folgenden ebd.: 101 ff.) für die Jahrgangsstufen 5/ 6 geht es um die Komplexität von Sätzen. Die Schüler: innen lernen einfache und komplexe Sätze, Satzreihen und -gefüge kennen, indem sie sich mit unterschiedlichen Texten zum Thema Wölfe beschäftigen, das eine gute „Verbindung fiktionaler und nicht fiktionaler Texte in altersgemäßer 6.8 Integrierter Grammatikunterricht 351 <?page no="352"?> Dimensio‐ nen von In‐ tegration Form“ (ebd.: 106) ermögliche. Dabei kommen Redensarten, Erzählungen, Fabeln, Gedichte, Zeitungsmeldungen, einfache und später auch kom‐ plexere Sachtexte zum Einsatz. Neben zahlreichen literaturdidaktischen Zielsetzungen werden fol‐ gende sprachliche aufgeführt: Die Schüler: innen unterscheiden in der Sequenz einfache Sätze und Satzgefüge und reflektieren die Rolle von Gliedsätzen, untersuchen die Satzverknüpfung in einer Fabel, wenden syntaktische Mittel selbst an oder erkennen im Rahmen eines Vergleichs von einem Filmbuch und einem Roman die „unterschiedliche Textkom‐ plexität als Ursachen für Lesefluß und -widerstand“ (ebd.: 102). Neben Einecke betonen auch andere Didaktiker: innen die Nähe des INT E ‐ G R I E R T E N zum F UNKTIONAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.9). Klotz geht es um „die Vorstellung von funktionalen Affinitäten“ (2008: 60), Berkemeier (2011: 57 f.) schlägt einen INT E G R I E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT auf der Grundlage einer funktional-pragmatischen Grammatik vor. Somit könne Integration als Prinzip eines F UNKTIO NAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S charakterisiert werden. Ein explizit mehrsprachigkeitsorientierter integrativer Ansatz stammt neben dem Rothstein’schen sprachintegrativen Ansatz (→-6.11) von Belke. Sie nimmt eine differenzierte Skizzierung des Begriffs Integration vor (2019: 111 ff.) und führt folgende Begriffsaspekte auf: ■ Integration der verschiedenen sprachlichen Ebenen ■ Integration sprachlicher Phänomene in Kontexte und Handlungszusam‐ menhänge ■ Integration der verschiedenen Bereiche des Deutschunterrichts ■ Integration der Kinder mit DaZ in einem gemeinsamen Deutschunter‐ richt ■ Integration der Herkunftssprachen ■ Integration von Spracherwerb und Sprachvermittlung ■ projektorientierte Einbindung des Sprachunterrichts In den letzten Jahren liegen verstärkt fachdidaktische Vorschläge zur Ver‐ knüpfung sprachlichen und literarischen Lernens vor (z. B. Brüggemann/ Mesch 2020 a u. b; Themenheft Grammatik integrativ & funktional der Zeitschrift Grundschule Deutsch H. 51/ 2016). Hierbei wird die Idee eines inte‐ grativen Deutschunterrichts häufig mit Sprachförderung beziehungsweise sprachsensiblem Lernen verbunden. An Bedeutung gewinnen in diesem 352 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="353"?> Zusammenhang auch Bilderbücher (z. B. Hochstadt 2016a; Uhl 2020b; von Lehmden et al. 2017) - viele dieser Vorschläge sind sprachästhetisch ausgerichtet. Damit wird ästhetisches Lernen auch im Sprachunterricht immer stärker relevant (z. B. Hochstadt 2020a; Mayer/ Geist/ Krapf 2018). Problematisierung Dass das Prinzip der Integration eines der wesentlichen Prinzipien für den Deutschunterricht ist, wird heute in der Fachdidaktik weitgehend anerkannt, wenn auch auf der Basis unterschiedlicher Begriffsauslegungen. Dennoch ist der INT E G R I E R T E G R AMMATIKUNT E R R ICHT umstritten. Bredel kon‐ statiert, dass sich „der sog. integrative Grammatikunterricht […] häufig als rein methodisches Konzept ohne eigenständige theoretische Grundlage er‐ weist“ (2013: 226). Seine Vorbereitung und Durchführung erforderten hohe fachliche Kompetenzen, eine sorgfältige Planung und eine kritische Haltung der Lehrenden, um nicht unreflektiert „alles mit allem als integrierbar“ (Klotz 2008: 60) anzusehen. Klotz macht deutlich, dass nur das integriert werden könne, „was eigenständig und begrifflich gefasst ist und was unter einer erst festzustellenden bzw. zu definierenden Ganzheitsvorstellung zu‐ sammengeordnet werden soll oder zu einem offensichtlich Ganzen gehört“ (ebd.: 59). Dies wird häufig zu wenig berücksichtigt, sodass dann „nur zum Schein anhand eines Themas geschrieben oder gelesen, die Grammatikarbeit aber lediglich angehängt wird, ohne für das Schreiben oder Lesen wirklich von Nutzen zu sein“ (Gornik 2006: 823). Wieland formuliert die Kritik an der Umsetzung des integrativen Prinzips folgendermaßen: Wenngleich das Anliegen integrativer Ansätze grundsätzlich positiv zu bewerten ist, müssen konkrete Unterrichtsmaterialien doch kritisch geprüft werden. Inte‐ gration bedeutet immer auch, den Besonderheiten der einzelnen Lernbereiche gerecht zu werden. Nicht immer aber ist die Verbindung unterschiedlicher Aspekte sprachlichen Lernens sachgerecht, und nicht selten wird eine Sachfrage nur als motivierender Einstieg in ein grammatisches Thema benutzt. Wie viele Schülerinnen und Schüler mögen schon von einem ganz besonderen Erlebnis erzählt haben, nur um im Anschluss zu erfahren, dass sie für ihre mündliche Erzählung die Formen des Perfekts benötigen? (2013: 351) Dazu kommt, dass in der Schule häufig immer noch an einer formalen, präskriptiven, satzbezogenen Grammatik (s. dazu die Forderung Scherners 2011 nach einer Öffnung zur Textorientierung) festgehalten wird, die den 6.8 Integrierter Grammatikunterricht 353 <?page no="354"?> Ansprüchen eines INT E G R I E R T E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT S nur bedingt gerecht werden kann. I NT E G R I E R T E R G R AMMATIK UNT E R R ICHT - dies soll hier zum Abschluss noch einmal betont werden - muss besonders reflektiert vorbereitet und durch‐ geführt sein, damit er ein sinnvoller und gewinnbringender „Brücken‐ schlag zwischen sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher, zwischen sprachdidaktischer und literaturdidaktischer Analytik und damit auch zwischen Sprachunterricht und Literaturunterricht“ (Scherner 2011: 379) sein kann. Aufgaben 1. Eine Studentin plant eine Unterrichtsstunde zum Thema Subjekt. Als Einstieg liest sie einen Auszug aus Lindgrens Pippi Langstrumpf vor. Sie führt anschließend die Einheit Subjekt ein. Nach dieser Einführungs‐ phase sollen die Schüler: innen im Textauszug alle Subjekte einkreisen. Zum Schluss werden die Ergebnisse mithilfe des Overheadprojektors besprochen. Setzen Sie die Stunde in Verbindung zu den Prinzipien des INT E G R I E R T E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT S beziehungsweise des INT E G R ATIV E N D E UT S CHUN ‐ T E R R ICHT S . Beurteilen Sie die Stundenplanung vor diesem Hintergrund. 2. Überlegen Sie sich ein Beispiel für einen sinnvollen INT E G R I E R T E N G R AM ‐ MATIK UNT E R R ICHT zum Thema Präteritum. Denken Sie daran, dass Sie sich nicht auf eine Einzelstunde beschränken. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B E L K E , G. (2019) (erweitert die Konzeption unter anderem um wichtige DaZ- Aspekte) E I N E C K E , G. (1994) (sehr praxisnahes Grundlagenwerk zum I N T E G R I E R T E N G R A M M A ‐ T I K U N T E R R I C H T ) K L O T Z , P. (2003) (gibt einen interessanten Überblick über den I N T E G R A T I V E N D E U T S C H ‐ U N T E R R I C H T ) 354 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="355"?> Wilhelm Köller Zielsetzun‐ gen 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht Die funktionale Perspektive zeigt den Schülerinnen und Schülern, wozu wir Sprache haben und was wir damit tun und erreichen können, wie wir uns verständigen und woran wir scheitern können, welche Formulierung unser Handeln gelingen lässt und was in der Schrift - im Gegensatz zum Gespräch - erwartet wird. Der Blick richtet sich nicht auf tote Formen, sondern auf die Sprachwirklichkeit. Das führt zu einer neuen Motivation für die Grammatik. Sie ist nicht ein Lerngegenstand wie andere, sondern das Mittel, Sprache zu verstehen und zu erklären, besser sprechen und schreiben zu können. (Hoffmann 2006: 21) Der Begriff funktional erweist sich als außerordentlich vielfältig. Dementspre‐ chend werden unterschiedliche grammatikdidaktische Vorstellungen unter die Bezeichnung F UNKTIONAL E R G R AMMATIK UNT E R R ICHT subsumiert. Seit 1997 liegt ihnen mit der Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun et al.) eine entspre‐ chend funktional orientierte Grammatik zugrunde, seit 2013 wird diese durch Hoffmanns unter anderem für die (Aus-)Bildung von Lehrkräften konzipierte und 2021 in der 4. Auflage erschienene Deutsche Grammatik ergänzt. In funktional ausgerichteten Ansätzen des Grammatikunterrichts sollen grammatische Formen in Abhängigkeit von ihrem kontextuellen Auftreten hinsichtlich ihrer Funktion analysiert werden. Vor allem die konzeptionellen Vorschläge von Köller (1997), Klotz (1996) und Hoffmann (z. B. 2006) haben sich im fachdidaktischen Diskurs etabliert. Grundlagen Mit seinem 1983 erstmals erschienenen Band Funktionaler Grammatikunter‐ richt. Tempus, Genus, Modus: Wozu wurde das erfunden? legte Köller den Grundstein für einen Grammatikunterricht, als dessen Basis er nicht die grammatische Regel, sondern das grammatische, „organisierende“ (1997: 12) Zeichen versteht. Köller fokussiert auf die Funktionen grammatischer Zeichen. Er expliziert seine Ausführungen an den verbalen Kategorien Tempus, Genus und Modus. Köller nennt vier Zielsetzungen des Grammatikunterrichts (ebd.: 32 f.): ■ Identifizierung grammatischer Formen und Zuordnung zu einer gram‐ matischen Kategorie, um Strukturmuster wiederzuerkennen, ■ Perspektivierung sprachlicher Formen als Interpretation der Wirklichkeit, 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht 355 <?page no="356"?> Prinzipien ■ Funktionalität grammatischer Formen für bestimmte Äußerungssituati‐ onen und Textsorten und ■ Sprachkritik auf der Grundlage der Missbrauchsgefahr grammatischer Formen. Als Basis für die oben dargestellten Zielsetzungen formuliert Köller fünf Prinzipien, die bei der Konkretisierung methodischer Verfahren zu berück‐ sichtigen seien (ebd.: 29 ff.): Prinzip der Verfremdung Unter Verfremdung versteht Köller, „dem praktisch Bekannten durch Isola‐ tion, durch überraschende Kontexte, durch ungewöhnliche Gebrauchswei‐ sen oder durch Aufforderungen zur begrifflichen Erfassung seine Selbstver‐ ständlichkeit zu nehmen“ (ebd.: 29). Ziel dabei ist es, vorbewusstes Wissen bewusst und damit didaktisch nutzbar zu machen. Prinzip der operativen Produktivität Mit diesem Prinzip bezieht sich Köller auf die Glinz’schen Operationen (→ 6.6), die produktives Denken anregen und die kognitive Bewältigung der Ergebnisse sprachlicher Operationen seitens der Schüler: innen sichern sollen. Präpositionalobjekt vs. Präpositionaladverbiale Für die Unterscheidung von Präpositionalobjekten und Präpositional‐ adverbialen sollen die Schüler: innen überprüfen, ob eine Wortgruppe weggelassen werden kann. Die mögliche Fakultativität der Wortgruppe soll Aufschluss geben über den Satzgliedstatus: ■ Ich treffe mich [mit meiner Freundin]. Das Präpositionalobjekt kann nicht weggelassen werden, ohne dass die Satzbedeutung sich grund‐ legend ändert. ■ Dieses Kleid habe ich [in der Fußgängerzone] gekauft. Die adverbiale Bestimmung kann weggelassen werden. 356 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="357"?> Peter Klotz Das genetische Prinzip Diesem auf Wagenschein zurückgehenden Prinzip liegt die Überzeugung zugrunde, dass es - im Gegensatz zu einer schlichten Übernahme einer vorgegebenen Ordnung - „lernpsychologisch fruchtbarer sei, die Ordnungs‐ struktur eines Sachverhalts sukzessiv zu entwickeln“ (ebd.: 30). Das Prinzip richtet sich also gegen einen Grammatikunterricht, der terminologisch festgelegte Kategorien deduktiv vorgibt. Stattdessen sollten die Lernenden Strukturordnungen selbst ausarbeiten und lernen, wie eine Wissenschaft zu ihren Antworten gelangt ist, um somit die Genese grammatischer Begriffe nachvollziehen zu können. Das funktionale Prinzip Der Köller’sche Begriff der Funktion manifestiert sich auf zwei Ebenen. Zum einen bezieht er sich auf die instruktiven und kognitiven Funktionen grammatischer Formen. Zum anderen wird er eingebettet in unterricht‐ liche Kontexte: Grammatische Phänomene seien „nicht im Rahmen iso‐ lierter Beispielsätze […], sondern im Rahmen von Äußerungssituationen oder Situationszusammenhängen, die für die Schüler überschaubar sind“ (ebd.: 31), zu untersuchen. Schüler: innen sollten die Funktionalität gram‐ matischer Phänomene am besten an eigenen Texten verstehen lernen. Damit greift Köller Elemente des S ITUATIV E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S (→ 6.7) auf, deutet sie um und integriert sie in seine systematisch angelegte Konzeption. Das integrative Prinzip Hiermit formuliert Köller die Notwendigkeit, grammatische Phänomene in umfassendere Fragestellungen zu integrieren. Grammatisches Wissen versteht er als „Arbeitswissen und als Bildungswissen“ (ebd.). Köllers Ansatz ist ein systematisch orientierter (Gornik 2006: 824). Wenn‐ gleich er auch die Funktion sprachlicher Zeichen in den Vordergrund rückt, geht er primär von deren Form aus (Wieland 2013: 343). Klotz vertritt eine andere Ausrichtung des F UNKTIO NAL E N G R AMMATIKUNT E R ‐ R ICHT S . Er versucht, grammatische Arbeit für den Schreibunterricht nutzbar zu machen und mit dieser Funktionalisierung eine Begründung einer Gram‐ matikdidaktik vorzulegen, die sich in der Förderung der Textproduktions‐ fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern konkretisiert. Damit schlägt er 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht 357 <?page no="358"?> Ludger Hoffmann eine Brücke zwischen Schreib- und Grammatikunterricht und etabliert den Text als Kerngröße grammatikdidaktischer Überlegungen, um einer „Ein‐ zelsatz-Schulgrammatik“ (1991: 506) entgegenzuwirken. Klotz unterscheidet drei Arten von Handlungskompetenzen: ■ eine allgemeine Handlungskompetenz, die mit einer vorbewussten Kompetenzstufe verbunden ist, auf der „noch kaum Merkmale distinkt gewußt werden“ (1996: 92), ■ eine spezifizierte Handlungskompetenz und ■ eine wissenschaftliche Handlungskompetenz. Seine Interventionsstudie, die eine der wenigen empirischen Untersuchun‐ gen zum grammatischen Lernen ist, geht der Frage nach, „was denn Gram‐ matikunterricht unmittelbar für den Sprachgebrauch leistet“ (ebd.: IX). Als Resultat formuliert er das Ergebnis, daß die effektivste Form des Unterrichts die ist, die in der Anfangsphase Grammatikunterricht integriert und damit funktional bewußt macht, die aber dann neu mit einer Kognitivierungsphase einsetzt und später nicht integrierte Sprachleistungen einfordert. (Ebd.: X) Eine dritte Ausrichtung des F UNKTIO NAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S stammt von Hoffmann. Er strebt einen Grammatikunterricht an, der im Dienste des Lesen- und Schreibenlernens und der Hinführung zum kompetenten Sprachgebrauch steht. Ausgehend von der Annahme, dass „Grammatik […] nützlich für das Schreiben und Formulieren, für die Textarbeit, die Behandlung mündlicher Kommunikation und erste Einsichten in den Bau von Sprachen“ (2006: 44) sei, formuliert er folgende Zielsetzung: „Sprach‐ unterricht zielt auf Handlung und Erkenntnis im Anschluss an das Wissen der Sprechteilhaber und im Blick auf ihre künftige Praxis (Formulieren, Darstellen, Probleme bearbeiten, Schreiben)“ (2005: 24). Nicht künstliche Sprachbeispiele, sondern die ‚wirkliche‘ Sprache soll Gegenstand seines Ansatzes sein. In den Mittelpunkt stellt er - als Gegensatz zu isolierten Wörtern - die Einheit Wortgruppe als das, „was eine Handlungsfunktion hat“ (ebd.: 12). Theoretische Grundlage für Hoffmanns konzeptionelle Ausführungen sind Prozeduren (kleinste Funktionseinheiten zweckhaften Handelns), die in Feldern (Zeigfeld, Symbol-/ Nennfeld, Operationsfeld, Lenkfeld, Malfeld) organisiert sind - Einheiten, die in der traditionellen Schulgrammatik bisher keine Rolle spielten. Im Gegensatz zu Köller und Klotz berücksichtigt 358 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="359"?> Hoffmann immer wieder auch den Aspekt der Mehrsprachigkeit: „Das Kriterium der Funktion ermöglicht auch einen sprachenvergleichenden Zweitsprachunterricht, den wir heute so dringend brauchen“ (2006: 44; → 6.11). Für die unterrichtliche Umsetzung funktionaler Überlegungen schlägt er sogenannte didaktische Pfade vor, die die Lehrperson gemeinsam mit den Lernenden ‚beschreiten‘ kann. Diese Pfade sollen eine für die Ler‐ nenden sinnvolle Auswahl sprachlicher Mittel bieten. Von einer bestimmten kommunikativen Einheit ausgehend, der die Schüler: innen zum Beispiel im Text oder Gespräch begegnen, wird der Weg zu anderen sprachlichen Mitteln beschritten, deren Funktionen analysiert werden (s. Abb. 12). Erläuterung Wenn eine Sprecherin beziehungsweise ein Sprecher Schau, dort steht Martin äußert, vollzieht sie oder er mit dem Ausdruck dort eine deikti‐ sche Prozedur - sie oder er ‚zeigt‘, um die Hörerin beziehungsweise den Hörer zu orientieren. Mit dem Ausdruck Martin vollzieht sie oder er eine nennende Prozedur. Dieser didaktische Pfad führt „ausgehend von den Eigennamen über No‐ minalgruppen und die sog. Pronomen (Zeigwörter, Fortführer) als Funkti‐ onsträger hin zu einzelnen Wortarten“ (home.edo.tu-dortmund.de/ ~hoffm ann/ PDF/ FGG.pdf). Mit steigender Klassenstufe ist dementsprechend eine Abstrahierung des Lerngegenstandes verbunden. Wortarten werden nicht isoliert und unabhängig von ihrer Funktion behandelt, sondern in Wort‐ gruppen und in Bezug auf ihre Funktion. Schüler: innen lernen: Mit einer Wortgruppe aus Artikel und Nomen kann ich mich auf einen Gegenstand beziehen, wobei der bestimmte Artikel der Hörerin beziehungsweise dem Hörer zeigt, dass ihr beziehungsweise ihm der Gegenstand im Wissen zugänglich ist. Wertvolle Hinweise und Beispiele für den Einsatz solcher Pfade finden sich in Hoffmann (2006). Artikel, Nomen und Adjektiv Eine Klasse beschäftigt sich mit der Einheit der Trainer (Pfeil 3). Ausge‐ koppelt wird nun der bestimmte Artikel (Pfeil 4), um dessen Funktion zu untersuchen. Nach Pfeil 7 zum Beispiel folgt eine Komplexitätsstei‐ 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht 359 <?page no="360"?> gerung: Das Adjektiv stößt hinzu, dessen Funktion in Bezug auf das Nomen untersucht wird (Pfeil 8). Abb. 12: Beispiel für einen didaktischen Pfad (home.edo.tu-dortmund.de/ ~hoffmann/ PD F/ FGG.pdf, Abruf am 25.08.2022) 360 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="361"?> Das Grundprinzip seines Ansatzes erläutert Hoffmann folgendermaßen: Prinzip ist immer, von funktional eigenständigen Formen auszugehen und ihre Funktionsweise zu erklären. Erklärungen sollten weitgehend auf eigenen Ent‐ deckungen, auf Experimenten, auf Spielen, auf Textarbeit und nicht zuletzt Gesprächsanalyse beruhen. Dann folgt das Ausgliedern der für den Aufbau der Einheit wichtigen Formen (z. B. wird aus der einfachen Nominalgruppe der Artikel ausgekoppelt und genauer in seiner Funktion betrachtet). Die Form wird dann genauer betrachtet, ihre Funktion in anderen Zusammenhängen aufgezeigt und durch Übungen gefestigt - insbesondere unter zweitsprachlichem Aspekt. (2006: 38) Zur Fokussierung auf die Funktion sprachlicher Zeichen führt er weiter aus: Das Prinzip ist also immer der Ansatz bei Funktionseinheiten, ein Lernen über die Funktion, dem die Formbetrachtung folgt. Sind Einheiten komplex, werden - nachdem die Funktionsweise verdeutlicht ist - die Elemente (Wortarten, funktionale Basiseinheiten) ausgekoppelt und für sich untersucht. (Ebd.) Hoffmann unterscheidet Lernprozesse auf drei Ebenen: mediales, kogniti‐ ves und reflexives Lernen (2005: 2 ff.). Mediales Lernen - der Ausdruck medial bezieht sich hier auf die Sprache selbst - finde durch sprachspiele‐ risches Handeln in der Primarstufe statt: in Liedern, Reimen, rhythmischen Sprachspielen (Hoffmann 2006: 21). Kognitives Lernen, das metasprach‐ lichen und metakognitiven Charakter aufweist, also auch begriffliches Lernen einschließt, verortet Hoffmann in die Sekundarstufe. Die letzte Ebene betrifft das reflexive Lernen, das als erkenntniserweiterndes Lernen definiert wird. Der F UNKTIO NAL E G R AMMATIKUNT E R R ICHT in seinen verschie‐ denen Ausprägungen bildet die Grundlage vieler aktueller Unterrichtsvor‐ schläge insbesondere für die Sekundarstufe. Verbunden ist damit häufig die Einbindung sprachreflexiver Tätigkeiten in Unterrichtskontexte wie das mündliche beziehungsweise schriftliche Erzählen, Beschreiben, Anleiten oder Argumentieren (Feilke/ Tophinke 2017: 6) im Sinne des INT E G R I E R T E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT S . Konkrete Beispiele hierfür, die teilweise auch für die Grundschule adaptiert werden können, finden sich unter anderem in Praxis Deutsch 256/ 2016, so zum Einsatz syntaktischer Mittel bei der authen‐ tischen Redewiedergabe literarischer Figuren aus dem Jugendroman Tschick (Droll/ Betzel 2016), zur Gestaltung von Raumbeschreibungen in narrativen Kontexten (Hochstadt 2016c) oder zur präzisen und adressatenorientierten Formulierung von Spielanleitungen (Rezat 2016). 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht 361 <?page no="362"?> Problematisierung Es dürfte unbestritten sein, dass die Einbettung einer funktionalen Sicht auf grammatische Phänomene in den Unterricht eine Voraussetzung dafür ist, kompetente Sprecher: innen und Schreiber: innen (resp. Hörer: innen und Leser: innen) auszubilden, die am Ende der Schulzeit sowohl produktiv als auch rezeptiv über einen „selbst verantwortete[n] Sprachgebrauch“ (Ossner 2021: 21) verfügen. Trotzdem stößt ein F UNKTIONAL E R G R AMMATIKUNT E R R ICHT in der Praxis an seine Grenzen. Köller verweist selbst auf die Problematik seiner Konzeption. Nicht jedes grammatische Phänomen eigne sich für eine funktional orientierte Didaktisierung: „Unbestritten bleibt, daß nicht alle grammatischen Formen auf diese Weise im Unterricht behandelt werden können und daß viele über schlichte Einübungsformen gefestigt werden müssen“ (1997: 33). Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass ein F UNKTIONAL E R G R AMMATIKUNT E R R ICHT zu sehr an Einzelkontexten verhaftet und deshalb letztlich - entgegen seiner eigentlichen Intention - zu unsystematisch bleibe (Bredel 2013: 237). Dazu kommt die starke Reflexionsorientierung des Ansatzes, die die Gefahr mit sich bringt, an einem Großteil der Lerner: innen ‚vorbeizugehen‘ und die Distanz zu grammatischen Phänomenen gar zu verstärken. Zur Köller’schen Konzeption stellen sich einige Fragen: Inwiefern hilft ein funktional ausgerichteter Grammatikunterricht Kindern und Jugendlichen, denen sprachliche Fähigkeiten fehlen, die also grundlegende grammatische Formen wie zum Beispiel die Präteritalformen nicht richtig bilden können? Wenn Köller schreibt, dass Schüler: innen „ein vorbewußtes Wissen von den grammatischen Ordnungsformen ihrer Muttersprache haben“ (1997: 29) - beschränkt sich der F UNKTIO NAL E G R AMMATIK UNT E R R ICHT dann auf Erstsprachler: innen? Falls ja: Was ist dann mit den Lernenden mit Deutsch als Erstsprache, die dieses vorbewusste Wissen nicht haben (was unter anderem im Falle der Präteritalformen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein dürfte)? Antworten versuchen Klotz und Hoffmann zu geben, indem Klotz unter anderem das Konzept des Trainierens grammatischer Formen vorschlägt (es aber problematischerweise mit der behavioristischen Spracherwerbstheorie verknüpft) und Hoffmann durch die Berücksichtigung von L1- und L2-Ler‐ nenden den rein erstsprachlichen Ansatz verlässt. 362 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="363"?> Eine Konzeption, die Sprache als Material (wieder) stärker ins Zentrum unterrichtlicher Überlegungen rückt, folgt dem F UNKTIO NAL E N G R AMMATIK UN ‐ T E R R ICHT einige Jahre nach Köller mit der G R AMMATIK - W E R K S TATT (→-6.10). Aufgaben 1. Konzipieren Sie einen das Verfremdungsprinzip berücksichtigenden Einstieg in eine Unterrichtseinheit zum Futur I. 2. Sehen Sie sich die Thematisierung von Adjektiven in zwei verschiedenen Lehr-Lern-Werken unter der Fragestellung an, ob und wie die Prinzipien des F UNKTIONAL E N G R AMMATIKUNT E R R ICHT S berücksichtigt werden. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung G O R N I K , H. (2015a) (enthält Beiträge von Hoffmann, Klotz und Köller über Vorstel‐ lungen eines funktional ausgerichteten Grammatikunterrichts) H O F F M A N N , L. (2006) (empfehlenswerter Übersichtsbeitrag; Hoffmann versucht, an vielen grammatischen Beispielen - z. B. Wortgruppen - zu zeigen, wie F U N K T I O N A L E R G R A M M A T I K U N T E R R I C H T aussehen kann, und stellt seine didaktischen Pfade vor) H O F F M A N N , L. (2021) (eine umfassende funktionale Grammatik des Deutschen) K L O T Z , P. (1996) (Klotz untersucht in einer Studie, wie Grammatikunterricht nutzbar gemacht werden kann für die Förderung textproduktiver Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern) K ÖL L E R , W. (1983/ 1997) (das Ausgangswerk des F U N K T I O N A L E N G R A M M A T I K U N T E R ‐ R I C H T S , in dem Köllers Prinzipien verständlich und ausführlich dargelegt werden) 6.10 Grammatik-Werkstatt Einblick in den Bau der Sprache ist unser vorrangiges Ziel. (Menzel 1999: 16, Herv. i.-O.) Mit der G R AMMATIK -W E R K S TATT liegt eine didaktische Konzeption von Gram‐ matikunterricht vor, die 1995 von Eisenberg und Menzel begründet und unter anderem von Menzel (z. B. 1999) anhand von Unterrichtsbeispielen konkretisiert wurde. Im Zentrum steht die Idee experimentierender, eigen‐ ständig grammatische Kategorien aufstellender Schüler: innen, deren „Ma‐ terial die Sprache“ (Eisenberg/ Menzel 1995: 14) ist. Das Eingangszitat zeigt: 6.10 Grammatik-Werkstatt 363 <?page no="364"?> Prinzipien Ziele Die Form rückt dabei (wieder) in den Mittelpunkt grammatikdidaktischer Überlegungen. Darstellung Die G R AMMATIK -W E R K S TATT wendet sich gegen bestehende Konzepte der Schulgrammatik, die als mangelhaft kritisiert werden: Unterricht geschehe deduktiv, beachte nicht hinreichend Sprachprobleme der Lernenden als didaktische Chance, vermittle Grammatik als etwas mit der Sprache Gegebe‐ nes anstatt von Menschen Gemachtes. Zudem werde grammatisches Wissen zu früh vermittelt und spiele dagegen in höheren Schulstufen keine Rolle mehr (Menzel 1999: 10). Die G R AMMATIK -W E R K S TATT ist nach vier Aspekten ausgerichtet, die eine Schulgrammatik laut Eisenberg/ Menzel berücksichtigen muss: ■ systematisch: „Sie muss den Lernenden Einsichten in den Bau der Sprache vermitteln“ (Menzel 1999: 9). ■ induktiv: Mithilfe geeigneter Methoden wird für die Schüler: innen erfahrbar, wie man zu grammatischen Kategorien gelangt (ebd.). ■ funktional: Die „semantischen, textuellen und kommunikativen Funk‐ tionen“ (ebd.) der zu ermittelnden Kategorien müssen einsichtig werden. ■ integrativ: Sie funktioniert „im ständigen Wechselspiel von Arbeit an Strukturen und an Inhalten oder Sprachsituationen“ (ebd.). Hinweis Ein sinnvolles Instrument zur Analyse syntaktischer Strukturen, das die formale Arbeit mit funktionalen Aspekten verbindet, ist das topologische Satzmodell, nach dem Sätze des Deutschen in Felder eingeteilt werden. Für einen Über- und Einblick siehe Wöllstein (2015) und Froemel (2020). Teil des konzeptionellen Fundaments ist das genetische Prinzip, das bereits in Köllers F UNKTIONAL E M G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.9) eine tragende Rolle spielt und durch dessen Verwirklichung die Lernenden an der Aufstellung grammatischer Kategorien beteiligt werden sollen. Ziele sind, dass die Schüler: innen mit den Methoden der Sprachwissen‐ schaft arbeiten und dabei erfahren, wie man zu einer Grammatik kommt und 364 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="365"?> methodi‐ sche Ori‐ entierung dass es nicht nur eine gibt, sondern Kategorisierungen von der jeweiligen Perspektive abhängig sind. Begründet wird das induktive Vorgehen lern‐ psychologisch, pädagogisch und erkenntnistheoretisch (Eisenberg/ Menzel 1995: 17): Was eigeninitiativ ermittelt werde, bleibe eher im Gedächtnis haften als Vermitteltes. Das Gelernte solle selbstständig überprüft werden und der Weg des Lernens dem entsprechen, wie Menschen zu diesem Wissen gelangt seien. Kategorien wie zum Beispiel Wortarten und Satzglie‐ der, Begriffe wie Subjekt oder Objekt sollten demzufolge nicht durch die Lehrkraft vorgesetzt, sondern von den Lernenden eigenständig aufgestellt werden. Durch dieses prozessorientierte Vorgehen sollen die Schüler: innen Einsichten in den Aufbau und die Funktion von Sprache erhalten. Somit wird Grammatikunterricht weniger als im Rahmen funktional orientierter Konzeptionen in den Dienst übergeordneter Kompetenzen gestellt, sondern ihm wird ein eigener Bildungswert zugesprochen. Methodisch orientieren sich Eisenberg/ Menzel an grammatischen Ope‐ rationen „als Verfahren zur systematischen Veränderung von sprachlichen Einheiten“ (ebd.: 18), zu denen auch die Glinz’schen Proben (→ 6.6) gehören, mit deren Hilfe die Schüler: innen systematisch kleine Einheiten entdecken und reflektieren sollen. Damit arbeiten sie wie Sprachwissenschaftler: innen: „Beobachten, Beschreiben, Vergleichen, Zusammenfassen, Kategorisieren“ (Menzel 1999: 14). Adjektive: mögliche Kriterien Am Beispiel der Kategorie Adjektiv zeigt Menzel, wie unterschiedlich das „Ergebnis von Systematisierungsbemühungen“ (1999: 13) je nach „Experimentierregeln“ (ebd.) ausfallen kann: „Bei den einen passen Wörter wie quitt und futsch hinein, bei den anderen nicht“ (ebd.). Kategorisiert man Adjektive nach attributivem Gebrauch, so passen sie nicht hinein ( * der futsche Ball). Prädikativ jedoch lassen sie sich verwenden: Der Ball ist futsch. Hierdurch rücken die Beispiele in einen peripheren Bereich, der Anlass dafür geben kann, Kategorisierungen zu problematisieren. Weitere praktische Beispiele von Menzel (1999) reichen von einfachen Vokalveränderungsaufgaben in Sprachspielen für die Grundschule, durch die die Schüler: innen erfahren sollen, dass sich durch Lautänderungen auch 6.10 Grammatik-Werkstatt 365 <?page no="366"?> die Bedeutung ändert (aus Hosen wird Hasen, aus Popo wird Papa), bis hin zu komplexen Aufgaben für die Sekundarstufe II. Eisenberg/ Menzel weisen darauf hin, dass die G R AMMATIK -W E R K S TATT nicht der Einübung, sondern der Aufstellung grammatischer Kategorien diene, und steuern damit gleichsam einer methodischen Fehlinterpretation des Konzepts gegen, die die G R AMMATIK -W E R K S TATT gleichsetzt mit hand‐ lungsorientierter Stationenarbeit, wie das in der Praxis häufig zu erleben ist. Inzwischen gibt es zahlreiche grammatikdidaktische Ausarbeitungen und Materialien, die auf den Grundprinzipien der G R AMMATIK -W E R K S TATT basieren und so konzipiert sind, dass sie formale und funktionale sprachliche Zusammenhänge visualisieren und dadurch Einblick in sprachliche Struk‐ turen vermitteln sollen (z. B. Weth 2017). Dass sich ein Arbeiten nach den Prinzipen der G R AMMATIK -W E R K S TATT im syntaktischen Bereich anbietet, zeigt zum Beispiel Eiberger (2019a u. 2019b), die sowohl für die Primarals auch für die Sekundarstufe Material anbietet, mit dessen Hilfe Schüler: innen syntaktische Strukturen und weitere grammatische Phänomene auf der Basis des topologischen Feldermodells (zur Einführung s. Granzow-Emden 2019; Wöllstein 2015) entdecken können. Problematisierung Die Kritik an der G R AMMATIK -W E R K S TATT reicht vom Vorwurf der „Hemds‐ ärmeligkeit“ (Ossner 2000: 233) bis hin zu komplexen sprachwissenschaft‐ lichen und -philosophischen Ausführungen (z. B. Switalla 2000). Eine kriti‐ sche Debatte, die auch eine Stellungnahme von Menzel selbst einschließt, lässt sich nachlesen in Balhorn et al. (2000). Vor allem die methodische Ausrichtung, die Grenzen operationalen Vorgehens und die Zielsetzungen stehen im Mittelpunkt kritischer Anmerkungen. Die schärfste Kritik an der G R AMMATIK -W E R K S TATT wurde von Ingendahl geübt. Als „Realsatire“ (1999: 8) bezeichnet er die Ausführungen Eisenbergs und Menzels und formuliert neben anderen auch den folgenden Kritikpunkt: „Alle grammatischen Methoden setzen die Kenntnis des Zu-Findenden bereits voraus“ (ebd.). Sollten die Schüler: innen also zum Beispiel Adjektive mithilfe grammatischer Methoden operational untersuchen und kategori‐ sieren, so impliziere das bereits die Existenz der Kategorie Adjektiv. Das prädikative, attributive und adverbiale „Vorkommen des Adjektivs“ (ebd.: 7) werde dabei vorgegeben. Menzel selbst relativiert die Methode des 366 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="367"?> Entdeckens dahingehend, dass die Leistung der Lernenden „natürlich immer ein Entdecken mit Hilfen“ (2000a: 245) sei. Ein Punkt, der von Eisenberg/ Menzel ebenfalls diskutiert wird, ist das Verhältnis grammatischen Könnens und Wissens (→ S. 309 f.). Wissen, so die Autoren, gewinne erst in metasprachlichen Kontexten an Bedeutung. Ossner kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die G R AMMATIK -W E R K S TATT „nicht Sprachmeister […], sondern bestenfalls Schüler, die klug über sprach‐ liche Verfahren reden können“ (2000: 233), hervorbringe. Voraussetzung für den Einsatz der G R AMMATIK -W E R K S TATT sei also die Kenntnis „der Grammatik, die wir immer schon anwenden“ (Eisenberg/ Menzel 1995: 17). Die operationalen Verfahren forcieren die Problematik, dass kompetente Sprachverwender: innen vorausgesetzt und die Ausgangsbedingungen vor allem von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache nicht berücksichtigt werden. Wenn sprachpraktische Fähigkeiten von Anfang an erforderlich sind, so stellt sich die (von Eisenberg und Menzel nicht beantwortete) Frage, was und vor allem wie Grammatikunterricht sein kann und muss, wenn diese Fähigkeiten nicht vorhanden sind. Dass sich auf der anderen Seite bestimmte sprachliche Strukturen (z. B. Satzstellungen im Deutschen) im Rahmen der G R AMMATIK -W E R K S TATT auch und gerade für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache - auch konstrastiv (→ 6.11) - erfahren lassen und dass es grammatische Phänomene gibt, die sich nicht sinnvoll funktional ausgerichtet didaktisieren lassen, muss in der fachdidaktischen Diskussion berücksichtigt werden. Aufgaben 1. Inwieweit erkennen Sie im folgenden Zitat von Menzel die Prinzipien der G R AMMATIK - W E R K S TATT wieder? „All die tausend Wörter in eine Schublade mit nur einer Aufschrift zu bringen ist oftmals schwierig, denn die Wörter richten sich nicht nach Schubladenaufschriften. Da kann es schon einmal passieren, dass ein neues Wort oder ein Fremdwort oder auch ein ganz gebräuchliches oder eines, das vorkommt [wie die zune Tür], das aber eigentlich [noch] nicht erlaubt ist, nicht so recht hier oder da hineinpassen will oder sich zwischen den Fächern zweier Schubladen verklemmt.“ (1999: 13) 2. Welche Prinzipien eines F UNKTIO NAL E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT S (→ 6.9) finden Sie in der G R AMMATIK -W E R K S TATT wieder? Worin unterscheiden sich die beiden Konzeptionen grundlegend? 6.10 Grammatik-Werkstatt 367 <?page no="368"?> Vielspra‐ chigkeits‐ didaktik Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B A L H O R N , H. E T A L . (Hg.) (2000) (enthält die wohl interessanteste Debatte zur G R A M M A T I K - W E R K S T A T T mit Beiträgen von Menzel, Switalla, Ossner u. Klotz) B R E M E R I C H - V O S , A. (2003) (kritischer und praxisnaher Artikel) E I S E N B E R G , P./ M E N Z E L , W. (1995) (leicht verständlicher, einführender Basisartikel) I N G E N D A H L , W. (1999) (ein polemischer Rundumschlag gegen die G R A M M A T I K -W E R K ‐ S T A T T ; stellt dieser ein reflexionsorientiertes Vorgehen gegenüber) M E N Z E L , W. (1999) (viele praktische Beispiele für die Primar- und Sekundarstufe; enthält die Ausführungen des Artikels von 1995 in leicht modifizierter Form) 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht Nach einer Phase der Sensibilisierung für andere Sprachen wird es möglich, gemeinsam die Sprachen der Welt zu erkunden und daran viel über die Sprach‐ lichkeit der Menschen und die Vielfalt der Möglichkeiten sprachlicher Zeichen und ihres Gebrauchs zu lernen. Sprachliche Systeme, Routinen, Rituale und Textformen sind Teil der Kultur. Andere Sichtweisen zu berücksichtigen und sich auf sie einzulassen macht das Lernen interkulturell, für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer. (Oomen-Welke 2002: 1) Der K ONT R A S TIV E S P R ACHUNT E R R ICHT geht von dem Gedanken aus, dass durch strukturelle Einblicke in eine Sprache Strukturanalyseprozesse in Bezug auf andere Sprachen erleichtert werden können - indem Schüler: innen Sprachen miteinander vergleichen. Darstellung Eine kontrastive Sprachdidaktik versteht sich ausdrücklich als Vielsprachig‐ keitsdidaktik, die sich „an alle Lernenden wendet“ (Oomen-Welke 2020: 618; Herv. i. O.) und nicht auf DaZ-spezifische Zielsetzungen begrenzt werden kann. Das Hauptanliegen ist, gerade eine derartige Beschränkung aufzuheben, Grenzen zu überwinden und allen Lernenden in ihrer Indivi‐ dualität und ihrer je eigenen Mehrsprachigkeit gerecht zu werden. Die basale Idee des ‚mehrsprachigen Klassenzimmers‘ besteht darin, dass die Mehrsprachigkeit nicht als Defizit wahrgenommen, sondern als didaktische Chance genutzt wird. Es geht um die „Vermittlung von Mehrperspektivität und [die] Anleitung zum Perspektivenwechsel“ (Luchtenberg 2000: 245). 368 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="369"?> Sprachbe‐ wusstheit Die Methode des kontrastiven Arbeitens wird als Mittel zur sprachlichen Bewusstmachung und als Motor für metasprachliche Reflexionsprozesse verstanden. Sie bezieht sich in erster Linie auf den Vergleich zwischen der zu erlernenden Zielsprache und der Erstsprache, jedoch können immer auch alle weiteren Sprachen - und auch Varietäten wie Dialekt, Jugendsprache etc., die den Schülerinnen und Schülern bekannt sind - einbezogen werden (ebd.: 155-f.). Die Konzeption reicht weit über einen eng gefassten Bereich Grammatik hinaus und umfasst „die Berücksichtigung von Sprache und sprachlicher Vielfalt in allen Fächern und im Schulalltag“ (ebd.: 154). Tipp Für einen didaktisch orientierten Überblick zum Thema Deutsch als Zweit- und Fremdsprache empfehlen wir Geist/ Krafft (2019), Jeuk (2017) und Rösch (2011). Teil des KO NT R A S TIV E N S P R ACHUNT E R R ICHT S ist auch die Wortschatzarbeit (→-6.1-6.4). Hierfür liegt das Konzept der interkulturellen Wortschatzarbeit vor, das vor allem im DaF-Bereich bedeutend ist und von Luchtenberg cha‐ rakterisiert wird „als Wortschatzarbeit im fremdsprachlichen Unterricht, die fremdkulturelle Erfahrungen ermöglichen will, indem die kulturspezifische Bedeutung von Wörtern in der Zielsprachengesellschaft vermittelt wird“ (2000: 226). Ziel der interkulturellen Wortschatzarbeit ist das „Aufdecken sprachkul‐ tureller Inhalte und Verschiedenheiten, was vor allem durch Bewusstma‐ chungsprozesse geschieht“ (ebd.: 227). Methoden sind der Vergleich ver‐ schiedener Sprachen oder Varietäten und der Perspektivenwechsel als Teil einer Language-Awareness-Mehrperspektivität (ebd.: 242 ff.). Einen wesentlichen Raum nimmt die moderne Landeskunde ein. Beispielsweise könnten Lernende den Unterschied des deutschen Ausdrucks Küche zum italienischen cucina verstehen, indem sie eine Vorstellung der jeweiligen Lebenswelten aufbauten (ebd.: 227). Der KO NT R A S TIV E S P R ACHUNT E R R ICHT hängt eng zusammen mit dem Begriff der Sprachbewusstheit, den Andresen/ Funke als „Bereitschaft und Fähigkeit […], sich aus der mit dem Sprachgebrauch in der Regel verbundenen inhaltlichen Sichtweise zu lösen und die Aufmerksamkeit auf sprachliche 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht 369 <?page no="370"?> Erscheinungen als solche zu richten“ (2006: 439), definieren. Die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung sprachlicher Strukturen wiederum ist ein zentraler Teil des sogenannten Language-Awareness-Konzepts (LA), in das sprachdidaktische Ansätze eingeordnet werden können, die kontrastiv arbeiten. LA wird von Donmall als „a person’s sensitivity to and conscious awareness of the nature of language and its role in human life“ (1985: 7) de‐ finiert. Sowohl Argumentationslinien als auch konkrete Arbeitsmaterialien zeigen wiederum die Nähe des LA-Konzepts zu einem umfassenden Ansatz des interkulturellen Lernens (s. auch Luchtenberg 2020). Man erhofft sich vom LA-Konzept positive Effekte nicht nur in kognitiver, sondern auch in affektiver und sozialer Hinsicht ( James/ Garrett 2016): Metasprachliche Kommunikation meint hier nicht [nur] die Beherrschung von grammatischer Terminologie oder Sprechen über Grammatik, sondern die sehr viel breiter verstandene Fähigkeit zum Sprechen über sprachliche Phänomene mit holistischem Verständnis durch kognitive, emotionale und soziale Zielsetzungen. (Luchtenberg 2020: 154) Weiter führt Luchtenberg aus: „Nachdenken über Grammatik ist also im Allgemeinen in LA-Konzeptionen Teil weitreichender Sprachreflexion, vor allem in Bereichen wie Wortschatz, Kommunikation, Medien und Texte“ (ebd.: 156). Die Zentralisierung sprachreflexiver (und zum Teil auch sprachkritischer) Prozesse teilt der KO NT R A S TIV E S P R ACHUNT E R R ICHT mit dem S ITUATIO N S O R I E N ‐ TI E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.7). Es geht darüber hinaus aber auch um die Ermöglichung von „Einsichten in den Sprachbau und seine Mög‐ lichkeiten“ (Oomen-Welke et al. 1998: 157) und um eine dementsprechend förderliche Bereitstellung systematischen und strukturorientierten Lernma‐ terials. Tipp Kompakte Einführungen in zahlreiche in Deutschland, Österreich und der Schweiz verbreitete Erstsprachen, denen sich Anknüpfungspunkte für einen kontrastiven Sprachunterricht entnehmen lassen, finden sich in Colombo-Scheffold et al. (2012) sowie Hoffmann et al. (2017). 370 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="371"?> Eng verbunden mit dem Stichwort Sprachenvergleich ist das der Sprachen‐ vielfalt, das zum Beispiel von Peyer/ Schader (2006) und Schader (2013) mit konkreten methodischen Vorschlägen zur Umsetzung verwendet wird. Oomen-Welke betont für die Einbeziehung der Sprachenvielfalt soziologische Argumente: In den Klassen finden sich Kinder mit vielerlei Her‐ kunft und Sprachen […]; konstruktivistische Argumente: Die Lernenden sind different und konstruieren ihre Weltwahrnehmung verschieden; motivationale Argumente: Das Eingehen auf die Präkonzepte der Lernenden bewirkt, dass diese sich als Adressaten des Unterrichts fühlen und er für sie bedeutsam ist, und, wie gezeigt wird, methodische Argumente, weil sich künstliche Methodensettings weitgehend erübrigen. (2020: 620) Unter Rückgriff auf Haueis’ einschlägiges Werk Grammatik entdecken (1981) entwirft Oomen-Welke Vorschläge für einen vielsprachigkeitsdidaktischen kontrastiven Ansatz, der eine entdeckende Auseinandersetzung mit Sprache in den Mittelpunkt stellt und sich gleichermaßen als kommunikativ, syste‐ matisch und operational ausgerichtet versteht. Die Schüler: innen sollen durch Sprachvergleiche Reflexionsprozesse erfahren und sich in ihren „unterschiedlichen Sichten auf Sprache und Welt“ (2020: 618) ernst genom‐ men fühlen können. Differenz werde zur „Grundbedingung (sprachlichen) Lernens“ (ebd.: 619). Das Konzept basiert auf folgenden Teilschritten: ■ andere Sprachen zulassen, ■ Sprachaufmerksamkeit erkennen, ■ Vorschläge der Kinder aufgreifen, ■ andere Sprachen herbeiholen, ■ Texte im Vergleich, ■ Sprachsysteme im Vergleich, ■ Alltagsroutinen im Vergleich, ■ Philosophisches von und mit Kindern. Oomen-Welke bezieht sich hauptsächlich auf eine Kompetenzebene, auf der nicht nur nach den Sprachmitteln als solchen in ihrer Systematik gefragt wird, sondern nach der Entstehung, Geschichte und Verschiedenheit von Sprachen bzw. von Literatur, nach dem Vergleich zwischen Sprachen und den damit einhergehenden Wertvorstellungen und Normen sowie nach der Sprachlichkeit des Menschen im Allgemeinen. (2020: 618) 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht 371 <?page no="372"?> Bezug zur Herkunfts‐ sprache Lernende werden als Expertinnen und Experten für Sprache(n) angesehen, womit Oomen-Welke auf einer weiteren Ebene explizit eine Brücke zum S I ‐ TUATION S O R I E NTI E R T E N G R AMMATIK UNT E R R ICHT (→ 6.7) und zum entdeckenden Lernen (Oomen-Welke 2006: 458) schlägt. Das Lernmaterial solle „problem‐ orientiert und offen für die Beiträge der Lernenden für ihre Sprachen“ (Oomen-Welke 2020: 626) sein und bei allen Schülerinnen und Schülern zum Erwerb von Sprachwissen und Sprachbewusstheit (ebd.) führen. Eine spezielle Form des KO NT R A S TIV E N S P R ACHUNT E R R ICHT S ist ein sprach‐ integrativer Ansatz (Gnutzmann/ Köpcke 1988; Rothstein 2010), „der den muttersprachlichen mit dem fremdsprachlichen Grammatikunterricht ver‐ knüpft“ (Rothstein 2018a: 14). Lernziele in Bezug auf beide Sprachen seien dabei (s. im Folgenden ebd.: 16): ■ Einsichten in den Bau und die Funktion der Sprachen zu erhalten, ■ Sprachhandlungsfähigkeiten durch Reflexion zu verbessern, ■ Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sprachen zu erkennen, ■ explizites grammatisches Wissen von einer auf die andere Sprache übertragen zu können und ■ über Sprachen und sprachliche Phänomene besser sprechen zu können (metasprachliche Kommentierungskompetenz). Entscheidend für sprachintegrative Handlungsprozesse sei, dass diejenigen einzelsprachlichen Inhalte behandelt würden, zwischen denen eine ersicht‐ liche Verbindung bestehe. Dabei nehme das Zusammenspiel aus Form und Funktion eine zentrale Position ein. Rothstein unterscheidet vier Möglich‐ keiten (ebd.): ■ ähnliche Formen der beiden Sprachen bei identischen Funktionen (z. B.: im Begriff sein, etwas zu tun vs. être sur le point de faire quelque chose) ■ relativ ähnliche Formen, aber grundverschiedene Funktionen (z. B.: englisches present perfect vs. deutsches Perfekt) ■ identische Funktion, aber verschiedene Form (z. B.: conditionnel vs. Konjunktiv II) ■ Form und Funktion verschieden Es ist von Rothstein intendiert, den sprachintegrativen Grammatikunter‐ richt in das klassische kontrastive Vorgehen einzubinden, indem nach dem Vergleich von deutschen und fremdsprachlichen Phänomenen ein Bezug zur Herkunftssprache hergestellt wird (ebd.: 24). Auch Belke (2019) schlägt 372 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="373"?> im Rahmen ihres integrativen Sprachunterrichts (-→ 6.8) die Integration der Herkunftssprachen in den Sprachunterricht vor. Problematisierung Im K ONT R A S TIV E N S P R ACHUNT E R R ICHT werden Prinzipien vereint, die sich in den oben dargestellten erstsprachlichen Konzeptionen zum Teil konkurrie‐ rend gegenüberstanden: ein systematisches und situatives Vorgehen sowie eine gleichzeitig formale und funktionale Perspektivierung von Sprache. Diese Verbindungen bergen neben allen Vorteilen aber auch die Gefahr, dass einzelne Fragestellungen und Fokussierungen zu kurz kommen. Um seine Bedeutung zu untermauern, fehlt dem KO NT R A S TIV E N S P R ACHUNT E R R ICHT - wie den meisten deutschdidaktischen Konzeptionen - auch noch eine umfassende empirische Grundlage (Krafft 2014: 194). Durch seine Einbin‐ dung in eine interkulturelle sprachdidaktische Ausrichtung läuft er Gefahr, grammatisches Arbeiten im engeren, morphologisch-syntaktischen Sinne zu vernachlässigen (ebd.: 192). Er ist zum Teil stark reflexiv und sprach‐ philosophisch angelegt und kann dadurch für manche Schüler: innen eine Überforderung darstellen. Das ausgeprägte Sprachbewusstsein mehrspra‐ chiger Lerner: innen, das von manchen Vertreterinnen und Vertretern der Konzeption explizit hervorgehoben wird (z. B. Jeuk 2007: 64), kann nicht in dieser Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden: Die Entwicklung von Sprachbewusstsein scheint neben externen Faktoren (z. B. einem mehrfa‐ chen Spracherwerb) auch ganz wesentlich von der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten abhängig zu sein (Krafft 2013). Deren Förderung wird allerdings ebenso wie das implizite Arbeiten an sprachlichen Strukturen in den einzel‐ nen Ausrichtungen zum Teil vernachlässigt. Zudem stellt der KO NT R A S TIV E S P R ACHUNT E R R ICHT eine große Herausforde‐ rung für Lehrende dar, die sich schnell überfordert fühlen können, die kontrastive Arbeit fachlich, didaktisch und methodisch sinnvoll umzuset‐ zen, ohne Sprachenvielfalt zu einem unsystematischen ‚Durcheinander‘ und damit zu einer schüler: innenseitigen Überforderung werden zu lassen. Es wird zukünftig darum gehen müssen, die Bedeutung kontrastiven Vorgehens im Unterricht theoretisch, empirisch, aber auch methodisch zu unterstreichen beziehungsweise zu konkretisieren. In unserer pluralis‐ tischen Gesellschaft, in der die EU für die Zukunft die Beherrschung mindestens dreier Sprachen fordert (Oomen-Welke 2020: 617), darf didak‐ tisch begleitete Mehrsprachigkeit aus den Klassenzimmern nicht mehr 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht 373 <?page no="374"?> ‚weggedacht‘ werden. Zudem muss das Phänomen Sprachenvielfalt auch in Bezug auf das Konzept Inklusion didaktisch erarbeitet werden. Eine inklusiv orientierte Didaktik umfasst Mehrsprachigkeit sowohl in Bezug auf verschiedene Zeichensysteme (beispielsweise Gebärdensprache) als auch in Bezug auf die Sprache eines jeden Individuums (Hochstadt 2019). Aufgaben 1. Sehen Sie in dem für Ihr Bundesland gültigen Lehrbeziehungsweise Bildungsplan der Primarstufe nach: Welche Hinweise finden Sie auf kontrastives Arbeiten? 2. Vergleichen Sie die Personalformen eines Verbs (im Präsens) im Deut‐ schen und Italienischen oder Türkischen. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede stellen Sie fest? Wie ließe sich das Beobachtete für die Erarbeitung der Wortart Verb in der Grundschule nutzbar machen? Berücksichtigen Sie dabei die Bedürfnisse ein- und mehrsprachiger Lerner: innen. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung L U C H T E N B E R G , S. (2020) (das Konzept Language Awareness wird verständlich erläu‐ tert) O O M E N - W E L K E , I. (2020) (gibt einen übersichtlichen, kompakten und aktuellen Einblick in die Konzeption der Vielsprachigkeitsdidaktik) R O T H S T E I N , B. (2018) (enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Ausführungen zum sprachintegrativen Grammatikunterricht) R O T H S T E I N , B. (Hg.) (2018) (der Sammelband bietet verschiedene und sehr interes‐ sante Beiträge zu Theorie und Praxis eines sprachvergleichenden Unterrichts) Lektüreempfehlung für einen inklusionsorientierten Unterricht H O C H S T A D T , C. (2019): Sprachliche Vielfalt. In: Hochstadt, C./ Olsen, R. (Hg.). 111-127 (beleuchtet den Begriff der sprachlichen Vielfalt unter inklusionsorientierter Perspektive) 374 6 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren <?page no="375"?> Tipps für den Unterricht im Kompetenzbereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Wortschatzarbeit ■ Führen Sie Wortschatzarbeit kontinuierlich durch und gestalten Sie die Begegnung mit Wörtern kontextualisiert. Bieten Sie Ihren Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten, ‚neue‘ Wörter durch syntagmatische (z. B. Flanke - präzise) und paradigmatische (z. B. Flanke - Schuss) Beziehungen zu vernetzen. ■ Stellen Sie - auch aus literarästhetischen Gründen - keine unhinter‐ fragten lexikalischen ‚Regeln‘ für gute Texte auf. Ein Text gewinnt nicht zwangsläufig an Qualität, wenn ein Kind an der Textoberfläche einzelne Ausdrücke ersetzt, ohne kontextuelles Wissen darüber zu haben. ■ Achten Sie - gerade im Hinblick auf Lernende mit Deutsch als Zweitsprache - darauf, dass ihre Wortschatzarbeit auf dem Prinzip der Wiederholung aufbaut. ■ Fokussieren Sie auf bildungssprachliche Ausdrücke und auf Wörter und Wendungen, die nicht klassischerweise als ‚korpustypisch‘ eingeordnet würden. Grammatikdidaktik ■ Planen Sie Ihren Grammatikunterricht langfristig und führen Sie ihn systematisch durch. ■ Wenn Sie eine grammatikalische Unterrichtseinheit planen, fragen Sie sich, was genau Sie mit der Behandlung eines bestimmten grammatischen Phänomens beabsichtigen. ■ Lösen Sie sich von der lateinischen Schulgrammatik und orientie‐ ren Sie sich an aktuellen Forschungsergebnissen der Sprachwissen‐ schaft. ■ Begreifen Sie formale und funktionale Aspekte als sich ergänzend und zusammenhängend. ■ Beachten Sie, dass explizit Gelerntes nicht unmittelbar mit implizi‐ ten Fähigkeiten zusammenhängt. ■ Verfremden Sie Sprache, stiften Sie Zweifel und finden Sie Wege der Bewusstmachung und Irritation. 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht 375 <?page no="377"?> 7 Schluss Vielleicht mögen sich die Leser: innen nun fragen, wie sie die Beschäftigung mit den einzelnen Herangehensweisen, deren Anordnung - darauf möchten wir noch einmal hinweisen - keine ‚naturgegebene‘, sondern eine von uns interpretativ vorgenommene ist, in der Auseinandersetzung mit grundsätzli‐ chen deutschdidaktischen Fragen und in der konkreten Unterrichtsplanung unterstützen kann. Die Antwort auf diese Frage müssen wir letztlich offen‐ halten: Es kann für Lernprozesse kein Patentrezept geliefert werden. Das Hauptziel aller Lehrenden sollte sein, eine theoretisch fundierte, reflektierte Haltung gegenüber Unterricht, Unterrichtszielen und -gegenständen zu entwickeln, die schließlich auch in der konkreten Unterrichtsumsetzung sichtbar wird. Die einzelnen Konzeptionen/ Ansätze/ Verfahren - ineinander spielend, sich ergänzend und sich widersprechend - sollen didaktische Bezugspunkte bieten, um diese Haltung zu fundieren und um ihr stets selbst auch kritisch gegenüberstehen zu können. Wir erfahren immer wieder, dass Lehrende so unterrichten, wie sie es selbst - in ihrer eigenen Schulzeit, in Praktika im Rahmen des Studiums oder im Referendariat - erlebt und/ oder beobachtet haben, ohne die initiierten Unterrichtsprozesse zu hinterfragen. Die Beschäftigung mit verschiedenen konzeptionellen Richtungen soll einen Reflexionsanstoß für dieses Hinter‐ fragen bieten und auf diesem Wege zu einem didaktisch begründeten Deutschunterricht führen. Wir schließen mit einem Auszug aus einem Interview, das die österreichi‐ sche Journalistin Krista Fleischmann 1986 mit dem Schriftsteller Thomas Bernhard geführt hat: Fleisch‐ mann Sie haben einmal geschrieben: „Jeder Satz, den man denkt, den man spricht oder den man aufschreibt, ist zur gleichen Zeit wahr, aber auch nicht wahr.“ Bernhard Das ist ja bei allen, das ist alles die Kehrseite. Da haben Sie ein schönes Gemälde, dann drehen Sie es um, ist hinten ein Fliegenschiß drauf, oder es hat jemand eine Banknote versteckt - oder ganz was anderes. <?page no="379"?> Literatur Fachdidaktische Grundlagenliteratur Die folgende Zusammenstellung grundlegender fachdidaktischer Literatur eignet sich für die weitere Auseinandersetzung mit fachdidaktischen und methodischen Fragen. A B R A H A M , U./ B E I S B A R T , O./ K O S S , G./ M A R E N B A C H , D. ( 7 2012): Praxis des Deutschun‐ terrichts. Arbeitsfelder - Tätigkeiten - Methoden. Donauwörth. A B R A H A M , U./ K E P S E R , M. ( 3 2009): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. A B R A H A M , U./ K E P S E R , M. ( 4 2016): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. A B R A H AM , U./ K N O P F , J. (Hg.) ( 7 2021): Deutsch. Didaktik für die Grundschule. Berlin. B A U R M A N N , J./ K AM M L E R , C./ M ÜL L E R , A. (Hg.) ( 2 2019): Handbuch Deutschunterricht. Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens. Seelze. B E S T E , G. (Hg.) ( 7 2019): Deutsch-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin. B E I S B A R T , O./ M A R E N B A C H , D. ( 4 2010): Bausteine der Deutschdidaktik. Ein Studienbuch. Donauwörth. B O E L M A N N , J. M. (Hg.) (2018): Empirische Forschung in der Deutschdidaktik. Band 1: Grundlagen. Baltmannsweiler. B O E L M A N N , J. M. (Hg.) 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F R E D E R K I N G , V./ H U N E K E , H.-W./ K R O M M E R , A./ M E I E R , C. (Hg.) ( 2 2013): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Band 2: Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler. <?page no="380"?> F R E D E R K I N G , V./ H U N E K E , H.-W./ K R O M M E R , A./ M E I E R , C. (Hg.) ( 2 2014): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Band 3: Aktuelle Fragen der Deutschdidaktik. Baltmanns‐ weiler. F R E D E R K I N G , V./ K R O M M E R , A./ M AI W A L D , K. ( 3 2018): Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. G AI L B E R G E R , S./ W I E T Z K E , F. (Hg.) (2013): Handbuch kompetenzorientierter Deutsch‐ unterricht. Weinheim. G O E R , C./ K ÖL L E R , K. (Hg.) (2014): Fachdidaktik Deutsch. Grundzüge der Sprach- und Literaturdidaktik. Paderborn. H O C H S T A D T , C./ O L S E N , R. (Hg.) (2019): Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim, Basel. J E S C H , T. (2020): Fachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Tübingen. K ÄM P E R - V A N D E N B O O G AA R T , M. (Hg.) ( 2 2005): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin. K L I E W E R , H.-J./ P O H L , I. (Hg.) ( 2 2012): Lexikon Deutschdidaktik. 2 Bände. Baltmanns‐ weiler. K ÖH N E N , R. (Hg.) (2011): Einführung in die Deutschdidaktik. Stuttgart. L A N G E , G./ W E I N H O L D , S. (Hg.) ( 11 2021): Grundlagen der Deutschdidaktik. Sprachdi‐ daktik - Mediendidaktik - Literaturdidaktik. Baltmannsweiler. L E U B N E R , M./ S A U P E , A./ R I C H T E R , M. ( 3 2016): Literaturdidaktik. Berlin. M ÜL L E R - M I C H A E L S , H. (2009): Grundkurs Lehramt Deutsch. Stuttgart. N E U L A N D , E./ P E S C H E L , C. (2013): Einführung in die Sprachdidaktik. Stuttgart. O S S N E R , J. ( 2 2008): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Paderborn. P A E F G E N , E. K. ( 2 2008): Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart. P O M P E , A./ S P I N N E R , K. H./ O S S N E R , J. ( ² 2018): Deutschdidaktik Grundschule. Eine Einführung. Berlin. R I T T E R , M. (2019): Deutschdidaktik Primarstufe. Eine Einführung in die wissenschaft‐ liche Auseinandersetzung mit dem sprachlichen und literarischen Lernen in der Grundschule. Baltmannsweiler. R O T H S T E I N , B./ M ÜL L E R -B R A U E R S , C. ( 3 2019): Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Ein Handbuch. Baltmannsweiler. S T E I N I G , W./ H U N E K E , H.-W. ( 5 2015): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Ber‐ lin. U L R I C H , W. (Hg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis (DTP). Handbuch zur Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in elf Bänden. — Band 1: Deutsche Sprache in Kindergarten und Vorschule. Hg. v. Günther, H./ Bindel, R. (2012). 380 Literatur <?page no="381"?> — Band 2: Schriftsprach- und Orthographieerwerb: Erstlesen, Erstschreiben. Hg. v. Röber, C./ Olfert, H. (2015). — Band 3: Mündliche Kommunikation und Gesprächsdidaktik. Hg. v. Becker-Mrotzek, M. ( 3 2015). — Band 4: Schriftlicher Sprachgebrauch/ Texte verfassen. Hg. v. Feilke, H./ Pohl, T. ( 2 2020). — Band 5: Weiterführender Orthographieerwerb. Hg. v. Bredel, U./ Reißig, T. ( 2 2015). — Band 6: Sprachreflexion und Grammatikunterricht. Hg. v. Gornik, H. ( 2 2015). — Band 7: Wortschatzarbeit. Hg. v. Pohl, I./ Ulrich, W. ( 2 2016). — Band 8: Digitale Medien im Deutschunterricht. Hg. v. Frederking, V./ Möbius, T./ Krommer, A. ( 2 2018). — Band 9: Deutsch als Zweitsprache. Hg. v. Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. ( 5 2020). — Band 10: Deutsch als Fremdsprache. Hg. v. Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. ( 2 2017). — Band 11: Lese- und Literaturunterricht, Bände 1-3. Hg. v. Spinner, K. H./ Kämpervan den Boogaart, M. ( 3 2019). W I L D E M A N N , A./ V A C H , K. ( 5 2020): Deutsch unterrichten in der Grundschule. Kompe‐ tenzen fördern, Lernumgebungen gestalten. Velber. Zitierte Literatur A B R A H A M , U. (2001): Den Blickwechsel üben. Grammatikunterricht und Literatur‐ unterricht. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes. H. 1. 30-43. 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Bildungssprache-25, 142, 171, 330, 375 Bildungsstandards-20, 57, 146f., 185, 191, 201, 283, 297 Bildungswortschatz-328 Buchstabentabelle-67, 69, 72, 80 Chat-294 Computer-131, 275f., 289, 293f. Computerspiele-291, 293 curricular/ Curriculum-36, 52, 75, 240, 302, 311, 333, 346 Darstellendes Spiel-257, 259, 283 deklaratives Wissen-335 Dekonstruktion-186, 190, 215, 220, 225, 232f., 240, 245 Dekontextualisierung-317, 326f. DESI-Studie-62, 160 DESI-Wortschatztest-299f. Deutsch als Zweitsprache 19, 25, 35, 54, 64, 69, 96, 106, 110, 123, 137, 142, 171, 268, 299, 301, 310, 313, 359, 362, 367f., 373, 375 didaktischer Pfad-113, 359f., 363 Diktat-58, 141f. Diskutieren-31, 45, 55, 57f., 71, 80, 83, 113f., 121, 123, 129, 233, 240, 275f. doppelte Lektüre-190, 233, 240 Elfchen-138f., 141 E-Mail-294, 296 Erörterung-108, 110, 113, 120, 128, 222 Erzählen-38ff., 45, 55f., 108, 112ff., 120, 201, 206, 208, 217, 349, 353 Erzählkreis-39f., 84 fächerübergreifend/ fächerübergreifendes Lernen-30, 42, 44, 54, 258, 284f., 329, 349f. Fibel-68, 78, 80ff., 84 Film-276, 284f., 287, 289, 295 Filmanalyse-287f. Filmdidaktik-284f., 288 frame-and-script-Theorie-321f. frames-298, 322 freies Schreiben-85 Gebrauchstext-188, 213f., 216 Gespräch-23, 26, 31, 37, 45f., 53f., 175, <?page no="454"?> 185, 193, 214, 239ff., 245-250, 252, 255, 265, 285, 331, 355, 359 grammatisches Können-367 grammatisches Wissen-307-310, 332, 341, 346f., 350, 364, 372 Groß- und Kleinschreibung-59, 75, 91, 94f., 97ff., 101 Häusermodell-102ff., 106f. Hermeneutik-200, 223, 245 Hörbuch-277 Hördidaktik-277 Hörspiel-276f. Hörtext-277 Hypertext-119, 276 implizites Wissen-309 induktiv 88, 90, 92, 99, 340, 343, 346, 351, 364f. Inklusion/ inklusiv-19, 106, 247, 374 Instruieren-27, 48, 64, 110, 170 interkulturell-45, 206, 301, 368ff., 373 Intermedialität-275f. Internet-119, 182, 276, 289f., 294 Interpretationsaufsatz-204 Interpunktion-59 Intertextualität-232ff., 268, 275f., 288 Kognitionspsychologie/ kognitionspsychologisch 148, 150, 220 Kompetenzraster-146 Konstruktivismus-20, 220, 225, 275f., 321 Kreatives Schreiben-137, 219 Leistungsmessung-58, 141f. Lernplattform-293 Leseanimation-148f., 172f., 180 Lesedidaktik-155, 170, 174, 204, 214, 232f., 323 Leseflüssigkeit-143, 156, 171 Leseförderung-146-149, 152, 155, 172f., 180-183, 277, 286 Lesekompetenz-144ff., 148f., 156, 159, 171, 185, 258 Lesemotivation-42, 85, 180, 258 Lesestrategie/ Lesestrategien-143, 148, 160-163, 174, 180f., 205, 230, 239, 294 literarisches Lernen 190, 192f., 234, 258, 282, 290f., 295, 351, 423 literarische Sozialisation-245 Literaturplattform-295 Medien, audiovisuelle-259, 272, 283f. Medien, visuelle-85, 122, 224, 264, 278, 281, 288f. Medienintegration-274, 276 Medienkompetenz-185 Mehrsprachigkeit-107, 238, 310, 319, 359, 368, 373f. Mehrsprachigkeitsdidaktik-320 mentales Lexikon-106, 298, 301, 313, 317-320, 322, 325f. Merkmalssemantik-317 Merksatz-78, 90f., 97, 333f. Metasprache-88, 92, 95, 133, 309 Morphem-59, 83, 88f., 103, 105, 302, 373 Mündlichkeit-54, 316, 318, 333 Muttersprache/ muttersprachlich-238, 297, 299, 310, 312, 317, 362, 369, 372f. Muttersprachenunterricht-333f. Narrationskompetenz-206 Nichtverstehen-188ff., 246 Phasenmodelle-186, 188f., 223 454 Register <?page no="455"?> PISA-137, 143-146, 149, 160, 180, 192, 230, 237 Positivismus/ positivistisch-206 Poststrukturalismus/ poststrukturalistisch-203, 205 Präsentation-28, 31, 40, 42ff., 129, 132, 185, 334 Proben, grammatische-124, 137, 337- 342, 351, 365 Prototypentheorie-317 Prozedur-92f., 101, 358f. Reading Literacy-144f. Referieren-110 Reflexion-36, 43, 52, 55, 73, 91, 151, 174, 261, 274, 309, 322, 343f., 346, 351, 361, 372 Reflexionsfähigkeit-351 reflexionsorientiert-319 reflexives Lernen-361 Rezeptionsästhetik-186, 220, 225, 259, 263 Rollenspiel-259 Sachtext-44, 132, 145, 163, 170f., 173f., 181, 188, 204, 213f., 228, 257, 261, 352 Schreiben, heuristisch-236 Schreiben, kreativ-135, 138-141, 224, 237, 281 Schreiben, literarisch-128, 238, 284 Schreiben, lyrisch-273 Schreiben, szenisch-273 Schreibkonferenz-129ff., 133ff., 293 Schriftspracherwerb-60, 66, 69, 72, 74, 79, 81ff., 86, 100, 102f., 106 Schriftspracherwerbsmodelle-83 Schultheater-257, 259 scripts-298, 322 Silbe-59f., 66, 88f., 99-103, 105, 107 Sprachaufmerksamkeit-91, 371 Sprachbewusstheit-369, 372 Sprachbewusstsein-58, 373 Sprachenvergleich-359 Sprachförderung-137, 331 Sprachkritik-356, 370 sprachliches Können-117, 310 Sprachproduktion 68, 215, 288, 325, 348, 356 Sprachspiel-319, 361, 365 Sprachwissen-62, 117, 341, 372 Standbild-260f. Strukturalismus/ strukturalistisch-175, 202f., 205f., 220, 225, 233, 288, 337, 341 Symmedialität-275f. Symmedien-131, 289f. systematischer Grammatikunterricht-310, 332f., 344, 350 systematische Wortschatzarbeit-301f., 316, 323 Szenisches Spiel-259 Textanalyse-185, 201, 203-207, 214f., 217, 220ff., 228, 230, 265, 267, 270f., 283, 287, 291, 348 Textarten-110f., 113 Texte, dramatisch-35, 232f., 260f., 266, 270-273, 277, 283 Texte, epische-216, 227, 232, 246, 260, 266, 270, 287 Texte, lyrische-35, 111, 120, 141, 232f., 266, 268, 270, 273, 278 Texterschließungskompetenz-206f. Textkohärenz-297 Textmuster-110, 114 Textsorte/ n-108f., 112, 115f., 119f., 124, Register 455 <?page no="456"?> 126, 132, 136, 204, 236, 319, 325, 327, 356 Textvergleich-267, 323 Theater-259, 272, 283f. Theaterdidaktik-272, 284 Theaterpädagogik-283 Transkription-53f. Tweets-293 Überarbeiten-44, 61, 63, 116, 122, 124, 128-134, 138, 140, 142, 293 Unterrichtsgespräch-26, 28ff., 37f., 49, 185, 204, 207, 216, 236, 239, 241, 246ff., 250, 255f., 265, 268, 278 Unterrichtsgespräch, fragendentwickelnd-27, 30, 90, 217, 221, 239, 249 Unterrichtskommunikation-25ff., 36, 52f., 56, 301 UWE-Technik-124 Verfremdung 262, 319, 334, 356, 363, 375 Vielsprachigkeitsdidaktik-368, 371, 374 vorbewusstes Wissen-356, 362 Vorlesen/ vorlesen-129, 156f., 161, 224, 245, 255, 265, 267, 301, 337 Wegbeschreibung-119, 131f. Werkimmanenz-205f. Wörterbuch-58, 141, 313, 319f., 323 Wortfamilie-101, 305, 313, 319 Wortfeld-299, 305, 312f., 317, 320 Wortgruppe 325, 329ff., 338f., 356, 358f., 363 Wortschatzerweiterung-299, 325 Wortschatzvertiefung-299 Zuhören 23, 30, 44, 48ff., 54, 56, 250, 255, 281 456 Register <?page no="457"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit (n. Koch/ Oesterreicher 1994: 588) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Abb. 2: ‚Häusermodell‘ (n. Bredel 2010b: 15) . . . . . . . . . . . . . . 104 Abb. 3: Aufsatzarten (n. Marthaler 1962: 53-ff.) . . . . . . . . . . . . 109 Abb. 4: Schreiben als schriftsprachliches Handeln (n. Becker- Mrotzek/ Böttcher 2012: 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Abb. 5: Schreibprozessmodell (n. Hayes/ Flower 1980, Übers.: C. H./ A. K./ R. O.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Abb. 6: Theoretische Struktur der Lesekompetenz in PISA (n. Deutsches PISA-Konsortium 2000: 34) . . . . . . . . . . . . 144 Abb. 7: Das Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock/ Nix 2020: 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abb. 8: Struktur eines LIT E R A R I S CH E N U NT E R R ICHT S G E S P RÄCH S (n. Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2010: 11) . . . 247 Abb. 9: Ergebnisse des DESI-Wortschatztests (n. Willenberg 2007: 151) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Abb. 10: Auszug aus einem Unterrichtstranskript (n. Merten 2012: 65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Abb. 11: Texte zu einem Sportereignis (n. Hoffmann 2016b: 566 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Abb. 12: Beispiel für einen didaktischen Pfad (home.edo.tu-do rtmund.de/ ~hoffmann/ PDF/ FGG.pdf, Abruf am 25.08.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 <?page no="458"?> uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Stat \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ anagement \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschicht Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ acherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakt DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus F \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanist Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft ologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissensc \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ nguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenhematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwiss schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ aft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenscha Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ orische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechn Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenhematik &